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NATllfWlSSENSCHÄFTLICHE
M)CHENSCHRIFT / —
^'^UEFOLXjE 3-BAND ',^ '
1903 Af
c^.
/r.
Naturwissenschaftliche
Wochenschrift.
REDIGIERT
VON
Prof. Dr. H. POTONIE, und Dr. F. KOERBER,
KGL. LANDESGEOLOGEN KGL. OBERLEHRER
IN GROSSLICHTERFELDE BEI BERLIN.
NEUE FOLGE 111. BAND
(DER GANZEN REIHE XIX. BAND).
(OKTOBER 1903 — DEZEMBER 1904.)
JENA.
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
1904.
Alk- Rechte vorbehalten.
Register.
Allgemeines und Verschiedenes.
D e B ;i r y , F, r i k s s o n , K 1 c li ;i b n , Myko-
plasma-Theorie (mit Abb.l. 859.
Börnstein, R., Weshalb Musikstücke
mit tiefen Noten schließen. (Ürig.) 793.
Dahl, (Jkologieu. Ethologie. (Orig.) 416.
Dorn u. Wallstabe, Physiol. Wirk. d.
Radiums. 928.
France, Neue Untersuchungen über den
Bau der Zelle. (S.-R. mit Abb.) 281.
Fuchs, W., Das Keimgewebe der leben-
den Geschöpfe. (Orig.) 961.
G r a e b k e , Das Wesen des Begriffs der
Gewohnheit. (Orig.) 625.
Heilig, Konjugation u. natürl. Tod.
(Orig.) 465-
Heuser, Natürl. u. künstl. Erzeugnisse.
(Orig. mit Orig. -Abb.) 593.
K o 1 k w i t z , Wasserbiolog. Exkursion. 702.
Lemke u. Ascherson, PHanzensagen.
(ürig.) 687.
Macfadyen, Neue Methode physiol.
Forschung (mit Abb.) 652.
Matthias, Latinisierung von Namen
(Orig.) 383.
Meisen heimer, Beziehungen der Süd-
kontinente zu einem antarktischen
Schöpfungszentrum (S.-R. mit Karte) 20.
Möbius, K., Vögel, ästhetisch betrachtet.
667.
Ner esheimer, Konjugation u. natürl.
Tod (S.-R.) 604.
P f u h 1 , Die Allmacht des Lichts (Orig.) 433.
Plate, Was ist Konvergenz^ (Orig.) 64.
Potonic, Plauderei über die Macht der
Gewohnheit. (Orig.) 7.
Reinhardt, Der Schlaf (Orig.) 801.
Schröder, B., Über den Schleim und
seine Bedeutung i;69.
Schulz, N., Zerfalfdes Biogcn-Moleküls
(Orig.) 624.
Schutt, Kosmologie als Ziel der Meeres-
forschung (Orig.) 705.
Weiß, B., Entwicklung (Orig.) 737.
Werner, Die Tierwelt in der bildenden
Kunst. (Orig.) 835.
Der Terminus ,, Experimentelle Morpho-
logie". 592.
Fette im Haushalt d. Natur u. des Men-
schen. 470-
'Honigtau. I 76, 864, 960.
PhysiologcnkongreB. 655, 718.
Vers. D. Naturf. u. Arzte. 495.
Anthropologie und Verwandtes.
B e d d o e , Ureinwohner d. brit. Inseln. 616.
du Bois-Reymond, R., Physiologie 1
des Schwimmcns. 745.
B i e b e r , Anthropologie Äthiopiens. 92 I .
Cunningham, Rechtshändigkeit des
Menschen. 298.
Dahl, Kraniometrie. (' 'rig. mit Orig.-',
Abb.) 975.
Dodge, Wüsten u. Menschen 665.
Fehlinger, Sterblichkeit der europ. u.
der Negerrasse (Orig.) 280.
Fritsch, G., Vgl. Betrachlungen üb. d.
ältest. ägypt. Darstellungen von Volks-
typen (Orig. mit Orig.-Abb.) 673.
Krämer, A., Anthropologie d. Samoaner
778.
Meyer, E., Das Eolithen-Problem. (Orig.).
854.
Odernheim er, Die Steinkammern bei
Erdbach (Orig.) 150.
P r e u ß , Entw. d. allmexik. Religion (Orig.)
257.
Risley, Indische Rassentypen. 842.
Schwarz, Sintflut u. Völkerwanderungen
160.
Stelz ner, Synästhesie 407.
Stratz, Was sind Juden? 517.
Verner, Hellfarbiger Typus d. Bantu-
neger 458.
Ward, Rassenverschnielzung 532.
Wein hold. Rcfraktionszustände des
menschlichen Auges (Orig. mit Abb.)
225, 336.
Wettstein, Vererbung und Auslese beim
Menschen 361.
Wilser, Urheimat d. Menschengeschlechts
74-
Wilser, Über angebl. nur kletternde
Mensclien (Orig.) 80, 128.
Zander, Riesen u. Zwerge (Orig.) 385.
Zander, Zwergvölker (Orig.) 417.
Amerikanisten-Kongreß 462.
Bräunung der Hautfarbe im Sommer 752.
Kinderheiraten u. Bevölkerung Indiens 683.
Über das Centrale d. Handwurzel 544.
Zoologie.
Apitzsch, Anpassung der Tiefseefauna
(S.-R. mit Abb.) 161.
Babak, Nahrung und Länge des Darm-
kanals (mit .Abb.) 584.
Ballerstedt, Zurückziehung einer
Ameisenkolonie durch den Mutterstaat
(Orig.) S24.
Ballowitz, Gigantische Spermien 519.
Bernstein, J., Elektr. Eigenschatten d.
Zellen u. ihre Bedeutung 761.
Bigelow, Gehörsinn der Fische. 871.
Bongard, Biologie unserer Leuchtkäfer
(Orig. mit Orig.-Abb.) 305.
H ö nn i ngh aus, Gehörsinn der Wale.
1016.
Brandes, Duftapparate bei Käfern 500.
Brandt, Neuere Ergebnisse der Meeres-
forscliung 636.
Brenner, Meine Erfahrungen mit Skor-
pionen (Orig ) 263.
Bretscher, Die Neotenie bei den Am-
phibien (S.-R.) 513.
Brinkmann, Tiere u. Alkohol I Orig.) 471.
Bruhns, Die 6 Berichte Schiaparellis
üb. seine Maßforschungen (S.-R. mit
Abb.) 49.
B r u n i n g , Räuberische Süßwasser-
schnecken (Orig.) 9,
Brüning. Ampullaria gigas. (Orig. mit
Orig.-Abb.) 779.
Büsgen, Honigtau. (Orig.) 960.
V. Büttel, Lebensweise der Hummeln
(Orig.) 299.
Chun, Leuchtorgane austral. Prachtfinken
471.
Dahl, Schutzfärbungen der Tiere (Orig.)
367-
Dahl, Calathus (Orig.) 384.
Dahl, Welches Lehrbuch d. Zoologie soll
man dem Unterr. an höheren Schulen
zugrunde legen (Orig.) 769.
Dahl, Planktonforschung (Orig) 830.
Dawydoff, Zwischenform zw. Meduse
u. Rippenqualle (mit Abb.). 971.
Diem, Bodentiere in den schweizer Alpen
644.
Dreyer, Einw. des Lichtes auf Amöben
646.
E b e r t , Beispiele hervorragender tierischer
Intelligenz. (Orig.) 378.
Ehrenbaum, Über den Hummer (mit
Abb.). 55.
Emanuel, Labyrinth u. Thal. opt. des
Frosches. 407.
Forel, Automatismus. (Orig.) 551.
Gör ich. Die neuen Studien über die
Zellteilung. (S.-R. mit Abb.) 113.
V. Gößnitz, Kicmenbogenlheorie der
Wirbeltiere. (Orig. mit Abb.) 129.
Guldberg, Wanderungen der Barten-
Wale. 987.
Günther, K., Nervenendigungen auf den
Schmetterlingsflügeln. 666.
Haupt, Leuchten der Organsmen. (Orig.
mit Orig.-Abb.). 65.
H e i n r o t h , Der Vogelzug. 202.
:i S 8 2 9
Register.
Henning, Gesch. d. Sandflohes in Afrika.
(Orig.) 310.
Hennings, Marine Myriopoden. 442.
HoHiday, Reduktion des Genitalapp.
bei Ameisen. 762.
H olmgren, Vivipare Insekten (mit Abb.).
714-
Holragren, Ameisen als Hügelbildner
(mit .'Vbb.). 970.
Hucke, Conchyliometrie. (Orig. mit
Orig.-.^bb.) 1009.
I h e r i n g , Biologie der stachellosen Honig-
bienen Brasiliens (mit Abb.). 234.
Kathariner, Orientierungsvermögen der
Honigbiene (mit Abb.). 746.
Keil hack, L., Cladoceren der Krummen
Lanke. (Orig.) 727.
Klien, Verhalten der Vorkernc nach d.
Befruchtung. iS.-R. mit .'\bb.) 596.
Kolbe, H. J., AlkohoUiebendc Tiere.
(Orig.) 632.
Kolbe, Über die psychischen Funktionen
der Tiere. (Orig.) I.
K r u p p u. B i a n c o , Tiefsee-Fischerei bei
Capri 907.
Langlev u. Lucas, GröUtes fliegendes
Lebewesen (mit Abb.). 566.
V. Lenden feld, Flügelgröße u. Körper-
gewicht. (Orig.) 952.
V. Linden, Die gelben und roten Farb-
stoffe der Vanessen. 265.
V. Linden, Hautsinnesorgane auf. d.
PuppenliUllc von Schmetterlingen. 250.
Lu ck s, Die Floscularien: Berichtigung. 16.
V. Martens, Schleimfäden von Limax.
(Orig.) 768.
A. G. Mayer, .atlantische Form des
Palolowurms. 303.
M i c h a e 1 s e n , Fauna des Baikalsees. 746
Müller, Max, Erdhummel u. ihre Var.
935-
N eh ring, Reiflzähnc der Raubtiere.
(Orig.) 127.
Neureuter, Lebensdauer der Insekten.
(Orig.) 289.
Noel, Die Fliege Chlorops lineata. 888.
P e c k h a m , Richtungssinn b. den soli-
tären Wespen (mit Abb.). 856.
Phisalix, Immunität der Vipern und
Nattern. 955.
Pino, Sehpurpur. 937.
Prowazek, Zellbewegungen während der
Teilung. (Orig. mit Orig.-Abb.) 808.
Rabes, Höhe des Vogelfluges. (Orig.) 331.
Raspail, Mauersegler. 683.
Rauther, System. Stellung von Gordius.
793-
Reinhardt, Winterschlat. (Orig.) 403.
R i e g 1 e r , Gefrierenlassen lebender Fische.
33°-
Ri eg 1 er , Elektr. Ströme u. Chaeiopoden.
2'5-
Rörig, Wirtschafll. Wert d. Vogel. 583.
Rüge, E., Zellverbindungen. (S -R. mit
Abb.) 817.
Sanderson, Aus dem Leben d. Schlupf-
wespen. 423.
Schäfer, Schenkeldrüsen der Eidechsen.
^5- ....
Schillings, Tierleben i. d. ost-airikan.
Wildnis. 670.
Schlickum, Beinabwur( beim VVclier-
knecht. (Orig.) 716.
Schmid, Aug., Die sogenannte Riesen-
kraft der Insekten. (Orig.) 109.
Schneider, K. C, Entst. d. Gliederung
des Tierkörpers. (Orig.) 545.
Schnitze, Oskar, Geschlechtsbildende
Ursachen. 697.
Schulz, Fr. N., Quelle der Muskelkraft.
(Orig. mit Schemata. 1 353.
Schuster, Ausbreitung des Girlitzes in
Deutschland. 616.
Schuster, W'., Jun.x Torquilla (Wende-
hals). (Orig.)" 937.
Schuster, W., Klappert der Storch?
(Orig.) 955-
Spengel, Schwimmblase, Lunge und
Kiemen. 120.
Spengel, Die Nesselkapseln der .Aoli-
dier. (Orig. mit Abb.) 849.
Thienemann, Vogelwarte Rossitten.
(Orig.) 44.
Tönniges, Schnecken als Parasiten.
(Orig. mit Abb.) 241.
Tornier, Überzählige organ. Bildungen
(mit Abb.). 585.
Ule, Ameisengärten. 493.
Werner, Franz, Natürlicher Tod bei
Reptilien u. Batrachiern. 921.
W h e e 1 e r , Asseln-fressende Ameisen. 988.
Wolff, Winterschlaf der Fledermäuse.
(Orig.) 34S.
Wolterstor ff, Methode zur Erhaltung
von Leuchttieren. (Orig.) 32.
Wolterstorff u. Jakob, Bastardnatur
von Triton Blasii 871.
Zaccharias, Vorkommen von Drepano-
thrix dendata. (Orig.) 845.
Ziegler, Einw. d. Alkohols auf d. Entw.
d. Seeigel. 313.
Zuntz, Blutkreislauf u. Ernährung der
Organe. 538.
Anableps tetrophthalmus, Lebensweise von.
768.
.Vphis brassicae. 896.
Aufgabe der Zahnnerven. 928.
Augustmilbe. 800.
Coleophora auf Astragalus. 848.
Drahtwurm (Agriotes). 592, 704.
Drüsensekret v. Salamandern etc. 432.
Ei, dottcrluses. 224.
Endemische Säugetiere Südamerikas. 544.
Entstehung v. Weibchen bei höh. Tempe-
ratur. 96.
Flugvermögen der Tiere. 825.
Fortjiflanzung des Flußaales. 655.
Gewitterwürmchen. 256.
Haeckel's Versehen in bezug auf Embryo-
logie. 1040.
Leuchtorgane von Vögeln. 634.
Macropodcnnahrung. 768
Nahrung für Reptilien. 640.
Neotenie bei Tritonarten. 431.
Präparation von Tierskeletten. 7^4-
Rattenschwanzlarven. 752.
Regenwurmarten, deutsche. 8S0.
Regenwürmer, Hautdrüsen. 944.
Schmarotzer auf Aptelsinen u. a. Früchten.
464.
Schwalben-Wanze. 1008.
Über Eier u. Embryonen des .^xolotl. 672.
Zoologenkongreß. 446.
Botanik.
Andreac, Insekten und Blumen. 76.
.Asch crson, P., Embahuba-Baum. (Orig.)
992.
BaUcrstedt, Pfl. -Anpassung an Boden-
verhältnisse. (Orig mit Orig.-Abb.) 715.
Baur, Denitrifizierende Bakterien der
Ostsee. 139.
Beyer, Paraffineinbettung pflanzl. Ob-
jekte. (Orig.) 448.
Brenner, Blattformen von Quercus Hex.
(Orig. mit Orig.-Abb.) 519.
Brenner, Abhängigkeit der Blattgestalt
vom Klima. 1024.
Buchenau, Staubblätter in Fruchtknoten
von Melandryum (mit Abb.) 668.
Czapek, Wurzelausscheidungen der
Pflanzen. 208.
Dangeard, Sexualität b. d. ."Vscomyceten.
425-
Detto, Bedeutung der äther. Ole und
Harze im Leben der Pflanze. (Orig.
mit Abb.) 321.
D ru d e , Pflanzenzwergformen der Japaner.
592-
Drumond, Übereinstimmung der Flora
Europas u. N. -.Amerikas. 888.
Frey tag, Eine vermißte Pflanze. (Orig. |
60.
F i 1 i p p , Wie sich die Pflanzen das Sonnen-
licht dienstbar machen. lOrig. mit
Abb.) 897.
Gaidukov, Einfl. farbigen Lichtes aul
d. Farbe d. Oscillarien. 605.
Geisenheyner, Mainzer Sandflora.
(Orig.) 713.
Gothan u. Rosenthal, M., Jahres-
ringe an der Baumgrenze i. d. .Mpen
(mit Orig.-Abb.). 872.
Gra ebner, Kampf ums Dasein i. d.
Pflanzenwelt. (Orig.) 250.
Grau, Meeresbakterien. 153.
Grüner, Wanderung durch Heide, Ur-
wald u. Moor. (Orig.) 374.
Heller, A., Wirk, äther. Öle auf die
Pflanzen. 973.
Hennings, Eine neue deutsche Cla-
thracee. (Orig. mit Orig.-Abb.) 10.
Hennings, Wodurch entsteht der Feuer-
schwamm. (Orig.) 48.
Hennings, Gefärbtes Holz unserer Wald-
bäume. (Orig.) 62.
Hennings, Pilzexkursion nach Finken-
krug. 202
Hennings, Hausschwanim an lebenden
Bäumen. 496.
Hennings, Leuchtende Hutpilze. (Orig.)
570.
Hildebrandt, Bananen. 399.
Höstermann, Einw. des Kochsalzes
aul" Wiesengräser. 41.
Iltis, Licht und Wurzehvachstum von
Wasserpfl. 698.
Janczewski, .\ntimeridian - Pflanzen.
927.
Jansen, Bakteriensporen und Licht. 747-
K i en i tz- G e rl o f f , Über die Symbiose
von Pfianzenwurzeln mit Pilzen. (S.-R.
mit Abb.) 177.
Klebahn, Spezialisierung der Rostpilze.
587.
Kny, Einschaltung des Blattes in das
Verzweigungssystem der Pflanze. (Orig.
mit Abb.) 369.
Kolkwitz, Süßwasserbiologie u. Ab-
wässerbesciligung. 669.
Krause, E. H. L., Flora zwischen Mainz
und Ingelheim. (Orig.) 379.
Lauf fs, Physiol. Wirkung des Perchlorats
auf die Pflanze. 90.
Lindau, Pilze des Taumellolchs. (Orig.)
809.
Lindemuth, Entstehung von Kartoft'el-
sorten. (Orig.) 336.
Register.
III
Macdougal, Mutation im Pflanzenreich.
945-
Ma.ximow, Einfl. der Verletzungen auf
die Respirationsquotienten. 121.
Molisch, Eine blaue Diatomee. iio.
Molisch, Rotfärbung der Chlorophyll-
körner. 141.
Molisch, Leuchtende Pflanzen. (Orig.)
641.
Molisch, Blattbeweg, bei O.xalis hedy-
saroides. 988.
M o 1 i s c h , Assimilationsversuch mittels der
Leuchtbakterienmethode. 1017.
Möller, Gipfeldürre der Fichten. 846.
Müller, Karl, Pflanzen mit eigenartiger
Ernährung. 219.
Neger, Stelzenpflanzen in der heim. Flora.
(Orig. mit Orig.-Abb.j 300.
Nabokich, Einfl. der Sterilisation der
Samen auf die Atmung. 172.
Ostenfeld, Apogamie bei Hieracium.
1005.
PaUadin, .Atmung der Alge Clorothe-
cium. 794.
Pfuhl, Bäume u. Wälder l'osens. (Orig.
mit Abb.) 922.
Prowazek, Variationskurven von Cen-
taurea Jacea. (Orig. mit graph. Darst.)
424.
Reinke, Symbiose von Volvox u. Azoto-
bakter. 443.
Rostock, Biol. Bedeutung der Drüsen-
haarc von Dipsacus silvestris. 494.
Röss ig, Bildung der Pflanzenzellen. 1004.
Schlickum, Abnorme Kirschblüten.
(Orig.) 683.
Schulz-Herford, .'\bnorme Blüten-
bildung beim Mais. (Orig. u. Orig.-
Abb.) 534.
Seckt, Quecksilber u. grüne Pllanzen.
(Orig.) 988.
Sievers, Die Cisternen der Flechten.
(Orig.) 302.
Stahl, E., Schutzmittel der Flechten
gegen Tierfraß. 763.
S t ä g e r , Infektionsversuche mit Gramineen
bewohnenden Clavicepsarten. 140.
V o 1 k e n s , Laubwechsel tropischer Bäume.
i_97'
V. Wettstcin, Biologie unserer W'iesen-
pflanzen. 826.
Wittmac k, Über die Baumzwicbel.
(Allium canadense). (Orig.) 16.
Wittmack, Über Arum cornutum. (Orig.)
' 59-
Wittmack, Geschichte der Kultur-
pflanzen. 413.
Wittmack , Unterscheidungsmerkmale
der Getreidearten vor der Blüte. (Orig.)
992.
Algenarten in Aquarien. 528.
Botan. Tauschvereinc. 1040.
Degenerierende Varietäten von Kulturpfl r
500.
Equisetum-Kultur. 480.
Freie Vereinigung f. System, u. Pflanzen-
geographie. 126, 429.
Populus euphratica. 368.
Wiesenwachs. 864.
Palaeontologie.
F'raas, E.,Stammesgesch. d. Archaeocetcn
(Urwale). 862.
Gothan, Präparation von Braunkohlen-
hölzern zur mikrosk. Untersuchung.
(Ofig)' 574-
Gothan, Jahresringbildung bei den
Araucariten-Stämmen in ihren Bezieh.
auf ihr geol. Alter. (Orig. mit Orig.-
Abb.) 913.
Jahn, J. J., Lobolithen. (Orig.). 527.
J a c k e 1, Präparation foss. Knochen. (Orig.)
368.
Koehne, Sammeln foss. Rindenrestc.
(Orig. mit Orig.-Abb.) 408.
Lucas, F. A., 2 neue foss. Vertebraten.
794-
Nehring, Diluviale Springmausrcstc.
(Orig.) 215.
N or d enski öld , E., Mastodonten Süd-
Amerikas. 989.
Odernheim er, Inseklcnresle in Zu-
sammenhang mit Petroleumvorkommen.
(Orig.) 845.
Pohle, Das Mammut in d. Vergangen-
heit Sibiriens. (Orig.) 577.
Potonie, Cunealopteris. (Orig.) 16.
Potonie, Die Zusatzfiedcrn der Farne.
(Orig. mit Abb.) 33.
Salcnsky, Uns. Kenntn. vom Mammut.
889.
Stiasny , Pseudofossil von Pinsdorf. (Orig.
mit Orig.-Abb.) 956.
Voigt, Reste der Eiszeitfauna in mittcl-
rhcin. Gebirgsbächen. 684.
Dendriten. 864.
Pareiosaurus, ein Perm. -Riesentier aus dem
nördl. Rußland (mit Abb.) 635.
Versteinerter Wald von Arizona, (mit Abb.)
73'-
Geologie und Mineralogie.
Becke u. Löwl, Geol. Bau der Hohen
Tauern (mit Profil). 588.
Böhm, G., Marine Abi. d. Juraformation
i. d. Molukken. 973.
Burckardt, Landzusammenhang d. südl.
Erdhälfie. 571.
Drevermann, Entstehung des rhein.
Schiefergebirges. (Orig.) 292.
Gagel , Bohrprobensammlung der geolog.
Landesanstalt. (Orig.) 78.
Gans, Bedeutung der Nährstoffanalyse
in agron. u. geogn. Hinsicht. 30.
Geinitz, E., Bilder von Windwirkungen 1
am Strande. (Orig. und Orig.-Abb.)
1025.
Gerland Erdbebenforschung. 84.
Harbort, Magneteisenerzlager. 112.
Hutton, F. W., Geolog. Gesch. Neu-
seelands. 938.
Hübner, Nitratlager der Sahara. (Orig.
mit Karte.) 573.
Jentzsch, Eisrücken am Gaußberg. (Orig.
mit Abb.) 425.
Kayser, Erich, Bildungsgeschichte des
Rheintales. 88.
K o e rt , Meeresstudien und ihre Bedeutung
f. d. Geologen. (Orig. mit Orig.-Abb.)
481.
Lacroix, Ausscheidung von (^)uarz in
Eruptivgesteinen. 698.
Lang, O., Der Lamsberg bei Gudensberg.
(Orig. mit Oiig.-Abb.) 449.
Lang, O., Gipfelkrönungen v. Vulkan-
kuppen. (Orig. mit z. T. Orig.-Abb.)
929.
Lawson, Algonkium. 141.
Loebe, Unterschied zwischen Ton und
Tonerde. (Orig.) 64.
Nötling i'bergang zwischen Kreide und
Tertiär. 535.
Ochscnius, Wasserkissen. 91.
Odernheime r, Asbeslfundstätten. (Orig.)
237-
Odern heimer, Erdölvorkommen in
Norddeutschland. (Orig.) 606.
Ostmann, Patagonischc Formation. 154.
Passarge, Inselsberg-Landschaften im
Irop. Afril.a. (Orig. mit Orig.-.\bb.) 657.
Philippi, Organische Ablagerungen am
Grunde d Tiefsee. (Orig) 38 1.
Potonie, LehmgeröUe. (Orig. mit Orig -
Abb.) 810.
Sapper, Vulkanische Erscheinungen in
Guatemala. 83.
Scheibe, Natürl. u. künstl. Edelsteine.
540.
Solger, Das Alter der Erde. 2^3.
Spring, Durchtränkung des Sandes. 473.
Spring, Wasserdurchlässigkeit von Sand,
Lehm und Ton. 554.
Stille, Geologische Linien im Land-
schaftsbilde Mitteldeutschlands. (Orig.
mit Abb.) 865.
Wagner, P., Der Humboldtfelsen im
Zittauer Gebirge. (Orig. mit Orig.-Abb.)
187.
Wahnschaffe, .Vusflug nach Staßfurt.
124.
Wahnschaffe, Das Gifliorner Hoch-
moor bei Triangel. (Orig. mit Orig.-Abb.)
785.
Walth er , J., Entstehung und Besiedelung
der Tiefseebecken. (Orig.) 721.
Weber, Fried r., Kalisyenit des Piz
Giuf. 1005.
Weckbecker, Graphit aus Holzkohle
und Ton. 669.
Wilckens, Itedeutung von Eruptiv-
Breccien als erdgeschichtlicheUrkunden.
(Orig. mit Profil.) 26, 640.
Angebliche Neubildung von Steinkohle.
764.
Der Asphalt (mit Abb.) 443.
Kristallnetze 672.
Mineralienhandlungen. 720.
Mud. 384, 448, 512, 560.
Geographie und Geophysik.
A rc h en h ol d , .Apparat zur Erklärung von
Ebbe und Flut (mit Abb.) 188.
v. Aufseß, Farbe der Seen. 650.
Börnstein, Vorrichtung zur Erklärung
von Ebbe und Flut. (Orig.) 251.
D e c k e r t , Nordamerikanische Ströme als
Verkehrsmittel. 86.
Diels, Neu-Seeland. 412.
Dinse, Systematik der Erdkunde. 522.
Friedrich, Kartographische Aufgaben
der Wirtschaftsgeographie. 86.
Halb faß, Verkehr auf Seen. 87.
Halbfaß, vSeiches (Orig.) 8S1.
Hansen, Geschichtl. .Atlas der Rhein -
provinz. 87.
Haußmann, I'irdniagnet. v. Württemberg.
394-
Kraus Geschichte der Handels- und
Wirtschaftsgeographie. 86.
Lampe, Der 14. deutsche Geographen-
tag. (Orig.) 81.
Luyken, Kerguelenstation. 82.
Meyer, Totwasser. 459.
Mouseaux, Magnetische Störungen vom
31. Oktober. 1 73.
Nansen, Totwasser. 795.
Pfaff, Schwereänderungen und Boden-
bewegungen in München. 349.
IV
Register.
Philippi, Erlebnisse der Südpolar-
expedition. 539-
Rapple, Die i. Durchquerung Austra-
liens. (Orig.) 984.
Roßmäßler, Aus dem südl. Kaukasus.
(Orig.) 246.
Roßmäßler, Im und am Wolga-Delta.
(Orig.) c,I7.
Schmidt, A., und Schott, Meeres-
strömungen. 84.
Schott, Physische Meereskunde und
Schiffahrt. 313.
Sc h warzsch il d , Breitenbestinimungen.
411.
Sieger, Wirlschattsgeographie. 85.
Supan, Namengcbung f. d. Formen des
Meeresbodens. 427.
Geograplienkongreß. 477i 7^^-
Geophysikal. Observatorium auf d. Monte
Rosa. 827.
Südpolarcxpedition, Rückkehr. 266. — Er-
gebnisse der (mit .Abb.). 504.
Terminologie der Küstenbildungen. 608,
Physik.
Abel, Rückgang der Sterblichkeit in den
letzten 50 Jahren. 907.
Becker, Konstitution der Materie. (S.-R.)
529.
Becker, A., Gegenwärtige Kenntnis über
Radioaktivität. (S.-R. mit. l Abb.)
993-
B e r n i u i , Elekt. Leitlähigkeil des Kaliums.
652.
Blaas, Photogr. Wirkungen im Dunklen.
(Orig.) 200, 316, 400.
Blondlot, n-Strahlen. 268, 650.
Blond lot. Neue Art Ausstrahlung. 764.
Caesar, Töne am Telephon. 832.
C h a n d e 1 1 , Elektrizität u. Kristallbildung.
(Orig.) 910.
Charpentier und Meyer, n-Strahlung
lebender Organe. 332.
Duden, Fortschritte in der Kenntnis der
radioaktiven Stoffe. (S.-R.) 17.
Elster u. Geitel, Elektrizitätszerstreu-
ung in Luft infolge radioaktiver Ema-
nation. 285.'
Ewing und Walter, Detektor f. elektr.
Wellen. 65 1.
Fliegener, Über den Clausius'schen
Entropiesatz. 29.
Föppl, Kreiselversuch zur Messung der
Umdrehung der Erde. 812.
Goldstein, Nachfarben der Salze. 217.
Grimsehl, Analyse von Schwingungen.
155-
H a 1 1 w a c h s , Lichtelekir. Ermüdung. 862.
H a r t m a n n , Emanium - Lichtspektrum.
927.
Heyl, Physik. Eigenschaften der strom-
führenden Materie. 649.
Holtz, Erf. d. Elektrisiermaschine. 892.
H u g g i n s , Spektrum der spontanen Licht-
strahlung des Radiums. 3 16.
Humphreys, Dopp. Umkehrung von
Spektrallinien. 446.
Koch, K. R., Änderung der Schwerkraft
940.
Langenbach, Intensitätsverteilung bei
Linienspektren. 12.
Lussana, Therm. Eigenschaften d. festen
und flüssigen Körper. 29.
Marckwald, Radioaktive Stoffe. 251.
Pflüger, Energiemessungen im Ultra-
violett. 733.
Precht, Monochromatisches blaues Glas
(Orig.) 848.
R ä h 1 m a n n , Ultramikrosk. Unters. 428.
Righ i, Ionisierung der Luft durch elektr.
Spitze. 143.
Rubens, Lumm er, Wood, N-Strahlen.
941.
Schlömilch, Fessenden etc.. Elektro-
lytischer Wellen-Dcdeklor. 1019.
Schuster, Hemsalech und Hagen-
bach, Doppler-Effekt im elektrischen
Funken. 536.
Seddig, Elektr. Kraftlinien. 827.
Smith, Schmelzwärme des Eises. 607.
Taudin-Chabot, Abnorme Refraktions-
Erscheinung. 216.
Valbreuze, Quecksilber - Lichtbögen.
411.
Wätzmann, Intensitätsverhältnissc der
Spektra von Gasgemischen. 1036.
Wood u. Moore. Spektrum d. Natrium-
dampfes. 364.
Zschimmcr, Für ultraviolett durchsich-
tige Glasarten, it;^.
Becquerelstrahlen u. Gravitation. 192.
Begiiffe Gramm und Kilogramm. 127.
Kondensator. 448.
Versuche mit Gleich- u. Wechselstrom bei
7000 Volt (mit Kurve). 8 12.
Mathematik.
K eichart, Trisektion ein. Winkels. (Orig.
mit Orig.-Abb.). 394.
Schmidt, A., Elementare Berechnung
der Logarithmen. (Orig.) 193.
Schmidt, Max C. P., Latein. Term. d.
Arithmetik. (Orig.) 468, 497.
Ratschläge für Mathematikstudenten. 365.
Astronomie.
Adams, Die radialen Geschwindigkeiten
^ von Pleiadensternen. 846.
Angström, Ozon-Absorption im Sonnen-
spektrum. 1036.
Arrhenius, Natur der Sonnenkorona.
1018.
Banachiewicz, Sternbedeckung durch
Jupiter. 78.
Barnard, Aufnahmen d. Kometen Borelly
(mit Abb.). 216.
Ceraski, Veränd. Stern. 648.
Curtiss, W.-Sagittarii. 1036.
Darwin, G. H., Das Alter der Sonne.
142.
Deslandrcs, Sonnenflecken und Erd-
magnetismus. 394.
Gorczynski, Verminderung der Sonnen-
strahlung. 648.
Graff, X-.-\urigac. 382.
Hart mann, J., Oscillation v. c)'-Orionis.
940.
Klein, H.J.,Die vulkanischen Bildungen
des Mondes. 890.
Langley, Veränd. d. Intens, d. Sonnen-
strahlung. 877.
Langley, Sonnenfinsternis v. 18. Mai
1900. 1018.
Ludendorff, Veränd. Stern f-.Aurigae.
427.
Marcuse, A., Wanderung durchs Sonnen-
system. 670.
Nichols und Hüll, Künstl. Kometen-
schweif. 473.
v. Nicssl, Die geogr. Beziehungen des
Meteorphänomens. (Orig.) 273.
Nießl, Natur d. Sternschnuppen. (Orig.)
879-
Parkhurst, W-Aurigae. 364.
Slipher, Venus-Rotation. 92.
St ebb ins, Spectra von ;^-Ccli u. ;;-Cygni.
461.
V o g e I , H. C, Doppelstern ;3'-Aurigae. 637.
Wendell, Planetoid Iris. 411.
Wirtz, Neue Messungen an den äußersten
Planeten. Iio.
Wolf, M., Neuer Stern. 77.
Wolf, M., Gegenschein. 78.
Wolf, M., 24 veränderliche Sterne. Iio.
Algol. 47.
Der vermeintl. 2. Erdmond. 192.
Hiraraelserscheinungen. 78, 143, 20 f, 269,
350. 412, 495. 559. 618, 701, 765, 828,
910, 974, 1037.
Meteorologie.
Börnstein, Tägl. Gang des Luftdrucks
in Berlin. 811.
Eb ert, H., Ursache desatmosph. Potential-
gefälles. 874.
Eichhorn, Sonnenscheindauer. 716.
Goll, Erdbeben u. Regen. (Orig.) 909.
Hoffmann, J. F., Barometerstand und
Niederschläge. 617.
Kowalski, Elektr. Entladungen in der
Luft. 393.
Lamprecht, Einfl. des Mondes auf die
Niederschläge. (Orig.) 795.
Leß, Wetter-Monatsübersicht. (Orig. mit
schcm. Darst. üb. Temperatur U.Nieder-
schläge.) 43, 123, 190, 268, 332, 395,
476, 538, 618, 685, 750, 814, 893,
957, IO20.
Loe wen herz u. Richarz, Temperatur-
difterenz in vertik. Luftströmen. 364.
Maurer, Erklärung d. magnet. Sturms v.
31. Oktober 1903. 510.
Perlewitz, P., Elektr. Entladung bei
Drachenaufstiegen. 957.
Reiner, Neue Hilfsmittel d. Meteorologie,
(mit Abb.). 99.
Szlavik, Bravaiserscheinung. 891.
Falb's Theorie. 112.
Wetterglas. 128.
Chemie.
Bancroft, Elektrolyt. Läuterung des
Kupfers. 173.
Claude, Gewinnung von Sauerstoff mit
Hilfe flüssiger Luft. 251.
Erdmann, Erzeugung hoher Vakua für
ehem. Destillation. 238.
Er d mann u. Bedford, Flüss. Sauer-
stoff u. flüss. Luft (mit Abb.). 925.
Guldberg, Wanderungen verschiedener
Bartenwale. 533.
Hefelmann und Windisch, Salicyl-
säure in Erd- und Himbeeren. 647.
Moissan u. Dewar, Affinität u. Reak-
tionen des flüssigen Fluors. 41.
Pfannenstiel, Wertigkeit d. Elemente.
558.
Ramsay, Per. Gesetz der Elemente. 733.
Richards und Landis, Elektrolyse des
Wassers. 219.
Runge, Spektroskopische Bestimmung
des Atomgewichts. 173.
Tammann, Zustand des Eisens im Erd-
innern. 393.
Utz, Spontane Gerinnung d. Milch. 61 5.
Walker, Elektrometallurgie des Goldes.
189.
Register.
Wo hier, L., Oxydierbarkeit des Platins.
286.
Chlordioxydgas. 416.
Eiweißstoffe in Muskeln. 1008.
Metallographic. 155.
Über CcUulose. 473.
Technik, Instrumentenkunde
und Industrie.
B i r k e 1 a n d , Klektromagnetischc Kanone.
201.
Börnstein, Luftballons gegen Explo-
sionen zu schül/^en. (Orig.) 12.
Burgerstein, Vcgetabil. Surrogate tier.
Rohstoffe. 144.
B ü s g c n , Bestimmung d. I lolzhätte. (Orig.j
603.
V. Büttel, Taschenhlpen von Zeiß. (Orig.
mit Abb.) 537.
Czängiu. Biirzay, Galv. Element. 144.
Dessauer und W'iesner, Sekundäre
Röntgenstrahlen. 446.
Engel-Precht, .\eues Pottasche- Ver-
fahren. 3 1 .
Grauer, Fiebelkorn und Odern-
heimer, Kristallisierter Portland-
cement (z. T. Orig.). 494, 5S9, 749.
Heraeus, Quarzglas. 335.
Koerber, Die Entwicklung d. achromat.
optisclien Systeme (mit Abb.) 72.
Naß, Entw. d. Beleuchtungswesens. 523.
Niehus, Gewinnung des Rosenöls. 92.
Pokorny, Einiges ül). d. Pilze i. Dienst
V. Gewerbe, Industrie u. Landwirtschaft.
(Orig.) 753.
Pupin, Verb. d. telo[)h. Fernleitung. 557.
R a t c a u , Dampfturbine als Schiffs-
maschine. 700.
Rathgen, Erhaltung v. Altertunisfunden.
209, 701.
Rhousupulos und Rathgen, Kon-
servierung von Altertümern (mit Orig.-
Abb.). 209.
V. Rohr, Verant. 462.
Roßmäßler, Papieiuntersuchung. (Orig.)
229.
V. Slavik, Farbige Photographie. 652.
Schmidt, A., Reinigung des Quecksilbers.
(Orig.) 160.
Benoidgas. 543.
Cement. 122.
Ersatz des Platins in Glühlampen, i (o.
Fernsprechlinie v. 5000 km. 1037.
Kinematograph. 717.
Röntgeneinrichtung tür Kriegszwecke (mit
Abb.). 781.
Röntgenstrahlen im Dienst der Kabel-
fabrikation (mit .^bb.). 892.
Unterricht.
(Soweit nicht anders untergebracht.)
Detmer, Herstellung von Schnitten und
Wandtafeln. (Orig.) 624.
de V r i e s, Wüstenlaboratorium zu Tuczon
(Arizona). (Orig.) 401.
Beleuchtung von Wandtafeln beim Unter-
richt. 240.
Ferienkurse in Jena. 365.
Gesellsch. f. volkstünil. Naturkunde. 124,
201, 219, 251, 412, 523, 538, 669, 701,
1021.
Museum von Meisterwerken der Natur-
wissenschaft und Technik. 317, 396.
Naturh. Museen in d. Verein. Staaten. 590.
Preisaufgaben. 559.
V. Reinach-Preis s. Paläontologie. 495.
Medizin und Hygiene.
D a h 1 , Wird der Skorpion durch seinen
Stich d. Menschen gefährlich? (Orig.)
97-
Deyckeu. Reschad Effendi, Dysen-
terie in Konstantinopel. 493.
Finsen's Lichttherapie (mit Abb.) 455-
Hausmann, Biolog. Arsennachweis. 941.
Ihrig, Wundbehandlung nach biolog.
Prinzip. 215.
Karsten, Paula, Indisches Mittel gegen
Vergiftung. (Orig.) 96g.
K e 1 1 i n g, Ursache d. Krebsgeschwüre. 726.
K e n t , Prüfung v. Trinkwasser. (Orig.) 367.
K o s s e 1, Serumtherapie u. Serumforschung.
524.
Lcduc, i\li;klr. als Betäubungsmittel.
1020.
Möller, A., Bekärnj^fung der Tuber-
kulose. 1021.
Murata, Schutzimpfung gegen Cholera.
423-
Natolitzky und Hirn, Gifte in Stra-
monium-Zigarctten. 617.
Nocht, Tropenkrankheiten mit Abb.).
I031.
Otto, W., Elektrizität in der .Medizin.
(Orig. mit Abb.) 1000.
R abi n o w i tsc h und Kempner, Try-
panosomen als Krankheitserreger (mit
Abb.). 458.
Röhler, Wurmkrankheit. |S.-R. mit Abb.)
390.
Schäffcr - Stuckert, Zahncaries-Ent-
stehung. ng.
Schmidt, H. E., Entwicklung der Licht-
therapie (mit Abb.) 455.
Thoms, Giftigkeit bitterer Mandeln.
(Orig.) 416.
W e i n h o 1 d, Gegenwärtiger Stand d. Lehre
von der Kurzsichtigkeit. (Orig.j 822.
W e s e n b e r g , Über den biologischen
Arsennachweis (S.-R.). 835.
Zuntz, Ventilation menschlicher Wohn-
räume. (Orig ) 329.
Kefir. 528.
Lepraverbreitung im indischen Reiche. 696.
Menschen- u, Rindertuberkulose. 440, 630.
Phagocytenlehre usw. 296.
Nationalökonomie.
B o r o d i n, Fischereiverhältnisse i. Rußland.
682.
Eckstein, Fischerciausstellung. 121;.
G u a r i n i , Elektrizität und Landwirtschaft.
42.
Kirsch mann, Eisgewinnung. 365.
Luerssen, Krähenfang an der Ostseeküste.
(Orig. mit Orig -Abb.) 758.
L u n d , Versorg, d. Inlandes m. Seefischen.
(Orig.) 233.
Tuben f, iBlitz als Waldverderber (mit
Abb.). 552.
Wittmack, Aufschwung des deutschen
Gartenbaues. 729.
Arachis-Kultur. 480.
Aufforstungen in Tsingtau. 488.
Löftler'scher Mäusetyphusbazillus. 543.
Biographisches u. Historisches.
F u r ii r i n g e r, r, Gcgcnbaur (mit Porträt).
103.
Jacobi, Max, Leonardi da Vinci als
Alpenfreund. (Orig.) 776.
Jaekel, K. A. v. Zittel. (Orig.) 359.
Stahl, E„ Matthias Jakob Schieiden.
977-
Bredichin f. 655.
Calandreau f. 495.
Gegenbaur 103.
V. Hefner-Alteneck j. 269.
Lemström f. 941.
Marey f. 796.
V. Martens, E., f. 877.
Perrotin f. 495.
Roberts, J. f. 796.
Schieiden, Centenarfeicr. 269.
Siemens, Friedr. j. 796.
Spencer f. 270.
Stübel j. 1007.
V. Zittel. 359.
Literatur.
Abbe, Gesammelte .■\bhandlungen. 287.
A b e g g , Elektrolytische Dissoziation. 397.
Adamkiew icz. Die Großhirnrinde. 93.
Ahrens, Gärungsproblem. 397.
Ahrens, Chem.techn. Vorträge. 397.
Ahrens, Scherz u. Ernst in der Mathe-
matik. 1039.
Alberl 1. v. Monaco, Eine Seemanns-
laufbahn. 542.
Lit. üb. die schwäb. Alp. 960.
Arnold, Physik. Chemie, iii.
Arnold, Rep. der Chemie, ill.
Aß mann & Hergesell, Beiträge zur
Physik d. Atmosphäre. 991.
Avenarius, Philosophie als Denken der
Welt. 350.
Bachmetjew, Entom. Studien. 382.
Bala weider, Mathem. Ableitung der
Naturerscheinungen. 655.
H a u r , Hydrate in wässeriger Lösung. 397.
Becker, 11., Alkalimetalle. 797.
Beilingshausen, Südl. Eismeer. 815.
Berliner, Experimentalphysik. 79.
Besson, Le radium. 640.
Biedenkapp, Was erzähle icii meinem
6 jährigen. 254.
Bloch, E., Werners Theorie des C-Atoms.
847-
Blondlot, Kayons-N. 640.
Bölsciie, Sonnen u. Sonnenstäubchen.
126.
B ö 1 s c h e , .\bstammung d. Menschen. 590.
Borchers, Nickel. 797.
Borchers, Elektrometallurgie. 943.
Borchers, Institut f. Metall-Hüttenwesen.
911.
Boussinesq, Theorie de la chaleur. 79.
Brauns, Mineralreich. 319.
Broca, Telegraphie sans fils. 655.
Bruhns, Petrographie. 239.
Bruhns, Kristallographie. 703.
Burgerstein, Trans])iration d. Pflanzen.
1022.
V. Büttel- R eep en. Sind die Bienen
Rellexmaschincn.' 396.
Ch alikiopoul OS, Sitia. 127.
Lit. üb. Chemie. 1024.
Chipart, Theorie gyroslat. d. I. lumiere.
366.
Christiansen u. Mül 1 c r, Theor. Phy-
sik. 223.
Classen, Elektr. u. Magnetismus. 686.
Claus -Grobben, Zoologie. 430.
Conwentz, Heimatkunde in der Schule,
414.
VI
Register.
C o n w e n t z , Gefährdung der Natur-
denkmäler. 1038.
Cook, F. A., Die erste Polarnacht. 751.
Coym, Geometrie d. Ebene. 576.
Crüger, Physik. 478.
Dacque, Deszendenzgedankc u. seine
Geschichte. 560.
Dahl, Anl. zum wiss. Sammeln v. Tieren.
576.
Danne, Radium. 797.
Danneel, Elektrochemie. 224..
Dannecl, Elektrochemie u. Metallurgie.
896.
Danne mann, Gesch. d. Natur. 192.
Danncmann, Entw. d. Naturw. 270.
Darapsky, Wünscheh'ute. 462.
Delbrück u. Schrobe, Hefe, Gärung
und Fäulnis. 751.
Dennert, Chem. Praktikum. 576.
Descombe, La comprcssibilite des gaz
reels. 304.
Detto, Anpassung. 718.
Lit. üb. Deszendenztheorie. 960.
Die kl, Effektbereclmung von Flugvor-
richtungen. 767.
Dreher, Philosoph. Abhandlungen. 78.
Drescher, Kosmische Schneewolken.
991.
I-)riesch, Die Seele als elementarer
Naturfaklor. 45.
Drignlsky, D. Südpolarexpedition. 619.
Edcr, Jahrb. f. Photographie. 96.
Eder, Praxis d. Photographie. 479.
Eder, Photogr. mit Chlorsilbergelatinc.
47?-
Egeli, Unfälle beim ehem. Arbeiten. 878.
Lit. üb. Eingeweidewürmer. 896.
Elbs, Übungsbeispiele für Fülektrolyse.
1039.
Engel har dt, Monographien über
Elektrochemie. 797.
Fn gel h ard t, V., Hippochloritc u. elektr.
Bleiche. 863.
Ephraim, Vanadin. 895.
Esser, Pflanzen f. d. bot. Unterr. 271.
Lit. üb. den Essigaal. 1007.
Eyth, Im Strome unserer Zeit. 376.
Feldhaus, Erf d. eleklr. Verstärkungs-
flasche. 272.
Ferchland, Elektrochemie. 175.
Fisher u. Darby, Mesurcs electriques.
79-
Lit. üb. das Fischauge. 8S0.
Fiticca, Sulfitzellstoff-Fabrikalion. 911.
Lit. zum Bestimmen von Flechten. 1024.
Fränkcl, Anatom. Vorträge. 352.
Friedmann, Herm., Konvergenz der
Organismen. 718.
Frobenius, Geogr. Kulturkunde. 591.
Fromm, Chem. Schutzmittel des Tier-
körpers. 366.
Fuß u. Hensold, Physik. 478.
Geisen heyner, Flora von Kreuznach.
>9I-
Geißler, Mathem. Erdkunde. 463.
Gelcich, Astron. Bestimmung der geogr.
Koordinaten. 158.
Gerber, Bewegung u. hortpHanzung der
Wirkungen im Äther. 847.
Ge wecke, Sternkarte. 7S4.
Giard, Controverses transformistes. 718.
Giesenhagcn, Botanik. 271.
Götz, Bayern. 703.
Graf, Ilimmelskunde. 1023.
Gray, Physik I. 543.
Grimsehl, Elektr. Glühlampe. 287.
Grünberg, Hypothese zur Thermo-
dynamik. 95.
Grund, Karsi-Hydrographie. 591.
Haas, Versteinerungskunde. 174.
Haas, Der Vulkan. 751.
Haberlandt, Physiol. Pflanzenanatomie.
607.
Hagen, Synopsis d. höheren Mathem. 655.
Hager- Mez, Mikroskop. 974.
Harperath. Grundlagen der Astronomie.
239-
Hartinger's naturgcschichtl. Wand-
tafeln. 447.
Hartmann .Zukunft D.S.W. -Afrikas. 446.
Hassert, Württemberg. 703.
Hauber, Statik. 334.
Hauberrisser, Photogr. Negative. 479.
Haus ding, Torf- Gew. u. -Verw. 911.
Hansgi rg, Phyllobiologie. 143.
Heibig, Die erste Erfindung. 254.
Helfenstein, Energie u. ihre Formen. 63.
Herrmann, Elektrotechnik. 703.
Hert wi g , Handb. d. vergl. Entwicklungs-
lehre der Wirbeltiere. 14.
Hcrtwig, Zoologie, 430.
Herz, Verwandtschaftslehrc. 397.
Herz, Lösungen. 894.
Heß, Die Gletscher. 765.
Hesse, Natur u. Gesellschaft. 541.
Hof mann , K arl , Radioaktive Stoffe. 80.
Hörn es, Paläontologie. 703.
Huber, Katechismus der Mechanik. 95.
V. Hübl, Ozotypie. 479.
Lit. zum Bestimmen von Insekten. 9 12.
Johannsen, Erblichkeit in Populationen.
7.8.
Jost, Pflanzenphysiologie. 1038.
Jörge nscn, (ihemic. in.
Kampffmeyer, Marocco. 559.
Kap teyn, Skew frequency curvcs. 415.
Karsten u. Schenck, Vegetations-
bilder. 878.
Kassowitz, Biologie. 317.
Kienitz, Baden. 703.
K i eni tz- G erlof f , Bakterien u. Hefen.
942.
Klebs, VVillk.Entw.-And.b. Pflanzen. 255.
Klein, Chemie. 703.
Klein, F., Umgestaltung des nuith'-ni.
Unterr. 1023.
Klockmann, Mineralogie. 95.
Knelei", Das Christentum und die \'er-
trcter der Naturw. 94.
Kobert, Sa;'ioninsubslanzen. 446.
K o h u t , J. V. Liebig. 20J.
Kolbe, B., Elektrizitätslehre. 608.
Kollert, Physik. 158.
Krämer, Weltall u. Menschheit. 286.
941.
Kr an eher, Entom. Jahrbuch. 270.
Kra.san, Indiv. u. spez. Gestaltung i. d.
Natur. 477.
Ki'iz, Quartär in Mähren. 158.
Kur eil a s. Löwenthal.
Kubier, Weltgesetze. 846.
Ladenburg, Racemie. 397.
Langhans, Rechts u. links der Eisen-
bahn. 735.
Lankaster, Zoology. 430.
Lassar-Cohn, Chemie, iii.
Lauterborn, Vogel- etc. Buch von
Baldner. 304.
Lepsius, Geol. v. Deutschland. 591.
Leo, Hat das Menschenleben einen Zweck?
78.
Levy, Organ -chem. Präparate. 383.
Linde. Lüneburger Heide. 1007.
Lipps, Das Selbstbewußtsein. 93.
Liesegang-Gädickc, Photogr. Alma-
nach 1904. 479.
Liznar, Barometr. Höhenmessung. 415.
Loin, Chemie, in.
Lösner, Levitation u. Flugproblem 767.
Löwenthal u. Kurella, Grenzfragen
des Nerven- u. Seelenlebens. 93.
Lubarsch, Chemie. 942.
Lunge, Techn.-chem. Analyse. 703.
Mahler. Physikal. Formelsammlung 640.
Marth, Trunksucht. 958.
Mathias, Le point critique. 304.
Matzat, Philosophie der .Anpassung. 46.
Matzdorff, Tierkunde. 430.
Marti, Wetterkräfte. 941.
Mayer, Hans, Die neueren Strahlungen-
640.
Meyer, Arthur , Bakterienkunde. 143.
Meyer, G., Graphologie. 62.
Meyer's Konversationslexikon. 32,^70,
526, 828, 1037.
Meyer's Histor. -geogr. Kalender. 590.
Mie, Ionen u. Elektronen. 415.
Lit. zum Bestimmen von Mineralien. 944.
Minet, Aluminium. 797.
Lit. üb. die Genesis von Mooren. 880.
Mooser, Entsl. d. Sonnensystems. 846.
Morel!, L'acetylene. 942.
Möbius, Astronomie. 334.
Moebius, Schieiden. 543.
Nansen, Eskimoleben. 783.
Neger, Handelspflanzen. 175.
Nernst, Theoret. Chemie. 928.
Neumeister, Wesen der Lebenserschei-
nungen. 559.
N i e m a n n , Mikroskop. 894.
Nippoldt, Erdmagnetismus. 175.
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Oppenheimer. Fermente. 240.
Ostwald, Schule der Chemie, iii.
Pellat, Electricite. 207.
Penck, Morph, u. Erdoberfläche. 512.
Lit. üb. Perlenfischerei. 1008.
Pernter, Wetterprophezeiung. 144.
Perrin, Chimie physique. 1007.
Petzoldt, Fünf i. d. Philos. d. reinen
Erfahrung. 63S.
Pfaundler, Phys. d. tägl. Lebens. 478.
Phillips, Combustibles. 447.
Pizzig belli, Photogr. Prozesse. 479.
Poincare, Theorie d. Maxwell. 816.
Pokorny-Latzel. Tierreich. 430.
Popig, Stellung d. Südost-Lausitz ipi
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Post u. Kuntze, Lexikon generum
phanerog. 4S0.
Ramsay, Period. System d. Elemente. 159.
Rauter, Chem. Technologie. il2.
Rauter, Schwefelsäureindustric. 397.
Reinisch, Pctrographisches Praktikum.
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RcUstab, Telegraphie. 175.
R em US , Das dynamologische Prinzip, 799.
Ribot, Schöpferk-aft der Phantasie. 93.
Riehl, Helmholtz u. Kant. 8 16.
R i e c k c , Zum Unterr. in Physik u. Astro-
nomie. 1023.
Roosevelt, lagden in amerik. Wildnis.
990.
Rosen, Die Natur i. d. Kunst. 429.
Rosenberg, Physik. 478.
Röttger, Nahrungsmittelchemie. 239.
Rudorf, Lichtabsorption in Lösungen.
397-
Register.
VII
Rüdorff- Lüpke, Chemie, I2. Aufl.
III.
Rüd orft- Krause , Chemie, 13. Aufl.
829.
Ruhmer, Funkeninduktoren. 686.
Ruppin, Darwinismus u. S<izialwissen-
schaft. 46.
R ü s c h e r, Göttliche Notwendigkeits-Welt-
anschauung. 94.
Rul3, Einheim. .Slubenvögel. 463.
Schallniayer, Vererbung u. Auslese 222.
Scheid, Chcm. Experini.-Buch f. Knaben.
431-
Schilling, Seltene Erden. 447.
Schilling-Reichen b ach, Tierreich.
43°-
Schirmeisen, Entstehungszeit d. germ.
Göttergestalten. 878.
Lit. zur Landeskunde von Schleswig-Hol-
stein. 992.
Schläpt'er, Naturw. Repetitorium. 478.
Schmidt, .\lbert, Die Mineralien des
Fichtelgebirgcs. 95.
Schmidt, Julius, .Mkaloidcheraie 1900
bis 1904. 431.
Schmidt, J., Nitrosoverbindungen. 397.
Schmidt, Willi., Astronom. Erdkunde.
463-
Schott, Meereskunde. 703.
Scheute, Stelärtheorie. 463.
Schubert , Mathcm. Mußestunden. 272.
Schubert, H., Eleni. Berechnung d.
Logarithmen. 207.
Schubert, J o h., Wärmeaustausch. 958.
Schubert, Tli., Ursachen aller Bewe-
gungen der Himmelskörper. 846.
Schuck, Stabkarten der Marschallinsu-
laner. 47.
Schulz, Fr. N., Größe des Eiweiß-
raoleküls. 510.
Schuppe, Zusammenhang zwischen Leib
und Seele. 93.
Schwalbe, Astronomie. 879.
Schweitzer, Energie u. Entropie. 478.
Siegrist, Chem. Affinität. 397.
Smalian, Pflanzenkunde. 271.
Sorel, Industrie chimique. 334.
Steinmann, Paläontologie. 174.
Stephan, F., Techn. Mechanik. 975.
Stolze, Chemie f. Photographen. 479.
Strasburger usw., Botanik. 270.
Strasburger, Streifzüge a. d. Riviera.
429.
Strauß, Alter und neuer Glaube und das
Leben Jesu. 79.
Strcintz, Das Leitvermögen von ge-
preßten Pulvern. 95.
Strunlz, Naturlietracht. u. -Erkenntnis
im Altertum. 862.
Sven V. Hedin, Im Herzen von Asien
(mit Abb.). 620.
Sverdrup, Neues Land. 766.
Sydow, Annales mycolog. 590.
Thenius, Verw. d. Torfs. 91 1.
Lit. üb. System, d. höh. Tiere. 912.
Lit. üb. Tierlebcn des Süßwassers, ^^gö.
Th i ers ch , Physiognomie d. Mondes.' 272.
Thome, Flora von Deutschland. 191.
Tropfke, Gesch. der Elementar-Mathe-
matik 607.
Ule, W., Niederschlag und Abfluß in
Mitteleuropa. 511.
Ulke, Raffination des Kupfers. 797.
V. Uslar, Goldgewinnung. 797. j
V. Uslar, Gold. 895.
Veiten, Sitten u. Gebräuche der Suaheli
366.
Verworn, Allgem. Physiologie. 204.
Verworn, Naturw. Unterricht. 830.
Wächter, Das Feuer. 863.
Wahnschaffe, Bodenunters. 16, 96.
Wa r bu rg , Kunene-Sambesi-Expedition.
671.
v. Wasielewski, Goethe und die Des-
cendenzlehre. 495.
Weber und Wellstein, Elementar-
mathematik. 207.
Wedekind, Santoningruppe. 397.
Wedekind, Steieochemie. 703.
Wegner, R., Einheit d. Naturkräfte. 958.
Weighardt, Mathem. Geogiaphie. 63.
Weis, Kant. 62.
v. Wettstein, Botanik. 270.
V. Wettstein, Vegetationsbilder aus Süd-
brasilien. 878.
Weule, Völkerkunde und Urgeschichte
im 20. Jahrhundert. 254.
Wichelhaus, Chem. Technologie. 1 1 2.
Wickert, Der Rhein u. sein Verkehr. 463.
Wiener, Die Erweiterung unserer Sinne.
62.
W i nkelmann , Handb. der Physik. 8 15.
Wischin, Die Naphthene. 767.
Wislicenus, Lehre v. d. GrundstolTen.
159.
Wislicenus, Aslron. Jahresber. 797.
Woltmann, Polit. Anthropologie. 221.
Wossidlo, Botanik. 271.
Wünsche, Entw. der Naturw. 13.
Zaborowski, L'homme prehistorique.
303-
Lit. üb. die Zelle. 880, 1040.
Ziegler, Universelle Weltformel. 94.
V. Zittel, Paläontologie. 174.
Z ö p p r i t z , Gedanken üb. d. Eiszeiten. 800.
Zugmayer, Eine Reise durch Island. 63.
Annuaire pour 1904. 2S7.
Astron. Kalender für 1904. 415.
Berichte d. Ver. zum Schutz u. zur Pflege
d. Alpenpfl. 511.
Der philos. Doktorgrad. 95.
Entw. d. niederrhein.-westfäl. Steinkohlen-
bergbaues. 527.
Geographenkalcndcr. 719.
Geolog. Karte von Preußen. 828.
Lit. zur Anat. u. Physiol. d. Menschen. 528.
Lit. über Anatom, der Wirbeltiere. 512.
Lit. astron. Zeitsclir. f. Liebhaber. 512.
Literatur, bibliographische. 592.
Literatur zur ani.rgan. Chemie. 608.
Literatur über chem. Experimente. 352.
Lit. zur Etymologie d. Pflanzennamen. 816.
Literatur über Evurtebraten. 1 £^9.
Lit. über Farbeinjeklionen v. Tieren. 528.
Literatur über die Flora v. Palästina. 592.
Literatur zur elementaren Geologie. !;12.
Literatur, Geolog. Karte der Erde. 368.
Literatur über die Geologie der Alpen. 96.
Lit. zur Geologie der Prov. Brandenburg. 48.
Literatur über Geologie der Eitel. 480.
Literatur zur Geologie und Mineralogie
des Harzes. 144, 176.
Lit. zur Geologie d. Riesengebirges. 688.
Lit. zur Geologie des Taunus. 127, 176.
Literatur zur Bestimmung v. Hölzern. 688.
Lit zur Bestimmung von Insekten. 736.
Literatur über Kolibris. 399.
Literatur über chem. Kristallographie und
Mineralogie. 384.
Literatur über Metallographie. 496.
Literatur über Mollusken. 720.
Literatur über westdeutsche Moose. 528.
Literatur über Pediculinen, Puliciden und
Acarinen. 6^6.
Literatur über physik. Experimente. 800.
Literatur zum Bestimmen von Pilzen. 608.
Literatur über Präparationsmethoden von
Pilzen. 80.
Literatur zur Psychologie. 720.
Literatur über Süßwasseralgen. 368.
Literatur über thüringische Flora. 480.
Literatur über Vögel. 367.
Literatur zoologischer Lehrbücher. 769.
Monatskarte für den nordatl. Ozean. 333.
Natur und Staat. 45, 222, 541.
Vierteljahrskarte für Nord- u. Ostsee. 333.
Wandtafeln, zool. 11. botan. 1040.
Abbildungen.
Abb. zur ( onchyliometrie. (Orig.) 1009
bis lOIl.
.Abies-Blattnarbe. (Orig.) 409.
Abnormer Maisblütenstand. (Orig.) 534.
Abrasions-Reste v. älterem Riftkalk. (Orig.)
485.
Abrasions-Steiluter b. Daressalam. (Orig.)
487.
."^brasionstor in älterem Riffkalk. (Orig.)
487.
Acanthias vulgaris. 133.
Afte, schlafkranker. 1034.
AUoiopteris quercifolia. 40.
Altägypt. Typen. 679.
Ameisenhügel. 971.
Amenemlia Hl. 690.
.Amphitretus. 168.
AmpuUaria gigas. ^Orig.J 780.
Andromeda poliifolia. 792.
Antarctische Inlandeis-Oberfläche. 506.
Anthurus Klitzingii. (Orig.) II.
Äolis, Darmsystem usw. 851.
Aphrocallistes. 162.
Apparat zur Darst. von O. 925, 926.
.Araucarieen- u. Abietaceen - Hydroste-
reide. (Orig.) 914.
Archaische Figur. 681.
Archenhold's Ebbe- u. Flut-.Apijarat. 189.
.Argyropelecus. (Orig.) 69.
Arterienbögen-Umbildung. 13S.
Asphalt-Tagebau. 444.
Ankylostoma. 391 — 92.
Babylonische Tontafel nach der Reinigung.
214.
Barathronus. 168.
Bäume Posens, bemerkenswerte. 922 — 24.
Bäume vom Winde beeinflußt. (Orig.)
1029 u. 30.
Beri-Beri-Krankheil. 1035.
Bienen-Nester. 235.
Blätter mit .Vdventivbildungen. 37°— 73-
Bronzeskulpturen vor und nach dei Reini-
gung. (Orig.) 211, 213.
Calliteuthis. 171.
Calluna vulgaris. 787.
Chauliodus. (Orig.) 70.
Chefren. (Orig.) 690.
Chlamydomon.is. (Orig.) 904.
Cocon. 594.
Curcurbita-Keimpflanze. (Orig.) 903.
Cyclopteris scissa. 38.
Cytologisches. 597 — 603, 609—611.
Darmknäuel von Froschlarven. 584.
Diptamblüte. 343, 344.
Eichenblälter. (Orig.) 519—521.
Eisberg mit Schichtung. 508, 50g.
Eisberg mit Stauzone. . 506.
Elektrotherapeutische Apparate. 1000 bis
1004.
Elfenbeinschnitzereien von Eileithvaspolis.
678.
VIU
Register.
Embryo des Menschen. 137, 138.
Epikotyl u. Phaseolus geotropisch ge-
krümmt. 898.
Epithelzellen d. SalamanderUirve. (Orig.)
809.
Erica Tetralix. 7S7.
Erlen-Wurzel-Knöllchen. 182.
Fagiis silvatica, Blattquerschnitt. 900.
Farbenabweichung verschiedener Fernrohr-
objektive. 74.
Farbenzerstreuung in älteren u. neueren
Gläsern. 72.
Fichte, Gipteldürre bei der. 553 u. 554.
Finsenapparat. 456.
Fische der Tiefsee. 165.
Fische mit Stielaugen. 168.
Fixstern im Okularspcktroskop. (Orig.) 73.
Galanthus, unterird. Organe. (Orig.) 716.
Gaußberg. 426, 505.
Gehörorgan des Menschen. (Schema.] 134,
135-
Gegenbaur. 104.
Gelbrost, Entwicklungsstadien. 861.
Gewinnung des Asphalts. 444, 445.
Glashütte von Schott u. Genossen. 73.
Gleichenia dichotoma. 37.
Glossina palpalis. 1034.
Graph. Darst. der Farbeuzerst. u. Brechung
verschied. Glassorten. 74.
Graph. Darst. üb. Temperatur u. Xieder
schlage. (Orig.) 894, 957, 958, 1020,
1021.
Grashalm geotrop. gekrümmt. 898.
Hai-Bruslflossenskclett. 147.
Hargrave-Drache, 100, 101.
Helaer Klepse. (Orig.) 760.
Heliotrop. Kammer. 899.
Hemitelia capensis. 35.
Hochmoorteich im Augstumalmoor. (Orig.)
791.
Holzfigur aus Sagosa. 680.
Holzquerschnitt mit lädierten Zellen. (Orig.)
914.
Humboldt-Felsen im Zittauer (lebirge.
(Orig.) 187.
Hummer in der Jugend. 59.
Hydroctena Salenskii. 972.
Hymenophyllum pratervisum. 36.
Hyxos-Sphinx. (Orig.) 691.
Inselsberglandschaften Afrikas. (Orig.) 659.
Kabeluntersuchungsapparat. 893.
Kara-Koschun. 622.
Karte des Mars 1879. 51.
Karte der Marskanäle 1888. 52.
Karte des Elysium des Mars. 52.
Karte des hypot. antarkt. Kontinents (nach
Forbes). 22.
Karte eines Teils der Sahara. 573.
Karte, geolog. v. Mitteldeutschland. (Orig.)
866.
Keimpflanze des Winterweizens mit Myco-
plasma. 860.
Kern- und Zeil-Teilungen. 113, 114, 115,
116, 117, 118, 119.
Kiemendarm eines Hais und Knochen-
fisches. 131.
Kiemen-Querschnitte. 131, 132.
Kolossalfigur mit Kartousche des Ramses.
'Orig.) 690.
Komet Borelly 217.
Königs-Büste, ägypt. (Orig. | 692.
Kopfskelett eines Gürteltier-Embryo. 139.
Kopfskelett eines Haies. 133.
Köppen's Treppen-Drache. 101.
Körbe zum Hummerfang. 56.
Krähenschlagnetz. (Orig.). 759.
KrSuselmarken auf Sand(Orig.) 1026, 27, 28.
Landschaften aus Kordofan mit Insels-
bergen. 662.
Laubldatt. 594.
Lehmgerölle u. ähnliches (Orig.) 810, 811.
Lemna trisulca-Querschnitte. 906.
Leuchtkäfer-Organe (Orig.) 306 — 308.
Libyer nach Rosellini 675.
Lupus etc. -Kranke vor u. nach d. Strahlen-
Behandlung. 457.
Lycoteuthis. 171.
Macfadyens Zerkleinerungsapparat für
Zellen. 654.
Macrostomias. 167.
Majella-Gebirgc. 443.
Malacosteus. 170.
Marattia fraxinea, junger Wedel. 36.
Meckel'scheru. Reichelt'scher Knorpel. 139.
Melandryum- Fruchtknoten mit einge-
schlossenen Staubblättern. 668.
Mikroskopisches Objectiv. 74.
Mont-Pele, Gipfelkrönung. 931.
Munidopsis. 169.
Mustelus vulgaris-Schädelskelett. 132.
Neger nach Rosellini. 675.
Neottia- Wurzelzellen. 180.
Nephrolepis exaltata. 37.
Nephrops. 166.
Nest des Schneidervogels. 595.
Neuropteris mit Cyclopteris-Aphlebien. 39.
Öl-absondernde Organe von Pflanzen. 323
bis 325.
Orientierungsliewegungen verschiedener
sollt. Wespen. 857 — 859.
Ornithostoma- u. Condorskclett. 568.
Ovopteris Karwinensis. 40.
Pareiosaurus. 636.
Pecopteris plumosa, alte u. junge Wedel
mit .''iphlebien 34, 38.
Phasen-Diagramm für Kochsalzlösung u.
Eisenkohlenstofi'lcgierungen. 156, 157.
Phaseolus Schatten- und Sonnenblätter.
(Orig.) 901.
Pheronema. 163.
Pinus silvestris , Hängezweig-Anatomie.
(Orig.) 874.
Platte von Hierancopolis. 677.
Podocarpus-KnöUchenzelle. 181.
Poephila, Netzjunges. (Orig.) 71.
Profil durch das Höllental im Schwarz-
wald. (Orig.) 28.
Profil durch die Hohen Tauern. 589.
Profil durch Randlagune b. Daressalam-
(Orig.) 484.
Profile des Lamsberges. (Orig.) 450.
Pseudofossil von Pinsdorf (Orig.) 956.
Psilotum-Verdauungszelle. 181.
Pyrophorus noctilucus. (<>rig.) 67.
Ramses II. 694, 695.
Riffkalk (älterer) mit Brandungskehle.
(Orig.) 485.
Rosa-Sprofl. (Orig.) 903.
Sandstein - Orgel im Zittauer Gebirge.
(Orig.) 188.
Sarcophaga u. Tachina , Weibliche Ge-
schlechtsorgane. 714, 7^5-
Schädel. (Orig.) 975, 976.
Scharfenstein b. Cassel. (Orig.) 934.
Schech el Beled. 680.
Schema einer Ctenophorc. 972.
Schema einer Meduse. 972.
Schema über die Stärke der |3-Strahlen.
998.
Schemata zur Biogen-Hypothese. (Orig.)
358-
Schemata zur Demonstration der P.rillen-
wirkung. (Orig.) 228.
Schemata zur Erläut. der Extremitäten-
entstehung. 147, 148.
Schemata zur Vergleichung von Größe,
Gewicht u. Kraft von Vögeln. lOrig.)
567.
Schemat. Darstellung über Temperatur
u. Niederschläge. 44, 124, 190, 269,
333, 395. 477> 538. 618, 685, 750, 814.
Scheuchzeria palustris. 790.
Selachier-Schädel-Skelett. 132.
Spirogyra jugalis. 899.
Schnecken, parasitische. 242, 243, 244,
245, 246.
Schwimmender Eisberg. 507.
SemperncUa. 164.
Seti I. 694.
Sicyos-Sproß. 904.
Sigillarien-Rinden. (Orig.) 409 — 410.
Sphagnum acutifol. 787.
Sphinx. 693.
Sphinx von Gizeh. (Orig.) 690.
Stachys silvatica-Sproß. (Orig.) 902.
Stauzone des Meereises. 507.
Stegomyia fasciata. 1032.
Stelzenpflanzen, heimische. (Orig.) 301.
Sven v. Hedins Boot auf dem .^ksu-Darja.
621.
Tätelchen aus einem Grabe von Abvdos.
678.
Taschenlupen von Zeiß. 537.
Thutmosis 111. 693, 694.
Tokkus-Kum. 623.
Torfstich im Gifhorner Moor. (Orig.)
789.
Transportable Röntgen-Einrichtungen. 782,
783.
Trichomanes reniforme. 36.
Trisections-Apparat für Winkel. (Orig.)
394-
Triticum, Blattquerschnitl. 900.
Trypanosomen. 458, io34-
Überzählige tier. Bildungen. 585, 586.
Vaccinium Oxycoccos. 792.
Variationskurven für Centaurea Jacca.
(Orig.) 424.
Versteinerte Baumstämme aus .\rizona.
731 u. 732.
Völkertypen ägypt. Wandgemälde. 676.
Vulkane mit Gipfelkrönungen. 933, 934.
Zellen (zu France, S. R.). 282, 283.
Zellverbindungen. 818, 820, 821.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 4. Oktober 1903.
Nr. 1.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der I'osl
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5263.
Inserate: Die viergespaltene Petitzeile 40 Pfg. Bei griiljeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. PieiKigen nach Ul)er-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, BlumenstraBc 46, HuchhUndlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über die psychischen Funktionen der Tiere.
Von Prol. H. J. Kolbe.
.Äußeriingen der Tiere werden
verschiedenen Gesichtspunkten
[N.Tcluhuck veiboten. I
Die seelischen
unter zwei ganz
betrachtet und beurteilt.
Die erste Richtung der Tierpsychologen
steht unter dem Zeichen des Instinkts. Alle
psychischen Erscheinungen an Tieren werden auf
instinktiven Impuls zurückgeführt, jenen geheimnis-
vollen inneren Naturtrieb, dem das Tier blindlings
und ohne eigentliches Bewußtsein folge.
In der zweiten Richtung waltet vornehm-
lich die Ansicht vor, daß die Tiere neben instink-
tiven Trieben selbständige seelische Regimgen
haben, daß sie denken und bewulSt psychische
Tätigkeiten ausüben. Das hierfür gebräuchliche
Schlagwort heißt Intelligenz.
Die alte, auf den Instinkt begründete Lehre
von der Seele der Tiere hat auch in der Gegen-
wart hervorragende Vertreter. Vor allem ist es
P. Erich Was mann'), der seit vielen Jahren
') Man vergleiche z. B. aus seinen zahlreichen Werken
„Die psychischen Fähigkeiten d e r A mci s e n" (1899)
und „ V c r g 1 e i c h e n d c S t u d i e n über das Seelenleben
nicht nur als feiner Beobachter des Insekten- und
namentlich des Ameisenlebens bekannt ist, sondern
auch die psychischen Fähigkeiten der x^meisen in
weitestem Sinne erforscht. Indem er von dem
Standpunkte ausgeht, daß zurflrklärung der
ps)-chischen Vorgänge bei den Tieren
keine höheren Faktoren herangezogen
werden dürfen, wenn einfache genügen,
geht er niemals über die Annahme von Instinkten
bei den Tieren hinaus. Aber als einsichtsvoller
Naturforscher gesteht W a s m a n n den Ameisen
ein „unzweifelhaftes Vermögen der sinnlichen
Mitteilung", „individuell erworbene Geschicklich-
keit", die „Fähigkeit, selbständig, aus unzweifel-
haften Erfahrungen heraus, ihr Handeln zu modi-
fizieren", die „individuelle Bildung von neuen sinn-
lichen Assoziationen", ferner ,, Lernvermögen", dann
die Fähigkeit, „selbständig individuelle Erfahrungen
zu sammeln" und schließlich „das Benehmen an-
derer Gefährtinnen wahrzunehmen und instinktiv
nachzuahmen", bereitwillig zu. Diese Fähig-
der Ameisen und der höheren
mehrte .\uflagc (1900).
Tiere." Zweite ver-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. I
l<eiten dürfen aber meines Eraclitens,
wenn sie in Handlungen umgesetzt wer-
den, nicht mehr in den Instinkt hinein-
bezogen werden.
Bethe sieht im Gegensatze dazu in den Tieren
nichts als Reflexmaschinen. 'j Er will alle psy-
chischen Tätigkeiten der Ameisen positiv durcli
bloße Reflexe erklären. Die Existenz psychischer
Qualitäten bei den Ameisen, welche Wasmann
erkannt hat, leugnet Bethe.
Andere Forscher auf dem Gebiete der Tier-
psychologie betrachten die Tierseele mehr oder
weniger nach moderner Anschauung.
Doch hält Z i e g 1 e r den Begriff des Bewußt-
seins in der vergleichenden Psychologie für wert-
los. 2)
Forel, der bekannte Psychiater, bezeichnet
den Instinkt in begrenztem Sinne (Reflex) als
Automatismus, den Instinkt im weiteren Sinne
als Plastizität und behauptet, daß sämtliche Eigen-
schaften der menschlichen Seele aus Eigenschaften
der Seele höherer Tiere abgeleitet werden können. ')
H. V. Buttel-Reepen will mit Recht präzise
unterscheiden zwischen ererbten und im indivi-
duellen Leben erworbenen Fähigkeiten.^)
Auf tiefster Organisationsstufe stehende ein-
zellige Tiere weisen von Äußerungen ihres I^m-
pfindens und daraus resultierenden Handlungen
nur einfachste Reflexbewegungen auf. Von dieser
niedrigen Staffel bloßer Reiz- und Reflexerschei-
nungen bis zu der hohen Stufe der menschlichen
Psyche ist ein teilweise ziemlich allmählicher
Übergang. „Sämtliche Seeleneigenschaften höherer
Tiere", sagt Forel, „lassen sich aus denjenigen
niederer Tiere ableiten. Mit anderen Worten:
Die Evolutionslehre gilt genau so gut auf dem
psychischen Gebiete wie auf allen anderen Ge-
bieten des organischen Lebens. Bei aller Ver-
schiedenheit der tierischen Organismen und ihrer
Lebensbedingungen scheinen die psychischen
P'unktionen der Nervenelemente doch gewissen
Grundgesetzen überall zu folgen, selbst da, wo die
Unterschiede so groß sind, daß man es am wenig-
sten erwarten würde." ■')
Wie wenig im allgemeinen die Feinheiten der
Tierseele erkannt sind , das zeigen manche ver-
einzelte Publikationen von unbefangenen Beobach-
tern in Zeitschriften und Tagesblättern. Wir
dürfen wohl nicht in allen Milien annehmen, daß
die Beobachtungen allzu subjektiv von mensch-
licher Anschauuncr aufgefalJt sind. Am Ende
^) A. Bethe, Dürfen wir Ameisen untl P.ie nen
psychische Qualitäten zuschreiben? (Archiv f. d.
gesamte Physiologie. Bd. 70, 1898.)
'') M. E. Z i e g 1 e r , Über d e n B c g r i f f d e s Instinkts
(Verhandl. d. deutschen zool. GeseUsch. 1892).
•') .\. K o r e 1 , Die psychischen Fähigkeiten der
Ameisen und einiger anderer Insekten. (Verhamll.
d. V. intern. Zool.-Kongr. Berlin 1901.)
■*) II. V. Buttel-Reepen, Sind die Bienen Re-
flex m asc h i nen? (Biolog. ZentralbUitt. 20. Bd. 1900. Nr. 4
bis 9.)
■■') A. Forel a. a. O. S. 169.
dürfte die der menschlichen ähnliche, aber weniger
vollkommene körperliche Organisation der Säuge-
tiere ähnliche Äußerungen der Tierseele hervor-
bringen wie die Seele des Menschen, natürlich in
niedrigerem Grade. Das ist namentlich hinsicht-
lich der Ausbildung des Nervensystems anzunehmen.
Die körperliche Organisation der Insekten ist
allerdings sehr \erschicden von derjenigen der
Wirbeltiere; aber dennoch erinnern die seelischen
Äußerungen derselben, namentlich die der Ameisen,
sowie auch ihre instinktiven Fertigkeiten und
Handlungen und auch ihre individuellen Verstandes-
akte außerordentlich an menschliches Empfinden
und menschliche Handlungen.^)
Wenn auch bei den Tieren im allgemeinen,
namentlich bei den Insekten, die gewöhnlichen
täglichen Handlungen in die Fesseln des Instinkts
und des Automatismus geschlagen sind, so sind
die Regungen ihrer Seele doch sehr mannigfaltig
und augenscheinlich unabhängig von Instinkten.
Viele Erscheinungen im Tierleben beruhen auf
Reflex ; auch beim Menschen ist dies der Fall. D i e
Instinkte bilden aber die Grundlage für
die Existenz der Tiere. Ohne Zweifel wissen
die Tiere nichts von dem Endzwecke ihrer oft
sehr durchdacht erscheinenden, aber in Wirklich-
keit nur ererbten Naturtriebe. Aber sie passen
in Verfolg des zu Grunde liegenden Instinkts ihre
einzelnen Handlungen den Verhältnissen an. Sie
lernen aus gemachten Erfahrungen in ganz ver-
ständiger Weise Nutzanwendungen zu ziehen. Das
ist namentlich bei den höheren Säugetieren der
P'all, während beim Menschen neben Instinkten
und automatischen Handlungen der Verstand und
die Vernunft in den Vordergrund der Empfindungen
und Handlungen treten.
Die Äußerungen und Handlungen der Lebe-
wesen (Tiere und Menschen) resultieren also aus
Reflexbewegungen, Naturtrieben, Verstand, Auto-
matismus und Vernunft.
I. Die durch Reflexbewegung hervor-
gerufenen Handlungen oder Tätigkeiten. Hierunter
ist eine Reaktion auf Nervenreiz zu verstehen,
welche Bewegungen im Gefolge hat. Reflektorisch
'} Lesenswerte Werke über das Seelenleben der Tiere
sind z. B. :
Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der
Tiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. 4. Auflage.
Hamburg, 1 798.
Scheitlin, Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde.
Stuttgart u. Tübingen. 2 Bände. 1840.
W u n d t , Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele.
2 Bände. Leipzig, 1863 — 64. — 2. Aufl. Hamburg, 1892.
Wallace, Beiträge zur natürlichen Zuchtwahl. Autorisierte
deutsche Ausgabe von A. B. Meyer. Erlangen, 1870.
(Instinkt S. 228—300.)
Perty, Über das Seelenleben der Tiere. 2. .^ull. Leipzig
u. Heidelberg, 1876.
Schneider, Der tierische Wille. Leipzig, 1880.
Flügel, Das Seelenleben der Tiere. Langensalza, 1 8S4.
Roman es. Die geistige Entwicklung im Tierreich, .\utoris.
deutsche .\usgabe. Leipzig, 1885.
Potonie und Ilennig, Bernstein's Naturwissenschaftliche
Volksbücher. 5. .\ull. 1897. |1I. Teil, der Instinkt,
S. 21 — 104.)
N. !-■. III. Nr. I
Naturwissenscliaftlichc Wochenschrift.
sind die Bewegungen, welche durch Kitzehi und
Stechen hervorgerufen werden. Ebenso rufen Er-
regungen mit Worten und Taten Gegenwirkungen
liervor. Auch die Gewohnheiten mancher Tiere
führe icli auf Reflexe zurück. Kommt z. R. eine
.Ameise dem Wasser zu nahe, so weicht sie un-
willkürlich zurück, weil Nässe ihr unangenehm ist.
Angenehme Düfte und bunte Blumen ziehen In-
sekten an. Mistkäfer werden aus weiter Eerne
von duftendem Dung angezogen. Man wendet
sich nachts im Bette unbewußt um, wenn man
zu lange auf der einen Körperseite gelegen hat
und legt sich ebenso unbewußt auf die andere
Seite. Dies ist nur eine Reaktion der unbequemen
Lage auf den Körper, woran das Bewußtsein des
Schläfers nicht beteiligt ist.
2. Die durch Naturtrieb (histinkt) einge-
gebenen Handlungen. Instinkte werden nicht in-
ciividuell erworben, sondern von den Vorfahren
geerbt. Instinktäußerungen werden als unbewußte
Handlungen hingestellt. Ich denke, das ist nicht
richtig. Nur der unwidersteliliche oder rege
Naturtrieb zu naturnotwendigen Handlungen
und die durch die Natur gebotene und mit-
gegebene Eähigkeit zur Ausführung dieser Hand-
lungen sind vorhanden. Die Ausführung der
durch instinktiven Trieb eingegebenen
Handlungen halte ich für eine bewußte
Tätigkeit. Zu den Instinkten gehören z. B. der
Brutpflegetrieb, der Wandertrieb der Vögel, der
Trieb der Selbsterhaltung, die Liebe der Mutter zu
ihren Kindern, soziale Instinkte usw.
3. Selbständig (ohne Naturtrieb) und mit Ver-
stand ausgeführte, aus individueller Erkenntnis her-
vorgehende Handlungen. Individuelle N'^orstellungcn
aus gemachten Erfahrungen und durch Lernen ge-
woimenc Kenntnisse undP^ähigkeiten sind sehr häufig
zu beobachten. Hierher gehört das Vermögen vieler
Tiere, durch Kennenlernen neuer Dinge und Verhält-
nisse ihre Gewohnheiten abzuändern. Wasmann
hat an Ameisen viele selbständige und individuelle
Handlungen festgestellt und gefunden, daß sie aus
unzweifelhaften Erfahrungen heraus ihr Handeln mo-
difizieren und daß sie unter den neuen X'crhältnissen
ihre individuell erworbene Geschicklichkeit in An-
wendung bringen. Wasmann hatte in sein Be-
obachtungsnest mit Fonnica sanguinea einige Käfer
von der Art Dinardaviärkeli gesetzt. Den Ameisen
gelang es endlich nach vielen vergeblichen Ver-
suchen, einige dieser Käfer trotz deren unangreif-
barer Trutzgestalt zu fangen, um sie dann zu töten
und aufzufressen. ,, Diese an Dinarda iiiärkcli ge-
machte Erfahrung hatte nun die merkwürdige Folge,
daß dieselben Ameisen ihre Fangversuche auch
auf die ein wenig kleinere und daher noch schwerer
zu fangende Dinarda dentata ausdehnten, welche
bisher in diesem Neste (wie in allen Fonnica saii-
^«/«f(7-Nestern) als indifferent geduldeter Gast be-
handelt worden war. In ein paar Wochen hatten
die Z'/wrt/v/rt- Jägerinnen ihre Geschicklichkeit
im Fange so weit vervollkommnet, daß sie auch
die Dinarda dentata zu fangen vermochten und
eine nach der anderen auffraßen, bis keine einzige
Dinarda mehr im Neste war." Bei ihren Angriffen
auf die Dinarda dentata, welche ihnen sofort die
Hinterleibsspitze entgegenhielten, die sie dann ver-
geblich zu erfassen suchten, lernten sie allmählich,
mit einem plötzlichen Sprunge von der Seite her
einen Fühler oder ein Bein des Käfers zu ergreifen
und ihn so festzuhalten; dann kamen andere
Ameisen hinzu, faßten andere Extremitäten der
Dinarda und rissen diese dann in Stücke.')
Ziegler 's Ausspruch „Was auf dem \'er-
stande beruht , das muß erfahren oder gelernt
werden; was auf dem Instinkte beruht, braucht
nicht gelernt zu werden" -) ist im ersten Teile un-
bedingt richtig, im zweiten Teile nur insofern, als
unter Instinkt der Trieb zu einer bestimmten Hand-
lung und die durch die Körjjcrorganisation ge-
gebene Fähigkeit zur Ausführung der Handlung zu
verstehen ist. Die Ausführung selbst ist eine auf
Verstand beruhende und bewußte Handlung, die
oft erst erlernt werden muß , bevor sie voll-
kommen ist.
Die Wasmann'schcn Ameisen haben bei ihrer
Jagd auf Dinarda dentata, welche vorstehend ge-
schildert wurde, nach meiner y\nsicht und nach
Ziegler's Definition Verstand bekundet.
4. Die individuell durch gewohnheitsmäßige
Wiederholung und schließlich bewußtlos ausge-
führten Handlungen sind als automatische zu be-
zeichnen. Durch Automatismus ausgeführte
Handlungen sind ursprünglich vom Verstände kon-
trolliert oder eingegeben. Forel bezeichnet irr-
tümlicherweise die Instinkte als Automatismen.
Da manche Instinkte oft stärker oder schwächer
ausgebildet und gewöhnlich mit ausgeprägtem Be-
wußtsein verbunden sind, so kann man solche In-
stinkte nicht als Automatismen bezeichnen. Man
hört oft jemanden sagen, er habe dieses oder
jenes in Gedanken getan; es waren dies auto-
matische Handlungen. In Gedanken tut man ge-
wohnheitsmäßig oft das gleiche, selbst dann, wenn
man sich vorgenommen hat, es anders zu machen.
Das ist die Macht der Gewohnheit. Die Bewegung
der Füße beim Gehen ist meistens eine auto-
matische \'errichtung , sobald die Füße in Be-
wegung gesetzt worden sind; sie wird bewußt,
wenn man an seine Gehbewegung denkt und seine
Gangart abändern will. \'on gewohnheitsmäßigen
Handlungen weiß man oft nicht, daß man sie ver-
richtet hat, selbst dann nicht, wenn es unmittelbar
vorher geschehen ist, z. B. beim Aufziehen einer
Uhr.
5. Das Vermögen, aus früheren Erfahrungen auf
neue Verhältnisse zu schließen, beruht auf Ver-
nunft. Intelligente Einsicht in die Beziehungen
zwischen Ursache und Wirkung gehört dazu. Das
Vermögen einer solchen Einsicht scheint nur dem
Menschen zuzukommen. Deshalb wird dem Tiere
') Wasmann, Die psychischen Fähigl^eitcn
der Ameisen. 1899. S. 84 — 85.
■^) Ziegler, Über den Begriff des Instinkts.
1892, 1. c. S. 127.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. V. III. Nr. I
Vernunft abgesprochen und nur dem Menschen
zugesprochen. Wenn ich des Morgens meine Stiefel
anziehe, dann steht der mich gewöhnlich be-
gleitende Hund mit gespitzten Ohren aufmerksam
in der Nähe. Er weiß, daß ich bald das Haus
\-erlasse und ihn wahrscheinlich mitnehme. Das
ist eine Ideenassoziation. Der Hund verbindet mit
meiner Handlung des Stiefelanziehens die Vor-
stellung, daß er gleich mit mir zum Hause hinaus
gehen wird. Er kann sich aber wohl nicht die Vor-
stellung bilden, daß ich mit dem Spazierengehen
die Absicht verbinde, für meine und seine Gesund-
heit zu sorgen.
Bei der Beobachtung der psychischen Fähig-
keiten der Tiere haben wir es hauptsächlich mit
dem Instinkte und den selbständigen individuellen
Äußerungen der Tierseele zu tun. Der Instinkt
haftet der Gattung und Art an; alle oder wenig-
stens ein Teil der Individuen einer Art haben die
gleichen Triebe wie ihre Vorfahren sie hatten und
wie ihre Nachkommen sie vermutlich haben werden.
Das Individuum setzt den Trieb mehr oder weniger
klar bewußt in Taten um; es kann die vom Natur-
triebe eingegebenen Handlungen auch teilweise
selbständig abändern und den Verhältnissen an-
passen. Es scheint daher, daß das Individuum
von zweckbewußten Handlungen geleitet werden
kann. Der Skeptiker sucht dahinter Reflexerschei-
nungen. Zur Bekräftigung des Ausspruchs, daß
Tiere sich augenscheinlich zweckdienlicher Hand-
lungen bewußt sein können, teile ich folgenden
Fall mit. Forel hatte aus .Algerien eine Kolonie
einer Ameisenart, AJynni'cocystiis altisquainis, mit
nach der Schweiz genommen und bei Zürich aus-
gesetzt. Die Ameisen bauten ein Nest, wie sie es
in Algerien gewohnt waren. Aber sie hatten in
der Schweiz mit ungewohnten und ungeahnten
Verhältnissen zu rechnen. Sie litten unter den
Angriffen der heimischen Ameisen, die viel ag-
gressiver sind als die algerischen. Besonders von
Lasius niger und Tetravioriuni caespitum wurden
sie befehdet. Dies veranlaßte nun die algerischen
Ameisen, Änderungen an ihrem Neste vor-
zunehmen, und zwar in der Weise, daf.5
sie die ursprünglich sehr große Ein-
gangsöffnung mehr und mehr ver-
engerten und schließlich ganz mit Erd-
stoffen verstopften, so daß sie jetzt gegen
Überfälle von selten der schweizerischen Ameisen
einigermaf5en gesichert waren.') Die Ameisen
konnten sich also bald neuen Verhältnissen an-
passen ; sie hatten auch, wenn die Deutung richtig
ist, in geistiger Gewandtheit ein gutes Mittel zu
ihrem Schutze erkannt.
Auch dieses Beispiel zeigt wieder, daß zwischen
angeborenen Instinkten und selbständigen psy-
chischen Handlungen wohl zu unterscheiden ist
Die Entstehung und I"" i x i e r u n g e r b -
') Vergl. K. Eschcrich, .Mlgcm. Zeitsclir. f. Entomo-
logie. 7. Bd. 1902. S. 359 — 360.
lieh gewordener Instinkte können wir uns
vorstellen, wenn wir folgendes annehmen.
1. Was jetzt Instinkt ist, wurde von den \'or-
fahren selbständig und bewußt geübt. Reflex-
erscheinungen werden dabei mitgewirkt haben. Die
Handlungen wurden zur Gewohnheit. Der ge-
wohnheitsmäßige Trieb zu einer bestimmten Hand-
lung wurde erblich.
2. Diejenigen Tiere, deren Handlungen sich als
zweckdienlich erwiesen, blieben erhalten, ihre zweck-
dienlichen Handlungen wurden erblich. Andere
Tiere, deren Handlungen nicht zweckmäßig waren,
starben aus, so dal.^ nur die Tiere mit zweckdien-
lichen Fähigkeiten übrig blieben.
An einem Beispiel werden wir das deutlicher
sehen. Es gab eine Zeit, in der in Europa rauhe
Winter unbekannt waren. Als aber danach in
Nord- und Mitteleuropa das warme Klima jährlich
von einer kälteren Jahreszeit unterbrochen wurde,
machten sich viele Vogelarten allmählich auf,
wärmeren südlichen Zonen zuzustreben. Das ge-
schah sicher ohne blinden Naturtrieb. Die Not
trieb sie dazu. Sie irrten anfangs ohne Zweifel
hin und her, bis sie wärmere Gegenden erreicht
hatten. Manche Arten werden in den neuen süd-
lichen Wohnsitzen geblieben sein. Andere kehrten
aus alter Heimatliebe zu ihren früheren Wohn-
plätzen zurück, sobald im nächsten Jahre die Jahres-
zeit wieder günstiger wurde. Aber der VVechsel
der Jahreszeiten trieb sie im folgenden Jahre
wiederum fort nach dem Süden. Das jährliche
Wandern wurde zur Gewohnheit und dann zu
einem jährlich wiederkehrenden drängenden Triebe.
Die wandernden Arten blieben also trotz der tief-
greifenden Veränderung des Klimas erhalten.
Andere Arten, welche nicht auswanderten , aber
auch den Unbilden des Winters keinen genügenden
Widerstand entgegensetzten, werden notgedrungen
umgekommen sein, so daß sie ausstarben.
Bei den im Herbste fortziehenden X'ögeln hatte
sich aber der Wanderinstinkt ausgebildet und war
erblich geworden.
Der Naturtrieb selbst ist eine Sache für sich;
an sich ist er ein unbewußter und blinder Trieb.
Aber die Ausführung des Triebes kann nur be-
wußt sein.
Ich komme hier auf den Ausspruch Z i e g 1 e r ' s
zurück, daß der Begriff des Bewußtseins in
der vergleichenden Psychologie sich als völlig
wertlos erweise.
Es ist wohl unzweifelhaft, daß die Lebewesen
unter der Macht der Naturtriebe stehen. Ebenso
unzweifelhaft erscheint es mir aber
auch, da 1.5 nicht nurderMensch, sondern
auch die Tiere dem Triebe mit Bewußt-
sein Folge geben.
Bewußtsein eines Individuums ist der Inbegriff
von Vorstellungen , deren Vorhandensein diesem
Individuum bekannt ist. Wenn ein Vogel sein
Nest baut, so folgt er hauptsächlich seinem er-
erbten Naturtriebe ; in der Ausübung des
Nestbaues muß er bewußt handeln. Er
N. F. III. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5
sucht und findet passende Stofife in der Umgebung
seines Aufenthahsortes, rauhere Stoffe für die
Außenseite, weiche Stoffe für die Ausfütterung des
Innenraumes. Er selbst hat als junger Vogel sein
Nest, in dem er geboren wurde und längere Zeit
zugebracht hat, kennen gelernt; und es ist wohl
möglich, dal'i er eine X'orstellung von der Form
und Grölie des seiner Art zukommenden Nestes
hat, und dal.5 er aus eigenen Erfahrungen und
eigener Anschauung fähig ist, ein Nest herzustellen,
sobald er durch den Naturtrieb dazu berufen wird,
selbst ein Nest zu bauen. Es heißt, daß jüngere
Vögel ein weniger vollkommenes Nest bauen als
ältere Vögel.')
Andererseits ist es nicht denkbar, daf^ ein seinem
Naturtriebe folgendes Tier bei der Ausführung der
aus dem Naturtriebe resultierenden Handlung ohne
Bewußtsein handeln soll. Den Naturtrieb selbst
hat das Tier vielleicht unbewußt. Etwas anderes
ist es, von dem Tiere anzunehmen, daß es den
Zweck seines Handelns kenne. Beim Brutpflege-
triebe läßt sich der Vogel sicher von einem Triebe
leiten, dem er sich nicht entziehen kann. Den
Zweck des Fütterns kennt er vielleicht nicht, aber
mit großem Fleiß trägt er den nach Futter
schreienden Jungen unentwegt und mit Umsiciit
Nahrung zu. Dabei unterstützt ihn nach meiner
Ansicht sein Bewußtsein, sein Verständnis hin-
sichtlich der richtigen Auswahl der Nährmittel.
Er bringt seinen Jungen Insekten und Würmer,
aber keine Steinchen oder Holzteilchen.
Ob sich der Brutpflegetrieb des Tieres von dem
des Menschen wesentlich unterscheidet.' Ziegler
,, glaubt einen instinktiven Trieb der Mutter zum
Säugen annehmen zu müssen. Dem Säugeinstinkt
der Mutter entspricht der Sauginstinkt des Neu-
geborenen." '-)
Auch in der Vernichtung eines Teiles der
jungen Brut kommen Tiere mit Menschen übereiii.
Ich sah mit meinen Angehörigen sehr oft unweit
von Sperlingsnestern sehr junge nackte Sperlinge
tot oder halbtot am Boden liegen. Zuweilen fanden
sich die kleinen nackten Leichen mehrere Meter
vom Hause entfernt, an dessen Dache die Vögel
nisteten, so daß es schien, als ob die alten Vögel
die Jungen fortgeschleppt und fallen gelassen hätten.
Treibt Überfüllung des Nestes und die Unmöglich-
keit, die individuenreiche Brut gleichmäßig und
genügend zu ernähren, die Eltern oder eines der
Eltern zu diesem grausamen \'orgehen gegen die
eigenen Kinder? Wahrscheinlich gereicht diese
lieblose Handlungsweise den überlebenden Jungen
zum Vorteil. Oder sind es schwache oder kranke
Kinder, die (wie nach drakonischem Gesetz) aus-
gesetzt oder getötet werden ? Dasselbe gilt aber
wohl nicht von den Mutterschweinen und anderen
Tieren, welche ihre Jungen fressen.
*) Vergl. Wallace , Beiträge zur Theorie der natürlichen
Zuchtwahl. Deutsche Ausgabe von A. B. Meyer. Erlangen,
1870. S. 255.
^J Ziegler, 1. c. S. 124 ,\nni. 2.
Bei den wilden Menschen .Australiens und Poly-
nesiens ist Kindesmord gebräuchlich. Als Ursache
desselben wird teils Nahrungsmangel, teils Liebe
zur Bequemlichkeit, teils Mangel an Zeit ange-
geben. Der Kindesmord tritt zuweilen dann in
Kraft, wenn die Kinderzahl eine bestimmte Höhe
übersteigt. Paul Wi 1 u t z ky schreibt im zweiten
Bande seines Buches über die Vorgeschichte des
Rechts, daß bei manchen Völkern (Eskimos, Kam-
tschadalen, Mexikanern, Papuas u. a.) die Gewohn-
heit und der konserv^ative Hang an alten Ge-
bräuchen die Kindestötung sogar zu einer Rechts-
sitte werden ließ.
Nutzanwendungen von Parallelen zwischen
Mensch und Tier, wie die vorstehend mitgeteilten,
dürften vielleicht gestattet sein, obgleich manche
Naturforscher davor warnen, menschliche Züge im
Tierleben zu suchen. Aber es baut sich doch die
ganze Organismenwelt bis hinauf zum Menschen
kontinuierlich auf!
Auch mit der Gabe des V^erstandes ist das so.
Denn, wenn wir dem Tiere Bewußtsein zuschreiben,
so müssen wir auch annehmen, daß ihm Verstand
innewohnt. Die Tiere bilden sich individuell Vor-
stellungen, nach denen sie ihre Handlungen ein-
richten; sie sammeln Erfahrungen, die sie ver-
werten; sie haben Gedächtnis, welches ihnen bei
ihren Bestrebungen große Dienste leistet; sie lernen
und wissen das Gelernte mit Vorteil anzuwenden.
Einer unserer berufensten Tierpsychologen, Erich
Wasmann, hebt immer wieder die psychischen
P^ähigkeiten der Ameisen hervor, nämlich Wahr-
nehmungs-, Strebe-, Mitteilungs- und Lernver-
mögen, das sind Eigenschaften, welche im indivi-
duellen Leben von eigenen Erfahrungen abhängig
sind und Bewußtsein und Verstand voraussetzen.
Wasmann bezeichnet jene psychischen Fähig-
keiten als „Instinkt im weiteren .Sinne". Die meisten
Tätigkeiten der Ameisen haben aber ihren Grund
in angeborenen Instinkten, die nicht erlernt werden,
die aber, wie ich oben dargelegt habe, mit Be-
wußtsein geäußert werden.
Wichtig ist es, mit Ziegler und v. Buttel-
R e e p e n zwischen Ererbtem und Gelerntem zu
unterscheiden. In das Gebiet des Ererbten ge-
hören die Instinkte und Reflexe, in das Gebiet
des Gelernten alles, was Bewußtsein und Ver-
stand zum Grunde und zum Ausgangspunkte hat,
also das durch P>fahrung und durch Lernen Er-
worbene.
Indes haben die Tiere nur anschau-
liche Vorstellungen; beim Menschen treten
noch abstrakte, begriffliche Vorstellungen hinzu,
wie z. B. schon von Schopenhauer hervor-
gehoben wird. Waitz ') ist der Ansicht, daß den
Tieren durch den Mangel der Sprache nicht nur
die Bildung von Begriffen, sondern auch das Denken
unmöglich sei. Ein Hund hat aber in seiner
psychischen Vorstellung von einem anderen Hunde
') Waitz, Lehrbuch der Psychologie als Natur-
wissenschaft. S. 538.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. I
sicher den Begriff „Hund", ohne dafür einen sprach-
lichen Ausdruck anscheinend nötig zu haben. Und
Denkvermögen in einfachen Formen ist vielen
Tieren auch wohl nicht abzusprechen, wie manche
Beobachtungen zeigen.
In der Literatur sich findende Mitteilungen von
Beispielen des Abstraktionsvermögens bei
Insekten sind ohne Zweifel Mißdeutungen und
Anthropomorphismen, welche von Wasmann')
auf ihren eigentlichen Wert zurückgeführt werden.
Einfache Formen des Abstraktionsvermögens glaubt
Darwin'-) bei Hunden annehmen zu können;
denn er schreibt; „Wenn ein Hund in der Ent-
fernung einen Hund sieht, so ist es oft ganz klar,
dal.^ er nur in abstraktem Sinne wahrnimmt, daß
es ein Flund ist, denn wenn er näher herankommt,
so ändert sich sein ganzes Wesen plötzlich, wenn
der andere Hund mit ihm befreundet ist." Es ist
natürlich unmöglich, zu beurteilen, was in der
Seele des Hundes vorgeht.
xAhnlich ist es mit der Frage, ob Tiere Selbst-
bewußtsein haben. Darwin glaubt ,"') daß ein
alter Hund mit einem ausgezeichneten Gedächt-
nisse und etwas Einbildungskraft, wie sie sich
durch seine Träume zu erkennen gibt, sicher über
die Freuden und Leiden Betrachtungen anstellt,
welche er vorher auf der Jagd hatte. Daran ist
gewiß nicht zu zweifeln. Ich selbst kann dazu
die folgende kleine Geschichte mitteilen , welche
den Hund (schottischen Schäferhund) eines meiner
Bekannten betrifft. Dieser Hund, der gewohn-
heitsmäßig den Abend und die Nacht im Hause
zubringt und hier seine regelmäßige Mahlzeit
und sein bequemes Nachtlager erhält, blieb ein-
mal bei einem Spaziergange, auf dem er seinen
Herrn begleitete, zurück .und verirrte sich an-
scheinend. Er war am Abend nicht zu Hause,
auch in der Nacht nicht. Am folgenden Morgen
stellte er vor der Haustür sich ein und winselte.
Als ihm von Hausgenossen geöffnet wurde, klagte
und jammerte er, als ob er sagen wollte, er habe
eine sehr schlechte Nacht und große Unbequem-
lichkeiten gehabt. Auch dieses Beispiel, wenn es
nicht mißdeutet ist, könnte einiges Licht auf die
Vorstellungen werfen, welche sich im Kopfe des
Hundes abspielten.
Schließlich taucht bei derartigen Betrachtungen,
wobei Tiere eine Rolle spielen, immer wieder der
Begriff „Instinkt" vor uns auf.
Instinkt ist, wie ich mehrfach mit Recht dar-
gelegt zu haben glaube, nur in der Anlage als
solcher vorhanden. Er ist ein Naturtrieb , aber
die aus dem Naturtriebe hervorgehende
Handlung halte ich nicht mehr für in-
stinktiv. Vielmehr bin ich der Ansicht, daß
') E. Was mann. Die zusammengesetzten Nester
und gemischten Kolonien der .\ m e i s e n. Münster i. W.
S. 190.
") eil. Darwin, Die Abs tammung des Menschen
und die geschlechtliche Zuchtwahl. Deutsch v.
(. Victor Carus. 5. Aull. Stuttgart, 1S90. S. gj.
^1 Ch. Darwin, 1. c. S. 92.
der Instinkt auch bei den Tieren vom Verstände
kontrolliert wird, daß der in Tätigkeit umgesetzte
Instinkt selbständiges Handeln ist. .^ber die
aus dem Instinkte resultierenden Handlungen der
Tiere werden von ihrer Organisation reguliert.
Eine Arbeiterameise, welche für die Brutpflege
prädestiniert ist, kann schon bald nach ihrem Aus-
schlüpfen aus der Puppe ihre ihr vorgesetzten, im
Haushalt des Ameisenstaates notwendigen Arbeiten
verrichten, ohne diese erlernt zu haben. Der ihr
innewohnende Naturtrieb lenkt sie zu diesen Hand-
lungen hin, und sie verrichtet ihre Arbeiten so,
wie diese ihrer körperlichen Organisation ange-
messen sind. Bei dieser Ausführung ihrer Arbeiten
handelt sie selbständig und lernt durch eigene
Erfahrungen und Nutzanwendungen noch mehr
dazu. Auch Reflextätigkeit, wie sie der Natur der
Ameise entspricht, beeinflußt sicher ihre Arbeiten.
Ich fasse den Instinkt und die daraus re-
sultierenden Handlungen nun folgender-
maßen auf:
Instinkt ist ein erblicher Trieb zu
bestimmten Handlungen, welcher in
engster Verbindung steht mit der durch
die Organisation des Körpers gegebenen
h""ähigkeit, diese Handlungen auszu-
führen. Die Ausführung der durch den
Instinkt hervorgerufenen Handlungen
ist eine selbständige und bewußte Tätig-
keit.
Meine vorstehende Erklärung unterscheidet sich
von den bisherigen Erklärungen des Instinkts da-
durch, daß ich die Ausführung der durch
Instinkt hervorgerufenen Handlungen
nicht für instinktiv halte. Hierinit glaube
ich die Schwierigkeiten hinweggeräumt zu haben,
welche zwischen den Differenzen der bisherigen
Deutungen bestehen. Einige Naturforscher er-
klären auch die aus dem Instinkte hervorge-
gangenen Handlungen für instinktiv; andere sind
zu extrem in der Auffassung der Intelligenz der
Instinktwesen.
Da es wichtig ist, festzustellen, was bei einem
Tiere Instinkt und was durch eigene Erfahrung
erworben und erlernt ist, so erscheint es not-
wendig, junge Tiere (namentlich junge Säugetiere
und Vögel, kurz vorher aus der Puppenhülle her-
vorgegangene Insekten) daraufhin zu beobachten
und dabei anzumerken, wie sie bei all ihrem Tun
sich benehmen, wie sie ihre Nahrung suchen und
finden, wie sie sich zu ihresgleichen verhalten, wie
ihre Beziehungen zu ihren Eltern sind (was bei
Insekten nur teilweise möglich ist), namentlich wie
und worin sie von ihren Eltern unterrichtet und
bei ihren Versuchen unterstützt werden, dann wie sie
ihre Handlungen zu den sexuellen Tätigkeiten und
zu den Geschäften der Brutpflege einleiten ; ferner
wie sie ihre Handlungen vervollkommnen, wie sie
an Geschicklichkeit zu den verschiedenen Hand-
lungen gewinnen, was für Erfahrungen sie machen,
wie sie diese verwerten, was sie sonst noch hinzu-
lernen und wie sie sich fernerhin in allen ihren
N. F. III. Nr. I
Naturwisscnschaftliclic Wochenschrift.
Handkingen verhalten, und namentlich wie die
Handlungen der älteren Tiere sich von denen der
jüngeren Tiere unterscheiden.
Das heißt also : die auf individueller
Wahrnehmung und auf Lern vermögen
beruhenden selbständigen Handlungen
sollen von den der betreffenden Art zukommenden,
aus Instinkten hervorgehenden Hand-
lungen unterschieden werden. An derartigen
Beobachtungen ist in der Biologie großer Mangel ;
sie sind aber notwendig für die Erkenntnis der
Tierseele.
Kleinere Mitteilungen.
Plauderei über die Macht der Gewohn-
heit. — Durch stete Wiederholung seines Rufes
„ceterum censeo Carthaginem esse delendam" ge-
wöhnte der alte Cato die Römer an seinen Ctc-
danken von der Notwendigkeit der Zerstörung
Carthagos.
Der frühere preußische Abgeordnete Bohtz
stellte in einer Sitzung (vom 14. April 1891) den
Antrag in § 80 der Landgemeindeordnung das
Wort „absolute" in „unbedingte" umzuändern und
führte zur Begründung das Folgende aus. Der
stenographische Bericht lautet :
„„um das Wort habe ich gebeten, weil ich
mir auf Nr. 252 der Drucksachen unter Nr. 4 den
Antrag zu stellen erlaubt habe, in i; 80 das Wort
„absolute" vor Stimmenmehrheit umzuwandeln in
„unbedingte". Das klingt vielleicht lächerlich, aber
wir sind bestrebt, da, wo es irgend geht, I''rem(i-
wörter zu eliminieren
(Rufe : eliminieren !)
(Heiterkeit.)
Dieser Lapsus, —
(Rufe: Lapsus!)
(Große Heiterkeit.)
der mir eben begegnet ist, beweist nur, wie sehr
wir noch gewöhnt sind, mit Fremdwörtern . . .
(Rufe: zu operieren!)
(Stürmische Heiterkeit.)
— Mißbrauch zu treiben, so daß es wirklich an-
gezeigt ist, da, wo es angängig erscheint, der-
artige Fremdwörter zu beseitigen. Nun habe ich
bei meiner Erfahrung in der Praxis —
(Heiterkeit.)
häufig gefunden , daß bei der Feststellung der
Mehrheit bei Wahlen, die Gemeindevorsteher in
Verlegenheit geraten. Sie verstehen die Begrifie
„absolute" und „relative" Mehrheit nicht ausein-
ander zu halten, und ich habe es deshalb für an-
gezeigt gehalten, den Antrag zu stellen, an Stelle
des Wortes ,, absolute" hier das deutsche Wort
„unbedingte" zu setzen.
Die Sache hat ja nun hier einen lächerlichen
Anstrich gewonnen, aber sie ist wirklich nicht so
lächerlich, wie es scheint. Ich habe es ernst
gemeint und möchte Sie bitten, den von mir zu
§ 80 gestellten Antrag hier schon bei § 60 an-
zunehmen, woraus dann als Konsequenz —
(Heiterkeit.)
— folgt, daß er auch bei § 80 als angenommen
gilt." "
Muß man bei solchen Beispielen, die sich ins
Unendliche mehren lassen, nicht unwillkürlich an
einen großen, schweren Pendel denken, der beim
ersten Anstoß einen noch nicht merklichen, beim
zweiten einen eben merklichen Ausschlag und
schließlich nach und nach immer deutlicher werdende
.Ausschläge zu erkennen gibt, um endlich bei diesen
länger zu verweilen ? Unser Denken und Handeln
auf Grund von Gewohnheiten ist zu vergleichen
mit der „Trägheit" des Stoffes. P. Mantegazza
sagt in seinem Büchelchen „Hygiene des Kopfes" :
„Die (iewohnheit ist eine der psychologischen
Formen des allumfassenden Trägheitsgesetzes, und
sicherlich eines der elementarsten Gesetze der Be-
wegung, indem dieselbe, sobald sie einmal eine
Richtung eingeschlagen hat, nicht anhält, wenn
sie nicht etwa auf Hindernisse stößt, die ihr
eine andere Richtung zu geben oder sie in eine
Kraft umzubilden vermögen. Ja sogar der Instinkt
ist wohl nichts anderes als eine von Generation
zu Generation fortgeerbte Gewohnheit, als die ver-
mittelst der Liebe übertragene Veränderung des
Individuums . . . Die Gewohnheit ist eine be-
ständige Modifikation eines Organs oder einer
Funktion, hervorgebracht durch die häufige Wieder-
holung einer und derselben Tätigkeit oder Hand-
lung, infolgedessen dieselbe immer leichter und
notwendiger wird."
Es ist in der Tat sehr bemerkenswert , daß
einmal gewonnene Denkanschauungen mit außer-
ordentlicher Zähigkeit festgehalten werden. Die
Macht der Gewohnheit spielt hier eine gewaltige
und — man muß wohl auch sagen — „berech-
tigte" Rolle; denn hat sich eine Denkrichtung im
Leben bewährt, oder hat sie doch keinen Anstoii
gefunden, so liegt ja keine äußere Ursache vor,
sie aufzugeben oder verschwinden zu machen.
Folgen wir einer nützlich gefundenen Gewohn-
heit, so schwindet uns allmählich das Bewußtsein
des aus der Erfahrung geschöpften Grundes, warum
wir ihr folgen. Ihr zu folgen erscheint uns dann
in unserem Handeln ohne weiteres selbstverständ-
lich, in unserem Denken auch : sie nähert sich
dem Aprioristischen immer mehr.
Mantegazza macht ferner den berufsmäßig mit
dem Kopfe Arbeitenden Vorschläge dahingehend,
ihre Arbeiten an bestimmte Zeiten zu knüpfen,
niemals über den Beginn der Ermüdung hinaus
zu arbeiten, von Reizmitteln keinen Gebrauch zu
machen usw.') Diese Ratsciiläge können von denen,
die bisher anderen Gewohnheiten folgten, deshalb
leicht angenommen werden, weil die Denk tätig-
') Vgl. „Naturw. Wochcnsclir." Bd. V (1890), S. 501.
Naturwissenschaftliclic Wochenschrift.
N. F. III. Nr. I
keit vergleichsweise leicht neuen Gewohnheiten
folgt. Mit der Denkrichtu ng ist es eben anders;
denn, wie gesagt, die Gewohnheit, in einer be-
stimmten Richtung zu denken, auch wenn diese
eine falsche aber nützliche oder indifferente ist,
ist nur sehr schwer, oft gar nicht zu überwinden.
,,Es ist eine merkwürdige, sich immer wieder-
holende Erscheinung in der Geschichte der Wissen-
schaft — sagt z. B. Melchior Neumayr ') — : eine
neue und richtige Auffassung, die sich nicht auf
neues handgreifliches Material von Tatsachen,
sondern auf eine bessere Deutung schon bekannter
Beobachtungen stützt, gelangt nicht dadurch zur
allgemeinen Annahme, daß die Gegner durch die
Macht der Gründe widerlegt und überzeugt werden,
sondern dadurch, daß dieselben aussterben und
die junge Generation die neue Theorie als selbst-
verständlich annimmt, so daß eine solche in der
Regel ein Menschenalter braucht, um sich Eingang
zu verschaffen."
Zur Illustration dieser Äußerung sei der be-
kannte Berliner Naturforscher Christian Gottfried
Ehrenberg herangezogen , der in einem nachge-
lassenen Manuskript über die Darwin'sche Theorie
den Ausspruch tat : -)
„Der Gedanke, daß alles Leben in seinen Formen
aus lieblosem Kampfe ums Dasein hervorgegangen,
ist drückende Folter. Ich erachte, daß die späteren
Generationen der Menschen diese lieblose Schöpfung
nicht ertragen werden, sondern sich umzusehen
geneigt sein werden, ob • nicht noch eine andere
Weltansicht des Lebens aufzufinden sei" — und
doch giebt Ehrenberg zu : — ,,Darwin's Bemühung
ist das Resultat eifriger Anschauung der Natur in
einem langen, beobachtungsreichen Leben. Die
von diesem Schriftsteller vorgetragenen , höchst
interessanten Naturbilder werden einen großen
Wert für alle Zeiten behalten , nicht bloß der
reichen eigenen Beobachtungen halber , sondern
auch wegen der Eintragung vieler sehr zerstreuter
Beobachtungen anderer, wonach dieses Werk zu
einem Lexikon geworden ist, dessen einzelne
Schätze von Zeit zu Zeit immer wieder benutzt
zu werden geeignet sind."
Für Ehrenberg war die Annahme der Konstanz
der Arten eine Hauptgrundlage seiner langen und
beständigen Studien gewesen ; dieser Gedanke ge-
hörte innig zu seinem Weltbegriff, der durch die
Annahme der Veränderlichkeit der Arten wesent-
lich erschüttert worden wäre. Die Selbsterhaltung
mußte ihn daher zur Ablehnung der Deszendenz-
Theorie führen, und es ist nur ein Zeichen des
trefflichen Naturforschers, daß er klar erkannte, daß
für ihn ein wesentlicher Grund der Ablehnung in
der „drü cken den Folter", in dem ihm „lieb-
los" erscheinenden Kampf ums Dasein lag. Es
wäre psychologisch fast wunderbar, wenn die älteren
Naturforscher nicht zum größeren Teil Gegner
der Deszendenz -Theorie und im speziellen des
') Erdgeschichte I. Leipzig 18S7. p. 18.
-) Vergl. Nalurw. VVochenschr. Bd. X (1895) Nr. 15.
Darwinismus gewesen wären. Wenn wir die beiden
Möglichkeiten — Konstanz der Arten und Ver-
änderlichkeit derselben — gegenüberstellen , so
entspricht freilich die letztere erdrückend besser den
Tatsachen und fordert gebieterisch ihre Annahme:
aber auch zur Einsicht von Wahrheiten^ gehört
Übung!
Die mit dem Hypnotismus Vertrauten nennen
die Tatsache von der Kraft der Gewohnheit Sug-
gestion. Bei der Erziehung werden einem jeden
Dogmen vorgetragen, um sie einzupflanzen; „s[)äter
— sagt z. B. Albert Moll ') — sitzen sie in ihm
fest und beeinflussen sein ganzes Handeln. Es ist
das Dogma für ihn zu einer Autosuggestion ge-
worden, die durch keine wissenschaftlichen Gründe
beseitigt werden kann; denn die Autosuggestion
ist der größte Feind der Fremdsuggestion. Jeder
Mensch eignet sich diese Autosuggestionen im
Laufe der Zeit an. Auch die \'orurteile sind
solche Autosuggestionen. Ideen, für die Menschen
kämpfen, sind als Autosuggestionen aufzufassen."
Mag man nun die Tatsache nennen oder ,, er-
klären" wie man wolle: jeder Einzelne hat an der
Partei, der er nicht angehört, die Erfahrung ge-
macht, daß die Logik eingefleischten Anschauungen
gegenüber keinen Einfluß übt, und jeder Gelehrte
wird bestätigen, daß speziell die wissenschaftliche
Logik anerzogenen oder althergebrachten An-
schauungen gegenüber meistens machtlos ist. Es
ist diese Tatsache auch ganz begreiflich. Denn
ist ein Mensch mit den ihm anhaftenden, aus
seinem Lebensgange resultierenden Gewohnheiten
seinen Bedürfnissen entsprechend gut durchge-
kommen, so hat er keine Ursache diese Gewohn-
heiten in seinem Denken und Handeln zu ver-
lassen. Viele Gewohnheiten entstehen mit Rück-
sicht auf die individuelle Lebenserhaltung und
festigen sich, wenn sie nicht durch aus ihnen
folgende lebensstörende Hindernisse beseitigtwerden.
Die meisten Gewohnheiten verdanken wir der Er-
ziehung, der planmäßigen in unserer Jugend oder
der später aus dem gesellschaftlichen Leben sich
ergebenden, und auch diejenigen unter diesen, die
weder nützlich noch schädlich aber aus falschen
Voraussetzungen entspringen, werden sich im ge-
gebenen Moment geltend machen, weil das ganze
menschliche Verhalten auf Assoziationen beruht.
Die Prinzipien der Erziehungslehre beweisen,
daß die Pädagogen den Wert der Gewöhnung (der
l^bung) vollauf kennen. Schopenhauer sagt:
„Durch Erziehung und Beispiel kann man den
Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch
das Absurdeste einprägen, z. B. sie gewöhnen, sich
diesem oder jenem Götzen nur vpn heiligem
Schauer durchdrungen zu nähern und beim Nennen
seines Namens nicht nur mit dem Leibe, sondern
auch mit dem ganzen Gemüte sich in den Staub
zu werfen ; an Worte, an Namen , an die Ver-
teidigung der abenteuerlichsten Grillen, willig ihr
Eigentum und Leben zu setzen; die größte Ehre
') Der Hypnotismus. I. AuH. p. 35.
N. F. III. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
und die tiefste Scliandc bchebij^ an Dieses oder
Jenes zu knüpfen, und danach jeden mit inniger
i^berzeugung hoclizuschätzen, oder zu verachten ;
aUer animalischer Nahrung zu entsagen, wie in
Hindostan, oder die dem lebenden Tiere heraus-
geschnittenen, noch warmen und zuckenden Stücke
zu verzehren, wie in Abessinien ; Menschen zu
fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder dem
Moloch zu opfern; sich selbst zu kastrieren, sicli
willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen
zu stürzen, — mit einem Worte, was man will.
Daher die Kreuzzüge, die Ausschweifungen fana-
tischer Sekten, daher Chiliasten und Flagellanten,
Ketzerverfolgungen, Autos de fe, und was immer
das lange Register menschlicher Verkehrtheiten
noch sonst darbietet."
Da sagt allerdings Schiller's Wallcnstein nicht
zu viel, wenn er die Gewohnheit die Amme des
Menschen nennt. Für die meisten ist es unmög-
lich, für andere nur nach Kämpfen möglich, die
von der Amme übertragenen Keime wieder los-
zuwerden. Die Fähigkeit zu glauben bedarf zli
ihrer Entstehung der Pflege, aber sie entwickelt
sich leicht; wer aber einmal gläubig geworden
ist, und dann ausschließlich wissen will, findet
in seinem Denken versperrende steile Wälle auf-
getürmt, die zu erklimmen nur wenigen ver-
gönnt ist.
Die anerzogene Denkrichtung eines Menschen
gleicht einem gewaltigen Sturzbach, der alles sich
ihm in den Weg .Stellende mit sich fortreilU. Ein
junger Bach schlängelt sicii, den zurückzulegenden
Weg zur Erreichung seines Zieles überflüssig ver-
längernd, vielfach hin und her und entfernt sich
auch wohl streckenweise vom Ziele. Erst nach
und nach , sehr allmählich vermag er gewisse
Strecken seines Bettes, die nur Umwege und Rück-
schritte bedeuten, abzuschneiden. Auch der Ver-
stand kann aus seinem mäandrischen Geleise nur
selten plötzlich heraus in ein in gerader Richtung
schnell zum Ziele laufendes hinein; ebenso wie
auch ein Wasserlauf nur bei ausnahmsweise starkem
Zufluß, wenn das alte Bett die Fülle nicht melir
fassen kann, ein neues, kürzeres Bett zu graben
vermag. Die Logik aber ist es nicht, die falsche
Ansichten des Alltagsmenschen zu rektifizieren ver-
mag; wie beim Wasserlauf vermag ein solches nur
der Zwang der Verhältnisse.
„So sehen wir — sagt auch Moll ') z. B. —
daß gegenüber Vorurteilen, Dogmen, politischen
Ansichten, die Logik keinen allzugroßen Wert hat."
Wenn wir diese Tatsache erwägen unter dem
Gesichtspunkt, daß die konstanten Eigenschaften
der organischen Wesen, sofern diese nicht zu-
grunde gehen sollen, so beschaffen sein müssen,
daß sie das individuelle Leben und die Arterhaltung
stets unterstützen oderjedenfalls doch nicht hindern,
so müssen wir ohne weiteres aus dem Gesagten
die Folgerung ziehen, daß für das Leben und die
Erhaltung der Organismen, speziell des Menschen,
') A. a. O. p. 35.
also wohl gewohnheitsmäßiges Denken
wichtiger ist als rein logisches. Ein Re-
sultat, aus welchem wir die Individualitäten ver-
stehen lernen, deren Eigentümlichkeiten nur in-
sofern bestehen, als sie im Kampf ums Dasein
nicht tangiert werden.
Gab es nun stets Individualitäten , oder mit
anderen Worten : waren die Menschen stets geteilter
Meinung?
Daß übereinstimmende Meinungen immer auf
Gebieten herrschen, die die dringenden Bedürfnisse
des menschlichen Lebens betreffen, während ein
Auseinandergehen erst auf Gebieten stattfindet, die
in dieser Beziehung indifferent sind, ist eine leicht
wahrzunehmende Tatsache.
Eduard Kulke ') macht darauf auhnerksam, daß
ein solcher Widerstreit der Meinungen , wie er
heutzutage beobachtet wird, aus dem Grunde bei
dem Menschen der allerersten Urzeit nicht möglich
war, weil sich bei diesen alles ausschließlich um
den Kampf ums Dasein drehte: „Solange das
Streben nach Befriedigung der dringendsten Be-
dürfnisse das einzige blieb, welches das Denken
der Menschen beschäftigte, konnte die durchgängige
Übereinstimmung in ihren Meinungen auch gar
nicht durchbrochen werden." „Diese Möglichkeit
trat nicht eher hervor, als bis die Menschen an-
fingen ihre Gedanken auf Dinge und Erscheinungen
zu richten, welche mit den dringenden Bedürf-
nissen und deren Befriedigung in keinem unmittel-
baren Zusammenhang standen." Erst hier können
gewisse subjektive Eigentümlichkeiten des Indivi-
duums hervortreten. Durch Schaden wird man
klug; wo ein Schaden mit einer falschen Meinung
nicht verknüpft ist, bleibt man eben unklug. Be-
ginnt eine subjektive Meinung eines einzelnen die
Gesamtheit aus irgend einem Grunde zu inter-
essieren, so tritt der Moment ein, wo sich die
religiösen Vorstellungen zu bilden beginnen. Denn
war z. B. die .Sonne ein Wesen, das sein dem
Menschen unentbehrliches Licht und seine ebenso
unentbehrliche Wärme, wenn es wollte, auch vor-
enthalten konnte, so mußte man es verehren und
anbeten; war sie ein von unsichtbarer Hand ge-
worfener Gegenstand, so mußte jenes Wesen ver-
ehrt und angebetet werden, das die Macht besaß,
solches zu vollbringen: es kam nur darauf an, für
welche dieser subjektiven Meinungen sich die Ge-
samtheit oder ein Teil der Gesamtheit (Kasten-
bildung) entschied. Dies die Ansicht des letzt-
genannten Autors.
Nur diejenigen Meinungen werden allmählich
ausgemerzt, die unbedingt zu schädlichen Hand-
lungen führen; die relativ unschädlichen Ansichten
aber haben lange Dauer und werden nur durch
neu auftauchende Interessen von anderen beeinflußt
oder abgrelöst. H. P.
Zur Entwicklungsgeschichte der Meinungen. Leipzig 1891.
Räuberische Süfswasserschnecken. — Die
siroße Schlanmischnecke oder gemeine Teich-
lO
Nalurwisseiiscliaftlichc VX'ochcnschrifi.
N. I'. III. Nr. I
Schnecke, Limiiaea stagnalis Lam. ist in unseren
Teichen und Tümpeln überall häufig zu finden.
Ihre ansehnliche Größe macht es ziemlich leicht,
sie zu beobachten, und ihr Körperbau wie ihre
Lebensweise bieten so viel des Interessanten, daß
es sich wohl lohnt, Zeit und Mühe dafür hinzu-
geben. Es haben sich auch schon viele Zoologen
und Laien mit ihr beschäftigt, und es ist bereits
viel über sie geschrieben worden. Trotzdem möchte
ich hier einige Beobachtungen veröffentlichen, von
denen ich wohl annehmen darf, daß sie weniger
bekannt sind. In Kreisen der Aquariciiliebhaber
erfreut sie sich keines guten Rufes, denn sie richtet
unter den Pflanzen im Aquarium große Ver-
wüstungen an. Das tut sie aber allem Anscheine
nach nur aus Not, weil es ihr an tierischer Nahrung
mangelt. Jedenfalls zieht sie die letztere den Vege-
tabilien vor. Gleich den Wasserasseln und anderen
Kleinkrebsen maciit sie sich in den Gewässern
dadurcii nützlicii, daß sie dieselben vom Aase
säubert. Dabei leistet sie im Skelettieren toter
Fische ganz Vorzügliches, alle Weichteile, die Augen,
sogar das Gehirn werden vollständig entfernt und
aucii die feinste Gräte säuberlich abgeleckt. Aber
aucii lebenden Tieren wird die Limnaea stagnalis
gefährlich. Ich habe selbst beobachtet, wie sie
eine ganze Kolonie Süßwasserpolypen (Hydra) ver-
nichtete. Die Hydren saßen in lo — 12 Exem-
plaren an der Glaswand eines Aquariums, die
Schnecke kroch an derselben entlang. Kaum be-
rührten die Tentakeln der Polypen ihre Oberlippe,
welche ein vorzügliches Tastorgaii zu sein scheint,
als sie sich schleunigst daran machte, eine nach
der andern zu verzehren. Ein anderes Mal traf
eine große Limnaea auf ihrem Wege eine junge
Posthorn- oder Tellerschnecke (Planorbis). Sofort
überfiel sie dieselbe, wobei sie das Maul außer-
ordentlich weit öffnete. Im Augenblick war sie
damit fertig und ließ das Gehäuse des Tierchens
zurück. Ich habe dasselbe mit dem Mikroskop
untersucht und gefunden, daß der Körper der
Planorbis vollständig aus dem Gehäuse heraus-
geholt war. Anfangs war ich geneigt, derartige
L^berfälle auf lebende Tiere als Gelegenheitsräube-
reien anzusehen, bis ich vor einigen Tagen durch
eigene Anschauung dahin belehrt wurde, daß nicht
immer der Zufall die Schuld trägt, sondern daß
auch eine planmäßige Jagd stattfindet, bei welcher
außer dem Tastsinn auch die Augen eine wichtige
Rolle spielen. In einem großen Einmacheglase
wächst vor meinem Fenster unser einheimisches
Pfeilkraut, Sagittaria sagittaefolia L. Die Pflanze
ist mit unzähligen großen Blattläusen behaftet.
Eine Gruppe dieser Tiere saß an einem Blatt-
stiele und wurde von einer Limnaea bemerkt. Da
die Läuse oberhalb des W^assers saßen, konnte von
einer Anwendung desTastsinnes seitens der .Schnecke
nicht die Rede sein, sie mußte vielmehr die Beute
mittels der .\ugen wahrgenommen haben. Nun
geschah etwas Unerwartetes : die .Schlammschnecke
kroch aus dem Wasser heraus, bis ihr Kopfende
ca. 3 cm über der Wasseroberfläche war und
suchte den Blattstiel rund herum ab, und alles,
was sich nicht durch schleunige Flucht retten
konnte, wurde von dem weit geöffneten Maule
gepackt und aufgefressen. Wenn ein Beutestück
an der Oberfläche des Wassers treibt, so weiß die
Limnaea sich unter geschickter Verwendung der
P'ußsohle desselben zu bemächtigen und es dem
Munde zuzuführen, so daß sich dem Beschauer un-
willkürlich der Gedanke aufdrängt, das Tier müsse
einer gewissen Überlegung fähig sein. Es möge
darum zum Schlüsse noch das folgende Experiment
Erwähnung finden. Um zu sehen, was das Tier
beginnen würde, steckte ich in die geöffnete Atem-
höhle einer Schlammschnecke einen feinen Stroh-
halm. Kaum spürte die Limnaea den PVenrdkörper,
als sie die Atemöffnung schloß, den Körper einzog
und sich zu Boden fallen ließ. Hier blieb sie eine
Weile regungslos liegen, dann kam sie aus dem
(ichäuse heraus und suchte sich über die Ursache
des Unbehagens zu orientieren, schließlich faßte
sie mit der Oberlippe und mit dem vorderen
Teile der Sohle den Halm und zog ihn ruckweise
unter fortwährendem Nachfassen aus dem Luft-
sackc heraus. Chr. Brüning.
Eine neue deutsche Clathracee. — Die inter-
essanten P'ormen der Phalloidecn sind besonders
in den Tropen verbreitet, während bei uns in
Deutschland bisher nur zwei heimische Arten, die
Stinkmorchel (Phallus impudicus) und die
Hundsrute(Mutin us caninus) beobachtet worden
sind. Hin und wieder ist allerdings auch der
rote Gitterpilz (Clathrus cancellatus), so vor
mehreren Jahren bei Berlin auf einem Palmen-
kübel, gefunden worden, doch wurde das Mycel
dieses Pilzes stets mit der Pflanze aus Italien oder
Südfrankreich eingeschleppt.
Erstgenannte Arten gehören zur l''amilic der
Phallaceen, letztere den Clathraccen an.
Zu meiner größten Überraschung erhielt ich
im August vorigen Jahres einen ganz wunderbaren
Pilz in zahlreichen lebenden Exemplaren aus Lud-
wigslust in Mecklenburg zugesandt. Derselbe war
dort auf einem sandigen Spargelfeld außerhalb
der Stadt gewachsen und war von dem Herrn
H. Klitzing daselbst entdeckt worden. Der Pilz
erwies sicli als eine Art der Clathraceen-Gattung
Anthurus, deren Vertreter, sonst fast ausschließlich
in tropischen Gebieten heimisch, bisher sehr
mangelhaft bekannt geworden sind. Es sind dies
etwa 7 Arten , von denen A n t h u r u s W o o d i i
in Ostafrika, A. Santa Catharinae in Brasilien,
A. Clarazianus in Argentinien, A. cruciatus
in Gujana, A. Müllerianus, A. aust ral ien sis
in Australien, sowie A. borealis in Nordamerika
vorkommt. Letztere Art wurde erst im Sep-
tember 1894 auf einem sandigen Getreidefelde bei
Last Galway (New- York) von Burt entdeckt und
beschrieben. — Mit dieser letzteren Art hat unser
mecklenburger Pilz nun sehr große .\hnlichkeit,
doch ist derselbe durch verschiedene Merkmale, so
durch P'ärbung der Arme und der Sporenmasse,
N. F. III. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
durch Vorhandensein einer ringförmig verlaufenden
Leiste unterhalb der Arme u. s. w. abweichend.
Ich habe den Pilz daher vorläufig nur als Varietät
zu letzterer .^rt gestellt, doch dürfte derselbe wohl
besser als Art A n t h u r u s K 1 i t z i n g i i abzu-
trennen sein. Das Vorkommen, sowie die ange-
gebene Verschiedenheit von der amerikanischen
Art sprechen dafür, daß der Pilz zweifellos ein
ursprünglicher Bürger unserer Flora, möglicher-
weise auch weiter verbreitet sein dürfte. Recht
oft entziehen sich derartige sich äutlcrst rasch ent-
wickelnde und dabei äul.^)erst vergängliche Pilzarten
dem Auge und der Kenntnis des Mykologen. Der
heran. Dieses Ei ist von weißer Farbe, an der
Basis dem Mycelstrange angewachsen. Bei der
Reife reißt die Eihaut, welche außen pergament-
artig, innen aus einer dicken Gallertschicht und
zu innerst aus einer sehr dünnen weißen Membran
besteht, unregelmäßig auf. Der Stiel des Frucht-
körpers streckt sich oft binnen wenigen Minuten
und hebt die Gleba hervor, während die zerrissene
E'ihaut am Grunde des Stieles als Scheide ver-
bleibt. Der Stiel ist keulenförmig nach oben zu
verdickt, 2 — 8 cm lang, oben 1 — 2 cm dick, aul.5en
weiß, runzelig, netzig-zellig, im Innern mit weitem
I lohlraume.
Fig. I.
^
Fig. 2.
Fig. 7.
>0
Fig. 8,
P'Jt?)
yi
Fig. 4.
Fig. 3- fig- .=;■
F'ig. 1 u. 2 : F.icr in verschiedenen Stadien mit Myeel ; Fig. 3 : Entwickelter 6-armiger
Fruclitkörper; Fig. 4: 7-armiger kleinerer Fruchtkörper; Fig. 5: Überreifer
Fruchtkiirper, dessen .\rmc sich an der Spitze getrennt haben ; Fig. 6 : Unent-
wickelter Fruchtkörper, bei dem in der oberen Hälfte die Fihaut abgelöst worden
ist; Fig. 7 u. 8; Querschnitte durch ein /.iemlich reifes Ei. (Alles natürl. GröLie.l
höchst unangenehme Geruch, sowie die nicht leicht
zu konservierende Form des oft nur wenige Stunden
vegetierenden Pilzes schrecken den Laien, falls er
ihn bemerkt, ab vom Sammeln und Aufbewahren
desselben, und die wenigen Mykologen können
nicht überall zugegen sein, wo gerade ein der-
artiger Pilz einmal auftritt.
Unser Pilz entwickelt sich, wie auch die übrigen
Phalloiden aus einem eiähnlichen Körper. Dieser
geht aus den im Boden befindlichen Mycelsträngen
hervor, er ist anfangs etwa in Größe eines Senf-
kornes wahrnehmbar und wächst nach und nach
unter der lürde bis zur Größe eines 'I'aulieneies
Zuoberst des Stieles macht sich eine ring-
förmige, schwach hervortretende Leiste bemerkbar,
oberhalb dieser teilt sich derselbe in 6, seltener
in 5 oder 7 Arme. Diese sind fast lanzettförmig,
\—2^l„ cm lang, 0,5 — 0,6 cm breit, nach oben
stark verjüngt, zugespitzt oder stumpflich, in der
Mitte von einer tiefen, glatten, weißen Längsfurche
durchzogen, die nach oben zu breiter und flacher
wird.
Auf beiden Seiten der Längsfurche, sowie auf
der Innenseite bis kurz vor der Basis sind die
Arme querrunzelig, weißlich, mit der schokoladen-
braunen Sporenmasse bedeckt. Im sporenreifen
12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. I
Zustande neigen die Arme nach oben dicht zu-
sammen, wenn jedoch die Sporen abgeflossen sind,
beginnen sie sich zu trennen und nach außen zu
neigen. Die Sporen entstehen zu S~8 a^n
Scheitel der langkeuligen Basidien, sie sind ellip-
soid oder ovoid-subfusoid, chlorin-hyalin, 3' '., — 4 u
lang, I — 2 /.t breit. Die Sporenniasse besitzt einen
an Menschenkot erinnernden Geruch.
Die Fruchtkörper sind recht verschieden groll,
einzelne bis 12 cm, andere nur 4 — 6 cm hoch
und besitzen je nach der Anzahl und der Länge
der Arme ein oft recht verschiedenes Aussehen.
Der Pilz entwickelt sich von August bis Spätherbst,
selbst noch bei gelinden Nachtfrösten im Oktober,
am üppigsten jedoch in feuchtwarmen Nächten.
Wir geben anbei einige Abbildungen des Pilzes
in verschiedenen Entwicklungsstadien und Formen,
die von dem Entdecker Herrn H. Klitzing nach
der Natur gezeichnet worden sind.
Prof. F. Hennings.
Um Luftballons gegen Explosionen zu
schützen, wurden auf \'eranlassung des „Berliner
Vereins für Luftschiffahrt" neuerdings Versuche
angestellt, die, obwohl noch nicht abgeschlossen,
für die Leser dieser Zeitschrift doch schon einiges
Interesse bieten dürften. Wie s. Z. in den Tages-
blättern berichtet wurde, verlor der genannte
Verein am 25. April d. J. seinen schönen Ballon
„Pannewitz" durch Feuer unmittelbar nach Be-
endigung einer bis dahin unter den günstigsten
Verhältnissen \-erlaufenen Fahrt. Die Einzelheiten
des Unglücksfalles glichen vollständig denjenigen,
welche am 26. April 1S93 zur Vernichtung des
Ballons ,, Humboldt" führten, und machen es sehr
wahrscheinlich, daß in beiden und noch mehreren
ähnlich verlaufenen Fällen ein elektrischer Funke
beim Landen entstand und die Gasfüllung des
Ballons in Brand setzte. Unter den Schutzmaß-
regeln, die zur Vermeidung solcher Vorgänge
empfohlen wurden, befand sich auch die An-
wendung radioaktiver Substanzen. Man
erinnerte sich, daß in neuerer Zeit mehrere Körper
(Radium, Polonium und ihre Verbindungen) auf-
gefunden wurden, welche eine zuvor noch nicht
bekannte Art von Strahlen aussenden, und daß
die von solchen Strahlen durcheilte Luft eine er-
höhte elektrische Leitungsfähigkeit zeigt. Lädt
man einen isoliert aufgestellten Leiter mit Elek-
trizität und nähert ihm einen jener radioaktiven
Körper, so verschwindet die Ladung alsbald, weil
die umgebende Luft sie vermöge ihrer durch die
radioaktive Strahlung gewonnene Leitungsfähigkeit
fortführt. Daraufhin glaubte man eine jede während
der Luftfahrt entstehende elektrische Ladung des
Ballons sogleich und ohne Gefahr beseitigen zu
können durch Anbringen eines radioaktiven Körpers
an irgend einem Teile des Ballons. Die \^ersuche
erwiesen indessen die Irrigkeit solcher Hoffnung.
Man bediente sich dabei eines zur Abfahrt fertigen
Ballons, der mit einer isolierenden Seidenschnur
an den Boden gefesselt war und nur soviel Auf-
trieb hatte, um die Schnur zu spannen. Zunächst
galt es, diesem Ballon eine elektrische Ladung zu
erteilen. Seine Wasserstofffüllung ließ die An-
wendung einer Elektrisiermaschine bedenklich er-
scheinen, und man wandte daher ein durch dies-
jährige Beobachtungen des Herrn Ebert in
München bekannt gewordenes X'erfahren an, näm-
lich die PLlektrisierung durch Sandauswerfen. Der
genannte h'orscher bemerkte, daß das bloße Aus-
schütten von Sand aus einem der gebräuchlichen
Ballastsäcke genügt, um den Sack und seinen
Träger (natürlich bei isolierter Aufstellung) positiv
elektrisch zu machen, während der herabfallende
Sand negati\e Ladung zeigt, falls man ihn in einem
isolierten Gefäß auffängt. Demgemäß fand man
auch bei den hier erwähnten Versuchen, daß Aus-
werfen trockenen Sandes aus dem Korbe des
isolierten Ballons eine erhebliche Ladung positiven
Vorzeichens im Ballon erzeugte, namentlich wenn
der Sand, wie es ja beim Ballastwerfen zu ge-
schehen pflegt, an der äußeren Korbwand Reibung
fand. Wurde nun eine solche Ladung bewirkt,
und dann durch einen am Boden stehenden Be-
obachter eine mit radioaktiver Substanz bedeckte
Metallplatte dem Ballonkorb genähert, so entlud
sich der Ballon rasch. Diese Wirkung blieb aber
aus, wenn derselbe Beobachter auf Paraffinstücken
stand und dadurch vom Boden isoliert war. Denn
wenn jetzt auch in der unmittelbaren Nähe des
Korbes eine leitende Luftmasse sich befand, so
fehlte doch die leitende Verbindung mit dem
Erdboden, welche zum Fortführen der Ballonladung
nötig gewesen wäre. .Aus demselben Grunde er-
wies sich auch die .'\nbringung der radioaktiven
Platte am äußeren Korbrand als unwirksam und
verhinderte keineswegs die Ladung des Ballons
durch .Sandauswerfen. Weil aber der frei fliegende
Luftballon gleichfalls keine Gelegenheit zur P'ort-
führung angesammelter Elektrizität gegen den
Boden bietet, wird er das nämliche Verhalten
zeigen, und es ist daher untunlich, durch Anwen-
dung radioaktiver Körper die elektrische Ladung
des Ballons zu hindern und das Entstehen zünden-
der Funken auszuschließen.
Über weitere Versuche, welche die gleiche Auf-
gabe auf andere Art zu lösen bestimmt sind,
hoffen wir später zu berichten.
R. Börnstein.
Die Intensitätsverteilung bei Linienspek-
tren. — Zahlreiche Arbeiten sowohl theoretischer
als experimenteller Natur haben in den letzten
Jahren gezeigt, daß feste Körper ebenso wie der
sogenannte ,,s c h w a r z e" Körper alle Wellenlängen
mit zunehmenden Intensitäten aussenden , wenn
man die Temperatur erhöht; da jedoch dieses
.Anwachsen für kleine Wellenlängen schneller vor
sich geht, verschiebt sich das Energiemaximum
nach diesen hin.
Es wäre interessant zu untersuchen, ob dieses
selbe Gesetz sich auch für die Linienspektra der
Gase bestätigt , worauf viele Erscheinungen hin-
N. F. III. Nr. I
Natui'wissenscliaftliche Wocliciischrift.
13
weisen. Aber ganz besondere experimentelle
Schwierigkeiten stellen sich bisher einer endgülti-
gen Lösung dieses Problems entgegen. Die Licht-
stärke der Linien ist nämlich nicht das genaue
Maß für die ausgesandte Energie ; ein solches wird
vielmehr nur durch das Bolometer oder ein
Wärnieelement geliefert. Da jedoch diese Instru-
mente noch nicht empfindlich genug sind, um
mit ihnen die Energie zu messen, die einer Spek-
trallinie einer Geißlerröhre entspricht, so kann
man nur auf photometrischem VVege die Hellig-
keit der Linien mit der des entsprechenden Be-
reiches einer Lichtquelle vergleichen, für die die
Verteilung der Lichtstärken gegeben ist.
Diese Methode ist von Herrn K. L a n g e n b a c h
eingeschlagen worden, dessen LJntersuchungen in
Nr. 4 der Annalen der Piiysik veröfifentlicht
worden sind. Verfasser hat auch die Schwierig-
keit gefunden, daß die Streifen bei der geringsten
Veränderung der F^ntladung unregelmäßige Ver-
breiterungen erfahren , welche die Stärke der
Emission verändern. Daher ist denn auch der
Verfasser weit entfernt, seinen Ergebnissen cjuanti-
tativen Wert beizumessen und sieht in ihnen viel-
mehr nur eine erste grobe Annäherung, aus der
jedoch hervorgeht, dal.3 bei diskontinuierlichen
Gasspektren das Energiemaximum sich gleichfalls
für wachsende Temperaturen nach den kleinen
Wellenlängen hin verschiebt.
Es ist überflüssig, auf die Wichtigkeit hinzu-
weisen, welche eine genaue Kenntnis der Ver-
teilung von Spektralenergien für die Astronomen
hätte, die auf diese Weise in der Lage wären,
aus der Untersuchung des Spektrums eines Ge-
stirns genaue Schlüsse auf die Tem])cratur des-
selben zu machen. Die bisher in dieser Richtung
gemachten Versuche ruhten auf keiner genügend
sicheren Grundlage, und nur durch weitere Ver-
folgung der vom Verfasser begonnenen LJnter-
suchungen kann man einmal die Temperatur der
Sterne mit einiger Genauigkeit bestimmen zu
können erwarten. A. Gr.
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. Otto Wünsche, Blicke auf die Ent-
wicklung der Naturwissenschaften. \'or-
trag, gehalten im Verein für Naturkunde zu Zwickau.
Sonderabdruck aus dem Jahresbericht des Vereins
für Naturkunde zu Zwickau 1S99. Zwickau, 1902.
Gebr. Thost (R. Bräuninger). 2,:; S. 8". —
Preis 50 Pf.
Die Wissenschaft ist der Inbegriff von Über-
zeugungen, die zusammengehalten werden durch das
Bewußtsein, w a r u m man sie für wahr zu halten hat.
In diesem Sinne ist ihr Anfang in Alexandria zur
Zeit der Ptolemäer zu suchen. Seitdem hat sie einen
ungeheuren Umfang angenommen , vor allem durch
das Eindringen in das Gesetz der Entwicklung,
das wir überall finden , und der gegenüber alles Be-
harren nur scheinbar und vorübergehend ist. Dies
rasche Anwachsen täuscht jedoch insofern , als die
unzähligen Einzeltatsachon , die heute viele Zweige
der Naturwissenschaft unübersehbar machen, ihre Be-
deutung verlieren werden , wenn wir sie als Folgen
allgemeinerer Gesetzmäßigkeiten erkannt haben werden.
Aber darum bleibt das Wesen des Fortschritts doch
an flüssige Einzelarbeit geknüpft, und auch das Genie
wirkt um so erfolgreicher, je mehr es den dichterischen
Drang bezwingt. Das Beweisen, nicht das bloße
Finden eines Gesetzes macht den großen Mann der
Wissenschaft. Diese großen Männer sind eng mit
ihrer Zeit verknüpft, sie sprechen gleichsam nur aus,
was zur Entwicklung herangereift ist, und sie haben
auch nur Erfolg , wenn ihre Gedanken in den Zu-
sammenhang der jeweiligen Wissenschaftsentwicklung
hineinpassen. So zeigt die ^^'issenschaft ein selb-
ständiges Leben nach eigenen Gesetzen. Alle flüssige
Arbeit , selbst der Irrtum , wenn er gründlich behan-
delt wird, bringt sie vorwärts. Zum Schluß fragt der
Verfasser nach den Kräften, die die Menschen zur
Wissenschaft trieben, und findet sie nicht im Trieb
nach Erwerb oder im Drängen der Not, sondern im
Sinn für das Erhabene ; denn d i e Völker haben für
die Wissenschaften am meisten geleistet , die auch
durch gewaltige Bauten jenen Sinn bekundet haben.
.\ber entspringt die Wissenschaft nicht dem Nutzen,
so dient sie ihm doch , und mag auch manche der
Naturwissenschaften unnütz erscheinen , so läßt sich
die Tragweite ihrer Forschungen nie vorher über-
sehen. ..Die Geisteskraft, durch Wissenschaft geweckt
und geleitet, beherrscht die Welt." Das sind die Ge-
danken , die der Vortrag entwickelt und durch viel-
fache Beispiele aus der Geschichte der Naturwissen-
schaft belegt. Wie der ^''erfasser im Vorwort sagt,
verfolgt er den Zweck, „den Leser für den deutsch-
russischen Naturforscher K. E. v. Baer und für natur-
wissenschaftliche Studien zu interessieren", und schließt
sich in den Grundgedanken an einen Vortrag mit
ähnlichem Titel an, den v. Baer am 29. Dezember
1835 in der Akademie zu St. Petersburg gehalten
hat. Der Versuch ist eigenartig und wird jeden
sym]jathisch berühren , der die vielfache Unkenntnis
der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Träger selbst
in naturwissenschaftlichen Fachkreisen bedauert. Aber
es hat auch seine Bedenken, Tote zu erwecken, wenn
man ihnen nicht denjGeist der Neuzeit einhauchen
kann. Wer heute Blicke auf die Entwicklung der
Naturwissenschaften wirft , darf nicht achtlos an dem
vorübergehen, was seit Baer geleistet worden ist, und
bei näherem Hinsehen wird er dann finden, daß in
der ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts allerdings ein
Wendepunkt in der Entwicklung der Naturwissenschaft
eingetreten ist , der durch die unvergleichlich viel
zahlreicheren, ihr jetzt zur Verfügung stehenden Arbeits-
kräfte bedingt ist. Heute erfordert die Wissenschaft
wirklich geniale Männer, die nicht nur selbst durch
flüssige ."Arbeit den Bestand mehren , sondern vor
allen Dingen das ungeheure alljährlich wachsende
Beobachtungsmaterial zu wahrem Fortschritt zu ver-
werten wissen. Mit der Ausdehnung der „Gelehrten-
republik" wird man auch in ihr mehr und mehr
zwischen arbeitenden und beherrschenden , organisa-
torischen Naturen unterscheiden müssen. .\ber dieser
14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III.
Umschwung ist nur eine letzte Phase einer mannig-
fohigen Entwicklung, deren Verfolgung man nach
dem Titel zunächst von dem obigen Vortrag erwarten
würde. Die Wissenschaft der Alexandriner, der Araber,
des Mittelalters , der Renaissance , der Kepler und
Kopernikus , Newton , Linne usw. , das alles sind
recht verschiedene Arten des Denkens, deren gesetz-
mäßige Entstehung auseinander und im Kampfe mit-
einander den ungemein fesselnden Inhalt einer wahr-
haft entwicklungssuchenden Wissenschaftsgeschichte
bilden müßte. Möge sie bald geschrieben werden !
F. S.
Handbuch der vergleichenden und experimen-
tellen Entwicklungslehre der Wirbeltiere.
Bearbeitet von Prof. I^r. P.arfurth, Rostock,
Prof. Dr. Braus, Heidelberg, Dozent Dr. Bühler,
Zürich , Prof. Dr. R u d. B u r c k h a r d t , Basel,
Prof. Dr. Felix, Zürich, Prof. Dr. Flemming,
Kiel, Prof. Dr. Froriep, Tübingen, Prof. Dr.
Gaupp, Freiburg i. Br. , Prof. Dr. (joeppert,
Heidelberg, Prof. Dr. Oscar Hertwig, Berlin,
Prof. Dr. Richard Hertwig, München , Prof.
Dr. H o c h s t e 1 1 e r, Innsbruck, Prof. Dr. F. K e i b e 1,
Freiburg i. Br., Dozent Dr. Rud. Krause, Berlin,
Prof. Dr. Wilh. Krause, Berlin, Prof. Dr. v.
Kupffer (f), München, Prof. Dr. Maurer,
Jena, Prof. Dr. Mo liier, München, Dozent Dr.
Peter, Breslau, Dr. H. Poll, Berlin, Prof. Dr.
Rückert, München, Prof. Dr. Sc h au i n slan d,
Bremen , Prof. Dr. Strahl, Gießen , Prof. Dr.
Waldeyer, Berlin, Prof. Dr. Ziehen, Utrecht.
Herausgegeben von Dr. Oscar Hertwig, o. ö.
Piof., Direktor d. anatom.-biolog. Instituts in Berlin.
Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1901 — 1903.
I. bis 15. Lieferung. (Vollständig in etwa 20
Lieferungen zu 4 Mk. So Pf.)
Ein bedeutsames Werk über die Entwicklungs-
geschichte der Wirbeltiere liegt in dem vorliegenden
Handbuche vor. Es ist ein Kompendium der Onto-
genie dieser Tiere und umfaßt unter Berücksichtigung
der verschiedenen Klassen der Wirbeltiere in ver-
gleichender Darstellung alles Wesentliche, was über den
Werdegang derselben von der Eizelle an bekannt
geworden ist, namentlich bereichert durch die zahl-
reichen, in Zeitschriften und in verschiedenen Büchern
zerstreuten neuesten Forschungsresultate auf diesem
Gebiete. Seit der vor mehr als zwanzig Jahren er-
folgten Herausgabe der „Treatise on comparative
embryology" des leider zu früh durch den Tod der
Wissenschaft entrissenen Francis Balfour ist kein
Versuch mehr gemacht worden, das Gesamtgebiet der
vergleichenden Entwicklungsgeschichte der Tiere zu-
sammenfassend darzustellen. Nur Korscheit und
Heider haben seitdem das treffliche Lehrbuch der
wirbellosen Tiere 1890 — 93 in 3 Bänden heraus-
gegeben, welches seit kurzem seine zweite Auflage
erlebt. Aber ein für den Forscher bestimmtes Hand-
buch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der
Wirbeltiere, welches den neuesten Standpunkt dieser
umfangreichen Wissenschaft repräsentiert, gab es bis
jetzt noch nicht. Denn die im Laufe der letzten
Jahrzehnte herausgegebenen, umfassenden Lehrbücher
der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der
Tiere sind vorzugsweise für den Studenten der Medizin
und den praktischen Arzt berechnet und haben die
vergleichende Entwicklungsgeschichte nur insoweit
berücksichtigt, als dies für Lehrbücher erforderlich
schien.
Das vorliegende, noch nicht abgeschlossene Hand-
buch der Acrgleichenden ^Entwicklungsgeschichte der
Wirbeltiere will also einen treuen Spiegel vom Stande
der gegenwärtigen entwicklungsgeschichtlichen For-
schung geben. Die Namen der vielen guten Mit-
arbeiter an diesem umfangreichen Werke, ohne Aus-
nahme Fachleute , welche durch eigene Forschungen
tiefere Einblicke in einzelne Gebiete der vergleichen-
den Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere gewonnen
haben, sind eine Gewähr für die (lüte des Inhalts
der einzelnen Kapitel. Die Herausgabe des ganzen
Werkes liegt in den bewährten Händen Oscar Hert-
wig' s.
Für die Bearbeitung des Materials sind die ein-
zelnen Organsysteme der Einteilung zugrunde gelegt,
wie sich aus der unten mitgeteilten Inhaltsangabe
ergibt.
Der Herausgebet und seine Mitarbeiter wollen in
dem Handbuche vor allen Dingen einen erschöpfenden,
auf ()uellenforschung beruhenden Überblick über das
Gesaratgebiet der vergleichenden EEntwicklungsge-
schichte der Wirbeltiere bieten, unter möglichst voll-
ständiger Berücksichtigung der ganzen entwicklungs-
geschichtlichen Literatur und unter Zusammenfassung
aller als gesichert erscheinenden Ergebnisse, sowie der
noch strittigen Fragen und der leitenden und sich
immer mehr verfeinernden Probleme der Forschung.
.\uch sind in dem Handbuche die Ergebnisse der
e-\i]erimentellen Entwicklungslehre gebührend berück-
sichtigt. Zahlreiche gute Te.xtfiguren erleichtern das
Verständnis des Inhalts.
Das Titelbild stellt den berühmten Altmeister
Karl Ernst v. Baer vor, mit dessen gut ausge-
wähltem Ausspruche als Motto : „Die Wissenschaft ist
ewig in ihrem Quell, unermeßlich in ihrem Umfange,
endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele."
In der Tat umgreift das vorliegende Werk mit
weiten Armen das ganze höhere organische Leben,
um es aus seinem innersten Sein und Werden heraus
zur öffentlichen Darstellung zu bringen. Eine große
Frage ist es, welche die Naturforscher bei ihren
entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen stets auf
das lebhafteste beschäftigt hat und noch beschäftigt,
es ist die Frage : was ist das Wesen des organischen
Entwicklungsprozesses, wodurch wird es möglich, daß
aus einer winzigen Substanzmenge, aus einem Pflanzen -
Samen oder aus einem tierischen Ei wieder ein hoch
zusammengesetzter Organismus genau der gleichen
.\rt entsteht? Was ist der Keim von Anfang an und
wie bildet er sich zum ausgewachsenen Geschöpf um r
Wie ist das Wunder zu erklären, daß an der Wund-
stelle die organische Substanz die Fähigkeit besitzt.
Verlorenes in zweckmäßiger Weise wieder herzustellen :
Vom historischen Standpunkte ist es interessant,
zurückzuschauen auf unsere Wissenschaft während der
N. F. III. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
15
letzten Jahrhunderte. Wir werden wieder daran er-
innert, daß früher die Samenfäden meistens für para-
sitische Gebilde der .Samenflüssigkeit, den Infusorien
vergleichbar, gehalten wurden , und daß es noch bis
in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gedauert
hat, bis der wirkliche Sachverhalt, daß Ei- und Samen-
zelle als gleichwertige Elemente am Zeugungsakt be-
teiligt sind, festgestellt und damit die Streitfrage der
Ovisten und der .Xniniaikulisten zum Abschluß ge-
bracht wurde.
Wie änderte sich nicht die Entwicklungslehre, be-
vor die wahre Theorie der Gegenwart zum Durch-
bruch kam! Die im 17. und 18. Jahrhundert herr-
schende Präformationshypothese (oder E\o-
lutionsh\ pothese) , nach welcher angenommen wurde,
daß im Ei oder im Samenfaden das spätere ausge-
wachsene Geschöpf gewissermaßen schon in kleinster
Form vorgebildet oder als unendlich kleines Miniatur-
bild angelegt und in Hüllen eingeschlossen sei, welche
von dem neu entstehenden Wesen durchbrochen wer-
den mußten, — diese Hypothese wurde im 18. Jahr-
hundert durch die E p i g e n e s i s abgelöst , welche
eine neue Periode einleitet und die allmähliche Ent-
stehung eines der Form nach noch nicht vorgebildeten
Organismus aus dem elterlichen Zeugungsstofte durch
Umbildung zum Ciegenstande hat.
Mit der Darstellung dieser historischen Rückblicke
wird die i. Abteilung des ersten Bandes ein-
geleitet ; sie stammt aus der Feder von Professor
Osr:ar Hertwig und ist in der „Einleitung und
allgemeinen Literaturübersicht" enthalten. Sie umfaßt
1. die Entwicklungslehre im 16. bis 18. Jahrhun-
dert (die Theorien der Präformation oder Evo-
lution, der Epigenesis und des Panspermatismus)
S- 1—35;
2. die Entwicklungslehre im ig. Jahrhundert (die
morpiiologische, die physiologische Richtung in
der entwicklunLisgeschichtlichen Forschung) S.
35—68;
Allgemeine Literalurübersicht S. 69 — 85.
Daran schließen sich die einzelnen Kapitel.
I. Kapitel: Die Geschlechtszellen. Von
Professin W. Waldeyer. S. 86 — 476.
II. Kapitel: Eir e ife und Be fr u ch t un g. Der
Furchungsprozeß. Von Professor Richard
Hertwig. S. 477 — 698.
III. Kapitel: Die Lehre von den Keim-
blättern. Von Professor Oscar Hertwig. S. 699
bis 966.
IV. Kapitel : M i ß b i 1 d u n g e n u n d M ehr f a c h -
bildungen, die durcli Störung der ersten
Entwicklungsprozesse hervorgerufen wer-
den. Von Professor Oscar Hertwig. S. 967 - 998.
Zusammenfassung von Kapitel III und IV. Die
Ergebnisse der Keimblattlehre. Von Professor
Oscar Hertwig. S. 999 — xoiS.
\Vert\oll sind hier namentlich die Ergebnisse, welciie
den Urniund betreffen. „Am wichtigsten ist die
Stelle des Urmundes, wo sich die Naht vollzieht. Sie
allein gibt einen bei allen Wirbeltieren vergleichbaren
Punkt ab." „Aus dem immer kleiner werdenden
Urmundgebiet geht der Schwanz und die Afteranlage
hervor." „Was man auf den einzelnen Stadien als
Urmund bezeichnet, ist nicht ein und dasselbe un-
verändert gebliebene Organ ; es sind nur verschiedene
Strecken eines sich durch Wachstum am hinteren
Ende in demselben Maße ergänzenden und erneuern-
den Organs, als es nach vorn durch Verwachsung
und Organdifferenzierung aufgebraucht wird."
Die 2. Abteilung des ersten Bandes beginnt
mit dem
VI. Kapitel : Die Entwicklung d e r ä u ß e r e n
Körper form der Wirbeltier embryo neu,
insbesondere der menschlichen Embry-
onen aus den ersten zwei Monaten. Von
Professor F. Keibel. S. i — 176.
\'II. Kapitel : Die Entwicklung der Eihäute
der Reptilien und d e r V ö g e 1. Von Professor
Dr. H. Schauinsland, S. 177 — 234.
VIII. Kapitel: Die Embryonalhüllen der
Säuger u n d d i e P 1 a c e n t a. Von Professor Hans
Strahl. S. 235—368.
Des zweiten Bandes i. Abteilung enthält
die folgenden Kapitel:
I. Kapitel: Die Entwicklung des Mundes
und der Mundhöhle mit Drüsen und Zunge;
die Entwicklung der Schwimmblase, der
Lunge und d e s K e h 1 k o j) f e s b e i d e n W i r b e 1-
tieren. Von Professor E. Göppert. S. 1 — 108.
II. Kapitel: Die Entwicklung des Darm-
systems. Von Professor F. Maurer. S. log — 252.
III. Kapitel: Die Entwicklung der Haut
und ihrer Nebenorgane. Von Professor Wilh.
Krause. S. 253 — 348.
IV. Kapitel: Die Entwicklungsgeschichte
der Verknöcherungen des Integunients
und der Mundhöhle der Wirbeltiere. Von
Professor Rudolf Burckhardt. S. 34g — 462.
Die 2. Abteilung des zweiten Bandes ent-
hält bis jetzt die folgenden Kapitel :
V. Kapitel : Die E n t w i c k 1 u n g d e s G e r u c h s -
Organs und Jakobson'schen Organs in der
Reihe der Wirbeltiere. Bildung der
ä u ß e r e n Nase und des G a u m e n s. Von Dr.
Karl Peter. S. 1 — 82.
VI. Kajjitel: Entwicklungsgeschichte des
Gehörorgans. Von Dr. Rudolph Krause. S.
S3— 138.
Die 3. Abteilung des zweiten Bandes beginnt
mit dem VIII. Kapitel : Die Morphologie des
Zentralnervensystems von Prof K. von Kupffer
(der leider währenddessen gestoijjen ist). S. i — g6
(noch nicht abgeschlossen).
Von der 2. Abteilung des dritten Bandes
sind bis Jetzt folgende Kapitel erschienen :
III. Kapitel: Die Histiogenese der Stütz-
substanzen der Bindesubstanzgruijpe. Von
Prof. W. Flemming. S. i — 20.
IV. Kapitel: Die Entwicklung des Blut-
gefäß syst ems. Von Professor Hochstetter. S.
21 — 166.
Zahlreiche Figuren sind dem Te.xte der einzelnen
Kapitel eingefügt. Später wird noch über die Schluß-
ka[iitel referiert werden. Nach Fertigstellung des
i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. I
ganzen Werkes werden wir Gelegenheit nehmen, noch
auf den Inhalt des wichtigen Werkes zurückzukommen.
Prof. H. Kolbe.
Dr. Felix Wahnschaffe, Geheimer Bergrat, Landes-
geologe, Professor an der Bergakademie und Privat-
dozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin :
A n 1 e i t u n g z u )■ w i s s e n s c h a f 1 1 i c h e n B o d e n-
unter suchung. 2. Auflage. Paul Parey in
Berlin 1903. — Preis 5 Mk.
Als das einzige auf diesem Gebiete der chemischen
Forschung existierende Spezialwerk ist das vorliegende
Buch kürzlich in zweiter, neubearbeiteter Auflage er-
schienen. Es ist durch Aufnahme einiger neuerer
Untersuchungsmethoden auf dem Gebiete der Boden-
analyse wesentlich bereichert und mit zahlreichen
Textabbildungen ausgestattet worden , während die
bisherige Einteilung des Stoffes beibehalten wurde. —
Nach einem einleitenden Abschnitt, der die Definition,
Klassifikation und Entstehung des Bodens, sowie den
Zweck der Bodenuntersuchung behandelt, folgen i. ,,l)ie
mechanische Bodenanalyse, 2. Die Bestimmung der
Bodenkonstituenten, 3. Bestimmung der Pflanzennähr-
stoft'e, 4. Die Bestimmung der für das Wachstum der
Pflanzen schädlichen Stoffe des Bodens, 5. Die Er-
mittelung verschiedener Eigenschaften des Bodens,
welche teils auf physikalischen, teils auf chemischen
Ursachen berJ.ien." — Neu aufgenommen sind unter
1. einzelne neue Schlämmapparate, die indessen noch
wenig Eingang in die Praxis gefunden haben, unter
2. „Die Bestimmung des kohlensauren Kalkes durch
Maßanalyse, die Ermittelung der Karbonate von Kal-
zimii und Magnesium durch Auskochen mit Essig-
säure und die maßanalytische Humusbestimmung nach
Aschmann und Faber," Unter 3. ist neu der Ab-
schnitt „über den Auszug des Bodens mit Zitronen-
säure oder Essigsäure zur Bestimmung der assimilier-
baren Phosphorsäure, sowie Pagnouls kolorimetrische
Methode zur Bestimmung des leicht löslichen Kalis."
Endlich ist der Inhalt des Buches auch um die neueren
,, Bestimmungen der Benetzungswärme des Bodens"
und die „elektrische Messung der löslichen Bodensalze"
bereichert worden. Das Wahnschafte'sche Buch, welches
in der neuen Auflage besonders auch in dem Kapitel
über die Nährstoffbestimmung einer Umarbeitung unter-
zogen wurde, und welches teilweise die Methoden der
Bodenuntersuchung wiedergibt, wie sie im Laboratorium
für Bodenkunde an der Königl. Preuß. Geologischen
Landesanstalt zur Anwendung kommen, ist als ein
Ratgeber jedem zur Anschaffung zu empfehlen, der
sich mit der mechanischen und chemischen Boden-
analyse und der Bestimmung gewisser ph}'sikalischer
Eigenschaften des Bodens zu befassen hat. Bei einer
Neuauflage dürfte es sich empfehlen, dem Werke ein
Inhaltsverzeichnis beizufügen, um die Übersichtlichkeit
des Stoftes zu erhöhen. L.
Briefkasten.
B. H., Kitzingen. — Bezüglich der Anforderungen,
welche an akademisch gebildete Frauen bei der Anstellung
als Lehrerin an höheren Mädchenschulen gestellt werden,
können wir Ihnen keine Auskunft erteilen ; diese Fälle sind
wohl bisher nur vereinzelt vorgekommen und individuell be-
handelt worden. Falls Bestimmungen über abzulegende Prü-
iungen etc. bereits vorhanden sind, würden Sie dieselben wohl
am besten durch Frauenvereine oder direkt von den in Be-
tracht kommenden Behörden erfahren können.
Herrn H. — Baumzwicbel. Die Baumzwiebel,
Allium canadense Kalm, wird meines Wissens in Deutschland
noch nicht kultiviert. Sie kommt, wie .•\sa Gray in seinem
Manual of the Botany of the Northern United States, 6. Auf-
lage, S. 526, angibt, auf feuchten Wiesen, von Kanada bis
zum Golf von Mexiko vor und blüht im Mai und Juni. Der
Schaft ist nach ihm I Fuß hoch oder mehr. — Warum der
Fragesteller diese Zwiebel Baumzwiebel nennt , ist mir daher
nicht recht klar. In den Vereinigten Staaten heißt sie Wild
Garlie (wilder Knoblauch). L. Wittmack.
Herrn O. in .Stuttgart. — Herr R. Lucks schreibt:
,, Zeile 2 v. oben im zweiten Abschnitt der r. Spalte auf
pag. 592 muß es selbstverständlich ,,D o rsa 1 1 ap p e n" heißen.
Das Versehen geht aus Abschn. 3 r. Spalte pag. 590 deutlich
hervor. .Mit den dreierlei Eiern hat es seine Richtigkeit. Es
kommen vor ;
r. . I größere, aus denen Weibchen hervorgehen ;
oommcrcicr ' o ? o '
( kleinere, aus denen sich Männchen entwickeln ;
Wintereier, die wohl besser als Dauereier bezeichnet werden
dürften, da die Ablage und oft auch die Entwicklung schon
im Sommer vor sich geht."
Herrn R. in Trier. — In Ergänzung der früheren Mitteilung
empfiehlt Ihnen Herr Mittelschullehrer K. Burchardt (Halle a. S.)
das Buch von Hohmann ,,Die Mittelschulprüfung" (Verlag von
Hirt in Breslau) und zwar Heft 7, Naturwissenschaften, bear-
beitet von Dr. Imhäuser.
Herrn Dr. G. in M. — Über Bau und Entwicklung der
.Algen finden Sie eine gute, ausführliche t'bersicht in Engler-
Prantl's Natürlichen Pllanzenfamilien (Wilhelm Engelmann in
Leipzig). Dort ist auch die weitere Literatur angegeben.
Herrn G. M. in .Arnswalde. — Die ausführlichste Thallo-
phyten-Flora , die wir besitzen, ist die Kabenhorst'sche und
zwar die von einer Anzahl Spezialisten herausgegebene 2. Auf-
lage. Sic enthält viele Abbildungen und ist bei Eduard Kummer
in Leipzig erschienen.
Herrn Dr. A. — Die Sphenopteris elegans ist bei ihrer
Häufigkeit ein wichtiges Leitfossil für das untere produktive
Karbon. Durch die echte Keilgestalt der Fiedern letzter ( >rd-
nung (der letzten Elemente der Wedel) weicht sie von den
.\rten, die man jetzt als die typischen Sphenopterisarten an-
sieht, ab. Letztere haben mehr oder minder kreisf. F. 1. (_).,
jedenfalls lassen sie sich bequem in einen Kreis einzeich-
nen. Bei der wenig bequemen Umgrenzung der Gattung
Sphenopteris in ihrem gegenwärtigen Umfang habe ich die
Absicht (wie schon früher Palmatopteris und .^lloiopteris) auch
die Sphenopterisarten vom Typus der Sphenopteris elegans
abzutrennen und in die neue ,, Gattung" Cuneatopteris zu tun,
also aufler dieser .Art ncch z. B. die Sphen. divaricala, Sphen.
linearis Brg., Diplothmema elegantiforme Stur u. Sphenopteris
laüfrons Zeiller, vielleicht auch Sphen. Mantelli Brongn.
Inhalt: Prof. H. J. Kolbe: Über die psychischen Fujiktionen der Tiere — Kleinere Mitteilungen: Prof. II. Potonie:
Plauderei über die Macht der Gewohnheit. — Chr. Brüning: Räuberische Süßwasserschnecken. — Prof. P. Hennings:
Eine neue deutsche Clathracee. — Prof. R. Börnstein: Luftballons gegen E.xplosionen zu schützen. — K. Langen-
bach: Die Intensitätsverteilung bei Linienspektren. — Bücherbesprechungen: Prof. Dr. Otto Wünsche: Blicke auf die
Entwicklung der Naturwissenschaften. — Prof. Hertwig: Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwicklungs-
lehre der Wirbeltiere. — Dr. FelixWahnschaffe: Anleitung zur wissenschaftlichen Bodenuntersuchung. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Gross-Lichterfelde-We.st b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G, Pätz'schc Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Di6 JNatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
F. Koerber
Redaktion
Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 11. Oktober 1903.
Nr. 2.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
uiul Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegcld bei der l'ost
15 l'fi;. extra. Postzeitungsliste Nr. 5263.
Inserate : Die zweigcspaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Vufträgen entsprechender Rabatt. Ikilagen nacli Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, lilumenstraße 46, P.uchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung crlHten.
Über die Fortschritte in der Erkenntnis der radioaktiven Stoffe.
[Naclnliticl< verboten.^
Von Prof. Dr. Duden in Jena.
In der Geschichte der Chemie hat schon ein-
mal eine Entdeckung eine große Rolle gespielt,
die durch rein physikalische Methoden die Exi-
stenz zahlreicher unbekannter Elemente enthüllte.
Mit Hilfe der Spektralanalyse wiesen K i r c li -
hoff und Hunscn das Rubidiimi und Caesium,
spätere Eorscher zahlreiche andere Elemente nach,
und dieser spektralanalytische Nachweis wurde für
den Chemiker der Wegweiser, der ihn zur schließ-
lichen Isolierung dieser seltenen Stoffe hinführte.
Einen ähnlichen Weg hat die Auffindung der
radioaktiven St off e durchlaufen, jener rätsel-
haften, aus Uran- und Thormineralien stammenden,
strahlenden Substanzen, die augenblicklich das
naturwissenschaftliche Interesse in so hohem Maße
in Anspruch nehmen. Ihre Entdeckung ist freilich
nicht annähernd so fertig und abgeschlossen an
die Öffentlichkeit getreten, wie seiner Zeit die
Spektralanalyse Kirchhoff's und Bunsen's,
vielmehr muß diesem so viel Unbekanntes bieten-
den Terrain Schritt für Schritt abgerungen werden.
Seit den ersten Mitteilungen Becquerel's über
diese Strahlungscrscheinungen sind jetzt sieben
Jahre verflossen, die zwar höchst bemerkenswerte
Fortschritte gebracht, aber noch mehr Rätsel un-
gelöst gelassen haben.
Wenn sich somit ein einigermaßen abgerundetes
Bild über dies Gebiet zur Zeit noch nicht ge-
winnen läßt, dürfte es doch erwünscht sein, von
Zeit zu Zeit die F"ortschritte zu registrieren, die
die Bearbeitung zu verzeichnen hat, und so sei
hier kurz der augenblickliche Stand unserer Kennt-
nisse der radioaktiven Stoffe dargestellt , an-
knüpfend an einen ähnlichen Bericht
in dieser Zeitschrift, der mit dem Jahre
I 9 o I abschließt.
Die Anreicherung der Radioaktivität in den
verschiedenen analytisch abgeschiedenen Bestand-
teilen der Uranpechblende und verwandter Mine-
ralien stellt dem Chemiker die Aufgabe, die die
.Strahlung bedingenden Stoffe in diesen einzelnen
Fraktionen aufzusuchen, eine Aufgabe, die für die
verschiedenen Anteile in sehr verschiedenem Grade
gelöst werden konnte.
Am vollkommensten für das zuerst von den
beiden Curies in der Baryiimfraktion der Uran-
mincralien vermutete neue Element Radium.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
Bei der Verarbeitung von genügend großen Mengen
von Uranpecherzrückständen läßt sich das Radium
aus der das Baryum, Strontium und Calcium ent-
haltenden Fraktion nach mehreren Methoden, am
einfachsten anscheinend nach der von Giesel
angegebenen — Krystallisation des Radiumbaryum-
bromids aus Wasser — in reiner Form abscheiden.
Man erhält äußerst minimale Mengen dieses kost-
baren Salzes, das nach der spektroskopischen
Untersuchung von Runge und Precht keine
Baryumlinien mehr aufweist, sondern ein neues
glänzendes riammenspektruin, charakterisiert durch
zwei breite Linien im Orangerot, besitzt. Es zeigt
starke Eigenfluoreszenz, bringt den Baryumplatin-
cyanür und den Zinkblendeschirm zu kräftigem
Leuchten und liefert die früher näher geschilderten
Strahlungserscheinungen — Ionisierung der Luft,
chemische Wirkung der Strahlen auf die photo-
grapliische Platte, Ozonisicrung des Luftsauerstoffs,
Polymerisation des gelben Phosphors zu rotem
Phosphor, F'ärbung von Alkalisalzen und von Glas-
substanz usw. — in der markantesten Weise. Seine
Aktivität ist etwa 400000 mal so groß wie die
der natürlich vorkommenden Uranverbindungen.
Diese Energieabgabe des Radiumatoms, die unter
gewöhnlichen Umständen als Strahlung und Emana-
tion (s. u.) auftritt, äußert sich in der wässerigen
Lösung des Salzes durch eine Zerlegung des
Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff. Auch das
feste Salz selbst zeigt einen eigentümlichen Zerfall
in freies Brom und Metall, bezw. Metallhydroxyd,
der Gelbfärbung und alkalische Reaktion des
Präparats zur Folge hat. Das Atomgewicht des
Radiums ergibt sich aus wiederholten Bestimmungen
von Frau (Turie zu 225, so daß es sich ohne
Zwang in die dritte Vertikalreihe des periodischen
Systems (Erdalkalien) neben das Thor einreiiit.
Es ist als das höhere Homologe des
Baryums anzusprechen, dem es, wie schon aus
einer Abscheidung hervorgclit, in den meisten Re-
aktionen folgt.
Die elementare Natur des Radiums geht aus
diesen Daten ebenso sicher hervor, wie die Tat-
sache, daß es als der Träger der Radioaktivität
der Baryumpräparate aus Uranmineralien anzusehen
ist. Die Frage nach der Quelle dieser P^nergie-
abgabe ist damit aber natürlich noch nicht be-
antwortet.
Verfolgen wir zunächst die übrigen in der
Pechblende enthaltenen aktiven Substanzen, so ist
deren Kenntnis noch nicht so weit gefördert wie
die des Radiums. Höchst wahrscheinlich handelt
es sich auch hier um primär aktive Stoffe, d. Ji.
um neue Elemente, denen die Eigenschaft der
Becqu erelstrahlung zukommt, eine endgültige
Bestätigung dieser Ansicht durch spektroskopische
oder eingehendere chemische Untersuchungen steht
aber noch aus.
Am vollständigsten sind die Daten über das
a k t i V e B 1 e i. Durch geeignete chemische Behand-
lung lassen sich ihm geringe Mengen eines Stoffes
entziehen, dessen Reaktionen in verschiedenen
Punkten von denen des Bleies differieren und
dessen Aktivität sich während einer jahrelangen
Beobachtungsdauer nicht vermindert hat. Die
Strahlen, die von diesem Radioblei ausgehen,
wirken sowohl auf das Elektroskop wie auf die
photographische Platte; sie induzieren Schwer-
metalle, die mit Radiobleipräparaten in Berührung
kommen, kräftig, und letztere büßen dabei ilire
Wirksamkeit vorübergehend fast vollständig ein.
Die Tatsache aber, daß die so geschwächten Prä-
parate bei längerem Aufbewahren die frühere
Aktivität wieder völlig regenerieren, ist nur so zu
deuten, daß sie selbst da s Radioakt ivität
erzeugende Prinzip enthalten, d. h. daß
es sich hier um einen primär aktiven Stoff handelt.
Die das Wismut enthaltende Praktion der Pech-
blende, in der dieCurie's zuerst eine Anreiche-
rung der Aktivität beobachteten, liefert beim Itin-
bringen eines Antimon- oder Wismutstäbchens in
ihre salzsaure Lösung einen minimalen Metall-
beschlag, der eine kräftige Ionisierung der Luft be-
wirkt Es ist noch nicht sicher entschieden, ob
es sich hier ebenfalls um einen neuen primären
aktiven Stoff — Radiotellur oder zu Ehren von
Frau Curie Polonium genannt — handelt, oder
ob man es mit einer Induktion des Wismuts durch
geringe in der Lösung enthaltene Mengen von
Radium zu tun hat. Es scheint, dat3 unter ge-
wissen noch nicht näher erkannten Umständen
auch die induzierte Aktivität sich sehr lange
konstant erhält. In einem solchen Fall würde das
einzige Kriterium, das man bisher zur sicheren
Unterscheidung zwischen primärer und induzierter
Aktivität zur Verfügung hat, versagen, und so
kann erst eine genauere Kenntnis der hier ob-
waltenden Gesetze die jetzt noch vorhandene Un-
sicherheit über die Natur des Radiotellurs be-
seitigen.
Auch für die bei dem aktiven LIran und Thor ge-
machten Beobachtungen endlich ist es zur Zeit noch
schwer, eine völlig befriedigende Deutung zu geben.
Die Becqu erel strahlen, welche von diesen aus-
gehen, setzen sich ebenfalls aus 2 («- und /?-Strahlen),
vielleicht auch aus 3 Strahlengruppen zusammen.
Unterwirft man aber Uran- oder Thorverbindungen
gewissen Fällungs- oder Krystallisationsopcrationen,
so läßt sicli , indem gleichzeitig minimale Sub-
stanzmengen von der das Uran oder Thor ent-
haltenden Hauptportion abgetrennt werden, eine
Zerlegung der ursprünglichen Strah-
lung herbeiführen. Die a-Stralilung, die die Ioni-
sierung der Luft bewirkt und deshalb durch Ent-
ladung des Elektroskops wahrzunehmen ist, ver-
bleibt bei dem Uran, bezw. Thor; die /i-Strahlung,
dje ein größeres Durchdringungsvermögen besitzt,
und die photograpiiische Platte schwärzt, haftet
den minimalen bei jenen Trennungsverfahren er-
haltenen Niederschlägen an, die vorläufig als Uran-X
bezw. Thor-X bezeichnet werden. Diese Zerlegung
entspricht indes noch nicht einem stabilen End-
zustand ; vielmehr regeneriert sich die /f-Strahlung
des Urans bezw. Phors allmählich, während gleich-
N. F. III. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochcnsclirift.
19
zeitig die X-Bestandtcile ihre /y-.'\l<tivität allmäh-
lich verlieren. Rutherford, dem wir diese Be-
obachtungen beim Thor verdanken, deutet die
Erscheinungen durch einen kontinuierlichen
Zerfall d e s T h o r a t o m s u n t e r B i 1 d u n g v o n
Th or-X, das seinerseits durch Abgabe
von Strahlungsenergie weiteren Um-
wandlungen anheimfällt. Die Radioaktivi-
tät wäre demnach durch einen Gleichgewichts-
zustand zwischen Neubildung von aktiver Materie
und Aktivitätsabnahme dieses Thor-X durch Aus-
strahlung bedingt. Mit dieser Annahme verlegt
man also die Quelle der Radioaktivität in Vor-
gänge, die sich innerhalb des chemischen
Atoms abspielen und zu einer Zertrümmerung
desselben führen : zunächst zu dem Thor-X, dann
weiter zu gasförmigen Emanationen (s. unten). Es
vv^ären höchst beträchtliche Energiemengen, die
durch die Umsetzung so minimaler Substanzen der
radioaktiven Stoffe ausgelöst würden.
Wie man sich nun auch zu diesen kühnen
Anschauungen , die die Unzerlegbarkeit unserer
chemischen Atome umstoßen, stellen mag, es ist
jedenfalls sehr bemerkenswert, daß es gerade Uran
und Thor, die beiden Elemente mit dem höchsten
Atomgewicht, sind, die die skizzierten Erschei-
nungen zeigen. Es drängt sich der Gedanke auf,
dass diese schweren, kompliziert gebauten Atome,
einem komplizierten Molekül vergleichbar, einen
unstabilen Zustand repräsentieren, der unter Energie-
abgabe sich in ein stabileres System zu verwandeln
bestrebt ist.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung verlegen
andere Forscher die eigentliche Quelle der Radio-
aktivität nicht innerhalb des chemischen Atoms,
sondern nehmen an, daß letzteres nur eine überall
im Räume vorhandene Strahlungsenergie in Bec-
querelstrahlen umsetzt. Offenbar sind es die Er-
scheinungen der atmosphärischen Radioaktivität
(s. unten) und ihre nahe Verwandtschaft mit den
bisher besprochenen radioaktiven Substanzen, welche
dieser Hypothese zur Stütze dienen. Erst weitere
Forschungen werden zur Klärung dieser wichtigen
Frage führen.
Sehr interessant ist ferner die von den Cu rie's
und von Giesel gemachte Beobachtung, daß die
Radiumpräparate neben den Becquerelstrahlen
gleichzeitig beträchtliche Wärmemengen aussenden.
Taucht man ein Thermometer in das ein Radium-
präparat enthaltende Glas, so zeigt es eine um
mehrere Grade höhere Temperatur als seine Um-
gebung. Welche Energie wird hier in Wärme ver-
wandelt ? Es ist höchst merkwürdig, daß diese mini-
malen Substanzmengen dauernd Wärme erzeugen,
ohne eine erkennbare chemische Veränderung oder
einen Ge wicht s Verlust zu verraten. Denn die
Angabe, daß die Becquerel- und Wärmestrahlung
auf Kosten von Gravitationsenergie erfolge, d. h. daß
die radioaktiven Substanzen allmählich an Gewicht
verlieren, hat sich bisher nicht bestätigt. Ein
solcher Nachweis wäre naturgemäß für die Er-
klärung der Strahlungserscheinungen von aller-
größter Wichtigkeit. Viellciclit liegt es nur an
der mangelnden Empfindlichkeit der üblichen
chemischen Wagen und an den geringen Mengen
von reinen Radiunipräparaten, die bisher zu solchen
Messungen zur Wrfügung standen, daß dieser Ge-
wichtsverlust noch nicht exakt zu ermitteln war.
Denn man kennt, insbesondere durch Unter-
suchungen von Ruther ford, Tatsachen, die sich
nur durch eine mit der Strahlung Hand in Hand
gehende Aussendung von materiellen Teil-
chen erklären lassen.
Von dieser E m a n a t i o n der radioaktiven Stoffe
ist schon in dem früheren Artikel kurz berichtet
worden. Die Grunderscheinung ist die, daß die
von Thor- oder von Radiumverbindungen aus-
gehende Induktion sich nicht lediglich nach den
Gesetzen einer geradlinigen Strahlung im Raum
verbreitet, vielmehr wie ein Gas durch einen Luft-
strom fortgeführt wird, wie ein Gas Waschflüssig'-
keiten und poröse Filter von Papier, Watte u. si f.
durchdringt. Nur Materie iin Sinne der Chemie
kann sich so verhalten, nicht aber eine Ausstrahlung
von Elektronen oder atideren hypothetischen elek-
trischen Teilchen , und es ist von großer Be-
deutung, daß neuere Versuche von Rutherford
diese Auffassung bestätigen. Die Emanation
des Thors und des Radiums läßt sich
nämlicli durch flüssige Luft wie ein sehr
niedrig siedendes Gas kondensieren.
Hebt man die Kühlung wieder auf, so führt der
die Kühlschlange passierende Wasserstoffstrom die
Emanation wieder mit sich. Ihr Siedepunkt liegt bei
ca. — 153" (Radiumemanation) bezw. — 120" (Tho-
riumemanation), sie besitzt einen von der Tempe-
ratur abhängigen Dampfdruck und bringt in einem
evakuierten Rohr, nach dem Verflüssigen wieder
vergast, eine das ganze Rohr gleichmässig er-
füllende Fluoreszenzerscheinung hervor. Hiernach
hat man es unzweifelhaft mit einem chemischen
Stoff zu tun. der — soweit die allerersten orien-
tierenden Versuche ein Urteil erlauben, dem Helium
oder Argon in seiner chemischen Indifferenz
vergleichbar ist. Ein zu seiner Charakterisierung
sehr wichtiges positives Moment ist seine An-
sammlung an der Oberfläche von negativ ge-
ladenen Körpern, z. B. Metalldrähten. Setzt man
dieselben der Emanation aus, so bildet sich auf
ihnen eine Oberflächenschicht, die alle Kriterien
der durch Strahlung induzierten Aktivität aufweist.
Aber auch hier macht man Wahrnehmungen, die
auf ein materielles Etwas hindeuten, dem die
vom Draht ausgehenden Strahlen zuzuschreiben
sind. Die Aktivität läßt sich dem Draht durch
Abreiben oder durch chemische Reinigung mit
verdünnten Säuren nehmen, und bleibt dann in
der Asche des zum Abreiben verwandten Materials
oder in dem Abdampfrückstand der Säuren
zurück.
Die Ansammlung der Thor- und Radium-
emanation auf negativ geladenen Körpern hat aber
noch eine weitere Bedeutung gewonnen ; sie ist
der Berührungspunkt geworden zwischen dem
20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
bisher besprochenen Gebiet der radioaktiven Stoffe
und den in den letzten Jahren so erfolgreich ge-
pflegten luftelektrischen Forschungen. Elster und
Geitel haben die Entdeckung gemacht, daß ein
in der Luft ausgespannter Draht, den man auf
einem hohen negativen Potential erhält, allmählich
seine Ladung verliert und gleichzeitig die Eigen-
schaft erlangt, Becq uerelstrahlen auszusenden.
Es bildet sich auf ihm eine radioaktive Ober-
flächenschicht aus, die sich ähnlich der Thor-,
Uran- und Radiumemanation durch Abwischen
entfernen läßt, und einen ähnlichen zeitlichen Ab-
fall in ihren elektrostatischen und photographischen
Wirkungen wie jene zeigt.
Dies interessante Phänomen wird von einer
Reihe von meteorologischen Faktoren beeinflußt.
Die Intensität der aus der Luft angesammelten
Radioaktivität ist an hellen Sonnentagen größer
als an Regentagen , stärker bei windigem als bei
windstillem Wetter, indem die Luftbewegung offen-
bar dem Draht immer neue mit „radioaktiver
Materie" beladene Luft zuführt. Von geringerem
Einfluß scheint die Temperatur und der Feuch-
tigkeitsgehalt der Atmosphäre zu sein, von großem
dagegen die Berührung der Luft mit dem Erd-
boden. Nach Versuchen von Elster und Geitel,
Ebert und anderen Forschern entstammt diese
Radioaktivität dem Erdboden ; sie strömt aus den
Kapillaren des Boden aus und erreicht deshalb
in Kellerräumen, Höhlen u. s. w., in denen die
Luft sich nur langsam erneuert, einen besonders
hohen Betrag, ja man kann sie aus dem Boden
durch ein hineingestecktes Rohr direkt absaugen.
Hat man es nun auch hier wirklich mit einem
neuen, der Argon-Helium-Reihe verwandten Gas
zu tun? Wohl kaum. Die Gesamtheit der Er-
scheinungen, diese Verknüpfung von elektrischer
und chemischer Energie läßt sich bisher mit nichts
Bekanntem auf chenuschem Gebiet in Analogie
bringen. Wie eine Synthese von chemischer Materie
aus Elektronen mutet das Auftreten der radio-
aktiven Oberflächenschicht des Drahtes an, wie
ein Zerfall in ausgestrahlte Energie ihr allmähliches
Verschwinden. Derartige Hypothesen entfernen
sich zwar weit von unseren heutigen chemischen
Lehren, die als das letzte Element der Materie
das chemische Atom ansehen ; sie werden aber
dem chemischen Verständnis näher gerückt durch
die auf rein physikalischem Gebiet erwachsene
materielle Auffassung der elektrischen
Energie, die Elektroncntheorie, ohne die eine
befriedigende Erklärung zahlreicher elektrischer
Phänomen nicht zu geben ist.
Es ist hier nicht der Ort, diese und ähnliche
vorläufig völlig hypothetische Betrachtungen, die
auf dem noch so wenig durchforschten Gebiete
zutage getreten sind, eingehender zu besprechen.
Das Eine nur darf man als sicher annehmen: die
Entdeckung und Untersuchung der
radioaktiven Stoffe wird einen Fort-
schritt in der Erkenntnis der Materie
bedeuten.
Die bisherigen Forschungen über die Beziehungen der drei Südkontinente zu
einem antarktischen Schöpfungszentrum.
(Zusammenfassende Übersicht.)
[Nachdruck verboten.] Von J. Meis
Die zahlreichen in den letzten Jahren von seilen
verschiedener Nationen ausgesandten Expeditionen
zur Erforschung der um den Südpol unserer Erde
gelegenen Länder und Ozeane sind ein Ausdruck
für das Bedürfnis, die mannigfachen, auf der Kenntnis
dieses Gebietes beruhenden Probleme einer end-
gültigen Lösung entgegen zu führen, Probleme,
deren Studium schon seit langer Zeit die Gelehrten
beschäftigte, kaum aber bisher über die Aufstellung
mehr oder weniger gut begründeter Hypothesen
hinaus vorgedrungen ist. In biologischer Hinsicht
erweist sich zweifellos am bedeutsamsten das
Problem eines antarktischen Schöpfungszentrums,
eines jetzt von Schnee und Gletschern bedeckten
Gebietes um den Südpol, auf welchem einst unter
günstigeren klimatischen Bedingungen eine reiche
Tier- und Pflanzenwelt sich entwickelte, um von
hier aus radiär nach den drei .Südkontinenten aus-
zustrahlen und auf diese Weise die heute völlig
von einander isolierten P^rdteile mit der gleichen
Organismenwelt zu bevölkern. Immer von neuem
wieder wurden diese Fragen aufgeworfen und leb-
haft diskutiert, bis die zu erwartenden Resultate
enheimer.
der neueren Südpolarcxi)editioncn einen gewissen
Abschlul.5 herbeiführten, und ein Rückblick auf die
bisherigen Leistungen geboten erschien. Von zwei
verschiedenen Seiten aus, von Ort mann') und
Burckh ard t -), wurde das zerstreute Material
gesammelt und übersichtlich zusammengestellt, wir
wollen im Anschluß an die Ausführungen dieser
beiden P'orscher die Bedeutung dieses Problems
in etwas eingehenderer Darstellung uns vor Augen
führen.
Zuerst deutete wohl M o o k e r um die Mitte
des 19. Jahrhunderts an, daß das Vorkommen
identischer Pflanzen auf den weit voneinander ge-
trennten Südkontinenten durch eine ehemalige
Landverbindung dieser Gebiete erklärt werden
könne, ihm folgte Darwin in seiner „Entstehung
der Arten durch natürliche Zuchtwahl", indem er
die nahe Verwandtschaft der Pflanzen von Neu-
') A. E. ürlmann. Tlic tlicorics of tlic origin of tlic
antarctic faunas and tloras. American Naturalist, vol. 35. 1901.
-) R. Burkhardt. Das Problem des antarktischen
Schöpfungszentrums vom Standpunkte der Ornithologie. Zoolog.
Jahrbücher. System. Abteil. Bd. XV. 1902.
N. F. III. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
21
Seeland, Australien und Südamerika auf ihre ge-
meinsame Herkunft von den südwärts gelegenen
Südpolarinseln , die während einer klimatisch
günstigeren Epoche von üppigem Pflanzenwuchs
bedeckt waren, zurückführt. Eines direkten kon-
tinentalen Zusammenhanges dieser Gebiete bedurfte
indessen Darwin noch nicht, die Annahme einer
Verschleppung von Pflanzensamen durch Strö-
mungen, Eisberge und sonstige Transportmittel
schien iiim eine genügende Erklärung abzugeben,
erst Rütimeyer') wurde durch seine tiergeo-
graphischen -Studien zur Aufstellung eines großen
antarktischen Kontinents veranlaßt. Für ihn ist
es am wahrscheinlichsten , daß ursprünglich ein
großer Kontinent sich da ausdehnte, wo wir heute
nur noch eine Reihe kleiner Inseln als letzte Reste
der ehemaligen Küste antreffen, daß dieser Kon-
tinent eine einheitliche Fauna besaß, die sich
hauptsächlich aus Vertretern der niedersten Säuge-
tiergruppen sowie flügellosen Riesenvögeln zu-
sammensetzte, daß weiter Australien, Afrika und
Südamerika mit diesem Gebiete in Zusammenhang
standen und daß über diese Landbrücken sich die
antarktische P'auna vor der beginnenden Ver-
gletscherung in die wärmeren Gebiete zurückzog.
Australien erhielt so seine Beuteltiere, Emus und
Kasuare, Afrika seine Strauße, Südamerika seine
Nandus, alle diese Formen entstammen einem ge-
meinsamen antarktischen Schöpfungszentrum. Wir
sehen, wie Rütimeyer bereits ein großes Gewicht
auf die Verbreitung der straußartigen Vögel legt,
noch mehr ist dies der Fall bei H u 1 1 o n -), der
diesen hypothetischen Kontinent näher nach seiner
Gestalt und der Zeit seines Bestehens zu definieren
suchte. Das Auftreten von straußartigen Vögeln
sowie die Gegenwart eines Frosches auf Neu-
seeland lassen diese Insel durchaus als eine kon-
tinentale Insel erscheinen, und ein eingehenderes
Studium der gesamten Fauna Neu-Seelands führte
Hutton zu einer näheren Umgrenzung dieses
ursprünglichen Kontinents. Australien, Neu-See-
land, Südamerika und Südafrika mußten durch
einen gemeinsamen Kontinent verbunden gewesen
sein, der eine einheitliche Fauna besaß, von der
wir als Überreste die straußartigen Vögel anzu-
sehen haben, weiter unter den F'röschen die Gattung
Liopelma Neu-Seelands, die ihre nächsten Ver-
wandten in Peru hat, unter den Fischen die
Gattungen Galaxias und Prototroctes, die
sich hauptsächlich auf Neu-Seeland, Australien und
in Südamerika vorfinden, und endlich unter den
Wirbellosen die Vertreter der Gattung Peri-
patus, welche über Neu-Seeland, Australien, Süd-
afrika, über Süd- und Mittelamerika verbreitet ist.
Diese Gebiete brauchten nun keineswegs alle zu
gleicher Zeit miteinander verbunden gewesen zu
sein, so löste sich vor allem sicher Neu-Seeland
vor der Ausbreitung der Säugetiere von dem
übrigen Gebiete los, und wiederholte Senkungen
und Hebungen, während deren sich auf ihm seine
speziellen Riesenvögel, die Moas, ausbildeten, ver-
liehen der Insel erst ihre jetzige Gestalt. Aus
geologischen und paläontologischen Gründen glaubt
Hutton das Bestehen des antarktischen Kon-
tinents in die untere Kreideperiode verlegen zu
müssen.
Wenn H u 1 1 o n auch das Hauptgewicht auf
die Verbreitung der straußartigen Vögel legte, so
sind doch bei ihm bereits auch andere Tiergruppen
mit in den Kreis der Betrachtung gezogen, nament-
lich einige Vertreter der Fische und das gleiche
tat Gill,') der für die einerseits Südamerika und
Australien (4), andrerseits Südamerika und Afrika (3)
gemeinsamen Fischfamilien einen gemeinsamen Ur-
sprungsort annahm, ohne sich indessen über die
genauere Topographie desselben eine Vorstellung
zu machen. Wohl aber geschah dies nach einer
Reihe von Jahren von neuem durch Blanford^),
auch für ihn sind die wichtigsten Zeugen eines
ehemaligen antarktischen Kontinents, der die drei
Südkontinente miteinander verband, einmal die
Australien und Südamerika gemeinsamen Vertreter
der Süßwasserfische, der Frösche und Schildkröten
und sodann die Südamerika und Afrika zugleich
angehörenden Chromididen, Characiniden
(Süßwasserfische) und Am phisbaenide n (Rep-
tilien).
Am vollkommensten durchgeführt und in allen
ihren Konsequenzen bis ins einzelne verfolgt wurde
indessen diese Theorie eines antarktischen Kon-
tinents erst durch Forbes,'') ihm wollen wir
deshalb in seinen Darlegungen etwas genauerfolgen,
da er alles bisher Bekannte zu einem einheitlichen
Ganzen zusammenfaßte. Forbes geht aus von
den kleinen, östlich von Neu-Seeland gelegenen
Chatam-Inseln, deren faunistischer Charakter wie
geologischer Aufbau durchaus auf einen früheren
Zusammenhang mit dem Festlande hinweist. Auf
diesen Inseln fand Forbes nun die Überreste
einer riesenhaften, fluglosen Ralle, die zunächst
als völlig identisch, später aber wenigstens als
nahe verwandt mit maskarenischen P"ormen be-
trachtet wurde. Weiter besitzt Neu-Seeland gleich-
falls besondere Riesenvögel in seinen Moas (D i n -
ornis), verwandte Formen dieser Gruppe glaubt
Forbes in den riesigen A ep y o r n i s -Arten Mada-
gaskars zu sehen, Australien beherbergte die aus-
gestorbenen D ro m o r n is- Arten und hat mit den
nördlich vorgelagerten Inseln die noch lebenden
Kasuare und Emus gemein, Afrika weist seine
Strauße, Südamerika seine Nandus auf. Unter der
Voraussetzungf einer nahen Verwandtschaft aller
') L. Rütimeyer. Über die Hcikunlt unserer Tier-
welt. Basel 1867.
') F. W. Hutton. On the geogr.ipliical relalions of
the New Zcaland Fauna. Transact. and Procccd. New Zea-
land Institute, vol. 5. 1872.
') Th. Gill. On the geographica! distribution of fishes.
Annais and Magaz. natural, history. 4. ser. vol. 15. 1875.
-) W. T. Blanford. Anniversary adress to the geo-
logical Society. Journal geolog. Society London, vol. 46. 1890.
') H. O. Forbes. The Chatam Islands: their relation
to a former soulhern continent. Supplem. Papers Royal Geo-
graph. Society, vol. 3. London. 1893.
22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
dieser auf die Südhemisphäre der Erde beschränkten
Formen liegt es nahe, ein gemeinsames Entwick-
lungszentrum für die ganze Gruppe anzunehmen,
wie es ganz zweifelsohne für die Pinguine und die
Scheidenschnäbel (C h i o n i d e n) besteht, insofern
erstere auf die antarktischen Inseln und die Süd-
spitzen der angrenzenden Kontinente (auch fossil)
beschränkt sind, letztere nur von der Südspitze
Südamerikas über die Falkland- und Crozet-Inseln
bis zu den Kerguelen verbreitet sind. Weiter zog
des Poles sie nach Norden trieb. Was die l-'orm
dieses Kontinents anlangt (vergl. die nebenstehende
Karte), so bildete zunächst Neu-Seeland mit seinen
umliegenden Inseln ein zusammenhängendes Gebiet
(Antipodea), das nordwärts bis Kaledonien und bis
zu den Fidschi-Inseln reichte, nach Süden direkt
in Antarktika überging. Einen zweiten Ausläufer
nach Norden bildete Ostaustralien, das sich weit
über Neu-Guinea hin fortsetzte, während West-
australien lange Zeit eine isolierte Insel blieb. Von
Ausdehnung des hypothetischen antarlitischen Kontinentes nach Forbes.
F o r b e s für seine Betrachtung noch die schon er-
wähnten Süßwasserfische, Peripatus, sowie zahl-
reiche Einzelheiten der Tier- und Pflanzengeo-
graphie heran und ging nun von dieser Grundlage
aus an eine direkte Konstruktion des geforderten
kontinentalen Entwicklungszentrums. Antarktika,
wie Forbes diesen Kontinent bezeichnet, besaß
ein warmes Klima und war von einer üppigen
Vegetation bedeckt, sodalä die hier sich entwickeln-
den Organismen die günstigsten Existenzbedin-
gungen vorfanden, bis die zunehmende Abkühlung
Ostaustralien verlief die Küste Antarktikas quer
durch den indischen Ozean bis Madagaskar und
bis zu den Maskarenen, hier einen selbständigeren
Kontinent, Lemuria, bildend. Auch mit Afrika
selbst bestand wohl eine vorübergehende Ver-
bindung, ihre Lage ist mit Sicherheit nicht fest-
zustellen. Der südatlantische Ozean bildete eine
tief einspringende Bucht in das Festland von Ant-
arktika, dessen Küste schließlich mit Südamerika
verschmolz, von wo die Küstenlinie, alle ant-
arktischen Inselgruppen einschließend, nach \^iktoria
N. V. III. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23
Land sich hinzog und somit Antipodea wieder
erreichte. Anlarktil<a stellte somit nach Forbes
eine gewaltige Kontinentale Landmasse dar, welche
nordwärts zipfelförmig nach den drei Südkontinenten
hin ausstrahlte. Keineswegs ist dabei notwendige
Voraussetzung, daß dieser Kontinent, in seinem
ganzen Umfange je gleichzeitig bestanden habe,
im Gegenteil deutet vieles darauf hin, daß hier
wiederholt außerordentlich starke Veränderungen
durch vulkanische Eruptionen stattgefunden haben,
an seinem Charakter eines einheitlichen Entwick-
lungszentrums wird dadurch nichts geändert, ihm
verdanken die heutigen drei Südkontinente einen
großen Teil ihrer Organismenwelt.
Dieser gewaltige Kontinent erfuhr indessen bald
von verschiedenen Seiten her eine starke Ein-
schränkung, so namentlich von Hedley (1895),
der Neu-Seeland gänzlich von Antarktika getrennt
wissen will, so weiter in etwas beschränkterem
Maße von Osborn '), der wohl die wesentlichsten
Grundzüge der Forbes'schen Antarktika bei-
behält und nur ihren Umfang etwas reduziert.
Der trennende Meeresarm zwischen Antarktika
und Afrika wird erweitert, die Verbindung mit
Madagaskar und den Maskarenen aufgehoben, im
übrigen aber bleiben die Landbrücken der Forbes-
sciien Karte bestehen.
Zahlreich sind weiter die Hinweise auf einen
antarktischen Kontinent in Rücksicht auf die Ver-
breitung einzelner Tiergruppen; so führt St oll'-)
eine ganze Reihe von Insekten und Spinnen an,
die nur in der australischen Region sowie in Süd-
amerika vorkommen, Beddard'') findet eine
nahe Verwandtschaft der Regenwürmer Neu-See-
lands und Patagoniens, insofern in beiden Gebieten
die Acanthodriliden die charakteristischen
Vertreter darstellen, die zudem auch auf den
dazwischen gelegenen Kergueleninseln anzutreften
sind, Moreno wies ein fossiles australisches Reptil,
M i o 1 a n i a , in Südamerika nach, P 1 a t e *) fordert
eine Verbindung zwischen Australien und Süd-
amerika auf Grund der Verbreitung der Cyclostomen.
Von etwas anderen Gesichtspunkten ausgehend
tritt weiter auch von Ihering'') für eine ant-
arktische Landverbindung, wenigstens zwischen
Südamerika und Australien, ein. Nach diesem
Forscher zerfällt Südamerika faunistisch in zwei
völlig getrennte Gebiete, in Archi]ilata, welches
Südbrasilien und Chile umfaßt, und in Arch-
amazonia, die nördlichere Hälfte des heutigen Süd-
^) H. F. 0 s b o r n. Ci>rrelation bctwccn tertiary mam-
mal horizons of Europe and America. Annais New York
Academy of Sciences, vol. 13. 1901.
-) O. St oll. Zur Zuogegraphie der landbewohnenden
Wirbellosen. Berlin. 1897.
^) F. E. Beddard. .\ monograph of the Order of
Oligochaeta. Oxford. 1895.
*) L. H. Plate. Über Cyclostomen der südlichen Halb-
kugel. Verhandl. V. Internat. Zoolog. Kongr. Berlin. 1902.
*) H. V. Ihering. On the ancient relations betwcen
New Zealand and South America. Transact. and Proceed.
New Zealand Institute, vol. 24. 1S91.
— — The history of the neotropical region. Science.
N. S. vol. 12. 1900.
amerikas. Beide Teile sind völlig unabiiängig
von einander entstanden, das weitaus ältere Gebiet
ist .Archiplata und seine Fauna weist in den Ver-
tretern der Süßwassermuscheln (U n i o), der Süß-
wasserfische und der Krebse (Par as taciden) auf
eine nahe Verwandtschaft mit Australien und Neu-
Seeland hin , eine Ansicht, der sich neuerdings
auch Ortmann') angeschlossen hat, und die
zur Annahme eines südpacifisch-antarktischen Kon-
tinents führen mußte, während Archamazonia, wie
ich hier ergänzend hinzufügen will, durch einen
über St. Helena führenden südatlantischen Kon-
tinent (Archhelenis) direkt mit Afrika verbunden
gewesen sein soll.
Dieser antarktische Kontinent von Ihering's
erstreckte sich weit in den pazifischen Ozean hin-
ein, insofern er auch Polynesien umfaßte, einen
Schritt weiter geht Hut ton (1884)-), derselbe
Forscher, der früher so energisch für eine Ant-
arktis eingetreten war, indem er den antarktischen
Kontinent völlig verwirft, und die Verbindung
zwischen Südamerika, Australien und Neu-Seeland
in nördlichere Breiten, in den südlichen pazifischen
Ozean, verlegt. Auf dieser Landbrücke fand ein
Austausch der Organismen beider Gebiete statt,
und zwar zur Zeit der unteren Kreideperiode,
während in der oberen Kreide der ganze Kon-
tinent gleichzeitig mit der Hebung Südamerikas
zerfiel. Einer Verbindung Neu-Seelands mit Afrika
glaubt Hutton nunmehr gänzlich entbehreir zu
können, ihre gemeinsamen Formen sind von Norden
her in diese weit voneinander entfernten Gebiete
eingewandert.
Wir haben somit in H u 1 1 o n bereits einen
direkten Gegner des antarktischen Schöpfungs-
zentrums vor uns, ein weit energischerer Gegner
hatte sich indessen bereits lange vor ihm in
J. V. Haast*) erhoben, und zwar gerade gegen
die eigenen früheren Ausführungen Hutton's.
J. V. H a a s t ging aus von einer anatomischen
Untersuchung der fossilen straußartigen Riesenvögel
und fand so starke Differenzen im Bau von .Aepy-
ornis Madagaskars und von Dinornis Neu-
Seelands, daß diese zum mindesten als Beweise
für eine Landverbindung beider Gebiete nicht heran-
gezogen werden könnten. Gegenüber den Über-
einstimmungen, die etwa in anderen Tiergruppen
auftreten sollten, nimmt er seine Zuflucht zu den
älteren Erklärungsversuchen durch passive Ver-
brcitungsmittel oder aber zu der Annahme, daß
ähnliche Bedingungen an verschiedenen Orten die
gleichen Erscheinungen zur Folge hätten.
Nicht weniger entschieden sprach sich Wal-
1 a c e *) gegen diese Theorie aus, gleichfalls aus-
') A. E. Ortmann. v. Ihering'^ .\rchipluta-.\rchhelenis
theory. Science. N. S. vol. 12. 1900.
^) F. W. Hutton. On the origin of the fauna and
flora of New Zealand. Annales and Magaz. natur. history.
5. ser. vol. 13. 18S4.
■') Jul. V. Haast. .\dress to tlie Philosophical Institute
of Canterbury. Transact. and Proccedings New Zealand In-
stitute, vol. 6. 1873.
*) A. R. Wallace. Island Life.
24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
gehend von der Verbreitung der flugunfähigen
Riesenvögcl. Zwei Tatsachen scheinen ihm nament-
lich eine antarktisclie Landverbindung in Rück-
sicht auf die \^erbreitung dieser Formen gänzlicli
überflüssig zu machen, nämlich einmal die früher
weit ausgedehntere Verbreitung der strau(3artigen
Vögel und dann ihre Abstammung von ursprüng-
lich flugfähigen Formen, deren weiter Verbreitung
nichts im Wege stand. Entsprechend seiner Theorie
von der Permanenz der Meeresbecken glaubt Wal-
1 a c e sogar die gemeinsamen Züge , welche
Australien , Südafrika und Südamerika in ihrer
übrigen Tier- und Pflanzenwelt zweifellos aufweisen,
gleichfalls auf eine andere Weise erklären zu können.
Diese Pflanzen- und Tierformen sind für ihn nichts
anderes als die letzten Überreste einer früher weit
nördlich verbreiteten Organismenwelt, die allmäh-
lich von stärkeren I'"ormen aus ihrem \'erbreitungs-
gebiet zurückgedrängt wurden und sich nur noch
im Süden auf den isolierteren Teilen der Erdober-
fläche gegen die Konkurrenz der höher organi-
sierten Geschöpfe erhalten konnten.
Noch präziser suchte Lydekker') den nörd-
lichen Ursprung der jetzt auf die Südhemisphäre
beschränkten Tierformen darzutun, womit einem
antarktischen Kontinente naturgemäl-3 seine Be-
rechtigung genommen würde. So kamen nach
ihm aus dem Norden die Beuteltiere, wanderten
die australischen Laufvögel über Neu-Guinea in
die australische Region ein, nördlichen Ursprungs
sind der Strauß und die riesigen Landschildkröten,
die jetzt nur noch auf den Galapagosinseln und
auf den Inseln um Madagaskar vorkommen, aber im
Pliozän über die ganze nördliche Halbkugel weit ver-
breitet waren. Nur die Pinguine sind auch nach
Lydekker sicher südlichen Ursprungs, da sie nie
fossil im Norden vorkommen. Wenn eine Ver-
bindung der drei Südkontinente aufrecht erhalten
werden muß, so ist sie weiter im Norden zu suchen,
und Lydekker nimmt auch tatsächlich eine
solche zwischen Südamerika und Afrika in Rück-
sicht auf die Verbreitung der Süßwasserfische, der
Lungenfische, der Amph isbaenid en und der
I g u a n i d e n an, eine solche zwischen Südamerika
und Australien in Rücksicht auf die Verbreitung
der Beuteltiere. Lydekker nähert sich so im
ersten Falle den .Anschauungen v. Ihering's,
im letzteren denjenigen Hutton 's, wenn sich für
ihn auch gerade über die letztere Landverbindung
sichere Angaben ihrer Lage noch nicht machen
lassen.
Alle Gründe, welche gegen diesen antarktischen
Kontinent vorgebracht wurden, stützen sich in
erster Linie auf die geringe Beweiskraft der Ver-
breitung der fluglosen Riesenvögel , sie speziell
hat nun in neuester Zeit Burckhardt-) zum
Gegenstand einer besonderen Untersuchung ge-
macht, um ihre Bedeutung für die Lösung der
vorliegenden I'ragen mit möglichster .Sicherheit
') R. Lydekker. Die gcographisclu- Verbreitung und
geologische Entwicklung der Säugetiere. Jena. 1897.
-) R. Burckhardt, I. c.
ZU bestimmen. Zunächst erhebt sich dann hierbei
die Frage nach dem phyletischcn Ursprung der
fluglosen Riesenvögel. Übergänge von flugfähigen
zu fluglosen Formen finden wir in erster Linie
bei den sog. Geranomorphen, einer Vogelgruppc,
welche im wesentlichen die Rallen und die Kraniche
umfaßt. Die Rallen stellen eine artenreiche, schon
in der Kreide von Nordamerika auftretende, weit
verbreitete P'amilie dar, die namentlich insulare
Gebiete stark bevorzugt und es gerade auf solchen
zu den eigentümlichen Riesenformen gebracht hat.
Namentlich die madagassische und die neuseelän-
dische Provinz weisen derartige Formen auf, welche,
wie z. B. die subfossile Aptornis Neu-Seelands
oder die Leguatia gigantea der Maskarenen,
noch deutlich ihre Abstammung von Rallen er-
kennen lassen , die auf diesen einsamen Insel-
gebieten sich niederließen, ihr P'lugvermögen ein-
büßten, P'ederkleid sowie vordere Extremität rück-
bildeten und sich, häufig unter Erwerbung riesen-
hafter Körpermaße, zu typischen Laufvögeln um-
bildeten. Einen zweiten Ausgangspunkt derartiger
Riesenformen bilden die Kraniche, Reste derselben
haben sich in den Scliicliten der Pampas Süd-
amerikas in der Gattung Phororhacus und
anderen erhalten. — Sehr wenig wissen wir da-
gegen noch über die Abstammung der übrigen
zahlreichen fluglosen Vogelformen. Endglieder
flugfähiger Vogelfamilien sind beispielsweise ganz
zweifelsohne die fluglosen Riesentauben (Didus)
der Maskarenen, die gleichfalls fluglose Riesengans
(C n e m i o r n i s) Neu-Seelands, von Rallen stammen
vermutlich die Apterygiden und Dinorni-
t h i d e n Neu-Seelands ab , kaum etwas sicheres
anzugeben ist dagegen über die Verwandtschafts-
verhältnisse der Kasuare Australiens und Neu-
Guineas, der Strauße Afrikas, der Nandus (Rh ei-
den) Südamerikas, der fossilen Aepyornithi-
den und Mül leror ni t hide n Madagaskars.
Trotz dieser starken Lücken unserer heutigen
Kenntnisse läßt sich aus diesen Tatsachen immer-
hin mit völliger Sicherheit auf einen polyphylcti-
schen Ursprung der fluglosen Laufvögel schließen.
Und weiter ergibt sich die auffallende Tatsache,
daß gerade insulare Abschließung die Haupt-
bedingungen für das Zustandekommen flugloser
Riesenformen zu enthalten scheint, wie es so auf-
fällig bei Neu-Seeland, Madagaskar und Patagonien,
welch letzteres zeitweise insularen Charakter be-
sessen zu haben scheint, hervortritt. Burck-
hardt geht sogar so weit, die heutigen kontinen-
talen Strauße direkt als Einwanderer aus insularen
Gebieten anzusehen, wofür ihm auch der geringe
Arten reichtum der Strauße gegenüber allen insu-
laren Formen zu sprechen scheint. Die Strauße
und Rheiden weisen nur je 4 Arten auf, die
großenteils auf Inseln lebenden Kasuare bereits 7
und die fossilen Dinornithiden nicht weniger als
26 Arten. Über die eigentliche Art der Einwirkung
insularer Abgeschlossenheit auf einen Organismus
können wir uns nur schwer eine Vorstelluno-
machen, das Aufgeben der unnötigen Flugfunktion
N. F. III. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
!5
an einem von Feinden und Konkurrenten freien
Orte mag- zunächst das Hugorgan unterdrückt
haben, und hieran schloß sich sodann die mon-
ätröse Ausbildung riesenhafter Körpermaße an.
Mit diesem Nachweis einer polyphyletischcn
Entstehung der fluglosen Riesenvögel , wie er
übrigens auch früher schon wiederholt geführt
worden ist, verlieren dieselben nach Burckhardt
jede Beweiskraft für die ehemalige Existenz eines
antarktischen Kontinentes, da sie ja stets an den
Orten ihres Vorkommens unabhängig vonein-
ander entstanden sein können. Wenn überhaupt
antarktische Landverbindungen bestanden haben,
so kann nach Burckhardt's Ansiciit nur an
eine solche zwischen Neu-Seeland und Südamerika
gedacht werden, aber auch für diese Annahme
kann dann in keiner Weise die Verbreitung der Lauf-
vögel herangezogen werden, da sich die Dinor-
n i t h i d e n und die R h e i d e n völlig fern stehen.
Und sicherlich ist diese Verbindungsbrücke
zwischen Südamerika und der australischen Region
wohl der einzige Teil des antarktischen Kontinentes
von Forbes, für dessen Existenz bereits heute
eine Reihe gewichtiger und unabweisbarer Gründe
sprechen. Wir hatten oben eine ganze Reihe von
Tiergruppen (Reptilien, Amphibien, Süßwasser-
knochenfische, Cyclostomen, Muscheln und Krebse
des Süßwassers, Insekten, Spinnen, Regenwürmer)
kennen gelernt, welche beiden Gebieten gemein-
same Formen enthalten und so auf eine feste
Landverbindung hinweisen, eine Betrachtung der
Karte ergibt, daß auch die heutige Verteilung
von Land und Wasser, soweit sie bis jetzt be-
kannt ist, einer derartigen Vorstellung keineswegs
hindernd im Wege steht. Weit weniger zuver-
lässig sind die Grundlagen für die .Annahme einer
Landverbindung zwischen Madagaskar und Neu-
Seeland ; gewaltige Meerestiefen , welche , wie die
Deutsche Tiefseeexpedition neuerdings feststellte,
mehr als 5000 m betragen können, trennen beide
Gebiete, so daß wir hier ganz gewaltige Verände-
rungen des Reliefs der Erdoberfläche annehmen
müßten. Eine definitive Entscheidung läßt sich
indessen heute kaum schon fällen, und erst eine
erfolgreiche Südpolarexpedition läßt uns neues,
vielleicht entscheidendes Material zur endgültigen
Klärung dieser bedeutungsvollen Probleme er-
hoffen.
Kleinere Mitteilungen.
Die Schenkeldrüsen der Eidechsen, über
deren Bedeutung und Funktion man noch nicht
recht klar ist, liat neuerdings F. Schaefer aus
Labiau untersucht ; er berichtet darüber im „Archiv
für Naturgeschichte", Jahrg. 68, Bd. i, 1902, S.
27 — 64 (mit 20 Fig. auf 2 Taf). In einer längeren
Übersicht stellt Schaefer zunächst nach Boulanger's
„Catalogue of the Lizards in the British Museum"
alle Eidechsen zusammen , bei denen Schenkel-
drüscn nachgewiesen sind ; hierbei führt er zugleich
die Arten mit an, welche Analporen und Präanal-
poren besitzen. Aus der Familie der Geckoniden
besitzen Schenkelporen Arten der Gattungen
Gymnodactylus, Gonatodes, Oedura, Hemidactylus,
(lehyra, Perochirus, Lepidodactylus, Naultinus,
Hoplodactylus, Gecko und Phelsuma; von den
Agamiden Amphibolurus, Physignathus, Chlamydo-
saurus, Lophyra und Liolepis; von den Iguaniden
fast alle Gattungen, ebenso fast alle Tejiden, alle
Zonuriden, Lacertiden und Gerrhosauriden.
Die Schenkeldrüsen sitzen an den hinteren
Oberschenkeln und zwar unter den letzten größeren
Schuppen, welche an der Innenfläche des Ober-
schenkels in einer geraden Linie von der Kloake
bis zum Kniegelenk an die kleinen Schuppen
grenzen. Jede Schuppe entspricht einem darunter
liegenden (3rgan und wird vom Ausführungsgang
desselben durchbohrt. Man kann deutlich einen
unter der Schuppe liegenden verbreiterten Teil,
den Drüsenkörper, einen die Schuppe durchsetzen-
den Abschnitt, den Ausführungsgang, und den
an der Oberfläche der Schu[ipe frei hervorragen-
den Zapfen unterscheiden. Die Anzahl der
Schenkelporen schwankt nicht nur bei den einzel-
nen Arten, sondern auch bei den Individuen einer
Spezies, ja sie kann sogar auf beiden Schenkeln
ungleich sein. Als geringste Zahl der Schenkel-
poren fand Schaefer bei den von ihm untersuchten
Stücken 12, als höchste 25 auf einer Seite. Mit-
unter besitzen beide Geschlechter Schenkeldrüsen,
öfter nur das Männchen. Da der Verfasser nicht
Spiritusmaterial, sondern frische Exemplare unter-
suchen wollte , mußte er sich auf Lacerta agilis,
L. muralis, L. serpa, L. viridis, Sceloporus acan-
thinus und Acanthodactylus velox beschränken.
Die Form und Gestalt der Schenkeldrüsen ist
nicht immer gleich, sondern kann bei einzelnen
Arten mancherlei Abweichungen zeigen. Das aus
den Poren an der Mündung hervorragende, Papille,
Warze, hornartiger Kegel oder Zapfen benannte
Sekret besteht nach Schaefer's Untersuchungen bei
Lacerta muralis, L. viridis und Acanthodactylus
velox außerhalb der Brunstzeit nur an der Mün-
dung aus einigen völlig verhornten Zellen, wäh-
rend die Hauptmasse dieser Zellen aus einer erst
in Verhornung begriffenen Substanz zusammen-
gesetzt ist. Nur bei Lacerta agilis besteht außer-
halb der Brunst der ganze Zapfen aus völlig ver-
hornten Zellen. Dagegen bildet bei Sceloporus
acanthinus das Sekret eine völlig zerfallene, dem
Sekret von Talgdrüsen ähnlich sehende Masse, in
der verhornte Elemente nicht nachzuweisen sind.
Eine Absonderung der Schenkeldrüsen, die von
manchen Autoren bestritten wird, nimmt Schaefer
als sicher an, da die Zellen des Drüsenzapfens in
den verschiedenen Jahreszeiten denselben Farb-
stoffen gegenüber ein verschiedenes chemisches
Verhalten zeigen , je nachdem die Zellen .schon
26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
völlig verhornt oder erst in Verhornung begriffen
sind. Der an der Mündung hervorragende, aber
noch an dem inneren Zapfen des Drüsenganges
festhaftende Sekretpfropf wird wohl durch mecha-
nische Einwirkung von der Mündung beseitigt.
Mit der absondernden Tätigkeit der Oberhaut
bei der Häutung kann diese x\bsonderung der
Drüsen nicht verglichen werden, da bekanntlich
bei der Häutung sich an der Oberhaut bereits
die darunter liegende neue Hornschicht gebildet
hat, während bei den Schenkeldrüsen zu gewissen
Zeiten überhaupt keine Hornzellen nachzuweisen
sind. Zur Brunstzeit erfolgt bei männlichen Indi-
viduen eine viel schnellere Umwandlung der Zellen
des Drüsenkörpers wie zu anderer Zeit, und dem-
entsprechend muß auch eine viel schnellere Ab-
sonderung des Sekretes erfolgen ; denn eine Ver-
hornung der Zellen des Drüsenzapfens findet in
dieser Zeit nicht statt.
Die entwicklungsgeschichtlichen Untersuchun-
gen der Schenkeldrüsen haben ergeben, daß die-
selben aus einer Einsenkung des Rete Malpighii
der Epidermis in das darunter liegende Binde-
gewebe und gleichzeitiger Wucherung und Ver-
mehrung dieser Epidermiszellen hervorgegangen
sind. Das Lumen der Drüsen wird größtenteils
ausgefüllt von Zellen, doch ist im Ausführungs-
gang zwischen der Wand des Drüsenganges und
dem Zapfen immer noch eine Lichtung nachzu-
weisen. Die im Drüsenkörper gebildeten Zellen
erfahren allmählich eine LTmwandlung und können
schließlich als verhornte oder als in V'erhornung
begriffene Zellen oder als detritusähnliche Masse
abgeschieden werden.
Was die morphologische Bedeutung der
Schenkeldrüsen anbetrifft, so haben die früheren
Autoren darüber sehr verschiedene Ansichten ge-
äußert. Schaefer betrachtet die Schenkcldrüsen
als zellenbereitende Drüsen (Glandulae celluliparae),
und da sie auch eine dem Sekret der Talgdrüsen
ähnliche Masse abscheiden können, muß ihnen
dieselbe anatomische Stellung eingeräumt werden,
wie sie die selbständigen, nicht in Verbindung mit
Haaren befindlichen Talgdrüsen einnehmen. S.
Über die Bedeutung von Eruptiv-Breccien
als erdgeschichtliche Urkunden. — Als Vulkan-
embryonen bezeichnet man mit einem von Leopold
v. Buch geschaffenen Namen nicht zur völligen
Entwicklung gelangte Vulkane, aus denen sich
keine Lava an die Erdoberfläche ergossen hat.
Ihre — wahrscheinlich sehr plötzliche — Ent-
stehung verdanken sie einem explosiven Vorgange,
durch den sich die Spannung intratellurischer Gas-
und Dampfmassen auslöste. Die Explosion schlägt
einen Kanal durch die feste Erdkruste und an der
Oberfläche bildet sich oft eine schüsseiförmige
Vertiefung. Ist dies letztere der Fall, so spricht
man von Maaren, ein Name, der von den Krater-
seen der Eifel entlehnt ist. Der durch die Ex-
plosion entstandene Schlot wird durch verschieden-
artiges Material ausgefüllt. Dasselbe kann aus
vulkanischen Auswürflingen bestehen, wie sie sich
auch um den Rand der Maare anzuhäufen pflegen;
in der Tiefe trifft man oft einen Pfropfen
erstarrten Magmas an. Sehr oft wird die Aus-
füllungsmasse aber auch durch Bruchstücke der
Gesteine gebildet, welche bei der Explosion durch-
schlagen sind. Manchmal sind diese Brocken durch
magmatische Masse verkittet, manchmal entbehren
sie dieses Bindemittels so gut wie ganz. In neuerer
Zeit sind wieder einige Beispiele von Vulkan-
schloten bekannt geworden, die dadurch merk-
würdig sind, daß sich in ihnen nicht nur Frag-
mente von solchen Gesteinen finden, durch die
heute die vulkanische Röhre hindurchgeht, sondern
auch von solchen, die man in der Umgebung des
Schlotes vergeblich sucht. Wie wir im folgenden
sehen werden, gehören solche Vorkommnisse zu
den merkwürdigsten und wichtigsten Dokumenten
für die Geschichte unseres Planeten.
Das erste dieser geologischen Schatzkästlcin,
von denen hier die Rede ist, liegt in der Nähe
des Dorfes Alpersbach am südlichen Abhang des
Höllentales, das sich von den Höhen des Schwarz-
waldes in westlicher Richtung nach Freiburg i. B.
hinunterzieht. Unter dem Namen der „Nagclfluh
von Alpersbach" ist es schon länger bekannt und
zuerst von Steinmann 1888 (Ber. d. nat. Ges.
Freiburg i. B. Bd. IV) ausführlich beschrieben. Seine
wahre Natur ist aber erst in neuerer Zeit erkannt
(Steinmann, Die Neuaufschließung des Alpersbachcr
Stollens. Ber. oberrhein. geol. Ver. 35. 1902).
Auf dem von Ouarzporphyrgängen durchsetzten
(rneiß, der an der genannten Lokalität ansteht,
liegt dort ein Konglomerat, das aus den krystallinen
Gesteinen der nächsten Umgebung, dann aber auch
aus Brocken von Schichtgesteinen besteht, deren
Alter durch die eingeschlossenen Versteinerungen
unschwer bestimmt werden kann. Vertreten sind
alle Formationen der Trias und eines Teils des
Jura, vom Buntsandstein an bis zum unteren Malm.
Es finden sich nicht etwa nur Reste der härteren
Schichten, sondern auch in kleinen eckigen Bruch-
stücken solche der Mergel und Tone des Keupers,
des Lias usw. Die Komponenten der Breccie
erreichen bis 0,5 m Durchmesser und sind nicht
gerundet.
Die ganze Ablagerung nimmt nur einen sehr
geringen Raum ein. Weit und breit findet sich
nichts Ahnliches. Die nächsten mesozoischen
Sedimente liegen im Westen in 18 km Ent-
fernung am Schönberg, südlich von Freiburg. Im
Osten liegen Buntsandstein und Muschelkalk in
12 — 18 km, die nächsten Juraablagerungen in
noch viel größerer Entfernung.
Die Frage, wie diese Breccie an ihre jetzige
Stelle mitten im Gneiß gekommen ist, war im
Anfang nicht leicht zu beantworten. Man dachte
zuerst an ein tertiäres, im Wasser abgesetztes
Konglomerat nach Art der am östlichen Schwarz-
waldrande verbreiteten Süßwassernagelfluhen. An
einen Transport von Osten oder Westen her,
wo die mesozoischen Sedimente in größerer Aus-
N. F. III. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
27
dehnung anstehen, darf nicht gedacht werden, weil
man sonst annehmen müßte, dal3 der heutige „hohe
Schwarzwald" einstmals zur Tertiärzeit niedriger
gelegen hätte als seine randlichen Partien im Osten
oder Westen. Dieser Annahme widerspricht aber
alles, was wir über die geologische Geschichte des
Gebirges wissen. Trias und Jura müssen vielmehr
bei Alpersbach selbst anstehend vorhanden ge-
wesen sein. Da sich nun Bruchstücke aller Schichten
vereinigt finden und direkt auf Gneit^ ruhen, so
müßte man sich vorstellen, dal.^ der Boden des
Wassers sehr unregelmäßig gewesen sei und enorme
Höhenunterschiede gezeigt haben müßte, da an
einer Stelle Buntsandstein, an einer anderen IVIalm,
an einer dritten Gneiß zutage gelegen haben müßte.
Vor allem ist aber schon deshalb der Wasser-
transport nicht denkbar, weil die Komponenten
der Breccie nicht gerundet sind, und sich ferner
im Wasser die Brocken von IMergel und Ton, wie
wir sie in der Breccie vorfinden, niemals zusammen-
hängend hätten erhalten können. Endlich ist das
Tal, an dessen Hang sich die „Nagelfluh" von
Alpersbach findet, ganz jung und erst zur letzten
Eiszeit ausgefurcht. Zur Eiszeit kann aber die
Decke mesozoischer Sedimente nicht mehr auf dem
Schwarzwald gelegen haben , weil die Moränen
jener Gegend niemals Brocken von Musciielkalk,
Lias usw. führen. Ein Transport durch Eis kann
also auch nicht stattgefunden haben.
So bleibt denn als einzige und zwar befriedi-
gende Erklärung, daß es sich bei dieser Breccie
um die Ausfüllungsmasse eines Vulkanschlotes
handelt. Dann erklären sich die Verhältnisse so:
Das Gneißgebirge des Schwarzwaldes war von der
vollständigen Schichtenreihe vom Buntsandstein an
bis zum unteren IVIalm bedeckt, als durch eine
vulkanische Explosion eine Röhre von 20 — 30 m
Durchmesser durch all diese Gesteine hindurch
geschlagen wurde. In diese fielen Bruclistücke
aller Schichten hinein und erfüllten den Schlot in
buntem Durcheinander. Eruptives Material läßt
sich freilich in der Breccie nicht nachweisen ; aber
das spricht nicht gegen die gegebene Erklärung.
Ähnliche Tuffröhren finden sich in der weiteren
LJmgebung, nämlich in den Vorbergen des Schwarz-
waldes. Auch hat man neuerdings in den Moränen
bei Neustadt i. Schwarzwald, also nicht weit von
Alpersbach, Basaltgeschicbe gefunden, welche ver-
raten, daß auch dort ein vulkanischer Durchbruch
stattgefunden haben muß, dessen Lage aber wegen
der glazialen Bedeckung nicht festgestellt werden
kann. Ferner findet sich bei Hornberg (an der
Schwarzwaldbahn) mitten im krystallinen Gebirge
ein Rasaltschlot, der Buntsandsteinstücke einschließt,
während dieses Gestein in der Umgegend nicht
ansteht. — Das Alter der Entstehung der Alpers-
bacher Breccie läßt sich nach dem der Eruptionen
des Kaiserstuhls und Hegaus, unter denen durch
sie auch ein örtlicher Zusanmienhang geschaffen
ist, als miocän festsetzen.
Das eben beschriebene Vorkommnis lehrt uns
nun eine ganze Reihe wichtiger Tatsachen. Zu-
nächst muß der Schwarzwald zur Miocänzeit noch
ganz von den mesozoischen Sedimenten bis zum
unteren Malm hinauf bedeckt gewesen sein.^) Der
Schwarzwald ist also auch nicht zur Jurazeit eine
Insel gewesen, wie er noch vielfach auf Karten,
die das einstige Jurameer darstellen, erscheint.
Sodann haben wir hier einen Maßstab für die ge-
waltige Wirkung der Denudation vor uns. Denn
die ganze Schichtenfolge, von der wir in dem
Schlot eine Mustersammlung erhalten finden, ist
seit dem Miocän (bis auf den Buntsandstein) vom
hohen Schwarzwalde gänzlich entfernt worden.
Wenn man sich die Mächtigkeit der abgetragenen
Schichten nach den Verhältnissen in den nächst
benachbarten Gebieten mesozoischer Sedimente
berechnet, so ergeben sich für Trias und Jura
500 m. Da in der Umgegend von Alpersbach
Berge von 1250 m noch bis oben hin aus Gneiß
bestehen, die Breccie aber in lOOO m Höhe liegt,
so sind an der Stelle, wo sie liegt, auch noch
250 m krystallinen Gesteins abgetragen, denn der
Buntsandstein hat sich auf einer ziemlich ebenen
Fläche auf dem Gneiß abgesetzt und kann also
frühestens in 1250 m Höhe begonnen haben. Seit
der Entstehung des Alpersbacher Schlotes sind
also im ganzen 750 m an jener Stelle vom Gebirge
abgetragen.
Das folgende Profil möge zur Verdeutlichung
des Gesagten dienen.
Ein dritter Punkt von Wichtigkeit, der durch
die Breccie Beleuchtung erfährt, ist die Ausbildung
') Eine Schwierigkeit mag hier noch angedeutet werden.
Sie liegt in dem Problem, ob noch jüngere Schichten als der
untere Weiße Jura auf dem Schwarzwald zum Absatz gelangt
sind. Wäre der Schwarzwald nach Ablagerung des unteren
Malm (des jüngsten Gliedes der mesozoischen Schichlenfolge
im badischen Oberlande) trocken gelegt, so ist es schwer, sich
vorzustellen , daß seit jener Zeit bis zum Miocän keine
Denudation tätig gewesen sein sollte. Im Gegenteil müßte
man annehmen, daß während des unendlich langen Zeitraumes
vom mittleren Malm durch die ganze Kreidezeit hindurch bis
zum Miocän vom Gebirge doch wohl mindestens ebenso viel
abgetragen ist, wie seit dem Miocän bis auf unsere Zeit. Die
Länge des ersteren Zeitraumes muß doch gewiß noch größer
sein als die des letzteren. Daß in der Oligocänzeit dieselben
mesozoischen Schichten den .Schwarzwald bedeckten, beweist
der Umstand, daß ihre Bruchstücke auch die oligocänen Küsten-
konglomerate an seinem Fuß zusammensetzen, in denen sich
nie ein krystallines Gestein gefunden hat. Dies muß also noch
nirgends freigelegt gewesen sein. — Das angedeutete Problem
ist schwer zu lösen. Branco hat ein ähnliches für die schwä-
bische Alb untersucht (s. Schwabens 125 Vulkanembryonen,
p. 54 ff.). Er kommt dabei zu der Vorstellung, daß jüngere
als jurassische Schichten die .Mb (und den Schwarzwald) nicht
bedeckt haben, und daß die Schichten von diesen Gebirgen
in der Weise abgetragen sind, daß ein Steilabsturz allmählich
rückwärts rückte, wie es jetzt derjenige der schwäbischen Alb
tut, während die Denudation oben auf den Schichten sehr
wenig wirkte. Dazu hob sich ja der Schwarzwald zur Miocän-
zeit als Gebirge heraus und die Denudation konnte auf diesem
höher gelegenen Stück kräftiger wirken als in den niedrigeren,
im Osten und Westen gelegenen Teilen. Die Frage, ob mittlerer
und oberer Malm oder auch Kreide auf dem Schwarzwald
abgelagert sind, lassen wir daher offen, aber durch die Branco-
sche Vorstellung wird eine Denudation verständlich, die nicht
auf der ganzen Fläche der Sedimentdecke wirkte, sondern den
Rand dieser letzteren allmählich immer weiter gegen SO ver-
legte.
28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 2
der Schichten, ihre „Facies" Z. B. ist der obere
Braune Jura am Rande des Rheintales als ein
mächtiger Komplex von Oolithen, als sogen. Haupt-
rogenstein, entwickelt, während er östlich vom
Schwarzwald in mergeliger Facies erscheint, t'ber
die Lage der Grenze zwischen den beiden Aus-
bildungsweisen weiß man nichts Bestimmtes, jeden-
falls muß sie aber östlich vom Alpersbacher Schlot
liegen, da sich in diesem noch Hauptrogenstein
findet. Umgekehrt ähnelt der obere Muschelkalk,
der sich in der Breccie findet, in seiner Ausbildung
mehr dieser Formation wie sie sich im Osten des
Schwarzwaldes zeiet.
leicht
zu
eine
finden sein.
Zufälliijkeit
Nive.^.u (1. Rheinebene be
Profil durch das IlöUental im südlichen Schwarzwald mit Rekonstruktion der Sedi-
mente (Buntsandstein bis Unt. Malm), die das Gneifigcbirge zur Zeit der Ent-
stehung des Alpersbacher Schlotes (S) bedeckten. (Nach den .Angaben von Stein-
mann). G — G = obere Grenze des Gneißes, Auflagerungsfläche des Buntsandsteins.
M — M = Oberfläche des Schwarzwaldes (bestehend aus unterem Malm) zur mitt-
leren Miocänzeit, als der .Mpersbacher Explosionskraters entstand. R—R^ Heutige
Oberfläche des Gebirges. Die Gesleinsmasse zwischen den Linien M — M und R — R
ist seit der Miocänzeit abgetragen. — Der Durchmesser von S ist ganz bedeutend
übertrieben.
Auch im Odenwald hat sich ein solches merk-
würdiges Dokument für die Erdgeschichte gefunden,
und zwar am Katzenbuckel, wo F r e u d e n b e r g
Lias entdeckt hat (Ber. d. oberrh. geol. \'er. 36.
1903). Der Katzenbuckel ist eine| Kuppe von
Nephelinbasalt, die unweit Eberbach (ONO von
Heidelberg) über den dort vorherrschenden Bunt-
sandstein emporragt. In diesem Basalt findet sich
eine Scholle von hartgebranntem Schieferton ein-
geschlossen, welcher sich durch charakteristische
Fossilien als unterer Brauner Jura (Opalinus-Ton) er-
weist. Weit und breit sind keine Juraablagerungen
vorhanden ; der nächste Braune Jura findet sich in
ca. 35 km Entfernung bei Langenbrücken, nörd-
lich von Bruchsal. Der hier anstehende Opalinus-
Ton stimmt mit dem im Basalt des Katzenbuckels
gefundenen sehr gut überein. So muß also auch
der Odenwald einst von Sedimenten bedeckt ge-
wesen sein, von denen wir keine Spur mehr auf
den Bergen finden. Nur diese kleine Scholle ist
in der Tiefe eines vulkanischen Schlotes, in den
sie hineingestürzt ist, auf wunderbare Weise er-
halten worden. Auch liier hat also die Denudation
gewaltige Wirkungen ausgeübt. Denn es ist un-
wahrscheinlich, daß nur der Opalinus-Ton auf dem
Buntsandstein abgelagert sein sollte. Wahrschein-
licher ist es, daß auch noch andere Sedimente
des Mesozoikums hier abgesetzt und später wieder
entfernt sind. Warum gerade nur diese eine Schicht
in dem Basalt eingeschlossen ist, dafür dürfte aller-
dings eine Erklärung nicht
Es kann sich da vielleicht
handeln.^)
Nicht nur Deutschland besitzt solche geo-
logische Schatzkästlein, die wichtige Kunde aus
grauer X'orzeit bergen, auch aus England ist ein
ganz analoges X^orkommnis be-
kannt geworden. Auf der Insel
Arran liegt ein größeres Eruptions-
gebiet, das von Schichten des old
red sandstone, des Karbon und
der Trias begrenzt ist. In diesen
Eruptivmassen sind von Peach
und Gunn (Quart. Journ. Geol.
Soc. London, \^ol. 57, pag. 226 ff.)
nicht unbeträchtlicheMassen meso-
zoischer Sedimente entdeckt, die
sonst auf der Insel absolut
fehlen. Durch Fossilien konnten
Rhät , unterer Lias (Schichten
der Schlotheimia angulata) und
obere Kreide nachgewiesen wer-
den. Neben diesen finden sich auch
Bruchstücke der Gesteine, welche
heute um die eruptiven Massen
herum die Oberfläche der Insel
bilden. Es geht aus diesen Ver-
hältnissen hervor, daß ein.st rhä-
tische, liasische und oberkretacische
Schichten die Insel Arran bedeckt
haben. Da die letzteren noch von
den Eruptivgesteinen eingeschlos-
sen und kontakt-metamorph verändert sind, so ergibt
sich ein tertiäres Alter der Eruption, das von beson-
derem Interesse ist, weil die Eruptiva z.T. den Charak-
ter von Granit tragen. .Auch auf Arran hat dann die
Denudation diesen ganzen Schichtenkomplex wieder
abgetragen und nur in der Tiefe des vulkanischen
Schlotes, die jetzt frei zutage liegt, haben sich
seine Reste erhalten. Das nächste Gebiet, wo
sich ähnliche Sedimente wie diese eingeschlossenen
Schollen von Arran finden, liegt im nordöstlichen
Irland in einer Entfernung von 40 englischen Meilen.
Auch dort folgt über dem Rhät der untere Lias
und dann Ablagerungen der oberen Kreide. —
Wie viele Fälle mag es geben, daß mächtige
Schichten auf der Erde abgelagert und nachher
') Es sei darauf hingewiesen, daß diese beiden nicht die
einzigen Turtröhren in Deutschland sind, die Gesteine ent-
halten, die jetzt nicht mehr in ihrer näheren Umgebung vor-
kommen. Es sei nur an den Tuft' von Scharnhausen bei
Stuttgart erinnert, den Brancu beschrieben hat (Brancu, Schwa-
bens 125 Vulkanembryonen S. 454 ff.). Dieser Schlot geht
heute inKeuper zutage aus, enthält aber noch Weißen Jura
(V und ,?.
N. F. III. Nr. 2
NaturwissensclKiftliche Wochenschrift.
wieder vcrsclnvmiden sind, ohne daß wir je eine
Kunde von ihnen erhalten werden. Die hier be-
schriebenen Vullvanschlote , deren Untersuchung
solche Vorgänge für gewisse Gebiete beweist, sind
doch nur seltene Vorkommnisse, und die Resultate,
die ihre Untersuchung ergeben hat, zeigen uns
neben ihren wichtigen Ergebnissen doch auch
wieder aufs deutlichste, wie lückenhaft die Ur-
kunden sind, aus denen die Geologie die Ge-
schichte der Erde enträtseln muß.
Dr. Otto VVilckcns.
Die thermischen Eigenschaften der festen
und flüssigen Körper. — In der Märznummer
des N'uovo Cimcnto veröftentlicht S. Lussana
den zweiten Teil seiner Untersuchungen über die
Gesamtheit der thermischen Eigenschaften von
festen und flüssigen Körpern. Die vom Verfasser
beschriebenen Versuche beziehen sich auf Phosphor
und a-Naphthol und gestatten die Aufstellung fol-
gender Schlussfolgerung:
Die Kompressibilität nimmt sowohl im flüssi-
gen als im festen Zustande für wachsende Drucke
ab. Wenn man das Volumen durch die Beziehung
V = a -|- bp -}- cp-
darstellt, so bemerkt man, dass b immer negativ
und c positiv ist. b und c nehmen im übrigen
für wachsende Temperaturen zu und sind für den
flüssigen Aggregatzustand weit grösser als für den
festen.
Der Ausdehnungskoeffizient nimmt ab, wenn
der Druck zunimmt. Im übersclimolzenen Zu-
stande zeigt der Körper dasselbe \'erhalten wie
im flüssigen Zustande. Die Ueberschmelzung ist
anscheinend umso leichter, je höher der Druck
ist. Die Volumveränderungen, von denen der
Schmelzprozess begleitet ist, nehmen für wach-
sende Drucke nach einem ständig kleiner werdenden
Koeffizienten ab. Verfasser hält es nicht für an-
gezeigt, Schlüsse mit Bezug auf die Schmelzwärme
sowie auf das Vorhanden oder Nichtvorhandensein
eines kritischen Punktes zu ziehen und beabsichtigt
in einer späteren Arbeit, wo Versuche mit anderen
Substanzen wiedergegeben werden sollen, hierauf
zurückzukommen. A. Gr.
Über den Clausius'schen Entropiesatz betitelt
sich eine in der Vierteljahrsschrift der naturforschen-
den Gesellschaft in Zürich (XLVIII, 1903) erschienene
Abhandlung von A. Fliegner. Die interessanten
Ergebnisse dieser Studie geben wir nachfolgend im
Auszug wieder, indem wir hinsichtlich der Erklärung
des Entropiegesetzes auf den in Nr. 35 des vorigen
Jahrgangs erschienenen Aufsatz von Dr. Gradenwitz
verweisen.
„Die Untersuchungen haben drei Fälle ergeben, für
welche der Entropiesatz nicht gilt: die unstetigen
Expansionen, die endothermen chemischen Reaktionen
und die Kältemischungen. Sucht man noch nach
gemeinschaftlichen Zügen bei diesen drei Vorgängen,
so könnte man sie vielleicht in Folgendem finden :
Bei den unstetigen Expansionen wird durch die
vorhandenen Kraftwivkungen verhältnismäßig großen
Massen eine bedeutende fortschreitende Geschwindig-
keit erteilt , während die Entropie abnimmt. Wenn
dann bei der Bewegung Widerstände nur in geringem
Grade vorhanden sind, so wird die erlangte Strömungs-
energie namentlich zur Überwindung von Massen-
anziehungskräften ganz oder teilweise aufgebraucht,
und dabei bleibt die Entropie dauernd kleiner, wenig-
stens wenn von der Umgebung her keine Wärme
zugeführt wird. Die Molekeln sind nun , wenn auch
sehr kleine , so doch zusammengesetzte Körperchen,
und auch von den Atomen wird neuerdings ange-
nommen , daß sie noch nicht die kleinsten Teilchen
des Stoffes bilden , sondern daß uns nur noch die
Mittel zu einer weiteren Zerteilung fehlen. Man wird
daher diesen Körperchen auch eine gewisse Entropie
zusprechen dürfen, die abhängig ist von der gegen-
seitigen Bewegung und gegenseitigen mittleren l^age
ihrer wirklich kleinsten Teilchen. Bei chemischen
Reaktionen und beim Lösungsvorgange müssen diesen
Kör[)erchen durch die vorhandenen Kraftwirkungen
auch große, voneinander weg gerichtete Geschwindig-
keiten erteilt werden, und man muß annehmen, daß
ihre Entropie dabei abnimmt. Die erlangte fort-
schreitende Bewegung geht widerstandslos vor sich,
da die Molekularstöße als vollkommen elastisch an-
gesehen werden müssen. Daher wird die Strömungs-
energie nur die Massenanziehungskräfte zwischen den
Atomen und Molekeln zu überwinden haben, wodurch
die Entropie nicht beeinflußt wird. Das Gemein-
schaftliche würde dann sein : die Entstehung einer
großen Strömungsenergie und das gänzliche Fehlen
von Widerständen, oder doch deren Kleinheit gegen-
über vorhandenen Massenanziehungskräften. Bei den
chemischen Reaktionen , soweit sie nicht einfache
Dissoziationen sind, wirken allerdings die Anziehungs-
kräfte bei der Vereinigung der Atome zu den neuen
Molekeln im entgegengesetzten Sinne auf Erhöhungen
der Entropie, sie erlangen aber nur bei den e.xother-
men Prozessen das Übergewicht.
Die vorstehenden Entwicklungen zeigen nun, daß
die eine der Annahmen, von denen Clausius bei
der Herleitung seines EnlrojMesatzes ausgegangen ist,
den wirklichen Verhältnissen nicht entspricht. Der
Entropiesatz stellt kein unbeschränkt gültiges Natur-
gesetz dar, das auf alle Vorgänge im. ganzen Weltall
angewendet werden dürfte. Vielmehr entzieht sich
ihm eine Anzahl unstetiger Vorgänge. Daher sind
auch alle aus dieser unrichtigen Annahme gezogenen
Schlüsse nicht als bewiesen anzusehen. Auf rein
mechanische Vorgänge, die in kleinerem Maßstabe
künstlich erzeugt werden können, darf man den
Entropiesatz in der integrierten Form allerdings
trotzdem anwenden. In der allgemeinen Form da-
gegen, daß die Entropie des Weltalls einem
Maximum zustrebe, mufs er fallen gelassen
werden.
Im Weltall treten die mechanischen Zustands-
änderungen mit bleibender Zunahme der Entropie
in einem abgeschlossenen Gebilde wahrscheinlich
häufiger auf, als die unstetigen Expansionen mit einer
30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. \r. 2
bleibenden Abnahme. Dafür nimmt aber bei diesen
die Entro]iie gegenüber der Wärmemitteilung um un-
endlich grotie Beträge ab, während bei jenen die
Entropiezunahme und die Wärmemitteilung der glei-
chen Größenordnung angehören. Bei den chemi-
schen Reaktionen dürften sich die Änderungen der
Entropie in der organischen Natur angenähert
die Wage halten, da in der Tierwelt die oxydierenden,
exothermen Vorg.nnge vorherrschen, in der Pflanzen-
welt die reduzierenden, endothermen. In der unor-
ganischen Natur gehen die exothermen Reaktionen
namentlich bei den niedrigeren Temperaturen vor
sich, die endothermen namentlich bei den höheren.
Zusammenstöße von Weltkörpern, durch die angeniein
hohe Temperaturen erzeugt werden , müssen daher
umfangreiche endotherme Dissoziationen zur Folge
haben, die mit einer bedeutenden bleibenden Ab-
nahme der Entropie verbunden sind. In welchem
gegenseitigen Verhältnisse aber diese entgegengesetzten
Änderungen vorkonmien, entzieht sich unserer Beur-
teilung vollständig. Es ist daher ganz wohl möglich,
daß die Zunahmen das Übergewicht besitzen , und
daß der Clausius'sche Entropiesatz doch richtig
ist. Dagegen ist auch eine ununterbrochene Abnahme
der Entropie nicht ausgeschlossen. Und da sich für
keine dieser Änderungen zwingende Gründe oder
Gegengründe anführen lassen, so muß auch die Mög-
lichkeit zugegeben werden, daß die Entropie des
Weltalls vielleicht konstant bleibt. Immerhin würde
das keine strenge Konstanz sein, wie bei der Energie,
bei der eine Änderung in einem Sinne an einer
Stelle unmittelbar eine gleich große Änderung im
entgegengesetzten Sinne an einer anderen Stelle ent-
spricht. Vielmehr würde es sich bei der Entropie
nur um Schwankungen innerhalb engerer Grenzen
handeln können.
Die Frage, ob sich die Entropie des Weltalls
überhaupt ändert, und wenn ja, in welchem Sinne,
geht also gegenwärtig noch gar nicht zu beantworten,
und sie wird wohl auch immer unentschieden bleiben."
Über die Bedeutung der Nährstoffanalyse in
agronomischer und geognostischer Hinsicht
äußert sich Dr. R. Gans im Jahrbuch der Königl,
Preuß. Geologischen Landesanstak für 1902 (Band
XVIII. Heft I. Berlin 1903).
An der Hand zahlreicher Analysentabellen weist
der Verf. auf die vielfach verkannte, hohe Bedeutung
der chemischen Untersuchung von Bodenarten hin.
Das Analysenmaterial entstammt zumeist dem Quartär
des norddeutschen Flachlandes und wurde im Laufe des
verflossenen Jahrzehnts im Laboratorium für Boden-
kunde der oben genannten Anstalt bearbeitet. Man
hat hier die Methode der Nährstoft'untersuchung bei-
behalten, durch Auszug des Bodens mit kochender,
konzentrierter Salzsäure die Summe der leichter und
schwerer löslichen Bestandteile zu ermitteln. Der
Grund hierfür liegt einmal darin, daß es bei der
agronomisch-geologischen Landesaufnahme nicht darauf
ankommt, den augenblicklich leicht löslichen, sondern
den für eine längere Reihe von Jahren für die Pflanzen
verfügbaren, wenn auch momentan schwerer löslichen
Vorrat des Bodens an Nährstoffen festzustellen. Und
andererseits ist zu berücksichtigen, daß die leicht-
löslichen Salze, die allerdings allein den Pflanzen direkt
zu ihrem Aufbau dienen, doch nur da in genügender
Menge vorhanden sind, wo sich auch schwerer lös-
liche vorfinden, aus denen sie ja zum Teil durch Ver-
witterung entstehen. Conditio sine qua non ist hierbei
natürlich eine physikalische Beschafienheit des Bodens,
die eine gleichmässige Verwitterung erlaubt, und außer-
dem die Gegenwart aller der Bestandteile, die diese
Verwitterung begünstigten. Solche sind z. B. Kalk-
und Humusverbindungen, die teils ein Wiederunlöslich-
werden einmal gelöster Stoft'e verhindern oder min-
destens verzögern, teils durch die bei der Vermode-
rung von Humussubstanzen auftretende Kohlensäure
eine Zersetzung der Silikate herbeiführen. — Von
agronomischem Interesse ist ferner der Nachweis, daß
sich eine Klassifikation der Bodenarten auf chemischer
Grundlage durch Ermittelung der löslichen Nährstoft'-
tonerde weit präziser durchführen läßt, als dies durch
rein oberflächliche Prüfung des Materials bisher mög-
lich war. So schlägt der Verf. vor, einen Boden,
unter Beibehaltung der gebräuchlichen agronomischen
Benennungen , folgendermaßen zu bezeichnen : Bei
einem Gehalte an lösHcher Tonerde von
o — 0,7 5 "ii als Sandboden
0,7 s — 2 „ „ lehmigen, tonigen Sandboden
- — 3 t) II sandigen Lehm- oder Tonbodeu
3 u. mehr ,, „ (schwachsandigen) Lehm- oder
Tonboden.
Auch in geognostischer Hinsicht boten die der
Arbeit beigegebenen , äußerst sorgfältig zusammen-
gestellten Änalysentabellen dem Verf. ein wertvolles
Hilfsmittel , auf Grund der Nährstofifanalyse gewisse
Gesetzmäßigkeiten des ziemlicli gleichartigen Materials
in physikalisch-chemischer Beziehung und seiner che-
mischen Zusammensetzung zu ergründen und damit
die Bedeutung der Nährstoffanalyse besonders günstig
zu beleuchten. Aus der Zusammenfassung der Re-
sultate aus dem Bereiche des oberen und unteren
Diluviums seien folgende wichtigsten Sätze wieder-
gegeben.
Die in Salzsäure lösliche Tonerde der Nährstoft'-
bestimmung, welche die Hälfte der bei der Ton-
bestimmung gefundenen Tonerde darstellt, gibt uns
Aufschluß über den Gehalt an tonartigen resp. zeo-
lithartigen Bildungen. Bei gleichem Humusgehalte
enthalten Lehm- oder Tonböden mehr Stickstoft" als
Sandböden. Die Stickstoftabsorption eines Bodens
steigt mit wachsendem Tongehalt , mit wachsendem
Gehalte an löslicher Tonerde und mit wachsendem
Kalkgehalt. Es sind also stickstoffabsorbierende
Silikate, welche Kalk und Tonerde enthalten müssen,
zeolithartige Körper. Wegen der verschiedenen Lös-
lichkeit und der aus diesem Grunde vermutlich ver-
schiedenen Bildung ihrer Tonerde könnte man sich
diese zeolithartigen Körper, ähnliclj dem Anorthit aus
Feldspat, entstanden denken durch Umtausch eines
Si gegen AI und daher die verschiedene Bildung der
Tonerde erklären. — Der Gehalt an löslicher Ton-
erde und Kalk in Verbindung mit einer Stickstoft"-
absorption gestattet uns einen sicheren Schluß auf das
N. F. ni. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
31
Vorhandensein zeoüthartiger Körper, während anderer-
seits eine zu niedrige .'\bsorption bei hohem Tonerde-
gehak uns Kalkmangel im Boden anzeigt. Der Phos-
lihorsauregehalt erwies sich häufig höher bei großem
Humus- und Kalkgehalte. Das Verhältnis von lös-
licher Tonerde zum löslichen Kali dei' Nährstofl-
bestimnnmg läßt uns einen Einblick tun, wieviel Kali
infolge \'erwitterung beim Übergänge von einer Boden-
klasse in die andere verloren ging. Die Durchschnitts-
werte bei dem Verhältnis von löslicher Tonerde zum
löslichen Kali ergeben :
bei
37 untersuchten Mergeln
7
27
60
5°
25
1,33
io3
0,68
10: 1,76
Lehmen u. Tonen 10:1,49
sandigen Lehmen u. Tonen 10: 1,^0
lehmigen, tonigen Sauden 10
San den 10
Schlicken 10
Es geht also beim Verwitterungsprozet;') vom Mergel
zum Lehm Kali verloren, eine Folge der Auslaugung
zeohthartiger Bildungen mit dem bei der Verwitterung
entstehenden, sauren kohlensauren Kalk enthaltenden
Wasser. Der Übergangsprozeß von Lehm zum san-
digen Lehm und von ihm zum lehmigen und rei-
neren Sande konnte aus Mangel an Kalk diese kalk-
haltigen Lösungen in nicht so starkem Grade oder
garnicht mehr entstehen lassen, daher geringer oder
gar kein Verlust an Kali. — Die Arbeit schliel^Jt mit
einer recht anschaulichen Darstellung der Eisenbewegung
im Boden. Dem Verfasser werden alle Interessenten
für seine Mühe und Gründlichkeit, mit der er sich
seiner Aufgabe unterzogen, lebhaft Dank wissen.
Dr. Loebe.
Neues Pottascheverfahren. — Der Verbrauch
an Seife bildet bekanntlich einen ziemlich zuver-
lässigen Mal.istab für den Kulturzustand eines
V^olkes, und es ist daher kein Wunder, daß der
Redarf an dem für die Seifenfabrikation unerläl.i-
lichen Alkali auf der Erde mit der fortschreiten-
den Kultur ihrer Bew^ohner ständig stieg; sind
doch die Zeiten längst vorbei, da das alte Industrie-
land Ägypten mit seiner Trona (Verkehrung von
Natron) und die Aschen der Strandpflanzen den
Pottasche- und Sodabedarf der Erde deckten!
Bekanntlich war es zur Zeit der französischen
Revolution, als Frankreich, durch die Kontinental-
sperre von jeder überseeischen Zufuhr abgeschnitten,
seine gesamte Pottasche auf Schiei-5pulver verar-
beiten mußte, und somit für die blühende Seifen-
industric dieses Landes (französische Seifen werden
noch heute vielfach bevorzugt) nichts übrig blieb,
daß es einem französischen Chemiker L e b 1 a n c
gelang, auf künstlichem Wege mittels eines Schmelz-
prozesses, der zunächst nur ein sehr unreines und
umständlich zu reinigendes Rohprodukt (Rohsoda)
liefert, Soda bezw. Pottasche aus Kochsalz (Chlor-
natrium) bezw. Chlorkalium darzustellen.
Über ein halbes Jahrhundert wurde nach diesem
Leblanc-Prozeß die Hauptmenge des für technische
und hauswirtschaftliche Zwecke unentbehrlichen
Alkalis dargestellt, bis es Solvay Ende der sech-
ziger und Anfang der siebziger Jahre gelang, einen
bereits 1838 von Dyar und Hemming bekannt
gegebenen nassen Sodaprozeß, das sogenannte
Ammoniaksodaverfahren, welches ein hochprozen-
tiges reines Rohprodukt — kalzinierte Soda —
liefert, zu einem fabrikmäßigen auszuarbeiten,
welches sowohl infolge seiner billigen Arbeits-
weise als auch mit Rücksicht auf die große Rein-
heit seines Endproduktes in kurzer Zeit die Leblanc-
Soda aus dem Felde schlug und den Preis der
Soda etwa auf den dritten Teil herabdrückte.
Aber auch der Ammoniaksoda ist bereits eine
gefährliche Konkurrentin in der Elektrolytsoda
erstanden , welche in P'orm von Natronlauge
mittels des elektrischen Stromes (elektrolytisch)
aus Kochsalzlösung (natürlicher oder künstlicher
Sole) gewonnen wird.
Die fast ebenso wichtige Pottaschegewinnung
mul.?te nun die ganze Zeit nach dem umständ-
lichen feurig-flüssigen Leblanc - Prozeß geschehen,
da der Ammoniakprozeß der Sodabereitung wegen
der Leichtlöslichkeit des Kaliumbikarbonats (die
Soda resultiert bei dem Ammoniaksodaprozeß
durch P^inwirkung von Kohlensäure auf ammonia-
kalische Kochsalzlösung — Sole — zunächst als
schwerlösliches Bikarbonat) sich auf die Pottasche-
gewinnung aus Chlorkalium leider nicht übertragen
läßt. Erst in neuerer Zeit ist es nun gelungen,
auch hierfür einen nutzbringenden nassen Prozeß
zu erfinden, und das Salzbergwerk Neu-Staßfurt
bei Staßfurt bezw. dessen chemischer Leiter Prof
Dr. P r e c h t hat das hohe Verdienst, das bereits
von einem französischen Chemiker Engel (Deutsches
Patent 15 218) vor 20 Jahren angegebene Magnesia-
Pottascheverfahren soweit durchgebildet zu haben,
daß dasselbe lebensfähig geworden ist. Während
aber das Ammoniaksodaverfahren direkt das
schwerlösliche Natriumbikarbonat aus der am-
moniakalischen Sole ausscheidet, gelingt es nach
dem Magnesiapottascheverfahren zunächst nur, ein
unlösliches Zwischenprodukt , das Kaliummagne-
siumkarbonat aus einer mit Magnesiumkarbonat
versetzten Chlorkaliumlösung mittels Kohlensäure
abzuscheiden, welches aber mit Wasser leicht in
seine Komponenten, die leichtlösliche Pottasche
und das unlösliche Magnesiumkarbonat, zerlegt
werden kann, von denen die erstere durch Ein-
dampfen der wäßrigen Lösung nach Trennung
von dem unlöslichen Erdkarbonat als chemisch
reines Kaliumkarbonat, als „Krystallpottasche'' mit
2 Mol. Wasser (ein technisch gänzlich neues Pro-
dukt) in feinen Krystallen oder kalziniert wasser-
frei mit 99 — 100 "/,j Gehalt an K.,COo gewonnen
wird. Dieses in den Deutschen Patenten 50 786,
53 574, 55182, 57721, 125987, 141 808, 143408,
143409, 143594, 143595 und 144742 nieder-
gelegte Verfahren stellt einen Triumph exakter
technischer Arbeit dar und die E n gel - Pre c h t-
sehe Magnesiapottaschc dürfte auch mit Rück-
sicht darauf, daß sie nicht, wie ihre jüngste Kon-
kurrentin, die Elektrolytpottasche bezw. -Kalilauge,
von der Konjunktur des Chlorkalks abhängig ist,
noch lange ihren Platz behaupten, namentlich da
32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2
auch von anderer berufener Seite (vergl. das Patent
135329 der Deutschen Sol vay- Werke in Bern-
burg) die weitere Ausbildung des alten En gel-
schen Vorschlags in Angriff genommen zu sein
scheint. Ullrich Sachse.
Bücherbesprechungen.
Meyer's grofses Konversations-Lexikon. Ein Nach-
schlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. gänzlich
neubearb. u. verm. Aufl. 4. Band. Chemnitzer bis
Differenz. Leipzig u. Wien. Bibliographisches In-
stitut 1903.
Dafth-, daß sich das Lexikon eifrig bemüht, den
Zeitbedürfnissen Rechnung zu tragen, ist der vor-
liegende Band wiederum ein Beweis; so ist „China"
ein besonders langer, gut durch Karten und Ab-
bildungen unterstützter Artikel gewidmet. „Deutsch-
land" ist ganz hervorragend berücksichtigt; der Ar-
tikel umfaßt S. 761 — 837 und bringt eine grosse An-
zahl Karten und sonstige Illustrationen ; dazu kommen
noch über 50 ebensogut ausgestattete Seiten mit
Kapiteln wie Deutsche Literatur, Philologie usw. Der
vorliegende Band bringt auch einen gut geschriebenen
Artikel „Darwinismus".
Briefkasten.
Herrn Dr. K 1 ingcl h u fi er in ÜlTenburg (Baden). —
Zu 1). Eine Methode, welche Reptilien und Am-
phibien mit Erhaltung aller, auch der vergänglichsten, Farben-
töne sicher zu konservieren gestattet, gibt es nicht.
Namentlich die zarten roten und gelben Karben der Unterseite
vieler Amphibien verblassen in jeder erprobten Konser-
vierungsflüssigkeit mehr oder weniger. Reptilien bewahre
man stets in Spiritus auf, und zwar größere Schlangen in
unvcrdiinr.tcm , alle anderen Reptilien in 75— 9° "o Spiritus,
und injiziere sie mit Spiritus in gleicher Stärke. Amphibien
töte man in einer Mischung von 50 Teilen Spiritus, 50 Teilen
Wasser, I — 2 Teilen Formollosung (die gewöhnliche, überall
erhälüiclie Lösung!), welche man oftmals verwenden
kann. Nach einer Stunde oder einem Tage wandern sie , in
die richtige Lage gestreckt, in ca. 70 "/„ , am besten auch
schon gebrauchten Spiritus. Neben dem Lichtabschluß scheint
Zusatz von elw.as Salz (eine Messerspitze bis '/, Theclöffcl für
kleine bis mittlere Tiere) nach meinen neuesten Erfahrungen
das Ausbleichen hinzuhalten. (Im Berliner Museum für Natur-
kunde befinden sich übrigens unter vielen verbleichten einige
wenige ältere Spirituspräparatc, welche seit ca. 50 Jahren ilire
Farbenpracht und Form fast unverändert bewahrten, dank
einer besonderen, vielleicht rein zufälligen Zusammensetzung
der Konservierungsflüssigkeit.)
Zu 2). Diese Frage läßt sich ohne nähere Angaben nicht
genügend beantworten. — Große Fische läßt man am zweck-
mäßigsten von einem tüchtigen Präparator ausstopfen und ver-
giften ; kleinere Fische werfe man lebend in eine Mischung
von I Teil Formollösung und 20 — 40 Teilen Wasser, sie be-
wahren hier Form und Färbung meist ausgezeichnet. Nur die
vergänglichsten Farben, wie das zarte Rot des Goldfisches,
verbleichen leider auch hier. Durch Zusatz von Salz läßt
sich dem in etwas steuern. — Man kann bei Raummangel
in einem gewöhnlichen grcßen .\kkumuIatorenglase im Format
eines Aquariums, mit einer angesclilifl'enen Glasscheibe zuge-
deckt, eine ganze .\nzahl Fische leicht und billig konservieren,
da die Flüssigkeit nur sehr langsam verdunstet.
Dr. W. Wolterstorff.
Schriften zur Deszendenzfrage
aus dem Verlage von Gustav Fischer in Jena.
Rnpr-lrpl Ernst, Dr., Prof. an Qjg NatUPail-
1. ItliC».^l\-d j (lej. Universität Jena,
schauung von Darwin, Goethe und Lamarck.
Vortrag in der ersten öffentlichen Sitzung der 55 Ver-
sammlung deutscher Naturforscher u. Aerzte zu Eisenacli
am 18. Sept. 1889 gehalten. 1882. Preis: 1 Mark 50 Pf.
ri X • Oscar, Direktor des anatomisch - bio-
ilCl IV\ 1.^1 logischen Instituts der Universität Berlin.
Die Lehre vom Organismus und ihre Be-
ziehung zur Sozialwissenschaft. |^g";^''jf 'j,^-;
erklärenden Zusätzen und Litteraturnachweisen. 1889.
Preis: 1 Mark.
Jaekel, ^-^^1;°' "eher verschiedene Wege
phylogenetischer Entwickelung. ^,^;\,,/d^„„^;i^-
Abdr. aus den Verhandlungen des V. internationalen
Zoolocren-Kongi-esses zu Berlin. 1901. Preis: 1 Mark
50 Pf.
Knkpn '^'■"**' P™f. der Geologie und Palaconto-
J-^^'i^d) Palaeontologie in Tübingen.
logie und Descendenziehre. J::^^^^^
der naturw. Hauptgruppe der Versammlung deutscher
Naturforscher und Aerzte in Hamburg am 28 Sept. 1901.
Mit 6 Figuren im Text. 1902. Preis: 1 Mark.
IVTni'/'lf Hpiiirlch, Direktor der Landwirt- P|]j|o-
lVJ.ctl/jtll'j Schaftsschule zu Weilliurg a. d. Lahn.
Sophie der Anpassung. 'B'''^* =^"f^ ^'\" ^■^''"'^
r" r a_ desSammelwerkes„Natur
und Staat"). Preis: 6. Mark, geb. 7 Mark.
T?rkön W'l'i'Pl» Prof. der Zoologie und vergleichenden
JAÜScl, Anatomie an der königl. Universität Modena.
Die progressive Reduktion der Variabilität
und ihre Beziehungen zum Aussterben und
zur Entstehung der Arten, j^ jt^^^^^^^-^^
aus dem Italienischen übersetzt von Prof. Dr. Iloinricll
Bosshard, Zürich. 1902. Preis: 2 Mark 50 Pf.
>nin "^'11""? ?"■ P^'' ' Darwinismus und
t^flllj Magdeburg
Sozialwissenschaft.
Staat") Preis: 3 Mark, geb. 4 Mark.
pn oaI '\' ^f •' ^"r ^'?^- '^^ Zweckmässigkeit
^",'-i'-'*) Zoologie m (.Tiessen.
und Anpassung. ^J'^p^j.«"'^'^'^'' ^«'^«- ^^^^- ''''''*'=
Weismann, ^^f^f ' Vorträge über Descen-
denZtheOrie, 1?.'^=*!'^^. an der rniversität F>e.burg i. B.
: Mit 3 farbigen Tafeln und 131 lext-
fi<ruren. 2 Bände. 1902. Preis: 20 Mark, eleg. geb.
22 Mark 50 Pf.
Zipo'lpv Heinrich Erust, Dr, [jeber den der-
/JlC^lClj Prof. an der Univ. Jena.
zeitigen Stand der Descendenziehre in der
ZoolOQJe Vortrag gehalten in der gemeinschaftlichen
uy . i^ij^ung der naturwissenschaftlichen Haupt-
gruppe der 78. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte zu Hamburg am 28. Sept. 1901. Mit An-
merkungen und Zusätzen. 1902. Preis: 1 Mark 50 Pf.
Rui
(Bildet auch den 2. Band de-s
Sammelwerkes „Natur und
Sp
Inhalt; Prof. Dr. Duden; Über die Fortschritte in der Erkenntnis der radioaktiven Stoffe. — Dr. J. M e i s c n h e i m e r : Die
bisherigen Forschungen über die Beziehungen der drei Südkontinente zu einem antarktischen Schöpfung.szentrum. —
Kleinere Mitteilungen: F. Schaefer: Die SchenkeldrUsen der Eidechsen. — Dr. Otto Wilckens: Über die Be-
deutung von Kruptiv-l'.reccien als erdgeschichtliche Urkunden. — S. Lussana: Die thermischen Eigenscliaften der
festen und flüssigen Körper. — A. Fliegner: Über den Clausius'schen Entropiesatz. — Dr. R. Gans: t'ber die Be-
deutung der Nährstoffanalyse in agronomischer und geognostischer Hinsicht. — Prccht: Neues Pottascheverfahren. —
Bücherbesprechungen: Meyer's großes Konversations-Lexikon. — Briefkasten.
Veranlwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie. Gro-ss-LichterfeUle-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. PäU'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
.*^.3
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Soniitaor, den 18. Oktober 1903.
Nr. 3.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlangen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Uringegeid bei der l'ost
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5263.
Inserate : Die zweigcspaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entspreehender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhiindlerinscrate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Zusatzfiedern (Aphlebien) der Farne.
Nach einem Vortrag vor der Deutschen Geologisch
[Nachtlriick verboten.] Von H.
Zur Terminologie.
Um sich genau verständigen zu können, sei
zunächst einiges zur Terminologie angegeben, wie
sie am besten für unseren Gegenstand gebraucht
werden kann.
Im wesentlichen lassen sich nach ihren Haupt-
funktionen drei Sorten von Farnwcdeln (frondes'l)
unterscheiden. Entweder nämlich dienen sie durch
Entwicklung von Sporangien sowohl der Fort-
pflanzung als auch der Ernährung (der Assimila-
tion), sie sind mit einem Wort Trophosporo-
phylle, oder sie dienen nur der F'ortpflanzung,
sie sind S p o r o p h y 1 1 e , oder aber sie dienen
nur der Ernährung, sie sind T r o p h o p h y 1 1 e. hn
Dienste der beiden genannten Hauptfunktionen
stehen alle übrigen Funktionen, so daß Wedel wie
z. B. die „Nischenblätter", denen bei kletternden
Farnen die- Aufgabe zufällt, hineinfallendes IVIaterial,
') Es wäre zweckdienlich, Wedel (frondcs) und Blätter
(folia, phylla) zu unterscheiden ; leider aber ist die Unter-
scheidung terminologisch nicht durchgeführt, denn man spricht
z. B. zwar von Farn wedeln, aber von den Blättchen
(ioliola) der Wedel.
en Gesellschaft (Sitzung \-om l-'ebr. 1903) in Berlin.
Potonie.
das durch Verwesung zu Humus wird, zu sammeln,
so daß diese Blätter gewissermaßen wie Blumen-
töpfe wirken, im weiteren Sinne zu den Tropho-
phyllen gehören.
Die Teile des Farnwedels lassen sich, wenn
wir als Einteilungsgrund wiederum die Funktionen
nehmen, in eine ganze Anzahl Kategorien bringen.
Soweit hierbei nur die äußerlich besonders auf-
fallenden Teile in Rücksicht gezogen werden, wie
wir sie im folgenden erwähnen müssen, würden
zunächst die Träger den Anhangsorganen derselben
gegenüberzustellen sein. Wir hätten also:
I. die Träger, Spindeln, Achsen, R h a c h i -
den, d.h. die Rhachiopterides der Paläobotaniker.
II. Die Anhangsorgane gruppieren sich in
1. Spreuschuppen, Paleae, und in
2. B 1 ä 1 1 c h e n (f o 1 i o 1 a), von denen diejenigen
erster Ordnung als Fiedern (pinnae), diejenigen
höherer Ordnung als Fiederchen (p i n n u 1 a e) unter-
schieden werden. Diese können mannigfachen Ver-
richtungen obliegen. Nach den wesentlichen der-
selben, wären zu unterscheiden :
a) Trophosporofoliola. Dieser Ausdruck
34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 3
versteht sich durch das Vorausgehende von selbst ;
die Trophosporofoliola sind danach Fiedern (Tro-
p h o s p o r o p i n n a e) oder Mederchen (T r o p h o -
s p o r o p i n n u 1 a e), die beiden Hauptfunktionen
gerecht werden.
b) T r o p h o f o 1 i o 1 a , oder je nachdem
man genau ausdrücken will , ob Fiedern erster
Ordnung oder Fiedern höherer Ordnung gemeint
sind iTrophopinnae resp. Trophopinnulae.
Die Trophofoliola dienen nur der Ernährung.
c) S p o r o f o 1 i o 1 a. Die so bezeichneten Fiedern
(Sporo p in nae) oder Fiederchen (Sporopin-
nulae) dienen nur oder wesentlich der Fort-
pflanzung.
Zu diesen kommen nun noch
d) die A ]i h 1 e 1 1 i e n (p- Aphlebia Potonie, Aph-
Fig. I. Vollkommen erwachsenes Wcdclstiick von Pecopteris plumosa (aus dem produktiven Karbon) mit Aplilebien auf der
Hauptspindel. (Nach Polonie, Die Entwicklung der Pflanzenwelt, in Kraemer's Weltall und Menschheit. Bong & Co. in Berlin.)
N. F. m. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
35
lebia Presl ex parte 1838 non Brunner von VVatten-
wyl 1865) Adventivfiedern (pinnae adventitiae), Zu-
satz fi e der 11 , ErstHngsfiedern, anomale, acces-
sorische Fiedern, Rhacophyllum Scliimper, Pacliy-
phyllum Lesquercux), die Schutztiedcrn sein können
oder besonders der Wasseraufnahme angepaßt,
Taublättchen (If ydrofol iola und zwar
-pinnae oder -pinnulae) sind.')
Diese physiologische Bedeutung der Aphlebien
zu begründen und ferner ihre morphologische
Natur zu erörtern, ist der Flauptzweck einer Ab-
handlung, die ich in den Berichten der Deutschen
Botanischen Gesellschaft 1903 veröffentlicht habe,
aus der das Folgende im wesentlichen ein ins-
besondere durch zahlreiche Illustrationen einem
weiteren Leserkreise angepaßtes Referat ist. Schon
vorher hatte ich eine Notiz zu dem Gegenstande
in dem großen Werk „Weltall und Menschheit"
(Bong & Co. in Berlin) geboten.
oft kleinere Fiedern resp. Fiederchen zwischen den
größeren tragen, d. h. daß eine „unterbrochene"
Fiederung (iblia interrupte-pinnata) vorhanden ist.
Der Kürze halber seien solche kleineren Fiedern
als „Z w isch en fiedern" bezeichnet.
Historisches.
Da sich die Aphlebien leicht von den Wedeln
lösen, sie daher fossil oft einzeln gefunden werden,
glaubte man früher, um so mehr als ihre Form
darauf zu deuten schien, daß sie Algen seien. So
z. B. Gutbier 1835. Lindley und Hutton bildeten
(1833 — 35) einen Wedel der Pecopteris plumosa
(vgl. unsere Fig. i) mit noch ansitzenden Aphle-
bien ab, sprachen aber die Vermutung aus, daß
es sich in diesen Gebilden um das Individuum
einer besonderen Farnspezies handle, die die Haupt-
spindel des Kxemplares der Pecopteris plumosa
hinaufgeklettert sei, indem sie die Aphlebien aus-
A B
Fig. 2. Ilcmitelia capensis. A (nach Christ): oben ein Wedclstückchen mit ,, normalen" Foliola, darunter eine Aphlebie, linlis
davon ein Stückchen derselben vergrößert. — B (nach Schimper) Basis des Wedelslieles mit Aphlebien.
Zwischen den typischen Aphlebien und den
anderen spreitig entwickelten Foliola gibt es alle
möglichen Übergänge; sofern diese Zwischen-
bildungen mehr zu den ,, normalen" Foliola neigen,
sei für diese in Zukunft der Ausdruck aphle-
boide Bildungen, -Foliola usw. reserviert.
Endlich ist noch darauf aufmerksam zu machen,
daß die Träger, namentlich paläozoischer Wedel,
') ,,Taublättcr" haben z. B. die Hymenopbyllaceen. Ein
Wassertropfen, der sonst in Tropfenform auf dem Blatt ver-
bleibt, ohne CS zu benetzen, und daher leicht herunterfallt,
breitet sich bei den Hymenophyllaceen auf den Blättern aus
und wird eingesogen.
drücklich mit unseren heutigen tropischen klettern-
den Lygodien und Hymenophyllaceen vergleichen.
Goeppert (1836) schloß sich dem an. Presl hatte
schon vorher (1833) ebenfalls denselben Standpunkt
eingenommen ; ihm waren übrigens die Aphlebien
an der Wedelstielbasis der heutigen tropischen
Hemitelia capensis bekannt: aber auch diese hielt
er für eine eigene Pflanze, und zwar für eine Hyme-
nophyllacee. Vgl. unsere Figuren 2 und 3, welche
letztere zum Vergleich einen Hymenophyllum-
wedel veranschaulicht.
Wegen des „Mangels von Adern" in den in
Rede stehenden Aphlebien wies dann A. Brong-
36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3
niardt (1836) zunächst aufjungermannia und Leber-
rnoose überhaupt als rezente Vergleichsobjekte
hin. Später (1849) läßt dieser Autor die syste-
matische Zugehörigkeit ganz zweifelhaft.
Noch in den 50 er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts waren Paläobotaniker der Meinung, daß
die Aphlebie von Pecopteris plumosa eine be-
sondere Spezies sei.
Fig. 3. Hymcnophyllum pr.itervisum. Ein Wedel , 2 BlaU-
zipfel u. I Sorus. Alles vergr. (nach Christ).
Schimper hat dann (1869) die organische Zu-
sammengehörigkeit der Aphlebien zu den Wedeln,
auf denen sie sitzen, angenommen, war aber zu
keinem rechten Entschluß gekommen, um was es
sich nun eigentlich in ihnen handele. Auch Stur
(1875) betont den organischen Zusammenhang; er
erklärt sie für „Stipulargebilde", die nicht nur an
der Basis der Hauptspindel, sondern auch an der
Basis von Primär- bis Tertiärspindeln auftreten.
Y\g. 4. Marattia fraxinea. Ganz, junger Wedel mit den
beiden grolJcn dickfleischigon Nebenblattern (nach J. Buchanan).
Sie hätten nach diesem Autor die Aufgabe gehabt,
„das in dem ersten Entwicklungsstadium begriffene
Blatt selbst, als auch die respektiven Teile des-
selben .... besonders einzuhüllen und deren Aus-
bildung zu schützen." Er stellt schließlich alle
aphlebiierten fossilen Arten zu den Marattiaceen,
da diese, wenn auch nur an der Basis ihrer Haupt-
wedelspindeln, wohl individualisierte Nebenblätter
(Stipulae) besäßen. — Vgl. unsere Figur 4.
Zur Physiologie der Aphlebien.
Die eben erwähnten dickfleischigen Neben-
blätter der Marattiaceen gewähren den sich ent-
wickelnden, von ihnen rechts und links flankierten
Trophosporofrondes einen Schutz, so lange die
letzteren sich noch in ihrem allerfrühesten Jugend-
zustande befinden. Raciborski namentlich hat jedoch
(1902J noch auf eine andere, vielleicht wichtigere
P'unktion dieser Nebenblätter hingewiesen, indem
sie nämlich nicht nur, wie den Gärtnern bekannt,
in den Kulturen, sondern auch in der freien Natur
als Fortpflanzungsorgane dienen, die leicht xAdventiv-
knospen bilden.')
Hemitelia capensis besitzt — wie gesagt —
ebenfalls an der Basis des Wedels leicht abfällige
blattartige Gebilde. Auch diese sind bereits voll
entwickelt, während sich der dazu gehörige
Wedel noch im ersten Jugendzustande befindet.
Daraus geht hervor, daß ihre Funktion wesentlich
dem Jugendzustande des zugehörigen Wedels zu-
gute kommt. Daß sie etwas anderes als Schutz-
Fig. 5. Trichomancs reniforme. Wedel in nat. Größe (nach
Prantl).
Organe gegen mechanische Angriffe, wie die Ma-
rattiaceen-Nebenblätter in der ersten Jugend, oder
gegenVerdunstung, wie Spreuschuppen, sein müssen,
geht aus ihrer Beschaffenheit hervor. Sie erinnern
schon äußerlich gesehen und ihrem Baue nach an
Hymcnophyllum, sind also nicht wie die Spreu-
schuppen und die sonst nur als Decken funktio-
nierenden Organe aus trockenen Geweben zu-
sammengesetzt; auch durch ihre zarte Gestaltung
lassen sie sich physiologisch nicht zusammen mit
Organen wie den Knospenschuppen bringen;
es liegt also ihre Deutung auf Taufoliola sehr nahe.
Goebel sagt (1898 — 190 1) von den Hemitelia-
Aphlebien : „Meiner Ansicht nach, welche auf dem
Aussehen und dem anatomischen Bau .... be-
gründet ist, handelt es sich um eine Ausbildung
der basalen Blattfiedern zur Wasseraufnahme. Die
Pflanze wächst in feuchten Schluchten, in der Nähe
von Wasserfällen etc. Dieser Standort hat, wie
') Vgl. Naturw. Wochenschr. vom 10. Aug. 1902, p. 536.
N. F. III. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
37
bei den Hymenophyllen . . . ., eine Veränderung
zur Folge gehabt, welche hier, sich aber nur auf
einen Teil des Blattes erstreckt. Die basalen
P'iedern sind fein zerteilt , die Spreite ist viel
weniger entwickelt als bei den „normalen" Blatt-
fiedern .... Sie ist dünn, wahrscheinlich be-
netzbar und gleicht in ihrer Struktur der der ....
Teratophyllum-Blätter insofern, als zwar auch hier
auf einer Seite des Blattes noch Spaltöffnungen
vorhanden, die Intercellularräume aber sehr klein
sind, l^ci den Hymenophj'lleen ist die .... an-
Fig. 6. Wedclspitze von Ne[ilirolcpis e.xaltata. Jede Fieder
hat einen nacli oben gcrichtcleii Dcclilappcii ent\vicl<elt, der
die eingerollte Wedelspitze deckt. (Xaeli (loehel, Organo-
graphie.l
sieht auf gewisse andere bei Fossilien vorkommende
Aphlebien gleicher Form.
Zwischen Folioiis, die ausschließlich oder fast
ganz dem Schutz (mechanischen oder gegen zu
starke Verdimstung) zarterer, in der Entwicklung
begriffener Organe dienen, und den Trophofoliolis
oder Trophosporofoliolis gibt es alle denkbaren
Übergänge. Vergleiche z. B. diesbezüglich unsere
Figuren 6 u. 7.
Die Tatsache nun, daß bereits vollständig
ausgewachsene Aphlebien an noch ganz
jugendlichen Wedeln von Pecopteris plu-
mosa vorkommen (Fig. 8), spricht dafür, daß die
F"unktion der Aphlebien jedenfalls mit dem Jugend-
zustande der Wedel zusammenhängt, und bei dem
zweifellosen Schutz, den sie den noch eingerollten
Fiedern der genannten Spezies durch ihre Stellung
bieten, ließe sich ihre Bezeichnung als Schutzfiedern
gewiß rechtfertigen.
Die Aphlebien wären danach — wenn wir
außer dem in Figur 7 abgebildeten Beispiel bei
Gleicheniaceen auch einmal eins der Angiospermen
heranziehen — etwa mit den Nebenblättern des
Tulpenbaumes (I^iriodendron tulipifera) zu ver-
gleichen, die ebenfalls schon ganz erwachsen sind,
wenn die Hauptblattspreite sich noch zwischen den
miteinander verwachsenen Nebenblättern in der
Knospenlage eingebettet findet, zusammen mit
dem Vegetationspimkt der Sproßspitze.
^■llli
'^iiiif i
if^lüP^
II. B,
Fig. 7. Wedelteile von Gleichenia dichotoma. Knospen durch Schutzfiedern .\ bedeckt. 111 eine einzelne Schulzfieder. (Nach
Goebel, Organographie.)
geführte Anpassung eine ganz allgemeine geworden,
wir kennen keine Hymenophj'llee, die mit Spalt-
öffnungen versehen wäre."
Die andere IIymenoph)'llaceenBlattform ist die
in Figur 5 abgebildete, wir erwähnen sie mit Rück-
Gewisse Tatsachen machen es nun aber not-
wendig, die Frage zu ventilieren, ob die Aphle-
bien von Pecopteris ])lumosa nicht in erster Linie
in der Tat Hydrofoliola sind. Das kräftige Wachs-
tum junger Wedel, die sich zu bedeutender Größe
38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3
entwickeln, macht einen ergiebigen Wasserzufluß
notwendig; um so mehr, so lange das epidermale
Gewebe noch nicht hinreichend entwickelt ist und
genügenden Schutz gegen die Verdunstung zu
bieten vermaß.
daß sie — wie vorn erwähnt — sogar als Hymeno-
phyllaceen beschrieben worden sind.
Sehr bemerkenswert ist es nun, daß an ganz
jungen, unentfalteten, fossilen Wedeln Aphlebien
vorkommen, die als Schutzfiedern deshalb nicht
recht angesprochen werden können, weil sie nichts
zu schützen haben. Vgl. Fig. 9.
xM.
Fig. 8. A. Rechts junger Wedel von Pecopteris plumosa (links
einige ausgewachsene Spreitenteilfetzen) , dessen Hauptspindel
schneckenförmig eingerollte Fiedern i. Ordnung und Aphle-
bien trügt. (Aus l'otonie, in Weltall und Menschheit.) — B.
Junger, noch unentwickelter Wedel von Pecopteris plumosa
mit Aphlebien. (.\us l'otonie. Per. d. D. botan. Ges.). —
A u. B in natür). Gr. — l'rodiikt, Karbon des Saar-Reviercs.
Die Aphlebien der Pecopteris plumosa haben
durchaus den Habitus gewisser ,, Taublätter", d. h.
Blätter, die befähigt sind Tau zu sammeln und
für die Pflanze nutzbar zu machen; sie gehören ja,
äußerlich gesehen (mehr kennen wir nicht), zum
Ilymenopliyllaccen- P)'i)us, und zwar so auffallend.
%-
H,
'TV.
V
1 V
au der I'.asis wegpräparierte Ficder , um die Ansatzstclle der
darunter liegenden Fieder sichtbar zu machen. — Rotliegcndes
von Thüringen.
Zunächst sei darauf hingewiesen, daß die dorsi-
ventral gerichteten beiden Aphlebienzeilen, die den
abgebildeten, noch eingerollten, kräftigen, jungen
Wedel in voller P^ntfaltung und offenbar definitiver
Größe bekleiden, wiederum dem Blatttypus der
Ilyinenophyllaceen angehören, indem sie an die
kreis-nierenförmig beblätterten Trichomanes-Arten
(Fig. 5) erinnern, einen Typus, den der Paläo-
botaniker als Cyclopteris l)ezcichnet. Zwischen
N. F. III. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39
den ebenfalls wie Buchdeckel zusammen passenden
Aphlebien von Cyclopteris-Form finden sich nun
aber an unserem Rest (Fig. 9) keine jugendlichen
anderen Fiedern, die geschützt werden könnten.
Um diesbezüglich ganz sicher zu gehen, habe ich
eine Aphlebia partiell in der Nähe ihrer Ansatz-
stelle wegpräpariert, um mich
genau zu vergewissern, ob wirk-
lich nichts unter ihr liegt. Es
kam aber — wie die obere Abb.
von Figur 9 zeigt — nur die
darunter liegende Aphlebie der
anderen Zeile zum Vorschein. In
diesem Falle würde man also die
Aphlebien bis auf weiteres viel-
leicht besser als H y d r o p i n n a e
ansehen, mit der Einschränkung
freilich, daß die jeweilig gipfel-
ständigsten doch wieder insofern
als Schutzfiedern wirken, als sie
die eingerollte Wedelspitze schüt-
zen. Durch die nach dem Zen-
trum der Wedelspitzen - Spirale
strahlenden, hier befestigten Aphle-
bien decken sich mehrere dersel-
ben gegenseitig partiell, so daß in
der Tat gewiß ein gutes Schutz-
mittel entsteht, das zu demjenigen
hinzukommen würde, den schon
die Einrollung der Wedelspitze
allein bewerkstelligt. Das Vor-
handensein dieser schützenden Ein-
rollung treibt also wiederum den
Gedanken in die Richtung, daß
die Aphlebien nur mehr zufällig
Schutzmittel, in erster Linie aber
Hydropinnae sind.
Eine andere große Cyclopteris-
Form wird noch an einem Rest
aus Westfalens Karbon in organi-
schem Zusammenhang mit einem
gut erhaltenen Wedelrest einer
imparipinnaten Neuropteris von
V. Roehl abgebildet. Dieses inter-
essante Wedelstück (Fig. 10), ist
über 2 dm lang. Die Hauptspindel
ist einmal-gegabelt und das Fuß-
stück der Gabel trägt große I^ie-
dern von Cyclopteris trichomanoi-
des, die bis dreifach - gefiederten
Gabeläste jedoch Neuropteris-Fie-
dern. Es ist ein glücklicher Zufall,
daß bei diesem Rest die — wie
wir schon sagten — offenbar
an den ausgewachsenen Wedeln
leicht abfälligen Aphlebien noch
haften geblieben sind.
Auch sonst sind großcyklop-
teridische Fiedern als Aphlebien größeren Wedel-
resten ansitzend bekannt ; so liegt mir ein schöner
Rest von Odontopteris Coemansi mit cyklopteridi-
schen Aphlebien vor (vgl. meine „Abbildungen
und Beschreibungen foss. Pflanzenreste". Lief I
1903)-
Die leichte Abfälligkeit der Aphlebien ins-
besondere weist darauf'^hin, daß ihre Funktion im
Dienste der jungen, im .Aufwachsen begrififenen
Wedel steht.
I'ig. 10. Ncuroptt:
Aus dem
ris mit Cyclopteris als Aphlebienlorra in '/^ der luit. GröUe. —
produktiven Karbon VVestphalens. (Nach v. Roehl.)
Zur Morphologie der Aphlebien.
Hat man die Funktion eines Organes hin-
reichend erkannt, so ist damit die weitere Er-
forschung desselben noch bei weitem nicht be-
40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
endet. Besonders wichtig ist dann noch die Frage :
Wie knüpft sich dasselbe phylogenetisch an frühere
Organe an ?
Ich habe diesbezüglich zum Ausdruck gebracht,
daß sie vielleicht als Überreste ( Erinnerungen! an
gewisse Eigentümlichkeiten zu deuten seien, die
die Wedel der ältest bekannten Farne zeigen, also
die Vorfahren der aphlebiierten Farne.
Die ältesten Farne, die wir kennen, diejenigen
des Silur und Devon, besitzen keine typischen
Aphlebien, dafür ist aber das (stete?) Vorhanden-
sein von „Zwisc h enfiede r n" oder -Elederchen
bemerkenswert. Es kommt hinzu, daß die Fieder-
chen bei den meisten dieser Farne (den Archae-
opteriden) zum F"ächeraderungs- Typus gehören,
wie Cyclopteris, und daß ferner der Typus Rhodea,
der dem vieler anderer Aphlebien habituell gleicht
(so dem von Pecopteris plumosa, Alloiopteris
Kig. II. Alloiopteris quercifolia mit Rhodca-ähnliclicii Aplilc-
bien an der anadroraen Basis der Ficdern I. Ordnung. — ^ .\us
dem prod. Karbon.
(Fig. ii) USW.), insbesondere die ältesten und
älteren Formationen des Palaeozoicum (inkl. Culm)
charakterisiert. Wenn wir nach Analogie von
Fällen aus der heutigen Pflanzenwelt annehmen,
daß ursprünglich die Zwischenfiedern neben der
Funktion der Ernährung, da sie die am Wedel
zuerst entwickelten sind, auch die des Schutzes
der später entwickelten Fiedern und der Wasser-
aufnahme übernehmen, so ist es wohl begreiflich,
wenn sich im Verlaufe der Generationen auch eine
formale Verschiedenheit zwischen den zuerst ge-
bildeten Fiedern und den späteren zur Geltung
bringt, wie wir sie dann bei den typisch aphlebi-
ierten Farnen beobachten. Das gilt für die cyklop-
teridisch aphlebiierten F'arne, deren Aphlebien etwa
die Stellung von Zwischenfiedern einnehmen.
Bei den aphlebiierten Farnen, deren Aphlebien
Basalfiedern von Fiedern erster Ordnung sind, wie
das bei Pecopteris plumosa zu sein scheint und
für viele andere fo.ssile Wedel sicher ist (Fig. 1 1
u. 12), gilt dieselbe Erwägung wie im ersten Falle,
denn auch die basalen Fiederchcn oder Fiedern
erster Ordnung sind die erstentwickelten und daher
die geeignetsten, sich einem Schutzbedürfnis der
später entwickelten anzupassen und der Wasser-
aufnahme für den Gesamtwedel.
In beiden Fällen handelt es sich um dieselbe
Erscheinung, wie wir sie auch sonst an manchen
Blättern beobachten. Berry z. B. hat (1901) nach-
zuweisen gesucht, daß die so trefflich schützenden
Nebenblätter von Liriodendron tuli])ifera phylo-
genetisch aus Basallappen der Ilauptblatlspreite
hervorgegangen sind.
Eine scharfe Grenze zwischen typischen Aphle-
bien und normalen Foliola ist hinsichtlich der Form
derselben und ihrer Stellung denn auch in der
Fig. 12. Ovopteris Karwinensis mit .\phlcbicn an der kata-
dromen Basis derFiedcrn I.Ordnung. — .\us dem prod. Karbon.
Tat nicht vorhanden. Von den aphleboVden Bil-
dungen zu den ganz von den „normalen" Fiedern
abweichenden Aphlebien gibt es alle nur irgend
ausdenkbaren Übergänge. Es liegt also auf der
Hand, eine nachträgliche .Anpassung ursprünglich
„normaler" Fiedern an Sondertätigkeiten anzu-
nehmen, woraus die Aphlebien resultieren. Und
waren die allerersten Farne solche mit Tauwedeln,
wie das nach ihrem Aufbau gewesen zu sein
scheint, so werden eben die Aphlebien es sein,
die noch am meisten an die ursprünglichen Formen,
an die Vorfahren erinnern. Es werden also eher
die sog. normalen Fiedern sein, die sich nach-
träglich weiter umgebildet haben als die Aphle-
bien. Heutzutage zeigen nur noch verhältnismäßig
wenige Farne Aphlebien und aphleboide Bildungen :
der Schluß, daß die Aphlebien daher vielleicht auf
N. I'. III. Nr.
Natui- wissenschaftliche Wochenschrift.
41
den Aussterbeetat gesetzt sind , ist daher be-
rechtigt.
Das bisher bekannte Material drängt demnach
zu der \^ermutung, daß die alt - paläozoischen
Farne allmählich eine Arbeitsteilung ihrer Foliola
bis zur Bildung typischer Aphlebien, wie sie im
mittleren produktiven Karbon zahlreich sind, ein-
geleitet haben und daß dann wieder eine Rück-
bildung derselben stattgefunden hat, worauf die
häufigen Ovopteris- Arten des oberen Palaeozoicum
hinweisen, die oft nur aphleboide Bildungen be-
sitzen; endlich ist die verhältnismäßige Seltenheit
solcher Bildungen und von Aphlebien zur Jetzt-
zeit zu beachten.
Überall, wo wir hinblicken, sehen wir in den
Formen von Primärwedeln oder Primärfiedern oder
-Fiederchen Anklänge an früheres: die Primär-
wedel der heutigen Farne sind vielfach gegabelt,
auch dann, wenn die späteren Wedel in ihren
fertigen Zuständen durchaus fiederig verzweigt
sind, und erinnern so an die ungemeine Häufig-
keit der Gabelwedel des Palaeozoicum ; bei Rha-
copteris asplenites aus dem mittleren produktiven
Karbon sehen wir die basalsten Fiedern in ihren
P"ormen zu Rhodea neigend; bei den cyklopte-
ridisch aphlebiierten Wedeln sind die normalen
Fiedern ganz abweichend von denen der ältesten
Farngruppe der Archaeopteriden gebaut, während
die genannten Aphlebien an diese Gruppe stark
erinnern.
Versuchen wir daher die beiden ältesten Farn-
typen, d. h. die Archaeopteriden und den Rhodea-
Typus phylogenetisch fortzusetzen, so wird man
aus dem Gesagten einen Wink entnehmen können,
indem man Pecopteris-, Ovopteris- und Alloiopteris-
Arten mit Rhodea-ähnlichen Aphlebien oder aphle-
boiden Folioiis von dem T)-pus Rhodea, die Arten
mit Cyclopteris- Aphlebien wie Neuropteris und
Odontopteris hingegen von Archaeopteriden abzu-
leiten versuchen wird.
Kleinere Mitteilungen.
G. Host er mann veröffentlicht interessante
Versuchsergebnisse „Über die Einwirkung des
Kochsalzes auf die Vegetation von Wiesen-
gräsern" in den L.andwirtsch. Jahrbüchern, 30. Bd.,
Ergänzungsbd. 3, 1902.
Noch immer wieder begegnet man dem Zweifel,
ob das Kochsalz auf die Vegetation nützlich oder
schädigend einwirkt, und noch immer ist das
Problem nicht vollkommen gelöst. Verf. unter-
nahm es daher, durch neue Untersuchungen zur
Klärung dieser Frage beizutragen. Die vorliegende
Arbeit befaßt sich ausschließlich mit einzelnen Ver-
tretern der Familie der Gräser, und zwar mit
Holcus lanatus, dem Wollgras oder Honig-
gras, mit Dact\'lis glomerata, dem Knäuel-
gras, sowie mit Phleum pratense, dem Thi-
moteegras. Alle drei Gräser sind häufig auf den
Wiesen anzutreffende Pflanzen.
Die Versuche wurden in verschiedenen Nähr-
medien, nämlich in Erde, Sand und Wasser, teils
in Versuchsliäusern, teils im Freien angestellt.
Dabei stellte sich heraus, daß verschiedener Salz-
gehalt des Substrates die Keimung der Grassamen
in verschiedener Weise beeinflußte, daß 0,5 bezw.
0,75 "/o eine fördernde Wirkung auf die Keimung
ausübte, daß mit dem Steigen des Prozentgehaltes
auf 2 "/„ die Keimung verzögert, und daß bei mehr
als 2 "/o Na Cl die Keimfähigkeit allmählich sistiert
wurde.
Auch die P'ähigkeit zu assimilieren, d. h. mit
Hilfe des Chlorophylls aus Kohlensäure und Wasser
unter der Einwirkung des Lichtes organische Stoffe
aufzubauen, leidet durch die Zunahme des Koch-
salzgehaltes des Nährmediums. Die Assimilations-
energie nimmt bei allen drei Gräsern schon bei
einem Kochsalzgehalt \oii nur 0,05 "„ ab; bei ein-
prozentiger Lösung ließen sich überhaupt keine
Assimilationsprodukte mehr nachweisen.
Interessant ist, in welcher Weise sich der Ein-
fluß des Kochsalzes auf den äußeren Habitus der
Gräser geltend macht. Die Pflanzen nehmen bei
einem Kochsalzgehalt des Bodens, der nicht direkt
schädigend wirkt, allmählich den ("harakter xero-
phytischer') Gewächse an. Ihre Festigkeit wird
größer, wie sich mikroskopisch an der Vermehrung
der Masse der mechanischen Gewebe und Gefäß-
bündel und an der Verstärkung der Außenwände
der Epidermiszellen nachweisen läßt, es werden
besondere Schutzmittel gegen Verdunstung aus-
gebildet, wie sie xerophytisch lebenden Pflanzen
eigentümlich sind, wie z. B. Abnahme der Spalt-
öffnungen an Größe und Zahl, Zunahme der Be-
haarung, Verminderung der Oberfläche und damit
der Möglichkeit zu transpirieren durch Reduktion
der Zwischenzellräume und dadurch bewirktes
engeres Aneinanderschließen der Blattparenchym-
zellen.
Der Einfluß des Kochsalzes darf also nur sehr
bedingt als ein günstiger bezeichnet werden.
Se.
') Xerophyten sind an trockenen Standorten (z. 15. in der
Wüste) wachsende Pflanzen , die verschiedene Einrichtungen
zum Scliulze gegen das Vertrocknen aufweisen.
Weitere Experimente über die Affinität
und die Reaktionen des flüssigen Fluors bei
— 187" teilen H. Moissan und J. De war in
den Compt. rend. (Nr. 13, 1903, p. 785 — 788)
mit. Moissan ist bekanntlich der erste gewesen,
der das Fluor im freien Zustande dargestellt hat
(1886). Vor einigen Jahren gelang es Dewarim
Verein mit Moissan, das Fluor bei — 187" durch
Abkühlung mit siedendemSauerstoff zu verflüssigen.
In diesem Zustand hat das zu fast allen Elementen
eine so außerordentlich starke Verwandtschaft
zeigende F"luor einen großen Teil derselben ein-
gebüßt, so daß es z. B. Glas nicht mehr angreift.
42
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. R III. Nr. 3
Zu anderen Körpern zeigt es aber auch so noch
eine starke Verwandtschaft , wie das Folgende
zeigen wird.
Experimenten mit auf so tiefe Temperatur ab-
gekühlten Körpern stehen zwei Schwierigkeiten
entgegen, nämlich i) überzieht sich die abgekühlte
Masse an der Luft fast momentan mit einer Eis-
schicht durch Kondensierung der umgebenden
Luftfeuchtigkeit; 2) bildet die Verbindung, die
beim Zusammenbringen der auf ihre Reaktion zu
prüfenden Körper entsteht, oft eine in der flüssigen
Gasmasse unlösliche Verbindung, die dem Fort-
schreiten der Reaktion alsbald ein Ziel setzt. Dies
ist z. B. auch der Fall bei der Reaktion von
flüssigem Chlor auf Natrium, wo das sogleich zu
Anfang sich bildende Chlornatrium eine Kruste
um das Natrium bildet, die eine weitere Einwirkung
aufhebt. Letzterer Schwierigkeit kann man um
so weniger begegnen, als wir über die Löslichkeit
von Metallsalzen in flüssigen Gasen noch sehr
wenig wissen.
Für ihre Versuche verwandten die Verfasser
die bereits in Bd. II Nr. 41, S. 491 beschriebene
Anordnung.
Auf Jod, das bei gewöhnlicher Temperatur, in
Fluor gebracht, sich unter I'^euerscheinung mit ihm
zu Jodpentafluorid vereinigt, wirkt das Fluor bei
so tiefer Temperatur gar nicht ein. Flüssiger
Sauerstoff, mit ebensolchem Fluor gemengt, zeigt
keinerlei Reaktion , vielmehr trennen sich beide
Flüssigkeiten nach einiger Zeit wieder vollständig.
Dagegen führt einStückchen trockenen Schwefels
mit dem Fluor sogleich eine von blauer Flamme
begleitete energische Reaktion herbei; die dabei
auftretende Temperaturerhöhung reicht hin, um das
Glas zu zersprengen, dessen Bruchstücke man nach-
her mit Krystallen von Schwefelhexafluorid besetzt
findet. Noch heftiger ist die Wirkung bei Ver-
wendung von Selen ; hier ist die Reaktion von
heftiger Detonation begleitet, welche sogar das
beide Gläschen umgebende Kühlglas mit flüssiger
Luft noch zerstörte. Tellur zeigt keinerlei Re-
aktion.
Roter Phosphor erzeugt Flammenerscheinuiig;
das Resultat der Reaktion ist Phosphorpentafluorid,
das durch die Kälte zunächst fest wird, nach Ver-
dampfen des Fluors aber ebenfalls verdampft.
Energisch wirkt das Fluor auch auf metallisches
Arsen ein; es zeigt sich eine blaue Flamme und
festes Arsenfluorid wird gebildet. Auf Antimon
zeigt sich keinerlei Einwirkung, ebenso auf Kohlen-
stoff, Silicium und Bor. Dagegen wird ersterer in
feiner Verteilung, z. B. als Ruß, in dem Gas glühend
und verlöscht darauf.
Bringt man ein blankes Stück Natrium in das
flüssige Gas, so überzieht es sich alsbald mit einer
sehr dünnen , durchsichtigen Schicht von Fluor-
natrium, welche das blanke Metall durchscheinen
läl.it, eine weitere Reaktion aber verhindert. Ahn-
lich verhält sich anfangs Kalium ; wartet man aber
nur eine Viertelstunde, so erfolgt die Vereinigung
unter Explosion, wodurch das Glas zersprengt wird.
Außer den Elementen liefern auch eine Anzahl
zusammengesetzter Körper sehr energische Re-
aktionen. Jodkalium erleidet zunächst keine Ver-
änderung, sowie aber das Fluor zu sieden beginnt,
wird Jod abgeschieden und erzeugt Flammen-
crscheinung (siehe oben). Jod - Quecksilber wird
chemisch nicht verändert, bekommt aber in der
Kälte eine gelbe Farbe.
Auf arsenige Säure und Kieselsäure findet keine
Einwirkung statt; sehr heftig dagegen ist diese
auf Kalciumoxyd, das sogar ins Glühen kommt;
merkwürdigerweise zeigt das sonst nicht so be-
ständige Kalciumkarbid keine Reaktion.
Die große Verwandtschaft zum Wasserstoff
vermag das Fluor auch bei so tiefer Temperatur
nicht zu verleugnen; dies zeigt sich auch durch
die heftige Zersetzung von Kohlenwasserstoffen,
z. B. Benzol. Auf gut getrocknetes Anthracen
wirkt Fluor bei — 187" äußerst heftig ein; unter
Explosion und erheblicher Wärmeentwicklung wird
dasselbe zersetzt, wobei sich der Kohlenstoß in
Rußform abscheidet. Gn.
Elektrizität und Landwirtschaft. — In einem
in der „Revue pratique d'EIectricite"
kürzlich veröffentlichten Artikel bespricht E. G u a-
rini die Rolle, welche die Elektrizität für die
Landwirtschaft spielt. Zunächst kann man mit
ihrer Hilfe viele Produkte früher zur Reife bringen,
sowie Qualität und Quantität der Ernte verbessern.
Hierbei werden die Samenkörner elektrisiert, was
man in folgender Weise experimentell dartun
kann: Man befeuchtet die Körner, setzt sie in
einen Becher und führt die Elektroden einer
Batterie ein. Man konstatiert dann, daß die Ent-
wicklung der Pflanze schneller und kräftiger er-
folgt; so findet man z.B., daß Erbsen anstatt in
4 Tagen in 2\'„ Tagen keimen, und daß Bohnen
hierzu nur 3 Tage gebrauchen, während sonst die
doppelte Zeit erforderlich ist. Wenn also die
Resultate auch unbestreitbar sind, so hat die Wissen-
schaft doch noch nicht die eigentliche Natur dieser
Erscheinung finden können.
Ganz ebenso, wie bei obigem Versuch, liegen
die Verhältnisse in der Elektrokultur; auch dort
beobachtet man eine stärkere Entwicklung, zeiti-
geres Reifen und bedeutend erhöhte Ertragfähig-
keit, gleichviel, ob man die Wirkung von elektri-
schem Licht (das durch eine Glasglocke gedämpft
wird) benutzt oder künstliche Elektrisierung des
Bodens oder der Atmosphäre wählt. ^) Im ersten
Falle sind die Wirkungen wohl dem Umstände
zuzuschreiben, daß das Blattgrün seine den Kohlen-
stoff assimilierende Funktion sowohl am Tage als
des Nachts ausübt; im zweiten Falle handelt es
sich wohl um rein chemische Vorgänge.
Die verschiedensten Methoden sind angewandt
worden, um die im zweiten Falle erforderliche
Elektrisierung zu erzielen; Vorrichtungen, die
den Blitzableitern ähnlich sind, in die Erde ein-
Vgl. Nat. Wochensclir. N. F. Bd. 1 S. 419.
N. F. III. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
43
gesenlvte Platten aus verschiedenen Metallen, und
drittens statische Elektrisiermaschinen in Verbin-
dung mit einer Metallleitung sind zu diesem
Zwecke vorgeschlagen worden. Letztere Methode
ist neuerdings von Selim Lemström angewandt
worden, bei dessen Versuchen Überschüsse von
durchschnittlich 45 "/„ sowie eine Verbesserung
der Qualität der Bodenprodukte konstatiert wur
den; bei starker Hitze scheint aber die elektrischt
Behandlung eher schädlich zu sein.
Verfasser weist jedoch darauf hin, daß auch
ohne derartige besondere Mittel der Landmann
eine bessere Ernte erzielen kann , wenn er den
Roden tiefer aufgräbt, wozu ihm ein elektrischer
Pflug, der auch sonst manche Vorteile bietet, die
Mittel an die Hand gibt.
Auch durch Zerstörung der Insekten kann
die Elektrizität die Quelle ganz erheblicher Er-
sparnis werden. Derartige Versuche hat Verfasser
in Gemeinschaft mit Herrn P. Domenico angestellt,
und zwar mit ziemlichem Erfolge. Die angewandte
Methode bestand darin , daß durch den Körper
des Insektes, wenn dieses auf der Wurzel oder
auf dem Stiel der Pflanze saß, durch eine ein-
fache Vorrichtung ein elektrischer Strom geschickt
wurde, der seinen Tod herbeiführte. Helberger
in München hat kürzlich eine Methode aufgefun-
den, nach der Insekten, Larven, Schnecken, Wür-
mer u. s. w. aus dem Boden verjagt werden, indem
man in die Erde eingesenkte Metallstäbe mit einer
Stromleitung zu i lO Volt verbindet.
Auch auf dem Gutshofe selbst ist die Elektri-
zität berufen, eine bedeutende Rolle zu spielen,
da eine ganze Reihe von Maschinen durch Elektro-
motoren schnell ökonomisch und gefahrlos be-
trieben werden können. Dr. Holdenbourg hat
lierechnet und durch den Versuch bestätigt, daß
sich mit einer elektrisch betriebenen Dresch-
maschine eine Ersparnis von etwa 60 Pfennig pro
Zentner erzielen läßt. Verfasser nennt eine An-
zahl von Gutshöfen, auf denen der ganze Betrieb
elektrisch ist.
Außer den gewöhnlichen Maschinen lassen sich
noch besondere Anwendungen im Ackerbau für
die Elektrizität finden. So existiert in einem Orte
in Algier eine Maschine zum Einsammeln der
Weintrauben und zur Beförderung derselben nach
den Preßvorrichtungen; Galizien hat elektrisch
betriebene Maschinen zum Baumfällen aufzuweisen.
P'erner kann man mit Hilfe der Elektrizität Wein
und Alkohol schnell das gewünschte Aroma ver-
leihen, ()le durch Elektrolyse reinigen und bleichen,
Torf in einigen Minuten verkohlen etc. Letzt-
genannte Anwendung, bei der die durch den elek-
trischen Strom in einem Widerstände erzeugte
hohe Temperatur wirksam ist, verdient besonderes
Interesse, da Torf fast umsonst zu haben ist und
als Brennstoft" 50 "/„ des gleichen Gewichtes an
Kohle darstellt.
Wenn die Elektrizität daher auch mancherlei
Nutzen spendet, so ist eine Hauptbedingung doch
die, daß ihre Anwendung konstant ist, da sonst
die Materialkosten nicht dem erzielten Nutzen
entsprechen. Eine derartige Konstanz des Be-
triebes kann man dadurch erzielen, daß man mit
dem Gutshofe eine Nebenindustrie, wie z. B. eine
große Molkerei, eine Werkstatt für Holzbearbeitung,
eine Destillation etc. verbindet. Auch eine Zucker-
raffinerie ist häufig recht geeignet; dann wird
der elektrische Strom nicht nur zum Betrieb der
Maschinen, sondern auch zur Reinigung der
Zuckersäfte angewandt. Zwei Methoden sind
hierbei möglich], die beide erprobt sind, nämlich
das elektrolytische und das Ozon-Verfahren.
P"erner würde die Elektrizität für schnellen
und sicheren Transport der Produkte , für Erzie-
lung telegraphischer und telephonischer Verbin-
dungen, für Reinigung von Luft und Wasser durch
Ozon und Elektrolyse, für Befruclitungs-, Heizungs-
und Kochzwecke ausgebreitete Verwendung finden
können. Auch durch Beschaffung meteorologischer
Nachrichten könnte die Elektrizität dem Land-
mann nützlich werden. PIs existieren verschiedene
elektrische Instrumente zur Feststellung des Ganges
der Gewitter, zum Registrieren ihrer Häufigkeit etc.,
zum Messen und Registrieren der Regenfälle etc.
Schließlich weist Verfasser darauf hin, um wie
viel leichter die Erzeugung von Elektrizität auf
dem Lande als in der Stadt sei. Folgende Energie-
quellen vor allem stehen auf dem Lande zu Ge-
bote: Wasser- und Windkraft, Torf, Kohle, Hoch-
ofengase (wenn es in der Gegend Hochöfen gibt),
und schließlich das Tobiansky'sche „Pyrogas", das
durch Karburieren von Rauch und von durch
Verbrennung der Abfälle erzeugten gasförmigen
Produkten erzeugt wird.
Wenn die Energiequelle vom Arbeitsplatze
weit entfernt ist, so muß man, wie z. B. in Crot-
torf, hochgespannte Wechselströme benutzen, die
dann am Arbeitsorte durch feststehende oder be-
wegliche Transformatoren auf niedrige Spannung
gebracht werden. In jedem Falle ist zur Regelung
des Betriebes eine Akkumulatorenbatterie wün-
schenswert. Eventuell muß das Gut Anschluß
an eine größere Zentrale suchen. A. Gr.
Wetter-Monatsübersicht.
Innprli.ilb des vergangenen September fiuul in ganz
Deutschland ein zweimaliger Umscliwung aller Witternngs-
verhältnisse statt. Am Anfang und Ende des Monats herrschte
außerordentlich freundliches, trockenes und mildes Weiter,
während es in der Mitte sehr trübe, kühl und regnerisch war.
Sogleich in den ersten Septembertagen trat so starke Hitze
ein, wie sie der diesjährige Hochsommer nur sehr selten ge-
bracht hatte. Die in der beistehenden Zeichnung wiederge-
gebenen Mittelwerte zwischen dem höchsten und tiefsten Ther-
mometerstande jedes Tages überschritten fast überall 20" C,
an einzelnen Nachmittagen wurden in Süd- und Mitteldeutsch-
land 32° C- erreicht. Desto empfindlicher war die um den
6. September beginnende .Abkülilung, die sich bis in die Mitte
des Monats oder noch länger fortsetzte. In Aachen trat in
der Nacht zum 12. der erste leichte Bodenfrost auf, in der
folgenden Nacht ging das Thermometer zu Uslar bis auf
einen Grad über Null herab. Auch in der zweiten Hälfte
des Monats blieben die gewöhnlich klaren Nächte recht kühl,
in Darmstadt wurde am 20. sogar leichter Reif beobaciitet;
in t.ien Mittagsstunden aber trieb der helle Sonnenschein im
44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3
Verein mit milden südöstlichen Winden die Temperatur der
Luft auf 20° C. und nicht selten noch höher. Gleichwohl
blieben die Durchschnittslemperaturen des September in der
iUiRf2«'«T«inpiratur8n eiiii^ur Orte JmScjatembirlSÖS.
I I I I
I I I
11-11
11 I I
J_L
Äv*4*ft^ )W/viti^vsif
westlichen Hälfte Deutschlands um fast einen Grad hinter
ihren normalen Werten zurück , die sie im Osten gerade er-
reichten. Die Anzahl der Sonnenscheinstunden aber, deren
es z. B. in Berlin im ganzen 170 gab, war erheblich größer
als in der Mehrzahl der früheren Septembermonate.
Die Niederschläge des Monats beschränkten sich, wie die
nebenstehende Zeichnung ersehen läßt, in den meisten Gegen-
den auf die Zeit vom 6. bis 18. September, in der sie jedoch
oftmals sehr ergiebig waren. Von Gewittern im Westen ein-
geleitet , breiteten sich die Regenfällc langsam über ganz
Deutschland aus und nahmen dabei an Stärke mehr und mehr
zu. Vom 8. zum 9. September fielen in Helgoland 39 mm
J. <^ Miltlerei'Wcrt [Or
Deutschland.
Monatssumme imS^ptbr.
1903.02.01. 001399.98.
.bis 30. ■ SepK i
richtete in vielen Städten, auf Feldern und Fluren großen
Schaden an und verringerte besonders die Obsternte in Sachsen,
Thüringen und den süddeutschen Staaten sehr bedeutend, so-
weit er sie nicht gänzlich vernichtete.
Gegen -Mitte des Monats wiederholten sich die Unwetter
an der Ostseeküste, wo bei heftigen Nordoststürmen ver-
schiedene Schiffe strandeten , und etwas später in der Um-
gebung von Glatz. Dann aber trat ziemlich ruhiges, trocke-
nes Wetter ein, das fast bis zum Schlüsse des Monats anhielt.
Die Mcinatssumme der Niederschläge war, ebenso wie im
August, im Norden des Reiches bedeutend größer als im
Süden. Im Mittel aller Stationen belief sie sich auf 54,3 mm,
während die gleichen Stationen in den letzten zwölf September-
monaten durchschnittlich 66,8 mm Regen geliefert haben.
In der allgemeinen .Anordnung des Luftdruckes traten
während des vergangenen September von einem Tage zum
andern gewöhnlich nur geringe Änderungen ein. Zu Beginn
des Monats bedeckte ein hohes barometrisches Maximum, dem
wir das trockene, sonnige Wetter zu verdanken hatten, die
ganze westliche Hälfte des europäischen Festlandes und wich
sehr lanosam vor einem vom atlantischen Ozean heranziehen-
den Minimum nach Osten zurück. Doch erst als am 6. ein
neues Hochdruckgebiet auf dem biskayischen Meer erschien,
vermochte ein Teil der ozeanischen Depression mit dampf-
gesättigten Westwinden in Mitteleuropa einzudringen, worauf
aber weitere Minima bald nachfolgen konnten. Das tiefste
unter ihnen eilte vom 10. nachmittags bis zum Abende des
II. September mit verhängnisvollen Stürmen von Irland bis
zur deutschen Ostseeküste.
Eine andere Reihe weniger tiefer Depressionen zog seit
dem 13. vom westlichen Mittelmeer über Oberitalien, Süd-
dcutschland und (')sterreich nach der Ostseeküste hin. Von
ihnen wurde am schwersten das Gebiet der österreichischen
Alpen heimgesucht, wo sich die Überschwemmungen des
letzten Juli in noch verstärktem Maße wiederholten. Nach-
dem aber am ;6. ein aus Westen gekommenes Barometer-
maximum in Finnland 780 mm Höhe überschritten hatte, wurde
dem weiteren Vordringen der Mittelmeerdepressioncn ein
Ende gemacht. Das Maximum breitete sich nach und nach
über ganz Nordeuropa aus und rückte seit dem 20. mehr
nach Süden vor, wobei die kühlen Nordostwinde, die es an-
fänglich nach Mitteleuropa entsandte, in eine mildere und
mildere Südostströmung übergingen. Gegen Ende des Monats,
als wieder eine ozeanische Depression herannahte, drehte sich
der Wind hier vollends nach Süd, und das Wetter nahm einen
ßer//7er ftf^' i^resu
Regen. Längs der Küste wuchsen die westlichen Winde zu
Stürmen an, die auch verschiedentlich Hagelschauer mit sich
brachten. Am 11. aber jagte ein ungewöhnlich schwerer
Sturm auch über den größten Teil des Binnenlandes hin.
beinahe sommerlichen Charakter an.
Dr. E. Leß.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Unterzeichneter, an Stelle und auf Vorschlag von Herrn
Professor Hammer (Stuttgart), von 1903 ab ständiger Referent
fürdiegeographischeLandmessungam Geographischen
Jahrbuch (Redaktion: Herr Geh. Rat. Professor H. Wagner,
Göttingen; Verlag; Justus Perthes, Gotha) bittet die Herren
.\stronomen, Geodäten, Geographen, Topographen, Nautiker
und Forschungsreisenden alle ihre zum obigen Referat ge-
hörigen Veröffentlichungen ihm zugehen lassen zu wollen.
Dr. Adolf Marcuse , Privatdozent an der Berliner Universität.
Gr.-Licliterfelde bei Berlin, Wilhelmstraße 5.
Die Vogelwarte Rossitten wird im Herbst dieses
Jahres mit einer Reihe von praktischen Versuchen beginnen,
die voraussichtlich recht bemerkenswerte Aufschlüsse über
einige noch so dunkle Vogelzugfragen, wie Richtung und
Schnelligkeit des Zuges, geben können.
Wie in weiteren Kreisen schon bekannt sein dürfte, wer-
den in jeder Zugzeit, Herbst und Frühjahr, auf der Kurisclicn
Nehrung Hunderte, unter Umständen Tausende von Krähen
von den Eingeborenen zu Speisezwecken mit Netzen gefangen.
Von diesen Vögeln soll nun eine große .\nzahl durch einen
um einen Fuß gelegten und mit Nummer und Jahreszahl ver-
sehenen Metallring gezeichnet und dann sofort wieder in Frei-
heil gesetzt werden. Die Erbeutung solcher gezeichneten Tiere
wird stets interessante Schlüsse zulassen. Der Versuch soll
mehrere Jahre hindurch und, wenn möglich, im größten Maß-
N. F. III. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45
Stabe fortgesetzt werden. Wenn wir dann erst Hunderte , ja
— falls die Mittel der Station es erlauben — Tausende von
gezeichneten Krähen in Deutschland und den angrenzenden
Ländern haben, dann kann der Versuch ganz neue Gesichts-
punkte über die Verbreitung einer Vogelart eröffnen und auch
über die vielbesprochene Frage nach dem Alter der Vögel
Aufschluß geben.
Ohne Unterstützung der weitesten Kreise ist der Versuch
hinfällig. Darum ergeht an alle Jäger, Forstbeamte, Land-
wirte, Vogellicbhaber, Gärtner, überhaupt an jedermann die
freundliche Bitte, beim Erbeuten von Krähen auf die Füße der
Tiere zu achten, den etwa mit einem Ringe versehenen Fuß
im Fersengelcnk abzutrennen und in einem geschlossenen Brief-
umschläge an die Vogelwarte Rossitten, Kurischc
Nehrung, Ostpreußen zuschicken. Auf einem beiliegen-
den Zettel ist genau Tag und, wenn möglich, auch Stunde der
Erbeutung zu vermerken. Alle Auslagen werden zurückerstattet,
auf Wunsch wird auch die Krähe bezahlt. Im besonderen
richte ich meine Bitte an die Herren Landwirte, die auf ihren
Gütern durch Gift zuweilen große Mengen von Kr.ähen er-
beuten. Sie mögen sich der verhältnismäßig geringen Mühe
unterziehen, die umherliegenden Kadaver untersuchen zu lassen.
Über die Resultate wird seiner Zeit berichtet werden. Die
gezeichneten Vögel werden namentlich Nebelkrähen und da-
neben auch Saalkrähen sein.
Um möglichst weite Verbreitung des Aufrufs sowohl auf
schriftlichem, wie auf mündlichem Wege wird ergebenst ge-
beten.
Rossitten, Kur. Nehrung, September 1903.
J. Thienemann,
Leiter der Vogelwarte Rossitten.
Bücherbesprechungen.
Hans Driesch, Die „Seele" als elementarer
N a t u r f a k t o r. Studien über die Bewegungen der
Organismen. Wilhelm Engelmann in Leipzig 1903.
— Preis 1.60 Mk.
Über den Inhalt des Heftes gibt die Naturw.
Wochenschr. in ihrer Nummer vom 20. Sept. 1003,
p. 605 (Hat der Vitalismus wiss. Berechtigung:) ein-
gehende Auskunft. Wir verzichten daher hier auf eine
Wiederholung. Wie man dort erfährt, handelt es sich
in Driesch's Schrift wesentlich um den Versuch eines
Nachweises, daß die chemisch-physikalischen Vorgänge
nicht genügen, um die biologischen Erscheinungen,
das Leben, zu „erklären". Unseres Erachtens handelt
es sich aber in erster Linie darum — und der Philosoph
will doch auf den drund gehen — zuzusehen, wie
weit einheitliche (gemeinsame) Gesichtspunkte für
das Verständnis des Unorganischen und des Or-
ganischen gefunden werden können. Daß Unter-
schiede da sind, ist gewiß, aber nur genau so und in
demselben Sinne wie etwa zwischen Physikalischem
und Chemischem. Die Bestrebung, Prinzipielles als
Unterschiede zwischen den Lebewesen und dem Un-
organischen zu statuieren, ist schließlich (am letzten
Ende) als eine Nachwehe der alten und daher nur
äußerst schwer ausrottbaren Anschauung eines „Guten"
gegenüber einem „Bösen" aufzufassen. Die starke
Gegensätzlichkeit, die noch immer zwischen Vitalis-
inus und Mechanismus empfunden wird, ist mit einem
anderen Wort ein Anthropomorphismus. Die mecha-
nische Welt und die biologische Welt, d. h. die Er-
fahrungskomple.\e, die in das eine und in das andere
Gebiet getan werden , sind uns beide gleichwertig,
wenn es sich um die Frage der „Erklärung" der
prinzipiellen Erscheinungen handelt, die beide Ge-
biete charakterisieren. Stillschweigend ist es aber die
falsche Voraussetzung bei allen, die sich um den
Kampf zwischen Mechanismus und Vitalismus kümmern,
daß unsere Erkenntnis über die „mechanische Welt"
derartig am Ziele sei, daß wenigstens hier das Prin-
zipielle bereits vollkommen „klar" läge. P.
Natur und Staat, Beiträge zur naturwissenschaftlichen
Gesellschaftslehre. Eine Sammlung von Preis-
schriften herausgegeben von Prof Dr. H. E. Ziegler
in Verbindung mit Prof Dr. Conrad und Prof
Dr. Haeckel. Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Unter diesem Titel erscheint soeben ein Sammel-
werk, dessen Entstehungsgeschichte einen Markstein
in der Entwicklung der Sozialanthropologie und der
Gesellschaftswissenschaft überhaupt bilden wird. Bis-
her gingen .Anthropologie und Soziologie unbekümmert
um einander ihre eigenen Wege. Obschon man sich
der vielfachen Berührungspunkte allmählich bewußt
geworden war , hegte man doch eine gewisse Scheu,
eine nähere Verbindung herzustellen, und einige Ver-
suche, die in dieser Hinsicht gemacht wurden, hatten
sich auch keiner allseitig freundlichen Aufnahme zu
erfreuen. Als „Übergriffe" oder „Streifzüge" in frem-
des Gebiet wurden sie vielfach angesehen und mit
einem gewissen Eifer zurückgewiesen. Das hängt
mit der zwiespältigen Bildung des deutschen Volkes
zusammen. Den aus humanistischen Anstalten hervor-
gegangenen Gelehrten fehlt häufig das Interesse für
die Naturwissenschaft, den Naturwissenschaftern da-
gegen die intimere Kenntnis der wirtschaftlichen und
philosophischen Probleme. Geisteswissenschaften und
Naturwissenschaften wurden bisher als zwei gänzlich
getrennte Gebiete betrachtet, obwohl es keine Geistes-
wissenschaft gibt, die nicht zugleich auch Naturwissen-
schaft wäre , keine Naturwissenschaft , die nicht den
Anspruch erheben dürfte, zugleich Geisteswissenschaft
zu sein. Kaum in einem anderen Fache wurde die
Trennung so sehr zum Übelstand, wie in der Anthro-
pologie und in der Sozialwissenschaft, die, sobald sie
sich wissenschaftlich vertiefen wollen, gegenseitig auf
einander angewiesen sind. Vermöge des zwiespältigen
Bildungsganges gab und gibt es in Deutschland nur
wenige, die sozusagen in beiden Sätteln reiten können,
und auch diese können es nicht in beiden gleich gut.
Die gleichgültige, um nicht zu sagen, feindliche Stim-
mung hätte in beiden Lagern noch lange andauern
können, wenn nicht eine unerwartete Hilfe auf dem
Plan erschienen wäre. Es galt, die Kräfte hervor-
zulocken, die zur umfassenden Behandlung der sozial-
anthropologischen Fragen vorhanden waren, aber so-
zusagen im Verborgenen schlummerten. Ein uneigen-
nütziger und unbekannt gebliebener Freund der
Wissenschaft faßte den Gedanken, einen Wett-
bewerb zu veranstalten und stellte den Professoren
Haeckel-Jena, Conrad-Halle und Fraas-Stuttgart den
Betrag von 30 000 Mk. für die zu verteilenden Preise
zur Verfügung. Unterm i. Januar 1900 erfolgte das
Preisausschreiben für eine Arbeit über die Frage :
„W as lernen wir aus den Prinzipien der
Deszendenztheorie in Beziehung auf die
i n n e r p o 1 i t i s c h e Entwicklung und Gesetz-
46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3
gebung der Staaten?" Bis zu dem festgesetzten
Termin, dem i. Dezember 1902 waren 60 Abhand-
lungen und Schriften eingelaufen, und am 7. März
1903 erfolgte die läekanntgabe des Urteils der Preis-
richter. Manche Verfasser hatten das Thema nicht
richtig verstanden, einige andere hntten minderwertige
Aufsätze geliefert, die nicht weiter in Betracht kamen.
Zur genaueren Berücksichtigung eigneten sich 45
Werke. Nach dem Urteil der aus den drei oben
genannten Gelehrten bestehenden Prüfungskommission
wurde der erste Preis einer Abhandlung des Münchener
Arztes Dr. med. Schallmayer zuerkannt, die das
Motto trug : „Gut ist, glücklich geboren zu sein". Ihr
Titel lautet : „Vererbung und Auslese im
Leben der Völker". Drei Schriften erhielten
zweite Preise (ohne Rangunterschied), nämlich solche
von Dr. Arthur R u p p i n - Magdeburg , Heinricli
Matzat- Weilburg a. d. Lahn und Dr. phil. et jur.
Albert Hesse -Halle a. S. Dritte Preise (ohne Rang-
unterschied) bekamen vier Arbeiten von Dr. med. et
phil. Ludwig W o 1 1 m a n n - Eisenach, Dr. jur. Hermann
Friedmann- Berlin , Kurt Michaelis- Berlin und
Dr. phil. Eleutheropulos-Zürich.
Unter den bis jetzt herausgekommenen beiden
Arbeiten des Sammelwerkes befindet sich die Schall-
mayer'sche noch nicht, da der Verfasser durch seine
ärztliche Tätigkeit abgehalten war, die mit der Ver-
öffentlichung zusammenhängenden Arbeiten zu besorgen.
Der erste Band enthält zunächst einen einleitenden
Bericht des zur Sichtung der Arbeiten zugezogenen
Jenaischen Zoologen Prof Dr. H. E. Z i e g 1 e r , der
auf 24 Seiten die Ergebnisse des Preisausschreibens
und die Bedeutung desselben schildert. Dann folgt
auf 317 Seiten die „Philosophie der Anpas-
sung" von Matzat. Der Verfasser , geboren zu
Kleinhof- Tapiau in Ostpreußen, ist seit 1876 Direktor
der Landwirtschaftsschule in Weilburg a. d. Lahn und
Verfasser verschiedener Schriften , hauptsächlich ge-
schichtlichen und geographischen Inhalts. Von einem
Fachmann , der dem wissenschaftlichen Betrieb der
Landwirtschaftlehre und somit auch der Lehre von
der Tierzucht nahe steht, wird man vielleicht in erster
Linie eine Bereicherung unserer Kenntnisse über die
Probleme der Vererbung (Kreuzung, Inzucht usw.)
und der Auslese (natürliche, methodische, unbewußte)
erwartet haben, die in der Gesellschaftswissenschaft
eine bedeutende Rolle zu spielen berufen sind und
von Schallmayer , dem Titel seines Werkes nach zu
schliel3en , zur Grundlage seiner Ausführungen ge-
macht worden sind. Doch nichts von alledem !
Matzat hat ein hoch angelegtes, rein philosophisches
Werk geliefert, dessen Dreh- und Angelpunkt die
Anpassung ist. Er greift eigentlich über die ge-
stellte Aufgabe weit hinaus. Nicht bloß Staat und
Gesellschaft sind in fortschreitender und doch nimmer
ihr Ziel erreichender Anpassung an die Umwelt be-
griffen , sondern das ganze Weltall ist ein bew-egtes
System, dessen einzelne Teile unaufhörlich nach voll-
kommenerer Anpassung streben. Der Verfasser ver-
blüft't förmlich durch sein auf alle Gebiete ausgedehntes
Wissen. Astronomie, analytische Mechanik, Chemie,
Physik , dann aber auch Geschichte , Jurisprudenz,
Wirtschaftswissenschaft, Religionsgeschichte, Bibelkritik,
Ethik, Politik, mit einem Worte so ziemlich alles
wird herangezogen, um die „Philosophie der Anpassung"
im ausgedehntesten Maßstabe zu begründen. Dabei
ist sein Wissen, soweit es mir möglich war, einzelne
seiner Anführungen zu prüfen, kein dilettantisches im
Sinne der Oberflächlichkeit, sondern er hat die Zitate
wirklich verstanden und nicht etwa fremdes hinein-
gedeutet, was ja ein oft vorkommender schlechter
Brauch ist. Auch wer die Schlußfolgerungen Matzat's
für teilweise anfechtbar hält, wird das Buch mit Ge-
nuß und Gewinn lesen; aber wer es tun will, der
wappne sich mit Geduld und nehme sich ausreichend
Zeit dazu, denn eine leichte Lektüre ist es nicht,
und manche Sätze müssen mehr als einmal durchge-
gangen werden, wenn man ihren Inhalt richtig er-
fassen will. Aber die Mühe lohnt sich reichlich durch
die Vielseitigkeit und Höhe der Auffassung und durch
die Aufdeckung ungeahnter Zusammenhänge. Im ein-
zelnen scheint mir die Rolle, die die Vererbung
im Gesellschaftsleben spielt, zu einseitig aufgefaßt zu
sein ; sie ist Matzat eine die Anpassung hemmende,
also eine schädliche Einrichtung, die viel Unheil im
Lauf der Geschichte verschuldet hat. Daß sie aber
auch viel Großes wirkt und das regulierende Pendel
am Uhrwerk der Weltgeschichte ist, dies wird nicht
genügend gewürdigt. Solche Einwendungen, wie sie
hier gemacht werden, um die Aufgabe der Kritik
zu erfüllen , und nicht bloß einen Lobeshymnus
zu schreiben, erscheinen aber geringfügig im Hinblick
auf den reichen Ideengehalt und die selbständige,
folgerichtig durchgeführte Methode des Matzat'schen
Buches.
Der zweite bis jetzt erschienene Band des Sammel-
werkes enthält die ebenfalls mit einem zweiten Preise
ausgezeichnete Abhandlung ,, Darwinismus und
Sozial Wissenschaft" von Dr. phil. Arthur
Ruppin in Magdeburg, einem 1876 geborenen, also
verhältnismäßig noch jungen Manne, der Jura, National-
ökonomie, Philosophie und Naturwissenschaften studiert
hat und zurzeit im Justizdienst tätig ist. Dieser
Band ist mit 175 Seiten bedeutend kürzer gefaßt und
bildet hinsichtlich der Methode einen gewissen Gegen-
satz zu dem Matzat'schen Werke. Hier wird jedes
Ding konkret, nur in seinen unmittelbaren Zusammen-
hängen aufgefaßt, und darnach werden die Bedingungen
des sozialen Lebens zu ermitteln gesucht. Demgemäß
ist es fast selbstverständlich, daß über die Tatsachen
und Theorien der Vererbung ausführlich gehandelt
wird. Wunderlicherweise jedoch werden die Vorgänge
bei der Reifung der Vererbungskörper übergangen,
obwohl sie für die erbliche Übertragung von Anlagen
wichtig sind; man denke nur an die Ausstoßung der
Richtungskörperchen. Der Verf. gelangt zu Idealen,
die sich denen der Sozialdemokraten auf wirtschaft-
lichem Gebiet bis zu einem gewissen Grade nähern,
aber auf politischem Gebiet sehr weit von denselben
entfernt bleiben. In diesem Buche tritt mehr als^in
dem vorigen die absichtliche Beschränkung der ge-
stellten Preisaufgabe auf die innerpolitische Ent-
wicklung der Staaten als ein Nachteil hervor ;J denn
viele innere Fragen , die mit der auswärtigen Politik
N. F. III. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
47
und ihren letzten Mitteln, Heer und Flotte, sowie mit
der Bestreitung des Aufwandes für die letzteren zu-
sammenhängen , können vom innerpolitischen Stand-
punkt aus nicht völlig gewürdigt werden. Die Auf-
gabe war indessen so gestellt und die Antwort mußte
sich darnach richten. Andernfalls wäre sie wohl
etwas ausführlicher und vielleicht auch ein wenig
anders ausgefallen. Auch dieses Werk, das man im
Gegensatz zu dem vorigen ein nüchternes nennen
kann, enthält viele beherzigenswerte Anregungen und
Bereicherungen unseres Wissens.
Eine dritte der preisgekrönten Arbeiten, die
„Politisclie Anthropologie" von Dr. phil. et
med. Ludwig Wolt mann -Eisenach ist, 321 Seiten
stark, in der Thüringischen Verlagsanstalt für sich
erschienen. Dr. Weltmann hat den dritten Preis
zurückgewiesen und ebenso die Aufnahme in das
Sammelwerk. Diese Arbeit wird besonders besprochen
werden.
Die aus dem Wettbewerb hervorgegangenen Werke
bilden Pfeiler zu dem Brückenbau zwischen den
beiden bisher getrennten Gebieten der Naturwissen-
schaften und der Geisteswissenschaften, insbesondere
der Anthropologie und der Soziologie. Der eigent-
liche Brückenbau ist noch nicht gelungen, denn die
Brücke ist nicht eindeutig vorhanden. Die Verfasser
gelangen zu verschiedenen Auffassungen, sie vertreten
zum Teil einander widersiuechende Ansichten, oliwohl
nur eine richtig sein kann. Aber ein reiches Material
ist geschaffen , der Bau ist vorbereitet, der Brücken-
schlag wird gelingen. Kein Anthropologe oder Sozial-
wissenschafter , auch kein praktischer Politiker kann
das Studium dieser Werke umgehen. Sie bilden die
Grundlage des Verständnisses für die Vorgänge auf
dem Gebiet des ( iesellschaftslebens, und es ist sicher-
lich ein Hauptgewinn, der aus dem Wettbewerb her-
vorgeht, dal.'i das Studium der beiden Grundlagen
der Gesellschaftslehre einen mächtigen Anstoß be-
kommen hat. Mit einseitigem Wissen ist heute nichts
mehr auszurichten. Wir brauchen Leute, die in bei-
den Sätteln reiten können , und — wir werden sie
haben, die S o z i a 1 a n t h r o p o 1 o g i e als Wissenschaft
wird anerkannt werden. Otto Ammon-Karlsruhe.
A. Schuck, Die Stabkarten der Marshall -
Insulaner. H. O. Persiehl. Hamburg. 1902.
Verf behandelt hier in — nach dem heute zur
Verfügung stehenden Material — erschöpfender Weise
eine der merkwürdigsten ethnographischen Erschei-
nungen. Eine Art Seekarten, .von den Mikronesiern
im östlichen Teile unseres Schutzgebietes erfunden,
um bei ihren Reisen von Atoll zu Atoll nicht auf ihr
Gedächtnis allein angewiesen zu sein. Schuck unter-
scheidet drei Arten von Karten. Die erste, Mattang,
besteht einfach aus zusammengebundenen geraden und
gebogenen Stäben. Sie soll als Lehrmittel dienen
und stellt die für die Insulaner wichtigsten Meeres-
erscheinungen in der Nähe einer Insel dar: die
Dünungen mit ihren Ablenkungen, Ausgleichsstellen
und Kabbelungen. Die zweite und dritte Art, Rebbelib
und Medo, unterscheiden sich von der ersten auf
einen Blick durch die aufgebundenen Muscheln und
Steinchen zur Darstellung der Lage einzelner Inseln.
Gruppe 2 stellt eine der beiden Hauptinselgruppen
Ralik und Ratak oder größere Teile von ihnen dar,
während Gruppe 3 einzelne kleinere Teile oder gar
einzelne Attolle bezeichnet. Verf. beschreibt nicht
nur die einzelnen ihm bekannten Stabkarten und gibt
eine Übersicht der Literatur , er liefert auch inter-
essante Einblicke in das Seewesen der Marshall-
Insulaner sowie sprachliche Anmerkungen , endlich
Hinweise auf, wenn auch nur entfernt, ähnliche Er-
scheinungen anderer Gegenden. Fritz Graebner.
Literatur.
Arnold, Prof. Dr. Carl : Repctitoriuni der Chemie. Mit besond.
Hcriicksicht. der f. die Medizin wicht. Verbindgn. sowie d.
,, .Arzneibuches f. das Deutsche Reich" u. anderer Pharma-
kopoen namentlich zum Gebrauche f. Mediziner u. Pharma-
zeuten bearb. U. verb. u. ergänzte .\ui\. (XIV, 646 S.)
gr. 8". Hamburg '03, L. Voss. — Geb. in Leinw. 7 Mk.
Bruns, Prof. Dr. Heinr. : Grundlinien des wissenschaftlichen
Rechnens. (VI, 159 S.) gr. 8". Leipzig '03, E. G. Teubner.
— 3,40 Mk. ; geb. in Leinw. 4 Mk.
Enriques, Prof. Fedcrigo : Vorlesungen üb. projektive Geo-
metrie. Deutsclie .Ausg. v. Dr. Herrn. Fleischer. Mit e.
F.infUhrungswort v. Fcl. Klein u. 187 Fig. im Text. (XIV,
374 S.) gr. 8». Leipzig '03, B. G. Teubner. — 8 Mk. ;
geb. in Leinw. 9 Mk.
Fröhlich, Hofr. Dr. Carl : Die Odonaten und Orthopteren
Deutschlands m. besond. Beriicksicht. der bei .Aschafl'enburg
vorkommenden Arten, nach der analyt. Methode bearb. Mit
25 nach der Natur photographisch aufgenommenen Abbildgn.
auf 6 Lichtdr.-Taf. IV. Milteilg. des naturwissenschaftl.
Vereins zu Aschaffenburg, hrsg. zur Feier seines 25 jähr.
Bestehens. (VI, 106 S.i gr. 8". Jena '03, G. Fischer. —
4 Mk.
Vries, Prof. Hugo de: Befruchtung u. Bastardierung. Vortrag.
162 S.) gr. 8". Leipzig '03, Veit & Co. — 1,50 Mk.
Briefkasten.
Herrn M. — Jawohl, es werden in der Naturwissensch.
Wochenschrift die auf den Nalurforscherversammlungen ge-
haltenen Vorträge sowohl der allgemeinen Sitzungen als auch
der Sektionen berücksichtigt und zwar nach Maßgabe ihrer
Bedeutung für die Naturwissenschaft, jedoch wird im Inter-
esse einer genauen Berichterstattung abgewartet
bis authentische .\ut!erungen der Redner vorliegen.
Herrn W. Br. in Elberfeld. — Algol ist der Name
des Fi.xsternes ,i Persei, der einer der interessantesten ver-
änderlichen Sterne ist. Sehen 1667 wurde die Veränderlich-
keit der Helligkeit dieses Gestirns von Montanari entdeckt,
jedoch gelang es erst Goodricke (1782), die regelmäüige, etwa
dreitägige Periode dieses Lichtwechsels zu erforschen.
Ungefähr 2'/., Tage lang leuchtet .Mgol in völlig unver-
ändertem Glänze als Stern 2,2. Größe, der mit Hilfe einer
Sternkarte südlich der Cassiopeja leicht aufgefunden werden
kann. Nach Ablauf dieser Zeit beginnt das Gestirn schnell
dunkler zu werden und nun sinkt binnen 4"!, Stunden die
Helligkeit auf die 3,7. Größe herab, so daß er nun etwa nur
den vierten Teil so viel Licht ausstrahlt als sonst. Ebenso
rasch wie die Abnahme erfolgt nun auch die Zunahme des
Lichtes, so daß nach im ganzen g'/j Stunden der alte Glanz
wieder erreicht ist und die Phase der konstanten Helligkeit
von neuem beginnt. Eine volle Periode dauert 2 Tage
20 Stunden 48 Min. 54 Sek. Da sich das interessante Phä-
nomen leicht mit freiem Auge verfolgen läßt, geben wir unter
der Rubrik ,,Himmelscrscheinungcn" die Zeiten der geringsten
Helligkeit (Minima) für diejenigen Tage an , an denen sie in
die Abendstunden fallen. — Die Erklärung des Lichtwechsels
ist bei diesem Stern überraschend einfach, es handelt sich
nämlich nur um die teilweise Verfinsterung des Gestirns durch
einen dasselbe umkreisenden, dunklen Begleiter, der nach
48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3
Vollendung je eines Umlaufs legelmäUig zwischen den Stern
und die Erde tritt. Die Richtigkeit dieser zuerst von Pickering
ausführlicher begründeten Hypothese konnte allerdings durch
direkte Wahrnehmung der Bedeckung wegen der ungeheuer
großen Entfernung des Sterns auch mit Hilfe der besten Fern-
rohre nicht erwiesen werden, wohl aber glückte es H. C. Vogel
im Jahre l8go, dieselbe auf indirektem Wege zu bestätigen.
Die Spektrallinien zeigen nämlich in regelmäßigen, dem Licht-
wechsel parallel laufenden Zwischenzeiten Verschiebungen, die
nach dem Doppler'schen Prinzip eine Bahnbewegung anzeigen,
wie sie bei der nsch obiger Hypothese angenommenen Doppel-
sternnatur des Gestirns mit Notwendigkeit erwartet werden
mußte. Nähere Angaben hierüber finden Sie in jedem neueren
Handbuch der Himmelskunde, z. B. in H. J. Klein's Hand-
buch der allgemeinen Himmelsbeschreibung (Braunschweig,
Vieweg, 1901).
Herrn H. M.-H. in Cottbus. — Der Titel des frag-
lichen Buches lautet: Dr. R. Neuhauß, Lehrbuch der Mikro-
photographie. Verlag von S. Hirzel in Leipzig. 2. Auflage.
1898. Preis 7 Mk.
Herrn H. S. in Triebitz. — Mit Sicherheit wissen wir
nicht, wodurch der Feuerschwamm an Baumstämmen hervor-
gerufen wird, doch ist es wahrscheinlich, daß die verstäuben-
den Sporen des Schwammes in Wundstellen des Stammes ein-
dringen, hier Mycel entwickeln, welches nach und nach den
Stamm durchwuchert und den Holzkörper zersetzt. Dieser
Vorgang dürfte wohl bei allen Polyporen stattfinden, soweit
diese an Stämmen wachsen. Prof. Hennings.
Neue zoologische Werke
Herrn Meyer- IIa rassowitz. — Geologische Karten
des Gesamtgebietes der Provinz Brandenburg gibt es, soviel
uns bekannt ist, nicht. Jedoch existieren, außer den von der
Kgl. preußischen Geologischen Landesanstalt herausgegebenen
geologischen Meßtischblättern im Maßstabe I : 25 000 nach-
folgende geologische Karten rcsp. Schriften mit Karten,
welche einzelne Gebiete der Provinz behandeln:
1. Geologische Übersichtskarte der Umgegend von ^
Berlin in 2 Blatt I : 100 000. Mit geognostischer
Beschreibung der Umgegend von Berlin. Von
G. Berendt und W. Dames unter Mitwirkung
von F. Klockmann. 1885.
2. Geologische Karte der Stadt Berlin- 1 : 15000, ^ i£
geologisch aufgenommen, unter Benutzung der
K. A. Lo5sen'schcn Karte der Stadt Berlin durch '^
G. Berendt. 1888.
3. Geognostische Übersichtskarte der Stadt Berlin
I : 25000. Nebst Erläuterungen: Der tiefere
Untergrund Berlins. Von G. Berendt unter Mit-
wirkung von F. Kaunhowen. 1897.
4. Benningsen-Förder, R. v. Erläuterungen zur geognostisclien
Karte der Umgegend von Berlin. Mit Karte. Berlin
1844- 4»-
5. Berendt (G.), Die Diluvialablagerungen der Mark Branden-
burg, insbesondere der Umgegend von Potsdam. Nebst
geognostischer Karte der Umgegend von Potsdam. Berlin
1863. 8».
6. Fiebelkorn, M. Geologische Ausflüge in die Umgegend
von Berlin. Mit 2 kl. Karten. Berlin 1896. 8".
7. Girard, H. Die norddeutsche Ebene, insbesondere zwi-
schen Elbe und Weichsel , geognostisch dargestellt. Mit
geologischer Karte der Gegend zwischen Magdeburg und
Frankfurt a. O. I : 500000. Berlin 1855. 8".
8. Lossen, K. A. Der Boden der Stadt Berlin. Mit geo-
logischer Karte der Stadt Berlin. Berlin 1879. 8° und
Atlas in Fol, Eberdt.
elterlichen Kernanteile.
aus dem Verlage von Gustav Fischer in Jena.
Das Problem der Befruchtung. ^°° or. Theodor
an der Universität Wiirzluirg-. Mit 19 Abbildungen im
Text. 1902. Preis: 1 Mark 80 Pf.
Vergleichende chemische Physiologie der
niederen Tiere. ^°" ^' ^^t" ^9" Furtii, Pmat-
dozcnt an der Universität Slrass-
burg i. E. 1902. Preis Ki Mark.
Ueber das Schicksal der elterlichen und gross-
Morpliulogisclie tieiträge
zum Ausbau der Ver-
erbungslehre. Von Dr. Valentin Hacker, Professor an
der Technischen Hochschule in Stuttgart. Mit 4 Tafeln
und 16 Texlfiguren. 1902. Preis: 4 MarTi.
Lehrbuch der vergleichenden Anatomie, ^l^^^'
a. o. Professor der Zoologie an der Universität Heidel-
berg. Erste Lieferung. Mit 412 Abbildungen im
Text. 1902. Preis: 8 Mark.
Handbuch der vergleichenden und experimen-
tellen Entwickelungslehre der Wirbeltiere.
Herausgegeben von Dr. Oscar Hcrtwig, o. ö. Professor,
Direktor des anatomiscli-biologischen Instituts in Pierlin.
Vollständig in etwa 20 Lieferungen zu je 4 Mark
50 Pf, die in rascher Folge erscheinen sollen. Bisher
erschien Liefeiung 1—1.5.
Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungs-
geschichte der wirbellosen Tiere. ^ ','"';• |*"'';
2 sclielt, Piof.
in Marburg und K. Heider, Professor in Innsbruck.
Allgemeiner Teil. Erste Lieferung. Erste und
zweite Auflage. Mit 318 Textabbildungen. 1902.
Preis: 14 Mark.
Zweite LieferiiU}'. Mit 87 Textabbildungen. 1903.
Preis: .5 Mark ;')0 Pf.
Das Problem der geschlechtsbestimmenden
Ursachen ^"" ^^'' ^' ^'"' ^enliossek, o. Professor
'. der Anatomie in Budapest. 1902. Preis:
2 Mark.
Horae Zoologicae.
Zur vaterländischen Naturkunde.
Ergänzende sachliche und ge-
schichtliche Bemerkungen. Von Dr. Franz Lejdig,
emerit. Prof. 1902 Preis: 6 Mark.
Aus dem Inhalt: Absclinitt I. Landschaft. — Vegetation.
TauVierhöhe, Taubergrund, Maiuthal, Saalethal etc. (S. 1—61).
Abschnitt II. Tiere. — Vorkommen, Bau und Leben. Sporo-
zoiii. FlaKellaten bis Vögel, Säugetiere (S. Ga-aos). Beilagen:
Zur Vi-rnnderung des Einzelwesens. Zur Veränderung der Faima.
Küc■l^^,'a1l^• der Tierbevölkerung. Zur Abstammungslehre (S. a09— ä2-i).
Absclinitt III. Geschichtliches. Liun6, Rothenburg o. T., Winds-
heira etc. (S. ää3— ii73). — Verzeichnis der litterarisclien VeröfTent-
licliungen des Verfassers.
Lehrbuch der vergleichenden Histologie der
Tiere ^°" ^'- '^'""' t'iJniillo Sclineider, Pnvat-
dozent an der Universität Wien. Mit 691 Te.xt-
abbildungen. 1902. Preis: 24 Mark.
Inhalt: H. Potome: Die Zusatztiedern (Aphlebien) der Farne. — Kleinere Mitteilungen: G. Höslermann: Über die
Einwirkung des Kochsalzes auf die Vegetation von Wiesengräsern. — H. Moissan und J. De war: Weitere Experi-
mente über die Affinität und die Reaktionen des flüssigen Fluors bei — 187". — E. Guarini: Elektrizität und Land-
wirtschaft. — Wetter-Monatsübersicht. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Hans
Driesch: Die „Seele" als elementarer Naturfaktor. — Natur und Staat. — A. Schuck; Die Stabkarleu der Mar-
shall-Insulaner. — Litteratur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Gross-Lichterfelde.West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. PäU'sche Buclidr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „Di6 iNatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 25. Oktober 1903.
Nr. 4.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5263.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchliändlerinserate durrli die
Verlagshandlung erlieton.
Die sechs Berichte Schiaparelli's über seine Marsforschungen.
[ Nachdruck verboten.'
Von 1 >r. Bruhns.
Während es die Aufgabe der beiden ersten in
dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsätze (N. F. I,
S. 541 u. 553, 11, 181) gewesen war, einen Überblick
über die Gesamtheit der bisherigen Beobachtungen
des Mars zu geben, sollen in dem folgenden einige
Beispiele aus dem reichen Material an Detail-
beobachtungen besprochen werden, durch die der
entschieden bedeutendste Marsforscher der Gegen-
wart die Kenntnis unseres Nachbarplaneten zu
fördern bemüht war.
Seit Schiaparelli 1878 seinen ersten Bericht
über die von ihm im voraufgegangenen Jahr ausge-
führten Studien veröffentlichte, hat er noch 5 weitere
Bände über die Resultate der Jahre 1879, 1881/2,
1883/4, 1886, 1888 herausgegeben. Während die
ersten zwei Veröffentlichungen rasch den Beobach-
tungen selbst folgten, ist die dritte erst 1886, die
vierte 1896, die fünfte 1897, die sechste 1899 er-
schienen.') Ein siebenter Band über die Opposition
^) Osservazioni astronomiche e fisiche sulP asse di rota-
zione e suUa topografia del pianeta Martc. Memoria prima
(1878), seconda(i 881), terza(i886), quarta(i896), quinta (1897),
sesta (1899). Aus den Bänden der Reale .\ccademia dei
Lincei, Floma.
von 1890 steht, soviel mir bekannt ist, zur Zeit
noch aus. Das vorzüglich Wertvolle dieser Serie
von Publikationen ist die regelmäßige topogra-
phische Schilderung der einzelnen Gebiete des
Mars, so wie sie aus den vielen verschiedenen
Skizzen und Zeichnungen sich darstellen lassen.
Die neuen allgemeinen Ergebnisse der Arbeit des
Mailänder Astronomen sind ja durch zahlreiche
sonstige Berichte hinreichend bekannt ge-
worden.
Es war nicht von Anfang an die Absicht
Schiaparelli's gewesen, sich an der Durchforschung
des Mars zu beteiligen. Mehr aus gelegentlichem
Interesse und um seinen neuen Merz'schen Re-
fraktor (Brennweite 3,25 m, Objektivöffnung 2 1 8 mm),
der auf Doppelsterne sich sehr gut bewährt hatte,
zu erproben, richtete er iin August 1877 sein
Augenmerk auf den Planeten. Erst als er hierbei
die Erfahrung machte, daß er die von den früheren
Beobachtern gesehenen Objekte gut wahrnehmen
konnte, entschloß er sich am 12. September, ob-
wohl die Opposition schon vor 3 Tagen statt-
gefunden hatte, zu einer systematischen Fortsetzung
der Studien. Die folgende Tabelle gibt über die
50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 4
äußeren Bedingungen seiner Beobachtungen eine
kurze Übersicht;
Tabelle I.
1877—78
1 879—80
1881—82
1883—84
1886
18S8
s 9-
Q
OM'
5.
Sept.
12
Xov.
26
De?..
.SI
Jan.
6.
März
10
Apr.
25,00
19,28"
15.47"
13,90"
13.90"
15,50"
23. Aug.
30. Sept.
26. Okt.
5. Nov.
3. Fd.r.
2. .\pr.
16,22"
11,00"
7,80"
9,00"
14,90"
.= ?^ .c
O Ji
März
März
Apr.
Mai
Juli
Aug.
5,16'
5.87"
6,00"
6,90"
7.90"
S,3o"
Vom I.Mai 1886 ab benutzte er seinen neuen
18-zölligen Refraktor.
Den 4 ersten Publikationen hat Schiaparelli je
eine Karte in Merkators Projektion beigegeben,
auf deren Konstruktion besondere Sorgfalt ver-
wendet wurde. Nachdem er 1877/7B 62 verschiedene
Punkte so genau als möglich mikrometrisch fest-
gelegt hatte, bestiinmte er deren Lage 1879/80
von neuem und vermehrte ihre Zahl um 52.
Zwischen den so gewonnenen Plx-punkten wurden
auf Grund der nach dem Augenschein gefertigten
Zeichnungen die Grenzlinien der Oberflächengebiete
eingezeichnet. Hatte er anfangs diese Gebiete
durch scharfe harte Linien schematisch abgegrenzt,
so war er später bestrebt, auch die feinen Hellig-
keitsstufen und die Schattierungen darzustellen.
Auf der so gewonnenen ersten Grundlage arbeitete
er danach weiter unter Verwertung der zahlreichen
Kinzelskizzen , deren er z. B. 188 1/2 im ganzen
162 anfertigte. (S. Abb. i.)
Die Neigung der Marsachse gegen die Linie
Erde-Mars ist bekanntlich von Opposition zu Oppo-
sition veränderlich, so daß 1877/8 der Südpol bis
zu 25", 1879,80 bis zu 18,5" der Erde zugeneigt
war, 188 1/2 variierte die Neigung des Südpols zur
\'isierlinie von 7,6" bis zu — 2,5" und wieder
zurück bis zu ii,i", 1883/4 war entsprechend der
Nordpol der Erde um 12,3" bis 18,4" zugeneigt,
1886 um 21,8" bis 25,5", 1888 um 20,1" bis 24,9".
Mit Rücksicht auf diese Verhältnisse hat Schiapa-
relli 1886 und 1888 von der früheren Darstellungs-
methode nach Merkators Projektion abgesehen,
und statt deren eine polare Projektion angewandt,
die es ihm ermöglichte, die nähere Umgebung um
den Nordpol mehr der Wirklichkeit entsprechend
abzubilden. (S. Abb. 2.)
Bei der Verwendung des großen 18-Zöllers
hatte sich im Jahre 1888 die Zahl der einzeln
sichtbaren Objekte an günstigen Abenden derart
gehäuft, daß es sich notwendig zeigte, die Skizzen
in größerem Maßstabe mit einem Durchmesser
von '^J mm statt 60 wie früher herzustellen. Durch
vorheriges Einzeichnen von 2 oder 3 Punkten und
etwa einer Hauptlinie nach den 1877 und 1879 ge-
o ^
ij a.
B5 3
>0
,^15
60
78
64
59
3327
2256
20 44
■643
machten genauen Messungen wurden die Skizzen
vorbereitet, um zwischen ihnen die große Fülle
der Einzelheiten einfügen zu können.
Solcher Skizzen sind in jedem der 6
Berichte mehrere wiedergegeben , die
wegen der auf ihnen sich bietenden
Bilder besonderes Interesse darbieten.
Die Karten stellen nicht den in einem
gegebenen Augenblick sich zeigenden
Zustand der Oberfläche dar, sondern
sind vielmehr gewissermaßen übersicht-
liche Verzeichnisse aller erwähnten
Namen. In den Skizzen dagegen haben
wir Augenblicksbilder vor uns. (S.
Abb. 3-)
Doch wir verlassen diese allge-
meinen Ausführungen und wenden uns
einigen speziellen Gebieten zu, die be-
sonderes Interesse bieten und zugleich für viele
andere als Proben der Schiaparelli'schen Arbeit
dienen.
a) Eins der merkwürdigsten Objekte der süd-
lichen Marshemisphäre ist der Lacus Solls mit der
ihn umgebenden Region Thaumasia. Unter 20"
bis 30*' südlicher Breite und ca. 85" — 95" west-
licher Länge sieht man den nahezu kreisförmigen
dunkeln Fleck des Sonnensees, von dem 3 Kanäle
nach Süden (Ambrosia), nach Osten (Nektar) und
nach Nordwesten (Eophorus) ausstrahlen und durch
den hellen Ring Thaumasia die Verbindung mit
der großen dunklen Masse des Mare Australe und
des Mare Erythraeum, sowie mit dem Kanalsystem
des Lacus Phoenicis herstellen. Ihrer südlichen
Lage entsprechend war diese Gegend natürlich
am günstigsten zu sehen in den Jahren 1877/8,
187980 und 1881/2, während sie in den 3 nach-
folgenden Oppositionen sehr nahe dem Rand der
Scheibe sich befand. Doch hat Schiaparelli auch
dann noch deutlich den dunkeln Meck erkennen
können, und zwar machte er 1888 die bemerkens-
werte Erfahrung, daß Lacus Solls deutlicher sich
abhob am linken, hell beleuchteten Rand, als rechts
nahe dem beschatteten Phasenrand.
Von verschiedenen Beobachtern ist Lacus Solls
oft verschieden dargestellt worden. Schiaparelli
hebt 1877 ausdrücklich seine kreisförmige Gestalt
hervor; „wenn eine Verlängerung nach einer be-
stimmten Richtung angegeben werden könnte, so
würde ich sie in Richtung des Meridians, nicht
aber in der des Parallelkreises gezeichnet haben."
Kaiser, Lockyer, Dawes haben ihn dagegen
1862 und 64 deutlich elliptisch mit der großen
Achse von Ost nach West gezeichnet, und diese
ausgeprägt elliptische Gestalt mit der Richtung
von NO nach SW finden wir wieder bei Guillaume
und Wislicenus 1890, bei Campbell und Barnard
1892, bei Lowell 1894 und 1896 und bei P'auth
1898, während Plammarion, Wilson und Keeler
1892 die rein kreisförmige Gestalt angeben. Wenn
Schiaparelli zwar auch 1877/8 angibt, daß er die
Ränder des Lacus Solls leicht unregelmäßig, wie
gezähnt mehr vermutet, als gesehen habe, so ist
N. F. III. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
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er doch weit davon entfernt, ihn als so eckig
(viereckig) anzugeben wie Loh.se und Dre)-er 1879.
Bemerkenswert ist, dal3 Schiaparelli innerhalb
des Flecks unregelmäßige Abstufungen der Schat-
tierung sieht: „Die Dunkelheit ist am größten
und stärksten im Zentrum , mit unregelmäßiger
Abnahme gegen die Ränder nicht in gleichförmiger
Veränderung, sondern sprungweise, hier mehr, dort
5:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 4
weniger bemerkbar." 1894 wurde von Douglas
und Lowell unter anderen Objekten der Oberfläche
auch der Sonnensee doppelt, wenn nicht vierfach
durch je eine horizontale und vertikale Linie, von
Schäberle sogar dreifach durch vertikale (nord-südl.
Linien) geteilt beobachtet. Flammarion veröffent-
licht in seiner Monographie (pag. 475) eine Zeich-
nung Schiaparelli's von 1890, in der eine solche
helle Linie durch den See läuft, die etwa ',,, von
ihm im Osten abtrennt.
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«i osi "" 13 Ccrberus
Fig. 2. Martis phacnomcna, anno 1888 in licmispliacrio borcali obscrvata
An Kanälen, die vom Lacus Solls ausgehen,
hat Schiaparelli von 1877 bis 1888 stets nur die
anfangs erwähnten drei sehen können, an einen
vierten glaubt er sich nachträglich aus dem Jahre
1879 undeutlich erinnern zu können, nachdem er
erfahren hat, daß Burton (bei Dublin) ihn gesehen
hat. Erst in der erwähnten Zeichnung von 1890
tritt der Burton'sche auf und dazu noch 2 andere.
Flammarion gibt auf seinen Bildern von 1892
keine, Lowell 1894 nicht weniger als 11, 1896
noch 9 an, während wir bei Hussey 1892 5 finden.
Besonders wechselnd in seinem Aussehen ist der
Kanal Ambrosia, der I S77 als breites mattes Band,
1879 als schmale dunkle Linie, 1890 gar nicht zu
sehen war.
b) t^in anderes Objekt der Südhalbkugel, das
eigenartige Bilder gibt, ist das Land Hellas. Fast
genau südlich von der bekannten Großen Syrte,
dem oft beobachteten großen Dreieck, gelegen,
bildet Hellas zwischen 55" und 29" südlicher Breite
einen großen Kreis, durch den hindurchziehend
seit 1877 in nordsüdlicher Richtung der Kanal
Alpheus, seit 1879 aul.5erdem in ostwestlicher Rich-
tung der Peneus beobachtet werden konnte. Als
scharf begrenzter, aber kleiner heller Fleck, zeigt
es sich schon auf einer Zeichnung von Schröter
(20. Nov. 1798), ist danach sehr oft gesehen worden,
schärfer oder schwächer von der dunkeln Um-
gebung sich abhebend, bis in die letzten Jahre.
Als jüngste Darstellung finde ich es auf einigen
Zeichnungen von Herrn Fauth aus dem Jahre 1899,
wo es am äußersten Rande der sichtbaren Scheibe
mit dem deutlich kenntlichen dunklen Kreuz hell
erscheint. Auf einer Zeichnung von Flammarion
vom 16. August 1892 macht es den Eindruck
eines grollen, fast quadratischen Fensters mit ab-
gerundeten Ecken.
Stets finden wir Hellas im
Westen umsäumt von dem
breiten dunklen Hellespont, imd
fast stets im Süden und Osten
von dem ebenfalls dunklen
Hadriaticum Marc. Doch zei-
gen sich schon hier sehr be-
merkenswerte Differenzen.
Zwischen Hadriaticum Marc
einerseits und Thyrrhenum
Marc und Syrtis magna ande-
rerseits erstreckt sich das helle
Land Ausonia, das 1877 durch-
aus hell, aber seit 1879 durch
den breiten verwaschenen Kanal
Euripus in 2 Teile zerlegt er-
schien, und die „Region"' (matter
getönt) Japygia. Beide sind
sehr variabel, so daß wir sie
z. B. 1879 bei Schiaparelli als
eine unbestimmt begrenzte
weißliche Hache dargestellt
finden mit einem breiteren, matt
dunklen Bande im Westen.
Dagegen hat Lowell 1895 durch
1 Syrlis magna
2 E^uphratcs
3 Lacus Ismenius
4 .Arnon
5 Lacus ArcÜiusa
6 Kisun
7 Nilttsyrtis
8 Astusapcs
9 Elysium
10 Eunoslus
1 1 Hvblacus
Slv.x
/ i
K
Fig. 3. Elysium nach einer Zeichnung vom 18. Januar 18S4.
einen schmalen scharfen Kanal im Osten der
Hellas und die zusammenhängende Verbindung
der beiden Meere Hadriaticum und Thyrrhenum
ein ganz andersartiges Bild erhalten.
Das erwähnte Neuauftauchen des Kanals Euripus
wird 1879 von Schiaparelli in einer Weise ge-
N. 1'. III. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
53
schildert, die sehr charakteristisch für die Gebilde
auf dem Planeten ist. Am 26. Oktober sah er
in dieser Gegend einen unbestimmten Schatten.
Erst am ::8. war der Kanal unter günstigen V'er-
hältnissen deutlich erkennbar, wie er die beiden
Halbinseln Hespcria und Ausonia mit einer Breite
von ungefähr 5" durchsetzte. Beide Ränder waren
in Ausonia undeutlich, aber die Allgemeinrichtung
durchaus klar und bestimmt. Am 8. November
war er reichlich so breit, wie die Hälfte von Au-
sonia und beiderseits gut begrenzt. Er blieb auch
in Ausonia bis in den Januar gut zu sehen, während
er vom 7. Dezember an in Hesperia sich plötzlich
verwischte und unsichtbar wurde. 1877 ist er am
14. Oktober sicher nicht sichtbar gewesen, da-
gegen scheint ihn Green am 10. September ge-
sehen zu haben. Auch 1881 und 1883 war Euripus
klar zu bemerken. Später war die Lage des Mars
zu ungünstig.
In Hellas selbst beobachtete Schiaparelli mehr-
fach eine verschiedene Helligkeit in den einzelnen
Quadranten, so daß er z. B. am 13. und 14. No-
vember 18S1 glaubte, daß nur der südwestliche
Quadrant als selbständige Insel hervortrete. Dai-
auf mag es auch zurückzuführen sein, wenn er
mehrfach den Durchmesser von Hellas auf nur
ca. 5" bis 6" angibt.
c) Eine sehr auffallende Beobachtung hebt
Schiaparelli in der sechsten Publikation hervor.
Aus der Mitte des Sabaeus Sinus erstreckt sich
nach Norden der Kanal Euphrates, beginnend bei
ca. 5" südlicher Breite und ca. 338" areographischer
Länge. Auf der Karte von 1879 (s. Abb. i) ist
er mit einem geringen Winkel nach ()sten ab-
biegend bis zum Ismenius Lacus gezeichnet, wo
die areographische Länge noch etwa 334" beträgt
(ca. 40" ndl. Br.). 1881 2, 18834 und ganz scharf
ausgesprochen 1886 verläuft er parallel dem Me-
ridian und setzt sich jenseits des Ismenius Lacus
fort als Arnon bis zum Lacus Arcthusa und von
da aus mit einer geringen Biegung nach Osten
als Kison bis zum 80." nördlicher Breite und bzw.
310." areographischer Länge. Auf diese Weise
tangiert der Euphrat-Arnon-Kison gewissermaßen
die um den Nordpol liegende Schneezone, diese
von Süd nach Nord gerichtet links liegen lassend.
Wesentlich unterscheidet sich davon das Bild
1888 (s. Abb. 2). Euphrat ist zwar auch noch in
derselben Lage wie früher, aber schon beim Lacus
Ismenius läßt sich eine kleine Lagenverschiebung
von 6'/.," nach Westen berechnen. Während sich
jedoch diese Abweichung immerhin noch als ein
allerdings auffallend hoher Beobachtungsfehler an-
sehen läßt, ist das nicht möglich bei dem weiteren
Verlauf des Arnon-Kison, der die Polkappe rechts
liegen lassend, bei ca. 20" areographischer Länge
an den 80. Breitengrad herankommt. Dies besagt,
daß das ganze, wesentlich gleichgerichtete Linien-
system Euphrat bis Kison nicht wie früher eine
schwache Wendung nach fallenden Längengraden,
sondern eine solche nach steigenden ausführt. Wir
haben es hier mit einer ganz scharf beobachteten
Änderung in der Konfiguration der Marskanäle
von einer Opposition zur nächsten zu tun, für die
jede Erklärungsmöglichkeit noch fehlt.
Eine ähnliche Erscheinung glaubt Schiaparelli
im Laufe des Astusapes, eines kurzen von Syrtis
magna nach dem Nordende von Nilosyrtis ver-
laufenden Kanals, zu beobachten. Auch dieser
scheint in diesem Jahr, namentlich deutlich am
6. Juni, eine kleine Drehung in gleicher Richtung
wie Euphrat-Kison vollzogen zu haben. Doch
fehlen genaue Messungen, so daß er hier nur die
Vermutung ausspricht, wo er im ersten Falle von
Gewißheit redet.
d) Noch ein weiteres Gebilde der Marsober-
fläche wollen wir hier erwähnen, das besonders
merkwürdig auf einer Zeichnung des 4. Bandes
(18834) hervortritt (s. Abb. 3). Es ist das Land
Elysium, das hier als Polygon von fast kreisförmiger
Gestalt erscheint , gebildet durch die Kanäle
tlunostus, Hyblaeus, St\'x und Cerberus, die alle
4 breit verdoppelt sich zeigen. — 1877 war das
unter 10 bis 36" nördlicher Breite gelegene Ely-
sium infolge der ungünstigen Stellung des Mars
gar nicht, 1879 ri"'' undeutlich zu sehen, aber 1881
ist sclion seine Kreisgestalt scharf ausgeprägt. Viel-
fach zeigt es sich heller wie die Nachbarländer.
Diese Helligkeit ist jedoch ungleichmäßig, fast
immer mehr hervortretend, wenn sich das Gebiet
rechts vom Mittelmeridian der Scheibe, d. h. in
Abendlage befand. 1879 hatte Schiaparelli ge-
glaubt, hier Schnee wahrzunehmen, den er 1881
aber nicht wieder nachweisen konnte. Als schwie-
riges, aber durchaus deutliches Objekt war der Kanal
Galaxias, in nordsüdliclier Richtung durch Elysium
verlaufend, zu sehen. Nach dieser Opposition war er
jedoch nicht wieder bemerkbar. Ein anderer,
schwer nachzuweisender, kurzer Kanal war zu be-
obachten am Ostrand, wo er die Kanäle Styx und
Cerberus verbindend die von beiden gebildete Ecke
abschneidet. Auch auf der Karte von 1883/4 ist
diese Segmentbildung zu erkennen.
18834 zeigte sich nun unter anderem eine
wichtige Veränderung, indem die umgebenden
Kanäle erst undeutlich und verwaschen aussahen,
am 18. Januar aber das ganze Gebilde als der in
der Figur wiedergegebene Doppelring sich darbot.
Diese Verdoppelung geschah dabei auf Kosten
des inneren Raumes, dessen Durchmesser sich
deutlich verringerte. Die P""arbe des ganzen Landes
war auch in diesem Jahre ebenso wie in den
folgenden wechselnd, häufig hell, mitunter so weii.3,
wie der Polfleck. In den folgenden Oppositionen
wiederholten sich imWesentlichen diese Erfahrungen.
Über die verschiedenen Schattierungen, wie sie
sich im Verlauf weniger Monate darboten, gibt
folgende Tabelle aus dem Jahre 1888 Auskunft
(hier ist to die areographische Länge des mitt-
leren Scheiben meridians. Die von Elysium ist
ca. 220").
April 2. (0=211" Elysiumniclit weiß, umgeben
von breiten dunklen Streifen.
Mai 2. 258" Weiß.
54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
)t
3-
n
3-
5-
6.
J)
7-
)l
7-
)»
13
Juni
6.
12.
i8.
21.
Juli 21.
22.
25-
Mai 2. 271" Sehr weiß.
„ 2. 294* Am Rande fehlt Elysium,
weiß wie die Polarkalotte,
gut begrenzt; es sieht aus
^ wie eine zweite; Kalotte.
240" Nicht weiß.
256" Ist weiß geworden.
218" Nicht weiß.
207" Nicht weiß.
195" Etwas weiß auf der rechten
Seite.
202" Weiß, aber nicht glänzend.
1 64" Gelb- weiß, glänzend am rech-
ten Rand.
282" Weiß am Rande, aber nicht
so lebhaft wie Aeolis.
221" Weiß, aber weniger kräftig
wie Memnonia.
J69" Hin wenig weil5 am rechten
Rande der Scheibe.
160" Ein wenig aschfarbenes Weil3
rechts bezeichnet den Ort
von Elysium.
213" Ziemlich weiß, aber nicht
glänzend.
211" Etwas weiß.
188" Nicht weiß, soeben aus dem
Schatten herausgetreten.
Auch das weiter nördlich gelegene Gebiet ist
von Interesse, insofern als es 1886 durchaus wie
von einemWolkenschlcier verhüllt erschien, während
sich hier 1888 eine Anzahl kleinerer dunkler Flecke
zeigte, die „laghi", die einigermaßen an die später
1892 erwähnten „lakes" Pickering's erinnern.
e) In allen 6 Bänden ist je ein besonderer Ab-
schnitt den Polarflecken gewidmet, und zwar ist
in den 2 ersten Oppositonen der Stellung des
Planeten entsprechend hauptsächlich die südliche,
in den 4 letzten die nördliche Halbkugel be-
obachtet worden.
Bekanntlich ist der südliche Polarfleck nicht
konzentrisch mit den Polarkreisen des Planeten,
sondern hat seinen Mittelpunkt 5 bis 6 Grad in
der Richtung auf Mare Erythraeum vom Pole ab-
gewandt. Es sei hier sogleich darauf hingewiesen,
daß ebenfalls der nördliche Polarfleck eine freilich
geringere Exzentrizität von ca. 1V.3 Breitengraden
zeigte. Von Interesse sind natürlich die Angaben
über den Durchmesser dieser Kappe und seine
Veränderung im Laufe der Opposition, wie sie
sich aus folgender Tabelle, einem Auszug aus den
von Schiaparelli gegebenen, erkennen läßt.
Tabelle II.
Durchmesser des südlichen Polarfleckes. 1877 u.1879.
Datum. Zeit vor ( — ) bezw. Durchmesser
nach (-|-) dem Solstiz. in Grad.
1877 Aug. 23. —26 28,6
Sept. 3. — 15 26,0
„ 12. — 6 17,4
„ 22. + 4 14,7
Okt. 2. 4-14 11,8
Okt. 12.
-24
9,5
Nov. 4.
h47
7.0
1879 Okt. 12.
-59
7,6?
-69
6,7
Nov. 10.
-88
4,6
„II-
-89
11,0?
„ 17-
-95
6,1?
„ 28.
-106
4,4
Dez. 21.
-129
5,5
„ 26.
-134
12,0
1880 Jan. 2.
I-141
14,3
Zu dieser Tabelle ist zu bemerken, daß trotz
weiterer Beobachtung bis zum 2. Januar 1878 ein
völliges Verschwinden des Fleckes nicht eintrat,
vielmehr schätzte Schiaparelli Ende Dezember
und später seinen Durchmesser wieder auf 15"
bis 20". .Aber diese späteren Beobachtungen haben
sehr darunter gelitten, daß in dieser ganzen Gegend
Nebel auftraten, die die ganze Polarregion weißlich
erscheinen ließen. Besonders beachtenswert ist es,
daß mehrmals der Fleck wie eine Protuberanz aus
der Scheibe hervorzuragen schien , woraus man
schließen muß, daß er so, wie er gesehen wurde,
nicht reell war, sondern noch einen viel kleineren
Durchmesser, wie den angegebenen, hatte. Seine
Gestalt erschien wohl mitunter unregelmäßig, aber
bot nicht so viel Interessantes, wie die des Nord-
polarfiecks.
Dieser liatte sich schon 1877 in Form von 6
vom Scheibenrand hereinragenden Spitzen bemerk-
bar gemacht, die auch 1879 bis Mitte Januar allein
sichtbar waren. Vom Dezember an aber begannen
diese sich zurückzuziehen und ihren Umfang zu
verringern, bis sich aus ihnen am 26. Januar die
zusammenhängende geschlossene Polarkalotte ge-
bildet hatte, die von nun an durchweg eine ziem-
lich regelmäßige Gestalt hatte. Nur an 3 Stellen
zeigten sich vorübergehend in der Zeit vom
31. Januar bis 10. Februar Einbuchtungen, die zum
Teil mit den Zwischenräumen der früheren Hervor-
ragungen zusammenpaßten. Auch am Norpolar-
fleck ließ sich nun und in den nächsten Oppo-
sitionen eine von der Jahreszeit abhängige Ver-
änderung seines Durchmessers feststellen, wie die
ausführlichen, von Schiaparelli gegebenen Tabellen
beweisen.
Aus diesen Tabellen erkennt man aber auch,
daß diese Veränderung eine ungleichmäßige war
und namentlich in keinem Jahr zum völligen Ver-
schwinden geführt hat. Und weiter ergab sich
aus den beiden Oppositionen von 1881 2 und
1883 '4 die sehr bemerkenswerte Erscheinung einer
„kritischen Periode", in der die Nordpolarklappe,
vorher kaum sichtbar, in wenig Tagen das Maxi-
mum ihrer Ausdehnung erlangte. Dies fand 1882
statt in der Zeit vom 17. bis 26. Januar, 1883 in
der Zeit vom 14. bis 18. Dezember. Beide Pe-
rioden lagen nahezu in der analogen Jahreszeit auf
dem Mars, nämlich
1882 48 Tage nach dem Frühlingsäquinox und
151 Tage vor dem Sommersolstiz. (Jan. 25.)
N. F. ITI. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
1882 51 Tage nach dem Frühlingsäquinox und
149 Tage vor dem Sommersolstiz. (Dez. 26.)
1886 und 1888 konnten diese „kritisclien Perioden"
nicht mehr beobachtet werden, da die Jaiireszeit
auf dem Mars schon zu weit vorgeschritten war.
Was die ferneren Besonderheiten dieses Polar-
fleckes anbetrifft, so wollen wir nur noch einiges
über die 1888 beobachtete Teilung des Fleckes
erwähnen, die uns an die dunklen Bänder erinnert,
die 1894 und 96 auf dem Lowelhlnstitut im Süd-
polarfleck beobachtet wurden. Vom 29. April dieses
Jahres bis zum 5. Mai war nichts besonderes zu sehen,
am 8. Mai dagegen findet sich in Schiaparelli's
Tagebuch die Stelle : „Der Schnee ist quer durch-
schnitten von einer feinen dunklen Linie, von der
ich keine Fortsetzung außerhalb dieses Schnee-
fleckes sehen kann. Ich hatte sie schon gestern
geahnt." Am 9. Mai ist die weiße Masse durch
2 solcher Linien in 3 Teile zerlegt. Am 10. Mai
ist nur eine Teilungslinie zu sehen, die sich nach
rechts außerhalb des Fleckes fortsetzt und links
mit einem dunklen tags vorher noch nicht vor-
handenen See zusammenhängt. Am 13. und 15. Mai
ist die dunkle Bande wieder sichtbar und zwar
jetzt breiter als vorher. Die nächste genaue Be-
obachtung am 24. Mai zeigt die Schneemasse
wieder regelmäßig ohne irgend welche Teilung,
was aber möglicherweise seinen Grund in der
Stellung des Planeten haben kann. Erst vom
4. Juni bis 13. Juni ist die Teilung wieder sicht-
bar. „Der Schnee hat einen kleinen Begleiter zur
linken. L)enkbar beste Definition! (Imagine piu
che superba!) Der größere Schneefleck ist un-
gefähr in der Mitte durch eine dunkle Linie geteilt,
aber das Stück links ist weiter abgelegen. Das
große Stücke ist nicht symmetrisch, sondern ei-
förmig und zwar weniger zugespitzt auf der linken
Seite." Diesmal verschwand die Erscheinung, ohne
daß derselbe Grund wie oben vorlag, in den Tagen
vom 13. bis 27. Juni. Vom 12. bis 15. Juli war
das kleine abgetrennte Stück wieder nachweisbar.
Mit diesen Tagen hören aber die deutlichen Be-
obachtungen der Polarkappe auf .Sie ist nur noch
vereinzelte Tage sehr reduziert und einfach bis
zum 29. Juli, dem Ende der Mailänder Beob-
achtungen überhaupt, zu sehen.
Wir brechen hiermit unseren Bericht ab. Nur
einige wenige Punkte haben wir aus dem reichen
Material hervorgehoben, aber sie werden mit dem,
was wir schon früher über Schiaparelli hier und
da erwähnt haben, ausreichen, zu zeigen, auf
welchem Wege die positive exakte Marsforschung
fortschreitet. Nur erst eine kurze Reihe von Oppo-
sitionen ist verarbeitet worden , aber schon ist
manches sichere Resultat zutage gefördert. Vieles
freilich ist auch rätselhaft und unerklärlich. Oft
werden die Verhältnisse auf unserem Nachbar-
planeten mit denen auf der Erde verglichen; ob
mit Recht oder Unrecht: wer vermag es heute zu
entscheiden ? Mit S|iannung und Interesse werden
wir aber verfolgen dürfen, was uns etwa die Zu-
kunft für Aufklärun"- bieten ma«-.
Kleinere Mitteilungen.
Über den Hummer hielt Professor Ehren-
bau m - Helgoland einen Vortrag im Institut für
Meereskunde zu Berlin, der in der Plscherei-
Zeitung (Verlag von J. Neumann in Neudamm)
veröftentlicht wurde.M
Hummer - Fischerei kann an keinem anderen
Punkte der deutschen Seeküsten ausgeübt werden
als bei Helgoland. Zwar werden auch von un-
seren Nordseefischern gelegentlich einige Hummer
gefangen, aber dies sind meist nur verirrte Tiere,
da der felsige Boden, der den eigentlichen und
bevorzugten Aufenthalt des Hummers bildet, in
der offenen Nordsee außerhalb von Helgoland
kaum vorkommt und da andererseits der Helgo-
länder Felsgrund wegen seiner gefährlichen Be-
schaffenheit den Kurrenfischern der Nordsee ihre
Tätigkeit verbietet.
Der Fang des Hummers wird fast überall
gleichartig betrieben, nämlich mit Hilfe von Fang-
körben, die nach Art der Aalkörbe konstruiert,
das Tier mit einem Köder anlocken und leicht
herein-, aber schwer wieder herauslassen. Diese
') Für die Ueberlassung der Abbildungen sagen der ge-
nannten Zeitung unseren besten Dank.
vogelbauerähnlichen Körbe (helgoländisch : Tiners)
sind am Boden mit Steinen oder Zement beschwert
und werden an einer mit Korkstücken besetzten
Leine, dem ,,Simm", auf den Boden des Meeres
versenkt, um alle Tage einmal aufgeholt, entleert
und mit frischem Köder versehen zu werden.
Ein einzelnes mit zwei Mann besetztes Hummer-
boot fischt gleichzeitig mit 40, 60 bis 100 Stück
solcher Körbe, die in Reihen gesetzt werden und
an dem mit einer kleinen Boje gemerkten oberen
Ende ihrer Leine leicht aufgefunden werden. In
der unmittelbaren Nähe von Helgoland liegen
mehrere Tausende solcher Körbe.
Außer den Körben wird gelegentlich beson-
ders im Herbst noch eine andere Art von Fang-
geräten benutzt, die „(jlippen", welche den Krebs-
tellern ähnlich konstruiert sind und, wie es scheint,
auch anderswo, z. B. an den britischen Küsten,
vielfach zum Hummerfang benutzt werden. Die
Glippen bestehen aus einem einfachen Netz-
beutel, der an einem eisernen Reifen von 50 cm
Durchmesser hängt und an einer Leine in die
Tiefe hinabgelassen wird. In der Mitte des eiser-
nen Reifens ist von Draht oder Bindfaden ge-
halten der Köderfisch befestigt, so dass er beim
Herablassen des Ringes auf dem Boden in die
Mitte des Netzes zu liegfen kommt. Glaubt der
S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 4
Fischer, daß ein Hummer den Köder angenommen
hat, so tut er einen kurzen Ruck an der Leine,
so daß der Hummer in den unter ihm hängen-
den Sack fällt , und holt schnell ein. Gewöhn-
lich aber werden die Glippen ebenso wie die
Hummerkörbe an mit Korken versehenen Boje-
leinen in Abständen von lo bis 12 Faden ver-
senkt und in kurzen Zwischenräumen aufgeholt, in
der Erwartung, daß die am Köder nagenden Tiere
im Momente des Aufhebens in das darunter hän-
gende Netz hineinfallen. — In den Glippen sowohl
als in den Körben werden meist statt des zu er-
wartenden Hummers nur große Taschenkrebse
(Cancer pagurus L.) gefangen, aber auch diese
werden in den Kauf genommen als nützlicher
Köder für den Fang von Dorsch und anderen
Fischen, welche ihrerseits wieder als Hummerköder
benutzt werden.
Hummer ist eine begrenzte, die sich nicht durch
Zuzüge von entfernteren Gebieten beliebig ergänzt
oder vergrößert.
Im Jahre 1902, welches ein sehr schlechtes war,
sind im Frühjahr 29 000 Pfund, was sehr wenig
ist, und im Herbst 12 300 Pfund, was als Herbst-
fang sehr reichlich ist, gefangen worden, so daß
also diejenigen Boote, welche beide Fangsaisons
mitgenommen haben , durchschnittlich 660 Pfund
im ganzen Jahre fingen, wobei zu bemerken ist,
daß das zugleich der Anzahl der gefangenen Hum-
mer entspricht, da das Durchschnittsgewicht der
gefangenen Hummer etwa ein Pfund beträgt.
Es konnte konstatiert werden, dass 34749
Stück Hummer 34 065 Pfund wogen (also durch-
schnittlich eine Kleinigkeit [lO g] weniger als ein
Pfund das .Stück). In besonders günstigen Jahren
mögen statt der oben erwähnten 41 300 des Jahres
Fig. I. Körbe zum Fang des Hummers.
Es werden bis zu 50 Stück 1 lummcr mit die-
sen Geräten von einem Boot in einem Tage ge-
fangen.
In der kältesten Zeit des Jahres ruht der
Hummerfang gewöhnlich, nicht nur weil er dann
vielfach durch ungünstige Witterungsverhältnisse
verhindert wird, sondern auch weil der Hummer
in eine Art Kältestarre verfällt und dann dem
Köder nicht Jiachgeht. Außerdem existiert aber
auch im Sommer eine — früher durch Übereinkunft
der Fischer, jetzt durch Polizeivorschrift geregelte
— Schonzeit von Mitte Juli bis Mitte September,
während der nicht gefischt werden darf.
In der F"rühjahrsperiode werden die Haupt-
mengen gefangen, in der Herbstperlode weniger
als halb so viel wie im Frühjahr. Dies liegt im
wesentlichen an den Witterungsverhältnissen.
Die Zahl der bei Helgfoland existierenden
1902 etwa 60000 Stück gefangen werden, wobei
auf das während beider Saisons fischende Boot etwa
900 Stück entfallen würden.
Sobald das Boot vom Fange zurückkehrt, wer-
den den gefangenen Hummern mit einem .Stückchen
geteerten Garns die Scheren gefesselt, damit sie
sich nicht gegenseitig beschädigen können. In
anderen Gegenden wird dem in weniger menschen-
freundlicher Weise durch Eintreiben eines kleinen
Holzpflockes in die Basis des Daumengliedes der
Schere vorgebeugt. Die gefesselten Tiere werden
in großen hölzernen durchlöcherten Kästen aufbe-
wahrt und hier aufs sorgfältigste gefüttert und ge-
pflegt, bis sie allmählich unter möglichst günstigen
Bedingungen in den Konsum gebracht werden
können.
Solange das Wasser warm ist, entwickelt der
Hummer einen kräftigen Appetit, und sein Hunger
N. F. III. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
57
wird durch reichhche und regelmäßige Fütterung
mit zerschnittenen minderwertigen Fischen gestillt.
Eine natürliche Folge der Nahrungsaufnahme ist
das Wachstum, und der Hummer wird also in
der Gefangenschaft auch an (xröße und Gewicht
zunehmen. Dieses Wachstum erfolgt aber beim
Hummer, wie bei allen Krustentieren, die ja in
einem mehr oder weniger verkalkten und nicht
dehnbaren Chitinpanzer drinsitzen, nicht allmählich,
sondern periodisch durch eine Häutung, bei welcher
das Tier aus der alten Schale herausschlüpft und
bis zur völligen Erhärtung der ursprünglich weichen
neuen Schale sich in allen seinen Teilen ausdehnt
und streckt. Dieser Häutungsprozeß, der bei jugend-
lichen Tieren mehrmals, bei marktfähigen Hummern
durchschnittlich einmal im Jahre erfolgt, gehört zu
den einschneidendsten Vorgängen im Leben des
Hummers. Die Häutung geht in der Regel in der
warmen Jahreszeit vor sich und erfolgt auch wäh-
rend der Gefangenschaft in den Kästen. Der Um-
stand aber, dass die frisch gehäuteten und noch
weichen Tiere eine Zeitlang ganz unbeholfen und
wehrlos sind und in diesem Zustande von ihren
Kameraden unfehlbar gelötet und gefressen wer-
den, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, legt
dem Fischer die \'erpflichtung auf, sorgfaltig darüber
zu wachen, daß die Hummer vor der Häutung
von ihren Kameraden getrennt und isoliert wer-
den, bis sie ihre Beweglichkeit und Widerstands-
kraft zurückerlangt haben. Der Fischer beobachtet
imd betastet daher seine Pflegebefohlenen auf das
sorgfältigste und achtet auf das Weichwerden des
unteren Rrustpanzcrrandes, welches ihm das Nahen
der Häutung verrät.
Dieser Prozeß, der bei unnormalem X'erlauf dem
Tiere sehr oft das Leben kostet, verläuft normaler-
weise in der kurzen Zeit von zehn bis zwölf Minuten.
P"r. Herrick gibt sogar an, daß der Häutungs-
prozeß bisweilen nur sechs Minuten dauert, und
daß bei ganz jungen Hummern von wenigen Milli-
metern Länge die Häutung fast momentan er-
folgt, ist von mehreren Seiten beobachtet worden.
Normalerweise entsteht bei der Häutung nur
ein einziger Querspalt an der Oberseite der alten
Schale zwischen Kopfbrust und Abdomen oder
Schwanzstück, und zu dieser verhältnismäßig
schmalen Oeffnung mul3 das weiche Tier mit allen
seinen Anhängen heraus. Wohl bildet sich nach-
träglich oft in der brüchigen Schale des abgeworfe-
nen Brustschildes ein medianer Längsspalt aus;
aber dieser sowohl wie die an den Scheren be-
obachteten Längsspalte gehören nicht normaler-
weise zur Häutung. Unter dieser Voraussetzung
liegt das Verblüffendste in dem ganzen Häutungs-
vorgang darin, daß die in ihren Klauengliedern so
enorm dicken Scheren durch das schmale Rohr
gezogen werden, das die Schere in ihrem oberen
Teil bildet. Herrick hat bei einer von ihm be-
obachteten Häutung eines 28 cm langen Hummers
gemessen, dass dw größte Querschnitt der Schere
882 qmm, der kleinste dagegen (zwischen dem
zweiten und dritten Scherengliedej nur 93 qmm
betrug, daß also der Querschnitt der Schere auf
weniger als ein Neuntel reduziert werden mußte,
wenn das/Herausziehen des Gliedes aus der Schale
glatt erfolgen sollte. Schon an dem Ansatz des
sogenannten Handgliedes an die Schere beträgt
das Lumen der Schale weniger als ein Viertel von
dem größten Querschnitt der .Scherenhand.
Daß die unteren Ränder des Brustpanzers
weich werden, wurde bereits erwähnt; ebenso
wird aber auch in den engsten Teilen der Scheren-
wand — auf der inneren Fläche des zweiten bis
vierten Gliedes der Schere — der Kalk so weit
aufgelöst, daß nur eine dünne und etwas dehn-
bare Membran zurückbleibt, welche nun gestattet,
daß die Schere an dieser Passage etwas weniger
stark und nicht bis auf ein Neuntel ihres Quer-
schnittes zusammengepreßt zu werden braucht,
wenn sie aus der alten Schale herausgezogen wird.
Dieses Zusammenpressen — oder richtiger
wohl ."Ausziehen der Gliedmaßen, denn die Scheren
werden beim Häutungsprozeß wie ein Stück
Gummi in die Länge gezogen und vollständig
deformiert — ist nur denkbar, wenn ein Kollabieren
oder Zusammenfallen der muskulösen Teile vorauf-
gegangen ist, welche das Hauptvolumen der Schere
ausmachen, und dieses wiederum muß man sich
durch das LIerausziehen des Blutes hervorgerufen
denken. Der Hummer besitzt wie andere Kruster
Gefäße mit geschlossenen Wandungen nur für
das arterielle Blut, während das venöse Blut in
großen Hohlräumen des Körpers, sogenannten
Blutsinus, enthalten ist. Sind diese Hohlräume
zwischen den Muskeln der Schere gefüllt, so er-
scheint das Glied prall, sind sie leer, so fällt es
zusammen. Daß das Blut bei der Häutung wirk-
lich aus den Gliedmafien, besonders den Scheren,
in den Rumpf zurückgezogen wird, scheint auch
daraus hervorzugehen, daß der letztere sich enorm
aufbläht und dadurch den eigentlichen Häutungs-
jirozeß mit dem Zerreißen der häutigen Ver-
bindung zwischen Kopfbrust und Schwanz ein-
leitet. Durch das Aufblähen des Rumpfes wird
diesem die alte Schale zu eng, und sie wird daher
automatisch nach oben und vorn abgehoben, ob-
wohl (Gliedmaßen, Fühler etc. zunächst noch in der
alten Schale stecken bleiben. Wenn die alte Schale
in dieser Weise nach oben abgehoben wird, sieht
man auch, wie nützlich es ist, daß in den unteren
Rändern derselben der Kalk bereits aufgelöst wor-
den ist, weil diese dadurch ihre Schärfe verlieren
und zwischen ihren Rändern für den frei werden-
den weichen Hummer mehr Raum lassen. Hat
sich der Häutungsprozeß bis zu diesem Punkt fast
ohne merkliche Bewegungen des auf der Seite
liegenden Tieres vollzogen, so beginnt dasselbe
jetzt ruckweise, heftige Bewegungen zu machen,
durch welche es die Gliedmaßen, Fühler, Mund-
werkzeuge, Augen, Magen und alle inneren Skelett-
teile, welche an der Häutung teilnehmen, aus der
alten Hülle zu befreien sucht. Dabei machen die
Scheren offenbar die größten Schwierigkeiten, und
während der aufgedunsene und aufgequollene
58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 4
Rumpf des Hummers schon fast völlig frei ist und
Kiemen, Mundwerkzeuge, Magen und Augen aus
der alten Schale herausgezogen sind, sind die
Scheren und Beine noch immer teilweise fest.
Endlich mit einem letzten Ruck gelingt es dem
Hummer, auch diese frei zu machen und fast
gleichzeitig die Schale des ganzen Hinterkörpers
abzuschleudern. Die alte Schale schließt sich so-
gleich über der Oeffnung, aus welcher der Hummer
hervorkam, und gewährt in täuschendster Weise das
Bild eines selbständigen und lebenden Tieres. Im
Innern derselben bleibt eine wasserhelle, schleimige
Masse zurück, welche zwischen der alten und der
neuen Schale eine gleichmässige Schicht gebildet
und gewissermaßen das Schmiermittel für den
glatten Verlauf des Prozesses geliefert hatte. Das
frisch gehäutete Tier liegt — zunächst völlig hilf-
los — mit gänzlich deformierten , in die Länge
gezogenen und stark verkleinerten Scheren neben
seiner alten Schale und bemüht sich, mit lang-
samen, fast tastenden Bewegungen, wieder Herr
seiner Glieder und besonders seiner Scheren zu
werden, in welche das Blut zurückgetrieben wird,
so daß sie langsam ihre normale Form wieder
annehmen und sich über ihren früheren Umfang
hinaus vergrößern. Darüber vergehen indessen
mehrere Stunden. Sehr auffallend ist auch die
Farbe des ganz frisch gehäuteten Hummers; es ist
ein so eigentümliches Sammetschwarz, wie man
es sonst beim Hummer niemals antrifft ; doch
macht diese Farbe sehr bald den normalen blau-
schwarzen bis olixschwarzen Tönen Platz.
Einige -Stunden nach der Häutung hat sich der
Hummer wieder so weit erholt, dass er sich lang-
sam von der Stelle bewegen kann. Doch vergehen
noch Wochen , bis die Schale ihre ursprüngliche
Härte wieder erlangt hat. Die Gesamtlängen-
zunahme eines mittelgrossen Hummers von etwa
25 cm (i Pfund) beträgt nur ca. 2 cm, und da
die Häutung bei Hummern dieser Größe nur ein-
mal jährlich erfolgt, so ist das jährliche Wachstum
ein geringes. Allerdings mui3 man dabei beachten,
daß die Körperlänge ein unvollkommenes Maß für
das Wachstum ist, wenn nicht auch die Gewichts-
zunahme in Betraclit gezogen wird. Das Gewicht
beträgt aber schon bei 28 bis 29 cm Länge
l'/„ Pfund und bei 33 bis 34 cm 2 Pfund (während
^.ipfündige Hummer etwa 20 cm lang sind). Je
größer die Hummer werden, desto geringer ist die
Längenzunahme bei der Häutung und desto sel-
tener erfolgt die letztere. Schon bei einem 40 cm
langen Tier, dessen Häutung in Helgoland be-
obachtet wurde, war die Längenzunahme kaum
meßbar. Mehr als 50 cm Länge scheint der euro-
päische Hummer kaum zu erreichen , und selbst
der amerikanische Hummer, der an Gewicht
wesentlich schwerer wird als der europäische,
scheint über das genannte Längenmaß nur selten
hinaus zu gehen. Bei alten Hummern erfolgt das
Wachstum und die Gewichtszunahme wesentlich
nur noch auf Kosten der Scheren, die schließlich
eine enorme Größe erreichen. Ein großes Körper-
gewicht ist jedenfalls das sicherste Zeichen für das
hohe Alter eines Hummers; die Scheren können
bei solchen alten Hummern bis zur Hälfte des
ganzen Körpergewichts ausmachen. 12 bis 13
Pfund ist wohl das Maximalgewicht des europäischen
Hummers, wenigstens sollen derartige Gewichte
an den britischen Küsten beobachtet worden sein ;
der größte Helgoländer Hummer, den Ehr. sah,
wog 8'/'j Pfund nnd war 48 cm lang.
Solche großen und alten Tiere sind fast immer
Männchen, die sich von ihren jüngeren Stammes-
genossen entfernt haben und ein einsames Leben
führen auf entlegenen und vom Hummer gewöhn-
lich nicht besuchten Gründen.
Aus dem vorher Gesagten ergibt sich, daß die
Frage nach dem Alter großer Hummer und nach
dem Alter, das der Hummer überhaupt erreicht,
nicht beantwortet werden kann.
Etwas besser gelingt die Feststellung des Alters
bei jüngeren Hummern.
Die Häutungen und damit das Wachstuin der
Hummer erfolgen nur während der wärmeren
Jahreszeit, wenn die Nahrungsaufnahme eine reich-
liche ist, und daher schliel.3en die Wachstums-
perioden gewöhnlich mit dem Dezember und be-
ginnen erst wieder im Mai.
Die Hummer werden in den Sommermonaten,
namentlich im August, in einer Größe von ca.
8 mm geboren ; sie sind am Ende der ersten oder
zu Beginn der zweiten Wachstumsperiode meist
25 bis 30 mm lang (doch werden von amerikanischer
.Seite auch Größen von 35 bis 52 mm angegeben),
am Ende der zweiten Wachstumsperiode scheint
die Körperlänge 60 bis 85 mm zu betragen; und
in jeder dieser beiden ersten Wachstumsperioden
mag die Zahl der Häutungen etwa sieben bis acht
betragen (Herrick nimmt sogar noch erheblich mehr
an, 14 bis 17 im ersten Jahre, was vielleicht darauf
zurückzuführen ist, daß das Ausschlüpfen der
Larven in den amerikanischen (iewässern schon
zeitiger im Jahre beginnt). Von nun an aber wird
der Maßstab der Größenzunahme noch unsicherer,
und es beruht nur auf X^ermutung, wenn man an-
nimmt, dass auch in den folgenden Lebensjahren
die Zunahme der Totallänge sich auf 4 bis 5 cm
pro Jahr beziffert, während die Zahl der Häutungen
langsam abnimmt, und daß demnach eine Körper-
länge von 24 cm, welche den Eintritt der Ge-
schlechtsreife bezeichnet, etwa im fünften Lebens-
jahre erreicht wird. Sobald aber die Tiere ge-
schlechtsreif sind, können die Häutungen — wenig-
stens bei den trächtigen Weibchen — nur einmal
im Jahre stattfinden , weil die Hummereier fast
ein Jahr unter dem Hinterleib getragen werden,
bis sie ausschlüpfen, und weil eine Häutung in
dieser Zeit den Verlust der ganzen Brut zur Folge
haben würde.
Nicht alle Weibchen tragen Eier, ja noch nicht
einmal die Hälfte. Dies hängt zum Teil damit
zusammen, dass der Hummer eine gewisse Körper-
größe erreicht haben muß, um im Stande zu
N. F. III. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
59
sein, Eier zu produzieren. Beim Helgoländer Hummer
beträgt diese Länge gewöhnlich 24 bis 25 cm.
Es wurde bereits erwähnt, daß die Eier nach
der Ablage noch elf bis zwölf Monate zu ihrer
Entwicklung gebrauchen, mit anderen Worten, daß
die Inkubationsdauer wie beim Hühnchen drei
Wochen , so beim Hummer fast ein volles Jahr
beträgt. Es folgt also, daß die Hunmier nicht in
jedem Jahre Eier absetzen, denn sonst müßte
man das ganze Jahr hindurch die weiblichen
Hummer immer mit äußeren Eiern antreffen.
Es ergiebt sich nun die für die Beurteilung der
Vermehrung sehr wichtige Frage : Wie häufig oder
in welchen Intervallen produziert der Hummer Eier r
Appelof hat festgestellt, dat5 die Weibchen jedes
zweite Jahr Eier ablegen, ausnahmsweise in zwei
aufeinander folgenden Jahren. Indessen trägt nur
ein Viertel der gefangenen fortpflanzungsfähigen
Weibchen äußere Eier; und damit ergibt sich die
höchst interessante Thatsache, daß die Eier tragen-
den Weibchen durch verminderte Freßlust, Ab-
neigung, den Köder zu nehmen, oder welches sonst
die Ursachen sein mögen, in geringerem Maße
als die anderen Hummer der Gefahr ausgesetzt
sind, durch den Fang vernichtet zu werden. Viel-
leicht ist dieses Verhalten auch damit zu er-
klären, daß die Eier tragenden Hummer sich vor-
zugsweise in Verstecken aufhalten, die sie ungern
verlassen. Jedenfalls ist dieser Instinkt, den die
Natur in die Lebensgewohnheiten der trächtigen
Weibchen gelegt hat, von der größten Bedeutung
für die Vermehrung des Hummers und die Er-
haltung seines Bestandes.
Ein weiteres Mittel zur Erreichung dieses eben
angedeuteten Zieles kann man in der grossen Zahl
von Eiern erblicken , die das Hummervveibchen
[iroduziert. Preilich ist diese Zahl nicht so groß
wie bei manchen Uschen des Meeres, die in einer
Laichperiode hunderttausende, ja sogar Millionen
von Eiern ablegen, aber doch wesentlich größer
als beim Flußkrebse, der über 120 Stück gewöhn-
lich nicht hinauskommt. Der Helgoländer Hummer
produziert schon bei der ersten Eierablage — wenn
er etwa ein Pfund schwer ist — 8000 bis 10 000
Eier, für zwcipfündige Hummer kann man 15 000
bis 18000, für dreipfündige 20 000 bis 24 000,
für vierpfündige 30 000 bis 36 000 Eier als Mittel
annehmen. Herrick hat beim amerikanischen
Hummer in den extremsten Fällen fast 90 000 bis
100 000 Eier konstatiert. Das waren Hummer von
41 bis 48 cm Länge und bei dem 41 cm langen
Tier, welches die meisten Eier hatte, wogen diese
allein ein Pfund.
Um die Bedeutung dieser Zahlen voll würdigen
zu können, muß natürlich die Frage aufgeworfen
werden : welche Mengen neugeborener Hummer ent-
sprechen diesen Einiengen und'welcher Prozentsatz
von diesen gelangt zur weiteren Entwicklung.''
Die Ablage der Eier und die Befruchtung der-
selben findet beim frei lebenden Hummer unter so
eigentümlichen Umständen statt, daß dabei von
wesentlichen Verlusten kaum die Rede sein kann.
Das Männchen nähert sich dem Weibchen zum
ZweckederBegattung, unmittelbar nachdem letzteres
sich gehäutet hat und noch ziemlich hilflos und
seine Gliedmaßen in un\ollkommenem Maße be-
Vi^. 1. Die ersten sieben Stadien der ersten VVacVistumsperiode des
Hummers.
(Die Figuren am recinen Ende der Reihen stellen leere Häute dar.)
herrschend sich der Angriffe des Männchens nicht
erwehren kann. Der Begattungsakt selbst ist kaum
jemals beobachtet worden, aber die Spuren des-
6o
Naturwissenschaftliche Wocheiisclirift.
N. F. III. Nr. 4
selben sind oftmals am ersten Morgen nach der
Häutung am Weibchen zu sehen. Das Weibchen
besitzt auf der Brust zwischen der Basis der vierten
und fünften Beinpaare eine Art Tasche, auf deren
spaltförmige OefTnung das Männclaen den in einer
wurstförmigen gelatinösen Hülle enthaltenen Samen
aufklebt, sodaß er alsbald ins Innere dieser Tasche
gelangt. Hier verweilt er und behält seine befruch-
tenden Fähigkeiten Wochen und Monate lang bei.
Die Ablage der Eier, welche — oft erst einige
Monate später — aus kleinen Oeffnungen am
Grunde des dritten Beinpaarcs heraustreten , und
die Befruchtung dieser Eier findet ganz unabhängig
von der Begattung statt. Das Weibchen sucht für
diesen Akt einen Schlupfwinkel auf, in dem es nicht
gestört werden kann, wirft sich auf den Rücken
und bildet mit dem umgebogenen Schwanz eine
Mulde, in der die austretenden Eier aufgefangen und
mittels eines von den Schwiinmfüßeii des Schwanzes
abgesonderten und im Wasser allmählich erstarren-
den Sekretes befestigt werden.
Von dem Augenblicke an, wo der Hummer
die schützende Hülle des Eies und den Aufent-
halt bei der Mutter verläi3t, beginnen Gefahren
auf ihn einzudringen, in so erdrückender Menge,
dal.5 die Reihen der eben geborenen jungen Hum-
mer in erschreckender Weise gelichtet werden.
Der ausschlüi)fende Hummer ist etwa 8 mm lang,
besitzt lebhafte Farben , unter denen neben blau
und rot grün vorwaltet, und schwimmt — ab-
weichend von den Gewohnheiten des ausgebilde-
ten Tieres — frei im Wasser umher. Alle diese
Eigenschaften machen ihn in hervorragendem
Maße geeignet, anderen räuberischen Bewohnern
des Wassers — namentlich Fischen verschiedener
Art — zum Opfer fallen. Es ist wahrscheinlich,
daß sich diese kleinen Tiere unweit ihrer (leburts-
stätte, also in der Nälie des Grundes und unter
dem Scliutze von Pflanzen, aufiialten und daß sie
diesen geschützten Aufenthalt nur des Nachts ver-
lassen, um oberflächlichere Wasserschichten aufzu-
suchen. Jedenfalls ist es auffallend, wie wenig
solcher kleinen Hummer man am Tage in feinen
Gazenetzen fangen kann.
Die Zeit, welche sie im Wasser frei schwimmend
verbringen, dauert nicht lange. Man kann sie auf
drei bis vier Wochen für das Individuum veran-
schlagen; sie ist um so kürzer, je günstiger Tem-
peratur- und Nalirungsverhältnisse im Wasser sind;
und da in der zweiten Hälfte des August die
mittlere Wassertemperatur bei Helgoland mit
i6,8" C ihr Maximum erreicht, so ist der Monat
August, in dem die meisten Hummer geboren
werden, zugleich auch die günstigste Zeit für ihr
Fortkommen.
Der junge Hummer kommt als Larve auf die
Welt, das heißt seine Körpergestalt unterscheidet
sich zunächst noch von derjenigen des ausgebil-
deten Tieres, und erst nachdem er in jenen ersten
drei bis vier Wochen vier Verwandlungen in
ebenso vielen Häutungen durchgemacht hat, er-
reicht er annähernd die Gestalt des ausgebil-
deten Tieres und kann nur wie dieses am Grunde
leben.
Die erste dieser Häutungen erfolgt schon gleich-
zeitig mit dem Aus.schlüpfen des Hummers und
ergibt das erste etwa 7 bis 8 mm lange Larven-
stadium (\-ergl. die Figur 2), welches je nach den
Temperaturverhältnisseii vier bis fünf oder auch
acht bis neun Tage alt wird; dann folgt nach der
zweiten Häutung das zweite Larvenstadium, durch
das Auftreten der Schwimmfüße am Schwänze
kenntlich, 10 bis II mm lang, welches etwa ebenso
lang wird, wie das erste, höchstens einen bis drei
Tage älter. Das dritte Larvenstadium ist 12,5 bis
13,5 mm lang und daran kenntlich, daß die ur-
sprünglich einfache Schwanzplatte jetzt durch
seitliche Ergänzungstücke verbreitert ist; es wird
etwa 10 bis 12 Tage alt.
Die vierte Häutung endlich ergibt das 15 bis
16 mm lange vierte Stadium, welches schon nach
etwa zwei bis drei Tagen das Leben auf dem
Grunde aufnimmt; es sieiit viel hummerartiger aus
als die früheren Stadien, was hauptsächlich auf den
Verlust der larvalen Schwimmanhänge an den Geh-
füllen und auf das Erscheinen der großen Fühler
zurückzuführen ist.
\^on diesem Zeitpunkt ab vermindern sich die
Gcfahien für das Leben des jungen Hummers ganz
bedeutend, da er im stände ist, sich unter Steinen
am Grunde zu verbergen, und da er sein Versteck
offenbar nur selten oder mit der größten Vorsicht
verläßt.
Wenn schon der Hummer, sobald er das Leben
am Grunde aufgenommen hat, ziemlich vor (iefahren
geborgen ist, so ist dies in noch höherem Maße
der Fall, wenn er älter wird und damit überhaupt
die Zahl der Tiere, die ihm gefährlich werden
können, sich sehr vermindert.
Eine vermifste Pflanze. — In zuverlässigen
Berichten wird uns \'on einer Heil]iflanze der Römer
erzählt, welche diesen durch die Vettonen bekannt
geworden war. Daß es eine seltene Heilkraft ge-
wesen sein muß , deren Samen kriegerisch vor-
dringende Völker aus den Pj'renäen mit sich führ-
ten, läßt sich allerdings vermuten. Dal.^ der Leib-
arzt des Kaisers .'Xugustus, Antonius Musa, ein
Buch verfasste : ,,De herba Betonica", welches er
dem Marcus Agrippa widmete, sagt uns deut-
licher, daß es eine wertvolle Heilpflanze gewesen
sein wird. Musa beschreibt 47 Krankheiten , in
denen er die gröl.5ten Erfolge der von ihm zu-
erst als Betonica eingeführten Pflanze zuerkennt.
Aber er sagt uns nicht, ob er seinen Kranken
ebenso wie in der Behandlung des Kaiser .Augustus
das Essen von grünem Salat und kalte Waschungen
des Körpers zur Mitwirkung dieser Kur verordnete.
Das Getränk aus dem Saft der Betonie brauchte
es dann nicht gerade allein gewesen zu sein, wel-
ches die Heilerfolge erzielt hat. Aber immer
bleibt die Tatsache bestehen , daß die von der
Allgemeinheit bis dahin Vettonica genannte Pflanze
unsere Beachtung verdient. Musa's Verdienste
N. F. III. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6i
wurden reich belohnt. Kaiser Augustus erhob ihn
in den Ritterstand und ließ ihm eine .Säule im
Tempel des Äskulap errichten. Zum dauernden
Andenken an ihn erklärte der dankbare Kaiser
fortan alle Arzte von jeder Abgabe frei.
Es darf also berechtigten Zweifel erregen ,
wenn Botaniker aus irgend welchem scheinbaren
Zusammentreffen glaubten , unsere früher (auch
neuerdings wieder von Bentham) für eine Stachys
angesehene Art sei diese Heilpflanze , und sie
deshalb als Betonica officinalis registrierten. Zwei-
fellos wird hier ein Irrtum vorwalten , denn in
wiederholten , mit ihr gemachten Heilversuchen
versagte sie vollständig. Ja, es traten geradezu
schädliche Folgen ein. Da erscheint es doch als
eine Pflicht für die fleißigen Botaniker, nach den
Ursachen des Irrtums zu forschen.
Fragen wir uns zuerst: „Wie kann unsere
ehemalige Stachys überhaupt zu dem unverdienten
Rufe einer Heilpflanze gekommen sein, ohne deren
Wirkungen zu besitzen?" Da sie in vielen Gegen-
den selten zu finden ist, kann es dadurch geschehen
sein, daß man sie mit einer anderen Pflanze ver-
wechselt hat.
Schon die alten Germanen wandten eine La-
biate als Heilmittel an , welche man Andorn
nannte, also ebenso wie wir noch heute unser
Marrubium vulgare. Dieses enthält eine in vielen
Krankheitszuständen äußerst wohltätige Heilkraft.
Selbstverständlich wandte man aber an vielen
Orten nicht nur die echte, sondern wenn man
diese nicht fand, ähnlich aussehende Pflanzen an :
So geschah es mit „Stachys silvatica", ,, Stachys
arvensis" und „Stachys palustris", die noch heute
Wald-Andorn , P^eld-Andorn und Wasser-Andorn
genannt werden. Ja, man taufte sogar noch
eine andere Art „schwarzer Andorn", die nicht
einmal eine Stachys war. Jede derartige falsche
Anpreisung verdächtigte Marrubium vulgare, seiner-
seits nicht die echte zu sein. Aus diesen Ver-
mutungen , welches wohl die richtige wäre, kam
man auf den Gedanken , die so prächtig hübsch
rosa blühende Schwesterart sei die gewünschte
I leilkraft. Denn man sagte sich : Sind diese Stachys
nicht die richtigen, so muß es jene sein. Da der
deutsche Name nicht Klarheit gab, suchte man die
lateinische Verwandtschaft ab. Hielt man sich an
die Stachys, so glaubte man nun eine Heilkraft der
Labiaten zu haben und deshalb sie als Betonica
auszeichnen zu dürfen. Daß man sie später von
Stachys trennte, änderte an diesen Voraussetzungen
nichts. Für die Beantwortung der Frage : „Wie
kam Betonica officinalis in den unberechtigten
Ruf eine Heilpflanze zu sein ?" ist der Weg über
die Mehrheit der Andorn- und Stachysarten ganz
erklärlich. Alsdann läge aber auch die Vermutung
nahe, daß die Betonicte der Römer eine Labiate
und zwar Marrubium vulgare sei. Indes fand
man es massenhaft nahe einer Stadt in Latium ani
See Fucinus Maria-Urbs (Sumpfstadt), nach welcher
es Marrubium vulgare genannt wurde. Da läßt sich
doch annehmen, daß man sich bemüht hat, zu er-
fahren, wie man es dort bezeichnete und darnach
erfahren hätte, daß es die berühmte Bettonica sei.
Marrubium vulgare hingegen war außerdem eines
der bekanntesten Heilmittel der alten Welt. In
Griechenland wurde der Saft entweder frisch
oder mit Honig eingekocht in vielen Fällen auch
mit einem Zusatz von Myrrhen bei allen Er-
krankungen der Atmungsorgane, Asthma, Schwind-
sucht und Unterleibsleiden angewendet. Daß mit
dieser Pflanze wunderbare Heilungen geglückt
sind, wird vielfach bestätigt. FIs ist weder anzu-
nehmen, daß dies in Rom ganz unbekannt ge-
wesen sei, noch da{3 man alsdann immer wieder
ausgesprochen hätte, man habe jene Heilpflanze
durch die Vettonen kennen gelernt , wie dies
Plinius direkt berichtet.
Nun haben wir aber äußerst selten in Deutsch-
land die Betonica Alopecuros, Fuchsschwanz -Be-
tonie. Man hat sie bisher nur bei Berchtesgaden
und bei Partenkirchen gefunden. Es läge doch
eigentlich sehr nahe , daß sich von Rom zurück-
ziehende Scharen , von denen sich ja tatsächlich
viele in den tyroler und baierischen .Mpen an-
siedelten, die Betonica hier angebaut hätten. Auch
der Umstand, daß die Gegenwart dieser Gebirgs-
pflanze gar keine Heilkraft nachrühmt, könnte sich
als verhängnisvolle Nachlässigkeit erweisen. So
erscheint es wirklich als Pflicht, jene Eigenschaften
zu prüfen und hoftentlich erweist es sich, daß wir
die heilbringende Pflanze in Deutschland besitzen.
Wenn es aber vergeblich geschieht und sich
keine der vielen Heilkräfte zeigen will? Dann
bliebe das Rätsel wieder ungelöst, wenn wir
nicht eine etwas gewagte Schlußfolgerung auch
noch in das Reich der Möglichkeiten einbeziehen
wollen. Wenn man aber bedenkt, daß die Heil-
erfahrungen bisher immer ohne botanische Keimt-
nisse gemacht werden, und daß die botanischen
Bestimmungen ohne irgend welchen Zusammen-
hang mit jenen sich erst durch Mitteilungen verall-
gemeinern, so lehrt die Erfahrung, daß selbst
wunderliche Sprünge nicht zur Unmöglichkeit ge-
hören.
j|]Auf dem weiten Wege von Rom bis zu uns
könnte aus Vettonica — Veronica geworden sein.
Es wäre auch möglich, daß christlicher Eifer die
bewährte Heilpflanze nicht nach einem heidnischen
Volksstamm genannt wissen wollte , sondern sie
zu Ehren der heiligen Veronika, die Wunderkuren
damit verrichtet haben soll, benannte. Jedenfalls
hat unsere Veronica officinalis ungemein heilsame
Eigenschaften. Ihre kleinen, wie in einer Ähre
stehenden lila-bläulichen Blütchen, werden nur
leider sehr häufig mit der glänzend himmelblau
strahlendenVeronica Chamaedrys, Gamander-Ehren-
preis, verwechselt, die unter dem Namen Männer-
treu allbekannt ist. Ist dann der Erfolg uner-
heblich, so hat dies Veronica officinalis nicht ver-
schuldet. Sie würde uns als I leilpflanze bleiben,
auch wenn wir feststellen könnten, daß Betonica
Alopecuros eine viel wertvollere Heilkraft in richtiger
Anwendung zu spenden vermag. J. Freytag.
62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Iir. Nr. 4
Über gefärbtes Holz unserer Waldbäume.
— Wohl mancher Leser dürfte auf seinen Spazier-
gängen durch unsere Nadel- und Laubwälder ein-
mal morsche Aststücke , vielleicht sogar ganze
Baumstämme angetroften haben, deren Holz im
Innern eine auffällige indigoblaue oder spangrüne
Färbung zeigte, oder auch er hat in Kiefern- oder
Fichtenwäldern morsche Kiefernstämme oder Wur-
zeln bemerkt, deren Holz intensiv blutrot gefärbt
war. Der Laie wird vielleicht vergeblich nach der
Ursache dieser eigenartigen Erscheinung forschen,
wenn er nicht zur feuchten Herbstzeit auf den
gefärbten Holzteilen winzige, oft gleich gefärbte
Pilze wahrnehmen sollte. Die intensive Färbung
des betreffenden Holzes wird eben durch Mycelien
gewisser Pilze verursacht.
Die indigoblaue oder spangrüne Farbe morschen
Holzes von Buchen, Hainbuchen, Eichen usw. wird
durch das Mycel eines kleinen Schüsselpilzes
C h 1 o r o s p 1 e n i u m a e r u g i n o s u m (Oed.) sowie
Ch. aeruginascens Nyl. bedingt. Beide Arten
sehen sich äußerst ähnlich und finden sich zur
feuchteren Herbstzeit meist auf der Unterseite des
auf dem Waldboden liegenden Holzes. Die schüssei-
förmigen, kurzgestielten Fruchtkörper sind grün-
blau oder spangrün, meist ' '.j — i cm im Durch-
messer. Sie enthalten zahlreiche Schläuche mit je
8 zylindrischen oder spindelförmigen, mikroskopisch-
kleinen Sporen. Ersterer Pilz ist weit verbreitet,
nicht nur in Europa, sondern auch auf dem Kilima-
ndscharo, Himalaya, Brasilien usw.
Andere Pezizaceen vermögen eine blutrote
Färbung verschiedener Hölzer zu verursachen, so
wird das Holz der Robinie von dem Mycel eines
kleinen braunroten Schüsselpilzes Tapesia cru-
e n t a P. Henu. innen und oberseits blutrot gefärbt.
Eine andere Art: Tapesia atrosanguinea Fuck.
ruft ähnliche Färbung auf weichfaulem Holz der
Birke und Buche hervor, ebenso eine winzige Pe-
zizee, Patellea sanguinea (Pers.l, solche auf
entrindetem Holze der Eichen, Haselnüsse usw.
Das Holz junger morscher Kiefern- und Fichten-
stämme, sowie das der Wurzeln findet sich nicht
selten durch und durch intensiv Scharlach- oder
blutrot gefärbt. Diese Färbung wird durch das
Mycel einer Thelephoracee, Corticium san-
g u i n e u m, veranlaßt, deren häutig-krustige Frucht-
körper von gleicher Färbung, mit filzigem Rande
meist die Autjenseite der befallenen Stämme oder
Wurzeln überziehen.
Das Mycel eines winzigen, kaum mit bloßem
Auge erkennbaren Pyrenomyceten ruft in kiefernen
und fichtenen Brettern oft eine graublaue Streifung
hervor, wodurch das Holz für manche technische
Zwecke unverwendbar wird. Es ist dies Cera-
tostomella pilifera (Fr.), dessen schwarze
Fruchtkörper, kaum senfkorngrol.5, auf dem Scheitel
mit langem Schnabel versehen sind. P. Hennings.
Akademische Antrittsvorlesung gehalten am ig. Mai
1900. Johann .'\mbrosius Barth in Leipzig 1900.
— Preis 1.20 Mk.
Als Physiker meint Verf. mit dem Titel, daß
jedes neue Instrument, jede Zusammenstellung be-
kannter Instrumente zu neuem Zweck vom entvvick-
lungsgeschichtlichen Standpunkte aus sich als eine
naturgemäße Fortentwicklung und Erweiterung unserer
Sinne, als ein Fortschritt in der Anpassung an unsere
Umgebung und einen Vorteil im Kampfe ums Dasein
darstellt. Dies führt er an Beispielen durch. P.
Bücherbesprechungen.
Otto Wiener, o. l^rof. der Ph\sik an der Univ.
Leipzig, Die Erweiterung unserer Sinne.
Dr. Georg Meyer, Die wissenschaftlichen
Grundlagen derGraphologie. Mit 3 1 Tafeln.
Verlag von Gustav Fischer. Jena 1 901. — Preis 5 Mk.
Das vorliegende Buch über den Gegenstand, der
so viele dilettantische Arbeiten aufzuweisen hat, hebt
sich wohltuend ab. Es behandelt in vorsichtiger,
besonnener Weise die allgemeinen Gesichtspunkte,
die bei der Beziehung zwischen Schrift und Seelen-
leben in Frage kommen und versucht die Hauptprinzipien
herauszuschälen. Verf. erkennt an, daß sich in ziemlich
erheblichem L'^mfange aus den Schriftzügen Schlüsse
auf Charaktereigentümlichkeiten ziehen lassen , und
stellt eine Reihe von diesen fest ; jedoch ist das Buch
keine eigentliche Graphologie in dem Sinne eines
Systems des Gegenstandes und Anleitung zur prak-
tischen Betätigung, vielmehr will es mehr eine wissen-
schaftHche Einführung in den Gegenstand sein. Eine
Reihe von sehr sorgfältig ausgeführten Tafeln mit
Schriftproben ergänzen in treft'licher Weise den Text.
M. Klein.
Prof. Dr. L. Weis, Kant: Naturgesetze, Natur-
und Gottes-Er kennen. Eine Kritik der reinen
Vernunft. Berlin (Schwetschke) 1903.
Verf. behandelt Kant und zwar besonders die
Kritik der reinen Vernunft, zunächst seine Natur-
anschauungen, darauf den verneinenden Teil der Kritik,
(die sog. Ideen der reinen Vernunft 1 und drittens zeigt
er, wie Kant mit Hilfe der Erfahrung sowohl in der
Natur als in Religion und Sittlichkeit zu positiven Er-
gebnissen gelangt. Die Tendenz des Verf. geht darauf
hinaus zu zeigen, „daß über den Geist der Evangelien
kein menschlicher Geist, keine Wissenschaft und keine
Kiütur hinauskommt." Aus den kritisclien Erörterungen
des Verf.'s sei nur seine .\ußerung herausgegriffen,
nach der die scharfe Trennung von Religion und
Wissenschaft (Vernunft, Sittlichkeit), — die ein spöt-
tischer Kritiker Friedrich Albert Lange's (des Verf.
der Gesch. des Materialismus), eines hervorragenden
Vertreters dieser Trennung, als Lehre von der doppelten
Buchhaltung bezeichnet hatte, — unbedingt abzulehnen
sei; sie sei ein „Verrat an der Religion des Geistes
und der Wahrheit". Kant's Namen hierbei (ins-
besondere bei der Trennung von Religion und Sitt-
lichkeit) anzuführen, sei eine „Schändung'' desselben.
W. nennt diese Lehre auch eine Zweistubenlehre und
läßt den .Anhänger derselben in der Wissenschafts-
stube von seinem Gotte träumen, in der Sonntags-
stube den Kuhns des Christentums pflegen. Hierzu
bemerken wir: Verf hat die Lehre von der doppelten
N. F. m. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63
Buchführung falsch aufgefaßt, denn in der Werktags-
(Wissenschafts-)Stube, da träumt man nicht von Über-
sinnlichem, sondern durchforscht nur das Sinnlich-
Gegebene ; die Träumereien vom Unbedingten (Ab-
soluten), also von Golt, Unsterblichkeit usw. : sie ge-
hören in die „Sonntagsstube" (Glaubensstube), sie sind
nicht Sache der Wissenschaft (der Forschung) sondern
des Glaubens. Verf versteht also nicht einmal zu
trennen und damit fällt seine Kritik. AVir möchten
noch einen allgemeineren Gesichtspunkt hervorheben,
d. h. einen Grund für die Berechtigung einer solchen
Trennung. Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus
ist es durchaus geboten, alles zu Unsichere, alles zu
unbestimmte Vermuten, Ahnen, Hoffen usw. auszu-
schließen, da uns sonst das Hauptmerkmal und der
Hauptvorteil der Wissenschaft, die Sicherheit, verloren
gehen müßte. Jedoch — angesichts der Tatsache,
daß wir die Wirklichkeit nicht restlos zu einem ein-
heitlichen Weltbilde wissenschaftlich gestalten können,
müssen wir uns eine Möglichkeit sichern in freieren,
außerwissenschaftlichen, sich aber doch an die Wissen-
schaft möglichst anlehnenden Formen uns ein einheit-
liches harmonisches Weltbild zu verschaffen. Kl. u. P.
Erich Zugmayer, Eine Reise durch Island
im Jahre 1902. Wien, Adolph W. Künast.
1903. 192 Seiten. Mit Abbild, u. 2 Karten. —
Preis 4 Mk., geb. 5 Mk.
Im Plauderton schildert Verf einen sechswöchent-
lichen Ritt durch die geologisch so interessante
Vulkaninsel, Freud und Leid der anstrengenden Reise
läßt er den Leser getreulich mitempfinden und eine
Reihe von Illustrationen nach selbstgefertigten photo-
graphischen Aufnahmen gibt auch eine Anschauung
sowohl der großartigen Wasserfälle und Schlucliten,
als auch der kleinen Ansiedelungen und der unglaub-
lichen Ode und Monotonie weiter Gebiete des merk-
würdigen Landes. Die Reise erstreckt sich von Rey-
kjavik über die Geysir zum Hekla, alsdann mitten
durch die Insel über die .Sprengisandur-Wüste , von
der seit 40 Jahren in deutscher Sprache nichts mehr
berichtet worden war, nach dem Nordlande und seiner
Hauptstadt Akureyri. Der Rückweg von dort hielt
sich in der Nähe der nördlichen Fjorde. Auf ihm
wurde die Surtshellir-Höhle besucht und nach Mög-
lichkeit vermessen. Für Islandtouristen gewöhnlichen
Schlages, die sich meist mit dem Besuche der Geysir
und der Hekla begnügen, ist die Angabe von Wich-
tigkeit, daß die Ruheperiode, die der große Geysir
in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hatte und
die die Touristen oft wochenlang vergeblich auf einen
Ausbruch warten ließ, vorüber ist und daß derselbe
seit einem im Jahre 1896 stattgehabten Erdbeben
durschnittlich jeden Tag und recht hoch springt.
Auch der Otherris-Hola springt oft und kann dazu
durch Seife oder Rasenschollen in kurzer Zeit ver-
anlaßt werden. Dagegen hat der Strokkur, der früher
die Reisenden entschädigte, seit 1896 seine Tätigkeit
gänzlich eingestellt. ') F. Kbr.
') Inwieweit dieser Zustand durch die vor einigen Tagen
gemeldeten , vullsanischen Erscheinungen wieder modiliziert
worden sein mag, laßt sich zurzeit natürlich nicht beurteilen.
E. Weighardt , Mathematische Geographie..
Leitfaden für den Unterricht in der Obertertia
der Mittelschulen. 2. Auflage. Biihl (Baden),
A. G. Konkordia. 1902. 45 Seiten. — Preis
60 Pf.
In leicht verständlicher Weise werden die wichtig-
sten Himmelserscheinungen erläutert. Die scheinbare
Sonnenbahn wird zunächst als eine Schraubenlinie er-
kannt und erst nach der Betrachtung des Fi.xstern-
hinmiels in tägliche und jährliche Bewegung zerlegt,
ein methodisch gewiß wohlbegründetes Verfahren.
Im einzelnen sind wir in folgenden Punkten abwei-
chender Ansicht. Die Bezeichnung „Wendekreis"
sollte auf die Erde beschränkt bleiben , da diese
Parallelkreise am Himmel ebensowenig Bedeutung be-
sitzen , wie die mitunter auf Erdgloben zu findende
Ekliptik auf der Erde. Figur iS ist schwer zu ver-
stehen und unnötig , da das Beispiel des Karoussel-
fahrens oder eine Umdrehung um den eigenen Kör-
per die Sache hinreichend klarstellt. In Figur 32
hätten die reellen Verhältnisse verwendet werden
sollen, damit die richtige Gestalt der heliozentrischen
Mondbahn (durchweg konkav in bezug auf die Sonne;
erkannt wird. Mit Bezug auf die historischen Be-
merkungen (S. 44) sei darauf hingewiesen , daß
Kopernikus die Planeten sich nicht in k o n zentrischen
Kreisen um die Sonne bewegend vorstellte , sondern
daß er jedem einen besonderen exzentrischen Kreis
zuordnete und sogar auch noch einen Ejjicykel zu
Hilfe nahm, um die LIngleichheiten der Bewesfung
völlig darstellen zu können. F. Kbr.
Dr. A. Helfenstein , Die Energie und ihre
Formen. Kritische Studien. Leipzig-Wien, Deu-
ticke. 1903. 152 S. 8". — Preis 4.20 Mk.
In der Ausdrucks- und Auffassungsweise weicht
der Verfasser von anderen Physikern weit ab. „Heute,
wo sie (die verschiedenen Zweige der Naturwissen-
schaften) sich die Mittel allmählich zu verschaffen
wußten, .^.\iome aufzustellen, hätten sie auch den ersten
Weg einschlagen können (man geht aus von festen,
für immer bestimmten Grundsätzen, .Axiomen, und sucht
alle Tatsachen damit in F-inklang zu bringen, daraus
abzuleiten). Axiome: I. Die Weltmasse ist konstant.
II. Die Bevvegungsgröße der Weltmasse, ihre Energie,
ist konstant. Es gibt nur eine Energie, kinetische
Energie, identisch mit Massenbewegung. —
Der Äther ist gasförmig und liesitzt als solcher eine
Bewegimg, die wir als Gasenergie kennen gelernt
haben. — Die Ätherteilchen reiben sich aneinander. —
So mochte es kommen, daß an einzelnen Stellen des
Raumes die Temperaturs ich derart steigerte, daß der
Äther verbrannte, es entstanden Sonnen, d. h. Glut-
herde, in denen der Ätiier verbrennt, sich verdichtet.
— Die Erdrinde führt zitternde Bewegungen nach
allen Richtungen aus, deren Energie die siiezifische
Gravitationsenergie , die Hauptursache der Schwere
der Körper, ist."
Daß es gelingt, für die Physik aus dem Buch er-
heblichen Nutzen zu ziehen, möchte Ref. bezweifeln.
A. S.
64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 4
Literatur.
Beck, Prof. Dr. Ricli.: Lehre v. den Erzlagerstätten. 2., neu
durcligearb. Aufl. Mit 257 Fig. u. I (färb.) Gangkarte.
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u. 12 S.) Leipzig '03, W. Engelmann. — 5 Mk.
Herz, Priv.-Doz. Dr. W. ; Über die Lösungen. Einführung in
die Theorie der Lösungen, die Dissozationstheorie und das
Massenwirkungsgesetz. Nach Vorträgen. (V, c,o S.) gr. S**.
Leipzig '03, Veit & Co. — 1,40 Mk.
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chemischen Analyse. Zum Gebrauche bei den prakl. Übgn.
im Laboratorium. 13. Aufl., durchgesehen und ergänzt von
Prof. Dr. G. Vortraann. (V, 51 S.) gr. 8". Wien '03,
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Lindau, Kust. Priv.-Doz. Dr. Gust. : Hilfsbuch f. d. Sammeln
der .\scomyceten m. Berücksicht. der Nährpflanzen Deutsch-
lands , Österreich-Ungarns , Belgiens , der Schweiz und der
Niederlande. (VI, 139 S.) schmal 8". Berlin '03, Gebr.
Borntraeger. — In Leinw. kart. 3,40 Mk.
Briefkasten.
Herrn Dr. F. i n L. — Sie fragen ; W a s n e n n t m a n
in Zoologie und Botanik Konvergenz? — Unter
,, Konvergenz" versteht man im Tier- und Pflanzenreiche die
Erscheinung einer formalen Ähnlichkeit oder Übereinstimmung,
welche nicht auf Blutsverwandtschaft beruht. Wenn zwei
(Organismen im Baue eines Organs eine wesentliche Gleichheit
zeigen, so läßt sich im allgemeinen daraus schließen, daß beide
von derselben Stammform abstammen, also blutsverwandt sind,
und von diesem gemeinsamen Vorfahren die gleiche Eigen-
schaft ererbt haben. Es gibt jedoch zahlreiche .Xusnahmen
von dieser Regel, indem das gleiche Bedürfnis oder die Gleich-
artigkeit der Existenzverhältnisse auch bei nicht verwandten
Tieren resp. Pflanzen denselben Bau veranlaßt hat. Beispiele
solcher ,, Konvergenz" sind die Schneefarbe des Eisbären,
Polarfuchses und anderer arktischer Tiere ; die Sandfarbe bei
wüstenbewohnenden Eidechsen, Vögeln, Antilopen und dem
Löwen; der Mangel an Zähnen und die Ausbildung eines
llornschnabels bei Schildkröten, Vögeln und dem Schnabel-
tier; das Facettenauge der Krebse und das der Tracheaten.
In solchen Fällen beweist die Verschiedenartigkeit der allge-
meinen Organisation, daß die Ähnlichkeit in einem Organ
sekundär erworben wurde, also nicht auf Vererbung, sondern
auf Konvergenz beruht. L. Plate.
Herrn A. H. in Augsburg. — Die mutuahstischc Sym-
biose läßt sich freilich nicht gegen Darwin's Selektionslehre
ins Feld führen, denn wenn zwei Organismen sich gegenseitig
unterstützen, so können sie im Kampf ums Dasein daduich
sicherlich einen erheblichen Vorteil genießen. Wir empfehlen
Ihnen zur Beurteilung derartiger Fragen das Buch von L. Plate,
Bedeutung des Darwin'schen Selektionsprinzips und Probleme
der Artbildung. W. Engelmann in Leipzig. 1903. 2. Auflage.
Herrn S. in Jolle nb eck. — Ihre Fragen lassen sich
streng nur durch Entwicklung theoretischer Formeln der an-
gewandten Mechanik beantworten , für die es hier an Platz
fehlt. Das leichtere Brechen eines Balkens, wenn derselbe in
der Mitte belastet ist, als in der Nähe der Unterstützungs-
[lunkte, erklärt sich durch die im erstercn Falle eintretende,
größere Durchbiegung. Die Tragkraft des in der Mitte be-
lasteten Balkens von der Länge 1 verhält sich zu derjenigen
bei den Teillängen Ij und L wie ) Ij l, : -j 1. Die Begründung
dieses Satzes erfordert eindringende Kenntnis der Elastizitäts-
lehre. Vielleicht genügt Ihnen das in Klimpert's Übungsbuch
zum Studium der allgemeinen Physik und elementaren iVIccha-
nik (Dresden, Kühtmann, 1894. Preis 8 Mk.) Gebotene. —
Für den Winkelhebel gilt dasselbe Gesetz, wie für jeden an-
deren Hebel : Gleichgewiclit findet statt, wenn das statische
Moment der Kraft gleich dem der Last ist. Nur ist hier be-
sonders zu beachten, daß als Hebelarm das vom Drehpunkt
auf die Richtung der Kraft gefällte Lot zu nehmen ist.
Herrn A. in T. — Sie fragen nach dem Unterschied
zwischen Ton und Tonerde. — Ton ist ein mineralogi-
scher Begriff, Tonerde lediglich eine chemische Bezeich-
nung, und zwar der veraltete, aber heute noch gebräuchliche
Ausdruck für Aluminiumoxyd, AI,, Oj, und in Verbindung mit
Kieselsäure der Hauptbestandteil des Tones. Unter Ton ver-
steht man das durch die Zersetzung vorwiegend feldspathaltiger
Gesteine entstandene, zumeist aus wasserhaltigem Aluminium-
silikat von bestimmter Zusammensetzung bestehende Material,
das sich in mehr oder weniger reiner Form weitverbreitet vor-
findet. Trocken ist der Ton erdig, und in nassem Zustande
klebrig und plastisch.
Der reinste Ton ist Kaolin oder Porzellanerde , und
zwar stellt er reines, durch Verwitterung von Feldspat
entstandenes Tonerdesilikat dar. Seine Konstitutionsformel
ist 2 Ha Alj Sia Oip . H., AI, O4 . 3 H., O. Man könnte in-
dessen vom chemischen Standpunkte aus die Tone als un-
reinen Kaolin bezeichnen, da sie außer .^luminiumsilikat noch
andere Zersetzungsprodukte jener Gesteine, vornehmlich Kar-
bonate enthalten, oft aber auch Calcium , Magnesium und vor
allem Eisen. Der Gehalt des Tones an Eisen ist maßgebend
für seine Verwendbarkeit, da das Eisenoxyd, sofern nicht be-
reits der rohe Ton dadurch gelbbraun gefärbt ist , dem ge-
brannten Tone seine rote Farbe verleiht. Von chemischem
Interesse ist die Tatsache, daß die Tonerde des eisenhaltigen
Materials, das wir gewöhnlich Ton zu bezeichnen pflegen, sich
bedeutend leichter in kochender, konzentrierter Salzsäure löst,
als die des eisenfreien Kaolins — entsprechend der leichteren
Zersetzbarkeit und Verwitterungsfähigkeit eisenhaltiger Ver-
bindungen.
Feska glaubt annehmen zu dürfen, daß diese leichter lös-
liche Tonerde zeolithartigen Bildungen angehöre. Nun fand
aber Gans , daß sich bei der Tonbestimmung vermittels
Schwefelsäure im geschlossenen Rohre bei 220" bei Diluvial-
böden gerade die doppelte Menge Tonerde ergibt, als bei dem
Salzsäureauszug. Man kann sich schwer erklären, daß genau
die eine Hälfte der Tonerde in den Tonen Zeolithen, die
andere anderen Verbindungen angehören sollte , wenn auch
die leichter lösliche Tonerde schwerlich kaolinartigen Charak-
ters sein kann, da Kaolintonerde sich nur schwer in Salz-
säure löst. Gans kommt daher zu dem Schluß, daß man in
den Tonen komplizierter zusammengesetzte Silikate annehmen
müsse, bei denen die eine Hälfte der Tonerde, und zwar in
Verbindung mit Alkalien, fester gebunden ist als die andere,
die mit Eisenoxyd, Kalk oder Magnesia enger verbunden ist.
Versuche haben diese .'\nnahme bestätigt. Diese zeolithartigen
Körper könnte man sich , ähnlich dem .Anorthit aus Natron-
feldspat, dadurch entstanden denken, daß im Urgestein ein
Si gegen AI ersetzt wurde. Die von Groth und Brauns für
Anorthit aufgestellten Strukturformeln würden beide das ver-
schiedene Verhalten der Tonerde begründen ;
Si-
Si — 0
0
0
(
AI
/\
1 0
1
AI
Si — 0 —
C
a
Groth
o
-0 — AI
o/^o
\/
AI
O
o
Si — O — Ca
Brauns
Denkt man sich hierin den Kalk durch Eisen ersetzt, das
in der Tat Kalk zu verdrängen imstande ist, so würde eine
derartige Zusammensetzung etwa den im Tone vorliegenden
Verbindungen entsprechen. Dr. Loebe.
Inhalt: Dr. Bruhns; Die sechs Berichte Schiaparelli's über seine Marsforschungen. — Kleinere Mitteilungen: Professor
Ehrenbaum: Über den Hummer. — J. Frey tag: Eine vermißte Pflanze. — P. Hennings: Über gefärbtes Holz
unserer Waldbäume. — Bücherbesprechungen: Otto Wiener: Die Erweiterung unserer Sinne. — Dr. Georg
Meyer: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie. — Prof. Dr. L. Weis: Kant: Naturgesetze, Natur- und
Gotteserkennen. — Erich Zugmayer: Eine Reise durch Island im Jahre 1902. — E. Weighardt: Mathematische
Geographie. — Dr. A. Helfenstein: Die Energie und ihre Formen. — Litteratur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Gross-Lichterfelde-West b. Berlin,
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
UJ LIBRARY lg:
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Dl6 NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin,
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 1. November 1903.
Nr. 5.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgcld bei der l'nst
I ^ VU^. i-\tra. Postzrilungslisti.- \r. 5446.
Inserate : Die zwcigespaltene l'ctilzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabalt. Beilagen nach Über-
linkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchliandlfrinscrate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Leuchtende Organismen.
fNachdnick vetbolen,] Von H. Hau
Marshall sagt: „Vieles, lieber Freund und ge-
treuer Nachbar, ist uns an dem Leuchten der
Tiere noch dunkel." Dieses Paradoxon wird wohl
noch eine Reihe von Jahren seine Gültigkeit be-
halten, trotzdem Mikroskop und Chemie eifrig bei
der Arbeit sind, die Lichträtsel der Natur zu lösen.
Große Schwierigkeit bereitet einerseits der Um-
stand, dal3 sich bei vielen Organismen, trotz des
Leuchtens, keine besonderen Organe hierfür auf-
finden lassen, andererseits die Leuchtorgane selbst
im Bau erheblich voneinander abweichen. Ver-
mutlich sind auch die inneren Vorgänge verschieden.
In meinen Ausführungen werde ich mit den-
jenigen Lebeweseii beginnen, an welche wohl jeder
beim Lesen der Überschrift zuerst denken wird,
mit unseren Glühwürmchen (Lampyrls). An
warmen Juniabenden blitzen sie bei uns auf, diese
Staellae volantes der alten Römer. Ihnen leuchtete
aber eine andere Gattung (Luciola), die an Schön-
heit des Lichts unser Johanniswürmchen noch über-
trifft. Diesen letzteren Namen nun für ein fliegendes
Insekt anzuwenden, wäre entschieden unstatthaft,
wenn die Weibchen von Lampyris nicht flügellos
und darum wurmähnlich wären (L. spicndidula
pt, Halle a. S.
besitzt im weiblichen Geschlecht nur Flügelstummel,
L. noctiluca auch diese nicht einmal); die Männ-
chen hingegen besitzen Flügel. Einige Beobachter
wollen folgendes wahrgenommen haben. Während
die Männchen ihre leuchtende Bahn ziehen, lockt
das im Grase sitzende Weibchen mit seinem
Laternchen, das es wie das Männchen an der
Spitze des Hinterleibes, und zwar an der Unter-
seite, trägt. Seine Augen liegen unter dem großen
Brustschild (Prothorax) verborgen, aber durch 2
Fensterchen, die sich darin befinden, hat es bald
die abenteuerlustigen Männchen erspäht. (Wie sich
L. noctiluca hierbei verhält, ist mir rätselhaft, denn
ihr fehlen die Fensterchen.) Nun beginnt ein sog.
Leuchtduett, und die genannten dichterisch ver-
anlagten Beobachter haben versichert, daß Weib-
chen und Männchen sich mit ihrem Lichtchen zu-
blinzeln, eigentlich zublitzen. — Ob nun das Licht
der Leuchtkäfer nur eine Llochzeitsfackel ist, wäre
vielleicht zu bezweifeln. In erster Linie wird es
wohl ein Schutzmittel gegen Fledermäuse, Ziegen-
melker und anderes Raubgesindel sein; denn es
dürfte doch nicht ganz der Geschmacksrichtung
dieser Tiere entsprechen, nach Feuerfunken zu
66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. V. III. Nr. 5
schnappen, zudem die Lampyriden auch ziemlich
schlecht schmecken müssen, was schon unsere Nase
leicht erraten kann. Zerdrückt man nämlich solch
Leuchtkäferchen, so kann man einen unangenehmen
Duft wahrnehmen, der an Zwiebelgeruch erinnert.
Tagsüber kann das Käferchen dieser Schutzmittel
entbehien, es hält sich verborgen und ist ausserdem
durch sein erdfarbenes Kleid geschützt. — Die
Eier von Lampyris sollen auch leuchten, sogar
schon im Eierstock. Ich habe die Tierchen wieder-
holt zum Eierlegen veranlaßt, habe aber selbst bei
Nacht unter dem Mikroskop nichts wahrnehmen
können, auch nicht den leisesten Lichtschimmer,
trotzdem die Eier lebten. Die daraus schlüpfenden
Lar^'en leuchten aber, und zwar an jeder Seite
eines Leibesabschnittes. Im Spätherbst sind sie
schon ziemlich erwachsen. Ich habe sie (L. splen-
didula) oft in Unmengen in den Straßengräben
bei dem Dorfe Osterode gesehen, wenn ich in
lauen November- oder Dezembernäcliten von Herz-
berg a. E. nach Hause pilgerte. — Eine Larve der
größeren Art L. noctiluca fand ich am Abend des
2. Pfingstfeiertages 1900 auf dem Wege nach der
Rudelsburg. Ich nahm das Tier mit den Flechten
(Cladonia tubaeformis), auf denen es saß, mit nach
Halle. Bis zu seiner Verpuppung, die nach etwa
3 Wochen erfolgte, nährte es sich von der Flechte,
wie direkte Beobachtung und deutliche Fraßspuren
bewiesen. Die Puppe besaß mehrere stark leuch-
tende gerundete Flecke auf der Unterseite des
Hinterleibes. Das daraus sich entwickelnde Weib-
chen leuchtete auch recht kräftig bei Tag und bei
Nacht. — Aus den hier mitgeteilten Beobachtungen
kann man leicht ableiten, daß das Leuchten nicht
etwa zum Auffinden der Geschlechter dient, sondern
bei seiner Permanenz in allen Entwicklungsstadien
(Eier ausgenommen) als ein mit dem Wesen des
Tieres verbundener Vorgang angesehen werden
muß, der zu dessen Wohlbefinden unbedingt not-
wendig ist.
Man nahm früher an, daß es tagsüber aufge-
nommenes Sonnenlicht wäre,, das am Abend von
den weißlichen Leuchtflecken wieder ausgestrahlt
würde. Später machte man den Phosphor dafür
verantwortlich. Aber Mateucci wies schon zu An-
fang des vorigen Jahrhunderts das Irrige dieser
Ansicht nach. Er fand eine Flüssigkeit, seiner
Meinung nach aus Salpetersäure und Kohlensäure
bestehend, die von dem Leuchtorgan ausgeschieden
wurde. Den Vorgang des Leuchtens selbst hielt
er für einen Oxydationsprozeß. Außerdem schwelgte
er in der Hoffnung, man würde einmal den leuch-
tenden Stoff fabrikmäßig herstellen können und
empfahl dazu als Rohstoffe faules Holz und faule (?)
Fische; denn beide Stoffe seien bequem in der
nötigen Menge zu bekommen. Leider hat man
aber entdeckt, daß im faulenden Holze die das-
selbe durchziehenden Pilzmycelien und auf den
toten Fischen die Leuchtbakterien leuchten. Damit
wäre also wieder einmal ein schöner Gedanke ins
Wasser gefallen. — Der Anatom Kölliker kam
der Sache schon etwas näher. Er erkannte bei
der mikroskopischen L^ntersuchung das Leucht-
organ als einen selbständigen nervösen Apparat,
welcher ein harnsaures Salz (NH4O), also ein Ver-
dauungsprodukt, abscheidet. — Neuerdings hat ein
japanischer Naturforscher den Leuchtvorgang unter-
sucht. Er fand, daß während der Verdauung
Kelone entstehen. Diese polymerisieren sich und
spalten sich während der Verdauung im Leucht-
organ in andere organische Verbindungen. Dieses
Spalten wird von dem Leuchten begleitet. —
Solche organische Verbindungen, welche leuchten,
kennt man jetzt eine ganze Menge. B. Tschugaeff
fand bei der Untersuchung von 510 solcher Stoffe
127 lumineszenzfähige, d. h. leuchtfähige. Er nennt
diese Erscheinung in Anlehnung an E. Wiede-
mann Tribolumineszenz. Eine in bezug auf das
erzeugte Licht ganz ähnliche Erscheinung, eben-
falls Tribolumineszenz genannt, kann man be-
obacliten, wenn man im Dunkeln Porzellan- oder
Steingutscherben mit den Bruchflächen aneinander-
reiht, auch Stücken von Hutzucker reibt oder im
Mörser zerstößt. Was man dabei zu sehen be-
kommt, das ist kein Feuer und das sind auch
keine Funken im gewöhnlichen Sinne des Wortes.
Licht ist es, und nach dem berühmten Gesetz von
der Erhaltung der Kraft handelt es sich bei diesen
und ähnlichen Vorgängen jedenfalls um eine frei-
werdende Energie, die sich dem Auge als Licht
wahrnehmbar macht.
Die vorhin genannten Käferarten Lampyris
und Luciola, desgl. Photuris, Lamprorhiza, Lampro-
phorus, Photinus u. s. w., alles Käfer, die sich mehr
oder weniger ähnlich sehen, gehören zu den VV^eich-
käfern (Malacodermata). Zu den Schnellkäfern
(Elateridae) gehört der Cucujo Südamerikas (Pj-ro-
phorus noctilucusj, über den manche Reisebeschrei-
bung einiges zu plaudern weiß. Die Leuchtorgane
dieses Käfers sind von denen unseres Glühwürm-
chens sehr verschieden. Er besitzt deren drei,
2 an den Ecken des Prothorax und eins an der
Unterseite der ersten Hinterleibssegmente. Dieses
letztere ist für gewöhnlich von dem anliegenden
Metathorax verdeckt und wird erst beim Fliegen
sichtbar, da die Elateriden die Gewohnheit haben,
beim Flug den Hinterleib zu heben. — Die Leucht-
organe sind von einem linsenartig gewölbten
durchsichtigen Teil des Chitinpanzers bedeckt.
Bei der Untersuchung, die bis jetzt allerdings noch
viel zu wünschen übrig läßt, hat man winzige
krystallinische Körperchen gefunden, die innerhalb
des Organs gebildet werden. Leider weiß ich
nicht zu sagen, ob an sie der Leuchtvorgang ge-
bunden ist.
Da ich einmal bei den Käfern bin, will ich
noch erwähnen, daß die Flüssigkeit (Buttersäure),
welche die Bombardierkäfer (Brachinus crepitans
und Br. explodens) gegen ihren Feind spritzen,
leuchten soll. Man soll aber nichts unversucht
lassen ; deshalb habe ich fleissig Steine gewendet
und mir eine ganze Anzahl dieser niedlichen Lauf-
käferchen verschafft. Diese habe ich dann in ein
Glas gesperrt und bei Nacht mit einem Haar-
N. F. III. Nr. 5
Naturwisseiischaftliclic Wochenschrift.
67
pinsel gereizt. Die Butlersäure wurde, wie mir
meine Ps'ase bezeugte, in Massen vergeudet, aber
sie tat mir nicht den Gefallen, zu leuchten.
Man sagt noch einer ganzen Menge Insekten
nach, daß sie leuchten sollen, und wer sich dafür
interessiert, dem empfehle ich Henry Gadeau de
Kerville, „Die leuchtenden Tiere und Pflanzen",
übersetzt von W. Marshall (Leipzig, J. J. Weber.
3 Mk.). Mancher Leser wird vielleicht noch an
an den berühmten Laternenträger, eine Zikade,
denken; doch gehen die Berichte über sein Leucht-
vermögen weit auseinander. Der südamerikanische
Laternenträger hat zwar einen sehr lichtvollen
Namen (Fulgora laternaria), aber neuere Beobachter
haben an dem Tier kein Licht wahrnehmen können.
Fig. 1. Pyrophorus noctilucus (Surinam). Nat. (Iröüe.
und seine blasig vorgewölbte Stirn leuchtet sicher
ebensowenig wie die des seltenen kleinen Laternen-
trägers Pseudophaiia europaea, den ich einmal bei
Dresden gefangen habe.
Mit den Insekten nahe verwandt sind die
Tausendfüßler, unter denen es tatsächlich leuch-
tende Vertreter gibt, die aber trotzdem kein be-
sonderes Organ hierfür besitzen. Bis jetzt habe
ich nur die Bekanntschaft des kleinen Geophilus
electricus gemacht, und zwar im Seminargarten
zu Weißenfels. An seiner ganzen Oberfläche
sondert dieses Tierchen einen leuchtenden Schleim
ab, auch die abgestreiften Teile leuchten weiter,
sodaß er eine phosphoreszierende Si)ur hinterläßt.
zeitweilig wuchern
Bis jetzt habe
sprochen ; ehe ich
.Auch einem leuchtenden Regenwurm (Alle-
lobophora foetida), der sich durch ein stinkendes
Sekret übel bemerkbar macht, und den meine
Kröten und Salamander beharrlich verschmähten,
kann man gelegentlich begegnen. Ich selbst habe
an dem Wurm nichts dergleichen wahrnehmen
können und vermute das Vorhandensein von Mikro-
organismen, die in dem abgeschiedenen Schleime
und das Leuchten verursachen,
ich nur von Landtieren ge-
aber zu den Bewohnern des
Meeres übergehe, will ich noch kleiner Organismen
gedenken, die eine gewissermafSen vermittelnde
Stellung einnehmen, der sogenannten Photobakterien.
Sie finden sich z. B. auf frischen Knochen und
verraten dann ihre Anwesenheit im dunkeln
Zimmer durch phosphoreszierende Flecke. Leider
sind die Leuchtbakterien sehr kurzlebig und werden
bald durch die eintretende Fäulnis vernichtet.
I^Grüne Heringe und andere Seefische leuchten
sehr leicht. Zu genießen sind solche Fische trotz
der .Anwesenheit des Mikroorganismus. Sein Vor-
handensein ist durchaus kein Zeichen eingetretener
Fäulnis, sondern im Gegenteil, es garantiert sogar
für frische Ware. Bei beginnender Fäulnis hört
das Leuchten auf. Mein Fischlieferant sagt immer:
,, Solange noch Phosphor daraufist, sind die Heringe
noch gut." .Sehr ergötzlich zu lesen ist, was Prof.
Marshall über seine Bekanntschaft mit den Leucht-
bakterien erzählt(SpaziergängeeinesNaturforschersj:
„In Leiden, als ich noch .Assistent am Reichs-
museum war, habe ich auf dem Gebiete der Phos-
phoreszenz persönlich einmal eine in der Tat
„glänzende" Erfahrung gemacht. Ich hatte von
Fischersleuten einen jener seltsamen großen P'ische,
die man Mondfische oder schwimmende Köpfe
(Orthagoriscus mola) nennt, erworben, der, als ich
ihn erhielt, schon nicht mehr ganz frisch war.
tat aber nichts zur Sache. Meinem Eifer, ich
damals 22 Jahre alt, erschien der Geruch,
das Vieh im Laufe der ziemlich langwierigen
Zergliederung entwickelte, eine Kleinigkeit, obwohl
er das ganze Parterre des Museums verpestete, bis
mein X'orgesetzter, der gute alte Schlegel, der
sonst wahrhaftig in solchen Sachen nicht empfind-
lich war, endlich ein Einsehen hatte und die faule
Bestie kurzerhand entfernen ließ. Es war ein
toller Gestank, der sich in meine Kleider, ich
glaube selbst in die Gewebe meines Körpers fest-
nistete; wenigstens liefen mir die Hunde auf der
Straße nach und ich konnte ein paar Monate keinen
Fisch essen. Kurz und gut, ich hatte während
jener Tage einmal etwas in meiner Stube auf dem
Museum, deren Fenster nach meinem Weggang
mit Läden geschlossen wurden , vergessen und
betrat vielleicht um 8 Uhr, es war im Herbst und
schon dunkel, ohne Licht das Lokal. Gott, welche
Pracht bot sich meinen erstaunten Blicken! Der
Fisch, die Tafel, auf welcher er lag, die Tücher
und Instrumente, welche ich benutzt hatte, da und
dort auf dem Boden und an den Möbeln Flecken,
auf welche vielleicht Stückchen Fleisch gefallen
Das
war
den
68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5
waren oder die meine beschmutzte Hand berührt
hatte, alles, alles in einem prachtvoll grünlichen
lebhaften Lichte und überzogen wie von einem
strahlenden Samtl" (Anm. d. Verf: Sicherlich
hat der Fisch einen intensiven Seefischgeruch be-
sessen und nur an den ersten Tagen geleuchtet.)
— Bringt man etwas von dem leuchtenden Schleim
eines Seefisches unter das Mikroskop, so kann
man bei starker Vergrößerung auch den Erreger
des Lichtes wahrnehmen, nämlich kleine runde
Körperchen. Diese sind die Leuchtbakterien, und
sie gehören wegen ihrer kugeligen Form zu den
Mikrokokken. Man kann sie auf Kartoffeln kulti-
vieren, die in starkem Salzwasser gekocht sind,
oder auch wie alle anderen Bakterien in Nähr-
gelatine. Leider verflüssigen sie sehr bald das
Nährmaterial und fallen dann dem Verderben anheim.
In neuerer Zeit hat sich besonders R. Dubois
(Paris) mit dem von ihnen ausgestrahlten Lichte
beschäftigt. Seine Resultate hat er niedergelegt
in: Über Beleuchtung mit kaltem physiologischem,
sog. lebenden Lichte. Der kurze Inhalt ist fol-
gender: Physiologisches Licht enthält die größte
Menge Strahlen mittlerer Wellenlänge mit einem
Minimum von Wärme und chemischer Strahlung.
Die Schwierigkeit, es in hinreichender Intensität
zu gewinnen, glaubt der Verfasser mit Hilfe der
Photobakterien bei Anwendung einer von ihm aus-
probierten Nährflüssigkeit überwinden zu können.
Er hat auf diese Weise während der Pariser Aus-
stellung im Palais de l'Optique ein Zimmer soweit
beleuchten können, wie es etwa der Mondschein-
helligkeit entspricht. Das Licht wirkt erst in
mehreren Stunden auf die photographische Platte
ein, geht durch Holz und Karton, aber nicht durch
Blattaluminium.
Die meisten leuchtenden Organismen beher-
bergt das Meer. Zu verwundern ist, daß die Ge-
lehrten des klassischen Altertums sich scheinbar
nicht um das Meeresleuchten gekümmert haben.
Aristoteles erwähnt es nicht, und nur Plinius er-
wähnt einen leuchtenden Plsch, den er auch genau
beschreibt, den es aber gar nicht gibt. Der erste,
der des herrlichen Schauspiels gedenkt, ist Amerigo
Vespucci. Erst im i8. Jahrhundert entdeckte man
die Träger des Leuchtens. Das Meeresleuchten
hat nach dem jeweiligen Stande der Naturwissen-
schaft eine verschiedene Deutung erfahren. Als
Brand im Jahre 1699 zu Hamburg im Urin nach
Gold suchte und statt dessen den Phosphor fand,
musste die eigentümliche Lichtentwicklung bei
seiner langsamen Verbrennung zur Erklärung des
Meeresleuchtens herhalten. Alexander v. Humboldt
wiederum will es als eine elektrische Erscheinung
aufgefaßt wissen und stellt es mit Elmsfeuern,
Blitzen und Nordlichtern zusammen. Ganz klar
ist man sich heutzutage aber auch noch nicht
darüber.
Am Meeresleuchten beteiligen sich verschiedene
Infusorien und Algen. Zu den ersteren zählt vor
allen Dingen das Kranztierchen Noctiluca miliaris
und das quallenähnliclic Infusor Leplodiscns, und
zu den Algen zählen die von der Challenger-
Expedition als leuchtend erkannten Pyrocystis-
Arten. — Noctiluca miliaris kommt in der Nord-
see vor. Das Tierchen nimmt dieselbe Fläche
ein wie ein Haarquerschnitt und hat die Gestalt
einer Pfirsiche, d. h. es ist kugelrund und besitzt
eine Furche. Die Stelle des Stieles vertritt ein
kurzer sich nur langsam bewegender Geißelfadeii.
Das Tierchen ist einzellig und das Licht strahlt
von dem protoplasmatischen Inhalte aus. Gerade
so winzig sind die scheibenförmigen Leptodiscen
des Mittelmeeres. Die zigarrenförmigen Pyrocysten
sind etwa i mm lang und im offenen Ozean unter
den Tropen zu finden. Die deutsche, von Chun
geleitete Tiefseeexpedition fand sie in der grossen
Fischbai in Südwest-Afrika. Der Bericht darüber
lautet folgendermaßen : „Es machte einen fast
märchenhaften Eindruck, als am Abend nach un-
serem Eintreffen die Oberfläche des Wassers zu
phosphoreszieren begann und sich ein Raketen-
feuer von Hunderten glühender Streifen entwickelte,
die ebenso rasch wieder verschwanden , als sie
auftauchten. Es waren grosse Fische, welche bei
dem Durchschneiden des Wassers die massenhaft
an der Oberfläche angestauten niedersten Organis-
men (Diatomeen und Pyrocystis) zum Leuchten
Israeliten." — Die Erscheinung des Meeresleuchtens
kann man bis in die Polargegenden beobachten.
Am intensivsten leuchten immer die Wellen-
kämme, überhaupt die Stellen, wo mechanische
Reize auf die Organismen einwirken, ganz gleich,
ob sie von Kiel und Schiffsschraube oder von
Fischen verursacht werden.
Nahe der Meeresoberfläche schwimmen auch
größere Tiere, welche Leuchtvermögen besitzen, so
die Rippenquallen (Tiara), der bandartige Venus-
gürtel (Cestus veneris), ferner die zu den Würmern
gehörenden unter dem Namen Pyrosomen (Feuer-
leiber) bekannten Tierkolonien , die einem hohlen
Tannenzapfen ähnlich sehen. Weiterzählen hierher
die von Prof. Dr. Rieh. Greeff-Marburg beschriebenen
Würmer der Gattung Tomopteris, die zu den
Ringelwürmern (Anneliden) gehören. Sie sind
nur 2 cm lang, flach gebaut und tragen an ihren
Fußstummeln rosettenförmige Leuchtorgane. Ein
festsitzendes leuchtendes Tier, das sich Höhlen in
Stein, Sand, Holz u. s. w. bohrt und sich damit
selbst ein Gefängnis bereitet, ist die Bohrnuischel
(Pholas dactylus). Sie sieht einer gewöhnlichen
Flussmuschel ähnlich. Sie besitzt zwei stark
leuchtende Flecke und einen ebensolchen Streifen
auf dem Mantel (das ist die den Schalen anliegende
schleimige Haut) und zwei Leuchtstreifen auf der
röhrenförmigen Verlängerung desselben, dem Atem-
sipho, den sie aus ihrer Höhle herausstreckt. Der
von den genannten Stellen abgesonderte Schleim
leuchtet, auch abgestreifte Teile desselben leuchten,
sogar an getöteten Tieren leuchtet er noch weiter.
Die Zusammensetzung des Stoffes ist meines
Wissens noch nicht bekannt. Einen Namen hat er
aber schon bekommen, nämlich Luciferin. Bei dieser
Bohrmuschel kann man die Frage aufwerfen, wozu
N. F. III. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69
denn das Tier in seiner Höhle, die manchmal so-
gar recht tief ist, das Licht braucht. Sicherlich
dient es dazu, winzige Organismen herbeizulocken,
die der Muschel dann zur Nahrung dienen.
Aber nicht nur die bis jetzt angeführten Tiere
sind mit Leuchtkraft begabt, sondern fast sämt-
liche im Meer vorkommenden Tierklassen weisen
leuchtende Vertreter auf. Leuchtorgane sind be-
sonders bei Tiefseetieren eine ganz allgemeine Er-
scheinung. Wir sind nun schon so weit biologisch
geschalt, um ohne weiteres eine Erklärung dafür
abgeben zu können. Entweder dienen die Organe
bei plötzlichem Aufleuchten als Schreck- und da-
mit als Schutzmittel für ihren Träger, andererseits
dienen sie der Anlockung von Nahrung. In dem
Dunkel der Meerestiefe müssen die mit Leucht-
apparaten ausgerüsteten Tiere wie Laternen er-
scheinen, nach deren Lichte wieder solche Lebe-
wesen hinstreben, die von der Natur nicht in
gleicher Weise bedacht worden sind, den Leucht-
tieren aber zur Nahrung dienen. Um nun einen
Begriff von dem Bau und der Funktionsweise eines
Leuchtorgans zu geben, seien zwei Fische einer
spezielleren Betrachtung unterzogen mit Beziehung
auf die Untersuchungen des Herrn Dr. Brandes-
Halle, der mir in der liebenswürdigsten Weise sein
gesamtes mikroskopisches Material zur Verfügung
stellte.
Nebenstehende Abbildung stellt ein im Mitlei-
meer pelagisch lebendes Fischchen, Argyropelecus
hemigymnus, dar, dessen wissenschaftliche Be-
nennung es vollständigf beschreibt. Es ist axt-
FiP
Argyropelecus hemigymnus. Mittclmccr.
Nat. Größe.
förmig gestaltet und halb mit fleischfarbener, halb
mit silberglänzender Haut bedeckt. Es hält sich
für gewöhnlich in einer" Tiefe von 5 — 600 "^
auf, kommt aber nachts gelegentlich an die Ober-
fläche. Die abgerundeten länglichen Flecken sind
die Leuchtorgane. Da die Organe in der Hauptsache
nach aussen von gallertiger Beschaffenheit sind, die
Gallertmasse aber nach dem Tode gerinnt, so
nehmen dieselben , da sie außerdem noch einen
spiegelnden Hintergrund besitzen, Perlmutterglanz
an. Diese Flecken waren nun auch schon längst
unter dem Namen ,, perlmutterglänzende Flecken"
bekannt, ehe durch Beobachtung festgestellt wurde,
dass sie Leuchtkraft besitzen.
Nebenstehende Zeichnung nach einem Quer-
schnitt durch ein Paar .Schwanzorgane will ich in
folgendem erläutern. Am besten läßt sich das
Leuchtorgan mit einer Düte vergleichen, die unter
die schuppenlose Körperwandung gesteckt worden
ist und deren große seitliche Öffnung mit der
Haut eine Ebene bildet. Die Wandung der Düte
(r) besteht aus langen Bindegewebszellen, in welche
Guaninkalk eingelagert ist, der ja, wie ich hier neben-
bei erwähnen will, den Silberglanz aller Fischhaut
und aller Fischschuppen verursacht. Durch die
Rundung zur Düte ist ein parabolisch gekrümmter
Reflektor zustande gekommen. Die Außenseite
/
Fig. 3. Leuchtorgane von Argyropelecus hemigymnus.
Untere Hälfte des Schwanzes. Querschnitt. 100 mal vergr.
des Reflektors ist mit einer dichten Pigmentschicht
belegt. Im Zipfel der Düte (die äußerste Spitze
muß sich der Leser abgeschnitten denken) liegt
ein großer Haufen kugeliger Drüsenzellen (d) und
zwischen ihnen in Bindegewebe eingebettet liegen
Nerven und Adern. Diese einzelligen Drüsen
sondern verhältnismäßig große stark lichtbrechende
Körperchen ab, die als Leuchtkörper anzusehen
sind. Vor diesem Drüsenhaufen liegt eine Bikonkav-
linse (1), die aber bei dem hier abgebildeten Organ
noch eine ebene Austrittsfläche hat. Diese letztere
liegt der durchsichtigen Körperwandung direkt
an, während die untere konkave Seite gegen den
Reflektor gerichtet ist. Der noch übrig bleibende
Raum ist von Gallertgewebe (g) erfüllt. Wir
haben also in diesem Organ eine regelrechte
Blendlaterne vor uns, welche alles Licht senkrecht
zur Körperwandung nach außen wirft. — Die
Drüse des hier abgebildeten Organs speist gleich-
70
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 5
zeitig die Lampen der linl<en und rechten Seite.
Das ist auch der Fall bei den 12 Paar Leucht-
organen des Bauchkieles. Die Leuchtdriise bildet
hier einen Strang mit 12 Paar seitlichen Fortsätzen.
— Etwas abweichend gebaut von den beschriebenen
Organen sind die beiden vor den Augen liegenden.
Sie sind ausserdem beweglich und gestatten
auf diese Weise ein Umherleuchten. Die Augen
sind gegen ihr Licht durch einen hoch hinaufreichen-
den Pigmentmantel geschützt. Die dadurch be-
dingte Richtung des Auges sowie die Stellung
des Maules lassen vermuten , daß sich der Fisch
nicht in der gewohnten Weise , sondern in der
Pfeilrichtung fortbewegt. Erwähnt sei noch, daß
.'Vrgyropelecus genau lOO Laternchen besitzt, auf
jeder Seite 50.
12 — 1500 Leuchtorgane dagegen besitzt aber
Chauliodus Sloani, ein echter Tiefseefisch. Seine
Zähne sind so gewaltig, daß er das Maul gar nicht
zu schließen vermag. Daraus resultiert wiederum,
daß ihm ein Atmen, wie wir es an unseren Irischen
kennen, nicht möglich ist. L^en Kiemen, die nur
zum Teil von den Kiemendeckeln bedeckt sind,
zum Teil aber ganz frei liegen, kann nur beim
Schwimmen frisches Wasser zugeführt werden,
oder in der Ruhelage durch Bewegen des Kopfes.
Die an den Fischen so bekannte Seitenlinie,
Raum liegen kegelförmige Drüsenzellen , deren
Spitzen sich im Zentrum der Drüse vereinigen.
Von den an der Peripherie liegenden Bindegewebs-
Fig. 5. Leuchtorgan von Chauliodus Sloani,
Krontalschnitt. 200 mal vergr.
Fig. 4. Chauliodus Sloani. .Mlanlischer Ozean. Nat. CJröße.
welche wir als ein Sinnesorgan, nämlich als den
Sitz des statischen Sinnes (Balanciersinnes) anzu-
sprechen haben, fehlt bei ihm. Wir können daraus
folgern, daß er größtenteils wie unsere Gründlinge
luid Schmerlen auf dem Meeresgrunde dahinrutscht.
Die beiden Bauchflossen scheinen diese Annahme
zu bestätigen. Mit Leuchtorganen ist nun vor-
nehmlich die untere Körperhälfte ausgestattet.
Eine große Anzahl finden sich auch an dem be-
weglichen ersten Strahl der Rückenflosse (im
Bild etwas zu stark geraten), und nur einige
sitzen am Kopf Das von mir abgebildete,
etwas schematisierte Leuchtorgan ist nicht im
Querschnitt, sondern im Frontschnitt (tangential)
dargestellt. Auch hier haben wir wieder den
dütenförmigen, rückwärts pigmentierten Reflektor,
nur mit dem Unterschied, daß er oben gerundet
ist und eine Einschnürung besitzt. Im oberen
Zellen ziehen feine Stränge mit kleinen Kernen
zwischen die Kegel hindurch, vereinigen sich im
Zentrum, ziehen abwärts weiter und umschließen
die genau in der Einschnürungsstelle liegende
Bikonvexlinse, welcher wiederum ein gallertiges
Bindegewebe vorgelagert ist. Jedes Leuchtorgan
liegt unter einer Schuppe und legt sich mit der
Öffnung an die pigmentfreie, verdünnte Mitte der-
selben an. Zwischen den grossen Leuchtorganen
der LTnterseite liegt noch eine große Menge
kleiner, die etwas anders gebaut sind. — Der
stark verlängerte erste Strahl der Rückenflosse
dient vermutlich als Anlockungsapparat, indem er
wie ein feuriger Wurm vor dem weit geöffneten
Maule hin und her bewegt wird.
Leider sind wir bei Tiefseetieren nicht in der
Lage, das Leuchten mit eigenen Augen beobachten
zu können, da sie stets tot oder doch todesmatt
N. F. III. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
mit dem Netz an die Oberfläche gelangen. Diese
Tiere, die doch sämtlich unter einem ungeheueren
Druck der Wassermassen leben, und in ihrem Innern,
in allen Körpergeweben denselben Druck haben
müssen als Gegendruck, der den äußeren aufhebt,
kommen mit dem Schleppnetz ziemlich schnell nach
oben in immer weniger belastete Schichten und
schlief^lich gar an die Luft. Hierbei wird der AuÜen-
druck bis auf den einer Atmosphäre herabgemindert,
während der kolossale Innendruck ein Zersprengen
der Gewebe der inneren Organe bewirkt und da-
durch den Tod herbeiführt. Nur in einem Falle
ist es der schon erwähnten deutschen Tiefsee-
expedition geglückt, einen Tintenfisch (von Rechts
wegen Tintenschnecke), Enoploteuthis diadema Ch.
n. sp., noch schwach phosphoreszierend bis in die
Dunkelkammer zu bringen und dort zu photo-
graphieren (Abbildung in C. Chun , „Aus den
Tiefen des Weltmeeres".) Die zu mehreren Reihen
und Gruppen angeordneten Leuchtorgane schimmer-
ten hellblau, dunkelblau, rubinrot, schneeweiß und
mit Perlmutterglanz. „Es war eine Pracht !" schreibt
Prof. Chun, „man glaubte, dass der Körper mit
einem Diadem bunter Edelsteine besetzt sei." —
Unter den Tintenfischen der Tiefsee gibt es eine
ganze Reihe solcher, welche diesen herrlichen
Schmuck tragen. Ihre Leuchtorgane sind etwas
anders als die vorhin beschriebenen gebaut.
Ich will nun noch auf einige Erscheinungen
eingehen , bei denen es sich nur scheinbar um
ein Leuchten handelt, die tatsächlich aber in das
Gebiet der Lichtreflexion gehören.
Die Augen der Hunde und Katzen z. B. leuchten
nicht in dem Sinne, wie die Leuchtorgane der
Tiefseetiere, sondern reflektieren nur das Licht.
In absoluter Finsternis leuchten sie nicht. Des-
gleichen w'ird jeder Schmetterlingssammler die
Augen der am Köder sitzenden Eulen (Noctuiden)
grünlich-golden leuchten sehen, sobald er sich mit
der Laterne nähert.
Auf einem Reflektieren des Tageslichtes beruht
das Leuchten des Leuchtmooses Schistostega os-
mundacea. Doch nicht das Moos selbst leuchtet,
sondern sein aus kugeligen Zellen bestehendes
Protonema (Vorkeim). Die glashellen Kugelzellen
desselben wirken wie Konvexlinsen, die alles ein-
fallende Licht auf einen Punkt ihrer eigenen Hinter-
wand konzentrieren. An diese Stelle haben sich
die wenigen Chlorophyllkörner hingezogen. Diese
werfen nun das Licht in der Richtung der ein-
fallenden Strahlen zurück und bringen dadurch das
smaragdgrüne Leuchten hervor. Dieses Phänomen
habe ich wiederholt in der sächsischen Schweiz
beobachtet. Steigt man z. B. am Pfaffenstein zur
Goldschmiedshöhle hinab und wendet sich an der
Wegteilung nach der linken Seite, die einen Aus-
blick nach Königstein zu bietet, dann kann man
unter einem überhängenden Felsen im Hinter-
grunde das smaragdgrüne Leuchten sehen, zugleich
aber noch die wie gleißendes Gold blitzenden
Kolonien von Diatomeen und Flagellaten (Chromu-
lina) , die sich gleichfalls auf dem schlammigen
L'ntergrunde angesiedelt haben. Zum Glück ist die
niedrige Höhle unzugänglich. Mit Farben wieder-
geben läßt sich das Bild nicht, und selbst die vor-
züglich ausgeführte Tafel in Kerner's „Pflanzenleben"
ist nichts weiter als ein schwacher Versuch.
Um Reflexionsorgane, vielleicht aber auch um
Leuchtorgane, handelt es sich bei den Nestjungen
der Amazonen-.'\mandine (Poephila mirabilis). Ein
Vogelliebhaber in Halle hatte die Beobachtung
gemacht, dass die 4 auffallenden, prächtig blau ge-
färbten Organe an den Schnabelwinkeln als helle
Punkte im Nistkasten leuchten. Die Jungen starben
aber sehr bald, und Dr. Brandes zerlegte die Or-
gane in Serienschnitte, konnte aber
keine Anhaltpunkte gewinnen, die
für ein Leuchtorgan sprechen.
Drüsenzellen ohne Ausführungs-
gang, die in allen solchen Organen
vorhanden sind und den licht-
erzeugenden chemischen Körper
produzieren, ließen sich nicht nach-
weisen. Nach diesem Befunde wäre
also an eine eigene Lichtproduktion
nicht zu denken. Die Organe zeig-
ten eine enorme Verdickung der
Cutis, die teilweise mit einem
Mantel von Pigment umgeben ist.
Zwischen der Cutisverdickung und
der Epidermis liegen dichtge-
drängte Bindegewebsfasern, in
welche wieder zerstreute Pigment-
zellen eingebettet sind. Leider fehlen nun alle Analo-
gien, um zu irgend einem Schluß gelangen zu können.
Es ist aber auch möglich, daß die Organe deformiert
waren, da die Vögel schon einen Tag trocken ge-
legen hatten und bereits Schrumpfung eingetreten
war. — Aul3er diesen merkwürdigen Organen sind
aber am Gaumen noch 5 symmetrisch gestellte
Pigmentflecke vorhanden, die man auch schon bei
anderen Vogelarten gesehen hat. Man betrachtet
sie als Wegzeichen für die Eltern, damit diese bei
der Fütterung den hungrigen geöffneten Schnabel
besser finden können. In derselben W^eise ist der
sog. Gelbschnabel so vieler Nesthocker zu deuten,
der dann bei zunehmendem Wachstum verschwindet.
Es ist nun Tatsache, daß die blauen Organe der
.Amandine, die beim erwachsenen Vogel nicht
mehr nachzuweisen sind, als helle Punkte aus dem
Dunkel der Nisthöhle hervorleuchten. Die fütternden
Eltern können also, wenn sie aus dem hellen
Tageslicht in die finstere Nisthölile kommen, mit
Leichtigkeit die gesperrten Schnäbel der hungrigen
Kleinen finden.
Direkte Beobachtung würde die Frage, ob Re-
flexions- oder Leuchtorgan, mit einem Schlage er-
ledigen, und ich knüpfe hieran die Bitte, daß jeder
Liebhaber, der diese oder ähnliche exotische Höhlen-
brüter besitzt, ein wachsames Auge haben möge.
Fig. 6. Nestjunges
von Poephila
niirahilis. Nat. Gr.
72
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5
Die Entwicklung der achromatischen, optischen Systeme,
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. F. Koerber.
Die nach den Gesetzen der geometrischen Optik
abgeleitete Formel für die Brennweite einer Linse
zeigt, daß die Brennweite vom Brechungsquotienten
abhängig ist. Daraus folgt, daß bei Anwendung
einer punktförmigen, weißen Lichtquelle durch eine
einfache Linse nicht ein wiederum punktförmiges
Bild entworfen wird, sondern daß längs der op-
tischen Achse der Linse die Aufeinanderfolge un-
zähliger, verschieden gefärbter Bilder entsteht. Die
violetten Strahlen vereinigen sich der Linse zu-
nächst und es folgen dann die Vereinigungspunkte
der übrigen Farben in der Reihenfolge des Spek-
trums. P'ängt man daher den Strahlenkegelquer-
schnitt an irgend einer Stelle durch einen ebenen
Schirm auf, so wird derselbe niemals punktförmig
B C
D
E
F
Alte
Gläser
Crown
Flint
B C D
B C D
£ F
E F
Neue
Gläser
Crown
Flint
B C
D
E
F
Fig. I. Die l''arbenzerstrcuung in älteren und neueren Gläsern.
sein können, sondern stets ein farbig umsäumtes
Lichtscheibchen darstellen. Die Erscheinung be-
zeichnet man bekanntlich als die chromatische
Aberration einer Linse. Sie bildet einen für die
scharfe Abbildung sehr störenden Fehler, dessen
Beseitigung oder wenigstens möglichste Herab-
minderung eine der Hauptaufgaben der praktischen
Optik bildet.
Während noch Newton die Beseitigung der
farbigen Ränder für unmöglich hielt, da ihm nur
eine einzige Sorte von Glas bekannt war, gelang
es Dollond im Jahre 1758, durch die Erfindung
achromatischer Kombinationen einen außerordent-
lich wichtigen Fortschritt der optischen Instrumente
zu begründen. Durch Vereinigung einer Zerstreu-
ungslinse aus bleihaltigem Flintglas mit einer Kon-
vexlinse aus gewöhnlichem Crownglas wurde dies
ermöglicht, da das Farbenzerstreuungsvermögen
sowohl wie auch das Brechungsvermögen des Flint-
glases ein stärkeres und völlig anderes ist, als beim
Crownglas. Es ist verhältnismäßig leicht, für eine
nicht zustande gebracht werden
gegebene Crownglaslinse die äußere Krümmung
einer daraufgelegten Flintglaskonkavlinse zu be-
rechnen, welche nötig ist, damit das so erhaltene
System für rote Strahlen eine ebenso große Brenn-
weite erhält als für violette. Mit Linsen aus
gleichem Material würde dies deswegen nicht mög-
lich sein, weil dann die farbenzerstreuende Wir-
kung nur gleichzeitig mit der brechenden wieder
aufgehoben werden könnte, so daß eine farbenfreie
Abbildung eben
kann.
Der von Dollond erreichte Fortschritt war so
groß, daß man nunmehr die von achromatischen
Linsen erzeugten Bilder mit Hilfe kräftiger Okulare
ziemlich stark vergrößern konnte, ohne die Bild-
schärfe wesentlich zu beeinträchtigen. Man konnte
somit bei Fernrohren von kleinen Dimensionen
dieselben Vergrößerungen erzielen, wie sie vorher
nur mit den fabelhaften, an Stangen befestigten
Ferngläsern eines Hevel und anderer erreichbar
waren. Vor der Erfindung der Achromasie konnte
man nämlich stärkere Fernrohrvergrößerung nur
dadurch erreichen, daß man den Objektivlinsen
sehr große Brennweiten gab und damit das reelle
Bild selbst bereits in größerem Maßstabe erzeugte,
die Okularvergrößerung aber mußte wegen der
sonst zu deutlich hervortretenden Unscharfe der
reellen Bilder eine sehr mäßige bleiben. Nunmehr
aber konnte mittels achromatischer Objektive von
kurzer Brennweite ein zwar noch kleines, reelles
Bild der entfernten Objekte entworfen werden,
dessen Schärfe indessen eine erhebliche Vergröße-
rung durch das Okular zuließ.
Gleichwohl befriedigten auch die achromatischen
Systeme, die am Anfange des 19. Jahrhunderts
durch Fraunhofer auf eine hohe Stufe der \''oll-
kommenheit gebracht worden waren, schließlich
den immer weiter gesteigerten Ansprüchen nicht
mehr. Je vollkommener homogene Glasmassen
gewonnen wurden und je besser die Fehler infolge
der Kugelgestalt (sphärische Aberration) und alle
übrigen Abbildungsfehler unschädlich gemacht
werden konnten, um so deutlicher trat es störend
zutage, daß die durch achromatische Objektive er-
zeugten Bilder doch nicht ganz frei von objekt-
fremden, farbigen Rändern sind. Hat man nämlich
die Achromasie für zwei Farben , etwa für die
Fraunhofer'schen Linien B und F, hergestellt, so
würden nur dann gleichzeitig auch die Brenn-
weiten für alle übrigen Farben gleich groß sein,
wenn die Farbenzerstreuung im Crownglas genau
die gleiche wäre wie im Flintglas. Daß dies
nicht der Fall ist, zeigt unsere Figur i in ihrer
oberen Hälfte. Bei gleicher Gesamtlänge zweier
durch ein Crownglas- und ein Flintglasprisma er-
zeugten Spektra decken sich, wie die Figur zeigt,
die Linien C, D und E nicht genau und daher
bleiben trotz hergestellter Achromasie für B und F
in den Brennweiten der zwischenliegenden Farben
N. F. III. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
73
kleine Unterschiede bestehen, die das Zustande-
kommen eines völlig farbenfreien Bildes vereiteln
und deren Wirkung man in der praktischen Optik
init dem Namen des „sekundären Spektrums" be-
zeichnet. Recht deutlicli bemerkt man diesen bei
gewöhnlichen, achromatischen Objektiven noch vor-
handenen Fehler, wenn man das von einem
größeren Refraktor erzeugte Bild eines Fixsterns
mittels eines Okularprismas betrachtet. Das Spek-
trum erscheint dann nämlich nicht als eine gleich-
mäßig schmale Linie, sondern, wie Figur 2 zeigt,
Fig. 2. Das achromatische Bild eines Fi.xstcrns, durch ein
Okularspelitroskop betrachtet.
als ein nur an zwei Stellen eingeschnürtes Band
von für die verschiedenen Farben variabler Breite.
Durch Änderung der Focussierung (Einschieben
oder Ausziehen des Okulars) kann man die Ein-
schiiürungsstellen durch das ganze Spektrum wan-
dern lassen und so mit Hilfe eines am Okular-
trieb angebrachten Maßstabes die Unterschiede
der Brennweiten für verschiedene Farben messen,
ein Verfahren, das nach H. C. Vogel sehr ge-
eignet ist, über die Güte der Achromasie eines
Fernrohrs ein Urteil zu gewinnen.
Wenngleich nun bereits Fraunhofer erkannt
hatte, daß das sekundäre Spektrum beseitigt werden
könnte, wenn man unter den zu benutzenden
Glassorten eine größere Auswahl hätte, und wenn
er auch wohl auf dem besten Wege war, für diese
Zwecke besonders geeignete Gläser zu erschmelzen,
so hinderte ihn doch sein frühzeitiger Tod (1826)
an der Erreichung des Zieles. Nach langer Pause
zeitigten erst die theoretischen Arbeiten von Ernst
Abbe in Verbindung mit der Kunst des Glas-
hüttenchemikers Dr. Otto Schott diesen mo-
dernsten Fortschritt der praktischen Optik. Während
die Glasindustriellen im allgemeinen keine Neigung
zeigten, für die optische Industrie besondere Ex-
perimente zur Gewinnung neuer Glasarten zu unter-
nehmen, da auf einen Massenverbrauch von dieser
Seite doch kaum gerechnet werden konnte, und
etwaige Anstrengungen daher wenig lohnverheißend
erscheinen mochten, gelang es Abbe, durch einen
1876 aus Anlaß der Ausstellung wissenschaftlicher
Instrumente in London verfaßten Bericht über den
derzeitigen Zustand der Mikroskopoptik das Inter-
esse und den Ehrgeiz des damals in Witten leben-
den Dr. Schott zu erregen, und ihm die Aufgabe,
die Glastechnik auf eine wissenschaftliche Grund-
lage zu stellen, als eine \'erlockende erscheinen zu
lassen. Nach einer Zeit noch in Witten in kleinem
Maßstabe ausgeführter Vorversuche siedelte Schott
1882 nach Jena über, um nun im unmittelbaren
Zusammenhang mit den Anregungen und Erfah-
rungen der Firma Carl Zeiß_^das verheißungs-
volle Problem mit aller Kraft in Angriff zu nehmen.
Eine namhafte Subvention seitens des preußischen
damals unter
V. Goßler's weitsichtiger Leitung
ff^
Fig. 3. Die Glashütte von Schott und Genossen in Jena.
74
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5
stehenden Unterrichtsministeriums half der „Glas-
hütte \on Schott und Genossen" über die schwie-
rigen Anfangsstadien hinweg, und die alsbald näher
darzulegenden Erfolge ließen im Laufe weniger
Jahre ein Werk erstehen, auf das die deutsche
Wissenschaft ebenso wie die Industrie stolz ist.
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0,015
0,015
1,50 1,55 1,60 1,65
B'ig. 4. Graphische Darstellung der Farbenzerstreuungs- und
Brechungsvermögen verschiedener Glassorten.
— 100 — 50 o +5° -|-ioo +'5°
Figur 5. Die Farbenabweichung verschiedener Fernrohrobjek-
tive, graphisch dargestellt.
Welche Fülle von Gläsern mit ganz neuen
Eigenschaften durch Beimengung gewisser Stoffe,
wie Baryt, Borsäure, Phosphaten und Zink, in Jena
erschmolzen wurde, läßt die graphische Darstellung
Figur 4 erkennen, in welcher die Farbenzerstreuungs-
und Brechungsvermögen der älteren Gläser durch
schwarze Kreise, die der neuen Abbe-Schott'schen
Gläser durch leere Kreise dargestellt sind. Man
sieht, wie die älteren Gläser sämtlich nahe der
Diagonale des großen Rechtecks liegen, so daß also
bei ihnen erhöhter Brechbarkeit stets auch größere
Farbenzerstreuung entsprach, während die neuen
Gläser zum Teil stark nach der rechten Seite hin
von der Diagonale abweichen, was soviel bedeutet,
als daß man mit ihrer Hilfe starke Brechung bei
relativ geringer Farbenzerstreuung erreichen kann.
Es gelang durch diese vergrößerte Auswahl unter
den zur Herstellung der Linsen benutzten Mate-
rialien, Flintgläser zu erhalten, die ein Spektrum
erzeugten, das dem mit Crownglas entworfenen in
allen Teilen kongruent war (vgl. den unteren Teil
der Mgur l), so daß nunmehr das sekundäre Spek-
trum fast völlig beseitigt werden konnte.
Fig. 6.
Der dadurch ermöglichte Fortschritt kam eben-
sowohl den Fernrohren , wie den Mikroskopen
zugute. Unsere Figur 5 läßt den Vorzug der mit
Benutzung der neuen Glassorten hergestellten Zeiß-
schen Objektive gegenüber den älteren Meister-
werken eines Fraunhofer, Clark oder Grubb deut-
lich erkennen. Die senkrechte Linie 00 würde
das ideale Objektiv darstellen, bei welchem die
Farbenabweichung für alle Wellenlängen (hier Or-
dinaten) gleich Null ist. Man sieht, wie außer-
ordentlich nahe das Jenaer Objektiv an dieses
Ideal heranreicht und wird es daher gerechtfertigt
finden, wenn man dasselbe zum Unterschied von
den gewöhnlichen, achromatischen Gläsern einen
Apochromaten genannt hat. Ein apochromatisches
Mikrosko]3objektiv für homogene Immersion ist
nun freilich auch ein auf Grund sorgfältigster theo-
retischer Berechnungen entstandenes, mechanisches
Kunstwerk, besteht es doch, wie Figur 6 zeigt, aus
nicht weniger als 10 einzelnen, zum Teil freien,
zum Teil miteinander verkitteten Linsen aus den
verschiedensten Glassorten, ja mitunter sogar aus
natürlichem Flußspat.
Kleinere Mitteilungen.
Die
nach
eniem
Urheimat
auf der
Cassel gehaltenen Vortrag von Dr. Ludwig
W i 1 s e r. — Unter den großen Aufgaben der
des Menschengeschlechts, Anthropologie, den „Welträtseln", waren besonders
Naturforscherversammlung in zwei, deren Lösung mit Anstrengung erstrebt, mit
N. F. III. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
75
Spannung erwartet wurde, der Ursjjrung des
Mensclien und die arische Frage. Nach den Er-
gebnissen der schwedischen Volksuntersuchung darf
diese wohl als gelöst gelten, über die erste aber
herrschen noch sehr verworrene und wider-
sprechende Ansichten. Nur soweit haben sich die
Meinungen geklärt, daß, während einerseits der
Widerspruch gegen die tierische Abstammung des
Menschen verstummt, man andererseits die Groß-
affen nicht mehr als unsere unmittelbaren Vor-
fahren, sondern als unsere nächstenSeitenverwandten
im Tierreich betrachtet. Wie die gemeinsamen
Vorfahren beschaffen waren, läfSt sich, da sie fossil
nicht gefunden sind, und auch schwerlich zu finden
sein werden, nur vermuten, doch müssen wir ihnen
notwendigerweise solche Eigenschaften zuschreiben,
die sich ebensowohl zu menschlichen wie zu
äffischen entwickeln konnten. Mit Hilfe der Ein-
bildungskraft läßt sich daher folgendes „Ahnenbild"
entwerfen : mittelgroße, dicht behaarte, schwanz-
lose Geschöpfe mit entwicklungsfähigem, aber noch
kleinem Gehirn, kräftigen Kiefern und Zähnen,
ungefähr gleich langen Vorder- und Hinterglied-
maßen mit Greifhand und Greiffuß. Was den
einen Zweig dieses Stammes, die späteren Groß-
affen, veranlaßt hat, sich ausschließlich ans Baum-
leben zu gewöhnen, den anderen, die späteren
Menschen, dies gänzlich aufzugeben, läßt sich mit
Sicherheit nicht mehr entscheiden, nur darin sind
die meisten Forscher einig, daß der aufrechte Gang
die höhere Entwicklung eingeleitet und ermöglicht
hat. Lamarck's geistvolle Schilderung dieses
Werdeganges ist durch die überraschende Ent-
deckung des Pithecanthropus erectus, eines Vor-
menschen mit aufrechtem Gang aber noch un-
entwickeltem, fast tierischem Gehirn aufs glän-
zendste bestätigt worden. Der menschliche Fuß,
dem veränderten Gebrauch in vollendeter Weise
angepaßt, ist in seiner Art ein eben solches
„Meisterstück der Natur" wie die Hand. Auf
welchem Schauplatz aber haben sich diese Um-
gestaltungen, Anpassungen und Neuerwerbungen
abgespielt? Aus den heutigen Wohngebieten der
Großaffen hat man geschlossen, das W'erdeland
des Menschen sei zwischen den Wendekreisen, in
Afrika oder Ostasien, zu suchen, und der Fund
des Pithecanthropus hat dieser Auffassung neue
Nahrung gegeben. Trotzdem ist dies ein Trug-
schluß. Nicht wo wir eine bestimmte Tierart
lebend, sondern wo wir die versteinerten Knochen
ihrer Vorfahren antreffen, befinden wir uns in der
Nähe ihres Ursprungs. Wie in der Wüste, selbst
wenn der Wind alle übrigen .Spuren verweht hat,
der Weg einer Karawane an den Gerippen ge-
fallener Lasttiere zu erkennen ist, so verraten zer-
streute Versteinerungen dem kundigen Forscher
die von den einzelnen Tierstämmen bei ihrer Ver-
breitung über den Erdball eingeschlagene Richtung.
Man kann daher von vornherein sagen, daß, wo
fossile Knochen ausgestorbener Großaffen und
niederer Menschenrassen zusammen vorkommen,
beider Ursprungsland nahe sein muß. Dies trifft
aber für keinen anderen Weltteil als für den unsrigen
zu. Während im europäischen Boden Schädel-
bruchstücke, Knochen und Zähne von mindestens
drei verschiedenen Arten menschenähnlicher Affen,
Dryopithecus Fontani, Pliopithecus antiquus und
Pliohylobates eppelsheimensis, gefunden worden
sind, ist nur eine außereuropäische, der Palaeo-
pithecus sivalensis, bekannt, deren Fundort, die
Siwalik Hills im nordwestlichsten Pendschab, von
Europa nicht weiter als von Afrika oder Insel-
indien entfernt ist. Bei uns mehren sich die
Funde von Knochen tiefstehender Menschenrassen
von Jahr zu Jahr; in überseeischen Ländern aber
sind solche mit einziger Ausnahme von Amerika,
nicht gemacht worden, und der zugleich best-
beglaubigte und älteste, von Santos in Brasilien,
gibt sich durch seine oberfläche Fundschicht unter
einem Muschelhaufen, wie durch die Schädelbildung
als jünger zu erkennen. Wie die Strahlen eines
Fächers laufen in Europa die Richtungslinien für
die Verbreitung der Großaffen und der Menschen
zusammen, und der Ort, wo sie sich schneiden,
das gemeinsame Verbreitungszentrum, kann daher
nur nordwärts, in heute von Meeresfluten oder
ewigem Eise bedeckten Gebieten, der sog. „Arkto-
gäa", gesucht werden. Auch von keinem anderen
der großen Säugerstämme, die sich mit dem
Menschen über die Erde verbreitet haben, ist das
Ursprungsland bekannt; der Bildungsherd der
Säugetiere muß daher in unerforschlichen und un-
zugänglichen Teilen des Erdballs liegen. Im Nord-
polarmeer — der Südpol fällt auf Land — ist das
erste Leben entstanden, an seinen Küsten haben
sich die ersten Landbewohner, später Warmblüter
und Säugetiere entwickelt, und von hier aus über
alles zugängliche Land verbreitet. Die ältesten
Wellen bestanden aus Geschöpfen niederster, die
letzten aus solchen höchster Entwicklungsstufe.
Die fortschreitende Abkühlung der Erde hatte un-
geheure Niederschläge aus der früher viel wär-
meren und daher wasserhaltigeren Luft zur Folge
und ist somit die gemeinsame Ursache für die
Eiszeit wie für die Erhöhung des Meeresspiegels.
Der erste, der für den „paläarktischen" Ursprung
des Menschen eintrat, war Moritz Wagner,
doch dürfen seine Ansichten nicht mit den meinigen
verwechselt werden ; wenn er behauptet „die Eis-
zeit hat den Menschen gemacht", sage ich „sie
hat den weißen Mann geschaffen". Der Pithec-
anthropus, besser Proanthropus erectus gehört einer
vorläufigen Welle an, die mit der sie begleitenden
Tierwelt auf Java ausgestorben ist. Seine Fund-
schicht ist jünger als die des europäischen Ur-
menschen, Homo primigenius; als der Vormensch
den Gleicher erreichte, gab es bei uns schon
richtige, wenn auch noch tiefstehende Menschen.
Da sie mit großen, allgemeingültigen Entwicklungs-
gesetzen in unvereinbarem Widerspruch stehen,
wäre es verlorene Mühe , die für einen südlichen
Ursprung, so neuerdings für Australien, vorge-
brachten Scheingründe im einzelnen zu widerlegen.
Die Frage nach der Urheimat des Menschen-
76
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5
geschlechts hat nicht nur theoretische , sondern
auch die größte praktische Bedeutung; unter der
Herrschaft äherer Anschauungen war es, wie die
Erfahrung gelehrt hat, nicht möglich, richtige Vor-
stellung-en über Verbreitung, verwandtschaftlichen
Zusammenhang und geschichtliche Bedeutung der
Menschenrassen zu gewinnen. (x)
Inwiefern werden Insekten durch Farbe
und Duft der Blumen angezogen? betitelt sich
eine Arbeit Eugen Andreae's, die soeben in
den Beiheften zum Botan. Zentralblatt erschienen
ist. — Der Zweck dieser Arbeit besteht in dem
Nachweise, inwiefern Felix Plateau recht hat mit
seinen Untersuchungen, daß die Insekten lediglich
durch den Duft angezogen werden, sodann in der
Antwort auf die Frage, ob die F'arbe in manchen
Fällen nicht auch ein maßgebendes Anziehungs-
mittel sein könne zur Bestäubung der Blumen-
pflanzen. Plateau glaubt auf Grund seiner Experi-
mente eine Wirkung der Farben entschieden ver-
neinen zu müssen. Christian K. Sprengel schrieb
der Farbe und der Gestalt eine Anziehungskraft
schon auf Entfernungen zu. Darwin teilt im all-
gemeinen die Meinung Sprengel's, ohne eine Spezial-
wirkungf der Farbe zu betonen. Mit noch größerer
Zurückhaltung für den Effekt der Farbe äußert
sich Frederico Delpino, von dem wir auch eine
Einteilung der Blumenfarben haben. Das Ver-
dienst, an den Insekten zuerst Experimente an-
gestellt zu haben, muß Bonnier und Lubbock zu-
geschrieben werden. Sie beide gingen aus von
der Frage, ob die Farbe überhaupt anzieht. Her-
mann Müller stellte Experimente so an : er legte
zwischen zwei Glasplatten Blumenblätter verschie-
dener Farben, versah jede dieser Platten mit einem
Honigtropfen und beobachtete, ob die von ihm
bezeichneten Bienen eine Farbenauswahl trafen,
und er kam zum Schlüsse, daß eine Farbe vor
der anderen bevorzugt wurde. Daß die F'arbe
überhaupt anzieht, ist für Müller eine ausgemachte
Sache; ihm kam es mehr darauf an, eine Selek-
tion zu konstatieren, mit welcher er die vorhan-
handenen Farben und P"ormen der Blumen in der
Natur erklären wollte. Anton Kerner von Marilaun
sagt u. a. : „Man könnte glauben, daß der Duft
allein schon zur Anlockung der Insekten genügen
würde; es muß aber doch wohl anders sein, denn
sonst wäre es nicht begreiflich, warum die ver-
schiedenen nach Aas duftenden Aristolochien, Sta-
pelieii, Rafflesien und Balanophoreen neben dem
Dufte auch noch die Farben des Aases an sich
tragen. Wieviel bei dieser Anlockung auf Rech-
nung der Farbe, wieviel auf Rechnung des Duftes
kommt, ist freilich schwer zu entscheiden, und
es wäre verfrüht, schon jetzt hierüber ein end-
gültiges Urteil abzugeben."
Andreae's — unter Stahl's Leitung in Jena — an-
gestellte Experimente ergaben nun das Resultat,
daß die Blumenfarben in der Tat in dem Sprengei-
schen Sinn aufzufassen sind. Er beobachtete in
Jena, am Comersee und in Corsica; niemals hat
er ein negatives Resultat erzielt, was nach der
Behauptung Plateau's: nur der Duft zieht die In-
sekten an, doch wohl hätte sein müssen.
Um die Art der angestellten Experimente auf-
zuzeigen, sei als Beispiel eines im folgenden be-
sprochen. In einem Beete standen ungefähr 30
bis 40 Exemplare von Eranthis hiemalis. Die be-
suchenden Insekten waren Apis mellifica und Musca
domestica. Zwei Meter von dem Beet wurden
gelbe künstliche Blumen aus Stoff und Papier auf-
gestellt. Die Honigbienen umschwärmten haupt-
sächlich das Eranthis-Beet, nahmen aber auch die
künstlichen Blumen wahr, flogen heran und dann
wieder weg; manchmal eine herzu, zurück und
wieder herzu, gleichsam, um sich zu überzeugen.
Innerhalb der Zeit einer Stunde sah A. wenigstens
zehn Honigbienen sich auf die künstlichen Blumen
niedersetzen; drei hielten sich über eine halbe
Minute auf derselben auf, um Putzgeschäfte zu ver-
richten. Eine machte den Versuch, in eine Krone
einzudringen, flog aber gleich wieder weg.
Zu einem Kontrollversuch nahm A. eine Glas-
glocke. Sie wurde über eine Eranthis gestülpt.
In der ersten Viertelstunde flogen vier Honigbienen
an die Glasglocke. Als diese sich jedoch mit
Feuchtigkeit beschlagen hatte, wurden die darinnen
befindlichen Blumen ignoriert. A. stellte dann
wieder gelbe künstliche Stofi'blumen hin, und diese
wurden innerhalb einer Stunde achtmal beflogen.
Nach der Entfernung der Glasglocke besuchten
die Honigbienen die Eranthis wieder.
Bei einem 2. Kontrollversuch flogen die Honig-
bienen mit dem Winde. A. nahm drei dünn-
wandige Bechergläser und stellte sie, den Boden
nach unten, am Rande des Beetes auf. Das erste
Glas enthielt zehn Eranthis-Blüten, von welchen
die Korollen entfernt waren ; das zweite Glas ent-
hielt zehn vollständige Eranthis-Blüten. Das dritte
Glas war um zwei Schritte von dem anderen ent-
fernt und enthielt nur die gelben Blätter der
Blütenhülle. In dem ersten und zweiten Glas
fanden sich gleich viele Musca domestica vor.
In dem dritten Glas waren keine (es enthielt nur
die gelben Fetalen). Von den Honigbienen flog
eine in das erste Glas, zwei andere flogen nahe
heran. In das zweite Glas, wo die vollständigen
Blüten waren, flogen vierzehn hinein und zehn
darum herum. Um das dritte Glas, wo nur Blumen-
blätter waren, flogen vier herum und neun hinein.
Aus diesen drei Versuchen ist folgendes mit
Sicherheit zu entnehmen: Die Honigbiene geht
an die künstliche Blume, und zwar wird diese
nicht zufällig wahrgenommen, sondern : sie wird
direkt beflogen.
Bedford erzählt übrigens, daß eine Dame, deren
Hut mit künstlichen Maiglöckchen geschmückt war,
einige Zeit lang von einem Pieris brassicae ver-
folgt wurde, der von Zeit zu Zeit den Versuch
machte, sich auf die Blumen niederzulassen.
Eine andere Tatsache wird von Blanchard be-
richtet. An den Zimmerwänden eines Hotels, in
welchem er sich aufhielt, waren große rote Blumen
N. F. III. Nr. 5
Naturwissciiscliaftliche Wochenschrift.
n
gemalt; diese wurden regelmäßig beflogen von
einem Schwärmer, und nie flog derselbe an die
Decke, welche mit grünen Ranken und Blättern
bemalt war.
Schließlich experimentierte auch Reeker in
Münster mit künstlichen Kornblumen und mit nach-
geahmten Blumen von Ranunculus acer und auch
seine Versuche ergaben „ein so übereinstinmiendes
positives Resultat", daß er auf weitere verzichten
durfte.
Es ist offenbar, daß Insekten, welche eine
laufende Lebensweise haben, auf den Duft mehr
reagieren müssen als auf die Farben, weil der
Boden gleichmäßig abgetönt ist und der Duft,
welcher infolge der porösen Eigenschaft besser
diesem Substrate adhäriert, als der Luft, jenen
Insekten als Leitmittel ihrer Triebe dient. So be-
obachtete A. auch im Monat Oktober die Coleop-
teren in Corsica bei Ajaccio und sah, daß die ver-
schiedenen Arten der Scarabaeen und Geotropinen
anders zu ihrer Nahrung geführt werden, als dies
von H)-menopteren bekannt ist.
Es liegt daher der Schluß nicht fern, daß mit
der laufenden Lebensweise korrelativ der Geruchs-
sinn eine höhere Ausbildung erfährt, während bei
der fliegenden Lebensweise und bei großer Lebens-
dauer der Gesichtssinn in dem Maße sich ver-
schärft, als der Flug an Geschwindigkeit zunimmt.
Es ist dies eine Konvergenzerscheinung, wie die-
selbe auch dem Stamme der Vertebraten und bei
einigen Säugern und Vögeln wiederkehrt und die
bei der verschiedenen Lebensweise der Tiere sich
verschieden äußert. Diese Erörterung aber führt
uns zu der wichtigen Unterscheidung zwischen
biologisch niederen und höheren Insekten, Iimer-
halb der Ordnung ist jeweilen hoch und nieder
zu unterscheiden.
Jene zeichnen sich aus durch kurzen Flug;
kurze Lebensdauer im Endstadium, hohes Geruch-
vermögen und geringes Sehvermögen. — Diese
hingegen sind gekennzeichnet durch einen langen
direkten Flug, eine relativ lange Lebensdauer und
durch einen scharfen Gesichtssinn. Diese Llnter-
scheidung kann aber keine absolute sein.
Die mannigfachen Infloreszenzen und die Ko-
rollen mit Kontrastfarben sind denn hauptsächlich
diesen biologisch hoch differenzierten Insekten an-
gepaßt, während die anderen stark duftenden
Blumen ohne Kontrastfarben vorwiegend die Auf-
gabe haben, die biologisch niederen Insekten herbei-
zulocken. Die Prosopis und Anthrena reagieren
ganz anders auf Düfte als die höheren .Apiden.
Denn während bei Apis, Osmia, Anthophora, An-
thidium die F'arben aus großen Entfernungen diese
Tiere herbeiziehen, was man entnehmen kann aus
dem direkten und schnellen Flug nach einem fixen
farbenprächtigen Gegenstand, so ist dieser Flug
bei niederen Bienen ein ganz anderer. Er ändert
seine Richtung, und zwar jedesmal nach derjenigen
Seite, von welcher der diffuse Duftstoff entströmt.
Aber auch diese Tiere nehmen die I-'arben wahr,
doch nur in der nächsten Nähe, wie man aus Ex-
perimenten ersehen kann. Ebenso die Dipteren.
Ein Eristalis verhält sich anders gegenüber den
Farben als eine Mücke. Und Bombilius Volucella,
zwei hochentwickelte Fliegen, reagieren sehr wenig
auf Düfte. Schon August Forel sagt: Ihren Weg
in der Luft finden jedoch die F'liegen keineswegs
mit dem Geruch, sondern mit dem Auge. Das
hat jedenfalls seine Richtigkeit für die hoch-
entwickelten Dipteren.
Beobachtungen an Nachtinsekten ergeben, daß
Dämmerungsinsekten (wie Museiden) mit ihrer
höchst kurzen Lebensdauer zu den biologisch
niederen Insekten zu zählen sind, denn für die
höheren Tagesinsekten sind die F'arben mit dem
Substrate, an welches sie gebunden sind, schon
wirksam aus Entfernungen , nicht aber für die
niederen Insekten.
Dabei ist vor allem zu bemerken, daß eine
in der heutigen Systematik, welche auf die Mor-
phologie hauptsächlich Bezug nimmt, tiefstehende
Art nicht durchaus zu den biologisch niederen
Insekten zu zählen ist.
Es ist leicht einzusehen, wozu die Tagesblumen
vorwiegend Kontrastfarben und lebhaft gefärbte
Blumen aufweisen, und die Nachtblumen im all-
gemeinen starken Duft und Blumen mit matten
F'arben haben, und umgekehrt Xi&X. sich auch
schließen, daß der penetrante Duft bei den Tages-
blumen höchstwahrscheinlich zur Anlockung der
niederen Insekten dient. Eine Mittelstufe zwischen
Tages- und Nachtblumen würden wir in den Wald-
blumen finden, die bei starker Färbung auch stark-
duften, um in ihrer verdeckten Stellung leichter
wahrgenommen zu werden.
Wenn eine Anziehungskraft der Farbe für In-
sekten auf Entfernungen hin erwiesen ist, so können
wir solche interessante Beziehungen erklären, wie
sie zwischen Blumen und Insekten auf den Ker-
guelen vorkommen. Infolge der zahlreichen Stürme,
welche dort herrschen, haben sich nur diejenigen
Insekten erhalten können, welche eine laufende
r.ebensweise angenommen haben. Durch Nicht-
gebrauch verkümmerten die Flügel und gleich-
zeitig werden wir gewahr, daß die Größe der
bunten Korolle der Phanerogamen abgenommen
hat. Diese ist eine „Flagge", durch welche die
höheren Insekten von weitem herbeigelockt werden.
Die Flügel, d. h. die Organe, welche das Tier an
entlegene Orte trägt, werden rudimentär, und in
gleicher Weise reduziert sich das anlockende Ob-
jekt — die Korolle.
Ein mutmaßlich neuer Stern ii. Größe ist
am 21. September von Prof. M. Wolf in Heidel-
berg entdeckt worden. Die Position des ein Nebel-
spektrum zeigenden Gestirns ist für 1903,0:
a= 303 "44' 55", (?=52"50' II".
Ob es sich wirklich um eine Nova, oder nur
um einen veränderlichen oder auch bisher einfach
übersehenen Stern handelt, können erst weitere
Ermittelungen ergeben.
78
Naturwissensrhaftlichc Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 5
Der Gegenschein ist nach einer vom 24. Sept.
datierten Mitteilung Prof. M. Wolfs zurzeit be-
sonders auffällig. Der mit dem Zodiakalliclit durch
ein schmales Band in Verbindung stehende Licht-
fleck, der mit diesem Namen bezeichnet wird, be-
findet sich stets in der Nähe desjenigen Punktes
am Himmel, der der Sonne gerade gegenüberliegt,
also um Mitternacht kulminiert. Nach Wolf er-
scheint der Fleck gegenwärtig als ein rauchartiger
Schleier von unregelmäl-^iger Form und mehr als
20 Grad Durchmesser. Natürlich ist die Sichtbar-
keit eines so zarten Objekts nur aiif^erhalb der
grof^en Städte unter günstigsten Witterungsver-
hältnissen bei Abwesenheit des Mondscheins zu
erhoffen.
Eine Sternbedeckung durch Jupiter konnte
am 19. September auf mehreren Sternwarten be-
obachtet werden , nachdem B a n a c h i e w i c z in
Moskau am Morgen desselben Tages telegraphisch
auf dieses von den astronomischen Ephemeriden
nicht angekündigte Ereignis aufmerksam gemacht
hatte. Der bedeckte Stern war 6,5. Gröiäe. Be-
deckungen von Fixsternen durch Planeten gehören
zu den recht seltenen und von verschiedenen Ge-
sichtspunkten aus interessanten Ereignissen am
Himmelszelt. Im vorliegenden I-'alle wurde die
Beobachtung durch starkes Walles des noch ziem-
lich tief stehenden Planeten vielfach beeinträchtigt.
Himmelserscheinungen im November 1903.
Stellung der Planeten: Me rkur ist unsichtbar, Venus
glänzt als Morgenstern s'/j — 4 Stunden lang. Mars kann
abends noch etwa I ' ., Stunde lang im SW. gesehen werden,
Jupiter ebenso ca. 7 Stunden und Saturn 3 Stunden lang.
Sternbedeckung: Am 9. Nov. wird X Germinorum um
9 Uhr 39,7 .Min. abends M.E.Z. für Berlin durch den Mond
bedeckt. Uer .\ustritt erfolgt um 10 Uhr 30,3 Min.
Verfinsterungen der Jupitertrabanten:
3. Nov. 7 Uhr 20 Min. 14 Sek. ab. M.E.Z. I. Austritt
6. „ 7 „ 56 „ i-~, „ „ „ II.
8. „ 8 „ 57 „ 27 „ „ „ IV. EintriU
8. „ II ,, 45 ,, 29 ,, ,, ,, IV. Austritt
10- n 9 „ 15 .. 49 n „ „ I- M
'3- M 10 „ 33 „ 19 „ „ „ II. „
14- „ 6 „ 31 „ 24 „ „ „ 111. „
"7- .1 II >, II „ 26 ,, ,, ,, I. ,,
19- „ 5 .. 40 n 24 „ „ „ I. „
21. ,, 7 ,, 38 ,, o „ „ ,, III. Eintritt
21. ,, 10 „ 33 ,, 23 ,, ,, „ III. Austritt
25- M 5 .. 54 ., 40 „ „ „ IV. „
26. „ 7 ., 36 „ I „ „ „ I. „
Algol-Minima: .Am 10. um 9 Uhr 12 Min. abends, am
13. um 6 L hr 1 Min. abends und am 30. um lo Uhr 55 Min.
abends.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Die Kgl. Geologische Landcsanstalt und Bergakademie
sammelt seit Jahren systematisch alle erreichbaren Ergebnisse
von Tief- und Flachbohrungen, — sowohl die Proben wie
Bohrregister, Schichtverzeichnisse etc., — und hat sich zur
Erlangung möglichst sämtlichen diesbezüglichen Materiales so-
wohl mit den zuständigen Staatsbehörden wie mit den größeren
Bohrunternehmern, deren Adressen ihr zugänglich waren, in
Verbindung gesetzt.
Wenn nun auch jetzt jährlieh ein sehr groUes Material an
Bohrproben und Bohrregistern bei der Anstalt einläuft und
dort bearbeitet, systematisch geordnet und für die Verwendung
zur Lösung wissenschaftlicher und praktischer Fragen aufbe-
wahrt wird , so ist es doch olTcnbar, daß lange nicht alle
Bohrunternelmier, besonders nicht die kleinen Brunnenmacher
in abgelegenen Ortschaften, sich der kleinen Mühe unterziehen,
die Proben und Bohrregister von Brunnenbohrungen einzu-
senden. (Für die Unkosten von Transport und Verpackung
kommt in jedem Falle die .\nstalt auf.) Auf diese Weise geht
viel für die Wissenschaft und für die geologische Spezial-
kartierung wichtiges Material jährlich verloren.
Es wäre daher ein von der Geol. Landesanstalt mit Dank
begrüßter Fortschritt, wenn sich Lehrer, Pastoren und sonstige
Persönlichkeiten, die für die Wichtigkeit der Feststellung und
.\ufsammlung der Ergebnisse derartiger vorübergehender .■Auf-
schlüsse Verständnis haben, angelegen sein ließen, Bohrunter-
nehmer und Krunnenmacher auf diese Bestrebungen der Kgl.
Geol. Landesanstalt hinzuweisen und zur Einsendung von
Bohrproben und Schichtverzeichnissen zu veranlassen.
Eine .Anweisung zum sachgemäßen Sammeln und Aufbe-
wahren von Bohrproben, sowie Kästchen zur Verpackung der-
selben werden jederzeit unentgeltlich von der Kgl. Geol. Landcs-
anstalt und Bergakademie (Berlin N. 4, Invalidenstraße 44)
geliefert. Dr C. Gagel, Kgl. Landesgeologe.
Bücherbesprechungen.
Dr. med. Leo, N. Hat das iMe n seh enlebcn
einen Zweck? Naturwissenschaftliche Betrachtung.
Verlag von W. u. S. Loewenthal. Berlin (ohne
Jahreszahl, erschienen 1903). — Preis 1.50 Mk.
i '. Verf. versteht unter der im Titel angegebenen
Frage die Untersuchung des Problems ,, welches natur-
gesetzliche Resultat kann oder muß als notwendige
Folge derjenigen Erscheinung erschlossen werden, deren
Summe wir das geistige Leben eines Menschen nennen ?"
Es soll also untersucht werden, inwieweit die mecha-
nistische (monistische) Naturauffassung hinreicht, die
Sittlichkeit zu begründen. Um das dtirchzuführen,
bespricht Verf. zunächst die Grundlagen z.ir Erklärung
der Naturerscheinungen, und damit der geistigen
Tätigkeit. Er tut dies in einer den Unterzeichneten in-
sofern nicht zusagendem Weise, als er dogmatisch eine
scharfe Grenze zwischen Tieren und Anorganischem
festsetzt, ohne das irgendwie ausreichend zu begründen.
„Ohne die Existenz — sagt der Verf. — eines dem
Stoffwechsel nicht unterliegenden intelligenten Prinzips
wäre selbstbewußtes objektives Denken, wäre die Selb-
ständigkeit unseres Denkens gegenüber unseren Em-
pfindungen und Vorstellungen , wäre die dauernde
Identität unserer Individualität nicht nur unerkläibar
sondern geradezu unmöglich." Mit diesem Eintreten
für die „Seelen sub s tan z" entfernt sich Verf. von
denjenigen Anschauungen , die auf der Basis der
heutigen naturwissenschaftlichen Errungenschaften un-
annehmbar sind. Kl. u. P.
Prof. Dr. Eugen Dreher, Philosophische Ab-
handlungen. Berlin (R. v. Decker's Verlag)
1903.
Preis 3 Mk.
Die vorliegenden Abhandlungen des verstorbenen
Verfassers wurden von seiner Gattin gesammelt und
noch einmal zusammenhängend herausgegeben ; ein-
geleitet wird das Buch durch eine Biographie, ge-
schlossen durch ein Verzeichnis sämtlicher Schriften
des Verfassers. Dreher vertrat einen dualistischen
Standpunkt: Geist und Stoff waren für ihn unverein-
bare Gegensätze. Die Abhandlungen behandeln die
verschiedensten Stoffe: Die geistigen Strömungen
N. F. III. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
79
während des Mittelalters und der Neuzeit, Friedrich
den Großen, Goethe, Darwin usw. Die Abhandlungen
sind flott und geistvoll geschrieben. P.
David Friedrich Straufs, Der alte und der
neue Glaube. Hin liekenntnis. Volks-.-\usgabe
in unverkürzter Form. i6. Aufl. Bonn (Emil
Sirauß) „1904". — l'reis 1 Mk.
— — , Das Leben Jesu für das deutsche Volk
bearbeitet. Volks - Ausgabe in unverkürzter Form.
2 Teile. 13. Auflage. Bonn (Emil Strauß) „1904".
— Preis 2 Mark.
I ) Das berühmte, unter i genannte Werk erscheint
hiermit in einer wirklich billigen und recht gut ge-
druckten Volksausgabe; viel über dasselbe in einer
Anzeige jetzt noch zu sagen, hieße Eulen nach Athen
tragen. Wir beschränken uns daher daran zu erinnern,
daß in dem i. Abschnitt das Christentum kritisch er-
örtert wird, im 2. die Frage behandelt wird, „ob wir noch
Religion haben", eine Frage, die eine bedingte Bejahung
findet, der 3. .Abschnitt ist eine ungemein klare und fes-
selnde Darstellung der modernen Naturauffassung, bei der
wir nur die Zugeständnisse an den Materialismus
etwas bedenklich finden würden , da Strauß diesbe-
züglich noch auf dem Standpunkt Carl Vogt's steht,
indem er das Gehirn nicht, wie man das heute
muß, als eine Voraussetzung oder Bedingung des
Seelenlebens auffaßt, sondern als den .Apparat der Seele
bezeichnet. Im 4. ijetzten) Abschnitt gibt Strauß
dann eine kurze Sittenlehre, die — da die Idee der
(lattung als lebender Begriff an die Spitze gestellt
wird — nicht als materialistisch, sondern als idealistisch
bezeichnet werden muß. In den Zugaben bietet er
prächtige, feinfühlige Erörterungen über unsere
großen Dichter und Klassiker. Wir hoffen sehr, daß
durch die verdienstliche , billige Volksausgabe das
Buch wieder viele Leser erhält. Geschrieben ist es
ja so einfach und durchsichtig, daß es — wie einmal
ein Kritiker sagte — nachmittags zum Kaffee gelesen
werden kann ; Strauß erwidert freilich darauf, daß es
aber nicht beim Kaft'ee geschrieben worden sei, was
ihm wohl zu glauben ist.
2 1 Das Leben Jesu ist eine mehr volkstümliche
Bearbeitung des berühmten größeren 1835 erschienenen
Werkes gleichen Titels, die mitveranlaßt wurde durch
das Erscheinen von Renan's „La vie de Jesu".
Kl. u. P.
Fisher et Darby, Manuel elementaire pra-
tique de Mesures electriques sur les
c a b 1 e s s o u s - m a r i n s. Traduit de 1' Anglais par
Ldon Husson. Paris, Gauthier-Villars. 1903.
174 pages. — Prix 5 frcs.
Das für den Praktiker gewiß recht brauchbare
Handbuch zerfällt in zwei Teile. Im ersten wird die
Theorie und Praxis der in Betracht konnnenden elek-
trischen Meßmethoden im allgemeinen entwickelt,
während im zweiten Teile die speziell zum Zweck der
Lokalisation von Kabelbrüchen ersonnenen, geistvollen
Verfahren eingehend geschildert werden. Jede in
dem Buche beschriebene Methode wird durch ein
Zahlenbeispiel erläutert, aucli unterstützen zahlreiche
Schaltungsskizzen , die stellenweise allerdings etwas
deutlicher sein könnten, das Verständnis des Textes.
F. Kbr.
J. Boussinesq, membre de l'institut, professeur ä la
faculte des sciences de luni versite de Paris. T h e o r i e
a n a 1 }■ t i ij u e de 1 a c h a 1 e u r m i s e an h a r -
monie avec lathermodynamiqueetavec
1 a t h e o r i e m e c a n i q u e de 1 a I u m i e r e.
Tome II. Refroi dissemen t et echauffe-
ni e n t par r a y o n n e m e n t , c o n d u c t i b i 1 i t e
des tiges, lames et masses cristaUines,
courants de convection, theorie meca-
nique de la lumiere. XXXII. 625 S. gr. 8".
Paris, Gauthier-Villars, 1903.
Dem ersten vor 2 Jahren erschienenen Bande der
'Pheorie de la chaleur hat der Verfasser jetzt den
zweiten , bedeutend umfangreicheren , folgen lassen.
Zunächst behandelt er die Zurückführung von Fa-
wärmung und Abkühlung durch Strahlung auf die
durch Berührung, und die Anwendung auf die Ab-
kühlung der Erdrinde u. a., dann die .Ausbreitung der
Wärme in einem homogenen Körper, die Leitungs-
fähigkeit, die Verteilung der Temperatur um eine
Wärmequelle herum ; ferner die Wärmebewegung in
Körpern mit sichtbaren Bewegungen ( Deformation oder
Vibration). Beigefügt sind 2 größere Noten über den
Widerstand, den ein in eine Flüssigkeit getauchter
fester Körper ihren Schwingungen entgegensetzt, als
Typus der Wirkungen der Körpermoleküle auf den
.Äther, und eine Lichttheorie als Ausführung des Inhalts
des 3. und 4. Kapitels des i. Bandes. .A. S.
Dr. Arnold Berliner, Lehrbuch der Experi-
mentalphysik in elementarer Darstel-
lung. Mit 3 lithographischen Tafeln und 695 zum
Teil farbigen Abbildungen im Text. XVI u. 857 S.
gr. 8". — Preis brosch. 14 Mk., geb. r6.5o Mk.
Jena, G. Fischer. 1903.
Das Buch wendet sich neben den angehenden
Ptiysikern besonders an Mediziner, Chemiker und
andere, die die Physik als Hilfswissenschaft brauchen.
Ihre Kenntnisse und Bedürfnisse bestimmen den dar-
gestellten Stoff' und die vorausgesetzten mathematischen
Kenntnisse. Die Darstellung ist, dem Leserkreis an-
gepaßt, breiter, als man sie sonst in Physikbüchern
findet. Aber auch der Stoft' ist nicht in allen Stücken
derselbe, wie in den meisten Physikbüchern sonst.
Besonders in der Optik, wo auf die Abbesche Theorie
der Instrumente eingegangen wird, weicht die Dar-
stellung teilweise erheblich von der sonst üblichen ab.
Von dem Herkoinmen weichen auch Figuren ab, die
auf 3 Tafeln beigegeben sind. Sie sind so einge-
richttt, daß man Teile der Figur aufklappen kann,
so daß z. B. bei der Polarisation die Ebenen, in denen
die Lichtschwingungen verlaufen, wirklich im Raum
vor dem Leser liegen, und nicht nur eine schwer
verständliche Projektionsfigur sie erläutert.
In der Elektrizität sind den Bedürfnissen des
Chemikers entsprechend die Anschauungen der Elektro-
chemie breit dargestellt ; die Lehre von den Ionen,
die Nernstsche Theorie der galvanischen Elemente,
8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. S
die Elektrolyse sind in der Art und Ausführlichkeit
behandelt, wie es ihrer Wichtigkeit entspricht.
Wenn man beim Lesen des Buches durchaus dem
lobenden Urteil zustimmen wird, das Prof. L. Her-
mann-Königsberg in einem beigegebenen Begleitwort
aussjjricht , so sei doch der Wunsch geäußert,
daß in der nächsten Auflage die Figuren durchgehend
von geübten Zeichnern hergestellt werden möchten ;
Abbildungen wie Figg. 384, 375, 288, 276, 207, 163,
164, 153 und viele andere können doch schöner
und deutlicher sein. Auch Satzfehler, wie zuverl-
ässigsten (S. 794), Zin's (Fig. 201), Rob. Jul. Meyer
(S. 67), hätten wohl vermieden werden können.
A. S.
Prof. Dr. Karl Hofmann, Die radioaktiven
Stoffe nach dem gegenwärtigen Stande der wissen-
schaftlichen Erkenntnis. Leipzig, J. A. Barth. 1903.
54 Seiten. — Preis 1,60 Mk.
Die Schrift stellt in recht übersichtlicher Weise
unsere bis zum September 1902 gewonnenen Kennt-
nisse über die radioaktiven Stoffe zusammen und
bietet zugleich eine genaue Geschichte der Entstehung
dieser Kenntnisse nebst vollständigem Literaturnach-
weise. F. Kbr.
Briefkasten.
Herrn Landmesser F. in 1*. — Ihr eingesandter -Aufsatz
,,Der Verkehr mit den Marsbewohnern" ist für unsere Zeit-
schrift ungeeignet, da die Idee nicht neu, aber praktisch kaum
durchführbar ist. Wir sind auch nicht in der Lage, Ihnen
jemand zu nennen, der der Sache vermutlich näher treten
würde. — Im übrigen bemerken wir bei dieser Gelegenheit,
daß bei unerbeten eingehenden Manuskripten eine frankierte
Rücksendung nur dann erfolgen kann, wenn das Rückporto
beigefügt ist.
Herrn P. Fl. in Leipzig. — Herr Prof. Hennings em-
pfiehlt Ihnen zur flrientierung über die Präparations-Methoden
von Pilzen für Sammlungen: Herpel (in St. Goar), Das Prä-
parieren fleischiger Hutpilze. — Damm er, M. , Handbuch
für Pflanzensammler. (Mit 59 Te.\tfig., 13 Tafeln). Stuttgart
(F. Enke) 1891. — .X b ha nd lung en d. botan. Vereins der
Provinz Brandenburg. Bd. XXXI. (Gebr. Borntraeger-Berlin.)
Herrn Dr. E. F. in Luxemburg. — Die aus ,, Daily
Chronicle'' in verschiedene deutsche Zeitungen übergegangene
Nachricht von einem die Sumpfgegenden von Britisch-Neu-
guinea bewohnenden wilden Menschenstamm, der infolge aus-
schlieülichen Baumlebens das Gehen verlernt und eine im Ver-
hältnis zum Rumpf sehr starke Rückbildung der unteren Glied-
mal^en erfahren hat, ist allerdings geeignet, Aufsehen zu
machen. Sie würde, wenn sie sich bewahrheitet, den Anhängern
Lamarck'scher Anschauungen Recht geben. (obgleich vor
einiger Zeit eine ähnliche Kunde durch die Blätter ging, bleibt
indessen Bestätigung abzuwarten. L. Wilser.
Neue botanische Werke
aus dem Verlage von Gustav Fischer in Jena.
Das kleine pflanzenphysiologische Praktikum.
Anleitung zu ptlanzenphysiologischen Ex-
perimenten. Für Studierende und Lehrer der
Naturwissenfcbafteii. Von Dr. W. Detmer, Prof. an
der Universität in Jena. Mit 163 Abbildungen. 1903.
Preis: brosch. 5 Mark liO Pf., geb. 6 ilaik 50 Pf.
lieber Erblichkeit in Populationen und in reinen
Linien ^'" t^eitrag zur tSeleui^htuui; schwebende]'
Selektionsfragen. Von W. Jotaannsen, Prof.
der Pflanzenphysiologie an der königl. dänischen land-
wirtschaftlichen Hochschule in Kopenhagen. Preis:
1 Mark 50 Pf.
Lehrbuch der Pharmakognosie des Pflanzen-
reiCheS. ^'^^ Hochschulen und zum Selbstunterricht.
Mit Rücksicht auf das neue Deutsche Arznei-
buch. Von Dr. George Karsten, a. o. Prof. der Botanik
an der Universität Bonn. Mit 5^8 Abbildungen im Text.
1903, Preis: 6 Mark, geb. 7 Mark.
Bisher erschien Heft 1 — 5 der:
Vegetationsbilder. y°"TP'- <*•. .Karsteo, Prof, an
der Universität Bonn, und Dr.
H. Seheuk, Prof. an der Technischen Hochschule
Darmstadt. Der Preis für das Heft von 6 Tafelu ist
auf 3,50 Mark festgesetzt worden unter der Voraus-
setzung, dass alle Lieferungen bezogen werden.
Einzelne Hefte werden mit 4 Mark berechnet.
Willkürliche Entwickelungsänderungen bei
Pflanzen. -''-''" Beitj^ag zur Physiologie der Ent-
1 Wickelung. Von Dr. Georg Klebs in
Halle a. S. Mit 28 Textabbildungen. Preis: 4 Mark.
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Cyanophyceenzelle und die mitotische Teilung
ihres Kernes v^"] ^^- f. (j- Kohi, a. o. Prot, der
üotanik an der Universität Marburg.
Mit 10 lithooraphischen Tafeln. Preis: 20 Mark.
Botanische Practica, i^- .T"'* '• Practieum der bo-
tanischen Bakterleukunde.
Einführung in die Methoden der botanischen Unter-
suchung und Bestimmung der Bakterienspezies. Von
Dr. Arthur Meyer, 0. Prof. der Botanik an der Univers.
Marburg. Mit einer farbigen Tafel und 31 Textab-
bildungen. 1903. Preis : 4 Mark .50 Pf , geb. 5 Mark 20 Pf.
Der rote Brenner des Weinstockes. ^"^ «^^
■ ■ Schweize-
rischen Versuchsanstalt für übst-, Wein- und Garten-
bau in Wädensweil. Von Hermann MUHer-Thurgan.
Abdruck aus dem Zentralblatt für Bakteriologie, Para-
sitenkunde und Infektionskrankheiten, II. Abteilung-
Bd. X. Preis: 3 Mark 60 Pf.
Dendrologische"' Winterstudien. Grundlegende vor-
— — • arbeiten lür eine
eingehende Beschreibung der Unterscheidungsmerkmale
der in Mitteleuropa heimisch, und angepflanzt, soramer-
grünen Gehölze im blattlosen Zustand. Von CarailloKarl
Schneider. Mit 224 Textabb. Preis: 7 Mark 50 Pf.
Inhalt: 11. Haupt: Leuchtende Organismen. — Dr. F. Koerber: Die Entwicklung der achromatischen, optischen
Systeme. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Ludwig Wilser: Die Urheimat des Menschengeschlechts. — Eugen
Andreae: Inwiefern werden Insekten durch Farbe und Duft der Blumen angezogen? — Prof. M. Wolf: Ein neuer
Stern. — Prof. M. Wolf: Der Gegenschein. — Bana c h i c wi cz: Eine Sternbedeckung durch Jupiter. — Himmels-
erscheinungen im November 1903. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Dr. med.
Leo N. : Hat das Menschenleben einen Zweck? — Prof. Dr. Eugen Dreher: Philosophische Abhandlungen.
David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. — Das Leben Jesu. — Fish er et D a rby :''Manuel
elementaire pratique de Mesures electriques sur les cables sous-marins. — J. Boussinesq: Theorie analytique de la
chaleur. — Dr. Arnold Berliner: Lehrbuch der Experimentalphysik in elementarer Darstellung. — Prof. Dr. Jvarl
Hof mann: Die radioaktiven Stoffe. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
nnicU von Lippert Ä Co. (G. Pätz'sche Bnchdr.), Nanmhurjj a. S.
<^w?
Einschliefslich der Zeitschrift ,,L)l6 JNätUr (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 8. November 1903.
Nr. 6.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nacli Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Der 14. deutsche Geographentag.
[Nachdruck verboten.]
Seit dem Jahre 1881 tritt, meist in Abständen
von 2 Jaiiren , der deutsche Geographentag zu-
sammen. Die Vorträge und Erörterungen, zu
denen es bei diesen bisher stets anregend und
liarmonisch verlaufenen Versammlungen kommt,
bieten ein so gutes Bild von den augenblicklich
im Vordergründe stehenden Aufgaben und Zielen
erdkundlicher Forschung, daß ein Bericht über
den Geographentag ein wesentliches Stück der
Schilderung von dem gegenwärtigen Stande der
geographischen Wissenschaft in sich schließt.
— Die Pfingsttagung, welche die deutschen Geo-
graphen in diesem Jahre in Köln abhielten, stand
unter dem starken und freudigen Eindruck, den
die gerade eintreffenden Nachrichten von der Rück-
kehr der deutschen Südpolarexpedition auf der
GauiB hervorriefen. Seit langem ist der deutsche
Geographentag für die Erforschung der Südpolar-
gebiete eingetreten. Er hatte bei der 11. Tagung
zu Bremen im Jahre 1895 eine eigene Kommission
für antarktische Unternehmungen aus seinem Schöße
heraus gebildet, und es war eine hohe Genug-
tuung, als auf der 13. Tagung in Breslau zu Pfingsten
1901 diese Kommisson aufgelöst werden konnte.
Von Dr. Felix Lampe.
weil die Expedition gebildet war und vor ihrer
Abreise stand. Wie damals in der ersten Sitzung
des Geographentages ein Teilnehmer der ins Süd-
]joIargebiet ausziehenden Expedition über zu lösende
.Aufgaben der antarktischen Forschung sprach, war
in diesem Jahre auf der 14. Tagung der erste
Vortrag ein Bericht von einem Mitgliede der
Kerguelenstation, die zur deutschen Südpolar-
expedition gehörte. Was an Wehmut durch die
Mitteilungen von den Leiden erzeugt wurde, welche
die auf den einsamen, unwirtlichen Inseln im süd-
indischen Meere abgeschnittenen deutschen Forscher
während eines Jahres zu erdulden hatten, wurde
aufgewogen durch die aus Durban eintreffende
Kunde von der guten Gesundheit an Bord des
Expeditionsschiffes, das im April die Antarktis
verlassen hatte.
Die wissenschaftliche Arbeit des 14. Geographen-
tages, gestützt durch die freudige Stimmimg über
die Erfolge der deutschen Südpolarforschuiig und
angenehm unterbrochen durch, eine Reihe ge-
selliger Feste, ist nicht gering gewesen, wenn-
gleich es an besonders hervorragenden Einzelheiten
sebrach. Die erste Sitzung war den Berichten zu-
82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6
rückgekehrter Reisender gewidmet, die zweite und
dritte den Beratungen über zwei junge, aufblühende
Seitenzweige der Geographie, die Meereskunde
und die Wirtschaftsgeographie. Die vierte Sitzung
war der Schulgeographie eingeräumt, für deren
Förderung im Interesse der Popularisierung der
geographischen Forschungen der deutsche Geo-
graphentag stets warm eingetreten ist. In der
fünften Sitzung war die Landeskunde des Gebietes,
in dem die Tagung stattfand, der Gegenstand der
Vorträge. Die letzte Sitzung brachte dann die
Nachlese und die geschäftlichen Beratungen. Unter
diesen ist erwähnenswert die Erhöhung des Mit-
gliedbeitrages von 6 auf lo Mark und des Teil-
nehmerbeitrages von 4 auf 6 Mark. Ferner wurde
die in Breslau gewählte Kommisson für erdkund-
lichen Unterricht an höheren Schulen neu gebildet
und, um ihr mehr Beweglichkeit zu schaffen, in der
Mitgliederzahl beschränkt. An den folgenden drei
Tagen fanden Ausflüge statt, die sich an die Ver-
handlungen über Wirtschaftsgeographie und über
die Landeskunde der Rheingebiete anschlössen. Es
wurden das Siebengebirge, die Basaltbrüche auf
dem Westerwald bei Linz und die vulkanische Eifel
besucht, andererseits die Hochöfen des Eschweiler
Bergwerkvereins, die Eisen- und Walzwerke der
Roten Erde bei Aachen und die Talsperre im
Urfttale unterhalb Gemünd besichtigt. Es würde
zu weit führen, im einzelnen hier die teils geo-
logischen, teils wirtschaftsgeographischen Beob-
achtungen zu verfolgen, zu denen die in ihrer
Anlage äußerst zweckmäßig vorbereiteten und bei
der Durchführung wegen der geschickten Leitung
höchst lehrreichen Ausflüge Anlaß gaben. Doch
muß betont werden, daß selbst in äußerlich so
trefflich bekannten Gebieten, wie das alte Kultur-
land des Rheins eins ist, gerade infolge sich ständig
vertiefender Forschungen eine immer sich er-
neuernde Zahl von Forschungsaufgaben auf-
taucht, deren Lösung noch im weiten Felde steht.
Es sei aus dem Bereich der geologischen Ausflüge
nur die Frage nach der Entstehung des Traß er-
wähnt. Auch darf nicht vergessen werden, daß
in Köln eine trefi"lich beschickte Ausstellung von
höchst interessanten geographischen Gegenständen
für die Tagung zusammengebracht war. Die Ent-
wicklung der kartographischen Darstellung der
Rheinlande war von einer alten Stadtansicht aus
dem Jahre 1531 über die Werke des Rheinländers
Mercator und des Kölner Geographen Vopell fort
bis in die Gegenwart zu verfolgen, und ebenso
reiche Anregungen boten die Abteilungen der
Ausstellung, welche seitens der geologischen Landes-
anstalt, des Bonner Oberbergamts und einer Reihe
von Privatindustriellen zur Veranschaulichung der
Bodenverhältnisse und Bodenschätze der Rhein-
provinz zusammengestellt waren, und die anderen,
welche die Arbeiten der Stromregulierungen, den
Handelsverkehr, die Niederschlagsverhältnisse ver-
anschaulichten.
An erster Stelle unter den 24 Vorträgen, welche
auf dem Kölner Geographentag gehalten wurden,
stand der Bericht des Dr. Luyken über die d e u t seh e
Kerguelenstation. Sie war eingerichtet, um für
den international vereinbarten Zeitabschnitt vom
I. Februar 1902 bis zum i. Februar 1903 erd-
magnetische und meteorologische Beobachtungen
auszuführen, die zunächst mit denen korrespon-
dieren sollten, welche die im Süden der Kerguelen
tätige Gaußexpedition anzustellen hatte, weiterhin
aber mit den Beobachtungen der englischen Dis-
covery-Expedition im Süden von Australien und
in Lyttelton auf Neuseeland, schließlich mit denen
der schwedischen Expedition auf der Antarctic im
Süden von Amerika und der argentinischen Station
auf der Staateninsel, damit ein Bild von den
Zuständen des Erdmagnetismus und der Witte-
rung im ganzen Südpolargebiet entsteht. Das
Zahlenmaterial der Kerguelenbeobachtungen
konnte natürlich in Köln noch nicht vorge-
bracht werden , besitzt seinen Wert auch erst
in Verbindung mit dem der übrigen 5 Stationen,
zu denen sich dann noch Kapstadt gesellt. Eben-
sowenig konnten die Sammlungen vorgelegt werden,
welche auf den Kerguelen zusammengebracht sind.
Es war immerhin erfreulich zu hören, daß trotz
der schlechten Gesundheitsverhältnisse, unter denen
die Mitglieder zu leiden hatten, sämtliche Termin-
beobachtungen durchgeführt und reiche Samm-
lungen in der Stationsumgebung angelegt sind.
Pinguine und andere Seevögel lebend nach Europa
zu bringen glückte nicht, da die Tiere infolge
freiwilliger Nahrungsenthaltung eingingen. Vor
allem zu bedauern ist, daß abgesehen von einem
vorbereitenden Ausfluge von 5 Tagen keine Durch-
forschung der Inselgruppe stattfinden konnte, so
daß die Landeskunde nicht gefördert ist. Was an
Beobachtungen vom Tier- und Pflanzenleben, vom
Witterungs- und Landschaftscharakter mitgeteilt
werden konnte, bestätigte nur schon vorhandene
Kenntnisse. Auf den Inseln herrscht ein ozeanisch
ausgeglichenes Klima. Die höchste beobachtete
Wärme betrug 18" C; meist stand das Thermo-
meter einige Grade über o, nie beträchtlich unter
dem Gefrierpunkt. Die fast beständig stürmische
Witterung verleiht aber dem Tier- und Pflanzen-
leben einen antarktischen Zug. Bäume und Sträucher
gedeihen nicht; dagegen wuchern überall die
Flechten. In der Nähe der Station wurden 20
neue Phanerogamen gefunden. Weite Verbreituno-
haben der Acena die früher ausgesetzten Kanin*^
chen verschafft, die an ihrem Fell die Kletten-
früchte verschleppen. Dagegen ist der eßbare
Kerguelenkohl durch diese Tiere fast ausgerottet.
Das Robben- und Pinguinleben war in der Stations-
umgebung recht arm, im Gegensatz zu den Schilde-
rungen anderer Reisender. Die Insekten sind, ab-
gesehen von einer Mückenart, wie aucii ander-
wärts auf sturmumtobten Inseln, flügellos. Das
Landschaftsbild, in dem sich das Meer mit tief in
die Inselgruppen eingreifenden Fjorden und eine
Reihe von beträchtlich hoch ansteigenden Berg-
massen mit reichlicher Schneebedeckung zu ab-
wechslungsvoller Einheit zusammenfinden, wird von
N. F. III. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
83
Dr. Luyken als ein überaus schönes geschildert.
Mit Recht nahm einen breiten Raum in seinem
Bericht die Erzählung der persönlichen Erlebnisse
ein, vor allem die Schilderung von der Beriberi-
Erkrankung des Dr. Werth und vom Tode des
Dr. Enzensperger an demselben Tropenleiden, das
anscheinend durch die Chinesenmannschaft des
Transportdampfers eingeschleppt war, welcher die
Reisenden auf die Inseln brachte.
Prof. Sapper, im Früh jähr aus Weslindien zurück-
gekehrt, behandelte darauf die vulkanischen Er-
scheinungen in Guatemala und auf den Antillen.
Erdbebenstöße in der Richtung auf die Vulkane
von Guatemala hatten die Bevölkerung dort bereits
gewarnt, als die großen Ausbrüche des Santa Maria
und Izalco eintraten ; der Mont Pele von Marti-
nique und die Soufriere auf St. Vincent begannen
weit unerwarteter ihre Tätigkeit. Und doch haben
beide Gebiete trotz der 3000 km Entfernung offen-
bar im Wechselverhältnis gestanden, wie die stets
in kurzer Zeit aufeinander folgenden Katastrophen
auf den Antillen und in Guatemala beweisen. Ein-
mal begann die vulkanische Tätigkeit an der einen,
das andere Mal an der anderen Stelle. Die Art der Aus-
brüche unterschied sichfreilich. Aufdem mittelameri-
kanischen F'estlande erhoben sich in geysirähn-
lichen Explosionen hohe Pinienwolken ; auf den An-
tillen stürzten oder krochen überquellende Wolken-
massen in den Vertiefungen des Geländes herab.
Dort wurden 5000 qkm Land mit ungeheuren
Aschenmassen überstreut ; hier fiel nur wenig
Asche, so daß in Martinique und St. Vincent zu-
sammen vielleicht nur 200 qkm Land in Mitleiden-
schaft gezogen wurden. Sind in Guatemala deshalb
große Materialverluste zu beklagen, so übertreffen
der Mont Pele und die Soufriere wegen der
Schnelligkeit der herabfallenden heißen Gase die
festländischen Vulkane durch die Zahl der Menschen-
leben, die zugrunde gegangen sind: 32 und 16
Tausend gegen nur 500. Aus den Talsohlen sind
auf den Antillen die Aschen leichter vom reichlich
abfließenden Wasser bereits entfernt worden, als
auf dem weiten, ebenen Überschüttungsgebiet in
Guatemala; auch finden sich weder an der Soufriere
noch am Mont Pele Laven, Schlacken, Lapilli. Nur
an höheren Teilen der Berggehänge liegen kantige
Blöcke aus der Bergunterlage, beispielsweise An-
desite auf Martinique; in Guatemala ist es da-
gegen zu Lavaergüssen gekommen und viel Bim-
steine sind gefallen. In St. Vincent sind die Ver-
änderungen des Geländes kaum merkbar und be-
schränken sich in Martinique auf den Gipfel des
Vulkans; auch der Meeresboden der Umgebung
scheint keine wesentlichen Umgestaltungen erfahren
zu haben. Dagegen sind an den Vulkanen in
Guatemala beträchtliche topographische Umfor-
mungen vor sich gegangen. Selbst in der Weise,
wie der Mensch helfend und das Unglück mil-
dernd nach den Katastrophen eingegriffen hat,
unterscheiden sich St. Vincent, Martinique und
Guatemala. Hier verkündete die Regierung sofort
Standrecht, tat aber, abgesehen von Wegherstel-
lungen, nicht viel, und von Geldbeihilfen war schon
deshalb keine Rede, weil niemand den Behörden
größere Summen zur Verteilung anvertraute. In
Martinique haben die Franzosen in musterhafter
Weise einen wissenschaftlichen Beobachtungsdienst
eingerichtet. Die Engländer dagegen begründeten
landwirtschaftliche Hilfsstationen, so daß auf St. Vin-
cent von Zerstörungen wenig mehr zu sehen ist.
In Guatemala sind die Besitzer der Kaffeepflan-
zungen am meisten geschädigt. Von 50 Millionen
Mark im betroffenen Gebiet angelegten Kapitals
dürfte die Hälfte verloren sein, darunter sehr viel
deutsches. Die indianischen Pflanzungsarbeiter
hatten sich gerade zur Ernte eingefunden und ihre
Arbeitsvorschüsse erhalten, als das Unglück herein-
brach. Sie begaben sich schleunigst in ihre Heimat
zurück und werden eher gewonnen als verloren
haben. Unter allen vulkaiüschen Erscheinungen
Westindiens bleiben am rätselhaftesten die steile,
etwa 250 m hohe P'elsnadel, welche täglich um
2 bis 10 m aus dem Schlünde des Mont Pele
hervorwächst und oben andauernd abbröckelt, ferner
die Natur der Gaswolken, deren Zusammensetzung
noch unklar ist. Um ihre Wärme zu messen,
haben die Franzosen Metallkörper in den Weg
gelegt, den die Wolken am Berge herab zu nehmen
pflegen. Bei den kleineren Explosionswolken ist
nicht einmal Zinn geschmolzen ; sie können also
nicht über 230" warm sein.
Die neueren Forschungsreisen gewidmeten
Sitzungen wurden durch eine überaus klare mor-
phologische Darstellung abgeschlossen, die Dr.
Friedrichsen aus Hamburg auf Grund seiner
Teilnahme an einer vom Mai bis Oktober 1902 im
Tienschan tätigen, von der Universität Tomsk ent-
sendeten Expedition über die zentralen Teile dieses
gewaltigen Kettengebirges entwarf. Orographisch
sind im Gebiete des 6895 m hohen Khan Tengri
2 Gebirgsknoten zu unterscheiden, welche durch
3 Parellelketten verbunden sind. Aller Abfluß
strömt von diesen beiden Bergmassiven herab,
benutzt die Längstäler zwischen den Ketten und
sammelt sich in der einen Abzugsrinne des Aksu,
der in ungangbarem, engem Querdurchbruch zum
Tarimbecken sich einen Weg durch sämtliche
Ketten bahnt. Petrographisch sind zu unterscheiden
alte Schiefer und kristalline Gesteine, dann permo-
karbonische Sandsteine und Konglomerate. Die
Oberflächenformen werden von der Gesteinsart
stark beeinflußt. Seit jenen sehr weit zurück-
liegenden paläozoischen Zeiten scheint keine Meeres-
bedeckung auf dem Berglande Spuren hinterlassen
zu haben. Nur Gletscher haben noch umge-
staltend an den Bergformen gearbeitet. Das Land-
schaftsbild des Gebirges unterscheidet sich da-
durch von dem Charakter etwa unserer Alpen, daß
der Vegetationsfuß nicht bis an die Kappe der
Gletscher und des Dauerschnees reicht, sondern
daß mächtige Geröllhalden sich dazwischen schieben.
Die Talböden liegen hoch und sind oft weite
Ebenen, deren Flankenketten viele Kilometer weit
auseinander liegen. Sie zeigen die Formen der
84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ITI. Nr. 6
Peneplains und überall die Tätigkeit subaerischer
Denudation, wie sie ein trockenes Klima bedingt.
Die Gletscher sind gegen frühere Zeiten ganz ge-
waltig eingeschrumpft, und ihre Zungenenden ver-
lieren sich zum Teil im umlagernden Moränen-
schutt. In die Talebenen sind dann wieder enge
Erosionsschluchten der Flüsse eingegraben. Die
Bergketten zeigen an sich alpine Formen, besonders
in der Nähe der Verknotungsmassive, sind aber
selten tief eingeschartet.
Den ozeanographischen Vorträgen ging voraus
ein Bericht des Straßburger Professors Gerland über
die Erdbebenforschung. Auf Betreiben dieses
jetzt schon im 7 1. Lebensjahre stehenden, um die Erd-
bebenkunde überaus verdienten Gelehrten wurde be-
reits auf dem Berliner internationalen Geographen-
kongreß von 1899 der Beschluß gefaßt, einen die
ganze Erde umspannenden Beobachtungsdienst ein-
zurichten, der die -Schwankungen der Erdrinde ver-
folgen soll. Wirklich trat behufs einer ersten
Organisation im Jahre 1901 eine internationale
Konferenz in .Straßburg zusammen, und im ver-
flossenen Juli hat zum zweiten Male solche
Konferenz in Straßburg stattgefunden. Nicht nur
Erdbebenstöße sondern auch Gesamtbewegungen
von Flächenteilen der Erdkruste, mikroseismische
Schwankungen, Lotveränderungen, Seebeben, Schall-
phänomene sollen nach vereinbarten , möglichst
gleichen Methoden beobachtet, mit gleichen In-
strumenten gemessen, dann in gleichartig aufge-
stellten Tabellen registriert und graphisch wie
kartographisch dargestellt werden. Praktische Ver-
wertung wird dieses internationale Studium der
Erd-Seismizität finden durch Untersuchungen über
die Sicherheit der verschiedenen Baugründe in
Schüttergebieten, der Gewölbebauten, Hausbauart,
der Schlagenden Wetter in Bergwerken. Zur Er-
forschung der Seismizität Deutschlands werden in
Aachen, Karlsruhe, Darmstadt, München, Göttingen,
Hamburg, Leipzig, Jena, Breslau, Königsberg, Pots-
dam Beobachtungsstationen erster Ordnung ein-
gerichtet, außer denen noch Nebenstationen für
mikroseismische Bewegungen tätig sein sollen.
Den Mittelpunkt dieser deutschen wie der inter-
nationalen Beobachtungen wird Straßburg bilden.
Die beiden ozeanographischen Vorträge be-
schäftigten sich mit den Meeresströmungen, und
zwar trat Prof. Schmidt aus Potsdam warm für die
Erforschung der bisher noch wenig bekannten Be-
wegungen des Meereswassers in der Tiefe
ein ; Dr. Schott aus Hamburg dagegen zog aus dem
reichen Tatsachenmaterial, das über Schiffsver-
setzungen auf den Dampferwegen von England
nach New York vorliegt, Schlüsse überdie Eigenart
der Oberflächenströmungen. Prof Schmidt
schlug vor, vertikale und horizontale Tiefsee-
strömungen durch direkte Messungen mit Hilfe
schwimmender, in bestimmten Tiefen zu haltender
Bojen zu beobachten. Ein Schiff müsse ihnen
folgen, eingerichtet als schwimmendes Observato-
rium, das zugleich eine einwandfreie magnetische
Vermessung der Ozeane vorzunehmen habe. Auf
ihm würden außerdem ozeanographische Forscher
eine praktische Studienzeit durchmachen können,
die den theoretischen P'ortschritten der jungen
Wissenschaft der Meereskunde zugute kommen
werde. Die Schiffsversetzungen geben dagegen
für die Erkenntnis der oberflächlichen Meeres-
strömungen schon einen reichen Beobachtungs-
stoff, und es besitzt das Verständnis der Ober-
flächenströmungen einen hohen praktischen Wert
für die Schiffsleitung. Nach Dr. Schott steht die
Größe der Stromversetzung in umgekehrtem Ver-
hältnis zur Schiffsgröße , scheint aber von der
Schnelligkeit und Maschinenkraft der Schiffe un-
abhängig zu sein. Ausnahmsweise große Ver-
setzungen infolge besonderer Windverhältnisse oder
unregelmäßiger Strömungserscheinungen betreffen
jedoch gleichmäßig Schiffe aller Größen. Außer-
dem fügte Dr. Schott noch eine Reihe von Regeln
hinzu, die sich für die Schiffsversetzungen auf dem
nordatlantischen Meere ergeben, und aus denen
man deutlich den Einfluß des Golfstroms wie
der nördlichen kalten Neufundland-Strömung er-
sieht.
Überdie Erörterungen, welche die schulgeo-
graphische Sitzu ng ausfüllten, eingehender zu
berichten, ist hier nicht der geeignete Platz. Die
geographische Wissenschaft strebt nach Vertiefung
des Verständnisses für Oberflächenformen und
klimatische Erscheinungen, für Lebensverhältnisse
von Pflanzen, Tieren und Menschen, für die Be-
dingtheit wirtschaftlicher Vorgänge und staatlicher
Zustände durch die Tatsachen, welche die Natur
im allgemeinen und in den einzelnen Sonderfällen
darbietet. Zweifellos versucht der geographische
Unterricht an einer großen Mehrzahl der Schulen
nicht, diesem Streben auch Schülern gegenüber
geeigneten Ausdruck zu verleihen, sondern läßt
sich an Gedächtnisarbeit der Einprägung von topo-
graphischen Gegebenheiten genügen. Ausdehnung
des Geographieunterrichts auf die Oberklassen von
Gymnasien und Realgymnasien, Verwendung aus-
reichend vorgebildeter Lehrer für ihn, Verbesse-
rung von Lehrmitteln und Lehrmethoden, Ab-
stellung von allen irgend zur öffentlichen Kenntnis
gelangenden Mängeln in betreff dieses Unterrichts,
diese vor allem erstrebenswerten Ziele hat der
deutsche Geographentag bei früheren Sitzungen
und auch bei der Kölner Zusammenkunft unter leben-
digem Zusammenwirken von Hochschulprofessoren
und Oberlehrern durch Vorträge und Debatten zu
klären und in erreichbare Nähe zu rücken ver-
sucht. Es wäre nur dringend zu wünschen, daß
seitens der im Geographieunterricht beschäftigten
Lehrer und seitens der Direktoren und Behörden
von den mancherlei wertvollen Anregungen dieser
schulgeographischen Sitzungen aus den gedruckten
Verhandlungen Kenntnis genommen würde und
daß vor allem die vom Geographentage einge-
setzte Kommission für Schulgeographie von inter-
essierten Kreisen in Anspruch genommen würde,
sei es durch Mitteilung von Wünschen und Re-
formideen, sei es durch Anzeige hervorgetretener
N. F. m. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
8S
Ubelstände und Schwierigkeiten.*) Außer allge-
meinen Besprechungen über die Lage des erd-
kundlichen Schulunterrichts brachte die Sitzung
einen Vortrag vom Direktor Stein ecke aus
Pissen über die Stellung der Geographie an Re-
formschulen und zwei Erörterungen über die Her-
stellung von Heimatkarten (Reallciirer Steinel
aus Kaiserslautern und Dr, Haack aus Gotha).
Will die Erdkunde die Gesamtheit der Er-
scheinungen auf der Erdoberfläche in ihrem Zu-
sammenhange als einheitliches Bild erfassen, will
sie nach dem Verhältnis von Grund und Folge
den Reichtum der Wechselwirkungen begreifen,
aus denen der besondere Charakter der einzelnen
Landindividualitäten und die auf dem ganzen Erden-
runde herrschenden Zustände hervorgehen, dann
ist sie darauf angewiesen, unter steter Anwendung
der ihr eigenen räumlichen Anschauungsweise,
unter Ablehnung philosoi)hischer Spekulationen,
fußend auf gesicherten Maßen und Zahlen, eine
bedeutende Menge von Ergebnissen anderer Wissen-
schaften zu übernehmen und in und miteinander
zu verarbeiten. Unzweifelhaft liegt die Gefahr
nahe, daß der Geograph, persönlichen Liebhabereien
und Sonderneigungen folgend, dabei von den eigent-
lich erdkundlichen Betrachtungen abschweifend
sich in Nachbarwissenschaften hinein verirrt und
daß umgekehrt F"orscher auf dem Gebiete solcher
verwandten Wissenschaften um einzelner für die
Erdkunde wichtiger Ergebnisse halber ihre Ar-
beiten als geographische Forschungen ansehen.
Dieser t'belstand ist bei der Kölner Tagung mehr-
fach merklich hervorgetreten, einmal bei der Sitzung,
welche sich mit der Wirtschaftsgeographie be-
schäftigte, dann bei den Vorträgen, welche die
Kenntnis des Rheinlandes vertiefen sollten.
Hier handelte es sich um Sonderfragen bei einem in
den Grundzügen geographisch genau bekannten
Gebiet, und solche Einzeluntersuchungen führen
leicht auf Seitenbahnen. So wurden floristischc
Beobachtungen aufgezählt und von der Lebens-
geschichte der Sprudelwürmer Interessantes mit-
geteilt. Bei der Wirtschaftsgeographie galt es
umgekehrt das Arbeitsfeld einer jungen Teilwissen-
schaft der Erdkunde erst abzustecken, und es wird
bei der Grenzfestlegung neuer Wissenschaften leicht
zu Abschweifungen auf fremde Gebiete kommen.
So wurde über volkswirtschaftliche Fragen wie
Tarife und Zollpolitik in Vergangenheit und Gegen-
wart vorgetragen und debattiert. Aber der über-
quellende Reichtum der geographischen Tatsachen
und Gegenstände darf nicht zum Verhängnis an der
Wissenschaft selbst werden, indem er Zersplitterung
hervorruft, während doch darnach gestrebt wird,
Gesamtbilder von Ländern und Völkern, von den all-
gemein aufder Erdoberfläche herrschendenZuständen
zu entwerfen. Vom zoologischen, botanischen, volks-
') In Köln wurde zum Vorsitzenden dieser Kommission Ober-
lehrer H. Fischer in Berlin (Bellcalliancestr. 69) erwählt. An-
dere Mitglieder sind; Direktor .\uler (Dortmund), die Ober-
lehrer Gruber (München), Lampe (Berlin), Wermbter (Rasten-
burg), Wolkenhauer (Bremen), Zemmrich (Plauen).
wirtschaftlichen Arbeitsmaterial, welches in diesen
durchweg tmgemein sorgfältigen Untersuchungen
und überaus lehrreichen Vorträgen dem Geographen-
tage vorgelegt wurde, kam vieles für die Erdkunde
nicht in Betracht; die aus demselben sich ergebenden,
für die Geographie vielleicht wichtigen Schlüsse
wurden jedoch, zum Teil aus dem äußerlichen
Umstände, weil des Redners Zeit abgelaufen war,
nicht ausreichend in ihrer Bedeutsamkeit für die
erdkundliche Wissenschaft gekennzeichnet. An
dieser Stelle werde nur auf die erdkundlichen
Ergebnisse zunächst der wirtschaftsgeograpiiischcn
Sitzung, dann der landeskundlichen eingegangen.
Gleich der erste Vortrag unter den wirtschafts-
geographischen bemühte sich, den Gegenstandund
die F"orschungsmethode der Wirtschaftsgeogra-
phie gegen die verwandten volkswirtschaftlichen, ge-
schichtlichen und naturkundlichen Wissenschaften
möglichst klar abzugrenzen. Mit Recht betonte
Prof Sieger aus Wien in seinen Ausführungen über
diese vielverzweigten Fragen, daß es bisher eine
deutlich ihrer Ziele und Arbeitsweisen sich be-
wußte Wirtschaftsgeographie noch gar nicht
gebe und daß sie ihr Forschungsfeld durchaus nicht
einfach nach dem Maßstabe der Zugehörigkeit oder
Nichtzugehörigkeit der zu behandelnden Tatsachen
zur Geographie abstecken könne; denn selbst
Grenzzölle sind in ihrer Eigenart geographisch
bedingt und haben umgekehrt eine oft sehr ent-
scheidende Rückwirkung auf die Entwicklung eines
geographischen Wirtschaftsgebietes. Doch wird
der Wirtschaftsgeograph, wenngleich er des ge-
samten statistischen Materials volkswirtschaftlicher
Art nicht entraten kann, dergleichen die National-
ökonomie zunächst angehende Tatsachen nach
eigenen, vor allen Dingen räumlichen Gesichts-
punkten durcharbeiten müssen , bedarf also der
Kenntnisse von der Statistik, um das Urmaterial
selbständig kritisch behandeln zu können. Es
gehört dazu auch historische Schulung, Übung in
der Quellenforschung, kurz geschichtliches Wissen
sowohl von Fatsachen wie von Forschungsmetho-
den. Zu dritt gilt es geographische Kenntnisse,
vornehmlich Kenntnisse von der rein geographischen
Literatur zu verwerten, und das Vermögen zu ent-
wickeln, sich kartographischer Hilfsmittel zu be-
dienen, sowohl um aus ihnen zu lernen, wie um
sie für eigene Arbeiten fruchtbar zu machen.
Schließlich bleibt aber wie beim landeskundlichen
Forschungsreisenden das wichtigste Erfordernis
Autopsie und die Kunst persönlich scharf zu sehen.
Durchdringen sich diese Fähigkeiten und Kennt-
nisse, so wird das Ergebnis der Einzelforschung,
wird der Gesamtcharakter der wirtschaftsgeographi-
schen Wissenschaft am besten sich darstellen lassen
als ein Teilergebnis und eine Teilwissenschaft der
Anthropogeographie. Wie aber bei dieser und
überhaupt bei der Geographie ein L^nterschied
besteht zwischen der Einzelerforschung der Völker
und der besonderen Siedelungen und andererseits
der allgemeinen Überblicke, zwischen der Länder-
kunde und der allgemeinen Erdkunde, so wird
86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6
auch ein gewisser Gegensatz der Forschungs-
methode, eine Verschiedenheit der Gesichtspunkte
bei der Betrachtung entstehen müssen zwischen
der allgemein en Wirtschaftsl<unde und der be-
sonderen landesl<undlichen Wirtschaftsgeo-
graphie. Die allgemeinen Spekulationen sind noch
unentwickelt; noch sind wenige weithin gültige
wirtschaftsgeographische Maßstäbe gefunden. Da-
gegen erblüht eine wirtschaftsgeographische Dar-
stellungskunst für Einzellandschaften und abge-
grenzte Landgebiete. In der Tat ist es glaublich,
daß bei der Fülle der in Betracht kommenden
Umstände das Wirtschaftsleben enger Räume mit
einigermal3en gleichförmiger Bevölkerung und von
klar umrissener geographischer Individualität sich
deutlicher schildern und in seinen Daseinsgründen
besser klarlegen läßt, als wenn es sich um erd-
ballumspannende Überblicke handelt, bei denen
der theoretisch-nationalökonomischen Anschauungs-
weise oder der philosophierenden Soziologie ein
geeigneteres Feld zur Betätigung offen steht als
der Wirtschaftsgeographie. Mutmaßlich wird
erst auf Grund einer gröi5eren Zahl exakt-wirt-
schaftsgeographischer Arbeiten über Einzelländer
sich eine allgemeine Wirtschaftsgeographie heraus-
bilden.
Eröffneten diese Mitteilungen Ausblicke auf
die Entwicklung einer neuen Wissenschaft, die bei
der andauernden Spezialisierung der Forschungen
sich zwischen Volkswirtschaft, Geschichte und Geo-
graphie betten will, doch so, daß der größte Teil ihrer
Grenzen neben der Länderkunde entlangführt, so
warf der folgende Vortrag von Dr. Kraus aus
Frankfurt a. M. einen Rückblick auf die Geschichte
derHandels- und Wirtschaftsgeographie.
Der Kaufmann ist stets darauf angewiesen gewesen,
geographische Kenntnisse hinsichtlich des Ur-
sprunges seiner Waren sich anzueignen. Doch
blieb dies Wissen eine äußerliche Warenkunde,
die sich allmählich im Verein mit der V'erkehrs-
geographie zur Handelsgeographie auswuchs. In
der 2. Hälfte des i8. Jahrhunderts taucht die
Handelsgeographie als Lehrgegenstand an manchen
Schulen auf. Zu einer Wirtschaftsgeographie
mußte diese Summierung äußerlicher Kenntnisse
von geographisch bedingten Tatsachen des Handels-
verkehres sich entwickeln, als durch Humboldt's
Lebenswerk die geographische Auffassungsweise
sich vertieft hatte. Auch hier bezeichnet Freiherr
V. Richthofen's in so vielen Beziehungen bahn-
brechendes Buch über China einen Wendepunkt,
insofern hier an tatsächlichen Beispielen die Natur-
bedingtheit des Wirtschaftslebens, sowohl der Er-
zeugnisse wie ihres Austausches und \^erbrauches,
nachgewiesen worden ist, und jetzt umfaßt die
Wirtschaftsgeographie alle auf die Wirtschaft der
Völker und Volksgruppen bezüglichen Tatsachen
und Erscheinungen auf der Erdoberfläche.
Den Abschluß dieser Erörterungen über Ge-
schichte und Theorie der Wirtschaftsgeographie bil-
dete ein gedankenreicher Vortrag von Dr. Friedrich
aus Leipzig über kartographische Aufgaben der
Wi rtschaftsgeographie. Bei der Fülle weit
auseinander liegender und doch zur Einheit zu ver-
schmelzender Beobachtungen , deren die Wirt-
schaftsgeographie bedarf, sollte die Karte als
kürzestes, sinnfälliges Ausdrucksmittcl für geogra-
phische Tatsachen dazu berufen erscheinen, den
wirtschaftsgeographischen Gegebenheiten zu einer
allen Abschweifungen abholden , nüchternen An-
schaulichkeit zu verhelfen. Doch in scharfem
Gegensatz zu dieser Forderung steht, was Dr.
Friedrich, ein Schüler und Assistent Ratzel's, in
wirtschaftsgeographischen Karten niederlegen will,
philosophierende Ideen von mancherlei Art, also
tiefsinnige Ratzel'sche Betrachtungen, nur nicht in
beziehungsreichen, gedankenvollen Worten, son-
dern in Linien und Farben auf Karten, und ab-
strakten Ausführungen soll durch diese Realität
der Darstellung ein konkretes Gewand umgelegt
werden. Wohl verständlich ist Dr. Friedrichs
Forderung, die Menge der wirtschaftlichen Erzeug-
nisse solle in Ouantitätskarten, die Güte derselben
in Oualitätskarten ihren Ausdruck finden; fraglich
dürfte es aber sein, ob seine dritte Anregung,
nämlich die Herstellung von Karten der Wirt-
schaftsstufen , zu etwas mehr als zu geistreichen
Kombinationen führen wird. Dr. Friedrich unter-
scheidet bei jeder Art der Wirtschaft, also bei
Nomaden- und Viehzüchterleben, bei der Acker-
wirtschaft und allen anderen Wirtschaftsformen,
eine Reihe von Stufen der Ausbildung dieser
Wirtschaftsweisen je nach dem Grade , wie der
Mensch sich vom Naturzwange zu befreien vermocht
hat, und kommt dabei zu Stufen wie „Instinkt",
,, Intellekt", „Tradition", „Wissenschaft", indem er
beispielsweise daran denkt , die Viehzucht werde
hier instinktiv, ohne klare Bewußtheit der Mittel
und Zwecke, dort mit voller Beherrschung der
Natur intellektuell ausgeführt. Er kartographiert
dann die Gebiete instinktiver, intellektueller, tradi-
tioneller , wissenschaftlicher Viehzucht. Er stellt
diese 4 Stufen für jede VVirtschaftsform auf. Ob
bei den feinen, leisen Übergängen und Steige-
rungen von einer Kulturstufe zur anderen sich
diese Scheidungen ohne Willkür vollziehen lassen
werden? Ob diese Willkür bei der Schärfe des
Ausdrucks, die in der Karte viel größer ist als
bei textlicher Darstellung, nicht gerade bei dem
graphischen Verfahren besonders scharf hervor-
treten wird ?
Nicht weniger als fünf Vorträge beschäftigten sich
darauf mit Einzelfragen aus dem Gebiete der Wirt-
schaftsgeographie. Dr. Deckert aus Steglitz behan-
delte die großen nordamerikanischen Ströme
in ihrer Rolle als Verkehrsvermittler in den
Vereinigten Staaten, und mit Staunen entnahm
man den wundervollen Lichtbildern wie den fesselnden
Worten, daß der Wert des weit verzweigten Fluß-
netzes für das Wirtschaftsleben im Grunde nur
noch gering ist. St. Louis, einst ein unendlich
wichtiger Binnenhafen, erscheint an den Kais öde,
besitzt aber den größten Bahnhof der Erde, und
ähnlich wird fast überall der Flußverkehr durch
N. F. III. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
87
den I.andverkehr verdrängt. Schuld daran ist
teils die Natur der Ströme selbst, die durch Über-
schwemmungen, nicht zu hemmende Laufver-
schiebungen, auch wohl durch Schnellen den An-
forderungen gerade eines sich steigernden Ver-
kehrs mit seinen Ansprüchen an Sicherheit der
Wertgüter und an Schnelligkeit und Größe der
Schiffe nicht mehr gerecht werden, teils auch die
Eigenart des Eisenbahnwesens in den Vereinigten
Staaten mit seinen großen, vor keinem Mittel des
Wettbewerbes zurückscheuenden Privatkapitalien.
Was Dr. Georg W e g e n e r über den Pananiakanal
dann mitteilte, war im wesentlichen bekannt und
auch Dr. Wiedenfeld aus Berlin brachte über die
Rheinhäfen und ihr Hinterland in den Haupt-
zügen nur Teile seines als Heft 3 der Veröffent-
lichungen des Instituts für Meereskunde erschiene-
nen Buches über die westeuropäischen Häfen und
einige geschichtliche und tarifpolitische Ausein-
andersetzungen. Dr. Wickert aus Wiesbaden gab
viel statistische Zusammenstellungen über die
Entwicklung der Größe und Art des Rheinver-
kehres; die geographische Bedingtheit dieser Ent-
wicklung und die wirtschaftsgeographischen Folgen
treten vielleicht beim Druck seiner Auseinander-
setzungen in den „Verhandlungen des 1 4.Geographen-
tages", deren Erscheinen wohl in einigen Wochen
zu erwarten ist , deutlicher hervor als beim Vor-
trage selbst. Prof. Halbfafs aus Neuhaldensleben,
der sich unermüdlich mit der Limnologie be-
schäftigt, sprach, der Vorliebe des Kölner Geo-
graphentages für Wirtschaftsgeographie Rechnung
tragend, diesmal über den Verkehr auf Seen. So-
weit derselbe ein örtlicher Nahverkehr ist, besitzen
Seen oft einen hohen Wert für ihn; den Durch-
gangsverkehr begünstigen sie selten, hemmen ihn
sogar häufig, wie das Beispiel des Baikal-, Aral-,
Kaspisees zeigt. Nur wenn die Wasserflächen
durch Kanäle oder Flüsse in Zusammenhang
stehen, werden sie vom Durchgangsverkehr be-
nutzt. Durch die Entwicklung der Flußschiffahrt
auf Kongo, Nil und Sambesi und durch die Aus-
dehnung eines afrikanischen Eisenbahnnetzes wer-
den die großen Wasserbecken Innerafrikas für den
Güter-, auch wohl Personenverkehr noch wichtig
werden, wie in Europa den größten Seeverkehr
die zusammenhängenden Flächen des Mälarn-,
Wettern- und Wenernsees besitzen, und den be-
deutendsten Seeverkehr der ganzen Erde die fünf
großen nordamerikanischen Becken, auf deren
Wasserspiegel jährlich rund 1 10 Millionen Tonnen
befördert werden, also eine Gütermasse, welche
den Verkehr aller deutschen Häfen dreimal über-
trifft. Der örtliche Verkehr besteht dagegen häufig
in Personenbeförderung und ist auf die Jahres-
zeiten beschränkt, welche Vergnügungsreisende
in die Umgebung führen. Vermittelt der Boden-
see noch einen ebenso beträchtlichen Güteraus-
tausch (1,3 Millionen Tonnen) wie der des Hafens
von Neufahrwasser— Danzig ist, so benutzen den
Vierwaldstättersee nur 370000 Tonnen; aber auf
diesem ist der Personenverkehr so rege, daß
10 000 Menschen auf jedes qkm Fläche kommen,
beim Bodensee nur 2740 Seelen. Der Eisenbahn-
verkehr in Deutschland weist nur 1528 Personen
für jedes qkm Land auf. Die Einnahmen der
preußischen Bahnen erreichen auf jedes qkm Land
berechnet gerade die vom Vierwaldstätter-, Brienzer-,
Comersee weit übertroffenen Erträge von jedem
qkm des Starnbergersees. Die überragende Mehr-
zahl der Seen aber sinken in der Ziffer der Ver-
kehrsmengen und Verkehrseinnahmen weit unter
die Zahlen, welche das umgebende Land aufweist,
einfach weil die meisten Seen nicht in Gegenden
lebendigen Fremdenzuflusses liegen. Man denke
an die vielen Wasserbecken des baltischen Land-
rückens. Jedenfalls gehört zur Seenforschung die
bisher gänzlich vernachlässigte anthropogeographi-
sche Untersuchung über die vom See hervor-
gerufene Bevölkerungs- und Verkehrsverdichtung
oder -Verdünnung.
Die wirtschaftsgeographischen Erörterungen des
14. deutschen Geographentages haben in ihrer
Mehrzahl, ob sie nun die Theorie der jungen geo-
graphischen Zweigvvissenschaft betroffen oder tat-
sächliche Einzeluntersuchungen mitgeteilt haben,
das Verdienst zu beanspruchen, daß viele An-
regungen ausgestreut sind. Umgekehrt bestand
der Wert der landeskundlichen Arbeiten, die zu
Köln vorgelegt sind, mehr darin, daß sie vom
Abschluß zielbewußter Forschungen Zeugnis ab-
legten. Dort noch manche Unsicherheit betreffs
der rechten Gegenstände und der rechten Arbeits-
weise in einem Überfluß sich aufdrängender Tat-
sachen und Ideen, aber große Hoffnungen für
eine reiche Entwicklung in der Zukunft; hier volle
Beherrschung der Grundzüge der Methoden und
Klarheit über die gelösten und noch zu lösenden
Aufgaben, jedoch nur für Einzelheiten noch die
Erwartung neuer Entdeckungen. Prof P h i 1 i p p s o n
aus Bonn besprach die allgemeine Morphologie
des rheinischen Schiefergebirges. Der Bezirksgeologe
Dr. Kayser gab einzelne Ergänzungen auf Grund
seiner Arbeiten für die Gegend zwischen dem
Neuwieder Becken und der Bonner Bucht. LTnd
wie die geologischen Verhältnisse, so fanden die
klimatischen eine doppelte Behandlung. Geheim-
rat Hellmann aus Berlin erläuterte unter Vorlegung
der eben fertig gewordenen Regenkarte von Deutsch-
land, welche die Ergebnisse zehnjähriger Messungen
zusammenfaßt, die Regenverhältnisse von Nord-
deutschland unter besonderer Berücksichtigung der-
jenigen in den Rheinlanden, und Dr. Polis aus
Aachen besprach das Klima der Rheinprovinz, ins-
besondere das des Rheintals, der Eifel und des Venn.
Hinzu gesellten sich der zoologische Vortrag von
Dr. Voigt aus Bonn über Reste der Eiszeitfauna, der
botanische von Dr.Fischer aus Bonn über Pflanzen-
geographie des Rheintals, und außerdem legte Ar-
chivdirektor Dr. Hansen aus Köln den „Geschicht-
lichen Atlas der Rheinprovinz" vor, von dem
bisher i 5 Karten und 4 erläuternde Bände Text her-
gestellt sind. Sie behandeln die Rheinprovinz in
französischer Zeit (1813) und bei Beginn der
88
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 6
preußischen Verwaltung (1818), dann in 7 Blättern
die im Gebiet der gegenwärtigen Rheinprovinz
gelegenen Territorien des alten deutschen Reichs
im Jahre 1789, schliei-51ich in 4 Blättern die kirch-
liche Einteilung im Jahre 1610. Da verläßliche
alte Karten nicht vorliegen, stützt sich der Atlas
auf handschriftliche, archivalische und ähnliche
einer sorgsamen Kritik zu unterwerfende Quellen.
Früher begnügten sich historische Karten mit den
kleinen Maßstäben i : 5 oder 3 Mill., weil die viel-
fachen Zweifel über den Grenzverlauf so am ein-
fachsten verdeckt werden konnten. Die große
sechsblättrige Gaukarte des deutschen Reichs in
I : 1000 000 galt als Wagnis, und sie enthielt in
der Tat viel Willkür. Als dann die Geschichts-
forschung neben den großen politischen Begeben-
heiten immer sorgsamer die tatsächlichen Zustände,
wirtschaftliche und rechtliche, zu berücksichtigen
begann, galt es durch emsige Einzelarbeit und
Sammelfleiß, der sich auf private wie öffentliche
Urkunden beziehen mußte, Stoff genug zusammen-
zutragen, daß geschichtliche Karten von i : 500000,
ja bei verwickelten Kleinverhältnissen von i : 160000
und selbst 1:80000 ermöglicht wurden. Grund-
sätzlich soll das Gelände mit dargestellt werden,
ein löbliches Vorhaben, da der nur so erkennbare
Einfluß der Bodenformen auf die Gebietsverände-
rungen eine Fülle von Anregungen geben wird.
Weil aber wegen des allzu bunten politischen
Kolorits in manchen Zeiten, wo lOO und mehr
Territorien an Stelle der gegenwärtigen Einheiten
darzustellen sind, die Aufnahme des Geländes das
ganze Bild unübersichtlich machen würde, läßt sich
der Grundsatz nicht mit Starrheit durchführen.
Dieser prachtvolle Atlas wird das erste umfassend
und groß durchgeführte Kartenwerk sein, welches
die geschichtliche Entwicklung von einem Teile
der deutschen Länder wiedergibt. Eine Kom-
mission besteht seit dem Jahre 1895 für die
Herausgabe, die im Auftrage des rheinischen
Provinzialverbandes von der Gesellschaft für rhei-
nische Geschichtskunde unternommen ist. Ver-
gleichbar ist die Veröffentlichung des historischen
Atlas der deutschen Alpenländer seitens der Wiener
Akademie.
Wie man eifrig am Werke ist, die Geschichte
der von den Menschen geschaffenen Staatengebilde
und Kulturzustände auf der Erdoberfläche in klar
überschaubaren Darstellungen festzulegen, so läßt
sich infolge eifriger Forschung, deren Ergebnisse
nunmehr ihrer genauen Kartierung entgegen gehen,
die geologische Entwicklungsgeschichte der
Boden formen im Rheinlande immer deutlicher
erkennen. Das Schiefergebirge ist einer der größten
Horste alten Gebirgslandes, die aus den mesozoischen
Schichten des deutschen Bodens herausschauen.
Im Karbon aufgefaltet, ist jenes paläozoische Hoch-
gebirge, das aus devonischen Tonschiefern, Grau-
wacken und ähnlichen alten Gesteinen aufgebaut
ist, längst zum Rumpfberglande abgeschliffen. Vor-
sichtig ließ Philippson unentschieden, ob die nach
amerikanischer Anschauung peneplains schaffende
Tätigkeit der Flüsse in einer langen Festlandszeit
oder die Arbeit der brandenden Meereswelle bei
Senkung des Festlandes und Meeresüberflutung die
Ebenen auf der Höhe des Gebirgsrumpfes her-
gestellt habe. Jedenfalls liegen Buntsandsteine
diskordant übergreifend mit Schottern und Kon-
glomeraten horizontal über den aufgefalteten alten
Gesteinen ; wiederum aber vermied Philippson ein
endgültiges Urteil über die Frage, ob diese Bunt-
sandsteine .'\bsatz aus dem Meere und Ergebnis
der Strandzerstörung oder, wie neuerdings an
anderen Stellen glaubhaft gemacht ist, Wüsten-
bildung seien. Er neigt dazu, an der alten Auf-
fassung festzuhalten, daß die Oberfläche des Schiefer-
gebirges eine Abrasioiisfläche und der Sandstein
ein Erzeugnis der Wasserbedeckung sei. Lange
Zeiten hindurch war dann das Land eine Fest-
landscholle, und die Erosion entfernte die Sand-
steine wieder, griff wohl auch die Devonschiefer
an. Man findet den Sandstein nur noch strecken-
weise aufliegend, indem er escarpements bildet.
An anderen Stellen ist er schollig eingesunken
und dadurch vor der Abtragung geschützt. Erst
die tertiäre Zeit hat wieder Ablagerungen hinter-
lassen, beispielsweise die für die blühende Keramik
der Rheinlande wichtigen Tone und dann die
Braunkohlen. Faltungen haben diese Gebilde so
wenig wie der Sandstein erlitten ; wohl aber müssen
bedeutende Hebungen des Gebirgsrumpfes über
die Umgebung oder wahrscheinlicher Absenkungen
der Nachbargebiete um den alten Horst erfolgt
sein; denn die Tertiärschichten liegen in seltsam
verschiedenen Höhen. Die groben Züge der gegen-
wärtigen Höhenverhältnisse, beispielsweise der Ein-
bruch der Kölner und Trierer Bucht und des
Beckens von Neuwied, müssen damals hervorgerufen
sein. In den allgemeinsten Richtungen wurden
durch diese Schiebungen und neu entstandenen
Gefällverhältnisse nun auch die Stromläufe vor-
gezeichnet; aber nur in den Grundzügen sind sie
tektonisch vorbestimmt, im einzelnen ein Werk der
Erosion, die stufenförmig den Rhein und seine
Zuflüsse in das Tertiär und den Devonuntergrund
einsinken ließ. Da das strömende Wasser recht-
winklig die alten Schichten durcharbeitet, sind die
Täler von ihrem Streichen ziemlich unabhängig.
Doch ist die Tätigkeit der Flüsse nicht immer
gleichmäßig groß gewesen, sondern zwischen Zeiten
lebhafter Bettvertiefung, die wohl ursächlich zu-
sammenhängen mit gerade sich vollziehenden
Schwankungen der Höhenverhältnisse, schieben sich
Zeiten der Ruhe, die zur Bildung von Stromterrassen
an den Gehängen Anlaß gegeben haben. Diese
Bildungsgeschichte des Rheintales machte
Dr. Kayser in knappen Zügen meisterlich klar.
Die alte, tektonisch vorgezeichnete Trogfläche des
Rheins liegt in 300 bis 350 m Höhe. Die erste
Erosionsterrasse unter ihr findet man an der Ahr-
mündung in 240 bis 2IO m Meereshöhe. Sie senkt
sich nach Norden rasch. In ihren Aufschüttungen
steckt viel zerstörte Kreide, wohl \'on weit heran-
geschwemmt. Die Hauptterrasse des Rheintales
N. F. ni. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
89
ist im Becken von Neuwied in 200, bei Linz in
180, in der Kölner Gegend in 130 bis 120 m zu
verfolgen. Weithin erkennbar ist dann eine bei
Remagen etwa 70 m, bei Köln 60 bis 55 m hohe
Terrasse. Als der Rhein diese Höhenlage erreicht
hatte, erfolgte die Ablagerung des rheinischen Löß.
Dann schnitt der Fluß sich weiter ein. Er ist bis
38 m über dem Meere bei Honnef, bis 36 m bei
Bonn, bis 7 m bei Köln gelangt, hat dann lockere
Sande, Geschiebe und Lehm in Menge aufgehäuft
und sein Tal dadurch erhöht. Sie bilden bei
Honnef jetzt eine 20 m mächtige .Schicht und be-
tragen bei Bonn i7'/.2, bei Köln 37 m. In ihr
verläuft das gegenwärtige Rheintal in der Weise,
daß man zwischen Bonn und Köln noch mehrere
alte Rheinläufe verfolgen kann und daß man jetzt
zwischen der Talsohle, dem Überschwemmungs-
gebiet und einer Niederterrasse unterscheiden muß.
Noch ist eine deutliche Gliederung des Diluviums
nicht vollzogen, noch auch nicht der Anschluß
hergestellt von diesen Beobachtungen zu Analogie-
bildungen der Oberrheinebene, und wahrscheinlich
wird sich nicht herstellen lassen eine lückenlose
Verbindung der einzelnen Stromterrassen an den
verschiedenen weiter voneinander gelegenen Teilen
des Rheintales und der Täler der Nebenflüsse.
Diese Verbindung ist auch bei amerikanischen
Strömen mit Terrassenerscheinungen auf größere
Erstreckungen hin noch nie gelungen. — Was über
die vulkanischen Erscheinungen vorgetragen wurde,
ist in den Grundzügen bekannt. Es gibt auch
über sie noch mancherlei Streitfragen ; aber die
Eigenart der hier noch vorliegenden Schwierig-
keiten wurde bei den Exkursionen im Angesicht
der Vorkommnisse selbst erörtert. Das Sieben-
gebirge ist offenbar ein dürftiger Rest eines großen,
aus Tuffen aufgeschichteten Vulkans. Die lockeren
Tuffe sind längst so gut wie vollständig entfernt,
und was jetzt als Bergkuppen das Landschaftsbild
bestimmt, sind von der Erosion und von den
Atmosphärilien enthüllte Vulkanstile oder Trichter-
ausfüllungen oder seitliche Intrusionen. Hier aber
bleibt der Einzelerklärung noch mancher Spiel-
raum.
Den Schluß dieser Ausführungen über den In-
halt der in Köln gehaltenen Vorträge möge ein Aus-
zug aus den klimatologischen Erörterungen
bilden. In Preußen sind rund 2400 Regenstationen
eingerichtet, im Flachlande auf 200 bis 300 qkm
eine, im Berglande oft schon eine auf 30 qkm.
Auf Grund der Zusammenfassung ihrer Regen-
messungen ergibt sich, daß die absolute Höhen-
lage eines Ortes nicht annähernd so viel Einfluß
auf die Regenhäufigkeit und Regenmenge ausübt
wie die relative, also die Exposition. Ferner zeigt
sich, daß die Küste vergleichsweise regenarm, in-
dem scharfer Wind hier alle Witterungserschei-
nungen zu schnellem Ablauf zwingt. So herrscht
zwar oft trübes Wetter, aber selten Dauerregen.
Der mittlere Durchschnitt durch ganz Deutschland
beträgt jährlich 687 mm Niederschläge. Über
diesem Durchschnitt liegen die Westprovinzen und
Schlesien, wo das Gebirge die Feuchtigkeit kon-
densieren hilft. Am regenreichsten ist Westfalen;
dort herrschen schon bei 200 m Höhenlage 1000 mm
Niederschlag, die im Riesengebirge erst bei I200m
Höhe fallen. Für die mit Wasserabfluß arbeitende
westfälische Industrie ist diese Tatsache wertvoll.
Der regenreichste Einzelpunkt Norddeutschlands
ist der ins Flachland vorgeschobene Brockengipfel
(1700 mm). Bei Halberstadt, das im Regenschatten
liegt, fallen bereits kaum noch 500 mm: In der
Nähe der feuchtesten Gegend liegt die trockenste 1
Unter dem Durchschnitt der .Schnee- und Regen-
fälle in Deutschland bleiben die Niederschläge von
Posen (am meisten !), Westpreußen, Brandenburg,
Sachsen und Thüringen, Pommern, Ostpreußen.
In diesen Provinzen sind auch die Schwankungen
der Niederschlagsverhältnisse zwischen den ein-
zelnen Jahren am bedeutendsten. In VVestpreußen
betragen sie oft 50 '% des Gesamtwertes. Es gibt
dort örtlich eng umgrenzte Gebiete, deren
Trockenheit in einzelnen Jahren die des wüsten-
nahen ägyptischen Alexandria übertrafen. Die
Westprovinzen stehen dem entgegen unter dem
mildernden Einfluß des Seeklimas. Gerade die
Rheinprovinz aber zeigt wegen wechselnder Höhen
und verschieden gearteter Expositionsverhältnisse
eine Reihe schärferer, örtlicher Gegensätze als
andere Westprovinzen. Geht auf dem Hohen
Venu die Regenmenge stellenweis bis zu 1321 mm
jährlich hinauf, so erhält die Ostabdachung der
Eifel nur 423 mm. Der Durchschnitt für die
Rheinprovinz ist 717 mm; aus ihm ergibt sich
beiläufig eine Masse von 19345 Mill. cbm Nieder-
schlages für die Provinz in jedem Jahr. Auf dem
Venn herrscht Gewitterarmut (etwa 10 Gewitter
jährlich), im Rhein- und Moseltal (20 bis 30 Ge-
witter) Gewitterreichtum. Hier fällt der meiste
Regen im Sommer, dort viel Schnee im Winter,
so daß er bis 600 und 700 mm hoch liegt. Ent-
sprechend dem geringeren Regen in den Haupt-
tälern, steigt in ihnen die Sonnenscheindauer.
Geisenheim erhält jährlich 1655, Aachen nur 1531
Stunden. Die mittlere Jahreswärme im Rhein-
und Moseltal beträgt 10", auf Venn und Wester-
wald 7", und die Wärmeschwankungen nehmen
von der Meeresnähe landeinwärts zu. In Kleve liegen
die Extreme 16,3", bei Frankfurt a. M. 18,7" aus-
einander. Eine eigentümliche Erscheinung ist die
Stagnation kalter Luftmassen in den Talfurchen
und Beckeneinsenkungen des Rheinlandes, so daß
in Neuwied und Aachen Temperaturen unter dem
Gefrierpunkt bei gleichzeitiger Erwärmung der
Eifelhöhen auf 1 1 " beobachtet wurden. Dann kommt
es leicht zu heftigen Luftausgleichungen, und die
in das Tal herabgleitende Luft erwärmt sich und
erscheint als trocken. So weht bei Neuwied öfters
echter Föhn. Die Rückschlüsse von diesen Witte-
rungsverhältnissen auf die Vegetation und die
wirtschaftlichen Verhältnisse, Viehzucht auf nassen
Höhen, Wein- und Gartenbau in den Tälern, liegen
klar. Nicht vergessen sei, daß die dem Geographen-
tage überreichte Festschrift zahlreiche Tabellen
90
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 6
von Materialien zur Klimatologie Kölns enthielt.
Der Inhalt dieser jetzt auch im Buchhandel zu
erhaltenden Festschrift (Köln 1903, Dumont-Schau-
berg) ist im übrigen wirtschaftsgeographisch.
Da die alte Handelsstadt Köln und die in ihr
bestehende Handelshochschule den 14. deutschen
Geographentag zu sich geladen hatte, war es natürlich,
daß die Wirtschaftsgeographie mehr Raum in den
Sitzungen beanspruchte als sonst auf den Tagungen
und daß sie besonders reiche Förderung für ihre
Entwicklung erhalten hat. Aber auch aus den
übrigen Sitzungen empfingen , selbst wenn dem
Fachmann Bekanntes geboten wurde, doch die
bei solchen Gelegenheiten aufmerksam werdenden
Vertreter benachbarter Wissenschaften mannig-
fache Anregungen und das Interesse der Gebilde-
ten wurde durch die von selbst sich ergebende
Aufklärung über die Eigenart der neueren Geo-
graphie belebt. Vor allem tauchte auch dem
Fachgelehrten deutlicher als bisher das Bild man-
cher Problemlösung, klarer die Fragestellung für
weitere Forschungen auf Man wird mit den Er-
gebnissen des Kölner Geographentages zufrieden
sein dürfen.
Kleinere Mitteilungen.
AlfredLauffs, Über einige physiologische
Wirkungen des Perchlorats auf die Pflanze. —
Landwirtscli. Jahrbücher, 30. Bd , Ergänzungsbd. 111,
1902.
Seit einer Reihe von Jahren wurde in den
Kreisen der Landwirte wiederholt die Frage er-
örtert nach dem vermeintlichen Schaden, den das
im Chilisalpeter als Verunreinigung vorkommende
Kaliumperchlorat auf das Wachstum der Getreide-
pflanzen ausüben sollte. Es waren gelegentlich
an Cerealien, besonders an Roggen, Krankheits-
erscheinungen beobachtet worden, die man der
Wirkung des Perchlorats zuschrieb. Als Merk-
mal der Perchloratvergiftung wurde es bezeichnet,
daß die Spitzen der neu entstehenden Blätter in
den Blattscheiden der vorhergehenden Blätter
stecken bleiben, so daß das betreffende Blatt sich
nicht recht entwickeln und zur Entfaltung kommen
kann, und teilweise mit der Blattfläche des älteren,
oft zusammengerollten Blattes verklebt oder ver-
wächst, während der untere Teil weiter wächst
und sich dann schleifenartig hervorkrümmen muß.
Auch eine starke Dunkelgrünfärbung der Blätter
ist als Zeichen der Vergiftung zu betrachten. Die
Blätter .sind meist breiter, kürzer und dicker als
gewöhnlich ausgebildet, zeigen Kräuselungen auf
der Oberfläche sowie Faltungen und schrauben-
förmige Drehungen. Oft weisen sie starken Glanz auf
der Ober- oder Unterseite auf An älteren Pflanzen
bekommen die Blätter ein verbranntes Aussehen,
der beträchtlich verkürzte, stark verdickte Stengel
ist kriechend und Spiral- oder knieförmig gebogen,
die Samenbildung sehr unvollkommen.
Alle diese Krankheitserscheinungen treten aber
nur auf, wenn das Perchlorat in größeren Mengen
zur Wirkung kommt. In geringen Quantitäten
dagegen wirkt es, wie Verfasser durch eine Reihe
von Versuchen dargetan hat, anregend und fördernd
auf das Wachstum, eine Erscheinung, die ja auch
von anderen Giften bekannt ist.
\'erfasser kultivierte Getreidepflanzen, sowie
einige andere landwirtschaftlich wichtige Gewächse,
wie Rüben, Buchweizen, Bohnen u. a. in Nähr-
lösungen, eine Methode, bei der er die zugeführten
Mengen des in Wasser schwer löslichen Kalium-
perchlorates (1,667 Teile KClOj lösen sich in 100
Teilen kalten Wassers) genau bestimmen konnte.
Die mit den genannten Pflanzen angestellten
Versuche bewiesen deutlich, „daß Perchlorat bis
zu einem gewissen Grade auf das Wachstum der
Pflanzen beschleunigend und fördernd einwirkt".
Dieser Einfluß gab sich durch die kräftigere Ent-
wicklung von Wurzel, Sproß und Blättern zu er-
kennen und liei.5 sich auch durch die Gewichts-
zunahme nachv^'eisen. Oberhalb des Optimums
der Entwicklung machte sich der schädliche Ein-
fluß des Perchlorates zunächst in größerem Maße
am Sproß bemerkbar als an der Wurzel. Letztere
entwickelte sich zwar dünner als unter normalen
Verhältnissen , besaß aber dieselbe Länge. Bei
weiterer Zunahme des Gehaltes an Perchlorat trat
auch hier Reduktion ein. Sehr viel stärKer wird
aber der Sproß durch das Gift beeinflußt. In
einem Falle z. B. besaß das Wurzelsystem eine
Länge von ca. 20 cm, während der Sproi3 sich
nur etwa 2 cm lang entwickelte. An den Blättern
fällt, wie schon erwähnt, ebenfalls eine kräftigere
Entwicklung und glänzend dunkelgrüne Färbung
auf bei geringem K Cl O^-Zusatz; bei stärkerer
Einwirkung des Giftes tritt bei Monokotylen viel-
fach Verkleinerung der Blattfläche bei gleichem
Volumen und Schleifenbildung auf, bei dikotylen
Pflanzen oft eine vom Blattrande aus fortschreitende
Wölbung der Blattfläche. Auffallend ist, daß selbst
bei starker Vergiftung von der Pflanze oft noch
neue Sprosse entwickelt werden.
Ganz bedeutend befördert wird die Chlorophyll-
bildung durch kleine Mengen Perchlorat. Diese
Vermehrung des grünen Farbstoffes ist nicht nur
äußerlich deutlich zu erkennen, sondern gibt sich
auch bei mikroskopischer Betrachtung kund durch
größere Anzahl, stärkere Ausbildung und dunklere
Färbung der Chlorophyllkörner. Der Chlorophyll-
vermehrung entspricht auch eine verstärkte Assi-
milationstätigkeit, wie Kulturversuche mit Elodea
canadensis ergaben.
Die Aufnahme des Giftes durch die Pflanze
erfolgt wahrscheinlich nur in relativ geringem
Maße. Die Wurzelhaare werden selbst durch ver-
dünnte Lösungen stark beeinflußt. Sie zeigen Ver-
N. F. III. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
dickungen und starke Krümmungen; in vielen
Fällen bleibt die Spitze des Haares im Wachstum
stehen, während oberhalb derselben sich eine \'cr-
zweigung gebildet hat.
Mit zunehmendem Alter nimmt die Empfind-
lichkeit der Pflanze gegen das Kaliumpcrchlorat ab.
Beim Fehlen des Stickstoffs im Nährmedium
zeigt sich die schädigende Wirkung des (liftes am
intensivsten. Die Pflanzen kommen unter diesen
Umständen nicht über das erste Entvvicklungs-
stadium hinaus.
Die genannten Beobachtungen lassen die für
die landwirtschaftliche Praxis wichtige Schluß-
folgerung zu, daß „eine den betreffenden Kultur-
pflanzen entsprechende Düngung mit Salpeter von
einem gewissen Perchloratgehalt die Pflanzenpro-
duktion nur günstig beeinflussen" kann, daß aber
die günstige Wirkung derselben Menge KCIO4 zu
einer schädlichen werden kann, wenn der Nitrat-
gehalt des Bodens ein verminderter ist. In einem
an frischer organischer Substanz reichen Boden
darf also K Cl O^ nur mit Vorsicht verwendet
werden, d. h. wenn genügende Mengen von Nitraten
zugegen sind. Der Gehalt an überchlorsaurem
Kali im Salpeter dürfte bei
Cerealien . . . . 0,75 "/„
Mais 4,0 „
Zuckerrübe . . . 6,0 „
nicht wesentlich übersteigen. Se.
Über ,, Wasserkissen als Ursache plötz-
licher Bodensenkungen in der Mark Branden-
burg" berichtet Dr. C. O c h s e n i u s im „Helios"
(Organ des naturw. Vereins des Regierungsbezirks
Frankfurt a. O. XX. Bd. 1903). — „Wasserkissen"
entstehen, wenn sich auf einem abflußlosen, nicht
zu großen See eine dichte Decke von toten und
lebenden Pflanzen aus den verschiedensten P^ami-
lien bildet. Bald siedeln sich größere Pflanzen
auf der schwankenden Decke an, und hinzu-
gewehtes Erdreich verwischt die letzten Spuren
des ehemaligen Sees. Aus den verwesenden
Pflanzenresten entwickeln sich dann noch in dem
eingeschlossenen Wasser Gase, so daß durch diese
und die aufgewehte Erdschicht das eingeschlossene
Wasser unter hohem Druck steht.
Daß ein einmaliges Durchbrechen eines sol-
chen Wasserkissens die Gefahr noch nicht für
immer beseitigt, zeigt der Verf an einem Unfall,
der sich im Jahre 1883 in der Nähe von Frank-
furt a. O. ereignete. Bei dem etwa 6 km östlich
von Frankfurt gelegenen Dorfe Kunersdorf zieht
sich nach SO zu eine Seenreihe hin ; die Seen-
kette wird von dem Damm der Märkisch-Posener
Eisenbahn durchschnitten. Als im Jahre 1868
diese Bahn angelegt wurde, war es nötig, zur
Durchführung durch die Niederung der 3 Seen
einen Damm von etwa 17 m Höhe aufzuschütten.
Man ahnte damals nicht, daß man den Damm
direkt über einen solchen zugewachsenen, vierten
See führte, bis nach langer Arbeit der Damm
eines Morgens plötzlich verschwunden war. Die
ungeheure Last hatte die Decke des Sees durch-
brochen. Erst nach wiederholter Aufschüttung
gelang es, den Damm soweit zu befestigen, daß
sich 15 Jahre lang keine Störungen mehr zeigten.
In der Nähe der drei Seen hielt auch die Frank-
furter Garnison ihre Übungen ab , jedoch wurde
beim Durchqueren der Niederung durch große
I'ruppenmassen nur ein dumpfer VViderhall in der
Tiefe gehört; eigentliche Bodenschwankungen
wurden nie beobachtet.
Erst im Jahre 1883, als eine Lokomobile zum
Auspumpen eines Torfstiches die unheilvolle Stelle
passierte, trat eine neue Katastrophe ein. Der
Knecht bemerkte plötzlich, daß die vorgespannten
6 Ochsen die Maschine nicht mehr weiterzogen,
und als er sich umschaute, sah er, daß das Hinter-
teil der Lokomobile schon eingebrochen war. Alle
Anstrengungen der Zugtiere waren vergebens.
Der Knecht vermochte nur noch , die vordersten
Ochsen auszuspannen und sich selbst in Sicher-
heit zu bringen. Nach kürzester Zeit war die
Lokomobile mitsamt den 4 Ochsen versunken,
und nur eine große Pfütze von Schmutzwasser
war noch zu sehen. Aber auch der Bahndamm
wurde z. T. wieder mit in die Tiefe gerissen, und
mit Mühe gelang es dem gerade die Stelle pas-
sierenden Bahnwärter, einen nahenden Zug vor
der Unglücksstelle zuni Halten zu bringen. Alle
Versuche , die versunkene Lokomobile wieder" zu
heben , waren erfolglos. Man konnte nur soviel
feststellen, daß man in 40 m Tiefe beim Sondieren
auf einen harten Körper stieß. Vermutlich war
also die schwere Maschine im Laufe der Zeit immer
tiefer in den aus Ton und Sand bestehenden See-
grund eingesunken.
Die Decke des Wasserkissens hatte also ohne
Murren die verschiedensten Lasten getragen, selbst
die eines Bahndammes von 17 m Höhe, der aller-
dings das Wasserkissen nur auf der einen Seite
überschritt. Auch bei den Truppenübungen war
nie ein Unglück vorgefallen; erst die schwere
Lokomobile durchbrach die Decke und verschwand
in die Tiefe.
Einen ähnlichen P'all von Wasserkissen, aller-
dings mit weniger verhängnisvollen F"olgen, be-
richtet der Verfasser sodann von dem kleinen See
im Park des königlichen Jagdschlosses Klein- Glie-
nicke bei Potsdam. Als derselbe im Jahre 1889
zugeschüttet werden sollte , bemerkte man , daß
die Füllung des Sees der aufgewendeten Erdmasse
nicht entsprach. In der Mitte des Sees befand
sich nun eine kleine, mit Bäumen bewachsene
Insel. Nach längerem Aufschütten bemerkte man,
daß die Bäume auf dieser Insel eine veränderte
Stellung zueinander einnahmen, indem sie sich
teils nach außen, teils gegeneinander neigten.
Außerdem trat eine Hebung der ganzen Insel ein.
Die Erklärung für diese merkwürdige Beobachtung
ist folgende. Der See besaß eigentlich einen
doppelten Boden; der obere Boden, auf dem sich
die Insel erhob, wurde durch eine schwimmende,
92
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 6
halb untergetauchte Decke von Pflanzen etc. ge-
bildet, und diese Decke wurde bei der Zuschüttung
durch die darauflastende Erde beschwert. Infolge-
dessen kam auch das unter ihr befindliche Wasser
unter Druck und preßte die Insel nach oben.
Dieses Ereignis zeigt zugleich, wie dicht und
widerstandsfähig die Decke eines solchen Kissens
sein kann.
Der Verf. führt noch zwei Fälle von Boden-
senkungen an , bei denen er glaubt Wasserkissen
als Ursache annehmen zu können. ,, Heutzutage
geht die Bildung von Wasserkissen nicht mehr
unbemerkt vor sich; es wird alles kartiert und
gebucht." Ernst Röhler.
Die Frage der Venusrotation muß noch immer
als eine offene gelten. Obgleich es nämlich im
Jahre 1900 Belopolski gelungen zu sein schien,
spektographisch festzustellen , daß die Rotation
dieses Planeten in nahezu einem Tage sich voll-
ziehe, kommt nunmehr aus Amerika die Nachricht
von einem völlig negativen Erfolg eines eben-
solchen Versuches. Für das Lowell-Observatorium
ist von Brashear zu diesem besonderen Zweck ein
neuer Spektrograph konstruiert worden, mit dessen
Hilfe S 1 i p h e r ( Ästr. Nachr. 389 1 —92) umfassende
Untersuchungen angestellt hat, die jedoch keinen
Beweis für eine kurze Rotationszeit des Planeten
ergeben haben. Es bleiben also vorläufig auch
bei 'der Anwendung dieses objektiven Verfahrens
ebensolche Widersprüche der F"orschung bestehen,
wie sie die direkte Beobachtung der Planeten-
scheibe bekanntlich gleichfalls ergeben hatte.
Die Gewinnung des indischen Rosenöls
bespricht Frau Helene N i e h u s aus Ghazipur
in Ostindien im „Globus" vom 2. Juli 1903, S. 1 1
bis 14 (mit 7 Abb. nach Photogr.). Ghazipur, im
Nordwesten Vorderindiens am Ganges gelegen,
eine Stadt von 40000 Einwohnern, ist in ganz
Indien wegen seiner ausgedehnten Roseiifelder und
seines Rosenwassers und -Öles berühmt. Nach
der von Ende Juni bis zum Oktober währenden
Regenperiode tritt für die dortige Gegend die
kalte Jahreszeit ein. Der lehmige Boden wird
nun gründlich aufgelockert, und es werden überall
Gräben angelegt zur künstlichen Bewässerung der
Felder. Im Dezember werden die Rosenstöcke
beschnitten, daß sie kaum einen Fuß hoch sind,
und bald sind sie über und über mit duftenden
Blüten bedeckt. Von Mitte Februar bis Ende
März dauert die Ernte. Alle Tage erscheinen die
Arbeiter, um morgens von Sonnenaufgang an bis
gegen neun Uhr vormittags die Rosen zu pflücken.
Dieselben werden in große Laken gebunden und
in einem Verschlag aufbewahrt, bis sie zum Rosen-
wasserfabrikanten gebracht werden, der für looooo
Stück, die abgewogen werden, 80 Rupies (etwa
110 Mk.) bezahlt.
Nachdem die Apparate gründlich gereinigt
sind, beginnt die Destillation. In jede Retorte,
die aus Kupfer hergestellt und verzinnt sind, wer-
den zur ersten Destillation 10 000 Rosen auf etwa
25 1 Wasser gegeben und bei langsamem Feuer
sieben Stunden gekocht. Dann folgt die zweite
Destillation und zwar mit 12000 frischen Rosen,
darauf die dritte mit 15 000 und so fort. Die
fehlende Flüssigkeit wird nach jeder Destillation
durch Wasser ersetzt, und die ausgenutzten Rosen
werden ausgepreßt und dann fortgeworfen. So
wird das Rosenwasser unter ständiger Vermehrung
der Rosenmassen vier, sechs, acht, ja in besonde-
ren Fällen bis sechzehnmal destilliert. Achtmal
destilliertes Rosenwasser kann man in Ghazipur
für 8 Rupies pro halbe Literflasche kaufen.
Zur Gewinnung des Rosenöls werden am
Abend die Kolben mit dem Rosenwasser in breite
Schüsseln entleert , die man zum Schutze gegen
Staub zubindet. Es gilt nun, das Rosenwasser
möglichst weit abzukühlen, denn je kälter es wird,
desto besser kann sich das Rosenöl auf der Ober-
fläche des Wassers abscheiden. Man stellt die
Schalen mit dem Rosenwasser daher unter dem
freien, kalten Nachthimmel in große, in die Erde
gegrabene Gefäße, welche mit Wasser gefüllt sind.
Am nächsten Morgen in aller Frühe wird dann
das Rosenöl vorsichtig mit einer Feder abgeschöpft
und in zierliche Fläschchen gefüllt. Eine Tola
{^= 11-3 g) Rosenöl wird mit loo Rupies, etwa
135 Mk., bezahlt. Um eine Tola Öl zu gewinnen, sind
aber auch gegen looooo Rosen nötig. Häufig wird
das Rosenöl mit Sandelöl vermischt, wodurch der
Duft durchaus keinen Schaden leiden soll; der-
artiges Ol wird schon für 20 Rupies pro Tola
verkauft.
Viel mehr Verwendung als das Rosenöl findet
das Rosenwasser. Zum Versand wird dasselbe in
große, bauchige, dünnwandige Maschen gefüllt.
Die Haschen werden mit einem Wattebausch ver-
schlossen, mit Lehm versiegelt und bestrichen, und
in Körben verpackt auf dem Ganges nach Kal-
kutta, Benares und Allahabad gebracht. Die Ein-
geborenen v^erwenden das Rosenöl nicht nur zur
Parfümierung ihrer Kleider und Häuser, sondern
genießen es auch als Arznei und Limonade, tun
es in Backwerk und Puddings und besprengen
damit die Leichen und die Gräber. S.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Gartenbau- Ausstellung in Berlin 1904. — Der
unter dem Protektorate S. M. des Kaisers und Königs stehende
Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den preußischen
Staaten veranstaltet vom 29. A]iril bis 8. Mai in den präch-
tigen Räumen der Pliilliarmonie zu Berlin eine große Gartenbau-
.Ausstellung. An Geldpreisen und Medaillen hat der Verein
aus seinen eignen Mitteln loooo Mk. ausgesetzt; außerdem
stehen Staatsmedaillen und Ehrenpreise in Aussicht. Da seit
dem Jahre 1897 keine Frühjahrsausstellung in Berlin stattfand,
so ist eine sehr rege Beteiligung zu erwarten. Das Programm
wird in einigen Wochen erscheinen.
Der Vorstand des Vereins zur Beförderung des Gartenbaues
in den Kgl. Preußischen Staaten.
Der Generalsekretär:
Prof. Dr. L. Wittmack, Geheimer Regierungsrat.
N. F. ni. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
93
Bücherbesprechungen.
Th. Ribot, MitgHed der Academie frangaise und Pro-
fessor an der Universität Paris, Die Schöpfer-
kraft der Phantasie (L'imagination creatrice).
Eine Studie. Autorisierte deutsche Ausgabe von
Werner Mecklenburg. Verlag von Emil Strauß in
Bonn. — Preis 5 Mk.
Der namhafte französische Psychologe geht von
der Ansicht aus, daß zwar die reproduktive Tätigkeit
der Phantasie bereits eingehender durchforscht,
daß aber die schöpferische oder konstruierende Phan-
tasie fast völlig unberücksichtigt geblieben sei. Das
vorliegende Buch (262 Seiten) will möglichst diese
Lücke ausfüllen, ohne den Anspruch zu erheben, eine
vollständige Monographie zu bieten. R. will ins-
besondere die Grundbedingungen der konstruierenden
Phantasie erforschen, deren hauptsächlichste Quelle
er in der natürlichen Neigung der Vorstellungsbilder
sich zu objektivieren („in den dem Bilde inhärenten
motorischen Elementen") findet. Nachdem er dies in
der Einleitung dargelegt hat, analysiert R. die Phan-
tasie und folgt ihr dann auf ihrem Entwicklungsgange
durch die Mannigfaltigkeit ihrer Formen von der
Tierwelt an durch das Kindesalter, das Zeitalter des
primären Menschen, das er als das „goldene Zeitalter
der schöpferischen Phantasie" bezeichnet, bis zu den
höchsten Formen derselben. Im 3. Teil bespricht
R. dann die wichtigsten Erscheinungsformen der Phan-
tasie. Während der Sprachgebrauch in unwissenschaft-
licher Beschränkung die schöpferische Phantasie nur
auf künstlerischem oder allenfalls noch auf wissen-
schaftlich-technischem Gebiete gelten läßt, bezeichnet
R. als große Schöpfer und Erfinder alle, deren Vor-
stellungslauf wesentlich neue Bahnen einschlägt. Er
sieht ihr Walten in allen Erscheinungsformen des
menschlichen Lebens : In der kaufmännischen Spekula-
tion, in dem strategischen Entwurf, in dem politischen
Plan usw. nicht minder als in Kunst und Wissenschaft.
R. führt schließlich die Phantasie auf 3 Formen
zurück. I. Die skizzierte Phantasie: sie sei
die ursprünglichste, einfachste, elementare, typische ;
ihre Kraft offenbart sich in voller Freiheit, unbeein-
flußt vom Nachahmungstrieb, von vernünftiger Über-
legung und von Erkenntnis der Naturgesetze. Das
Hauptbeispiel ist Traum und Träumerei. 2. Die
fixierte Form der Phantasie umfaßt die
mythischen und ästhetischen Schöpfungen, sowie die
philosophischen und wissenschaftlichen Hypothesen.
Die Erfindung der Phantasie tritt hier als Wirklich-
keit auf, ist nicht bloß rein subjektiv (für das In-
dividuum), sondern auch für die Umgebung vorhanden.
Es handelt sich also hier um die durch Kritik wert-
voll gemachte Phantasie. 3. Die objektivierte
Form der Phantasie umfaßt die praktischen,
mechanischen, industriellen, merkantilen, militärischen,
sozialen und politischen Erfindungen, soweit sie von
Erfolg begleitet sind. Diese Schöpfungen haben nicht
mehr eine willkürliche Wirklichkeit, sondern sind festen,
engbegrenzenden Existenzbedingungen unterworfen. Er
vergleicht darauf die 3 Formen in dualistischer Ter-
minologie mit I. einer Seele ohne Körper, 2. mit
einem Geiste, der von einer fast unstofflichen Hülle
umgeben ist (wie Engel, Dämonen), 3. mit Seele und
Körper (vollständige Organisation wie alles Lebende).
Hier teilt die Phantasie ihre nach R. außerordentliche
Herrschaft mit anderen Faktoren : sie wird gezügelt
durch die Umgebung. Beide sind aufeinander an-
gewiesen.
Die geistvollen, gewandt geschriebenen Auseinander-
setzungen Ribot's sind jedem, der sich für psycho-
logische Dinge interessiert, zu empfehlen, und das
sollte jeder Naturforscher sein, da der wissenschaftliche
Betrieb ohne Phantasie unmöglich ist. Wir hätten
nur den Wunsch, daß R. mitunter die Begriffe schärfer
formulierte und sich auch öfter von einer zu bilder-
reichen Sprache frei machte, die denjenigen, der nicht
sehr aufmerksam und verständnisvoll liest, verwirren
könnte. Es könnte dadurch R. leicht begegnen, daß
ihm von einem Kritiker, der nicht guten Willen mit-
bringt, Auffassungen untergeschoben werden, die in
Wahrheit gar nicht in R.'s Sinn liegen. Kl. u. P.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzel-
darstellungen für Gebildete aller Stände. Im Ver-
eine mit hervorragenden Fachmännern des In- und
Auslandes. Herausgeg. von Dr. med. L. L o e w e n -
feld und Dr. med. H. Kurella. Wiesbaden
(J. F. Bergmann). — Preis pro Heft i Mk.
Heft IX. Theodor Lipps, Das Sebstbe wußt-
sein; Empfindung und Gefühl. 1901.
Heft X. Dr. E. Storch, Muskelfunktion und
Bewußtsein. Eine Studie zum Mechanismus der
Wahrnehmungen. 1901.
Heft XL Prof. Dr. Albert Adamkiewicz, Die
Großhirnrinde als Organ der Seele. 1902.
Heft XIIL Dr. Wilhelm Schuppe, Der Zu-
sammenhang von Leib und Seele. Das
Grundproblem der Psychologie. 1902.
IX. L. weist zunächst auf die verschiedenen Sinne
des „Ichs" hin — Kleider-Ich (ich bin staubig),
Körper-Ich (ich habe Hunger), Gefühls- Ich usw. —
und sucht nun den eigentlichen Sinn der Ich-Vor-
stellung zu gewinnen; er kommt zu dem Ergebnis,
daß alle Ich- Vorstellungen auf ein und denselben Aus-
gangspunkt hinweisen, nämlich auf „das von mir un-
mittelbar erlebte Wollen." In diesem Wollen (im
Willen) sei das letzte, das Ur-Ich zu erblicken; da
wir uns nun aber ebenso wie wollend, so auch lust-
gestimmt, gekränkt, einer Sache gewiß usw. erleben,
so sei überhaupt das Gefühls-Ich das Ur-Ich: es
mache überall den letzten und eigentlichen Sinn des
Wortes Ich aus. Um diesen Kern herum liegen die
verschiedenen Außenzonen des Ich. Ihm zu Grunde
soll aber nach L. das reale Ich liegen, gleichgültig
wie man das Wesen dieses Substrates (der Psyche)
näher bestimmen möge.
Kritisch bemerken wir nun kurz, daß wir sowohl
bezügl. des Substrats-Begriffes Einwendungen zu machen
hätten, als auch, daß uns die Fassung des Ich-Be-
griffes nicht völlig zusagt. Wir würden uns lieber
mehr an Avenarius und Mach anschließen. Letzterer
versteht unter Ich „den an einen besonderen Körper
(den Leib) gebundenen Komplex von Erinnerungen,
94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6
Stimmungen, Gefühlen", d. h. also die Gesamtheit
aller erfahrenen „Elemente" körperli-her und un-
körperlicher Art, dieser Begriff ist demnach ein sehr
weiter und umfaßt eine in sich zusammenhängende
Erfahrungsgesamtheit (s. Mach, Analyse der Empfin-
dungen p. 2). Avenarius (Menschl. Weltbegriff p. 75 ff)
versteht unter Ich „ein bestimmtes Ganze von wahr-
genommenen Sachen (Rumpf, Arme und Hände, Beine
und Füsse, Sprache, Bewegungen usw.) und von vor-
gestellten Gedanken". Da die Gefühle bei Avenarius
sachhaften Charakter haben, sofern sie nicht bloß vor-
gestellt sind, so versteht Avenarius ebenfalls wie Mach
unter Ich eine in sich zusammenhängende Erfahrungs-
Gesamtheit.
X. Verf. will nachweisen, daß unser Bewußtseins-
leben nicht denkbar ist ohne Muskeltätigkeit. Den
Mechanismus der Zuordnung der Muskelfunktion zu
den Wahrnehmungsprozessen nennt er den Kernpunkt
seiner Theorie. Verf ist sich bewußt, das derartige
Ansichten schon sehr früh vertreten wurden, in der
letzten Zeit insbesondere von Bain und Stuart Mill;
die sehr selbstbewußte Art aber, wie er seine Be-
ziehungen zu diesen Vorgängen zum Ausdruck bringt,
berührt nicht angenehm.
XI. Ad. hat sich zur Aufgabe gestellt , seine
Forschungen über das Zentralorgan des Lebens, die
Großhirnrinde übersichtlich darzustellen. Er steht auf
einem durchaus materialistischen Standpunkt, insofern
für ihn die Betätigung dieses Zentralorgans das Seelische
ausmacht. Es bilden nämlich — wie er sagt — „die
Großhirnrinden-Ganglien selbst das Substrat und ihre
Funktion den Inbegriff der Seele." Als Übergang zum
Seelischen behandelt Verf. das Gedächtnis, das für
ihn nichts Geistiges ist (!), sondern nichts anderes als
eine physische Funktion, auf die sich die psychische
gründet. Verf behandelt darauf die Beziehungen der
Seiten des Seelenlebens zum Gehirn und zwar in einer
Weise, die manches Anregende, aber auch manches
sehr Bedenkliche bietet. Mit der wissenschaftlichen
Richtung in der Philosophie hat sich der Verf in
keiner Weise abzufinden gewußt.
XIII. Seh. behandelt zunächst das Wesen von
Ursache und Wirkung, dessen Beantwortung für die
vorliegende Frage grundlegend ist. Daher lehnt er
Rehmke's Ansichten ab, der die Wechselwirkung
zwischen Ding und Bewußtsein trotz ihrer Unbegreif-
lichkeit bloß deshalb angenommen habe, weil doch
eben nichts anderes übrig zu bleiben scheine. Ebenso
ist er gegen J. Petzoldt's Ansicht, der sich mit der
bloßen Tatsache begnüge, daß B dem A gefolgt,
A dem B vorangegangen sei, so oft es bekannter-
maßen beobachtet worden sei , und dann „Regel-
mäßigkeit" statuiere, also gegen den Standpunkt, der
das Verhältnis zwischen den Geschehnissen („Ursache
und Wirkung") als bloße Bedingtheit oder Abhängig-
keit (Funktion) auffaßt. Ferner bekämpft er auch
P.'s Ansicht über das Verhältnis von Seelischem und
Körperlichem, nach der „das Geistesleben durchgängig
und eindeutig Änderungen des Gehirns zugeordnet"
werden müsse. Sch.'s Lösung des Kausalproblems ist :
er setzt den kausalen Zusammenhang mit Notwendig-
keit gleich und diese identifiziert er mit dem Sein
selbst. Er will „dem Ursache- und dem Notwendig-
sein den Sinn geben : so ist das Sein, das ist es ; es
gehört zum a-Sein und zum b-Sein, daß wo und wann
auch immer a auftritt, das b ihm folgt, und wo und
wann auch immer b auftritt, das a ihm vorangegangen
ist." — LTns scheint der Streit mit P. ein Streit um
Worte zu sein ; denn beide Ansichten kommen auf
dasselbe hinaus, nur würden wir P.'s Fassung vor-
ziehen, weil sie einfacher ist.
Den Zusammenhang von Seele und Leib löst
Schuppe durch Betonung der Identität des Ichs mit
seinem Leibe. In der ursprünglichen Erfahrung findet
sich nichts von einem Gegensatz zwischen Körper
und Geist : unser Ich finden wir stets ausgedehnt vor.
Das Geheimnis des Zusammenhanges zwischen Ich
und Seele ist hierauf als auf die Ur-Tatsache zurück-
geführt. — Uns scheint diese Ansicht nicht klar genug
durchgeführt und begründet. Im übrigen müssen
wir die Schrift — trotz ihres etwas schweren Stils —
als die gedankenreiche Arbeit eines unserer tüch-
tigsten modernen Denker den näher Interessierten
empfehlen. Kl. u. P.
Dr. phil. Alois Rüscher, Göttliche Notwendig-
keits-Weltanschauung, Teleologie, Me-
chanische Naturansicht und Gottesidee.
Mit besonderer Berücksichtigung von Haeckel,
Wundt, Lotze und Fechner. Zürich (Albert Müller)
1902. — Preis 1.60 Mk.
Verf lehnt die Teleologie ab ; das Wertvolle,
Schöne und Erhabene, das man mit ihr bisher in
notwendige Verbindung brachte, erscheint dem Verf.
nicht an dieselbe gebunden, sondern als durchaus
vereinbar, ja tief begründet mit Notwendigkeits-Welt-
anschauung ; es müsse allerdings eine entsprechende
Neugestaltung des metaphysischen Gottesbegriffes statt-
finden : Gott müsse im Menschengeist gesucht und in
der Allbeseelung der Welt gefunden werden. Kl.
Prof Dr. J. H. Ziegler, Die universelle Welt-
formel und ihre Bedeutung für die wahre
Erkenntnis aller Dinge, i. Vortrag 1902.
2. Vortrag 1903. Zürich (Albert Müller). — Preis
ä i.5o Mk.
Unter der universellen Weltformel versteht Verf
,,den mathematischen Punkt oder den Lichtpunkt dieses
gleichzeitig affirmativen und negativen geometrischen
Zeichen der Urkraft oder Urbewegtheit, insofern als
es die Bilanz alles Seins und alles Nichtseins dar-
stellt." Glaubt man sich da nicht zurückversetzt in
die — also immer noch nicht überwundene — Natur-
philosophie Oken-, Schelling-, Hegel'scher Färbung? Kl.
Karl Alois Kneler, S. J., Das Christentum und
die Vertreter der neueren Naturwissen-
schaft. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts. Freiburg i. B. (Herder-
scher Verlag) 1903. — Preis 3,40 Mk.
Die in dem Buch behandelte Frage ist: „muß die
Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts schlechthin
und ganz allgemein als glaubensfeindlich angesehen
werden?" Verf unternimmt zur Beantwortung dieser
N. F. III. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
95
Frage einen Rundgang durch die verschiedenen Ge-
biete der Naturwissenschaften, von Mathematikern,
Astronomen etc. angefangen bis zu den Geologen usw.
und Biologen. Als Ergebnis desselben ergibt sich
ein bündiges „Nein".
optischen Untersuchungsmethoden in manchen Punkten
umgearbeitet und erweitert worden. Angehängt sind
dem Buch 41 Seiten umfassende Tabellen zum Be-
stimmen der 250 wichtigsten Mineralien.
Mein künftiger Beruf Praktische Anleitung zur Be-
rufswahl. Heft 52. Der philosophische
Doktorgrad. Nach amtlichen Quellen bearbeitet.
C. Bange's Verlag, Leipzig. — Preis 50 Pf.
Wer promovieren will , wird sich am besten an
die Fakultät um Auskunft wenden ; zur vorherigen
Orientierung aber ist das vorliegende Heft ganz zweck-
dienlich.
Dr. Alb. Schmidt, Die Mineralien des Fichtel-
gebirges und des Stein w aide s. Ein
Taschen- und Nachschlagebuch für Mineralogen
und Freunde des Gebietes. Bayreuth (Grau'sche
Buchhandlung) 1903. 84 Seiten. — Preis 1,50 Mk.
Der Verfasser hat seit mehreren Dezennien das
in mineralogischer Hinsicht sehr interessante Fichtel-
gebirge imd den Steinwald durchforscht und gibt nun-
mehr in tabellarischer Form eine Übersicht über alle
bis jetzt dort gefundenen Mineralien. In einem ein-
leitenden Kapitel werden die wichtigeren geotektoni-
schen Verhältnisse des Gebietes näher besprochen,
welche auf die Genesis oder Paragenesis der Mine-
ralien von F^influß waren. Dahin gehört in erster
Linie das Empordringen der Granite und Basalte mit
ihren Kontaktwirkungen und postvulkanischen Exhala-
tionsprozessen. Die einzelnen Mineralien sind in
alphabetischer Reihenfolge geordnet, und zu jedem ist
eine Anzahl von Fundorten angegeben. Ferner wurde
auf die geologische Erscheinungsform und die Be-
schaffenheit des umgebenden Nebengesteines Rück-
sicht genommen. Angaben über die chemische Zu-
sammensetzung und besondere Kristallformen , sowie
Notizen über die bergbauliche Gewinnung zu ver-
schiedenen Zeiten und die wirtschaftliche Bedeutung
vieler Mineralien machen die Arbeit zu einem schätz-
baren Nachschlagebuch für den Fachmann und jeden
Mineraliensammler. In dankenswerter Weise wurde
bei den meisten Mineralien die betreffende Literatur
vermerkt. Ein Register der einzelnen Fundorte mit
genaueren topographischen Angaben beschließt die
jedenfalls vielen als Führer willkommene Arbeit.
Harbort.
Dr. F. Klockmann, Prof a. d. Kgl. Techn. Hoch-
schule zu Aachen, LehrbuchderMineralogie.
3. verb. u. verm. Aufl. Mit 522 Figuren. Stutt-
gart (Ferdinand Enke) 1903. — 14 Mk.
Schon zweimal haben wir Gelegenheit gehabt, das
Buch Klockmann's in der Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift anzuzeigen : es ist ein beliebtes und
bewahrtes Lehrbuch geworden. Gegenüber der vor
ca. 3 Jahren erschienenen 2. Auflage hat in der
neuen u. a. das Theodolitgoniometer und die Messung
mit diesem Apparat eine Besprechung erfahren , sind
die scheniatischen Projektionsmethoden vervollständigt
und ist der Abschnitt über die Kristalloptik und die
Prof. Dr. F. Streintz, Das Leitvermögen von
gepreßten Pulvern. Mit 8 Abbild. Stuttgart,
F. Enke, 1903. 51 Seiten. Aus „Sammlung elektro-
technischer Vorträge", IV. Bd., Heft 3. — Preis
1.20 Mk.
Die Versuche, über welche Verf im vorliegenden
Hefte eingehend berichtet, erstrecken sich auf Platin-
mohr, Kohlenstoff und eine Anzahl von Metall-Oxyden
und -Sulfiden. Die Abbildungen stellen den ange-
wendeten Apparat und Kurven zur Veranschau-
lichung der Abhängigkeit des Widerstandes von
der Temperatur dar. Bei gewöhnlicher Temperatur
erwiesen sich nur jene dunkelfarbigen Verbindungen
als Leiter, die sich unter hohem Druck ohne Binde-
mittel in bestimmte Formen von metallischem Glanz
und Härte bringen lassen. Die Pulver sind Leiter
erster Klasse mit positiven Temperaturkoeffizienten.
Bei PIS, HgS, AgS,_, und Kohlenstoff ist das Leit-
vermögen bei gewöhnUcher Temperatur gering, wächst
aber mit zunehmender Temperatur besonders bei einer
bestimmten Umwandlungstemperatur sehr stark. Kbr.
Ph. Huber, Katechismus der Mechanik.
Siebente Auf läge, den Fortschritten der Technik ent-
sprechend neu bearbeitet von Prof. Walther Lange,
Direktor des Technikums der freien Hansestadt
Bremen. Mit 2x5 in den Te.xt gedruckten Ab-
bildungen. 269 S. 8". Leipzig J. J. Weber 1902.
— Preis geb. 3. So Mk.
Vor 5 Jahren hat der jetzige Bearbeiter des Huber-
schen Katechismus der Mechanik die 6. Auflage des
Buches geliefert, die so gut aufgenommen worden ist,
daß ihr schon bald die nächste hat folgen müssen.
Die kurze Zwischenzeit und das durch die Aufnahme
ausgesprochene Urteil der Leser konnten den Ver-
fasser bestimmen, bis auf Einzelheiten an dem Buche
nichts zu ändern ; nur ein Abschnitt ist stärker um-
gearbeitet worden, das die Kleinkraftmaschinen be-
handelnde Kapitel. — Für diejenigen, denen das Buch
bisher fremd geblieben war, sei aus dem Inhalt er-
wähnt, daß nach den Abschnitten über Grundbegriffe,
Bewegung, Kräfte, Widerstände, Festigkeit, einfache
Maschinen (S. i — 104), besonders die Wassermaschinen,
Pumpen, Dampfmaschinen, Windmotoren und Klein-
kraftmaschinen behandelt worden sind. A. S.
Grünberg, Victor, Hypothese zur Thermo-
dynamik. Leipzig. Barth, 1903. 73 S. 8". —
Preis 3 Mk.
O. E. Meyer spricht in seiner kinetischen Theorie
der Gase davon, daß den kleinsten Teilchen der
Körper nicht nur fortschreitende, sondern auch kreisende
Bewegung zuzuschreiben ist, ähnlich wie es bei den
Planeten der Fall ist. Hieran anknüpfend untersucht
nun der Verfasser die Folgerungen, die sich ergeben,
wenn die Kepler'schen Gesetze der Planetenbewegung
auch bei der Bewegung der Moleküle gelten. Die
96
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 6
Bahnen werden der Einfachlieit wegen zunächst kreis-
förmig angenommen, so daß für die FHehkraft der
Ausdruck mv-/r gilt. Dabei kommt der Verfasser zu
Resultaten, die mit dem Mariotte - Gay - Lussac'schen
Gesetz, der Kroenig'schen Formel (PV = NMG-/3),
dem Werte des Quotienten k der beiden Werte für
die spezifische Wärme bei einatomigen Gasen u. a. in
der besten Übereinstimmung sind, so daß die vorliegende
Hypothese jedenfalls ein wertvolles Mittel zur Auf-
fassung der molekularen Vorgänge ist. A. S.
Jahrbuch für Photographie und Reproduktions-
technik für das Jahr 1903. Unter Mitwirkung
■ hervorragender Fachmänner herausgegeben von Hof-
rat Dr. Josef Maria Eder, Direktor der k. k.
Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien,
o. ö. Professor an der k. k. Technischen Hoch-
schule in Wien. Siebzehnter Jahrgang. Mit 220
Abbildungen im Texte und 2 7 Kunstbeilagen. Halle a.S.
Druck und Verlag von Wilhelm Knapp. 1903. —
Preis 8 Mk.
Das vorliegende Jahrbuch enthält wiederum so
zahlreiche Beiträge, daß eine Vorführung derselben
hier nicht angängig ist : zweifellos ist es ein vorzüg-
liches Repertorium über das Neueste, das auf dem
Gebiet in letzter Zeit geleistet wurde. Mitgearbeitet
haben an dem Bande : Prof Dr. G. Aarland in Leip-
zig, Prof. August Albert in Wien, Karl Albert in Prag,
Prof. E. Dolezal in Leoben, Dr. G. Eberhard in Pots-
dam, Prof. Dr. Anton Elschnig in Wien, Prof. Dr.
E. Englisch in Stuttgart, Dr. Leopold Freund in Wien,
Johannes Gaedicke in Berlin, Dr. H. Harting in Braun-
schweig, Dr. J. Hartmann in Potsdam, Dr. Georg
Hauberrisser in München, Karl Hazura in Wien, Dr.
B. Homolka in Höchst a. M., Oberst A. Freiherr
V. Hübl in Wien, Dr. Jaroslav Husnik in Prag, K. Kamp-
mann in Wien, Dr. K. Kaßner in Berlin, Prof. H. Keßler
in Wien, Henry Oskar Klein in London, Dr. E. König
in Höchst a. M., Prof. Hermann Krone in Dresden,
Eduard Kuchinka in Wien, Max Löhr in Paris, Gebr.
Lumiere in I,yon, Dr. Lüppo-Cramer in Frankfurt a. M.,
Kustos Gottlieb Marktanner - Turneretscher in Graz,
K. Martin in Rathenow, A. Massak in Wien, Wilhelm
Müller in Wien, A. Nadherny in Wien, Prof Dr. Ro-
dolfo Namias in Mailand, Dr. R. Neuhauß in Groß-
lichterfelde bei Berlin, Franz Novak in Wien, Raimund
Rapp in Wien, Dr. R. A. Reiß in Lausanne, Josef
Rheden in Wien, Ernst Ruhmer in Berlin, Prof Dr.
K. Schaum in Marburg a. d. Lahn, Prof Dr. G. C.
Schmidt in Erlangen, Dr. N. Schwan in Höchst a. M.,
Prof. Dr. Karl Schwarzschild in Göttingen, Dr. Seye-
witz in Lvon, A. Sieberg in Aachen, R. Thiele in
Moskau, Ludwig Tschörner in Wien, Arth. Wilh. Unger
in Wien, Wilhelm Lhban in München, Prof. E. Valenta
in Wien, Karl Visbeck in Stettin, Wilh. Weißen-
berger in St. Petersburg, Karl Worel in Graz.
Literatur.
Bau u. Bild Österreichs v. Carl Diener, Rud. Hoernes , Frz.
E. Suess u. Vict. Uhlig. Mit e. Vorworte v. Eduard Suess.
Mit 4 Titelbildern, 250 Tcstabbildgri., 5 Karten in Schwarz-
druck u. 3 Karten in Farbendr. (XXIV, 1 1 10 S.) Lex. 8".
Wien, F. Tempsky. — Leipzig '03, G. Freytag. — 65 Mk.
Dannemann, Dr. Frdr. ; GrundrilS e. Geschichte der Natur-
wissenschaften. Zugleich e. Einführg. in das Studium der
grundleg. naturwissenschaftl. Literatur. II. Bd. Die Ent-
wickl. der Naturwissenschaften. 2., neu bearb. Aufl. Mit
87 Abbildgn. zum gröüten Tl. in Wiedergabe nach den
Orig.-Werken, i Bildnis von Galilei u. I Spektraltaf. (VII,
450 S.) gr. 8". Leipzig '03, W. Engelmann. — 10 Mk. ;
geb. in Leinw. 1 1 Mk.
Hagen, Dir. Joh. G.: Synopsis der höheren Mathematik.
III. Bd. Differential- und Integralrechnung. 4. Lfg. (S.
129 — 256.) gr. 4°. Berlin '03, F. L. Dames. — 5 Mk.
Briefkasten.
Herrn Z. — Es ist experimentell festgestellt worden
(vgl. z. B. Comptes rendus de l'Academie des sciences. Paris
1898. Bd. CXXVII p. 669), daß sowohl bei Tieren als auch
bei Pflanzen die Entstehung von Weibchen durch
höhere Temperatur begünstigt wird. MoUiard
hat dies 1. c. für Mercurialis annua nachgewiesen. Nach
Düsing wird in ein und demselben Lande das Geschlecht
durch die im Augenblicke des Erscheinens herrscliende Tem-
peratur beeinflußt: es werden in den wärmsten Monaten be-
trächtlich mehr Mädchen hervorgebracht. Schlechter be-
hauptet dasselbe in betreft" der Pferde, von Siebold hat
gezeigt, daß aus befruchteten Eiern des Nematus ventricosus
um so mehr Weibchen eutstanden, je höher die Temperatur
war ; in diesem Falle variierte aber zugleich noch ein anderer
Faktor, nämlich die Reichlichkeit der Nahrung zugunsten der
Hervorbringung von Weibchen.
Herrn P. P. in B. In der Besprechung des Wahn-
schafife'schen Buches „Wissenschaftliche Bodenuntersuchung"
hat sich ein Fehler im Ausdruck eingeschlichen. Es muß am
Schlüsse statt ,, Inhaltsverzeichnis" heißen: ,, Alphabetisches
Sachregister". Das Fehlen eines solchen macht sich in der
Tat in fühlbarer Weise geltend.
Herrn Dr. G. in M. — Für die erste ziemlich eingehende
Orientierung über die Geologie der Alpen sind sehr zu em-
pfehlen: l) Fraas, Szenerie der Alpen (T. O. Weigel Nachf.)
Leipzig 1892. 2) Noe, Geolog. Übersichtskarte der Alpen
(Eduard Hölzel) Wien, 1890. 3) Das eben erschienene Werk
,,Bau und Bild der Ostalpen und des Karstgehietcs" (F.
Tempsky in Wien und G. Freytag in Leipzig 1903) bietet
eine eingehende treffliche Übersicht über die Ostalpcn.
Herrn A. J. in Königsberg a. d. Eger. — Schöne und
exakte Pilzmodelle zu Lehrzwecken erhalten Sie von Herrn
Lehrer Wagner zu Schifi'weiler bei Wiebeiskirchen in der
Rheinprovinz.
Inhalt: Dr. Felix Lampe: Der 14. deutsche Geographenlag. — Kleinere Mitteilungen: Alfred Lauffs: Über einige
physiologische Wirkungen des Perchlorats auf die Pflanze. — Dr. C. Ochse nius: Wasserkissen als Ursache plötzlicher
Bodensenkungen in der Mark Brandenburg. — S 1 i p h e r : Venusrotation. — HeleneNiehus: Die Gewinnung des indischen
Rosenöls. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Th. Ribot: Die Schöpferkraft der
Phantasie. — Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. — Dr. phil. Alois Rüscher: Göttliche Notwcndigkeits-
Weltanschauung, Theologie, Mechanische Naturansicht und Gottesidee. — Prof. Dr. J. H. Ziegler: Die universelle
Weltformel und ihre Bedeutung für die wahre Erkenntnis aller Dinge. — Karl Alois Kneler, S. J. : Das Christen-
tum und die Vertreter der neueren Naturwissenschaft. — Mein künftiger Beruf. — Dr. Alb. Schmidt: Die Mineralien
des Fichtelgebirges und des Steinwaldes. — Dr. F. K lockmann: Lehrbuch der Mineralogie. — Prof. Dr. F. Streintz;
Das Leitvermögen von gepreßten Pulvern. — Ph. Huber: Katechismus der Mechanik. — Grünberg, Victor;
Hypothese zur Thermodynamik. — Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1903. — Lite-
ratur : Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redalctcur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sclie Buchdr,), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC iNätUr' (Halle a. S.) seit i. April 1902,
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin,
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 15. November 1903.
Nr. 7.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der l'ost
15 PIg. extra, rostzcitungslistc Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Potilzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, BuchhändU-rinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Wird der Skorpion durch seinen
[Nachtlruck vei boten Von Prof. Dr
Von einem Leser der naturwissenschaftlichen
Wochenschrift wurde die Frage an die Redaktion
gerichtet, ob der SI<orpion durch seinen Biß oder
Stich gefährlich werden könne. — Ich will ver-
suchen diese Frage im nachfolgenden an der Hand
der mir bekannten wichtigeren Literatur zu be-
antworten. — Es wird sich ergeben, daß die An-
sichten in diesem Punkte noch sehr geteilt sind.
Freilich dürfte es kaum einen Autor auf diesem
Gebiete geben, der alle Arten der Skorpione allen
Menschen, auch Kindern gegenüber für völlig un-
gefährlich hielte.') Über die Größe der Gefahr
aber gehen die Ansichten weit auseinander.
Man kann der Frage von verschiedener Seite
nähertreten. Der anatomische Befund ergibt zu
nächst, daß in der blasenförmigen Erweiterung
des letzten Schwanzsegmentes zwei Drüsen liegen,
deren Ausführungskanäle vor dem Ende des sehr
spitzen Endstachels getrennt ausmünden.'-') Die
scherenförmigen Mandibcln oder Chcliceren, welche
') Verhältnismäßig günstig urteilt A. W. M. van Hasselt
in: Tijdschr. voor Entmum. v. 8 p. 100, 1S65.
'') Vgl. M. J. Joyeu.s Laffuie in: Arcli. Zool. exper.
(2. ser.) V. I p. 733 pl. 30, 1884.
Stich dem Menschen gefährlich?
Friedr. Dahl.
den klauenförmigen, mit Drüse versehenen Man-
dibeln der Spinnen homolog sind, enthalten hier
keine Drüsen. Diesem Bau entsprechend geht
der Skorpion, wie schon im Altertum bekannt war,
mit gehobenem über den Körper gebogenen
Schwänze auf seinen Feind und auf stärkere Beute-
tiere los, und zeigt uns sofort, daß seine Waffe
sich im Schwänze befindet.') Leicht beobachtet
man auch, wie der Skorpion seinem (jegner mittels
des Schwanzstachels einen Stich beibringt -) und
ebenso ließ sich die tödliche Wirkung dieses
Stiches bei kleineren Gegnern ohne Schwierig-
keit beobachten. Aus alledem geht mit Evidenz
hervor, daß es sich in dem genannten Organ um
einen Giftapparat, um Giftdrüsen mit zugehörigem
Stachel handelt. Es liegt vorderhand nicht der
geringste Grund vor, anzunehmen, daß auch der
Biß giftige Wirkung habe, wie ein neuerer Autor
will, selbst wenn man dies an gewissen Orten im
Volke glaubt.
') Vgl. P. G e r V a i s in : Walckenaer, llistoire naturelle des
Insectes. Apteres, v. 3 p. 35, 1844. Joussct deBeUesme
in ; Ann. Sei. nat. (5. ser.) v.'ig Art. 1 1, 1874 u. K. J. Pocock
in: Nature v. 48 p. I04IT., 1883.
-) M. J. Joyeux Laffuie 1. c.
98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. R III. Nr. 7
Um die Wirkung des Giftes auf größere und
höhere Tiere festzustellen, ließen frühere Autoren
diese Tiere einfach vom Skorpion stechen.^)
Es zeigte sich, daß warmblütige Tiere, Vögel
und Säugetiere bis zur Größe eines Hundes, in
den meisten Phallen dem Stiche erlagen. Die Ver-
suche zeigten mit unendlich viel größerer Sicherheit
als ähnliche Versuche bei Giftspinnen (vgl. Naturw.
Wochenschr. N. F. Bd. I p. 346) die Tödlichkeit des
Giftes. Immerhin litten sie an dem Mangel, daß
man bei negativem Erfolge, wie er sich nament-
lich kaltblütigen Wirbeltieren gegenüber zeigte,
nicht kontrollieren konnte, ob das Gift wirklich
in die Blutbahnen gelangt sei. Deshalb bedienten
sich spätere Autoren anderer Methoden. Durch
Einspritzungen suchte man das Gift unmittelbar
in die Blutbahnen des Körpers überzuführen. Und
zwar gewann man das Gift zunächst aus den
Drüsen des zerlegten Tieres,-) bis man es in
neuester Zeit gewissermaßen durch ein Abmelken
von lebenden Tieren gewinnen lernte.'^) Geleitet
wurde man vielleicht durch die Beobachtung, daß
ein Skorpion, wenn er gereizt wird, einen Tropfen
des Giftes aus der Drüsenmündung hervortreten
läßt. Durch Elektrizität übte man einen Reiz un-
mittelbar auf die Drüse aus und konnte dabei
3 — 10 Tropfen von verschiedener Größe gewinnen,
die ersten wasserhell, die letzten milchigtrüb. Nach
15 — 20 Tagen konnte man denselben Skorpion
von neuem wieder melken. In dieser Weise hatte
man es in seiner Hand eine gewogene und ge-
messene Menge des reinen, unvermischten Giftes
in die Blutbahnen der Versuchstiere zu übertragen.
Es ergab sich, daß schon eine Menge von 0,1 mg
des Giftes von Buthus australis (L.) ein Meer-
schweinchen von 500 — 600 g in 1V2 Stunden
tötete. Einer Menge von i — 1,5 mg erlag ein
Hund von 15 — 20 kg in etwa 10 Stunden. Ferner
zeigten die Versuche der verschiedenen Autoren,
daß Insekten und Spinnen, namentlich diejenigen
Tiere, welche dem Skorpione zur regelmässigen
Nahrung dienen, ganz besonders empfindlich sind.
Weniger empfindlich als Gliederfüßler und Warm-
blüter zeigten sich Frösche und noch weniger
empfindlich Fische und Mollusken. Am schwächsten
war die Wirkung des Giftes auf den Skorpion
selbst und auf verwandte Arten. Es war dieses
letztere Ergebnis besonders deshalb interessant,
weil es eine alte Fabel, welche manche Beobachter
auch noch in neuerer Zeit glaubten bestätigen zu
können, daß nämlich der Skorpion, wenn er von
glühenden Kohlen umgeben *) (oder, wie ein Autor
') Fr. Redi, Opusculorum v. 2 p. 13, 1729; Mau-
pertuis in: Mem. Ac. sei., 1731 p. 223; Guyon in: Rev.
Mag. Zool. V. 1842 p. 17 u. ser. 2 v. 17 p. 17, 1865 u. P.
Mantegazza in: Bull. Soc. ent. Ital. v. 11 p. 73, 1880.
*) P. Bert in: CR. Soe. biol. v. 1865 p. 136; Jousset
de Bcllesnie in: Ann. Sei. nat. (Zool.) (5. ser.) v. ig .\rt. ii
1874; Jo yeux-Laffuie in: Arch. Zool. exper. (ser. 2) v. i
p. 733, 1884 u. Calmette in: Ann. Inst. Pasteur, avril 1895.
») C. Phisalix et W. de Varigny in: Bull. Mus.
Hist. nat. Paris v. 2, p. 67 1896.
••) A. Thomson in: Nature v. 20 p. 577, 1879 uiul
G i 1 1 m a n in : Nature v. 20 p. 620.
will, mit Spinngewebe gefesselt ')) werde, -Selbst-
mord begehe, gründlich widerlegte.-) — Daf:^ der
Skorpion, sobald er sich unbehaglich fühlt, sich
mittels seines Stachels gegen den vermeintlichen
Feind zu verteidigen sucht und sich im Ver-
zwciflungskampfe gegen die Hitze auch wohl selbst
sticht, scheint freilich festzustehen, der Tod aber
tritt nach allen Beobachtungen, die jetzt vorliegen,
zu urteilen, infolge der großen Hitze cin.'^)
Die neueren Versuche haben weiter gezeigt,
daß der zuerst austretende Teil des Giftes weit
wirksamer ist, als der später austretende, daß der
Skorpion sich also wohl bei wiederholtem Stechen
inmier mehr erschöpft. Ferner zeigte sich, daß
die gleiche Menge des Giftes von verschiedenen
Arten verschieden wirksam ist. So wirkt das Gift
von Buthus australis (L.) weit stärker als das
von .S c o r p i o m a u r u s L. Auch das Blut des
Skorpions erwies sich übrigens als sehr stark-
giftig.^)
Was die Wirkung des Giftes auf den Menschen
anbetrifft, so liegen auch darüber zahlreiche Be-
obachtungen vor. Aus den bisher mitgeteilten Ver-
suchen über die Einwirkung des Giftes auf warm-
blütige Wirbeltiere läßt sich schon mit einiger
Sicherheit schließen, daß dasselbe auch dem
Menschen gegenüber kaum wirkungslos sein kann.
Dieser Schlul.5 wird durch die unmittelbare Be-
obachtung bestätigt. Als besonders zuverlässig
kann uns natürlich das gelten, was Forscher an
sich selbst beobachtet haben, wiewohl die Selbst-
beobachtung bekanntlich nicht ganz objektiv ist.
Immerhin mögen hier die Namen derjenigen Forscher
genannt werden, welche uns in der Literatur aus
eigener Erfahrung über Stiche berichten. Es sind
A. Maccary'), L. Dufour'^), E h re nb erg '),
A. P. Ninni*), A. Costa») und E. Simon'").
Die Symptome werden von allen in ähnlicher
Weise geschildert. Erst lokal ein sehr starker
Schmerz verbunden mit Rötung und Schwellung.
Dann Ausbreitung des Schmerzes auf weitere Teile
des Körpers, verbunden mit Schlaflosigkeit, Kälte-
gefühl etc. Der Schmerz verlor sich in i — 3
Tagen. In keinem Falle trat der Tod ein.
Indessen meint Ehrenberg, der von der gefähr-
lichsten Art (Buthus australis) gestochen wurde,
daß Kinder und Frauen vielleicht dem Schmerze
erliegen könnten, während ein kräftiger Mann ihn
ertrage.
') Baer in: Bull. Ent. France v. 1886 p. LXXV.
^) Vgl. A. C. Bourne in: Proc. Roy. Soc. v. 42 No. 251,
p. 17, 1887 u. E. Lönnberg in: Öfvers. Vet.-.\k. Förli. v.
56 p. 982, 1899.
') C. Lloyd-Morgan in: Nature v. 27 p. 313, 1883 und
R. J. Pocock in: Nature v. 48 p. I04ff., 1893.
*) Phisalix et de Varigny 1. c.
') A. Maccary, Memoire sur le scorpion, qui sc trouve
sur la montagne de Cette, An X.
"1 L. Dufour in: Journ. Physique v. 84 p. 4411'.
■) Ehrenberg, Symbolae physicae p. ult. 1831.
*>) A. P. Ninni in: Resoconti Soc. ent. Ital. v. 1881 p. 18.
") A. Costa in: Rendic. .Acc. Sei. fis. mat. Napoli
2. ser. V. 6 p. 144, 1892.
'") E. Simon in: Bull. Soc. ent. Ital. v. 1892 p. 96.
N. V. III. Nr
Natur wissenschaftliche Woclieiischrift.
99
Weniger zuverlässig als die Beobachtungen am
eigenen Körper sind die Vergiftungsfälle durch
Skorpione, über welche uns Arzte berichten. Der
Arzt ist nämlich auf die Zuverlässigkeit der An-
gaben seiner Patienten angewiesen und wenn diese
auch absichtlich seltener ihrem Arzte die Unwahr-
heit sagen, so steht doch fest, daß Ungebildete,
namentlich Kinder, bei Naturbeobachtungen leichter
Täuschungen unterworfen sind als Gebildete. Die
größte Zahl der wirklich zur Beobachtung ge-
langten tödlich verlaufenen Fälle ist aus Nord-
afrika bekannt geworden'). Dann liegen in der
Literatur, soweit ich sehe, Fälle von den Antillen,-)
aus Mexiko '') und aus Südafrika ■*) vor.
^) Guyon in: Rev, Mag. Zool. (2. ser.) v. 4 ]>. 151,
1852, V. 16 p. 327, 1863 u, V. 19 p. 235, 1867.
-) Guyon in: Gazette tredicale de Paris 1861.
') E. 11. Tliompson in: l'roc. Ac. nat. Sei. l'liila-
dclpliia V. 1886 p. 299.
*) Baclimann in: Vcili. Ges. Deutscli. Naturf. u. .\rzte,
73 Vers. Hanib. 1902. Teil II, 2 p. 5S4. — In dem genannten
.\ufs:.tz ist gesagt, daß sicli die Skorpione, welche die beiden
beobachteten Fälle veranlaßt hatten, im Museum für Natur-
kunde zu Berlin befinden sollen. Ich liatte Herrn Dr. Bachmann
schon brieflich mitgeteilt, daß sie in der Arachnidcnsammlung
des Museums nicht vorhanden sind. Da sie vor meiner
Amtszeit eingegangen sein müßten, Ivann ich leider über
ihren Verbleib nichts sagen.
Wo Statt der Einzelfälle allgemeine Angaben
gemacht werden, treten Übertreibungen auf, die
sich z. T. ins Ungeheuerliche steigern. So wird
aus Durango in Mexiko berichtet, daß von den
15 — 16000 Einwohnern jährlich 200 — 250 Kinder
dem Skorpione zum Opfer fallen. Die Kinder
sollen nämlich nachts mit der Laterne ausgeschickt
werden um Skorpione zu fangen und dabei be-
sonders exponiert sein. In den drei heißen Monaten
sollen in manchen Jahren 70 — 1 00 000 Skorpione
gesammelt und gegen die festgesetzte Prämie ein-
geschickt werden. ' )
In manchen Ländern, die zahlreiche Skorpione
beherbergen, sind tödliche Stiche bei den Ein-
wohnern gänzlich unbekannt.') Aber auch dort,
wo tödliche Stiche beobachtet sind, sind es nur
bestimmte Arten, deren Stich für den Menschen
lebensgefährlich ist.'') So sind die Arten der in
Europa verbreiteten Gattung E u s c o r p i u s nach
den Angaben der Autoren völlig ungefährlich. Von
allen Arten die gefährlichste ist vielleicht Buthus
australis in Nordafrika.
') Mem. med. milil. avril 1865 No. 64.
-) Vgl. van Hassel t in: Tijdschr. l'"ntom. v. S p. 100.
■'1 Vgl. außer Khrenbcrg, Guyon etc. Wagner, Reise in
Algier V. 3 p. 21511".
[Xiiclidiuck verL)ulcu.]
Neue Hilfsmittel der Meteorologie.
\"on iJr. Julius Reiner.
An Apparaten zur genauen Messung der Luft-
temperatur, Luftfeuchtigkeit und Dichte usw. hat
CS schon in früheren Jahrhunderten nicht ge-
fehlt, obwohl sie noch nicht so vollkommen und
zuverlässig waren, wie die der Gegenwart. Die '
Meteorologie war aber früher auf die Untersuchung
der untersten Luftschichten allein ange-
wiesen. Von diesen aus suchte man die Gesetze
des ganzen Luftmeeres zu erschließen. Es zeigte
sich aber bald, daß in den oberen Luftschichten
ganz andere Verhältnisse vorkommen, die sich auf
dem Wege der Analogie nicht klarstellen lassen,
und die einen großen Einfluß auf den Gang der
Witterung in den untersten Luftschichten ausüben.
Man sann daher auf Mittel, einen ähnlichen L^ber-
blick, wie wir ihn heute alltäglich über die Vor-
gänge am Grunde des Luftmeeres erhalten, auch
für die höheren Schichten desselben zu gewinnen.
Man kam bereits in den sechziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts auf die Idee, meteoro-
logische Stationen auf hohen Berggipfeln einzu-
richten, damit man auch über die Vorgänge in
den höheren Luftschichten sich orientieren kann.
Als im Jahre 1879 der zweite meteorologische
Kongreß in Rom zusammentraf, da war auch die
auf Gründung meteorologischer Observatorien auf
Berggipfeln gerichtete Bewegung schon in vollem
Gange. Zu den bereits früher gegründeten Ob-
servatorien im Alpengebiete — Rigi (17^4 ni).
Chaumont (11 52 m), Gäbris (1250 m). Ober (2043 '"n)
und .Schafberg (1776 m) — traten die Stationen
des Signal Service auf dem Mt. Washington (191 6 ni)
und dem Pikes Peak (4300 m). In Frankreich
wurde ein Observatorium auf dem Gipfel des Pic
du Midi (2859 m), in Österreich auf dem Sonn-
blick (3096 m) und in Deutschland auf der Zug-
spitze (2964 m) und noch einige andere gegründet.
Allein nicht überall sind geeignete oder über-
haupt Berggipfel zu haben. Man sann daher auf
weitere Mittel , die höheren Luftschichten , aucli
über das höchste Niveau der Berge hinaus, zu er-
forschen. Es kamen nun folgende Hilfsmittel in
Betracht: der bemannte und der unbemannte Ballon
und die Drachen.
Der bemannte Ballon hat schon zu Beginn des
XIX. Jahrhunderts dazu gedient, die Vorgänge in
den hohen Luftschichten erforschen zu helfen. Von
den nicht vereinzelten Fällen nennen wir nur den
von Gay-Lussac, der am 16. September 1804
mit seinem Ballon bis zu einer Höhe von 7016
Meter vordrang. Er erstattete über diesen Aus-
flug der französischen Akademie einen eingehenden
Bericht, der in der Gelehrtenwelt viel Aufsehen
machte. Die königliche Gesellschaft zu Kopen-
hagen hat sogar im Jahre 1809 ein Preisausschreiben
erlassen, um die Untersuchungen nach dieser Rich-
tung hin zu fördern. Das Thema dieser Preis-
aufgabe lautete : „Welche Erweiterungen haben die
Meteorologie und die Lehre von der Beschaffen-
heit der höheren Luftschichten durch die bisher
lOO
Naturwissenschaftliche Woclieiischrift.
N. F. III. Nr. 7
angestellten Experimente erfahren? Wie sind die
Versuche mit geringeren Kosten und kleineren
Luftbällen, die keine Person tragen, derartig ein-
zurichten, dai3 daraus Gesetze über die Elektrizität
der oberen Atmosphäre, über das Quantum des
Sauerstoffs, Stickstoffs und der Kohlensäure, die
in einer gegebenen Höhe und in einem gegebenen
Luftvolumen enthalten sind, über die Richtung der
Winde in größerer T^öhe, über die Temperatur
und andere dergleichen Verhältnisse hergeleitet
werden können ?"
Die in dieser Preisaufgabc gestellten Fragen
wurden erst in den letzten Jahren des abgelaufenen
Jahrhunderts einer eingehenden Behandlung unter-
zogen. Der meteorologische Drache und
der unbemannte Ballon mußten erst den
neuen Zielen dienstbar gemacht werden.
Die ersten Versuclie mit dem meteorologischen
Drachen reichen bis auf das Jahr 1S93 zurück.
die gegenwärtig von der meteorologischen Draclien-
station im Luftschiffer- Übungspark in Petersburg
mit Erfolg fortgesetzt werden.
Auch in Belgien und Österreich hat man dem
neuen Hilfsmittel der Meteorologie besondere Be-
achtung gewidmet. Im letzgenannten Lande wurde
sogar von dem Ingenieur Hugo L.Nickel ein Drache
eigenen Systems erbaut , das von der Wiener
meteorologischen Zentralanstalt adoptiert wurde.
In Deutschland wurde im Frühling 1899 eine
aeronautische Abteilung am Preußischen Meteoro-
logischen Institut (Berlin) gegründet und zwei Be-
gründer derselben, Professor Assmann und Herr
B e r s o n, zur Erlernung der meteorologischen
Drachentechnik im Sommer 1899 nach Trappes
gesandt. Es wurde dann mit einem großen Kosten-
aufwande eine meteorologische Drachenstation in
der Nähe von Berlin errichtet, die auch für Ver-
suche mit Drachcnballons eingerichtet ist.
Der Hargravc-Drache.
Es gehört ein großes Maß von Geduld dazu,
um mit einem so launischen Werkzeug Versuche
anzustellen. Erst [durch jahrelange Ausdauer ist
es einigen Männern gelungen, den Drachen aus
einem Kinderspielzeug zu einem wichtigen wissen-
schaftlichen Hilfsmittel der Meteorologie zu machen.
Die Amerikaner und Engländer haben sich um
die Dienstbarmachung des Drachens für meteoro-
logische Zwecke besonders verdient gemacht. In
Europa hat man erst später der Sache sich zu-
gewandt. Teisserenc de Bort hat auf seinem
Privatobservatorium in Trappes bei Paris mit
Hilfe platter sechseckiger Drachen Versuche an-
gestellt, die dann von vielen anderen nachgeahmt
und ausgebaut wurden.
In Rußland hat das St. Petersburger Physi-
kalische Zentral-Observatorium auf seiner Filiale
in Pavlofsk die Vorversuche mit den Drachen zur
Erforschung der höheren Luftschichten begonnen.
Neben dieser Institution verdient auch die
Drachenstation der Deutschen Seewarte in Ham-
burg unter Leitung von Professor W. Koppen
besonders hervorgehoben zu werden. Koppen hat
sich durch seine Monographie „Erforschung der
freien Atmosphäre mit Hilfe von Drachen" um
die wissenschaftliche Seite der Frage verdient ge-
macht, seine Untersuchungen versprechen auch in
Zukunft sehr wertvolle Ergebnisse, da er der Flug-
und Steigkraft der Drachen besondere Aufmerk-
samkeit widmet. Er hat auch einen Drachen
eigner Konstruktion hergestellt, mit dem er ganz
gute Resultate erzielt hat. Unter seiner Leitung
wurde auch in den Monaten April bis Juli 1901
die Drachenausrüstung für die Deutsche Südpolar-
Expedition hergestellt.
Von den jetzt für meteorologische Zwecke ge-
brauchten Drachen verdienen folgende Typen ge-
nannt zu werden.
N. F. III. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
lOI
Der Edd}'-Malay -Drac h en ist ungefäiir
ebenso breit wie lang, sein Gerüst besteht aus
nur zwei Stöcken, deren einer die gerade Mittel-
rippe bildet, während der Querstock rückwärts
gebogen ist und in einer Entfernung von 20",,
der Länge vom Kopfe des Drachens an die Mittel-
rippc angesetzt ist. Als Material für das Gerüst
dienen Fichtenstäbe, als Bezug wird leichtes Baum-
wollzeug angewendet, gewöhnlich von roter Farbe,
damit der Drache in der Höhe leichter zu be-
merken ist.
Fig. 2. Befestigung des Hargrave-Dradicn.
Der H a r g r a V e - D r a c h e , vom Erfinder Law-
rence Hargrave zu Sydney in Australien „Zellen -
drachen" und in letzter Zeit oft auch „Kasten-
drachen" genannt, besteht aus zwei oder mehreren
Zellen von Zeug, in der Form von Kästen ohne
Boden und Deckel, die durch Rahmen gespannt
erhalten und miteinander verbunden sind. Das
Washingtoner Weatherbureau ist mit einem Drachen
nach diesem System ausgestattet (Fig. i). Aut
dem Privatobservatorium des Herrn Teisserenc
de Bort in Trappes befindet sich ein nach
dem Hargravesystem modifizierter Drachen, mit
dem gute Erfolge erzielt wurden. Teisserenc de
Bort äußert sich darüber in einem Briefe an Pro-
fessor Koppen folgendermaßen. ,,Ich halte diesen
Drachen für sehr gut. Einer derselben trug meinen
Registrierapparat 1800 m hoch, ungefähr 13 kg,
ohne das Gewicht des Drachens zu rechnen."
Besondere Schwierigkeiten bereitet hauptsäch-
lich das Steigenlassen der Drachen, es gehört eine
durch lange Erfahrung erworbene Geschicklichkeit
dazu, um den Drachen im richtigen Momente frei
zu lassen. Ebenso ist es notwendig, die Befesti-
gung des Seiles am Drachen richtig anzubringen,
damit daraus keine Hemmungen für die freie Be-
wegung erwachsen. Die auf dem Blue Hill zur-
zeit angewendete Art veranschaulicht die oben-
stehende Zeichnung des Herrn Rotch (Fig. 2).
Die Schnüre A,, Aj, A.^ bestehen zum Teil
aus Kautschuk und dehnen sich bei zunehmendem
Winde aus, wodurch die Spannung von der un-
elastischen Schnur B übernommen wird und der
Drache flach auffliegt.
Zum Schluß wollen wir noch den Treppen-
drachen, System Professor Koppen (Fig. 3), nennen,
mit dem der Erbauer gute Erfolge erzielte.
Der eigentliche Zweck der Drachenaufstiege
beruht darin, daß man am Drachen einen „Meteoro-
g r a p h" befestigt, der die Vorgänge in den höheren
Luftschichten registriert. Die Verwendung der
Drachen für meteorologische Zwecke hat ihre Be-
deutung erst durch die Konstruktion geeigneter
Registrierapparate erhalten, die der Drache bei
seinem Aufstiege mit in die Höhen führt.
Einigen Herren von dem Aeronau-
tischen Observatorium zu Berlin ist es
gelungen, den Drachen mit den
Registrierapparaten bis zu einer Höhe
von 5475 m steigen zu lassen. Pro-
fessor Dr. A s s m a n n berichtet darüber
folgendes. Am 6. Dezember 1902 ist es
geglückt, bei der herrschenden starken
östlichen Luftströmung, welche die
Drachen über die harmlose, von großen
Wäldern bedeckte Gegend bei Spandau
(Berlin) führte und deshalb die Benutzung
eines Drahtes von 10 km Länge mit
sechs Drachen gestattete. Zwar riß
der Draht, nachdem bereits i5COm und
ein Drachen eingeholt waren, infolge
eines unliebsamen Betriebsunfalls, und
fünf Drachen mit S^oo m Draht traten
Fis
Küppcn's Trc|i]icnclraclie.
eine ..ungefesselte" Luftreisc an, aber der Registrier-
apparat kam , nachdem er volle 24 Stunden
in der Luft gestanden hatte, unversehrt bei Neu-
Segefeld, 8 Kilometer westlich von Spandau, zur
Erde, so daß die Ergebnisse des Experiments ohne
Einschränkung benutzbar sind.
Die Registrierungen dieses Aufstieges lassen
erkennen, daß, nachdem der Drahtbruch erfolgt
war, der oberste, den Apparat tragende Drachen
bis zur Höhe von 220D m niedergesunken, dann
aber wieder bis zu 4000 m gestiegen ist. Mit
I02
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
geringen Höhenschwankungen verblieb dasDrachen-
gespann in 1600 — 1700 m Höiie und sank erst
am anderen Morgen um 9 Uhr zur Erde herab.
Bei dem Aufstiege hatte eine Temperatui von
— 14,7" geherrscht, die, wie dies in klaren VVinter-
nächten der Fall ist, mit der Höhe beträchtlich
zunahm. Bei looo m wurden — 8,6", bei 1295 m
nur — 8,1" gefunden. Zwischen 2 und 3000 m
herrschte eine fast gleichmäßige Temperatur von
— 10 bis — 11". Über dieser wärmeren Schiclit
nahm die Temperatur langsam bis zu — 15" ab.
Erst über 5 km Höhe begann wieder die stärkere
Temperaturabnahme, die bei 5475 m, dem höchsten
erreichten Punkte, bis — 17,7" führte. Die relative
Feuchtigkeit, die an der Station g6'% betragen
hatte, sank schnell mit der Erhebung bis auf 8%
bei 5000 m.
Die Windrichtung war unverändert in allen
Höhen, dagegen änderte sich die Windgeschwindig-
keit. An der Station betrug dieselbe 2,5 m in der
Sekunde, bei 1000 m dagegen 15 bis 20 m in der-
selben Zeit.
Neben den Drachenaufstiegen leisten noch die
bemannten und unbemannten Ballons der modernen
Meteorologie große Dienste. Jedes dieser Ver-
fahren hat seine besonderen Vorzüge und Nach-
teile, das Zusammenwirken aller aber hat schon
bis jetzt einige wichtige Resultate geliefert, die
genügend bewiesen haben, wie notwendig die
Untersuchung der höheren Luftschichten für die
Meteorologie geworden ist.
Die Drachen haben nur eine verhältnismäßig
geringe Steigkraft; man' kann sie aber durch das
Anordnen mehrerer Einzeldrachen zu eineni Ge-
spann bis auf 6000 m ' bringen. Über diese
Höhe hinaus ist es vorläufig noch nicht gelungen
ein Drachengespann steigen zu lassen. Dabei ist
noch zu berücksichtigen, daß man nur bei gün-
stigem Wind die Drachen verwenden kann.
Mehr Vorteile bieten die unbemannten Ballons,
sie erreichen die Höhe von 25000 m, sind aber
sehr oft sehr unsicher, da sie vom Winde erfaßt,
hunderte von Meilen weggetragen werden und
gänzlich unauffindbar sind.
Dagegen ist der bemannte Ballon nur geeignet
zu [mittleren Aufstiegen, da sich über 10000 m
kein Mensch hinaufwagen dürfte, ohne sein Leben
dabei zu gefährden. Schon bei einer Höhe von
5ooo m stellt sich Atemnot ein, die sich mit zu-
nehmender Höhe steigert. Außerdem sind die be-
mannten Ballons sehr kostspielig, gestatten aber
viel genauere und umfangreichere Beobachtungen,
als die^anderen Hilfsmittel.
Einen wesentlichen Anteil an der Erforschung
der höheren Luftschichten hat der im Jahre 1881
zu Berlin gegründete „Deutsche Verein zur Förde-
rung der Luftschiffahrt", dem es durch eine Sub-
vention des deutschen Kaisers ermöglicht wurde,
eine Reihe sehr ergebnisvoller Luftfahrten auszu-
führen. Die Resultate derselben gestatten uns einen
Einblick in die kompliziertesten Erscheinungen der
freien Atmosphäre, von denen nur einige hier
gestreift werden mögen.
Aus dem Vergleiche mehrerer Aufzeichnungen
ergibt sich nach den Beobachtungen von Berson
eine durchschnittliche Temperaturabnahme in verti-
kaler Richtung auf je loom im Winter von —0,43",
im Frühling — 0,63", im Sommer —0,68" und im
Herbst —0,58*'. Demnach herrscht im Sommer
in einer Höhe von loooo m eine Temperatur von
— 58", wenn wir für die Erdoberfläche eine Tempe-
ratur von 10 Grad setzen. Diese Werte brauchen
aber noch nicht als endgültig fixiert angesehen zu
werden, da bei einer ausgedehnteren Beobachtung
sich noch verschiedene Modifikationen ergeben
dürften. Außerdem dürfte auch die geographische
Lage und die Jahreszeit in einem mehr oder
weniger starken Maße den Gang der Temperatur
in den oberen Luftschichten beeinflussen.
Professor Hergesell -Straßburg fand für die
Höhe von 5000 m folgende faktischen Resultate.
Die höchste Temperatur, die in dieser Höhe in
dem Zeitraum vom 26. Oktober 1895 bis zum
3. Oktober 1899 beobachtet wurde, betrug —6".
Sie wurde sowohl in Paris, .Straßburg und Berlin
in den Monaten Juni, beziehungsweise Oktober ge-
funden. Die tiefste Temperatur wurde über Peters-
burg am 24. März 1899 mit — 45" ermittelt. In
7000 m Höhe betrug die höchste Temperatur
— 17", die tiefste — 59". In lOOO m-Höhe ergab
sich als Maximaltemperatur — 36" (Paris, am 5. Aug.
1896), als Minimaltemperatur — 83" (Straßburg,
am 13. Mai 1897). Professor Hergesell fand
ferner, daß in Höhen von lOOOO m die Tempera-
turen schnell wechseln und daß sie ziemlich regel-
los auf die einzelnen Jahreszeiten sich verteilen.
Es tritt ferner in den liöheren Schichten auf nur
kurze horizontale Entfernungen oft ein ganz starker
Temperaturunterschied auf, ein Unterschied, der
auf 100 km Entfernung 30 bis 40" ausmachen kann.
Gleich der Temperatur ändert sich auch die
Windgeschwindigkeit und Windrichtung mit der
Höhe. Die aus verschiedenen Fahrten gewonnenen
Werte für die Windgeschwindigkeit schwanken
zwischen 10 bis 32 m in der Sekunde, während sie
an der Erdoberfläche höchstens 5 m betrug. Zum
Vergleich möge man sich vergegenwärtigen, daß
ein Schnellzug nur 25 m in der Sekunde zurück-
legt. Der Wind braust also in der Höhe noch
um ein gaiiz'bedeutendes schneller vorbei als ein
Eilzug.
Auch die Wolken stellen sich von der Nähe
betrachtet ganz anders dar, als von der Erd-
perspektive aus gesehen. Bei seinem Ballonauf-
stiege am 8. Juni 1898 fand Berson folgendes.
In einer Höhe von 2492 m kam er in den
Dunst der Wolken, bei 2606 m Höhe begannen
bereits die Wolkenschichten, die Erde war nur
noch schwach durch die Wolken sichtbar. Bei
2715 m war er bereits ganz von Wolken umgeben,
aus denen er erst in einer Höhe von 3072 m wieder
herauskam. Die Wolkenschicht hatte also in diesem
Falle eine Dicke von 580m. .An demselben läge fand
N. F. III. Nr. 7
Naturwisscnscliaftliclic Wochenschrift.
103
Süring während seiner Balionfalirt in einer Höhe
von 2055 m, daß es nebelig zu werden begonnen
hatte, bei 2590 m war die Erde bereits leicht ver-
schleiert zu seinen Füßen, bei 2734 m erreichte
er die ersten kompakten Wolken, die er erst bei
3125 m Höhe verlassen hatte.
Wenn man also den Anfang der Nebelsciiiciit
zu den Wolken zählt, so erhält man einen Wolken-
komplex von 1070 m Dicke, ohne Nebelschicht
dagegen einen solchen von 609 m. Daraus ist
schon ersichtlich, daß die Wolkenscliichtcn ziem-
lich dick sind und keine einheitlichen \^erhältnisse
darstellen. Aber nicht nur bei Regenwolken, auch
bei den Eiswolken ist es schwer, eine feste Norm
für die Wolkenschicht zu finden.
Das erste Stadium einer gefrorenen Wolke
liilden die Eisnadcln, aus denen dann das zweite
Stadium, die Schneewolke, hervorgeht.
Hauptmann Groß schildert uns die Wolken,
die er bei seiner Ballonfahrt am 19. Juni 1889
[jassierte, folgendermaßen: „Die Wolke selbst, deren
Mächtigkeit nach der Höhe zirka 1000 m be-
trug, war am 19. Juni ziemlich feucht; wir konnten
ihre einzelnen Teilchen deutlich wie Staub sehen,
sie waren jedoch nicht gefroren, obgleicli bis 7"
Kälte in ihnen herrschte. Erst bei dem Ansetzen
an unsere Kleider und das Tauwerk des Ballons
erstarrten sie zu Reif . . ."
Wir unterlassen es, auf die weiteren Einzel-
heiten einzugehen, die ^ sich bis jetzt aus der Er-
forschung der höheren Luftschichten ergeben haben.
Das Bild, das man gewonnen hat, ist trotz seiner
l'nvollständigkeit ein liöchst interessantes, und be-
rechtigt zu den kühnsten Hoffnungen, die sich bei
einer näheren Ausgestaltung der Untersuchungen
für die praktische Meteorologie erfüllen werden.
Es läßt sich zwar noch nicht genau feststellen,
welchen Einfluß die hohen Luftschichten auf den
(tang des Wetters an der Erdoberfläche ausüben;
daß ein Einfluß existiert, ist jedoch unwiderleglich.
Im Augenblicke aber, wo das Luftmeer bis zu
einer Höhe von 20000 m ebenso genau durcli-
forscht sein wird, wie die der Erdoberfläche an-
haftenden Luftschichten , dürfte es nicht melir
schwer sein, die noch auf schwankenden Grundlagen
beruhende Wetterprognose sicherer zu fundieren.
Es ist daher mit besonderer Genugtuune zu
begrüßen, daß die meisten meteorologischen Sta-
tionen der Erforschung der Vorgänge in den
höheren Luftschichten eine gesteigerte Aufmerk-
samkeit widmen , wobei die neuen Hilfsmittel
sehr geeignete Dienste zu leisten bestimmt
sind. —
Kleinere Mitteilungen.
Über den am 14. Juni zu Heidelberg \erstor-
benen Zoologen Carl Gegenbaur veröffentlicht
Max Für bringer im Anatomischen Anzeiger
(Jena, d. 5. Okt. 1903) einen Nekrolog, dem wir
das Folgende entnehmen: Carl Gegenbaur wurde
am 21. August 1S26 in Würzburg als Kind einer
katholischen Familie geboren. Sein Vater starb
als Rentamtmann in Würzburg.
Die Kindheit verlebte er in Würzburg, sowie
in Weißenburg a/S. und Arnstein, zwei kleinen
fränkischen Städten. Danach (1838 — 1845) bezog
er das katholische Gymnasium in Würzburg, in
allen Fächern ein eifriger Schüler, aber mit mehr
und mehr zunehmendem Interesse für Geschichte
und Naturwissenschaften.
Nach 1845 bestandenem Absolutorium wurde
er Student der Naturwissenschaften und der Me-
dizin in Würzburg und blieb daselbst bis zu dem
im Frühling 185 1 abgelegten medizinischen Doktor-
examen. Als die Lehrer, welche auf seine Ent-
wicklung größeren Einfluß gehabt, führte er selbst
A. Koelliker, Fr. Leydig, Heinr. Müller und R. Vir-
chow an; auch die klinischen Studien vernach-
lässigte er nicht und war einige Semester Assistenz-
arzt an der inneren Klinik von Marcus. Aber
bereits damals entfaltete sich sein Studium auf
zoologischem und anatomischem Gebiete in selb-
ständiger Weise, wie er auch in dieser Zeit eigene
Untersuchungen über den Schädel des Axolotl 1849
und über die Tasthaare 1850 veröffentlichte.
Die Doktordissertation handelte „De limacis
evolutione" und wurde ein Jahr später im deutschen
Auszuge gedruckt (Entw. von Limax); die Pro-
motionsrede betraf die Variabilität der Organismen,
insbesondere der Pflanzen, und kam zu Anschau-
ungen, welche den später von Ch. Darwin ver-
öffentlichten verwandt waren.
Eine längere Studienreise im Jahre 185 1 führt
ihn unter anderem zu Johannes Müller und an die
Nordsee, eine noch längere in den Jahren 1852
und 1853 nach Italien, insbesondere nach Sicilien,
wo er namentlich im Verein mit A. Koelliker und
H. Müller die Meeresfauna von Messina studierte
und eine Fülle von Material und Kenntnissen be-
treffend den Bau und die Entwicklung zahlreicher
wirbelloser Seetiere sammelte.
Die folgende Zeit nach der Rückkehr nach
Würzburg gilt der weiteren Bearbeitung der in
Messina gesammelten Tiere, dem Studium der ein-
heimischen niederen Fauna und der Vorbereitung
zur Dozententätigkeit. Ende des Wintersemesters
1853/54 habilitierte er sich (mit der Habilitations-
schrift „Zur Lehre vom Generationswechsel und
der Fortpflanzung bei Medusen und Polypen") für
Anatomie und Physiologie und begann mit dem
.Sommersemester 1854 seine drei Semester währende
Tätigkeit als Privatdozent in Würzburg.
In diese Zeit von 1852 — 1855 fällt die Be-
arbeitung zahlreicher Abhandlungen über Cölen-
teraten, Würmer, Echinodermen, Crustaceen, Mol-
lusken und Tunicaten.
In der Vorbereitung für die von Leydig bisiier
I04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 7
eingenommene zoologische Prosektur am ana-
tomischen Institute erhielt Gegenbaur den Ruf als
Professor extraordinarius der Zoologie in Jena, in
Nachfolge Oskar Schmidts, und trat diese Stelle
mit Beginn des Wintersemesters 1855/56 an. In
diesem der niedizinischen Fakultät zuerteilten Pro-
fessorate verblieb er 3 Jahre, Zoologie, vergleichende
Anatomie, Histologie und Entwicklungsgeschichte
lesend, zootomische, histologische und mikrosko-
pische, sowie morphologische Übungen, Demon-
strationen und Repetitorien abhaltend, das zoolo-
gische Institut mannigfach organisierend und dabei
eine reiche produktive, wissenschaftliche Tätigkeit
entfaltend.
Eine Wendepunkt seiner Stellung und Tätig-
keit vollzog sich mit dem Ende des Sommer-
Semesters 1858. Der Ana-
tom und Physiolog E.
Huschke war während des-
selben gestorben, und man
einigte sich für die Nach-
folge Gegenbaur's im Ordi-
nariate, die zufolge dessen
Wünschen und Bedingun-
gen so getroffen wurde,
daß Gegenbaur zu seinem
bisherigen zoologischen
Lehrgebiete die Anatomie
übernahm , während die
Physiologie abgetrennt und,
zunächst als Extraordina-
riat, A. V. Bezold übertragen
wurde. Gegenbaur's erst
1860 gehaltene Rede zum
Eintritt in die medizini-
sche Fakultät handelt „De
animalium plantarumque
regni terminis et differen-
tiis (1860).
Gegenbaur war bis
1862 in den beiden Fächern
der Anatomie und Zoologie Carl Gegenbaur im
als akademischer Lehrer
tätig, gab die Zoologie aber in diesem Jahre an
Ernst Haeckel ab, der sich 1861 auf seinen Rat
in Jena habilitiert hatte und 1862 daselbst außer-
ordentlicher Professor der Zoologie wurde. Als
Professor der Anatomie hat dann Gegenbaur die
lange Zeit bis zum Ende des Sommersemesters
1873 in Jena gewirkt und in seinen Vorlesungen das
ganze Gebiet der menschlichen Anatomie, Embryo-
logie (nebst Teratologie) und vergleichenden Ana-
tomie gelehrt.
Die Veröffentlichungen jener Zeit von 1859
bis 1873 handeln zunächst noch über Wirbellose.
1859 erschienen die bekannten Grundzüge der ver-
gleichenden Anatomie, welche das gesamte Gebiet
der Wirbellosen und Wirbeltiere umfassen. Zu-
gleich mit dem Jahre 1861 beginnt die Reihe der
hervorragenden Einzelarbeiten über Entwicklungs-
geschichte, Histologie und Histogenese und ver-
gleichende Anatomie der Wirbeltiere , welche
Gegenbaur's Namen bald die Geltung eines der
ersten vergleichenden Anatomen verschafften.
Gegenbaur hat sich in Jena sehr wohl gefühlt
und seiner Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu
dieser seiner „hohen Schule" wiederholt Ausdruck
verliehen. Einen 1872 an ihn ergangenen Ruf an
die renovierte Universität Straf3burg lehnte er ab.
In Jena begründete er im P'rühling 1863 das
kurze Glück seiner ersten Ehe mit Anna Margarethe
Emma, geb. Streng, welche bereits im Sommer
1864 starb, nachdem sie ihm eine Tochter Emma
geschenkt. Erst nach Jahren, im Frühling 1869,
hat er sich wieder vermählt, mit Ida, der Tochter
des Anatomen Friedrich Arnold; diese Ehe hat in
reinem Glücke bis zu seinem Tode gedauert; zwei
Kinder, die Tochter Elsa und der Sohn Friedrich,
sind ihr entsprossen.
Zu den Jenaer Kollegen
bestanden die freundlich-
sten Beziehungen. Die
Freundschaft zwischen
Gegenbaur und Haeckel
durchzieht als wesentliches
Band die Jenaer Zeit und
ist auf beider Forscher
Arbeiten von großem Ein-
flüsse gewesen.
Im Sommersemester
1873 erhielt er die Be-
rufung nach Heidelberg als
Fr. Arnold's Nachfolger, wo
er bis zu seinem mit dem
Ende des Wintersemesters
1900/01 erfolgten Rück-
tritte geblieben ist. Einen
glänzenden Ruf an die neu
begründete Universität
Amsterdam schlug er aus.
Die Heidelberger Verhält-
nisse brachten im Anfange
manche Schwierigkeit;
.Mtcr von 62 Jahren. dank Seiner Energie wurde
er derselben größtenteils
Herr. Ihm ergebene Prosektoren und Assisten-
ten, von denen namentlich M. Fürbringcr,
G. Rüge, Vr. Maurer, H. Klaatsch und E. Göppcrt
als längere Zeit bei ihm verbleibend genannt
seien, suchten nach Möglichkeit mitzuhelfen.
Glückliche häusliche Verhältnisse , eine erfolg-
reiche Tätigkeit und befreundete Kollegen trugen
dazu bei, ihm den Aufenthalt in Heidelberg
so angenelim als möglich zu machen , so daß
er auch hier neben seiner reichen, im wesentlichen
der Jenenser gleichenden, alier auf einen größeren
Schülerkreis ausgedehnten Lehrtätigkeit eine groß-
artige Produktion als Forscher entfalten konnte.
Die mit Kuno Fischer bereits in Jena geknüpfte
Freundschaft gestaltete sich in Heidelberg zu einem
innigen, auf gegenseitiger Wertschätzung und voll-
kommenem Verständnis beruhenden Bande. Auch
die alten Jenenser Beziehungen blieben bestehen
lunl führten, namentlich mit dem Freunde Haeckel,
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N. F. III. Nr. 7
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
105
zu öfteren Begegnungen. Niclit minder erliielt
der berülimte Mann zahlreiche Besuche von Kol-
legen, die seine persönliche Bekanntschaft auf-
suchten. Breiterem gesellschaftlichen Verkehre war
er abgeneigt; auch fehlte ihm bei seiner ange-
strengten wissenschaftlichen Tätigkeit dafür die
Zeit.
Die Zahl der in Jena und Heidelberg ausge-
bildeten Schüler ist eine große.
Gegenbaur's literarische Tätigkeit in Heidelberg
kennzeichnet das weitere Fortschreiten auf den
bereits in Jena begangenen Bahnen, welche nament-
lich der vergleichenden Anatomie und Entwick-
lungsgeschichte der Wirbeltiere gelten ; doch kommt
noch die eingehendere Beschäftigung mit der Ana-
tomie des Menschen hinzu. Von allgemeinerem
Inhalte und charakterisch für die Methodik der
(Tegenbaur'schcn Forschung sind die Abhandlungen
über die Stellung und Bedeutung der Morj^hologie
(Morph. Jahrb. Bd. i, 1875). Auch zahlreiche (23),
vorwiegend kritische Besprechungen wissenschaft-
licher Werke hat Gegenbaur gegeben. Alle Ar-
beiten der Heidelberger Zeit überragend heben
sich die zu dieser Zeit erschienenen Lehr- und
Handbücher der vergleichenden und menschlichen
Anatomie hervor.
Am Anfang dieses Jahrhunderts begann die
Kraft des hochbetagten Mannes, der kein Aus-
ruhen von der Arbeit und keine Schonung kannte,
schwächer zu werden. Noch war sein Geist hell
und frisch wie jemals, aber seine körperliche
Leistungsfähigkeit war vermindert, und die alj-
nehmende Kraft seiner Gliedmaßen erlaubte ihm
nicht mehr die erheblichen Anstrengungen seines
Amtes. Mit Schluß des Wintersemesters 190001
legte er die Direktion des anatomischen Instituts
nieder, die in die Hände seines Schülers Für-
bringer überging.
In seinem Otium cum dignitate war er zuerst
noch mit literarischen Arbeiten beschäftigt; dann,
als die zunehmende Schwäche seiner Muskulatur
ihm den Gebrauch der Gliedmaßen und das Sprechen
mehr und mehr erschwerte, verhielt er sich mehr
empfangend, aber mit ungcschwächtcm Interesse
und Verständnis für gute Lektüre, namentlich auf
historischem und kulturhistorischem Gebiete, wie
auch für die wichtigeren Tagesfragen, wobei ihn
besonders jede Bedrohung der Geistes- und Ge-
wissensfreiheit lebhaft ergriff.
Die Schriften allgemeineren Inhalts von 1860,
1875, 1888 und 1889 sind Aufsätze von bedeuten-
dem Gehalte, von denen die erste für die damalige
Zeit hervorragende Anschauungen über die Grenzen
und gegenseitigen Beziehungen der Tiere und
Pflanzen gibt, während die 3 letzten die Methodik
der Gegenbaur'schen Forschung in fesselnder, aber
zugleich sehr konzentrierter P'orm darlegen. Sie
wenden sich gegen die Einseitigkeit der Unter-
suchung, wägen die gegenseitige Bedeutunglaller
der Disziplinen, wie vergleichende Anatomie, Onto-
genie und Physiologie, ab, welche für die von
einem weiteren Horizonte aus unternommene wissen-
schaftliche Forschung in Betracht kommen, und
geben an, wie sie zu berücksichtigen sind. Die
Frage der Cänogenese (Haeckel) wird mit be-
sonderem Nachdrucke behandelt. Von schnellen
Lesern sind diese Abhandlungen arg mißverstanden
und unterschätzt worden ; wer sich mit Nachdenken
in deren Inhalt vertieft, findet hier eine reiche
Schatzgrube und zugleich einen Wegweiser für die
nach Erkenntnis strebende Arbeit. Die kurzen
1898 erschienenen Bemerkungen zur anatomischen
Nomenklatur nehmen Stellung zu gewissen, von
der Anatomischen Gesellschaft vorgeschlagenen
Bezeichnungsweisen an der Hand eines älteren
Aufsatzes von Sigmund Schultze (1859) '^"'^ '^"'^"
halten manches Beherzigenswerte.
Die Abhandlungen über Wirbellose aus den
Jahren 1851 — 1862, teils Sammelschriften über
Tiere verschiedener Abteilungen, teils Monographien
über einzelne Gruppen oder Formen, behandeln
die Protozoen, Cölenteraten , die Sammelgruppe
der Würmer, Echinodermen, Crustaceen, Mollusken
und Tunicaten. Namentlich die Schriften über
Siphonophoren, Medusen und Polypen, Cteno-
])lTorcn, Sagitta, Phyllosoma und Sapphirina, Li-
mulus, die Pteropoden und Ileteropoden, sowie
Tunicaten treten nach Umfang und Bedeutung
hervor, haben sehr wichtige Beiträge zur Kenntnis
des Baues und der Entwicklung dieser Tiere und
zur tintwicklungslehre überhaupt gegeben und
Gegenbaur's Ruf als hervorragender Zoolog be-
gründet.
Noch bedeutsamer erweisen sich die Arbeiten
über die Wirbeltiere, die — abgesehen von Jugend-
arbeiten aus den Jahren 1849— 185 1 — mit dem
Jahre 1861 einsetzten und bis 1896 in der statt-
lichen Reihe von 75 Abhandlungen und Mono-
graphien erschienen sind. Mit entwicklungsgeschicht-
lichen Untersuchungen über die Wirbeltiereier
(1861, 1864) und mit histologischen und histo-
geiietischen Arbeiten über Skelettgevvebe und Ossi-
fikation (1864, 1866, 1869, wozu noch die beiden
Arbeiten über die Wirbelsäule aus dem Jahre 1862,
sowie diejenigen über den Schultergürtel, 1865,
und über das Kojifskelett von Alepocephalus, 1878,
weitere Beiträge liefern) beginnt die Reihe. In
ihnen wird die wahre Natur des Wirbeltiereies als
eines einzelligen Gebildes und das wahre Wesen
der Ossifikation durch exakte, vergleichend-onto-
genetische Untersuchungen und scharfsinnige Re-
flexionen erkannt und, gegenüber zahlreichen anders-
lautenden Angaben und Behauptungen anderer
Forscher, zur Geltung gebracht. Kleinere Abhand-
lungen betreffen Drüsenzellen (1863) und Purkinje-
sche Fäden (1877). — Die Veröffentlichungen über
das Skelettsystem der Wirbeltiere bilden den Schwer-
punkt der Abhandlungen. Bezüglich der Kenntnis
des Rumpfskelettes haben sich von hohem und
bleibcndem'^Werte die vorwiegend auf vergleichend-
cntwicklungsgeschichtlicher Untersuchung beruhen-
den Arbeiten^ über die Entwicklung und ver-
gleichende Anatomie der Wirbelsäule der Amphibien
io6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 7
und Reptilien (1862) erwiesen; namentlich das
Verhalten der Chorda dorsalis kommt in ihnen zu
einer bisher nicht geahnten Geltung. Ihnen reiht
sich die bedeutende Untersuchung über die Wirbel-
säule des Lepidosteus (1867, 1868) an, welche die
Lehre von den metamerischen Umbildungen der
Wirbelsäule in scharfsinniger Weise begründet. In
die gleiche Kategorie gehören die Arbeiten ül)er
das Becken der Vögel (1871 ) und die lumbosakralen
Übergangswirbel (1872), letztere unter seiner Lei-
tung gemachte Untersuchungen ergänzend und
verallgemeinernd. Durcli E. RosenlDerg's fruclit-
bringende ontogenetische Arbeit ist denselben neue
Nahrung zugeflossen; Gegenbaur und verschiedene
seiner Scliüler haben aus ihr Nutzen gezogen.
Über das Kopfskelett handelt bereits die erste
Jugendarbeit (1849), sowie die schon erwähnten
Untersuchungen über die Ossifikation. Das Haupt-
werk auf diesem Gebiete bildet das Kopfskelett
der Selachier (1872); zusammen mit der ein Jahr
zuvor erschienenen Arbeit über die Kopfnerven
des Hexanciius bildet es den Ausgangspunkt der
neueren Erkenntnis über die Genese des Kopf-
skelettes der Wirbeltiere überhaupt, das Fundament,
auf welchem alle über diese P^rage handelnden
Arbeiten weitergebaut liaben. Gegenüber der alten
durch Tii. H. Huxley beseitigten Schädeltheorie
repräsentiert es über Johannes Müller und Huxley
hinaus den grollten Schritt, welchen die Forschung
auf diesem Gebiete genommen hat, namentlich
auch, weil hier die Entwicklung und die Kor-
relation zu den Weichteilen , insbesondere den
Nerven, in umsichtsvolister Weise als Werkzeuge
der Erkenntnis verwendet und kritiscli gesichtet
werden. Die fundamentale Bedeutung der Selachier
wird hierbei nacli den verschiedensten Richtungen
beleuchtet und bewiesen; diese Fische gelten von
jetzt an als die Objekte, an welche unsere Er-
kenntnisse über die Organbildungen bei den über
ihnen stehenden Wirbeltieren anzuknüpfen haben.
Gegenbaur hat sie sozusagen der Forschung ent-
deckt, und dieser geniale Fund erhielt später durch
M. Balfours und seiner vielen Nachfolger onto-
genetische Angaben seine entsprechende Beleuch-
tung. Die Arbeiten über Alepocephalus (1878)
und die Occipitalregion der Fische (1887) bilden
Ergänzungen zu diesem epochemachenden Werke.
Die kritische Studie über die Metamerie des Kopfes
und die Wirbeltheorie des Kopfskelettes (1887)
gewährt eine von hoher Warte unternommene
Besprechung und Würdigung der in der Zwischen-
zeit erschienenen bezüglichen Arbeiten, von denen
einige auf ungenügend gesicherter Grundlage und
in einseitiger Anwendung der Ontogenese Ein-
wände gegen die von Gegenbaur vertretenen An-
schauungen erhoben hatten. Kleinere Veröffent-
lichungen handeln über die Nasenmuscheln (1873,
1879), den Canalis Fallopii (1876) und das Os
lacrymale (1881, 1883), wobei sich auch hier Ar-
beiten des Lehrers und der Schüler die Hände
reichen. Endlich die Reihe der Abhandlungen
über das (rliedmaßenskelett, welche einerseits mit
Untersuchungen über das Fubskelett der Vögel
(1S63, 1864), sowie den Monographien über Carpus
und Tarsus (1864) und die Brustflosse der Msche
(1865), andererseits mit der Beschreibung eines
Claviculadefektes beim Menschen und mit Be-
merkungen über die Entwicklung der Clavicula
(1864) und die episternalen Skeletteile bei den
Säugetieren (1864, 1865), sowie der Monographie
über den ScJiultei'gürtel der Wirbeltiere (1865) be-
ginnen, in fortschreitender Bearbeitung auf den
Beckengürlel und die hintere Extremität ausge-
dehnt werden und zu einer immer tiefer gehenden
Durchdringung beider Forschungsreihen führen
(1866, 1867, 3 Arbeiten von 1870). Neue Lichter
gewäiiren die Entdeckung des Ceratodus, sowie
die UntersucJiung des Kopfskelettes der Selachier;
so wird Gegenbaur zu seiner Archipterygium-
theorie geführt (1872), die in den Grundzügen der
vergleichenden Anatomie (1874, 1878) eine weitere
Behandlung erfährt. Fernere, von Gegenbaur be-
fruchtete Arbeiten der Scliüler, sowie die Ein-
wände der Gegner (insbesondere der Anhänger^
der Seitenfaltentheorie) füiiren zur fortgesetzten
Fuiidierung der Archipterygiumtheorie, wobei so-
wohl die Korrelationen zu den Weichteilen, wie
die spezielle Ontogenese eingehender berücksichtigt
werden. Alle diese Fragen werden in den Ver-
öffentlichungen von 1876, 1879 und namentlich
1894, sowie in den daran anschließenden Unter-
suchungen seiner Schüler und Anhänger behandelt
und bilden bis auf den heutigen Tag ein viel um-
strittenes Arbeitsgebiet von hoher Bedeutung.
Direkt an den Schultergiirtel der Wirbeltiere (1865)
schließt die namentlich auch die paläontologischen
Verhältnisse eingehender berücksichtigende Unter-
suchung über Clavicula und Cleithrum (1895) an.
Speziellere Fragen dieses Gebietes werden neben-
bei in den kleineren Abhandlungen über die
Drehung des Humerus (1868), den Ausschluß des
Schambeins von der Pfanne des Hüftgelenks (1876),
die Polydaktylie (1880, 1888) und die Malleoli des
Unterschenkels 1 1886) behandelt; auch das Becken
der Vögel (1871) und die Bemerkungen zu Goette's
Entwicklungsgeschichte der Unke (1875) enthalten
hierher Gehöriges. — Die Arbeiten Gegenbauer's
über das Muskelsystem (t86i, 1875, 1S89, 1896)
treten weniger in den Vordergrund. Hier sind es
mehr seine Schüler, welche, von ihm angeregt,
diesem Gebiete eine breitere Behandlung zu teil
werden liel.kn und ihren Untersuchungen nament-
lich die Zusammengehörigkeit von Nerv und
Muskel und die ausschlaggebende Bedeutung der
Innervation für die Bestimmung der Homologien
zu Grunde legten. Doch wirkten von Gegenbaur's
bezüglichen Abhandlungen seine Studien über den
Muse, omoliyoideus (1875) und die Rückenmuskeln
(1896) aufklärend. — Von den Veröffentlichungen
über das Nervensystem ist die über die Kopf-
nerven des Hexanchus (1871) als bahnbrechend
zu bezeichnen ; fast alle später erschienenen be-
züglichen Arbeiten knüpfen an sie an. Von min-
derer und mehr spezieller Bedeutung sind die
N. F. III. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
107
anderen Arbeiten (1866), sowie die schon beim
Skelettsystein erwähnte über den Canalis Fallopii
(1876). Auch hier haben Gegenbaur's Schüler
ausführlich weitergearbeitet. — Das Hautsystem
wird in 2 Jugendarbeiten über Tasthaarc (1850,
1851), in einer an Boa's Arbeiten anknüpfenden
Abhandlung zur Morphologie des Nagels (1885)
und namentlich in einer Anzahl inhaltsreicher und
diese Fragen zu hoher Bedeutung erhebender Unter-
suchungen über Milchdrüsenpapillen, Zitzen und
Mammarorgane (1873, 1876, 1884, 1886) behandelt.
Auch hier bilden die Arbeiten der Schüler ein
wichtiges, das Hautsystem in mannigfachen Rich-
tungen durciiforschendes Kontingent. — • Unter den
Sinnesorganen werden nur dem Geruchsorgane
Untersuchungen über accessorische Abschnitte des-
■selben zu teil (1873, 1879, 1885). — Von den
Arbeiten über das Kingeweidesystem heben sich
die beiden Untersuchungsreihen über die Zunge
und Unterzunge (1884, 1886, 1894), sowie die Epi-
glottis (1892) als sehr bedeutsam hervor. Ihnen
gegenüber treten die Abhandlungen über Gaumen-
falten (187S), Vorder- und Mitteldarm (1878, 1891),
Nebenpankreas (1863), und Abdominalporus (1885),
obwohl auch diese Gebiete aufklärend, mehr zurück.
— Über das Gefäßsystem handeln die drei wich-
tigen Untersuchungen über das Herz aus dem
Jahre 1865, wozu sich noch die kurzen Abhand-
lungen über die Purkinje'schen Fäden (1877)
und über die Beziehungen der Vena pulmonalis
zur Vena cava superior (1880), sowie die ausführ-
lichere Arbeit über den Conus arteriosus der
Fische (1891) gesellen. — Damit ist aber die
Reihe der eigens vorgenommenen Untersuchungen
Gegenbaur's nicht erschöpft. Zahllose Stellen in
seinen Lehr- und Handbüchern geben Kunde von
spezieller, neue Lichter ansteckender Forschung.
Von den 23 Bücherbesprechungen Gegenbaur's
treten namentlich die Bemerkungen zu Goette's
Entwicklungsgeschichte der Unke nach Umfang
und Inhalt hervor. Seine Kiitik ist zum Teil un-
berechtigen Ansprüchen gegenüber scharf, erkennt
aber wirkliche Verdienste durchaus wohlwollend an.
Alle Veröffentlichungen Gegenbaur's an Reich-
tum und Bedeutung übertreffend, erweisen sich
naturgemäß seine umfassenden Lehr- und Hand-
bücher der Vergleichenden und Mensclilichen Ana-
tomie.
Die Vergleichende Anatomie ist in 5 Auflagen
erschienen, deren i. und 2. (1859, 1870J unter dem
Titel „Grundzüge der vergleichenden Anatomie"
und deren 3. und 4. (1874, 1878) unter dem Namen
„Grundriß der vergleichenden Anatomie" Wirbel-
lose und Wirbeltiere zur gleichmäßigen Darstellung
bringen, während die letzte, die umfangreichste
und bedeutsamste, in 2 Bänden als „Vergleichende
Anatomie der Wirbeltiere, mit Berücksichtigung der
Wirbellosen" (1898, 1901) erschienen, speziell die
Morphologie der Wirbeltiere behandelt, aber allent-
halben mit ihren Wurzeln in das wirbellose Gebiet
taucht, hier morphologisch bedeutsame Parallelen
oder genealogische .Anfänge zu den bei den Wirbel-
tieren zu weiterer Ausbildung gekommenen Zu-
ständen aufhellend und klarlegend. Diese Werke
haben vor allen Gegenbaur's Weltruf als erster
vergleichender Anatom unter den Zeitgenossen
begründet und im Original oder in mehrfachen
Übersetzungen ihren Weg durch die weitesten
Fachkreise genommen. Vollständige, alle bekannten
Untersuchungen wiedergebende Repertorien sind
sie nicht, wollen sie auch nicht sein. Aber durch
die Fülle neuer bedeutsamer Beobachtungen und
Forschungen , durch die geistige Durchdringung
des Stoffes, durch die Erhebung der vergleichenden
Behandlung zur genealogischen Erkenntnis, endlich
durch die planvolle, kritische und lebendige Ver-
knüpfung aller jener Methoden, welche uns ver-
gleichende Anatomie und Paläontologie, Entwick-
lungsgeschichte und Physiologie darbieten, über-
ragen sie alle bislierigen Werke auf diesem Ge-
biete, auch die ihnen geistig nahekommenden, aber
den Stoff zu ungleich behandelnden entsprechenden
Veröffentlichungen des genialen Huxley. In ganz
besonderem Maße gilt dies für die zuletzt er-
schienene Ausgabe 1 1898, 1901 ), das Produkt einer
20-jährigen Arbeit, ein durchaus großzügiges W'erk,
welches für geraume Zeit ein Fundament und einen
Ausgangspunkt für die vergleichend - morpholo-
gischen Arbeiten der Zukunft bilden wird.
Der gleiche Geist erfüllt die „Anatomie des
Menschen", die seit 1883 in 7 Auflagen gleichfalls
eine weite Verbreitung gefunden und mit ihrer
originellen, genetischen und vergleichenden, allent-
halben nach morphologischem Verständnis der
menschlichen Gebilde strebenden Behandlung Licht
und Leben in das Detail der anthropotomischen
Kenntnisse getragen hat.
Die kleine Selbstbiographie ,, Erlebtes und Er-
strebtes" (1901) ist ein ungleiches Werk, das in
liebevoller Weise und von feinen Zügen und einer
bedeutenden Lebensanschauung durchdrungen, von
seinen Vorfahren und von der Kindheit und Jugend-
zeit seines Strebens berichtet, die reifste und vollste
Zeit dieses reichen und schaffensfreudigen Lebens
aber viel zu kurz behandelt, weil der Schreiber
über die dafür nötige Frische nicht mehr verfügte,
wohl auch bei seiner Abneigung vor jeder Selbst-
bespiegelung einen zunehmenden Überdruß, von
sich selbst zu sprechen, empfand. In wenig mehr
als 100 Seiten handelt Gegenbaur viel mehr von
dem, was er gelernt und anderen verdankt, als
von dem, was er selbst geleistet hat. Aber auch
in der letzten Hälfte finden sich an manchen
Stellen bedeutsame Einblicke in die Werkstätte
seines Geistes.
Mit seinen Arbeiten verbindet sich eine klare
und tief durchgeistigte Darstellung, oft von einer
Konzentration und taciteischen Kürze, die an den
Leser hohe Anforderungen stellt. Das ist ihm
von manchem zum Vorwurf gemacht worden.
Auch Kant und Helmholtz wurde es ihrerzeit ver-
dacht, daß sie nicht von jedem mühelos gelesen
werden könnten. Für denjenigen, der exaktes und
eindringendes Studium nicht scheut, eröffnen sich
io8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 7
in Gegenbaur's Schriften, namentlicli bei wieder-
holtem und zusammenliängcndem Lesen der auf-
einander folgenden Veröffentlichungen über das-
selbe Thema, großartige Genüsse, und an manchen
Stellen erhebt sich seine sonst etwas schwere
Sprache zu einer wahrhaft leuchtenden Schönheit.
Als akademischer Lehrer nimmt Gegenbaur
eine hohe Stellung ein. Er war in seinen Vor-
lesungen nicht das, was man einen glänzenden
Redner nennt. Sein Vortrag verlief nicht glatt,
sondern stockte nicht selten, wenn er nach dem
prägnantesten, am meisten bezeichnenden Worte
für seine Gedanken suchte. Auch enthielt er sich
zumeist der Anwendungen auf das Pathologische
und beschränkte sich in der Regel auf die reine
zusammenhängende Darstellung, die er durch Ver-
bindung der beschreibenden Anatomie mit der
Ontogenese, vergleichenden Anatomie und zum
Teil der Physiologie zum Verständnis braclite.
Bereits seine ersten Vorlesungen in Jena, in den 50 er
und 60 er Jahren sind, ebenso wie seine Veröffent-
lichungen, ganz und gar von der Entwicklungs-
geschichte, von jener „genetischen Methode" durch-
drungen, mit welcher sein Heidelberger Vorgänger
PViedrich Arnold so Großes als Lehrer gewirkt.
In den behandelten Gebieten gab er die Haupt-
sachen vollständig, enthielt sich aber meist der
Mitteilung unwichtigerer Details oder gar unge-
nügend gesicherter, so oft nur eine ephemere
Geltung besitzender Befunde. Überall kam es ihm
auf schlichte Klarheit und geistigen Gehalt an.
Die Zuhörer sollten und mußten mit ihm die Tat-
sachen durchdenken. So hafteten seine Worte im
Gedächtnisse und erzeugten weiteres Nachdenken.
Ein nicht geringes Zeichentalent unterstützte die
Anschaulichkeit des Vortrages; auf die genaue
Ausführung seiner Tafelzeichnungcn legte er Wert.
In den praktischen t'bungen sah er vor allem
auf treue, gründliche, ununterbrochene Arbeit.
Sauberes, gewissenhaftes und nachdenkliches Prä-
parieren auf Grund gründlicher Vorbereitung war
für ihn die unerläf^liche Bedingung, und scharf
hat er durch regelmäßiges Abfragen die Kennt-
nisse und den Geist der Arbeitenden kontrolliert.
Die Benutzung von anatomischen Bilderbüchern
empfahl er bei der Präpariersaalarbeit nicht, weil
durch deren allzu bequemen Gebrauch das Vor-
stellungsvermögen der Präparanten nicht zur ge-
nügenden Übung und Ausbildung gelange. Da-
gegen sah er gern, wenn die Arbeiter ihre Prä-
parate selbst abzeichneten, weil er darin eine
sichere Kontrolle für die Sauberkeit und Genauig-
keit der Präparation und ein vorzügliches (ie-
dächtnismittel der Anschauung erblickte. Oft zog
er aus der Art, wie dieser oder jener präparierte,
Schlüsse auf seinen Charakter und auf seine ärzt-
liche Zukunft. Gegen die Fleißigen und Gewissen-
haften war er gütig und anerkennend, aber sehr
sparsam mit lobenden Worten. Den Säumigen
und Interesselosen, die sich nur hier und da auf
dem Präpariersaal blicken ließen, hat er die wenigen
daselbst verbrachten Stunden sehr schwer gemacht.
Er nannte das die Zuchtauslese auf dem Präparier-
saal. Den älteren Laboranten, die upiter seiner
Leitung mehr selbständige L'ntersuchungen aus-
führten, widmete er täglich eine geraume Zeit für
die Besprechungen über die in Angriff genommenen
Themata.
Einfachem, nicht zeitraubendem X'erkehre mit
ihm sympathischen Menschen war Gegenbaur zu-
geneigt; im übrigen verhielt er sich mehr zurück-
lialtcnd. Kongresse und akademische Festlich-
keiten besuchte er höchst selten. Jedes Feiern
seiner Persönlichkeit verweigerte er auf das strengste.
In der Hauptsache war er eine einsame, auf sich
gestellte, spröde Natur, ganz wohl nur von wenigen
gekannt.
Aber jedem, der mit ihm in Berührung kam,
fiel die großartige Konzentration und Vertiefung
seines Wesens auf Gegenbaur hat wohl nie
etwas Überflüssiges gesagt oder getan. Sein gan-
zes Wesen war zielbewußt, den grofien , klar er-
kannten Aufgaben geweiht.
So reich veranlagte Menschen , wie er, laufen
große Gefahr, ihre gewaltigen Kräfte über zu viele
Gebiete zu verteilen. Gegenbauer besaß ein un-
gewöhnliches Maß universeller Bildung, ein feines
Empfinden und großes Vermögen in bildender
Kunst und Literatur, eine lebhafte Begeisterung
für die politische und kulturelle Erhebung unseres
V^aterlandes und für die Befreiung des mensch-
lichen Geistes und Gewissens von jeder die
freie Entwicklung und Bestimmung hemmenden
Schranke, — er hat auch stets für große Sachen
seine mächtige Persönlichkeit eingesetzt und einem
gesunden, maßvollen Fortschritte gehuldigt. Aber
niemals, wie oft auch bei ihm angefragt wurde,
war er für die Rolle eines Führers in Fragen, die
seiner Wissenschaft und seinem Berufe ferner
lagen, zu gewinnen. Die Zeit war ihm dafür zu
kostbar, und Zeit\-cilust durch derartige Beschäf-
tigungen und Liebhabereien, ebenso wie jeden
Dilettantismus, in welcher Form auch, verab-
scheute er.
Er konnte sich an der Natur, die sich ihm
reicher und schöner als den meisten Menschen
offenbarte, entzücken und erheben ; er hatte leb-
haftestes Interesse an Ländern, X'ölkern und Men-
schen. Er hat aber nie zu seinem Vergnügen,
sondern nur der Erholung oder der Seinigen wegen
Reisen gemacht. Zumeist aber erfrischte er sich,
indem er gleichzeitig mehrere Aufgaben in An-
griff nahm und in der Bearbeitung der einen F2r-
holung von der anderen fand. Sehr frühzeitig
hatte er erkannt, dati nur die Tätigkeit Leben ist
und daß alle Kräfte für die Hauptaufgaben ein-
zusetzen seien. Multum, non multa.
Mit seiner Konzentration ging Hand in Hand
seine Sachlichkeit, Unbestechlichkeit und Wahr-
haftigkeit, tlr lebte nur im Djenste seiner Sache,
mit der ganzen Kraft der Überzeugung. Die
Persönlichkeit kam für ihn niemals in Frage; in
diesem Dinge war er streng und unerbittlich gegen
sich und andere. Nie hat er bloßen persönlichen
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Nalurwisscnschaftliche Wochenschrift.
log
Wünschen Reclinung j^fctragcn, nie geschwiegen,
wo es die Sache verlangte. In diesem mächtigen
Wahrheitsdrange hat er von ihm als richtig Er-
kanntes unentwegt verteidigt und manclimal per-
sönliche Empfindlichkeit verletzt; auf der anderen
Seite war er für begründete Einwände durchaus
empfänglich. Sein Urteil war unbestechlich. In
seiner Schätzung des Menschen standen zu aller-
erst der Charakter und die Leistungen ; unsittliche
Naturen , berechnende Streber und leichtfertige
Blender stellte er besondej-s tief.
Über die sogenannte Riesenkraft der In-
sekten. — Viele lassen sich im Unterrichte die
Gelegenheit nie entgehen, bei der Besprechung
der Insekten auf die ungeheuren Kraftleistungen
dieser Tiere hinzuweisen und den Schülern dar-
über die enstaunliclisten Sachen vorzurechnen. Der
Mensch, heißt es da, ja das I^ferd, seien im Ver-
gleiche zur Ameise, zum Floh die größten Schwäch-
linge. Wenn der Mensch „verhältnismäßig" gleich
stark wäre wie die Ameise oder ein kleiner Käfer,
so müßte er die schwersten Steinblöcke, die gröl.^ten
Baumstämme tragen können. Wenn seine I'ähig-
keit im Springen derjenigen des Flohs „vcrhältnis-
mäl.iig" gleich wäre, müßte er mit einem Sprunge
über Berge setzen können. .Audi in Lehrbüchern
der Zoologie wird auf solche Dinge aufmerk'sam
gemacht inid es gibt Bcispiclsanmilungcn für das
Rechnen, die eine Menge derartiger Aufgaben ent-
halten.
Aus all diesen Rechnungen wird geschlossen,
die Insekten besäßen verhältnismäßig eine unge-
heure Kraft. Man müßte .sich denken, sie hätten
verhältnismäßig größere Muskelmassen oder ihre
Muskelfaser sei zäher, leistungsfähiger als die des
Menschen und der gröl.^cren Tiere. Es ist aber
keins von beiden der I'^all, sondern es läl.5t sich
eher das Gegenteil behaupten.
Bei all diesen Rechnungen v\'ird mit dem Be-
griffe „verhältnismäßig" in der oberflächsten Weise
umgegangen. Hierzu das folgende Beispiel ;
Aufgabe. Ein 2 mm großer Floh springt
40 cm hoch Wie hoch mutete ein 160 cm großer
Mensch bei verhältnismäßig gleicher Kraft springen
können ?
Antwort: 160 cm = Soo X 2 mm
800 X 40 cm = 320 m.
Somit müßte der Mensch 320 m hoch, also
noch 20 m über den Eifelturm springen können.
Hier ist zunächst zu bemerken, daß beim
Menschen bei der I'eststellung der Gröl.k das Bein
mitgerechnet wird , beim Floh nicht. Das Ver-
hältnis würde sich alsdann statt i : 800 vielleicht
1 : 400 stellen.
Alsdaim wird in der oberflächlichsten Weise
einfach die Körperlänge zur Sprunghöhe in ein
gerades Verhältnis gesetzt und daraus ein Schluß
auf die Kraft gezogen. Die Sache verhält sich
aber anders. Die Kraft (bei gleicher Leistungs-
fähigkeit der Muskelfaser) ist ungefähr proportional
dem Querschnitte des Muskels. Vorausgesetzt,
es würde sich um geometrisch ähnliche Wesen
handeln, so wäre der Muskeli]uerschnitt, also auch
die Kraft, proportional dem Quadrate der linearen
Dimension ; in diesem Falle also müßte die Kraft
des entsprechenden Muskels beim Menschen 400-
mal größer sein. Wenn sich nun der beim
Springen hauptsächlich tätige Muskel bei beiden
um denselben Bruchteil verkürzt, so ist die abso-
lute Länge der Zusammenziehung beim Menschen
400 mal größer. Die Kraft wäre 400 -mal größer,
der Weg 400 mal größer, somit die erteilte
lebendige Kraft 400'' mal größer. Nun ist aber
die Masse auch 400'' mal größer. Bei beiden wird
also der Masseneinheit dieselbe lebendige Kraft
erteilt, folglich muß der Sprung in beiden F"ällen
gleich hoch werden, beim Menschen also nicht
400 mal höher.
Nun arbeitet aber der Muskel des Menschen
unter wesentlich anderen Bedingungen als der
des Insekts. Die Springmuskeln haben nämlich
nicht nur einer bestinrnnten Masse eine bestimmte
Beschleunigung zu erteilen, sondern sie haben auch
noch einen VViderstand zu bewältigen , nämlich
die Wirkung der Schwerkraft. Diese fängt näm-
lich nicht erst an zu wirken in dem Augenblicke,
wo der springende Körper den Boden verläßt,
also wenn die Erteilung von lebendiger Kraft auf-
hört, sondern sie wirkt schon während der Kon-
traktion des Springmuskels. Der Querschnitt des
Muskels wäre beim Menschen 400'-' mal größer,
die Masse, also auch die Wirkung der Schwer-
kraft, aber 400" mal größer; somit fällt beim
Menschen auf die Flächeneinheit des Muskel-
querschnittes eine 400 mal gröl.3ere Last. Der
Muskel ist also 400 mal so stark belastet als der
des Insekts, und in diesem stark belasteten Zu-
stande soll er doch leisten was der schwach be-
lastete leistet. Wenn also der Mensch nur ab-
solut, nicht verhältnismäßig, gleich hoch springen
sollte wie der Floh, so müßte er verhältnismäßig
bedeutend dickere und zudem viel zähere Muskeln
besitzen, müßte also verhältnismäßig viel stärker
sein.
Wenn man die Verhältnisse etwas oberfläch-
licher betrachtete, aber immerhin nicht so ober-
flächlich wie es oft geschieht, müßte man sagen,
die Kraft werde in den Muskeln geleistet, die
Muskelmenge sei der dritten Potenz der linearen
Ausdehnung proportional ; dasselbe ist aber auch
von der zu hebenden Masse zu sagen, somit müßten
das große und das kleine Tier gleich hoch springen
können.
Nun ist aber noch der Luftwiderstand zu be-
rücksichtigen. Dieser kommt natürlich bei den
kleinen Tieren mehr zur Geltung als bei den
großen ; denn er hängt wesentlich von der Größe
des senkrecht zur Bewegungsrichtung gelegten
Querschnittes ab. Beim kleinen Tiere kommt also
auf die Masseneinheit ein größerer Luftwiderstand.
Dies spricht etwas zugunsten der kleinen Tiere,
die große Belastung hingegen zugunsten der großen.
I lO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 7
Aus dem Umstände, daß der Floh 40 cm hoch
springt, der Mensch vielleicht 80 cm, darf also
nicht geschlossen werden, daß der Mensch ver-
hältnismäßig schwächer sei als das Insekt, sondern
im Gegenteil, daß der Mensch verhältnismäßig
weit mehr leiste. Fs darf also durchaus nicht von
einer ungeheuren Kraft gesprochen werden; von
einer mächtigeren oder zäheren Muskulatur ist
keine Rede, sondern man kann einfach sagen, es
hänge mit der Kleinheit der Insekten und anderer
Tiere zusammen, daß sie in einer Beziehung den
großen gegenüber im Vorteil sind: wenn sie auch
in der Regel verhältnismäßig schwächer sind als
diese und z. B. weniger hoch springen, so macht
wegen ihrer geringen Ausdehnung die Sprunghöhe
doch ein Vielfaches ihrer Körperlänge aus.
Ähnlich verhält es sich mit den Leistungen
im Ziehen und Tragen. Da kommt es einzig auf
die Querschnitte der Muskeln an. Ein linear lO-
mal größeres Tier sollte also nicht eine lOOOmal,
sondern nur eine 100 mal größere Last zu ziehen
vermögen. Wenn ein Mensch linear 200 mal so
groß ist wie eine Ameise, so sollte er bei ver-
hältnismäßig gleicher Kraft 200- = 40000 mal
mehr schleppen können als sie. Da aber sein
Gewicht (wieder geometrische Ähnlichkeit voraus-
gesetzt), 200'''= 8 000000 mal größer ist, so müßte
er, verglichen mit seinem Gewichte, 200 mal weniger
schleppen. Wenn die Ameise das Zehnfache ihres
Gewichtes vorwärts brächte, so müßte der Mensch
7.20 seines Gewichtes bewältigen können. Er
leistet tatsächlich bedeutend mehr, zudem noch
mit einer weit größeren Geschwindigkeit.
Wenn man also die Kraftleistungen der In-
sekten oder anderer kleinerer Tiere glaubt an-
staunen zu müssen, so ist man vollkommen im
Irrtum. Der Fehler liegt darin, daß man einen
ganz falschen Maßstab anlegt. Aug. Schmid.
durch Gaillon auf den an der Küste der Normandie
gezüchteten Austern von Marennes eine blaue
Kieselalge entdeckt worden, die mit der von
Molisch gefundenen identisch sein dürfte. Zu be-
stimmten Zeiten des Jahres, besonders im Früh-
sommer, ninmit das Wasser in den Austerngehegen
infolge der ungeheuren Vermehrung einer blauen
Diatomee eine blaugrüne Färbung an.
Vielleicht gelingt es, reichlicheres Material für
die Untersuchung zu beschaffen und so eine
Klärung obenerwähnter Fragen herbeizuführen.
Se.
Neue Messungen an den äufsersten Planeten.
Der Durchmesser des Planeten Neptun ist kürz-
lich von Wirtz (Astr. Nachr. Nr. 3907) gleich
2",303 gemessen worden. Dies entspricht einem
wahren Durchmesser von 50 251 km und würde
als Dichtigkeit des Planeten den Wert 1,54 er-
geben.
Die Abplattung des Uranus, welche durch
direkte Messung nicht sicher nachweisbar ist, wurde
von Bergstrand aus den Bahnen seiner Tra-
banten abgeleitet (Astr. Nachr. Nr. 3889) und gleich
j\ gefunden, wenn man eine ähnliche Dichtig-
keitsverteilung als bei Saturn im Inneren des Pla-
neten annimmt, während bei homogener Dichtig-
keit sich als unterer Grenzwert ^V ergeben würde.
Die Rotation des Uranus läßt sich zwar nicht
direkt beobachten, würde aber bei einer Abplattung
von y'y sich in 11,5 Stunden vollziehen müssen.
Eine interessante Notiz über eine blaue
Diatomee teilt Molisch in den Ber. d. Dtsch.
Botan. Gesellsch., Bd. XXI, 1903, Heft i, mit. Fr
hat auf den Schalen der Steckmuschel (Pinna
nobilis L.) in Triest eine Diatomee gefunden, die
sich im lebenden Zustande durch eine blaue Farbe
auszeichnete. Die Alge zeigt lebhafte Bewegung
und hat eine schiffchenartige, an beiden Enden
zugespitzte Form. Gewöhnlich trägt sie an den
beiden Längsseiten je einen Chromatophor von
der für die Kieselalgen charakteristischen gelb-
braunen Farbe ; zv^^ischen den Farbstoffträgern liegt
im Zentrum der Zelle der farblose Zellkern. Der
übrige Zellinhalt erscheint besonders gegen die
beiden Enden zu zum großen Teile himmelblau
oder azurblau gefärbt. Da Molisch die Alge nur
in vereinzelten Exemplaren aufzufinden vermochte,
so konnte er sie leider nicht genauer beschreiben ;
auch konnte er den blauen Farbstoff nicht weiter
prüfen, vor allem nicht feststellen, ob das Proto-
plasma oder der Zellsaft oder beide Träger des
Farl)stoffes sind.
Wie Verf angibt, ist bereits im Jahre 1820
24 veränderliche Sterne sind im Orion-
Nebel von Prof. M.Wolf in Heidelberg dadurch
entdeckt worden, daß derselbe verschiedene, mit
Hilfe des Bruce -Teleskops gewonnene photogra-
phische Aufnahmen des Nebels im Stereokom-
parator (vgl. Bd. I, S. 521) verglich. Von 1 1 weiteren
Sternen bleibt es außerdem noch mehr oder minder
wahrscheinlich , daß sie veränderlich sind. Die
Positionen der Sterne sind in den Astron. Nach-
richten Nr. 3899 angegeben. Einige unter denselben
gehören vermutlich zu den Verärderlichen mit
kurzer Periode und bei einem erreicht die Licht-
schwankung den enorm hohen Betrag von 6 Größen-
klassen.
Ersatz des Platins in den Glühlampen. —
Bekanntlich müssen die Zuleitungsdrähte einer
elektrischen Glühlampe, die am Grunde der Birne
durch das Glas hindurch nach dem Inneren führen,
aus Platin bestehen. Der Grund hierfür liegt ein-
mal darin , daß das Platin annähernd denselben
Ausdehnungskoeffizienten besitzt wie Glas (Aus-
dehnungskoeffizient für Glas = 0,00000862, für
Platin = 0,00000856), und deshalb Drähte aus
diesem Metall in Glas eingeschmolzen werden
können, ohne daß das Glas nach dem Erkalten
springt. Andererseits vermag der Glasfluß infolge
der NichtOxydierbarkeit des Platins bei hohen
Temperaturen sicli leicht mit dem reinen Metall
zu verbinden und so einen luftdichten \'erschluß
N. F. III. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
III
zu bilden. Indessen repräsentieren die beiden kurzen
Platindrähte einer Glühlampe bei einem Gewicht
von 0,15 — 0,20 g immerhin einen Wert von etwa
36 bis 48 Pfg., und ein Ersatz des Platins durch
ein billigeres Metall würde die Herstellungskosten
wesentlich herabsetzen. Mit diesem Problem hat
man sich bereits lange Zeit befaßt, und das Inter-
esse hieran ist um so lebhafter, da die Platinpreise
noch immer im Steigen begriffen sind. Es kom-
men zur Lösung dieser Frage lediglich zwei Ge-
sichtspunkte in Betracht : Entweder muß ein Me-
tall resp. eine Legierung von annähernd demselben
Ausdehnungskoeffizienten gefunden werden , wie
ihn Glas resp. Platin besitzt, oder es ist die Her-
stellung eines geeigneten Bindemittels nötig, wel-
ches einen Draht von beliebigem Metall luftdicht
mit dem Glase zu verbinden gestattet. — Man
glaubte anfangs im Nickelstahl einen Stoff der
erstgenannten Eigenschaft gefunden zu haben, doch
scheiterte die praktische Durchführung dieser Ent-
deckung einerseits an der Schwierigkeit, das rich-
tige Verhältnis des Nickelzusatzes zum Eisen zu
ermitteln; andererseits daran, daß der Nickelstahl
bei der hohen Temperatur der Lötrohrflamme mit
einer Oxydschicht bedeckt wird, die ein Ver-
schmelzen des Glases mit dem Metall verhindert.
Kurz, daß es noch nicht gelang, auf diesem Wege
praktische Erfolge zu erzielen, beweist schon der
Umstand, daß bis heute das Platin zu dem ge-
dachten Zwecke noch immer ausschließlich zur
\"erwendung kommt. Dagegen ist es kürzlich
der I'^ranzösischcn Allgemeinen Glühlampengesell-
schaft (Bainville, Chemikerzeitung 1903; Reper-
torium Nr. 17, S. 244) gelungen, einen Kitt her-
zustellen, vermittels dessen man jeden beliebigen
Draht ohne Mühe luftdicht einzukitten vermag.
Die Zusammensetzung dieses neuen Kittes wird
noch geheim gehalten. Er ähnelt hinsichtlich
seiner Konsistenz dem reinen Wachs, trocknet
nicht in der Kälte und schmilzt nicht in der
Wärme. Er wird in einen Behälter gebracht,
durch den die Zuleitungsdrähte führen, und der
am Grunde der Lampe angebracht wird. Falls
sich die neue Erfindung bewährt, dürfte sie eine
bedeutende Preiserniedrigung für Glühlampen zur
Folge haben. Dr. Loebe.
Bücherbesprechungen.
i) W. Ostwald, o. Prof. d. Chemie in Leipzig, Die
Schule der Chemie. Erste Einführung in die
Chemie für jedermann. I. Teil : Allgemeines. Mit
46 Abbild, gr. 8. Braunschweig, Verlag von Friedr.
Vieweg & Sohn. — Preis geh. INL 4.80, geb. M. 5.50.
2) Dr. S. M. Jörgensen, Prof. a. d. Univ. in Kopen-
hagen, Grundbegriffe der Chemie an Bei-
spielen und einfachen Versuchen. Mit 13 Fig.
Leopold Voß in Hamburg u. Leipzig, 1903. —
Preis 2 Mk.
3) Dr. Carl Arnold, Abriß der allgemeinen
oder physikalischen Chemie. Als Ein-
führung in die Anschauungen der modernen Chemie.
Leoiiold Voß in Hamburg u. Leipzig, 1003. —
Preis 2 Mk.
4) Prof. Dr. Lassar-Cohn, Einführung in die
Chemie in le i c h t faß 1 ich er Form. 2. Aufl.
Mit 60 Abb. Leopold Voß in Hamburg u. Leipzig,
1903. — Preis 3 Mlc.
5) Dr. Wilhelm Loin, Prof. a. d. Ober-Realschule
zu ßraunschweig, Methodischer Leitfaden
f ü r den A n f a n g s u n t e i' r i c h t in der Chemie
unter Berücksichtigung der Mineralogie. Mit 98 Abb.
4. verb. Auti. Otto Salle in Berlin, 1902. — Preis
2 Mk.
6) Dr. Fr. Rüdorff's Grundriß der Chemie für
den Unterricht an höheren Lehranstalten. \'öllig
neu bearbeitet von Dr. Robert Lüpke, Oberl.
am Dorotheenstädt. Realgymnasium zu Berlin. Mit
294 Holzschnitten u. 2 Tafeln. 12. Aufl. H. \\'.
Müller in Berlin, 1902. — Preis 5 Mk.
7) Dr. Carl Arnold, Prof. d. Chemie an der Kgl.
Tierärztlichen Hochschule zu Hannover, R e p e -
titorium der Chemie. 11. verb. u. ergänzte
Aufl. Leopold Voß in Hamburg u. Leipzig, 1903.
— Preis 7 Mk.
Unter der oben genannten Literatur zur Chemie
sind teils gute Werke für die Bedürfnisse des An-
fängers und Liebhabers (Nr. i, 3 u. 5), teils vorzüg-
liche Lehrbücher für den ernstlicher Chemie Studieren-
den (Nr. 2, 3, 6 u. 7). Alle die aufgeführten Bücher
sind ihren Zwecken gut angepaßt.
i) Ostwald macht den Versuch, eine Chemie für
solche zu schreiben, die weiter nichts mitbringen, als
etwa die Kenntnisse , die eine Elementarschule ver-
schafft. Wer denkt, wenn er den Titel ,,Die Schule
der Chemie" liest, nicht dankbaren Sinnes an Stöck-
hardt's prächtiges Buch gleichen Titels, das so vielen
die ersten Wege in dem Gebiet der Chemie ge-
ebnet hat. Wenige für die Jugend und überhaupt
die allerersten Anfänger berechnete naturwissenschaft-
liche Bücher sind so treft'lich, gewissenhaft und ge-
schickt-pädagogisch ausgearbeit, wie es das Stöckhardt-
sche Buch war. Es ist deshalb vielleicht zu bedauern,
daß sich Ostwald nicht der so bewährten Vortragsart,
die Stöckhardt in seinem Buche anwendet, ange-
schlossen hat. Ostwald wendet die Dialogform zwischen
Lehrer und Schüler an, die freilich durch die Breite,
die sie mit sich bringt, ein längeres Verweilen des
Anfängers bei den einzelnen Tatsachen bedingt und
dadurch wohl einen pädagogischen Wert hat. Stöck-
hardt hat aber bewiesen, daß er das Richtige durch
seine Art getroffen hatte und so konnte wohl der
Nachteil der Breite, den die Dialogform bedingt, ver-
mieden werden. Ostwald findet freilich (Vorwort, p.VII),
daß sie zur Erreichung des Lehrzweckes nicht mehr
Raum beanspruche und viel eindringlicher und
frischer wirke, als die fortlaufende Darstellung.
2) Das Büchelchen Jörgensen's ist vorzüglich ge-
eignet, in die Grundbegriffe der Chemie einzufuhren,
sehr geschickt durch Hervorhebung, wie sich die Be-
griffe historisch entwickelt haben. J. setzt die Kenntnis
der elementaren Physik voraus.
3) Arnold's Arbeit will dasselbe wie die vorige,
aber sie dringt weiter und ist nicht so elementar ge-
112
Naturwissenschaflliche Wochenschrift.
X. I-'. III. Xr. 7
halten. Sie ist ein erweitertei' .Abdrutk des Ab-
schnittes über allgemeine Chemie des unter 7 ge-
nannten Repetitoriums.
Über die Werke 4, 5 und 7 haben wir schon bei
früheren Auflagen lobende Anzeigen geboten, denen
wir nichts hinzuzufügen haben. Dem Rüdorft'-L.üpke-
schen Werk (6) müssen wir aber noch ein Wort
widmen, da es uns hier in neuer, wesentlich veränderter
und erweiterter Bearbeitung entgegentritt, die der leider
verstorbene Dr. Lüpke besorgt hat. Es ist eigentlich
nur die Vortragsform an dem Buch dieselbe wie früher
geblieben, der Inhalt hat fast gänzliche Neubearbeitung
erfahren. Für ein Schulbuch ist es recht umfangreich:
es umfaßt jetzt 532 Seiten.
i) Dr. H. Wichelhaus, Geh. Regierungsrat, Professor
und Direktor des technologischen Instituts der Uni-
versität Berlin, Populäre Vorlesungen über
chemische Technologie. VIII u. 379 S.
gr. 8". Mit zahlreichen Abbildungen. Verlag von
Georg Siemens in Berlin, 1902. — Preis 10 Mk.
2) Dr. Gustav Rauter, Allgemeine chemische
Technologie (Sammlung Göschen). G. J. Göschen
in Leipzig, 1903. — Preis geb. 0.80 Mk.
i) Der Zweck des Buches ist, einen Überblick
über die Rohstoffe, Apparate und Verfahren der
chemischen Technik zu geben. Es ist hervorgegangen
aus Vorlesungen ülier Technologie, die bei zahlreichen
Staatsbeamten, vor allem auch bei den Juristen, leb-
haften Zuspruch gefunden, weil W. es verstand, seine
Vorlesungen tunlichst von Formeln, Gleichungen und
Einzelheiten zu entlasten. Es kann denn auch das
allgemein verständliche Buch den Juristen, Zolltech-
nikern, Kaufleuten und Ingenieuren, soweit sie mit
chemisch-technischen Dingen zu tun haben, sehr em-
pfohlen werden, sowie überhaupt jedem, der sich für
den Gegenstand interessieren muß. Unter den Natur-
forschern sind es insbesondere — abgesehen von den
Chemikern selbst — die Physiker und Biologen. W.
gliedert seinen Stoft' in die Kapitel: Chlornatrium —
Schwefel und Schwefelverbindungen — .Ammoniak —
Salpeter und Salpetersäure — Phosphor — Zündwaren
— Eisen — Silicate — Kohlenstoffverbindungen (mit
Abschnitten über Fette und Öle, Kohlehydrate,
Leuchtstoffe, Steinkohlenteer und Teerfarbstoffel.
2) Das Heft von Rauter ist zur allerelementarsten
Einführung in den Gegenstand recht geschickt zu-
sammengestellt.
Literatur.
Frischauf, Prof. Dr. Jolis. : Grundriß der tlieoretischen .\stro-
nomie u. der Geschichte der Planetentheoricn. 2., verm.
Aufl. (XV, 199 S. m. 22 Fig.) gr. 8". Leipzig '03, W.
Engelmann. — 5 Mk. ; geb. in Leinw. 6 Mk.
Garbowski, Tad. : Morphogenetische Studien. Als Beitrag zur
Methodologie zoolog. Forschg. (VIII, 189 S. m. 6 färb,
Taf. u. 6 Bl. Erklärgn.l Imp. 4". Jena '03, G. Fischer. —
28 Mk.
Hengstenberg, Ernst: Weltreisen. iX, 246 S. m. 107 Ab-
bildgn., 27 Lichtdr.-Taf. u. i Karte.) gr. 8". Berlin '03,
U. Reimer. — Geb. in Leinw. 10 Mk.
Lamarck, Jean: Zoologische Philosophie. Nebst e. biograph.
F.inleitung v. Prof. Charles Marnns. Aus dem Franz. von
Arnold Lang. 2. unveränd. (anaslat.) Abdr. (XXIV, 512 S.)
gr. 8". Leipzig '03, J. A. Barth. — 10 Mk.
Lepsius, Prof. Dir. Dr. Rieh : Geologie v. Deutschland und
den angrenzenden Gebieten. IL Tl. Das östl. u. nördl.
Deutschland. I. Lfg. (Bog. I — 16.) Mit den Profilen I — 58
im Te.Nt. (II, 246 S.) gr. 8". Leipzig '03, W. Engelmann.
— 8 Mk.
Schurtz, Dr. Heinr. : Völkerkunde. Mit 34 .\bbildungcn im
Texte. (.Xlll, 178 S.) Wien '03, F. Deuticke. — Subskr.-
Prcis 6 Mk. ; Einzelpr. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn R. in Berne. — Wir machen Sie auf Konser-
vierungsmethoden wie die Wickersheimer'sche aufmerksam.
Darüber werden Sic in naturhistorischen .Museen oder in
Anatomien Auskunft erhalten. Über die Einbalsamierung der
Ägypter sollen alle Angaben ziemlich unzuverlässig sein. Es
finden sich solche in Petügrew : History of Egyptian Mummies.
London. 1834. Rathgen.
Herrn G. Lange in Remscheid. — Erzlagerstätten von
Magneteisen und Roteisenstein finden sich häufig in der Nähe
von kristallinen Schiefern und Eruptivgesteinen, besonders gern
vergesellschaftet mit Gesteinen von basischer Natur. Teils
sind die Erze infolge magmatischer Diflerenziation ausgeschie-
den, teils verdanken sie wohl postvulkanischen Prozessen ihre
Entstehung. Nun finden sich Eruptivgesteine in Skandinavien
in weiter Verbreitung und damit dürfte die Häufigkeit und
Mächtigkeit der dortigen Eisenerze in Zusammenhang zu
bringen sein. Harbort.
Herrn G. L. in Remscheid. — Zur Falb'schen
Wetterprognose nimmt die Naturw. Wochenschr. selbstver-
ständlich keine andere Stellung ein wie die meteorologische
Wissenschaft. Das Urteil über Falb läßt sich dahin zusammen-
fassen: Seine Hypothesen sind schon wiederholt vor ihm von
anderer Seite ausgesprochen worden. Durch sorgfältige
wissenschaftliche Untersuchungen ist jedoch festgestellt worden,
daß ein nennenswerter Einfluß der Stellung von Sonne und
Mond auf die Witterung im Sinne der Fluttheorie nicht exi-
stiert. — Wenn Sie sich für wissenschaftliche Widerlegungen
der Falb'schen Lehren interessieren, verweisen wir Sie auf
die umfassenden .Aufsätze von Ginzcl und Pernter in der Zeit-
schrift ,, Himmel und Erde", Band II und IV, auch auf Pernter's
Vortrag ,, Allerlei Methoden, das Wetter zu prophezeien" (Wien,
1903). Zur Kritik von F'alb's Erdbebenprophezeiungen finden
Sie Ausführliches aus der Feder des bekannten Geologen
.\lbert Heim in der Naturw. Wochenschr. II. Bd. Nr. 25
V. 16. Sept. 1888 u. Nr. 26 v. 23. Sept. 1888.
Anfrage. Auf der Rinde von abgestorbenem Holze be-
merke ich in meinem Garten regelmäßig rote Buckel von etwa
3 mm Durchmesser. Wie heißt dieser Pilz? Ist derselbe die
Ursache des .\bsterbens oder siedelt er sich erst nach dem
Tode des Holzes auf demselben an ? K. in L.
Es handelt sich um Tubercularia vulgaris Tode (Conidien-
stadium der Nectria cinnabarinai. Dieser Pilz ist ein gefahr-
licher Wundparasit, es dringen die Sporen in Wundstellen der
Bäume und Sträucher ein und bringen die Pflanze alsdann oft
zum .\bsterben. Alle mit solchen Pilzen behaftete Zweige
sind zu verbrennen, niemals auf den Düngerhaufen zu bringen.
Prof. Hennings.
Inhalt: Prof. Dr. Friedr. Dahl: Wird der Skorpion durch seinen Stich dem Menschen gefährlich? — Dr. J u 1 i u s
Reiner: Neue Hilfsmittel der Meteorologie. — Kleinere Mitteilungen: Ma.\ Fürbringer: Carl Gegenbauer j. —
Aug. Schmid: Über die sogenannte Riesenkraft der Insekten. — Molisch: Notiz über eine blaue Diatomee. —
Wirtz u. Bergstrand: Neue Messungen an den äußersten Planeten. — Prof. M. Wolf: 24 veränderliche Sterne.
— Dr. Loebe: Ersatz des Plaüns in den Glühlampen. ■ — Bücherbesprechungen: W. Ostwaldt und andere:
Sammel-Referat über Lehrbücher der Chemie. — i) Dr. H. W i c helh au s: Populäre Vorlesungen über chemische
Technologie. 2) Dr. Gustav Rauter: Allgemeine chemische Technologie. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantworllicher RetLikleur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichlerfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippen & Co. (G. Pälz'schc Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 22. November 1903.
Nr. 8.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
I^ Ptg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Goblis, Blumenstraße 46, Buchhändltrinserate durcli die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck veiboten.]
Die Zell-
teilung äußert
sich in zwei
verschiedeneil
Arten, in der
direkten Zell-
teilung oder
Amitose und
in der indirek-
ten oder Mi-
tose.
Bei der di-
rekten Teilung
durchschnürt
sich die Zelle
in der Mitte,
und der Kern
folgt dieser
Einschnürung.
Sie kommt bei
den niederen
Pflanzen vor,
Die neuen Studien über die Zellteilung.
Ein Sainmelreferat.
Von W. Görich in Marburg (Hessen).
1
Fig. I.
Kerne alterer Zellen aus dem Stengel von
'l'radescantia virguinea in direkter Teilung
(nach Strasburger.)
und zwar bei alten Zellen oder solchen , deren
Inhalt bald desorganisiert werden soll. Im Tier-
reich ist die direkte Teilung besonders auf die
Protozoen beschränkt.
Weit komplizierter ist der Gang der indirekten
Teilung (der Mitose oder Karyokinese), die be-
sonders bei den höher organisierten Vertretern
Fig
2. Ein sich zur Teilung anschickender Zellkern aus einer
Keimpflanze von P^ucus serratus (nach Strasburger).
n = Nucleolus (Kernkörperchen), (■ = Zentrosonien,
k/> = Strahlungen, .f = Chromosomen.
114
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
des Tier- und Pflanzenreichs vorkommt. Hier zeigt
sich zunächst am Kern der sich teilenden Zelle
ein kleines Gebilde, das Zentrosoma, das in das
Zytoplasma der Zelle feine Strahlen sendet. Im
zweiten Stadium zerfällt das Chromatin des Kerns in
einzelne Fäden, und das Zentrosom teilt sich in zwei
gleiche Körperchen (Fig. i). Diese letzteren rücken
längs der Kernmembran auseinander, während zu-
gleich die Chromatinfädcn sich in einzelne Schleifen,
die Cliromosome, teilen. Die beiden Zentrosome,
die schon kurz nach ihrer Teilung zwischen sich feine
Fasern erkennen ließen, legen sich schliel31ich pol-
ähnlich an entgegengesetzten Seiten des Kerns an.
Dieser hat inzwischen seine Membran verloren, und
die Chromosome haben sich zur Äquatorialplatte
in die Mitte des Kerns gelagert. Die Fasern, die
zunächst nur zwischen den Zentrosomen bestanden,
Fig- 3-
.^ufeinander folgende Stadien der Kern- und Zellteilung
(etwas sclicmalisicrt) (nach Strasburger.)
treten nun auch zu den Chromosomen heran, und
wir erhalten das Bild einer Spindel. Die Chromo-
some teilen sich hierauf der Länge nach, und die
einzelnen Teile rücken nach den Zentrosomen hin,
um die beiden Tochterplatten zu bilden, zwischen
denen die Faserung bestehen bleibt. Die Chromo-
some rücken nun im weiteren Verlauf ganz in
die Nähe der Zentrosomen und verdichten sich
schließlich. Gleichzeitig tritt in der Zellwand eine
Furche auf, und durch Einlagerungen in die Ver-
bindungsfasern kommt es zur Bildung der Zell-
platte. Diese Zellplatte ist die Anlage der neuen
Zellmembran, die sich nach völliger Verdichtung
der Tochterplatten zu ruhenden Kernen heran-
bildet.
Die beiden genannten Zellteilungen stehen
jedoch nicht ohne Bindeglieder einander gegen-
über.
So sehen wir schon bei der Amöbe (Fig. 4) im
Zellkern einen Körper liegen, den sogenannten
Binnenkörper, der sich zugleich mit der Kern-
und Zellteilung in 2 Hälften abschnürt.
Bei Fuglena teilt sich zunächst der Binnen-
körper, und das Chromatin legt sich in Gestalt
von Chromosomen in ihre Mitte. Die beiden Teile
des Binnenkörpers rücken auseinander, und die
Chromosome lagern sich in ihre Nähe. Zugleich
mit der Streckung des Kerns in die Länge
lagern sich die Chromosome immer fester um die
Teile des Binnenkörpers, bis sie bei der Trennung
der Zelle in zwei ruhende Kerne übergehen und
den Binnenkörper ganz in sich einschließen.
P^inen weiteren Schritt zur Mitose finden wir
bei Opalina. Hier wird der spindelför-
mige Kern von feinen Fasern durchzogen,
die die Chromosome in sich einschlingen.
Im weiteren Verlauf der Kernteilung
gruppieren sich die Chromosome in die
Mitte und bilden hier zwei Schichten.
Eine Teilung der Länge nach erfolgt
nicht. Bei den weiteren Stadien ziehen
sich die Chromosome längs ihrer achro-
matischen Fasern nach den Polen des
Kerns hin, wo die Fäden in ein dichteres
polares Areal zusammenlaufen. Haben
die Chromosome eine entsprechende
Höhe in bezug auf die Zellwand er-
reicht, dann verdichten sie sich, die Zell-
membran schnürt sich ein, und es kommt
zur regelrechten Zellteilung.
Eine typische indirekte Kernteilung
tritt bei Aktinosphärium auf. Hier ver-
dichtet sich das Chromatin zunächst in
eigentümlicher Weise, und fast gleich-
zeitig bildet sich an einem Pol ein
kleines Körperchen. Dieses teilt sich
bald, und es rücken die beiden Teil-
produkte nach entgegengesetzten Polen
des Kerns. Auch das Protoplasma der
Zelle nimmt in der Nähe des Kerns eine
eigenartige Struktur und Lage an, indem
feinkörnige Schicht sich kegelförmig an
die Kernmembran anlegt. An den Spitzen dieser
Protoplasmakegel liegen die kleinen Körperchen,
die zu dieser Zeit feine Strahlen in das Zell-
plasma senden. Auch in den Polkegeln treten
feine Fasern auf, die beim Zerfall des Chro-
matins auch durch die Lagerung der Chromo-
some ziehen. Letztere legen sich im weiteren
Verlauf zu zwei Tochterplatten an und rücken nach
Auflösung der Kernmembran nach den Polen hin.
Die kleinen Körperchen verlieren sich schließlich
bei der Verdichtung der Chromosome. Die .Strah-
lung hört auf, und es kommt zur völligen Teilung
des Kerns, indem sich das grobkörnige Zellplasma
gegenüber dem hyalineren die Oberhand verschaft't.
So ist durch allmähliches Fortschreiten die
direkte Zellteilung in die Nähe der indirekten ge-
eine
N. F. III. Nr. S
Naliirvvissciischaftliche Wochenschrift.
115
bracht. Wir sahen, daf3 bei letzterer das Zentro-
soma eine wichtii^e Rolle spielt, und wollen uns
nun speziell mit ilim befassen.
Mit Ro\'cri können wir das Zentrosom definieren
Aiiiorba
I'Aiglcna
gene Protoplasma sich an einem Pol desselben an-
sammelt. Der Kern selbst entwickelt eine aus-
gesprochene Heteropolie, indem die angrenzenden
Chromatinfäden zugleich nach diesem Pole hin
konvergieren. Hier ist die .'\nlagestatte des Zentro-
soms. Die Kernfäden, die den Hauptpol des
Kerns bezeichnen, ragen im weiteren Verlauf über
die Grenzen des Kerns hinaus in das umgebende
'.\.''ki
■(m^::
( *palina
Kig. 5. Zcntrosonia-Entwicldung bei Aclinos|iiiacrimn
(mich i\. Ilcrlwig.)
Actinospliacriuni (nacti 1\. Ilcrtwig.)
Fig. 4. Kcnilcilungsfiguren.
als ein der entstehenden Zelle zukommendes,
dauerndes Organ, das die Zentren für die ent-
stehenden Tochterzellen liefert.
Seinem Hauptbestandteile nach setzt es sich
aus achromatischer Substanz zusammen, und wir
unterscheiden an ihm die Zentralkörper oder Zen-
triole und das kugelförmig angelegte Zentroplasma,
das die Zentriolen wie ein lichter Hof umgibt.
Die Bildung des Zentrosoms, z. 13. bei
Aktinosphärium (Fig. 5), kündigt sich hierbei
zunächst durch das Auftreten einer Protoplasma-
strahlung in der Zelle an, indem das früher
allseitig gleichmäßig um den Kern gelegene homo-
körnchenfreie Protoplasma. Die Spitzen und Zacken
derselben bilden die erste Anlage des Zentrosomas.
Fs besitzt in diesem Stadium noch eine spongiöse
Gestalt und sitzt entweder der Kernmembran breit
auf oder ist mit ihm durch einzelne Kernfäden
verbunden, je nach der Gestaltung des Kernpols.
Allmählich wird die P'orm des Zentrosoms eine
kompaktere, und, indem sich zwischen Kern und
Zentrosom eine Schicht des feinkörnigen Proto-
plasmas legt, kommt es zur Loslösung desselben.
Fig. 6. Fntstcliung des Centrosomas bei .\scaris mcgalo-
ccphala (nach Brauer.)
Die Entstehung des Zentrosoms aus dem Kern
zeigt sich auch bei der Bildung der Spermatozj'ten
von Ascaris megalocephala ( Fig. 6). Hier liegt neben
den Ciiromosomen und dem Nukleolus ein Ge-
bilde, das letzteren bei weitem an Größe überragt.
Es ist ein Zentrosom von kugeliger Gestalt, von
dem nach allen Seiten Jiin feine I'asern ausstrahlen.
Ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
Sein Innenraum erscheint homogen und trägt im
Zentrum ein dunkleres Korn, das Zentralkorn. Bei
älteren Stadien zeigt das Zentrosom eine lang-
gestreckte Form, das Zentralkorn teilt sich und
die Stücke lagern sich an verschiedenen Polen an.
Auch das Zentrosom selbst schnürt sich durch, und
die Teilprodukte rücken nach entgegengesetzten
Seiten der Kernmembran zu, während sich zwischen
beiden feine F'asern hinziehen, die um so deutlicher
werden, je weiter die Zentrosome sich vonein-
ander entfernen. Es bildet sich gleichsam eine
kleine Spindel ohne Aquatorialplatte aus. Sobald
sich nun die Tochterzentrosome der Membran des
Kerns anpassen, platzt diese, so daß die Zentro-
some zur Hälfte im Kern, zur Hälfte im Zell-
plasma liegen. Gleichzeitig bildet das Protoplasma
einen körnchenfreien Hof um die Zentrosomen,
die Sphäre, in die jene eine feine Strahlung senden.
Schließlich liegen die Zentrosome ganz außerhalb
der Kernmembran und an entgegengesetzten Polen
derselben. Es hat also in diesem Falle die Teilung
und Lagerung der Zentrosome im Innern des
Kerns sich vollzogen.
schon vorher getrennten Zentriolen in die Länge,
und um jedes Zentriol schnürt sich die Hälfte des
Zentroplasmas ab. Die Substanz des Mutter-
zentrosomas scheint ganz in die Tochtergebilde
überzugehen, die sich alsbald abrunden und zu
neuen Zentrosomen heranwachsen. Zuweilen sieht
man zwischen beiden noch einen äquatorialen
Verbindungsstiel auftreten, der als letzter Rest
der ursprünglichen Gemeinschaft der beiden Teile
gelten kann. Wesentlich anders gestalten sich die
Verhältnisse, wenn das Zentrosom sich zur Teilung
anschickt, während es sein größtes Volumen besitzt,
wobei dann die Verkleinerung mit der Teilung Hand
in Hand geht (Fig. 8). Hier wächst das Zentrosom
zu einem elliptischen Körper heran, in dessen vor-
iiii#
Fig. 7. .\us Boveri, Zelleastudien, Heft IV, 1901.
Fig. 8. Aus Boveri, Zcllcnstudien, Hett IV, 1901
Nach der Entwicklung des Zentrosoms aus dem
Kern bleibt seine Größe in der Zukunft niclit die-
selbe, vielmehr v-erkleinert es sich durch Ver-
dichtung wieder. Dies ist von Bedeutung für die
Teilung, die je nach den beiden Entwicklungs-
stufen einen anderen Verlauf nimmt. In dem Falle,
wo das Zentrosom schon wieder verkleinert ist,
geht die Bildung der Tochterelemente sehr einfach
vor sich (Fig. 7). Hier streckt sich das Zentrosom
in der Richtimg der N^erbindungslinie der beiden
gewölbten Enden die Zentriolen zu liegen kommen.
Um jedes Zentriol differenziert sich ein homo-
gener Teil des Mutterzentrosoms; der mittlere
Teil wird faserig und liegt als Verbindung zwischen
den beiden Polen. So kommt es zu einer Zentral-
spindel, die in gewisser Beziehung dem vorhin
erwähnten Verbindungsstiel entspricht. Die Tochter-
zentrosome entwickeln sich nun aus den dichteren
Partien der Pole.
Hier sei srleich noch erwähnt, daß an (xröße
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
117
das Zentrosom der Zellengröße proportional ist.
Was die Beziehung des Zentrosoms zur Spindel
betrifft, so gilt da wohl der Satz, da(.3 das Zentro-
som um so größer ist, je gröfSer sich ihm die
Spindel anlegt.
Nach Boveri teilen sich die Zentrosome nur
durch Zweiteilung, wonach sich die Anzahl der
Spindelpole richtet. Völlig übereinstimmend da-
mit sind die Befunde der Brüder Hertwig bei See-
igel - Eiern. Sie brachten normal befruchtete
Eier, die kurz vor der Teilung standen, in eine
Chinin- oder Chlorallösung, um die Durchschnürung
des ProtO]3lasmas zu verhindern. Dabei bildete
sicli die Teilungsfigur zurück, und das gesamte
Chromatin vereinigte sich zu einem einzigen, ziem-
lich großen Kern. Wenn nun die Teilungsfähig-
keit wieder erwachte, zeigten sich um diesen Kern
4 Pole, und es entstand eine vierpolige Teilungs-
figur. Der Vorgang verlief nach Boveri's Meinung
einfach so, dal:! den Zentrosomen zwar der Ein-
fluß auf Protoplasma und Kern entzogen war
durch die Einwirkung des Chinins, sie selbst aber
in der begonnenen Teilung ruhig fortschritten.
Er unterstützte aber auch die Behauptung Boveri's,
daß die Zentrosomen sich stets in der Zweiteilung
vermehren.
Wie verhält sich nun das Zentrosom zu der
es umgebenden Sphäre. Diese besteht aus fein-
körnigem Protoplasma, das sich sofort um die
Anlagestelle des Zentrosoms legt, wenn dieses in die
Nähe der Kernmembran kommt. Ob die Sphäre,
die in ihrer Struktur sich vom übrigen Proto-
plasma der Zelle unterscheidet, einen dauernd
unterscheidbaren Bestandteil des Protoplasmas be-
deutet, der, für gewöhnlich im ganzen Zellenleib
verteilt, sich um die Zentrosome ganz oder teil-
weise zusammenzieht und zu radiären Zügen ordnet,
oder ob unter dem Einfluß der Zentrosome das
gewöhnliche Protoplasma sich umwandelt, ist noch
nicht entschieden. Jedenfalls findet eine Ansamm-
lung von dichterer, feinkörnigerer Zellsubstanz
um die Zentrosome statt, mit der eine Zurück-
drängung von Zwischensubstanz verbunden ist.
Die Strahlung, die man in der Sphäre wahrnimmt,
geht nicht bis zu den Zentriolen heran, sondern
reicht nur bis zur Grenze des Zentroplasmas. Das
Verhältnis der Sphäre zu Zentrosom und Zentriol
legt uns zwei Fragen nahe: I. Von welchem Teile
des Zentrosoms Jiängt die Bildung der Sphäre ab,
und 2. steht die Teilung des Zentrosoms in ge-
wissem Verliältnis zu derselben ? Wenden wir uns
zunächst der ersten P'rage zu, so sehen wir, daß
das Zentroplasma nie von Strahlen durchzogen ist,
das Zentriol könnte also nicht als Insertionspunkt
wirken, sondern nur etwa wie ein in Papier ge-
wickelter Magnetpol, der Eisenfeilspänen eine radiäre
Anordnung beibringt, aber soweit das Papier reicht,
einen an Spänen freien Ring um sich läßt. Ver-
längert man die Strahlen nach dem Zentriol hin,
so treffen sie zwar in kugeligen Zentrosomen in
letzterem zusammen, was aber namentlich bei der
Teilung in Tochterzentrosome nicht mehr der Fall
ist. Dagegen nimmt die Sphäre jede Form an,
in die das Zentrosom als Ganzes übergeht; sie
wächst, wenn das Zentrosom an Größe zunimmt,
und plattet sich gleichzeitig mit ihm ab. Diese
Abplattung von Zentrosom und Sphäre geht oft
in einer Ebene vor sich, die zu der Richtung der
Verbindungslinie der beiden Zentriolen einen
Winkel bildet. Somit läßt sich wohl die erste
Frage dahin entscheiden, daß die ganze Beziehung
zur Sphäre dem Zentrosom als Ganzem obliegt,
während das Zentriol weder Insertionspunkt der
Radien, noch deren Erregungszentrum ist. Was
die zweite Frage nach den Teilungsbeziehungen
zwischen Sphäre und Zentrosom angeht, so lehrt
die Beobachtung, daß sich um jedes Tochter-
zentrosom eine neue Sphäre bildet, die wie die
erste sich von minimalen Anfängen entwickeln
muß. Ist sie auf der Höhe ihrer Entwicklung an-
gelangt, dann schwindet sie nach ihrer karyokine-
tischen Wirksamkeit wieder dahin. Man kann
daher wohl annehmen, daß jedes Zentrosom nor-
malerweise nur eine Sphäre erzeugen kann.
Die Frage, ob das Zentrosom in allen Zellen
vorkommt, ist wohl mit „Nein" zu beantworten.
Einmal tritt nämlich die indirekte Teilung nicht
immer unter Beteiligung von Zentrosomen auf,
dann sehen wir bei vielen Protozoen, bei Pflanzen
und den Ovozyten vieler Tiere, dal.5 die Einrich-
tung des Zentrosoms nicht unbedingt erforderlich
ist. Ist nun auch in dieser Hinsicht die Gültig-
keit der Zentrosomenlehre eine beschränkte, so ist
eine andere Frage die, ob diese Körperchen in
den Zellen, deren Teilung durch sie vermittelt
wird, dauernde oder nur vorübergehende Bildungen
sind. In dieser Hinsicht gehen die Meinungen der
Autoren noch sehr auseinander. Boveri meint, daß
das Zentrosom als Ganzes ein dauerndes Zell-
organ sei, dagegen ist ein anderer Teil der Forscher
der Meinung, daß diese Bereciitigung nur den
Zentriolen zukomme, und dies wiederum nur bei
Zellen, die in rascher Folge Teilungen unterworfen
seien. Jedenfalls ist den Zentrosomen eine Wichtig-
keit, die den Chromosomen zukommt, nicht im
geringsten beizulegen.
Weit wichtiger ist dagegen das Verhältnis der
Zentrosomen in den Fällen, wo sie sich an der
Zellteilung beteiligen. Auch hierüber hat lange
Zeit der Streit der Forscher hin und hergewogt,
und er dauert auch jetzt wohl noch fort. Eine
ganze Reihe von Theorien sind über diesen Punkt
aufgestellt worden, von denen hier nur einige er-
wähnt seien. Da die vorher angestellten Be-
trachtungen in Rücksicht auf die Boveri'schen Sätze
verliefen, so möge seine Theorie auch zuerst be-
handelt werden.
Boveri's Ansicht ist ungefähr folgendermaßen zu-
sammenzufassen : Zum Zweck der Teilung hat sich
in der typischen Metazoenzelle in Gestalt des
Zentrosoms ein Gebilde organisiert, das die Pro-
zesse der Mitose maschinenmäßig zum Verlaufe
bringt. Es ist gewissermaßen das dynamische
Zentrum der Zelle, durch dessen Teilung die
ii8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
Zentren zu den sich bildenden Tochterzellen ge-
schaffen werden, um die sich dann die übrigen
Zellbestandteile symmetrisch gruppieren. Um jedes
Tochterzentrosoma entstellt aus gewissen Bestand-
teilen des Zellkörpers eine Sphäre, und es differen-
zieren sich in manchen Fällen aus dem Kern-
inhalte ähnliche Fasern , die gleichfalls auf die
Zentrosome gerichtet sind. Indem nun jedes
Tochterzentrosom auf den noch ungeteilten Re-
standteil des Kerns, das Chromatin, eine anziehende
Wirkung ausübt, kommt es zur Bildung der Äqua-
torial- und später der Tochterplatten. Auch die
Bildung der unter dem Namen „Zellplatte" be-
kannten Scheidewand und die Einschnürung der
Zellwand in der auf der Verbindungslinie der
Zentrosome senkrechten Ebene ist deren Wirkung.
Das Zentrosom ist somit das eigentliche Teilungs-
organ der Zelle, es vermittelt die Kern- und Zell-
teilung. Die aktive Tätigkeit des Kerns beruht
bei der Teilung nur in der Kontraktion des Chro-
matins, dem Zentrosom fällt dagegen die Aufgabe
zu, diese durch die Spaltung entstandenen Tochter-
elemente in 2 Gruppen zu zerlegen, so da(3 sie
beim Zustande des ruhenden Kerns nicht mehr
von einer Kernvakuole umschlossen werden. Treten
mehr als 2 Zentrosome in Tätigkeit, so wird un-
abhängig von Qualität und Quantität der Kern-
substanz diese in soviel gleiche Teile zerlegt, als
Zentrosome auftreten. Andere Theorien sprechen
dagegen dem Zentrosom nur die Existenz eines
Angriffsorganes zu und lassen die Zellteilung durch
die Strahlung des Protoplasmas zustande kommen.
Gebilde ohne jede Struktur der Zentralkörper.
Aus seiner Vermehrung, die ohne jede Beziehung
zur Zellteilung verläuft, entsteht eine Anzahl von
Gebilden, die zu Gruppen vereint die Mikrozentren
Heidenhain's bilden. Diese Mikrozentren sind durch
organische Radien mit der Zellmembran verbunden,
so daß sie sich immer im Zustand der Spannung
befinden. Da diese ortjanischen Fäden eleichlansf
sind, und so die Spannung nach allen Seiten die
gleiche ist, so würde sich das Mikrozentrum immer
in der Mitte der Zellen befinden, jedoch drängt sie
der dazwischentretende Kern mehr der Peripherie
der Zelle zu. Das Spannungsgesetz ist nun auch
bei der Mitose wirksam. Durch die Teilung des
Mikrozentrums wird das Gleichgewicht innerhalb
der Zelle gestört, da sich die Radien zu gleichen
Teilen auf die beiden Tochterelemenle als In-
sertionspunkte konzentrieren. Beide Radiärsysteme
streben nun der Gleichgewichtslage zu, die erst
dann erreicht wird, wenn sich die Tochtermikro-
zentren in eine polare Stellung gelegt haben, und
der Kern zwischen beide Pole zu liegen kommt.
Durch die Kontraktion der über den Kern hin-
laufenden Polfäden, kommt die Bildung der Äqua-
torialplatte und der Tochterplatten zustande. Auf
demselben Vorgange beruht auch die schließliche
Einschnürung der Zellmembran. Heidenhain ver-
legt also die Hauptarbeit bei der Mitose nicht in
die Wirkung von Zenlrosomen oder Mikrozentren,
sondern in die Zugkraft der radiären Sirahlen, die
sich der Mikrozentren nur als Insertionspunktc be-
dienen.
Fig. g. Schemata zur Zellteilungsthcoiie (nach Heidenhain.)
So nimmt Heidenhain Zentrosome in dem Sinne,
wie sie eben beschrieben wurden, nicht an, sondern
sieht im Mittel[Hinkl der Sphäre ein kugeliges
Fig. 10. Schemata zur Expansionstheorie (nach Meves.)
Entgegen dieser Anschauung nimmt eine andere
Richtung nicht eine Kontraktion, sondern eine
Expansion der Fasern an. Ihre Ansicht ist, daß
durch anhaltendes Wachstum der Polstralilen, die
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
119
auch hier an das Zentrosom anstoßen, eine stem-
mende Wirkung derselben erzielt werde, auf die
alle Erscheinungen der Mitose zurückzuführen seien.
Die Anlage der Zentralspindel ist von dem Wachs-
tum der Fäden zwischen den Tochterzentrosomen
abzuleiten und bedingt auch durch ihre Stemm-
wirkung das weitereAuseinanderrücken der letzteren.
Die Entstehung der Äquatorialplatte ist nach
dieser Expansionstheorie auf den von beiden
Zentrosomen auf die Chromosome gleichmäßig
ausgeübten Druck zurückzuführen. Die Tochter-
platten werden dadurch gebildet , daß die Fäden
sich an die einzelnen Teilchromosome nach deren
Längsspaltung anlegen und durch ihr Wachslum
dem entgegengesetzten Zentrosom zuschieben.
Die definitive Zellteilung kommt nach Meves
schließlich dadurch zustande, daß die Polfäden
zwischen den Zentrosomen und auch solche, die
seitlich nach der Zellmembran verlaufen, stark an
Größe zunehmen. Durch diese gekreuzte Stemm-
wirkung wird die Zellmembran gezwungen, sich
zwischen den Zentrosomen einzuschnüren, da zugleich
das Protoplasma aus den mittleren Zellteilen nach
den seitlich ausgebuchteten Partien hinwandert.
Den Stützpunkt zu diesen stemmenden Wirkungen
der Polfäden bilden wiederum die beiden Zentro-
some.
Vis
Schemata zur Zcllteilungsthcoric von Rliuiiil>Kr
Inacli Rhumbler.)
Noch eine andere Theorie der Zellteilung ver-
dient hier Erwähnung, da bei ihr neben einem
Zug zugleich ein Druck der Zellelemente ange-
nommen wird. Es ist die Hypothese, die Rhumbler
auf Grund der Wabentheorie Bütschli's aufgestellt
hat. Letztere sagt aus, das Protoplasma der Zelle
ist als Ganzes flüssig und besteht aus dem weiche-
ren Enchylema und dem zäheren Hyaloplasma.
Die Wechselbeziehung zwischen beiden Bestand-
teilen ist die ideal beste, wenn das Enchylema
sich in dem wabenähnlichen Bau des Hyaloplas-
mas einlagert. Die Strahlung im Innern der Zelle
kommt nach Rhumbler's Theorie dadurch zustande,
daß das Zentrosom seiner Umgebung Flüssig-
keit entzieht. Auf diese Weise wird das Hyalo-
plasma zäher und zugleich müssen sich die Waben
in der Nähe des Zentrosoms zusammenziehen.
Diese Verkleinerung der Waben bedingt einen
Zug des ganzen Zellenbaues, der noch um so
größer wird, wenn der Kern beginnt, sich eben-
falls auf Kosten der ihn umgebenden Waben aus-
zudehnen. Das Zentrosom kann schließlich dem
beiderseitigen Zuge nicht mehr standhalten , es
teilt sich, und beide Tochterzentrosome werden
durch die Zugkraft um den Kern herum in eine
IJolare Stellung gegen ihn bewegt. Auch die An-
lage der Äquatorial- und Tochterplatten beruht
auf der Wirkung eines Zuges der Wabenradien.
Die Zellteilung selbst kommt durch großes Wachsen
der Zellmembranen und den Zug der Radien zu-
stande.
Wir sehen aus den angeführten Theorien, wie
verschiedener Art die Ansichten der Autoren über
die Zellteilung sind. Alle aber stimmen dahin
überein, daß das Zentrosom durch seine Teilung
die Zentren zu den sich neubildenden Zellen ab-
gibt.
W'erfen wir zum Schlüsse noch einen Blick
auf die Bedeutung des Zentrosoms im allgemeinen
und fragen uns, was die Einrichtung desselben zu
bedeuten hat. Daß alles zur Teilung Notwendige
in der Zelle selbst ruht, das lehrt die Teilung der
Protozoenzelle. Daher gewinnt die Auffassung
immer mehr an Sicherheit , daß die Bedeutung
der Zentrosombildung in einer Verbesserung des
Kernteilungsapparats beruhe. Die Scheidung des
Chromatins ist bei der direkten Teilung eine re-
lativ rohe, durch die Individualisierung des Zentro-
soms als Teilungsapparat neben dem Kern wird
eine viel innigere Beziehung zwischen Kern- und
Plasmateilung hervorgerufen. Bei den Protozoen
scheint das Zellplasma in sich die Fähigkeit zur
Teilung zu haben; Kern- und Plasmateilung sind
ziemlich unabhängig voneinander. Dies ändert
sich jedoch mit dem Auftreten des Zentrosoms.
Dieses sphärenerregende Gebilde macht seinen
Einfluß auf Kern und Plasma gleichzeitig geltend,
was besonders in den Fällen geschieht , in denen
es darauf ankommt, die Kernteilung streng an die
des Zytoplasmas zu binden und eine möglichst
gleichmäßige Verteilung des Chromatins auf beide
Tochterzellen herbeizuführen.
Kleinere Mitteilungen.
Die heutigen Anschauungen über die Ent-
stehung der Zahncaries behandelte der Zahn-
arzt Dr. F'ritz Sc hae f fe r- S t u cker t in einem
Vortrag vor der Senckenb. Ges. zu Frankfurt a. M.
(vgl. Berichte 1903). — Die Caries der Zähne
nimmt unter den Erkrankungen des menschlichen
Körpers eine Sonderstellung ein, da das Zahnge-
webe nicht die Bedingungen der Ausheilung in
sich birgt. Die Forschungen werden deshalb nicht
auf die Auffindung eines Caries- Erregers oder auf
die Gewinnung eines spezifischen Heilmittels ge-
richtet sein, sondern auf die Erforschung der mannig-
fachen Ursachen, welche zum Zustandekommen
dieser Erkrankung beitragen.
Für die L'rsachen der Zahncaries kommen
namentlich in Betracht die beiden Hartgewebe
I20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
der Zähne : Schmelz und Zahnbein oder Dentin.
Die Anlage dieser Gewebe, die Verkalkung erfolgt
für die Milchzähne vom fünften Monat des Fötal-
lebens ab und für die bleibenden Zähne in den
vier ersten Lebensjahren des Kindes.
Redner teilt die Ursachen der Zahncaries in
exzitierende und prädisponierende Ursachen ein.
Über die exzitierenden Ursachen sind seit Hippo-
krates und Galen bis heute die mannigfachsten
Theorien aufgestellt worden. Jetzt gültig ist die von
Miller begründete chemisch - parasitäre Theorie.
Danach ist der erste Vorgang bei der Zerstörung
des Zahnschmelzes die chemische Einwirkung von
Säuren, die die zirka 95 prozentige anorganische
Substanz des Schmelzes lösen. Die hauptsäch-
lichste Säurequelle im Munde ist die Gährung der
Kohlehydrate. Die Speisereste von Zucker, Brot,
Kartoffeln, Stärke bilden Milchsäure, die der
schlimmste Feind des Zahnschmelzes ist. Es sind
insbesondere alle klebrigen stärke- und zucker-
haltigen Nahrungsmittel geeignet, den Beginn der
Caries zu fördern. Nachdem die Säure die harte
Schmelzsubstanz chemisch gelöst hat, tritt die
parasitäre Wirkung, die zerstörende Wirkung der
Bakterien in Tätigkeit. Die Bakterien haben im
Munde die günstigsten Lebensbedingungen. Von
Miller sind sechs pathogene Mundbakterien in
cariösen Zähnen konstatiert, denen sonstige Krank-
heitserscheinungen nicht zuzuschreiben sind. Es
finden sich aber auch Mikroorganismen in cariösen
Zähnen vor, die bei Allgemeinerkrankungen des
Körpers, bei Lungenentzündung, Tuberkulose und
anderen nachgewiesen worden sind. Die neuesten
Forschungen von Preiswerk machen nun sogar
auch die Gärungserreger der Eiweißstoffe, des
Fleisches, der Eier u. a. für das Entstehen der
Caries verantwortlich, so daß für den Schmelz in
bezug auf die Bakterien im Munde gesagt werden
kann : Feinde ringsum. Im allgemeinen aber ist
der Zahnschmelz auch gegen die Einwirkung der
Säuren sehr widerstandsfähig. Die verschiedene
Widerstandsfähigkeit der Zähne ist die Hauptfrage
der prädisponierenden Ursachen. Namentlich der
Kalkgehalt des Schmelzes kommt bei den prä-
disponierenden Ursachen in Betracht. Roses aus-
gedehnte Untersuchungen haben nachgewiesen,
daß auf kalkarmem Boden schlechte Zähne, auf
kalkreichem Boden gute Zähne vorkommen. Als
gute Zähne sind im allgemeinen gelbliche, als
schlechte die bläulich-weißen und weißen Zähne
zu bezeichnen. Auch das Vorkommen der Farben
stimmt mit dieser Statistik überein. Die Härte
des Wassers (kalkhaltiges Wasser hat einen größeren
Härtegrad) stimmt gleichfalls mit der mehr oder
minder großen Cariesfrequenz überein. Als Unter-
suchungsmaterial hat Rose Schulkinder, namentlich
aber Musterungspflichtige gehabt , und Redner
spricht die Hoffnung aus, daß die Untersuchungen
der Zahnverhältnisse bei Musterungspflichtigen noch
weitere Aufschlüsse bringen werden. Weitere prä-
disponierende Ursachen sind der Kalkgehalt des
Speichels, der nach Michel auch auf den mehr
oder minder hohen Härtegrad des Wassers zurück-
geführt wird. Dann ist von Wichtigkeit für die
Bildung der Zähne die Ernährung während des
Fötallebens sowohl als während der vier ersten
Lebensjahre. Das Stillen der Kinder ist von heil-
samem Einfluß auf die Entwicklung der bleibenden
Zähne. Aber auch bei dem Ersatz für die Mutter-
milch wird zu wenig auf genügende Kalkzufuhr
gesehen. Der Salzgehalt der Kindernährmittel ist
ein sehr verschiedener, und wie Redner an einer
Tabelle zeigt, sorgen nur wenige Kindernährmittel
für genügenden Gehalt an Kalksajzen. Ernährungs-
störungen, Krämpfe, Verdauungsstörungen verur-
sachen oft bleibende mangelhafte Schmelzbildung.
Auch die Rasseneigentümlichkeit spielt nach Rose
eine einflußreiche Rolle bei dem Auftreten der
Caries. Langköjjfe mit schmalem , engem Kiefer
haben größere Cariesfrequenz als Kurzköpfe mit
breitem Kiefer. Die Erblichkeit ist gleichfalls unter
die prädisponierenden llrsachen zu rechnen, denn
das enge Zusammenstehen breiter Zähne im engen
Kieferbogen gibt zweifellos Anlaß zur Entstehung
von Cariesherden.
Schließlich ist die aus den Statistiken Roses
hervorgehende Beobachtung zu erwähnen, daß in
Gegenden mit schwarzem, dickrindigem Roggenbrot
weniger Caries auftritt als bei Genuß weißen, weichen
Weizenbrotes. Dieser Umstand ist auf die mecha-
nisch reinigende Wirkung des Kauens harter
Nahrungsstoffe zurückzuführen , setzt aber still-
schweigend auch eine gewisse vitale Reaktion vor-
aus, die beim Zahn noch nicht völlig nachgewiesen
ist. Der Satz: Jedes Glied des menschlichen
Körpers wird durch Benutzung besser und kräftiger,
muß in gewisser Beziehung auch für die Zähne
gelten. Das beweisen die Zähne der Naturvölker,
das zeigen hauptsächlich die enormen Größen bei
den prähistorischen Zahnfunden der Schipkahöhle,
von Krapina u. a.
Über ,, Schwimmblase, Lunge und Kiemen"
betitelte sich ein \^ortrag von J. W. S p e n g c 1
aus Gießen, den dieser vor der Senckenbergischen
Naturf-Ges. in Frankfurt a. M. gehalten hat. Bei
einem Versuch — lesen wir in den Berichten der
genannten Gesellschaft (1903) — die zwischen
Schwimmblase, Lunge und Kiemen bestehenden
Beziehungen zu ermitteln, ist die morphologische
und physiologische Betrachtungsweise der Organe
möglichst scharf auseinander zu halten. Organe
gleichen morphologischen Wertes können bei ver-
schiedenen Tieren ihre Funktion wechseln, und
der gleichen Funktion können bei verschiedenen
Tieren Organe verschiedenen morphologischen
Wertes dienen. Für letzteres sind ein Beispiel die
Atmungsorgane der Wirbeltiere: Kiemen und
Lungen, für ersteres die Schwimmblase und die
Lunge, unter denen nach der herrschenden An-
sicht Homologie besteht. Dieser steht zwar die
Tatsache entgegen, daß die Schwimmblase in der
Einzahl vorhanden ist, über dem Darm liegt und
von obenher in denselben einmündet, wohingegen
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
121
die Lunge doppelt ist, unter dem Darm liegt und
von unten her in ihn einmündet. Allein die ver-
gleichend-anatomische Forschung hat unter den
Fischen Formen nachgewiesen, deren Schwimm-
blasen sich bald in dem einen, bald in dem anderen
der genannten Punkte wie die Lungen verhalten,
und die zum Teil auch insofern von den gewöhn-
lichen Schwimmblasen abweichen und den Lungen
gleichen, als sie wie diese gebaut sind und mit
atmosphärischer Luft vom Munde aus gefüllt
werden können, während die echten Schwimm-
blasen mit Gasen gefüllt sind, die aus dem Blut
ausgeschieden werden. Für die Annahme einer
allmählich entstandenen Änderung der Funktion
ist es von Wichtigkeit, daß manche Fische den
in ihrer Schwimmblase enthaltenen Sauerstoft' wieder
in ihr Blut aufnehmen und so zur Atmung mit-
verwenden können, wie es in der Lunge regel-
mäßig geschieht. Füllung mit Luft vom Munde
aus ist dafür noch günstiger. Am weitesten sind
diese denen der Lunge entsprechenden Einrich-
tungen bei den sogenannten Lungenfischen ausge-
bildet, deren zwei Schwimmblasen physiologisch
und anatomisch den Lungen der Amphibien gleichen,
auch darin, daß sie die PTemente eines Kehlkopfs
aufweisen und ihre Blutgefäßversorgung mit der-
jenigen der Lungen übereinstimmt.
Für die Annahme einer Umwandlung der
Schwimmblase in eine Lunge ergeben sich Schwierig-
keiten, da die erstere bei diesem Vorgang von
der Oberseite auf die Unterseite des Darms
rücken und dabei die mit ihr zusammenhängenden
Blutgefäße Verschiebungen erfahren müßten, wie
sie in Wirklichkeit nicht beobachtet werden. Boas
hat deshalb die Hypothese aufgestellt, die Schwimm-
blase sei vor ihrer Lageveränderung in zwei Blasen
geteilt, jede an einer Seite um den Darm herum
auf die Unterseite gewandert und beide dann
wieder miteinander verwachsen. Da diese An-
nahme auf gewichtige Bedenken stößt, wird man
es mit Sagemehl für wahrscheinlicher halten,
daß das zuerst vorhandene Organ sich lungen-
ähnlich verhalten habe und aus ihm die Schwimm-
blase hervorgegangen sei, welche dann die für eine
solche zweckmäßige Lage an der Oberseite des
Darms angenommen habe. Sp. versucht diese An-
sicht zu stützen, indem er die lungenähnlichen
Organe als ein Paar ursprünglicher Kiementaschen
betrachtet. Dafür beruft er sich auf die Herkunft
der Skelett- und Muskelbestandteile des Kehlkopfs
an den entsprechenden Teilen der Kiementaschen
und auf die Blutgefäl3versorgung durch Äste der
Kiemenarterien. Eine Vereinigung von zwei Kiemen-
taschen zu einer gemeinsamen Mündung kommt
auch bei gewissen Fischen vor. Vielleicht sind
aber statt zweier Kiementaschen nur zwei Aus-
sackungen solcher zu Lungen geworden, wie sie
sich in Zusammenhang mit sogenannten acces-
sorischen Kiemenorganen bei Fischen finden.
N. A. Maxim ow. Über den Einflufs der
Verletzungen auf die Respirationsquotienten.
(Ber. d. Dtsch. Botan. Gesellsch., XXI. Bd., Hefts,
1903). — Es ist bekannt, daß die Verletzung der
Pflanze eine Reihe verschiedenartiger Prozesse in
dieser hervorruft , wie eine energische Synthese
von Eiweißkörpern, eine Steigerung der Atmungs-
tätigkeit u. dergl. Eine solche Erhöhung der
Atmungsenergie ist nur bei Luftzutritt, also bei
Gegenwart von Sauerstofif, wahrnehmbar. Verf.
hat sich in der vorliegenden Arbeit die Aufgabe
gestellt, festzustellen, ,,ob in der Tat nach statt-
gefundener Verletzung eine erhöhte Absorption
von Sauerstoff wahrzunehmen ist, was sich durch
ein Fallen des Respirationsquotienten ') offenbaren
würde.
Verf. arbeitete bei seinen Versuchen mit
Kartoffelknollen und Zwiebeln von AUium Cepa,
Beide Objekte sind recht glücklich gewählt, da
sich die erwähnten Prozesse, die sich infolge von
Verletzungen abspielen, besonders gut an fleischigen,
an Nährstoffen reichen Organen beobachten lassen.
Die Objekte wurden in zerschnittenem Zustande
in durch Quecksilber abgeschlossene Reagensgläser
gebracht, die Luft in den Röhren dann gasanaly-
tisch untersucht. Dabei ergab sich , daß die
Respirationsquotienten bei unverletzten fleischigen
Organen (besonders bei den Knollen von Solanum
tuberosum) recht bedeutende Schwankungen auf-
weisen können. Da sie nämlich die Fähigkeit
besitzen, große Mengen Kohlensäure in sich
anzusammeln, so können sie, in einen abgeschlos-
senen Raum gebracht, in der ersten Zeit einen
Teil dieses Gases zurückhalten , was zu einem
scheinbaren Sinken des Respirations(]uotienten
führen kann. Das Umgekehrte, ein Steigen des
Atmungsquotienten , konnte beobachtet werden,
sobald die Versuchsobjekte aus einer an Sauerstoff
sehr reichen Atmosphäre in die Luft gebracht
wurden , wobei sie einen Überfluß an CO._, aus-
scheiden, was natürlich ebenfalls zu falscher Deu-
tung Anlaß geben konnte.
Unmittelbar nach \ollzogener Verletzung erfuhr
der Respirationsquotient eine bedeutende Steige-
rung; es wurde eine große Menge Kohlensäure
ausgeschieden, ohne daß eine entsprechende
Sauerstoffabsorption stattfand. Diese Erscheinung
erklärte sich daraus, daß die durch Vergrößerung
der freien Oberfläche (die Oberflächenvergrößerung
kam zustande durch die Verwundung) in den Ge-
weben angesammelte Kohlensäure eine schnelle
Absonderung erfuhr. Diese erste lebhafte Gas-
ausscheidung hörte übrigens sehr bald auf. Da-
nach fiel der AtmungS(]uotient rapid, was durch
ein lebhaftes Steigen der Sauerstoftabsorption be-
dingt war, begann jedoch bald darauf wieder zu
wachsen und erreichte am zweiten oder dritten
Tage nach der Verletzung das Maximum. Mit
dem Fortschreiten der Heilung der Wundfläche
kehrte der Respirationsquotient allmählich zu seiner
früheren Höhe zurück. Se.
') Unter ,, Atmungsquotient" versteht man das Verhältnis der
. CO,
aus<;catmctcnKohlensäurc zum aufgenommenen Sauerstoff, ".
122
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
Der Zement. — Zemente oder hydrau-
lische Mörtel — so genannt, weil Wasser
keinen Einfluß auf dieselben hat; sie werden so-
gar um so fester, je länger sie mit Wasser in
Berührung sind — kommen teils schon fertig ge-
bildet vor, durch vulkanische Hitze gebrannt, Trass,
Puzzuolanerde, Santorin, teils werden sie künstlich
durch Brennen natürlich \'orkommendcr toniger
Kalksteine oder durch Brennen eines künstlichen
Gemisches aus Kalkstein oder aus Ätzkalk mit
Ton erzeugt. Die ersteren Arten von Zement,
aus tonigem Kalkstein, bezeichnet man als Roman-
ze m e n t e, die letzteren als P o r 1 1 a n d z e m e n t e.
Bis in das verflossene Jahrhundert hinein wurde
nur Romanzement durch Austreiben der
Kohlensäure aus dem Kalkstein durch Brennen
bei einer Temperatur bis zu 400" C. hergestellt,
bis es im Jahre 1824 dem englischen Maurer
Joseph Aspdin gelang, durch Brennen einer be-
stimmten Mischung von Kalk und Ton bis zur
Sinterung bei etwa 1400" C, also bei Hochofen-
temperatur, einen künstlichen Zement zu erzeugen.
Dieses Produkt hatte nun mit dem in England
viel zu Bauzwecken benutzten Baustein „Portland-
stone" sowohl Farbe als auch Festigkeit gemein,
weshalb Aspdin seine Erfindung „Portland-
zement" nannte.
Bei der sich bald entwickelnden künstlichen
Fabrikation des neuen Produktes, welche beson-
ders in Deutschland seit ungefähr 50 Jahren aus
kleinen Anfängen sich zu einer hervorragenden
Industrie emporgeschwungen hat, wurde der von
Aspdin allerdings willkürlich gewählte Name
„Portlandzement" als Begriff der von ihm erfun-
denen Herstellungsmethode festgehalten , so daß
man jetzt unter diesem Namen nur einen h\-drau-
lischen, unter Wasser erhärtenden Mörtel versteht,
welcher dadurch hergestellt wird , daß man eine
innige Mischung von Kalk und Ton bis zur Sinte-
rung brennt und dann in die Form eines feinen
Pulvers bringt.
Als V e r f ä 1 s c h u n g s m i 1 1 e 1 des Portland-
zementes dienen besonders die fein gemahlenen
Hochofenschlacken, welche ebenfalls hydraulische
Eigenschaften in gewissem Grade besitzen. Ge-
mische von Portlandzement und solchen Hochofen-
schlacken werden dann unter dem Namen
„S c h 1 a c k e n z e m e n t e" in den Handel gebracht.
Eine Hauptbedingung für einen guten Port-
landzemenl ist die richtige Zusammensetzung
dieselbe ist etwa folgende :
Kalk 62 »/„,
Kieselsäure 22 %,
Tonerde, Eisenoxyd 12 "
Magnesia 2 — 3
Schwefelsäure i — 2 "/„,
Alkalien etc. o — i
Die im Kalk und Ton zur Zementbildung ent-
haltenen Hauptbestandteile müssen demnach je
nach den sie begleitenden Nebenstoffen, wie I\lag-
nesia, Gips, Alkalien etc. in einem ganz bestimm-
ten, und demnach jeweils zu berechnenden Ver-
0/
111
7o
'/u,
1;
MI-
hältnisse gemischt werden. Aus diesem Grunde
ist in den großen Zementfabriken ein wissen-
schaftliches, mit den erforderlichen Apparaten aus-
gestattetes Laboratorium die wichtigste Abteilung
des ganzen Betriebes , da nur eine fortwäh-
rende chemische Kontrolle eine Garantie für ein
gutes, gebrauchsfähiges Produkt gibt.
Sehen wir uns nun einmal die Fabrikation des
Portlandzementes etwas genauer an. Selbstver-
ständlich gehören in eine große Fabrik heutzutage
große Dampfmaschinen zum Betreiben der ein-
zelnen Mühlen etc., ferner Maschinen zur Erzeugung
von Elektrizität für Kraftbetrieb und elektrisches
Licht.
Das Rohmaterial muß zuerst zerkleinert wer-
den; dies kann auf dreierlei Art erfolgen, entweder
nach dem Trockenverfahren (Karlstadt a. M.), oder
nach dem Naßverfahren (Schlämmen; Hemmoor),
oder nach dem gemischten Verfahren (Amöne-
burg). Die Rohmühle mit den Koller- und Stein-
mahlgängen dient zum Mahlen der vorher zer-
kleinerten Kalksteine und Zuschläge, die in Block-
form zunächst den Steinbrecher passieren müssen,
um dann in den Mahlgängen zu feinstem Pulver
gemahlen zu werden. Dieses sogenannte Roh-
mehl besitzt nun bereits die richtige Mischung,
muß aber noch gebrannt werden, und wird durch
eine in regelmäßigen Zwischenräumen vorzuneh-
mende chemische Analyse auf 75 — 78 "/„ Kalk
gehalten. Hat dieses Material die richtige Zu-
sammensetzung und genügende Mehlfeinheit und
wird dem späteren Brennen genügende Sorgfalt
zugewendet, dann muß auch das Endprodukt voll-
ständig allen Anforderungen entsprechen.
Durch geeignete Vorrichtungen wird hierauf
das Rohmehl mit 8 — 10 "/n Wasser innig durch-
knetet; von der so erhaltenen Masse preßt man
dann Steine, welche entweder direkt oder nach
kurzem Trocknen in vorgewärmten Räumen ge-
brannt werden. Das Brennen kann erfolgen in
Schachtöfen, Ringöfen oder Etagenöfen; neuer-
dings werden auch sog. rotierende üfen vielfach
empfohlen. Dies sind 20 und mehr Meter lange,
mit Ton ausgekleidete Rohre von einem Durch-
messer bis Mannesgröße. Die Masse wird hier
erhitzt bis zur Sinterung, das ist bis zum Schmelzen
und fällt dann in den Schachtöfen den Ausgängen
zu. Beim Erhitzen würde es sich zeigen, ob die
Zusammensetzung des Zementes richtig ist. Wird
nämlich die Kalkmenge nur um weniges über-
schritten, so stellt sich sofort der schlimmste und
am meisten gefürchtete Fehler, „das Treiben", ein,
während ein Mangel an Kalkgehalt die Festigkeit,
d. h. die Qualität mehr und mehr verringert. Von
hier aus werden die Klinker — so heißt die ge-
brannte Masse — nach dem Bespritzen mit Wasser
in die Zementmühle gefahren. In dieser werden
dieselben durch Brechmaschinen zerkleinert, dann
in Kugelmühlen gebracht, aus denen sie durch
Schnecken (korkzieherartige Schraubengänge) nach
großen Siebflächen befördert werden und hierauf
als mehlfeines Zementpulver in Silos gelangen, die
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
nach einer gewissen Belastung sich automatisch
entleeren, um neuen Zufuhren Platz zu machen.
Die Verpackung des fertigen Produktes erfolgt
dann meistens ebenfalls automatisch in Säcken
oder auch, namentlich fi.ir den Export, in Fässern.
In größeren Fabriken werden natürlich auch die
für die für die Aufnahme des Zementes bestimm-
ten Säcke und Fässer hergestellt.
Die Haupteigenschaften eines guten
Portlandzementes sind Volum beständigkcit
und Festigkeit. Als volumbeständig ist ein
Zement dann anzusehen, wenn er, mit Wasser
ohne Sandzusatz angemacht, an der Luft oder im
Wasser die beim Abbinden angenommene
Form dauernd beibehält. Namentlich in England,
in verschiedenen Fabriken auch in Deutschland,
bedient man sich eines Apparates zur ,, graphischen
Darstellung der Abbindezeit" mit Uhr und Skala;
bei diesem werden die Abbindekurven automatisch
aufgezeichnet. Die Abbindezeit differiert von einer
Minute bis zu lO Stunden und darüber, weshalb
man schnell-, mittel- und langsambindende Port-
landzementc unterscheidet. Ein Zement, welcher
abgebunden hat oder im Begriffe ist, abzubinden,
wird absolut unbrauchbar oder zum mindesten
minderwertig, wenn man ihn überrührt oder ihn
zur Weiterverarbeitung gar noch durch Wasser-
zusatz geschmeidig erhalten will, was häufig ge-
schieht. Auf die Abbindezeit ist die Temperatur,
sowohl des Zementes, wie auch des Wassers von
entscheidendem Einfluß. So besaß z. B. ein- und
derselbe Zement (Vortrag, gehalten am 14. Januar
igoi im Polytechnischen Verein München von
Direktor Steinbrück), welcher bei der normalen
Temperatur von 16" C. eine Abbindezeit von
I Stunde 30 Minuten hatte, bei einer Winter-
temperatur von 7 " C. eine solche von 5 Stunden,
bei einer Hochsommertemperatur von 30" C. eine
solche von 26 Minuten. Doch auch die zur Ver-
arbeitung des Zementes genommene Wassermenge
beeinflußt die Abbindezeit, wie aus folgendem zu
ersehen ist. Ein und derselbe Zement bindet ab
bei 26 "/„ Wasserzusatz in 6 Stunden 37 Minuten,
„ 27 % „ „ 7 „ 20 „ ,
.. 28 /„ „ „8 „ 3 „ ,
„ 29% „ „ 8 „ 24 „ ,
„ 307,, „ „ 9 „ 28 „ .
Die Rindezeit erhöht sich also mit dem Wasser-
zusatz.
Scliließlich wirkt aucli die Feuchtigkeit der
Luft insoferne auf das Abbinden ein , als der
Zement in trockener Luft schneller abbindet als
in feuchter; doch sind die Differenzen nicht be-
deutend. Die Bestimmung der Festigkeit er-
folgt durch die Zugprüfung oder durch Ermittlung
der Druckfestigkeit mittels besonderer Apparate;
erstere ist bequemer und mit billigeren Apparaten
auszuführen wie letztere; die D r u ckfestigkeit be-
trägt durchschnittlich das Zehnfache der Zugfestig-
keit. Die Normen schreiben hierüber vor ; „Lang-
sam bindender Zement soll bei der Probe mit
3 Gewichtsteilen Normalsand auf einen (iewichts-
teil Zement nach 28 Tagen Erhärtung — i Tag
an der Luft und 27 Tage unter Wasser — eine
Minimalzugfestigkeit von 16 kg pro Ouadratzenti-
meter haben, so daß man also 160 kg pro Quadrat-
zentimeter Druckfestigkeit \'erlangen kann."
Wie bei dem Abbinden, so spielt auch bei der
Anfertigung der Festigkeitskörper die Temperatur
eine große Rolle, indem bei steigender Temperatur
die Zugfestigkeit immer geringer wird. Einen
weiteren Einfluß übt die relative Feuchtigkeit der
Luft aus: je feuchter die Luft, desto höher ist die
Zugfestigkeit. Ferner muß auf richtigen Wasser-
verbrauch bei Herstellung der Festigkeitskörper
geachtet werden : von zu trockener bis zur rich-
tigen Mörtelkonsistenz steigt die Festigkeit, wäh-
rend sie bei zunehmender Geschmeidigkeit durch
erhöhten Wasserzusatz wieder fällt. Daß auch
der zu den Prüfungen verwendete Sand die Zug-,
bzw. Druckfestigkeit beeinflussen kann, sei hier
ebenfalls bemerkt.
Zu weiteren Untersuchungen dienen noch
Apparate zur Bestimmung der Aufnahmefähigkeit
des Zementes für Kohlensäure während der Lage-
rung, Meßapparat für Ausdehnung und Schwindung
von Zementprismen, Apparat zur Bestimmung des
spezifischen Gewichtes etc.
Schließlich seien noch einige der sich vielfach
wiederholenden technischen Bezeichnungen erklärt.
Zur Ermittlung der „Bindezeit" rührt man Zement
mit Wasser zu einem dünnen Brei an, bringt diesen
mit einem Spatel auf eine Glasplatte, so daß ein
etwa 1,5 cm dicker Kuchen entsteht und läßt
diesen, vor Luftzug und Sonnenlicht geschützt, bei
15" C. liegen. Ist der Kuchen so weit erstarrt,
daß er einem leichten Drucke mit dem Finger-
nagel widersteht, so hat er „abgebunden". Wird
dieser Zementkuchen dann noch 24 Stunden lang
in kaltes Wasser gelegt und zeigt er bei dieser
Behandlung weder Verkrümmungen noch Kanten-
risse, so ist er „volumbeständig".
Utz, Korps-Stabsapotheker.
Wetter-Monatsübersicht.
Der diesjährige Oktober linUe in seinem größeren Teile
einen trüben, regnerischen Witterungscharakter mit mehr-
fach wechselnden Temperaturverhältnissen. Wie aus der um-
stehenden Zeichnung ersichtlich ist, war in den meisten Gegen-
den Deutschlands der erste zugleich der wärmste Tag des
Monats, an dessen Nachmittage sich das Thermometer an
vielen Orten, z. B. in Bonn, Uslar, Altenburg, Bamberg und
iVIülhausen i. E. auf 25, in Magdeburg sogar auf 27 Grad C.
erhob. Dann kühlte sich die Lull zunächst langsam, seit dem
8. aber schneller ab, so daß jetzt auch die IMittagstemperaturen
meist unter 15 Grad C. blieben. Nach einigen etwas wärme-
ren Tagen gegen Mitte des Monats setzte sich die Abkühlung
überall bis zum 20. weiter fort. In dieser und den folgenden
Nächten trat vielfach Frost auf, namentlich im Süden, wo die
Temperaturen 3 bis 4 Grad unter den Gefrierpunkt herab-
gingen. In den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und
Pommern waren auch schon vom 12. bis 14. Oktober leichte
Nachtfröste vorgekommen.
Die letzte Oktoberwoche zeichnete sich in ganz Deutsch-
land durch ruhiges, freundliches und sehr mildes Wetter aus,
wobei die Mittagstemperaturen noch öfter 1 5 und die Tages-
mittel 10 Grad C. überschritten. Auch im Durchschnitt des
124
Naturwissenschaftliche , Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 8
Monats w.Trcn die Tcmpcralurcn allgemein zu liocli. Der
Überscliuß über die normalen Werte betrug zwar östlich der
Elbe nur wenige Zehnlelgrade, in Nordwest- und Süddeutsch-
land aber i bis l'/aGrad. Die Zahl der Sonnenscheinstunden,
>Mift(«r8 Tetnperafuräti einia^eeOrk imOktovct^ 1903.
I I I I
I I I I I I I i-
I I I I I I I I I
BfriirwrWdlfrturtau.
deren z. B. in Berlin 94 gemessen wurden, stimmte mit ihrem
Durchschnitt aus den früheren Oktobermonaten, trotz längerer
Zeiten mit bedecktem Himmel, ungefähr überein, weil das
letzte Drittel des Monats viel Sonne brachte.
Sehr reichlich fielen im letzten Oktober die Niederschläge,
die unsere zweite Zeichnung zur Darstellung bringt. In vielen
Gegenden Norddeutschlands verging bis zum 18. kein Tag
■ -V
ßieJer5cI/a3sl^öJ9cn im ÖWo&er 1903.
Mitllersp Wert für
DeuFscHlancl.
Monafesumme irti OHtr.
ohne Regen, die am ergiebigsten im westlichen Küstengebiete
waren. Am 6. und 7. Oktober herrschten in den nordwest-
lichen und mittleren Landestcilen, etwa bis zur Oder hin,
starke Weststürme, die vielfachen Schaden anrichteten und
auüerurdcnllich grolJe Regenmengen mit sich brachten. Am
13. und 14. liel in den Provinzen Ost- und Westpreufsen
der erste Schnee, .^m 16. fanden in Nordeutschland weit
verbreitete Gewitter statt, die an einzelnen Orten, z B. in
Münster, Lüdenscheid, Grünberg von Hagelfällen begleitet
waren. Auch über Berlin entlud sich ein kurzes Gewitter,
was hier im Oktober durchschnittlich nur alle fünf Jahre ein-
mal geschieht.
Nachdem durch die anhaltende Nässe die Feldarbeiten
schon verzögert worden waren, ließen die Niederschläge in
der zweiten Hälfte des Monats allmählich nach. Aber erst
seit dem 25. trat überall trockenes Wetter ein, das im gröUten
Teile Norddcutschlands fast bis zum Schlüsse des Monats Be-
stand hatte, während in Süddeutschland in seinen letzten Tagen
nochmals stärkere Regen herniedergingen. Der gesamte Ertrag
an Niederschlägen belicf sich für den Durchschnitt der be-
richteten Stationen auf 86,6 Millimeter, volle 20 Millimeter
mehr, als die gleichen Stationen im Mittel der zwölf letzten
Oktobermonate ergeben haben.
In der Lage und den Bewegungen der Hochdruck- und
Depressionsgebiete kamen im Laufe des Oktober sehr häufige
Wiederholungen vor.
Bis zum 10. zog ein barometrisches Minimum dicht hinter
dem anderen vom atlantischen ( »zean gerade ostwärts über
Südskandinavien ins Innere Rußlands hinein , während ein
Hochdruckgebiet über Südwesteuropa lagerte. Nachdem aber
ein anderes, vom Eismeer gekommenes Maximum die skandi-
navische Halbinsel besetzt und dort Krostwctter herbeigeführt
hatte, schlugen die nächsten, außerordentlich tiefen atlantischen
Depressionen nach Norden gerichtete Straßen ein und ent-
sandten nur einzelne Teilminima in das Gebiet der Nordsee
und ( )stsee. In Mitteleuropa trat deshalb anstatt der vorher
fast dauernden Südwest- und Westwinde ein mehrfacher
Wechsel zwischen einer trockneren, kühlen Ost- und feuchten,
milden Südwcstströniung ein.
.Am 18. Oktober verbanden sich das südwestliche und
nördliche Hochdruckgebiet miteinander und bildeten ein
höheres Maximum, das in den nächsten Tagen nach Nord-
westrußland zog , dabei aber sich bis Obcritalien nach Süd-
westen erstreckte. Die Minima blieben auch jetzt dem euro-
päischen Fesllande fern , wo zunächst kühle Nordwest- und
dann mildere Sudwestwindc herrschten. Erst gegen Ende des
Monats drang eine sehr umfangreiche Depression von den
britischen Inseln allmählich nach Mitteleuropa vor. Ein Teil
von ihr wandte sich von da nach Norden, ein anderer ge-
langte nach Süden hin und veranlaßte im Verein mit einem
Minimum, das schon vorher auf dem westlichen Mittelmeere
verweilt liatle, verheerende Wolkenbrüche in der Südschweiz,
Südtirul und Italien, wobei vom 28. bis 31. Oktober in Lugano
gerade 200, in Riva 101, in Turin 82, in Livorno 81 mm
Regen fielen. Dr. E. Lcss.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — .'\ni Mittwoch, den 8. April, unter-
nahm die Deutsche Gesellschaft für volk.stümliche
Naturkunde unter der Leitung des Herrn Geheimen
Bergrats Professor Dr. VVah n seh äffe einen geo-
logischen Ausflug nach Staßfurt zur Besichtigung
der dortigen Salzlager. Ein vorbereitender Vor-
trag war für die Teilnehmer an dem Ausfluge
von dem Führer bereits am Sonnabend, den 4. April,
in der Königlichen Bergakademie unter Vorlage
von Profilen und Proben der haupssächlichsten in
Staßfurt vorkommenden Salze gehalten worden.
.Am Ausflugstage versammelten sich 58 Teil-
nehmer, darunter auch eine größere Anzahl Damen,
schon zu früher Stunde auf dem Potsdamer Bahn-
hofe, um den um 6 Uhr morgens abgehenden Zug
über Magdeburg nach Staßfurt zu benutzen. An
dem Bahnhofe daselbst wurden sie von Herrn
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
125
Hergrat Ziervogel empfangen und sogleich zum
Königlichen Schacht Berlepsch geleitet, wo nach
Anlegung der Grubenanzüge in dem großen Ar-
heitersaale zunächst an einem Profile eine Erläute
rung der Schachtanlage und des Abbaues der
Salze stattfand. Hierauf erfolgte die Einfahrt in
den Berlepschschacht bis zu der vierten, 406 m
tiefen Tiefbausohle, von wo aus die Wanderung
durch die Abbauörter des jüngeren hängenden
weißen Steinsalzes, des Sylvinits, des Carnallits und
des älteren liegenden Steinsalzes mit seinen regel-
mäßigen Anh)-dritschnüren begann. Nach der Aus-
fahrt nahmen die Teilnehmer ein von dem Kalis\'ndi-
kat angebotenes h'rühstück entgegen, bei welchem
der Direktor Herr Bergrat Graeßner unter Vorlage
zahlreicher Wandtafeln eine Übersicht über die
Wirksamkeit des S\'ndikats für den Verkauf der
Kalisalze und die Bedeutung der letzteren für die
Landwirtschaft gab. Bei der Rückfahrt über Magde-
burg blieb noch so viel Zeit übrig, daß man sich
im Hotel Continental zu einem frohen Mahle ver-
einigen und eine Wanderung durch die Stadt
unternehmen konnte.
Am Sonnabend, den 18. April, nachmittags
4 Uhr, fand sich eine größere Anzahl von Mit-
gliedern der Gesellschaft zur Besichtigung des groß-
artigausgestatteten neuen Pharmazeutischen Instituts
der Universität in Dahlem ein. Der Direktor des
Instituts, Herr Prof Dr. Thoms, der hierbei den
Führer machte, verbreitete sich in einem einleiten-
den, im großen Hörsaal gehaltenen Vortrage über
die für den Unterricht und für praktische Übungen
getroffenen Einrichtungen moderner chemischer
Laboratorien.
Unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder sprach
am Mittwoch, den 22. April, abends 8 L'hr, im
Bürgersaale des Rathauses Herr Prof Dr. Carl
Müller über „Pflanzen mit eigenartiger Ernährungs-
weise".
Einer Besichtigung des Meteorologisch-Magne-
tischen Observatoriums galt eine Exkursion, die
am Mittwoch, den 13. Mai, nachmittags, nach dem
Telegraphenberg bei Potsdam unternommen wurde.
Die Herren Abteilungsvorsteher Prof Dr. Sprung
und Prof A. Schmidt, unterstützt von den wissen-
schaftlichen Mitarbeitern bezw. Assistenten Herren
Dr. Lüdeling, Kühl, Dr. Märten und Dr. Nippoldt,
erklärten in ausführlicher Weise die Einrichtungen
und Instrumente des genannten Instituts.
Über ,, Hygiene des Auges" hielt am Mittwoch,
den 20. Mai, im Rathaussaale Herr Prof Dr. S i 1 e x
einen Vortrag.
Am Montag, den 25. Mai, nachmittags, besuchte
die Gesellschaft die Jubiläums - Ausstellung des
Fischereivereins für die Provinz Brandenburg im
Landes-Ausstellungspark am Lehrter Bahnhof Vor-
her sprach Herr Prof Dr. Eckstein aus Ebers-
walde im Hörsaal der alten Urania über das
Wesen der Jubiläums- Ausstellung und ihre Be-
deutung in wissenschaftlicher und wirtschaftlicher
Beziehung. I3ie Ausstellung, so führte der Herr
Vortragende aus, hat den Zweck, zu zeigen, was
die Provinz Brandenburg 1903 auf jedem Zweige
der F'ischerei und Fischzucht zu leisten im stände
ist. Dieser Zweck ist eigennützig und uneigen-
nützig zugleich; ersteres, weil jeder Aussteller
durch Vorführung eigener Produkte, eigener Arbeit
in friedlichen Wettkampf mit den anderen eintritt,
letzteres, weil die .Ausstellung dem Allgemeinen
dient, indem sie das V'erständnis des Laien für die
Fischerei und alle damit zusammenhängenden Ver-
hältnisse erweckt, nicht nur in wirtschaftlicher
Hinsicht, sondern auch bezüglich der Wissenschaft,
Geschichte, Kunst und allgemeinen Bildung. Die
.Ausstellung zeigte zunächst die Tätigkeit des Ver-
eins, der als Aussteller auftrat und zugleich einen
sehr wertvollen Katalog und eine Festschrift (im
Verlag der Gebrüder Borntraeger, Berlin) heraus-
gegeben hat, sodann die Tätigkeit seiner Mitglieder,
und zwar seines Vorsitzenden, der sich die größten Ver-
dienste um das Emporblühen des Vereins erworben
und dem in erster Linie dasZustandekommen der Aus-
stellung zu verdanken ist; der Fischer, welche
Wildfische aus See und Strom, Netze, Werkzeuge
und historisch wertvolle Dinge ausstellten; der
Fischzüchter, welche ihre Zuchtresultate, Nutzfische
sowohl wie Zierfische, in mustergültiger Weise zur
Darstellung brachten; der Fischhändler, welche
zeigten, welche Krebse und Fische neben ein-
heimischen Arten konsumiert werden; der wissen-
schaftlich tätigen Mitglieder, deren .Arbeiten sich
auf Wasseruntersuchung, Biologie, Ernährung der
Fische u. a. m. erstreckt, und der Sportfischer,
welche ihre Angeln, Geräte, Literatur ausstellten.
Aber auch Nichtmitglieder , soweit sie der
Provinz angehören, waren zur Ausstellung zuge-
lassen und konnten ihre Tätigkeit auf dem Gebiete
der Fischerei zeigen. Endlich sollte die Aus-
stellung den Zusammenhang der Fischerei mit der
Industrie beleuchten ; es waren zu sehen die Er-
zeugnisse der Netzfabriken, ferner wasserdichte
Kleider für Fischer, Fischwagen, Kochtöpfe für
Fische, Fischgedecke, Tafeltücher u. dgl., ferner
Kochkisten, Samariterkisten, naturwissenschaftliche
Präparate, wissenschaftliche Hilfsmittel usw. Die
Frage, worin die Bedeutung der Ausstellung liege,
beantwortete Herr Prof. Eckstein mit den Worten :
sie soll zeigen, was jeder hat und was er kann,
in erster Linie die Provinz als solche, denn es ist
auf der Ausstellung eine Darlegung gegeben der
wirtschaftlichen Bedeutung der Fischerei für die
Mark Brandenburg; dann jeder einzelne, er selbst
erkennt, was der andere besser hat und besser
kann; er sieht die kleinen oder großen Mängel
seiner eigenen Leistung und findet dadurch einen
mächtigen Antrieb zum Fortschritt. Außerdem
gil)t ihm die Ausstellung Gelegenheit zur An-
knüpfung von Verbindungen in persönlicher oder
geschäftlicher Beziehung. — An diesen Vortrag
schloß sich die Besichtigung der Ausstellung, wobei
die Teilnehmer in zwei Gruppen geteilt von Herrn
Dr. Brühl und Herrn Prof Dr. Eckstein ge-
führt wurden und mit regem Interesse den ge-
gebenen Erklärungen folgten.
126
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ITT. Nr. 8
Wälirend der Monate Mai und Juni fand an
vier Sonntagen, jedesmal in der Zeit von ii — i Uhr
mittags unter Leitung des Herrn Prof. Dr. O. H e i n -
roth ein Vortragszyklus „Biologie der Säugetiere
und Vögel" im Zoologischen Garten statt. Die
erste Demonstration am Sonntag, den lo. Mai,
galt den gro(3en Raubtieren, den Raubvögeln, den
Einhufern und Robben ; die zweite am Sonntag,
den 17. Mai, den Kleinsäugern und Wiederkäuern;
die dritte Wanderung am Sonntag, den 14. Juni,
führte zu den übrigen Huftieren, den Straußen, den
Hühnervögeln und Tauben, sowie den kleinen Raub-
tieren, und die vierte und letzte Wanderung end-
lich am Sonntag, den 21. Juli, zu den Affen, den
Schwimm- und Stelzvögeln und zum Vogelhaus.
Maßgebend für den Gang der Demonstrationen
waren natürlich die örtlichen Verhältnisse des
Zoologischen Gartens.
Die Arbeit des Monats Juni war im übrigen
ausschließlich Ausflügen in die nähere und weitere
Umgebung Berlins gewidmet. Dem neuen Bota-
nischen Garten wurde am Freitag, den 12. Juni,
ein Besuch abgestattet, wobei Herr Geh. Reg.-Rat
Prof Dr. Engler, sowie die Herren Dr. Di eis,
Dr. Gräbner und Dr. Pilger die Führung über-
nahmen. Eine Besichtigung der Baumschulen des
Herrn ( )konomierat Späth am Baumschulenweg
bei Treptow fand statt am Donnerstag, den 18. Juni,
und als letzte der sommerlichen Veranstaltungen
eine Besichtigung der biologischen Station des
Deutschen Fischerei -Vereins am Müggelsee unter
h'ührung des Leiters, Herrn Dr. P. Schiern enz,
am Donnerstag, den 25. Juni.
1. A. : Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
SO 16, Köpenickerstraße 142.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Eine ,,Freic Vereinigung für Systematik und
Pflanzcngeographie" hat sich im September in Berlin
konstituiert. Der Vorstand ist folgendermaßen zusammen-
gesetzt: 1. Vorsitzender Herr Engler- Berlin. II. Vorsitzender
Herr Pfitz er- Heidelberg. I. Schriftführer Herr Sc h um a n n-
Bcrlin (Grunewald-Str. 6/7). 11. Schriftführer Herr Gilg-
Berlin. Kassenwart Herr P o t o n i e - Groß -Lichterfelde -West.
Die Vereinigung umfaßt jetzt über loo Mitglieder. Meldungen
zum Beitritt wolle man an den I. Schriftführer richten, den Bei-
trag von 3 Mk. an den Kassenwart senden. Der Vorstand.
Bücherbesprechungen,
Wilhelm Bölsche, Von Sonnen und Sonnen-
stäubchen. Kosmische Wanderungen. Mit
4 farbigen und 4 schwarzen Tafeln nach Oiiginal-
aquarellen von Prof. Ernst Häckel. Berlin, Georg
Bondi, 1903. — Preis 6 Mk.
Das vorliegende Buch des bekannten Schrift-
stellers, eine Sammlung der verschiedenartigsten
Essays , läßt sich bei aller Mannigfaltigkeit der
Gedanken doch nach folgenden drei Gesichts-
punkten einheitlich zusammenfassen , nach dem rein
naturwissenschaftlichen, dem ästhetischen und philo-
sophischen als dem allgemeinsten. Naturwissenschaft-
lich ist selbstverständlich die Grundlage, ja die Atmo-
sphäre, welche das Ganze durchzieht, überall Zurück-
greifen auf die Beobachtung, auf exaktes Material, auf
die Bausteine unserer modernen Weltanschauung, die
etwa durch Namen wie Kopernikus, Galilei, Newton,
Darwin, Rob. Mayer symbolisiert sind. Bei allem
Sjiielraum für Hypothesen ist nun einmal gegen die
Mechanik, d. h. die festgefügte Gesetzlichkeit alles
Geschehens von wissenschaftlicher Seite aus nichts
mehr zu machen , sonst stürzt alles in ein heilloses
Chaos zusammen, darüber dürfen wir hier wohl zur
Tagesordniuig übergehen. Aber die Sache hat auch,
was häufig nicht recht beachtet wird, ihre gewichtigen
ästhetischen Konsequenzen. Bislang ist der bekannte
Schiller'sche .Ausspruch : Die Kunst hast du, o Mensch,
allein, ein unanfechtbares Dogma, aber wie alle Dog-
men, so ist auch für dieses jetzt die Zeit absoluter
\'erbindlichkeit dahin. Mit Recht hat Bölsche das
große Häckel'sche Werk über die Radiolarien als
einen Vorstoß in eine ganz neue ästhetische Betrach-
tung bezeichnet, so daß wir uns, wenn wir unbefangen
sein wollen, eingestehen müssen, daß auch die Natur
die vollkommensten , schönsten Gebilde schafi"t , die
nur je eine harmonisch gestimmte Phantasie eines
gottbegnadeten Künstlers erschaut hat. Und diese
Schönheit erscheint vollständig, gesetzmäßig, notwendig,
organisch, ja, wenn man will, mechanisch, nur darf
man dabei nicht an etwas Totes, vom äußeren Zwang
Hervorgerufenes denken. Es ist gar keine Frage, er-
klärt Bölsche, die Natur auch unterhalb des Menschen
ist voll von Objekten, die unserem menschlichen
Sinn noch als vollkommene künstlerische Leistung er-
scheinen, die zweifellos Objekt der Lehre vom
Schönen, der .\sthetik, sein müssen (S. 239), — nur
daß eben unsere bisherige, immer noch nach griechi-
schen Prinzipien aufgebaute Betrachtung sich um
die Tatsachen scheu herumzudrücken pflegt, anstatt
sie als Ausgangs]junkt einer ganz neuen Perspektive
zu verwerten. Und das dritte Ferment, vielleicht das
fruchtbarste von allen, ist das philosophische, weil es
unser ganzes Denken umfaßt und von (hund aus ver-
ändert. Es bedarf an dieser Stelle keiner Erörterung,
wie revolutionär der Entwicklungsgedanke auf allen
Ciebieten menschlicher Forschung gewirkt hat , wie
er der Zauberschlüssel geworden ist für Geheimnisse,
an denen frühere Generationen sich vergeblich ab-
gemüht haben. Aber in dem wohl verzeihlichen
Triumphgefühl hat man zweierlei vergessen, was sich
gelegentlich empfindlich rächte : Einmal, daß wir bei
allen Fortschritten der Technik und Kritik trotzdem
zur Stunde nicht wissen , was Leben ist und wie es
entsteht, — dazu helfen uns auch nicht Millionen
von lahren — , und sodann daß alle Wertmechanik
uns nicht das letzte, schwerste Rätsel des Seins löst,
daß nämlich überhaupt Etwas ist. Das ist, in viel
höherem Sinne als die anderen viel umstrittenen dog-
rnatischen Wunder das eigentliche Weltwunder, das
jedes tiefere Nachdenken stutzig macht. „hnmer,
wohin"" wir sinnen und forschen mögen, bewegt uns
dieses dunkle Ahnen, daß alles in einem ewigen
Einen schwimmt, eine tiefste kosmische Einheit bildet.
Und doch ist dieses Eine auseinandergespannt zu dem
unendlichen Majaschleier des Vielfältigen. Nicht bloß
N. F. III. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
127
Sonne, sondern auch See, der sie spiegelt. Und am
See dieses liebliche Blumenauge, eine Individualität,
wie ich, ich selbst, in dessen untersuchendem
Auge doch wieder das alles schwimmt" (S. 420).
Hier macht das C.efühl, die unverwüstliche Pliantasie,
wohl zu unterscheiden von sinnverwirrender Phantastik,
ihr alles Recht gi-ltend, und das sollen wir zu unserem
eigenen Heile wohl bedenken, wenn wir ni( ht wieder,
wie der alte Nicolai und andere brave Vertreter der
sonst längst überwundenen Aufklärung, auf den öden
Sandbänken eines flaclien Rationalismus Schiffbruch
erleiden wollen. — .-Vuch das vorliegende Buch, von
dem wir hier nur eine ganz flüchtige Skizze entwerfen
konnten, ist mit den bekannten Vorzügen des Ver-
fassers ausgestattet, anschaulicher, frischer Ausdrucks-
weise, scharfer Beobachtung, eindringender Kritik und
liebenswürdigem Humor, so daß wir ihm die weiteste
X'erbreitung wünschen. Th. Achelis-Bremen.
Dr. L. Chalikiopoulos, Sitia, die Osthalbinsel
Kretas. Eine geographische Studie. Mit 3 Tafeln
und 8 Abbildungen. Heft 4 der Veröffentlichungen
des Instituls für Meereskunde und des Geographi-
schen Instituts an der Universität Berlin. Heraus-
gegeben von deren Direktor Ferdinand Frhr.
V. Rieht ho fen. Berlin, E.S.Mittler u. S., April
1903. — Preis 5 Mk.
Die enge Begrenzung des behandelten Gebiets läßt
ein genaueres Eingehen auf den Inhalt des Buches
an dieser Stelle nicht geeignet erscheinen. Aber auch
für ferner stehende Freunde der Geographie wird die
Arbeit von Interesse sein als ein Werk Richthofen-
scher Schule, jener Schule, die ihrem Jünger nirgends
eine bestimmte Manier aufprägt, deren Eintluß man
aber stets herausfühlt in der Sorgfalt der Beobachtung
und in dem feinen \'ersländnis für den Zusammen-
hang aller geographischen Erscheinungen. Gerade
auf dieser Halbinsel, wo politische Wechselfälle keine
tiefgreifenden Veränderungen hervorgerufen haben,
kommt der Richthofen'sche Grundgedanke vorzüglich
zur Geltung, daß man von der Geschichte des Bodens
ausgehen müsse, um ein Gebiet und seine Bewohner
zu verstehen. So zeigt der Verfasser denn auch, wie
gerade auf Sitia die Abhängigkeit der Verteilung
menschlicher Siedelungen und selbst der Bevölkerungs-
dichte von dem geologischen Gharakter der Gegend
besonders klar hervortritt. F. S.
Literatur.
Katzer, Landesgeol. Dr. Fidr. : Gculogischcr Führer durch
Bosnien u. die Herzegowina. Hrsg. anläßlich des II. inter-
nationalen Geologenkongresses von der Landesregierung in
Sarajevo. Mit 8 Kartenbcilagen u. zahlreichen Abbildgn.
im Text. (111 , 280 S.) gr. 8". Sarajevo '03. (Leipzig,
M. Weg.) — 5 Mk.
Kohl, Prof. Dr. F. G. : Über die Organisation u. Physiologie
der Cyanophycecnzelle und die mitotische Teilung ihres
Kernes. (111, 240 S. m. 10 lith. Taf.) gr. 8». Jena '03,
G. Fischer. — 20 Mk.
Rrahmann, Max: Fortschritte der praktischen Geologie, i. Bd.
1893 bis 1902. Zugleich General-Kegister der Zeitschrift f.
prakt. Geologie. Jahrg. I bis X, 1893 bis 1902. Mit 136
Kartenskizzen etc. u. 45 Statist. Tab. (XXll, 410 S.) Lex.
8". Berlin '03, J. Springer. — 18 Mk. ; geb. in Halbfrz.
20 Mk.
Koehne, E. ; Lythraceae, mit 851 Einzelbildern in 59 Fig.
(326 S.) Leipzig '03, W. Engelmann. — 16,40 Mk.
Ramsay, Sir William: Einige Betrachtungen üb. das periodi-
sche Gesetz der Elemente. Vortrag. (29 S. m. 1 Abbildg.)
gr. 8'1 Leipzig '03, J. A. Barth. -- 1 Mk.
Rudel, Vorst. Prof. ; Grundlagen zur Klimalologie Nürnbergs.
Ergebnisse 20Jähr. Welterbeobachtgn. zu Nürnberg 1881
bis igoo. 1. Tl.: Luftwärme. (77 S. m. 3 graph. Taf.)
gr. 8". Nürnberg '03, M. Edelmann. — 4 Mk.
Briefkasten.
Ist die .■\ngabe kleinerer Schulbücher fehlerhaft, daß die
Reißzähne der Raubtiere sämtlich Molare sind? R. Hertwig
(Lehrbuch S. 597) gibt an, daß die Reißzähne des Oberkiefers
Prämolare sind. Das ist wohl richtig?
H. R. Hoogenraad (Ryswyk, Holland).
Der obere Reißzahn (Sectorius) der Raubüere wird als
(letzter) Prämolar gerechnet, da ihm ein Milch-Backenzahn
vorausgeht; der untere Reißzahn gilt als echter Molar, da
ihm kein Milch-Backenzahn vorausgeht.
Berlin, 6. II. 1903. Prof. Dr. Nehring.
Herrn Dr. Tb. Seh. in Ludwigsburg (WürU.) — Einen
spez. geolog. Führer für den Taunus gibt es nicht. Die
geolog. Literatur über den Taunus ist ziemlich groß. Für
Ihren Zweck sind zu nennen: Gosselet, Excurs. geol. dans
le Hundsrück et le Taunus. 1890. — Kinkelin, Erläuterung
zu zwei geologischen Übersichtskarten der Gegend zwischen
Taunus und Spessart mit zwei geologischen Karten. Frank-
furt. 1899. — Lossen, Geognostische Beschreibung der links-
rheinischen Fortsetzung des Taunus 1867. — Lossen, Kriti-
sche Bemerkungen für neuere Taunuslileratur. 1877. —
Bräutigam, Geognostische Verhältnisse der Umgegend
von Frankfurt a. M. 1862. Weitere .Auskünfte erteilt Ihnen
gewiß gern Herr Baron v. Reinach in Frankfurt a. M., Taunus-
anlagc 10.
Herrn H. B. in Charlottenburg. — .Xuf Ihre ."Ausfüh-
rungen d. d. 23. Okt. 1903 erhalten wir von geschätzter Seite
die folgende Entgegnung: Es ist, wie der Einsender richtig
bemerkt, darauf zu achten, daß die Ausdrücke Gramm,
Kilogramm etc. in verschiedenem Sinne gebraucht werden:
I. von wissenschaftlicher Seite, um die Einheit der Masse zu
bezeichnen; I g ist die Masse Wasser, die bei 4" den Raum
von I ccm ausfüllt. 2. im praktischen Leben als Einheit der
Kraft, des Gewichts. Damit identifiziert man also die
Massen der Körper mit den Gewichten, durch die man sie
mißt; I g ist das Gewicht eines ccm Wasser von 4°. Da-
bei wird stillschweigend davon abgesehen , daß das Gewicht
eine von Ort zu Ort veränderliche Größe ist. Da das Ge-
wicht im absoluten System (Zeit-Länge-Masse-System) definiert
ist als Produkt aus Masse mal Beschleunigung beim freien
Fall (P = Masse X 8)> *° verhält sich das Gewicht eines
Körpers im absoluten System (l) zu seinem Gewicht im
,,Gewichlssystem" (2) wie g zu I. Für Deutschland ist g =
ca. 981, so daß I Gramm, als Gewicht im üblichen Sinne
verstanden, = 981 Dynen zu setzen ist. Eine Schwierigkeit
in diesen sehr klaren Verhältnissen sieht der Einsender —
von weniger wichtigen formellen Bedenken abgesehen , dann
eintreten, wenn man die Allgcmeingültigkeit des Newton'schen
Gravitationsgesetzes verneint, und er ist der .Ansicht, daß ge-
wisse astrophysische Erscheinungen dies verlangen. Denn die
Proportionalität zwischen Masse und Gewicht hört natürlich
auf, wenn die Körper eine verschiedene Beschleunigung
durch die Schwere erfahren. Jene .\nnahme erscheint indes
durchaus willkürlich ; wir haben das Newton'sche Gesetz als
fundamentales, streng gültiges Entfernungsgesetz aufzufassen,
gültig auch für elektrische, optische , magnetische , akustische
Fernwirkungen, und um eine Erklärung gewisser Kometen-
erscheiuungen zu geben wird wohl kaum ein Physiker zu
128
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. V. III. Nr. 8
einer „Ausnahme vom gewöhnlichen Gravitationsgesetz"
greifen. Was die radioaktiven Substanzen anlangt, so ist aucli
bei ihnen, wenn man sich nicht auf rein hypothetisches Ge-
biet begeben will, nur an eine Änderung des Faktors M (P =
^t X g) ^" denken. Nach neueren Mitteilungen Ramsay's,
die nach seinen eigenen Angaben aber noch der weiteren
Prüfung bedürfen, ist die Strahlung mit einer Entwicklung von
Helium verbunden ; seine Wägungen müßten dies Defizit natür-
lich anzeigen.
Herrn Lehrer L. in Hefslar. — Das in Ihrer .'Vnfrage
gemeinte Instrument ist jedenfalls das ,, chemische Wetterglas",
auch ,,Paroskop" genannt, das von Barth in Nürnberg her-
rühren soll und nach freundlicher Mitteilung von Herrn Ge-
heimrat Hellmann in den 60 er Jahren vom Berliner Hofoptikus
W. Meyer in den Handel gebracht wurde. Es besteht aus
einem länglichen, verkorkten oder mit durchstochenem Leder
verschlossenen Glas , das eine Lösung von Salpeter, Salmiak
und Kampfer in Weingeist enthält. Vermutlich werden so-
wohl Temperatureinflüsse, als auch der Feuchtigkeitsgrad der
Luft die wechselnden Kristallisationserscheinungen in dem
Glase bedingen, ein Zusammenhang derselben mit dem zu er-
wartenden Wetter läßt sich jedenfalls weder wissenschaftlich
noch empirisch begründen, denn die meteorologische Forschung
hat das Instrument nicht in den Schatz ihrer Beobachtungs-
mittel aufgenommen.
Herrn W. M. in Hannover. — Eine sehr zuverlässige
Firma für meteorologische Instrumente ist R. F'ueß (Steglitz,
Düntherstr. 7 — 8), bei der Sie Quecksilberbarometer in allen
Ausführungen erhalten. Für Ihre Zwecke dürfte ein einfaches
Instrument mit direkter Ablesung ohne Nonius und Lupe aus-
reichend sein. — Mit Bezug auf die Einrichtung der Chrono-
meter werden Sie vielleicht ausreichende Belehrung schöpfen
können aus dem 30 Seiten langen Artikel ,, Chronometer" in
Valentiner's Handwörterbuch der Astronomie, Band I. Leich-
ter zugänglich dürfte Ihnen sein: Katechismus der Uhrmachcr-
kunst von Rüffert. Mit 252 Abbildungen und 5 Tabellen.
Leipzig, J. J. Weber, 1901. Preis geb. 4 Mk.
Herrn Dr. E. F. in Luxemburg. — Als Ergänzung zu
der Antwort auf p. 80 das Folgende. In dieser Antwort aut
eine Anfrage wegen neuentdeckter wilder Volksstämme in Neu-
guinea habe ich zum Schlüsse bemerkt, daß Bestätigung ab-
zuwarten bleibe. Eine solche ist nun eingetroffen, und zwar,
wie mir scheint, durch zuverlässige Augenzeugen. Zu seinen
früheren Mitteilungen über tiefstehende Zwergvölker in Neu-
guinea bringt ,, Daily Chronicle" nämlich wertvolle Ergänzungen
und Bestätigungen aus der H'eder zweier durchaus glaubwürdiger
Männer, des früheren und jetzigen Administrators der eng-
lischen Kolonie, Sir Francis Winter und Mr. Robinson.
Demnach handelt es sich um zwei verschiedene Zwergvölker,
die Ahgai-Ambo und die Korobala. Erstere wohnen , soweit
die Überlieferung der Eingeborenen reicht, auf Bäumen im
Sumpfland und können auf festem Boden nur sehr schlecht
gehen, wobei ihre Füße leicht bluten. Diese sind, nach dei
anschaulichen Beschreibung Sir Francis W i n te r 's, kurz, breit
und flach, mit langen, dünnen, wenig beweglichen Zehen , so
daß man den Eindruck hat, als stünden die Zwerge auf ,, Holz-
füßen". Die Haut der Oberschenkel hängt in Falten herab ;
Muskel und Sehnen sind sehr schlecht entwickelt. Aussehen
und Haltung affenähnlicher als bei ,, irgend einem anderen
menschlichen Wesen". Die Rückbildung der Beine und Füße
infolge von Nichtgebrauch im Sinne Lamarck's scheint
zweifellos. Die Korobala dagegen sind wohlgebaut und
kriegerisch, wenn auch sehr klein ; ihr Häuptling war nur
4 Fuß 3 Zoll, d. h. etwa 130 cm groß. Sie kennen kein
Metall, haben aber sehr lange Lanzen, Schilde und Steinbeile.
L. Wilser.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Vegetationsbilcler
heiaiisgegetieu von Dr. G. liai'Mlen. Professur an
der Universität Bonn und Dr. H. .«iclienck, Pro-
fessor an der technischen Hochseliule Darnistadl.
Eine Samniluug von Lichtdrucken nach sorgfältig
aiisgewählteu photograph. Vegctationsaufnalimen.
Preis für das Heft von tj Tafeln Si,.50 Mark für Ab-
nehmer der ganzen Keilte von 8 Heften. Einzel-
preis 4 Mark für das Helt.
Die erste Reihe von 8 Heften liegt fertig vor
iiud enthält folgendes:
Erstes Heft: 'H^ScVe" ii c k . SÜdbraSilJeil.
Tropischer Regeuwald bei Bluiiu-nau, .S -Cath. — Cocos
Romanzofflana bei Blumenau. — Cecropia adenopus (Ameisenbäume)
bei Blumenau. - Epiphytenvegetation bei Blumenau. — Arauearien-
wald, Hocliland von Parana.
Zweites Heft: G Karsten, Malaylscher Archjpel.
Nipoforniation bei Tandjoeng Priuek, .lava. — Tropischer
Regenwald bei Tjiboda-s, .Java. — Baumfani des tropischen Regen-
waldes bei Tjibodas. — Straße in Aniboina, Molukken. — Tro-
pischer Regenwald auf Hitoe-Amboina, Molukken. — Straße in
. Teruate, Molukken.
Drittes Heft: H schenck. Tropjsche Nutzpflanzep.
Thea sinensis, Teestrauch, Teeplantage auf Java. Tljeo-
broma Cacao; Kakaobaura mit reifen Früchten. - CoHea arabica,
Kaffeebaum ; mit Früchten besetztes Bäumchen, Brasilien. — Coffea
liberica. LiberiakatTee. Bluten und Früchte. — Myristica frangans,
Muskatnuß; Blüten und Fruchtzweige. — narica Papaya. Melonen-
baum; weiblicher Baum mit Fritcbten.
Viertes H. tt: G Karsten Mcxikanischer Wald (JeF
Tropen und Subtropen.
Tiilaudsia usueoides bei Tepetitan. Tabasco. — Tropischer
Regenwald des Cafetal Trionfo. Chiapas. — Bodenvegetation des
tropischen Regenwaldes. La SomJua. Chiapas. — Subtropischer
Regenwald bei Misantla. Vera Cruz. — Bodenvegetation des sub-
tropischen Regenwaldes. Cuesta de St. Juan. Vera Cruz.
Fünftes Heft: A, Schenck.
Südwest-Afrika.
Wüste zwischen dem Khantluß und dem Khuosgebirge nörd-
lich vom Tsoakhoub (Swakopl, mit Welwitscbia nin.tlolis. —
Eunborbiaceeustepiie bei Guos. oasenartig m dem W ustcngebiet
zwisilien Lurleritzbucht lAngra Pequenai und Aos (GroU-Namaland).
— Straurb^tl•|lpe bei Aos — .Aloe dichotama ;in Bergabhängen bei
Khukhaus sudlich von Aos. — Acacia giraffae, Euclea pseudebenus
und Acacia horrida. Flußufervegetation der trockenen Flußbetten.
Im Aartal auf dem Huibplateau zwischen Aos und Bethanien. —
Euclea pseudebenus im Aartal auf dem Huibplateau.
Monokotylenbäume.
Sechstes Heft:
Karsten.
Pandanus australiana.
aloifolia. — Nolina recurvata.
veuala niadagascariensis.
Siebentes Heft; H. Schenck
- Xantiiorrhoea Preissii. Yucca
Dendrocalamus gigantens. — Ra-
, Strandvegetation Bra-
siliens.
Ipomoea pes caprae auf den .AußendUnen bei Capo frio,
Staat Rio de Janeiro. — Strandv.-getation bei der Lagoa de Rodrigo
de Freitas Rio de Janeiro. — Restinga-Formation bei der Lagoa
de Rodrigo de Freilas. - 3 Tafeln mit Restinga-Forniation bei
Capo frio.
Achtes Heft: G. Karsten und E Stahl. MeXJkaniSChe
Cacteen- Agaven- und Bromeliaceen-
Vegetation.
Cereus genimatus und Mesquite. — Echiuocactus robustus. —
Echinocactus ingens. — Agaven und Bromeliaceen. — Agave liornda,
Opuntia, Echinocactus ingens. — Cereus Pecten-alioriginum.
Inhalt: W. Görich: Die neuen Studien über die Zellteilung. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Fritz Schaeffer-
Stuckert: Die heutigen Anschauungen über die Entstehung der Zahncaries. — J. W. Spengel: Über Schwimmblase,
Lunge und Kiemen. — N. A. Maximow: Über den Einfluß der Verletzungen auf die Respirationsquotienten. — Utz:
Der Zement. — Wetter-Monatsübersicht. — Vereinswesen. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücher-
besprechungen: Wilhelm Bölsche; Von Sonnen und Sonnenstäubchen. — Dr. L. Ch a 1 i k i op o ul o s ; Sitm, die
Osthalbinsel Kretas. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Veianlwoitlicher Redaktein : Prof, Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'schc Bnchdr.), Naumburg a S.
, fe-.^
Einschliefslich der Zeitschrift ,,JL)i6 JNa,tUr' (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion; Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 29. November 1903.
Nr. 9.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zwcigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändicrinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Kiemenbogentheorie der Wirbeltiere.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. med. W.
Unter Leitung und dem Vorbilde des großen
Heidelberger Anatomen C. Gegenbau r hat .sich
in den letzten 50 Jahren aus den empirischen
Naturwissenschaften heraus ein neuer Zweig zu
gewaltiger Höhe entwickelt : die vergleichende
Anatomie.
Schon von Cuvier, Meclsel u. a. in um-
fangreichen Anfängen mit mehr oder minder großem
Erfolge bearbeitet, hat sie jetzt erst einen ge-
wissen Kulminationspunkt erreicht. Früher waren
die Funde von den Forschern einfach aufgezeichnet
und beschrieben worden. Durch Herausgreifen
einiger prägnanter unterschiedlicher Merkmale ent-
stand der Artbegriff. Die so festgestellten .^rten
wurden dann nach ihren meist äußerlichen Kenn-
zeichen einem Schema eingeordnet. Dies ist die
Auffassungsweisc , wie sie den künstlichen
Systemen zugrunde liegt, welche in Linne
einen Hauptvertreter fanden; es ist dies zugleich
die Zeit , in der die Konstanz der Art als etwas
Unumstößliches galt.
Statt des bisherigen kritiklosen Sammeins und
Beschreibens nahm bald die Wissenschaft einen
neuen höheren Gesichtspunkt in sich auf; denn
V. Göfsnitz, Jena.
je mehr sich das Material genau beschriebener
Arten anhäufte, je mehr an einzelnen Stellen die
Unmöglichkeit klar wurde, auf dem bislang be-
schrittenen Wege Neues zu fördern, um so mehr
gewann eine neue Methode Oberhand, die ver-
gleichend-anatomische Methode.
Diese letztere hat zur Aufgabe, die näheren
und entfernteren Beziehungen der Organismen zu-
einander aufzudecken; dieser Forderung wird sie
gerecht, indem sie abwägend mit dem kritischen
Faktor der Verglcichung Organ für Organ ein-
ander gegenüberstellt, unwichtige Punkte ausschließt
und die tieferliegenden leitenden Gesichtspunkte
innerhalb der Organismenwelt heraussucht. Da
noch hinzukam, daß die Anschauung einer Kon-
stanz der Art immer unhaltbarer wurde, so
machte sie es schließlich möglich , durch ver-
gleichende Schlüsse von höher organisierten über
niederorganisierte Tiere hinweg für den histo-
rischen Werdegang der ersteren einen Anhalt
zu finden. Derartige Schlußreihen wurden von
einzelnen Forschern (Haeckel) durch Stamm-
bäume versinnbildlicht, in welchen der aus be-
kannten Ursachen häufige Mangel fossiler Ahnen-
I30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
formen durch Unterschiebung einer lebenden ein-
facheren Art als Typus ausgeglichen wird.
Auf diesem soeben kurz skizzierten Wege
wuchs aus den beschreibenden Wissenschaften her-
aus eine historische, welche zugleich eng ver-
knüpft ist mit der langsam, doch stetig sich bahn-
brechenden Lehre von der Entwicklung des or-
ganischen Lebens auf der Erde.
Die Empirie gibt fernerhin für die vergleichende
Anatomie die Grundlage ab, aus der letztere sich
analytisch einen fruchtbaren Boden schafft, der
dann synthetisch die besten Früchte der Erkennt-
nis trägt.
Im folgenden werde ich mich im Anschluß an
die von Gegenbaur vertretenen Anschauungen
zu zeigen bemühen: wie in der Organis-
menwelt weniger reine Neubildung als
im wesentlichen immer Heranziehung
von vorhandenen Organen abnehmen-
der oder zurücktretender Bedeutung
zur Neuschaffung und Ausbildung von
Organen steigender Bedeutung statt-
hat, ein steter, komplizierender Wechsel der
Funktion und damit relative Erhöhung der Leistungs-
fähigkeit.
Dies klarzulegen ist kaum ein Organkomplex
geeigneter, als das Kiemenskelett nieder-
ster Fische mit seinen Umbildungen, welche
es im Laufe der Zeit erfahren hat, indem es in
eine zunehmende Zahl neuer Organe überging.
Zu diesem Zwecke soll nach einer einleitenden
Bemerkung über Funktionswechsel der Organe zur
Beschreibung des Kiemenapparates übergegangen
werden, wie er heute noch bei den Fischen
aufgefunden wird. Haben wir so eine kurze
Kenntnisnahme ihrer heutigen und auch einen
Anhalt für ihre primitive Gestaltung gewonnen, so
bleibt dann übrig, ihre Umwandlung durch die
Wirbeltierklassen, soweit sie als wichtig in Be-
tracht kommen, zu verfolgen. Wir werden dann
sehen, wie der in seiner Gesamtheit ursprünglich
der Atmung dienende Kiemenapparat bei niederen
Klassen am Aufbau der Kauwerkzeuge und
später bei höheren Formen an der Ausbildung des
Gehörorgans und der Luftwege hervor-
ragenden Anteil nimmt. Ein kurzer Vergleich
mit dem entsprechenden Embryonalstadium des
Menschen soll dann diese vergleichend-anatomischen
Feststellungen bestätigen. Und schließlich wird
dann ein Referat über den Stand der Archiptery-
giumfrage, d. h. über die Ableitungsmöglichkeit
der Extremitäten von letzten Kiemenbögen
folgen.
Meine Darstellung soll in gedrängter Kürze
nur das Allerwesentlichste umfassen, was zum Ein-
dringen in die genannte Frage nötig ist; wer sich
genauer und wissenschaftlicher orientieren will und
eingehende Besprechung und Begründung des hier
aufgezählten Tatsachenmaterials verlangt, dem sei
aus den vielen fachwissenschaftlichen VVerken her-
aus, deren Auszug und zusammenfassende Ver-
arbeitung unter eingehender Zitierung sie zugleicli
darstellt, die „Vergleichende Anatomie der
Wirbeltiere" von C. Gegenbaur empfohlen.
Diese umfaßt 2 Bände , von denen der zweite
kürzlich erschienen ist. Mit meinen Ausführungen
möchte ich zugleich einen kleinen Einblick in die
vergleichende Anatomie bieten, welche uns sichtend
und ausscheidend für das Verständnis der Organe
und schließlich der Organismen den sichersten
Leitgedanken an die Hand gibt.
Funktionswechsel und rudimentäre Organe.
Jeder Organismus ist von der Außenwelt ab-
hängig, unter deren mannigfaltigem Einfluß er fort-
gesetzt steht. Die Einflüsse verändern sich; der
Organismus folgt und paßt sich an, dieser in
einer Seite, jener in einer oder mehreren anderen
Seiten der Organisation. Was bei den Pro-
tisten die einzelne Zelle an Funktionen in sich
vereinigte, wird dann auf die verschiedenen Zellen
der Metazoen verteilt, wo sich immer mehr
Zellen und Zellkomplexe speziellen Funktionen zu-
wandten. So entstanden im Laufe der Zeit die
Organe in steigender Zahl und Differenzierung.
Diesem Vorgange der Anpassung liegt das
große organbildende Prinzip der Arbeitsteilung
zugrunde, welches den Organismus zu höheren
-Stufen führt (Gegenbaur).
Der Wettbewerb der Organismen untereinander
gilt aber auch weiterhin für die einzelnen Organe
innerhalb eines Lebewesens. Organe, welche ent-
sprechend abgeänderten äußeren Bedingungen,
denen sie angepaßt waren, an Bedeutung abnehmen,
bilden sich zurück; viel häufiger aber wohl wandeln
sie sich um und werden Hilfsorgane anderer, wich-
tigerer. Diese letztere Unterordnung führt zur
noch höheren Stufe, zum Zusammenschluß von
O r g a n s y s t e m e n. Ja, die Organe werden endlich
drittens sogar Träger ganz neuer Funktionen, denen
sie sich langsam wechselnd entgegenentwickeln,
immer noch mit Spuren der zwischengeschalteten
Funktionen behaftet, — ein Vorgang, bei dem von
Zielstrebigkeit natürlich nicht die Rede ist. Ersterc,
die reduzierten Organe , werden eine Zeitlang
weiter vererbt , beschränken sich nur auf das
Embryonalleben, z.B. die Lanugo, das Wollfell
des menschlichen Embryo, als Rest des alten
Säugetierhaarkleides. Sie sind so als rudimen-
täre Organe von größter phylogenetischer
Bedeutung: „indem die Rückbildung eine Aus-
bildung voraussetzt, sind die rudimentären Organe
wichtige Zeugnisse einer vorausgegangenen anderen
Organisation" (G e g e n b a u r), über die allein durch
die Entwicklungslehre Aufschluß zu erlangen ist.
Für uns schiebt sich zwischen beide Gruppen
eine entsprechend der noch mangelhaften Kenntnis
mehr oder weniger umfangreiche Gruppe von
Mittelformen ein, deren tatsächliche und eigent-
liche Bedeutung für den Lebensprozeß bei nicht
rein rudimentärer Gestaltung noch nicht er-
schlossen ist.
Mit unserer steigenden Erkenntnis hat jedoch
die Zahl der rudimentären Organe sehr abge-
N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
131
nommen. Wissen wir doch heute, um bekannte
früher stark umstrittene Objekte anzuführen, daß
die Schilddrüse (z. T. ein Rest des Epithels
der vierten Kiemenspalte, sowie einer Bildung, die
der Hypobranchialrinne der Tunikaten gleich-
zustellen ist) einer noch nicht genau festgestellten,
aber höchst wichtigen Funktion als Unterlage dient.
Wird sie nämlich völlig entfernt, so tritt die
Cachexia strumipriva, d. h. eine schleimgeschwulst-
artige Veränderung der Weichteile, verbunden mit
körperlicher Schwäche und totaler Verblödung
(Kretinismus) ein.
Krankheiten der Nebenniere äußern sich in
der Bronzekrankheit, die nach vielen \'eränderungen
am gesunden Menschen schließlich mit dem Tode
endigt.
Weitere lehrreiche Beispiele dieser Art sind
gegeben :
I. in den Milchdrüsen, die neueren ]'"or-
schungen, besonders an den Monotremen, zufolge
(Gegen baur z. T. , Benda, Eggeling u. a.)
wahrscheinlicher aus ehemaligen Schweif5drüsen
als aus Talgdrüsen hervorgegangen sind ;
dann 2. in einem Teile des Schädelskeletts,
dessen wichtige Ableitung von wirbelähnlichen Ge-
bilden schon (io etil e (Oken) erkannt, Huxlcy
eingehend kritisiert und Gegenbau r dann wirk-
lich wissenschaftlich begründet hatte;
— und noch in vielen anderen Bildungen,
speziell in der Geschlechtssphäre.
Am weitgehendsten und umfassendsten jedoch
fanden die Kiemen Verwendung, welche ich mir
als klassisches Beispiel zur genaueren Besprechung
auserwählt habe.
Fig. 1. Der Kiemendarm eines Haies (A) und eines Knochenfisches (B) durch
Entfernen des Schädels freigelegt, so daß der Boden der Mundhöhle von innen her ge-
sehen werden kann. Außerdem ist jedesmal links die Kiemenregion nochmals horizontal
durchschnitten worden. .\ Zygaena malleus, Hammerhai. B Gadus aeglefinus, Kabeljau.
a vordere Befestigung am Schädel, uk Unterkiefer, m Mund, prm Präma.xillare, ma Maxil-
larc, pa Palatinum , hm Hyomandibulare , is innerer Eingang der Kiemengänge oder
Taschen (innere Kiemenspalte), as äußere Mündung der Kiemengänge (Kiemenspalten),
ops Kiemendeckelspalt, h I lautbrücken, b Kiemenbögen, bl' vordere, bl- hintere Kiemen-
blättchen derselben, op Opercula (Kiemendeckel), s Schultergürtel, z Zunge, phi Ossa
pharyngaea inferioria, o Oesophagus (Speiseröhre). Die roten Pfeile geben den Weg
an. welchen das Atmungswasser von der Mundhöhle nach außen zu durchlaufen hat
(aus R. Hertwig n. Wiedcrsheim)..
Fig. 2. Querschnitte durch Kiemenbögen und
Kiemen rechts beim H am merh ai, links beim Kabeljau,
etwas vergrößert (aus R. Hertwig nach Wiedersheim).
b Kiemenbögen, z Zähne,
a Arterie, v Vene,
bl' vordere ) ... ,,..., ,
bl= hintere / Kiemenblattchen,
r Knorpelradius, h Hautbrücke.
Die Kiemen.
Es sind dies Organe, die
entfernt ähnlich beimEichel-
wurm (Balanoglossus, En-
teropneusta), homolog d. h.
von gleichem Ursprung resp.
aus demselben morphologi-
schen Material wie bei den
Wirbeltieren, aber wohl erst
bei den Mantel tieren
(Tunikaten, möglicherweise
rudimentären Wirbel- resp.
Chordatieren) angelegt sind.
Ein sicheres vergleichend-
anatomisches Material geben
für uns jedoch erst die
Fische, die ersten und
zwar im Wasser lebenden
Wirbeltiere, ab, bei denen
die Kiemen auf der Höhe
eigentlicher Funktion gefun-
den werden. Da die Fische
nicht wie die anderen an der
Luft lebenden Wirbeltiere
den Uuft Sauerstoff zum
Lebensprozeß der Verbren-
nung benutzen, so müssen
sie denselben aus dem Was-
ser entnehmen. Dies ge-
schieht auf folgende Weise :
dasAtemwasser strömt durch
den Mund in den Kopfteil
des Darmes ein (Fig. i) und
132
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr.
von diesem wieder durch seitUche, je einem
Körpersegment entsprechende Gänge oder Taschen,
die durch je eine Spalte an die Hautoberfläche
münden , wieder aus. Diese Aussackungen des
Kopfdarmes, in denen die Sauerstoffaufnahme und
die Ausscheidung der bei dem Lebensprozeß ent-
standenen Kohlensäure, also, wie wir es allgemein
bezeichnen, der Vorgang der Atmung stattfindet.
Fig. 3. Scheraatischer Querschnitt des primitiven
Fisclikopfes i. d. Kiemenregion. I Körperseg-
ment.
S Schädeldecke, G Gehirn, KD Kopldarni,
HL Hmterer \ i^^schnitt eines Bogenteilcs der linken Seite.
VL Vorderer /
HR Hmterer \ ^^schniU eines Bogenteiles der rechten Seite.
VR Vorderer ) ^
C Copula als Bindestück für beide Bogenabschnitte eines
Segmentes untereinander und mit dem des 'folgenden
resp. den des vorhergegangenen Segmentes.
KS Kiemenspalte.
tragen den Namen Kiemen. Die Sauerstoffaufnahme
und Kohlensäureabgabe finden in diesen Gängen in
der Art statt, daß der Sauerstofif durch das die-
selben bekleidende respiratorische Epithel
diffundiert. Unter dem Epithel lagert ein blut-
reiches Gewebe, dessen zahlreiche Gefäß- K a p i 1 1 a r-
schlingen unter dem Epithel ein Netz bilden.
Die Gefäße sind auf diese
Weise geeignet, sofort den
Sauerstoff aufzunehmen und
weiter durch das Herz zum
Orte seiner Bestimmung,
den Verbrennungsstätten des
Körpers (Muskeln, Drüsen,
auch Nervengewebe) zu
transportieren ; andererseits
findet in umgekehrter Bahn
die Kohlensäureabgabe statt.
Dieses Epithel ist zur Ver-
größerung seiner das sauer-
stoffhaltige Wasser berühren-
den Oberfläche vielfach ge-
faltet , auch durchbrochen.
Das jeder K^iementasche zu-
gehörige, beim Amphioxus
noch einfach kutikulare
Stützgewebe (Fig. 2)
wurde dann vom Skelett der Wirbelsäule aus (resp.
deren beim Aufbau des Schädels verwendeten Ab-
schniten) knorpelig, um später dann mehr oder weni-
ger zu verknöchern. Dieses Stützgewebe ist b o g e n -
förmig dem Kopfdarm angelegt. Die einzelnen
Bögen werden als Kiemen- oder besser noch
Visceralbögen bezeichnet und bestehen beider-
seits aus einem vorderen (ventralen) und hinteren
Fig. 4.
I
II
Schade und Kiemenskelett eines
lachiers (Schema n. Gegenbaur).
Lippenknorpel,
Kieferbogen, o oberer, u unterer Abschnitt,
Visceralbögen,
III — VIII Kiemenbögen,
Nasenöffnung,
Siebbein
eth
orb
la
occ
cv
Augenhöhlen- |
Labyrinth- [
Hinterhaupts- J
Wirbelsäule.
Legion,
(dorsalen) Abschnitte. Die Bogenteile beider Seiten
sowie sämtliche Bögen untereinander werden in
der Mittellinie durch Schaltstücke (Copulae) ver-
einigt (Fig. 3). Bei einer Reihe von Fischen
werden auch die Falten des respiratorischen Epi-
thels durch Stäbchen, Kiemenstrahlen oder
-radien gestützt, welche von den Bögen ihren
Ursprung nehmen. Über sämtliche Kiemen ist
bei vielen Fischen eine Integumentfalte, Kiem en-
de ekel (Operculum), herübergezogen, welcher
ausgewanderte Radien des zweiten Bogens, wo-
rüber wir später noch Näheres hören werden, den
ersten Halt verliehen. Zusammenhänge der vor-
i' ff/iN po t/r
S. 7.
Fig. 5. Anfang der WirbelsäuTe und Schädel mit Visceralsk ele tt von
Mustelus vulgaris (Haie) (aus R. Hertwig). wk Wirbelkörper, r Rippen, o obere
Wirbelbogen, ic Intercalaria (Schaltstücke), ps Dornfortsatz; Schädel: v Vagusnerven-
austrittsloch, gp Glossopharyngeusloch, po Hinteraugenhöhlenfortsatz, ao Voraugenhöhlen-
fortsatz, tr Trigeminusloch, o Augennervenloch, H Ilörkapsel, N Nasenkapsel, R Rostrum,
I - 8 Visceralbögen, i Lippenbogen (als Visceralbögen noch nicht ganz sicher), 2 Kiefer-
bogen, Pq Palatoquadratum, Md Mandibulare, 3 Zungenbeinbogen, Hm Hyomandibulare,
H Hyoid, 3 — 8 Kiemenbögen, co Copula.
N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
133
deren Bögen mit dem Kopfknorpel bei den Cy-
clostomen (Neunaugen) lassen es für wahr-
scheinlich halten, daß sämtliche Visceralbögen, die
im ganzen genomm.en bei den Cyclostomen schon
kaudalwärls verlagert sind , von dem knorpeligen
Primordialkranium (perichordales Gewebe)
abstammen und somit eine innere Skelett-
bildung darstellen. Unter Primordialkranium
(Urschädelkapsel) versteht man den Teil des
Wirbehierschädels, der aus dem Wirbelsäulen-
abschnitt im Kopfteile hervorgegangen ist. Die
Kiemen bögen spielen demnach für den Darm
loch,
Acantliias vulgaris (aus R. Hertwig nach Claus). N Nase, .Spl Spritz
chier nicht sicher hierher rechnen dürfen (Fig. 4 u. 5)
(Gg. S. 355 ff.). Die Auswanderung des Kiemen-
apparates sowie anderer dort ursprünglich ge-
lagerter Organe (Herz, Magen) aus dem Kopfteile
ist wohl am besten auf die sich anbahnende
Halsbildung zurückzuführen, d.h. einer Schei-
dung des Körpers in Kopf und Rumpf zur größeren
Bewegungs- resp. Drehungsmöglichkeit des ersteren ;
denn inzwischen waren in ihm die wichtigsten
Organe des Tieres der Außenwelt gegenüber,
die Sinnesorgane mit dem von ihnen ab-
hängigen Gehirne entstanden und hatten sich
weiterentwickelt. Ihre Ausbildung
und Volumzunahme verdrängte
die mehr vegetativen Organe,
denen sie vorher noch Baumaterial
entnahmen , nach dem Rumpfe
hin; nur deren Eingangspforte,
die Mundöffnung, zugleich als
Stelle ihrer primitiven Lagerung,
blieb am Kopfe lokalisiert.
R vordere Rückenflosse mit Stachel,
.Schwanzflosse, Ks Kiemenspalten,
R., hintere Rückenflosse, S heterocerke
Br Hrustflosse, B Bauchflossc.
Fig. 7. Kopfskelett eines Haies (Scymnus)
R Rostrum, O Austrittsstelle des Augennerven,
Po Hinteraugenhöhlen-Fortsatz, L Lj L„ Lippenknoriiel,
P Palatum, ) , „
Q Quadrat«™, / '• ^"g^"'
Kr Spritzlochknorpel (Radienrudiment d. I. Bogens),
Hm Hyomandibulare, |
hy Hyoidbogen, (
hr hr" Radien (Kiemenstrahlenl d. II. Bogens.
II. Bo
in der Kopfregion dieselbe Rolle, wie die
Rippen für diesen in der Rumpfregion (R.
Hertwig). Von Muskulatur überwachsen und
dadurch beweglich geworden, lösten sie ihren
Verband mit der Ursprungsstätte, dem Kopfe.
Ihre ehemalige Zahl ist ungewiß, da der
Amphioxus ja nicht den ganz primitiven Wirbel-
tierzustand wiedergibt, sondern sich auch in seiner
Art verschiedentlich weiter angepaßt hat ; wir legen
eine Zahl von 9 Bögen zugrunde, indem wir die
ganz rudimentären 2 Lippenknorpelbögen der Sela-
Die zwei ersten Kiemenbögen.
K i e f e r b i 1 d u n g.
Gehen wir nun von der ur-
sprünglichen Funktion der Kiemen-
spalte und des zugehörigen Bogens
aus, so wäre — immer unter dem
Gesichtspunkte steigender Diffe-
renzierung — der Entwicklungs-
gang etwa folgendermaßen zu
fassen.
Der Mund, anfänglich (Am-
phioxus, Neunaugen) nur eine Öff-
nung, durch welche das die Nah-
rung enthaltende und zur Atmung
nötige Wasser einströmte, eignete
sich den ersten Visceralbögen als
Stütze zum Festhalten von Nah-
rungskörpern an. Dieser Bogen
war entbehrlich geworden durch
Reduktion seiner zugehörigen
Kiementasche, welche wiederum
eine Folge feinerer Ausbildung
der übrigen Kiemen war.
Der zweite Visceralbögen bot
bald der Zunge, einem neuen
wichtigen Organe des Kopfdarmes,
einen Halt. Diese Vorgänge sind
heute noch aus dem Verhalten der Selac hier zu
erkennen, bei welchen der Oberkiefer (Palato-Qua-
dratum) und der Unterkiefer (Mandibula) den ersten
und der Hyoidbogen den zweiten Visceralbögen
der Entstehung nach einbegreift (Fig. 4 u. 5).
Hierbei muß jedoch gleich bemerkt werden,
daß diese Gebilde ') nur funktionell den gleichbe-
nannten Organen höherer Wirbeltiere entsprechen.
Weiterhin werden wir sehen, daß sie anatomisch
d. h. ,,Ober- und Unterkiefer"
134
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
gänzHch differente Dinge darstellen. Bei den
Selachiern sind die erste Kiemenspalte und -tasche
jedoch nicht ganz zurückgebildet worden, sie dienen
als Spritzloch (F"ig. 6) mit Spritzkanal anderen
Funktionen. Eine Art Deckknorpel dieses Spritz-
loches ist identisch mit Radienrudimenten des Kiefer-
bogens (Fig. 7). Von der ursprünglichen Zahl 9 der
Visceralbögen sind bei den verschiedenen Unterabtei-
lungen der .Selachier, wie ihre Namen : Heptanchus,
Hexanchus, Pentanchus schon andeuten, je nach-
dem nur noch 7, 6 und 5 als funktionierende
Kiemen vorhanden , der 8. und 9. werden rudi-
mentär. Bei den Selachiern fanden wir die mannig-
-rtci
des Gehörorgans des Menschen (n. R. Hertwig
äußeres Ohr,
Tb' in die Raclienhöhle,
Hammer, Amboß, Steig
I mittleres
Ohr.
)
inneres Ohr
(Labyrinth).
Fig 8. Sehern
M Ohrmuschel, \
Mae äußerer Gehörgang, /
Mt Trommelfell, Ct Paukenhölilc,
Tb Eustachische Röhre, mündet bei
SAp' Reihe der Gehörknöchelchen , , ,
bügel), in der Figur als ein Stück gezeichnet.
f Einfügung der Steigbügelplatte in das ovale Fenster,
M die das runde Fenster schließende Membran, Kl Kl'
Knöchernes Labyrinth mit eingelagertem häutigen La-
byrinth, dazwischen schwarz die Perilymphe. S Sacculus,
Con Ductus cochlearis, zwischen beiden Cr Canalis re-
uniens, Con' knöcherne Schnecke, Ct Ende der Schnecke
(Cupula terminalis), Sv, St Scala vestibuli und Scala tym-
pani, ■* Libergang beider. Dp' Ductus perilymphaticus,
endigt blind ; 2 Utriculus mit dem horizontalen Halb-
bogenkanal, a und b die beiden vertikalen Halbbogen-
kanäle, c Verbindung derselben, Co die gleiche Ver-
bindung im knöchernen Labyrinth, De Ductus endolympha-
ticus mit Endblase Se.
faltigsten Umänderungen des Kieferapparates, das
Palatoquadratum als Oberkiefer, die Mandibula als
Unterkiefer. Doch sieht man auch schon ferner
bei ihnen Anfänge davon, daß der zweite Visceral-
bögen sich scheidet in i. das Hyo- Mandibu-
lare, das später als Kieferstiel seine Wirksamkeit
hat, und 2. in den Hyoidbogen im engeren Sinne.
Letztere Umwandlungen sind erst außerhalb der
Selachierreihe vollendet , die Reihe der Verände-
rungen und des Wechsels jedoch noch lange nicht
abgeschlossen.
Das Hyo-Mandibulare der Knochenfische
und Ganoiden ist unter weiterer Diffe-
renzierung, der Abgliederung einer Verbindung
zum Kieferbogen hin (Sym plecticum), end-
gültig Kieferstiel geworden. Das Palatoquadratum
dient nicht mehr als Oberkiefer, sondern hat diese
physiologische Rolle dem einen Lippenknorpel
überlassen und ist selbst von der Mundöffnung zur
Schädelkapsel hin abgerückt. Die Mandibula gibt
dagegen noch fernerhin in Gestalt des M e c k e 1 -
sehen Knorpels die Grundlage des knöchernen
Unterkiefers ab.
Die weiteren Beziehungen genannter LTmwand-
lungen der beiden ersten Schlundbogen zum Ge-
sichts- und Schädelskelett übergehen wir als für
unsere vorliegende Aufgabe zu kompliziert und
unwesentlich, so die genetischen Beziehungen des
Palatoquadratum zum Gaumen und Flügelbein usw.,
wo sich Verknöcherungen meist in Anschluß und auf
Grundlage der angeführten Visceralbogenabkömm-
linge zeigen. Einer eingehenderen Besprechung ist
jedoch wohl noch wert, wie die beiden ersten
Visceralbögen eines der beiden höchsten Sinnes-
organe, das Ohr, in seinen mittleren und äußeren
Teilen vervollständigen halfen und zwar kamen
hier die hinteren Abschnitte zur Verwendung,
während zur Kieferbildung die vorderen Abschnitte
herangezogen wurden.
Ausbildung der schallleitenden Appa-
rate des Gehörorgans.
Das Wasser hörte auf ausschließlicher Aufent-
haltsort der Wirbeltiere zu sein; zuerst die
Dipnoer, dann die Amphibien stiegen ans
■ Land. Die Lungen — einst Schwimmblasen der
Fische — kamen zur Höhe ihrer Ausbildung. Die
bei den Amphibien nur noch auf das Larven-
stadium beschränkten Kiemen schwinden; hiermit
verliert der Kiemendeckel (Operculum) an Be-
deutung und mit ihm das ihn im wesentlichen
tragende Hyomandibulare. Seine Reduktion, so-
wie weiterhin die starke Inanspruchnahme und
Ausbildung des die Kiefer gleichfalls tragenden
Palatoquadratum hat zur Folge, daß das Hyo-
mandibulare auch seine zweite Obliegenheit, Stütze
des Kieferapparates zu sein, aufgibt und nun das
Palatoquadratum direkten Anschluß an den Schädel
gewinnt. Ganz jedoch schwindet das Hyomandi-
bulare wie auch das Operculuin nicht; sie nehmen
an der Vervollkommnung anderer Organe teil, und
dazu bietet sich genügend Gelegenheit. Das Land-
leben, d. h. das Leben an der Luft, läßt die schon
vorhandenen Sinnesorgane sich ausgiebig entfalten
und zwar ist es speziell das Ohr, dessen Aus-
bildung für die Hörfunktion an das Leben in
der Luft gebunden ist.
Bekanntlich werden am menschlichen Ohre 3
Abschnitte (F"ig. 8) unterschieden , das äußere,
mittlere und innere Ohr. Das äußere leitet ver-
mittels Ohrmuschel und Gehörgang die Schall-
wellen der Luft zum Trommelfell, welches die
Grenze zum mittleren Ohr hin bildet. Das mitt-
N. V. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
I3S
lere Ohr besteht aus einem I lohhaum , Paulven-
höhle, der durch die Eustachische Röhre mit der
Rachenhöhle kommuniziert. Die Schallwellen
werden nun durch die in der Paukenhöhle ge-
legenen Gehörknöchelchen (Fig.9) (Hammer, Amboß
und Steigbügel) durch die Platte des letzten dem
flüssigen Inhalte des Labyrinthes am ovalen Fenster
übermittelt. Das komplizierte innere Ohr begreift
die Schnecke mit den tausenderlei Verzweigungen
des Hörnerven als Hauptaufnahmestelle dieser
Oualität von Sinnesempfindungen, die 3 Bogen-
gänge und andere Gebilde mit ein.
Ursprünglich nur ein sogenanntes Hörbläschen,
Otocyste, ist schon das Labyrinth mit seinen
über die Cyclostomen hinweg entwickelten
3 Bogengängen, die, nach den 3 Dimensionen des
Raumes orientiert, senkrecht zueinander angeordnet
sind, ein wichtiges statisches Organ der Fische,
wo die Hörfunktion gewiß noch eine minder-
wertige ist. Eine I^aukenhöhle ist bei den Sela-
chiern erst angedeutet und hat sich dort aus
der ersten Kiementasche entwickelt. Die Heran-
Fig. 9. Gehörknöchelchen des M e n s c h c n (n. R. Ilert-
wig aus Wiedcrshcim).
H Hammer, A Amhoß, S Steigbügel.
Ziehung der ersten Kiementasche und, wie wir
dann sehen werden, der ersten zwei Visceralbögen
in den Dienst des Ohres, ist um so natürlicher, als
diese Gebilde in unmittelbarer Nähe des Laby-
rinthes lagen; der Spritzkanal der Selachier führt
sogar an ihm vorüber. Der Deckknorpel des
Spritzloches vollendet als Trommelfell den
Abschluß nach außen. Dieses stammt demnach
von Radien des ersten Visceralbogens ab und ist
somit eine Skelettbildung, zumal das an der Haut-
oberfläche gelegene Trommelfell bei den Amphi-
bien noch knorpelig angetrofi'en wird. Bei den
letztgenannten kompHziert sich jedoch der schall-
leitende Apparat noch mehr, da sich zwischen
Trommelfell und Fenestra ovalis des Labyrinthes
eine feine Knorpelsäule, die von einer Arterie
durchbohrte Columella (später Steigbügel), das
Homologon des Hyomandibulare der Fisciie, ein-
gefügt hat. Diese Columella ist mit ihrem proxi-
malen, d. h. dem Schädel zunächst liegenden Ende,
dem winzigen Reste des Operculums, der Fenestra
ovalis eingepafSt. Das Ouadratum steht noch
immer in Beziehung zum Hyomandibulare, wäh-
rend sich vom Unterkieferknorpel ein Gelenkstück,
Articulare, zum Schädel hin abgegliedert hat.
Diese Verhältnisse werden bei den Vögeln
und Reptilien, die wegen vieler Übereinstimmung
besser zusammengefaßt werden und als solche
Sauropsiden heißen, schärfer herausgearbeitet.
Dort kann man schon deutlicher eine Eustachi-
sche Röhre, wie die Paukenhöhle der Ableitung
nach ebenfalls zur ersten Kiementasche zugehörig,
als Verbindung von Kopfdarm (Rachenhöhle) und
Paukenhöhle hinziehen sehen. Die Gelenkabgliede-
rung, Articulare des Meckel'schen Knorpels, ist zu-
gleich vollendet worden.
Etwas Neues tritt bei den Säugetieren auf,
da der vordere Teil des Meckel'schen Knorpels
unter Auflagerung des Dentale als endgültiger
zähnetragender Unterkiefer an Selbständigkeit ge-
wonnen hat, so lösen sich die untereinander ge-
lenkig verbundenen Articulare und Quadratum
unter Reduzierung als überflüssig geworden aus
dem Kieferverbande aus und vervollständigen die
wohlbekannte Reihe der Gehörknöchelchen, indem
wir dort den ersteren Knochen als Hammer,
den zweiten als Amboß wiederfinden. Der
LInterkiefer der Säugetiere entspricht
also nur einem Teile des Unterkiefers
der Sauropsiden und einem noch klei-
neren desjenigen der Selachier, indem
der Rest bei der Bildung der Gehör-
knöchelchen Verwendung fand.
Der ebenfalls neuen Steigbügel form der
Columella, wie sie uns bei den meisten Säuge-
tieren auffällt, liegt der Durchtritt der genannten
Arterie ursächlich zugrunde. Daß und in welcher
Art diese Gebilde zum Visceralapparat gehören,
bezeugt ferner noch die Innervation des Steig-
bügelpressers (Musculus stapedius) durch den
Nervus facialis, den Nerven des zweiten, und ferner
die des Tensor tympani, den Spanner des Trommel-
felles durch den Nervus trigeminus, den Nerven
des ersten Visceralbogens.
Der Knorpel des äußeren Gehör-
ganges der Sauropsiden und Säugetiere,
der zu den in die Tiefe verlagerten
Teilen des Gehörorganes führt, sowie
die eigentümliche knorpelige Ohr-
muschel der Säugetiere leiten sich
von dem primitiven Zungenbein ab,
dessen Entstehung aus weiteren Visceralbögen
nebst anderen Gebilden noch klarzulegen ist.
Das Skelett der Luftwege.
Mit der Ausbildung von Luftwegen zu den als
Lungen dienenden ehemaligen Schwimmblasen bei
den Dipnoern und der hierauf ausschließlichen
Lungenatmung bei den meisten ausgewachsenen
xAmphibien war endlich bei den Saurop-
siden eine geschützte feste Luftröhre nötig ge-
worden, aus der heraus bei den Säugetieren
ein höheres Organ, der Kehlkopf, zur vollen Aus-
bildung kam; auch hier spielen Visceralbögen eine
entscheidende Rolle.
Wir verzichten darauf, genauer kennen zu lernen,
wie der den vorderen Kopfdarm umschließende
Hyoidapparat der Sauropsiden aus dem primitiven
136
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
Hyoidbogen (Teil des 2. Visceralbogens) , deren
vorderer Copula und dem ersten und zweiten
eigentlichen Kiemenbogen bei den Reptilien,
resp. allein noch von dem ersten, d. h. also dem
3. Visceralbogen bei den Vögeln gestützt wird.
Es ist dies ein Vorgang von großer Mannigfaltig-
keit und für uns von nebensächlicher Bedeutung.
Wir beginnen daher lieber sofort bei den
Säugetieren. Dort sehen wir, wie bei den
Monotremen , den bekannten eierlegenden Säuge-
tieren, ein verzweigtes, 4 Bogen umfassendes Hyoid
im vordersten Bogen sich gabelt und einerseits
zum Kranium sich erstreckt, andererseits in den
längeren äußeren Ohrknorpel (G. Rüge) ausläuft.
Ein Kehldeckel formt sich aus Resten des 6. Vis-
ceralbogens. Das Skelett der Luftröhre selbst, zu-
sammen wahrscheinlich mit Ring- und Stellknorpel,
welches bei den Sauropsiden durch kaudalwärts
fortschreitende Teilung sich fortsetzte, leitet sich
vom 7. Visceralbogen ab. Interessant ist es, daß
diese komplizierten Skelettanlagen bei den Amphi-
bien in ihren Anfängen schon angedeutet sind,
da dort beiderseits eine Knorpelspange, die Carti-
lago lateralis, als Rest des 7. Visceralbogens
der Luftröhre einen gewissen Halt verleiht.
Das Hyoid der Monotremen wird bei den
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N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
137
übrigen Säugetieren stark dift'erenziert; sein erster
Bogen erscheint als knorpeliger Gehörgang inkl.
der Ohrmuschel; der zum Kranium entsandte
Fortsatz steht, dort als Processus styloides
(Griffelfortsatz), festgewachsen noch durch das Lig.
stylo-hyoideum mit dem kleinen Zungenbeinhorn,
alles Resten des 2. Visceralbogens, in Verbindung.
Das Zungenbein selbst umfaßt, aus Körper (Co-
pula), großem und kleinem Hörn bestehend, nur
noch den 2. und 3. Visceralbogen. Der 4. und
5. Visceralbogen (3. u. 4. Bogen des Monotremen-
zungenbeins) gibt für den Kehlkopf, dessen Anfänge
bis zu den Sauropsiden zurückreichen, den größten
Knorpel, den Schildknorpel (Thyreoid), ab.
Fig. 10. Menschlicher Embryo aus der dritten
Woche (aus O. Hertwig nach einem Modell von Ilis). Die
vordere Bauchwand ist abpräpariert, so daß das Herz (h) frei-
liegt, und der Darm bei d, dem Übergang in den Dottergang,
abgeschnitten (das Ganze s. stark vergrößert).
S Scheitelhöcker, St Stirnfortsatz, mb Mundbucht, ok Obcr-
kieferfortsatz, uk Unterkieferfortsatz, zb Zungenbeinbogen,
seh erste Schlundfurche (Kiemenspalte), us Ursegmente (primi-
tive gleichwertige Körperabschnittc) , ta Truncus arteriosus
(.•\rterienstiel), 1 Leber, bs abgeschnittener Bauchstiel mit den
Nabelgefäßen (vu).
rückführen läßt, ist übrigens noch öfters durch ver-
sprengte Schilddrüsenkeime gekennzeichnet; seine
alte Ausmündungsstelle in den Mund liegt noch
im blinden Loch der Zunge als Überrest
einer alten Einrichtung vererbt vor.
Der besseren Orientierung und der Übersicht
halber fasse ich nun in einer schematisch abge-
kürzten Tabelle die Resultate nochmals zusammen
in freier Anlehnung an Ge genbau r (S. 457 ff.).
Aus der Tabelle wird abzulesen sein, daß nur weniges
von den alten Kiemenbögen völlig rudimentär
ward, und daß das meiste, jedoch in mehr oder
minder reduzierter und modifizierter Form, anderen
Zwecken dienend, weiter fortbestand.
Diesen vergleichend - anatomisch gewonnenen
Tatsachen wrede ich noch kurz die Ontogenese des
Menschen gegenüberstellen ; vorher will ich jedoch
noch beiläufig bemerken, daß, soweit jetzt wohl
feststeht, für die phylogenetischen Schlüsse über
s* s^ zb uk
Fig. II. Sehr junger menschlicher Embryo aus der
vierten Woche von 4 mm Nackensteißlänge, der Gebär-
mutter einer Selbstmörderin 8 Stunden nach ihrem Tode ent-
nommen (aus O. Hertwig n. Rabl), st. vergrößert,
au Auge, ng Nasengrube, uk Unterkiefer, zb Zungenbeinbogen,
s^ s' dritter und vierter Schlundbogen, h durch die Entwick-
lung des zur Zeit relativ sehr großen Herzens verursachte Auf-
treibung der Rumpfwand, us Grenze zweier Ursegmente,
oe obere \ ,, . ■.-.
' E-ttremitat.
ue untere f
Was die zugehörigen Schlundspalten resp.
-taschen anlangt, so weiß man nur, daß vom
Epithel der zweiten sich die Halsmandel, Ton-
sille, herleitet. Aus dem Epithel der dritten
entsteht die Thymus (Kalbsmilch), ein Organ,
in welchem während der Embryonalzeit die Blut-
bildung vonstatten geht, während es schließlich beim
Erwachsenen völlig rudimentär wird. Die Her-
kunft der Seitenteile der Schilddrüse von der
4. Schlundplatte wurde schon anfangs erwähnt.
Der Unterkiemengang (Hypobranchialrinne),
auf die sich der unpaare Teil der Schilddrüse zu-
den Ursprung der Säugetiere hauptsächlich Am-
phibien und weiter zurück S e 1 a c h i e r in Be-
tracht kommen. Dagegen sind die Vögel und
Reptilien einerseits, die Ganoiden und Teleostier
andererseits als divergente, d. h. für sich fort-
entwickelte Formen aufzufassen.
Ontogenese des Menschen resp. der Säugetiere.
Ganz früh schon , innerhalb der ersten drei
Wochen nach der Befruchtung des Eies, bietet der
menschliche Embryo das den meisten wohl aus
Haeckel's Schöpfungsgeschichte her bekannte,
138
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
und gerade von Leuten, die noch keinen mensch-
Hchen bzw. Säugetierembryo im frühesten Stadium
zu Gesichte bekommen hatten, vielbestrittene und
angezweifehe typische Bild. Nach mancherlei Um-
bildungen des befruchteten Eies, dem Durchbruche
des sekundären Mundes, Schluß des am kaudalen
Ende gelegenen Urmundes haben wir dann ein
eigentümliches Wesen vor uns (Fig. lO u. ii), fisch-
artig, mit kräftigem Schwänze, einem langgezogenen
Herz wandert dem Rumpfezu, was zugleich eineRück-
bildung der Kiemenbogengefäße (Fig. 12) zur Folge
hat, die als Subclavia, Carotis etc. jedoch weiter-
verwendet werden, nur der linke 5. (4.?) Arterien-
bogen wird zur großen Körperschlagader, der
Aorta. Über die Weiterverwendung der Visceral-
bögen sind wir am besten für die beiden ersten
orientiert. Eine Abbildung Kölliker's (Fig. 13)
zeigt einen i8-Wochenembryo, bei dem der erste
Fig. 12. Schema tische Darstellung der Umbildung inderAnlage der
Arterienbögen bei den wichtigsten Wirbeltierklassen. Hell: die An-
lagen, welche zugrunde gehen. Schwarz: die Arterien mit venösem Blut. Schraffiert
die Gefässe mit arteriellem Blut.
1 Dipneusten, II Geschwänzte Amphibien (Urodelen) mit Lungenatraung, III Reptilien,
IV Vögel (bei Säugetieren würde nicht der rechte, sondern der linlie Aorten-Bogen
erhalten bleiben), ast .Arterienstiel, ao^ venöse Aorta der Reptilien , ao^ arterielle
Aorta (gr. Körperschlagader, die vom Herzen ausgeht), a, b die fast allgemein schwin-
denden Bögen, I — 4 die übrigen Bögen: 1 Carotidenbogen (gr. Halsschlagader),
2 Aortenbogen (gr. Körperschlagader), 4 Pulmonalisbogen (Lungenarterie), db dessen
Verbindung zur absteigenden Aorta (ad), K Kiemenkapillaren (nach R. llertwig.)
höckerigen (infolge der verschiedenen Zahl [3 — 5]
Gehirnblasen), kaum vom Rumpfe geschiedeneu
Kopfe; auf der vorderen Seite des letzteren eine
große buchtige Öffnung des Kopfdarmes, dieMund-
öffnung mit den verschiedenen in sie hinein-
ragenden Zapfen der Stirn- und Oberkieferfortsätze.
Die kaudale Seite desselben umzieht ein starker
Wulst, auf den jederseits noch 3—4 schwächere,
immer durch eine Spalte voneinander geschieden,
folgen. Diese Spalten entstanden, wie man an
einer Reihe verschiedenaltriger Embryonen be-
obachtet hat, durch Einsenkung des Epithels der
Körperoberfläche zum Kopfdarm. Noch liegt ein
großes Herz in der Mund- und Kiemenregion ;
"denn ganz deutliche Anlagen von Kiemen sind es,
welche das kleine Menschenfischlein uns darbietet,
das noch dazu beiderseits ein Paar flossenähnlicher
Knospen aus der Körperwand hervorsprießen läßt.
Doch schnell tritt eine Umwandlung ein, um so
schneller, je höher die Tiere im System, je näher
sie dem Menschen stehen. Die Schlundspalten
schließen sich und kommen zum Schwunde; wir
können nun beobachten, daß Epithelknospen der
3. und 4. Spalte innerhalb des Körpers weiter-
wachsen und sich organisieren als Thymus und
Schilddrüse. Der am Ende des zweiten Monats
begonnene Verschmelzungsprozeß zum Zwecke der
Ohrknorpelbildung in der Umgebung der ersten
Spalte läßt sich auch diese verschließen, welche
nach innen verlagert als Tuba Eustachü, Pauken-
höhle und äußerer Gehörgang sich differenziert. Das
Mk
kh
grf Istk
Fig. 13. Kopf und Hals eines menschlichen Em-
bryo von 18 Wochen mit freigelegtem Visceral-
skelett vergrößert (aus O. Hertwig n. Kölliker).
Aus der Seitenwand des Halses ist in die Haut und die
oberflächliche Muskulatur ein Fenster geschnitten; dann ist
der Unterkiefer etwas hochgeschoben, um den Meckel'schen
Knorpel zu zeigen, der zum Hammer führt. Das Trommel-
fell ist entfernt und der Paukenring (Annulus tympanicus) sicht-
bar, ha Hammer, der ohne Unterbrechung in den Meckel-
schen Knorpel (WK) übergeht; uk knöcherner Unterkiefer (Den-
tale), mit seinem am Schläfenbein artikulierenden Gelenkfort-
satz; am. Amboß, st Steigbügel, pr Paukenring (Annulus tym-
panicus), grf Griffel fortsatz, Isth Ligamentum stylo-hyoideum,
Kh kleines Hörn des Zungenbeins, gh großes Hörn des
Zungenbeins.
N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
139
Knorpelbogen freipräpariert ist; vorne, Mecl-cel-
sc her Knorpel genannt, liegt ihm der knöcherne
L'nterkiefer auf, hinten (dorsal) dagegen ist seine
beginnende Teilung verdeutlicht, aus der schon
eine Hammer- und Amboßform erkennbar
ist. Parallel mit ihm läuft der zweite Bogen,
bereits geschieden in 3 Teile, die unschwer als
Processus styloides, Lig. stylo-hyoideum und kleines
Zungenbeinhorn anzusprechen sind. (Fig. 14 u. 15).
am ha mk
mk
V.
Fig. 14. Die herauspräparierten Meckerschcn und
Reich er t'schen Knorpel mit der Anlage der Gehör-
knöchelchen, von einem 2,7 mm langen Schafembryo
(aus O. Herlwig n. Salensky!.
Meckel'scher Knorpel,
Hammer,
mk
ha
am
am,
zb
langer \^ ^,,^,5^(2 des Amboß,
kurzer /
knorpeliger Zungenbeinbogen.
Die angeführten Stadien in der Keimes-
geschichte des Menschen (Säugetiere) können ihre
Aufhellung nur auf dem vorhin von uns be-
schrittenen Wege, der vergleichenden Anatomie,
finden, da sie sonst rätselhaft erscheinen müßten.
Daher sagt Gegenbaur: „Die Deutung
der ontogenetischen Erscheinungen er-
fordert somit ein volles Verständnis
der vergleichend -anatomischen Tat-
sachen. Diese sind hier die höhere In-
stanz, da sie dem ausgebildeten, seine
Organe in ihrer vollen Funktion be-
sitzenden Organismus entnommen sind."
Zugleich drängt sich aber dem Beobachter die
logische Notwendigkeit eines biogene-
tischen Grundgesetzes, wie es von F. Müller
aufgefunden, von E. Haeckel jedoch eingehend
wissenschaftlich begründet wurde, geradezu zwin-
gend auf — Mit den besprochenen Organen ist
jedoch die ganze Kiemenbogenfrage noch nicht er-
ledigt. Ein weiteres um.fassendes Organgebiet, und
zwar die beiden Extremitätenpaare, werden von aus-
Fig. 13. Kopfskelett eines Embryo von Tatusia hybrida,
Gürteltier (aus R. Hertwig nach Parker und Wiedersheim) knor-
peliges Kopfskelett punktiert, häutiges schraffiert (h).
I. Belegknochen: na Nasenbein (davor Nasenkapsel mit Nasen-
öffnung), la Tränenbein, fr Stirnbein, pa Scheitelbein, im. Zwischen-
kiefer, mx Oberkiefer, ju Jochbein, sq Schuppe, de Belegknochen
des Unterkiefers; 2. Knorpel und primäre Knochen: os oberes Hinter-
hauptsbein, o Hinterhauptbeinknorpel, pe Felsenbein (Gehörkapsel},
a Amboß (Quadratum) , n Hammer (Articulare) , mk Meckel'scher
Knorpel, St Steigbügel (Hyomandibulare) , h Zungenbeinbogen,
kb Kiemenbogenrest, ty Tympanicum.
schlaggebenden Autoritäten der Abstammung nach
auf Kiemenbogen zurückgeführt. Da dies jedoch
von hervorragenden Gegnern bestritten wird, so
sollen nur einige Hauptargumente unter Berück-
sichtigung der gegnerischen Meinung herangezogen
werden. (Schluß folgt.)
Kleinere Mitteilungen.
Über ,,zwei denitrifizierende Bakterien aus
der Ostsee" berichtet E. Baur. (Wissenschaftl.
Meeresuntersuchungen , herausgegeben von der
Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung
der deutschen Meere in Kiel etc. N. F". VI. Bd.
Abteilung Kiel, 1902.)
Modifizierte Winogradsky'sclie Nährlösung
wurde mit nitritreichem aus dem Seewasser-
aquarium des Kieler zoologischen Institutes ent-
nommenen SchlicK geimpft. In demselben Ver-
hältnis, in welchem die Fäulnis fortschritt, machte
sich eine Abnahme des Nitritgehaltes der Kultur
bemerkbar, bis dieselbe nach 3 Tagen nitritfrei
war. Zur Weiterzüchtung der hiernach wahr-
scheinlich in dieser Kultur vorhandenen denitri-
fizierenden Bakterien wurde eine Nährlösung von
besonderer Zusammensetzung: Fischseewasser
(l kg Dorsch in i — 2 1 Seewasser gekocht, nach
dem Erkalten filtriert) 100,0, Pepton 2,0, Kalium-
nitrit 0,25 benutzt und mit dieser „Nitritbouillon"
beschickte sterilisierte Röhrchen mit je einem
Tropfen der betreffenden Kultur geimpft. Schon
nach etwa 2 Tagen trat in den meisten Röhrchen
reichliches Wachstum von Bakterien und Gas-
entwicklung auf. Die letztere hörte nach 6 — 10
Tagen auf und mittlerweile war auch das Nitrit
verschwunden, wie die Prüfung ergab, und zwar
aller Wahrscheinlichkeit nach unter der Wirksam-
keit denitrifizierender Mikroorganismen. Die ein-
zelnen Bakterienspezies zu isolieren, machte zu-
nächst große Schwierigkeiten. Dann aber zeigte
sich weiterhin, daß die gewonnenen Reinkulturen
zwar gut wuchsen , aber nicht denitrifizierend
wirkten, so daß, da die Denitrifikationsbakterien
140
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
darunter vermutet werden mußten, nur die An-
nahme übrig blieb, daß es sich hier um eine
Spezies handeln dürfte, welche allein in Reinkultur
nicht denitrifizierend zu wirken vermochte. Diese
Annahme wurde durch die weitere Untersuchung
bestätigt. Der Organismus erhielt den Namen
Bacterium Actinopelte. Es sind i — 1,5 i" lange,
0,5 j« breite, gerade oder schwach gebogene, an
den Enden abgerundete, lebhaft bewegliche Stäb-
chen, welche keine Sporen bilden, nach Gram
entfärbt werden und an älteren Kulturen deutliche
Polfärbung geben. Es schien nun notwendig, der
Frage näherzutreten, ob die Fähigkeit der Deni-
trifikation des gefundenen Bakteriums von der
Gegenwart anderer lebender Bakterien abhängig
ist oder nur von Stoffwechselprodukten derselben.
Um das zu entscheiden, wurde Nitritbouillon mit
einem Leuchtbakterium, dessen günstiger Einfluß
schon bei den Vorversuchen festgestellt war, in-
fiziert, I Vs Tage faulen gelassen, in Röhrchen ge-
füllt und 'sterilisiert. In diesen Röhrchen wuchs
und denitrifizierte B. Actinopelte auch in Reinkultur
und damit war der Beweis erbracht, daß die Stofif-
wechselprodukte anderer Bakterien es waren,
welche das Zustandekommen des Denitrifikations-
prozesses ermöglichten. Weitere Untersuchungen
ergaben dann, daß B. Actinopelte zum guten Ge-
deihen bestimmter Kohlehydrate bedarf, daß der
Organismus in Nährlösungen, welche z. B. Stärke
enthalten, auch in Reinkultur gut wächst und
denitrifiziert, ebenso bei Gegenwart von Glyzerin,
Mannit, Propylalkohol. B. Actinopelte gehört zu
den denitrifizierenden Bakterien , welche sowohl
Nitrate wie Nitrite zersetzen können. Indessen
ist seine Fähigkeit Nitrate zu reduzieren sehr
inkonstant; denn längere Zeit in Reinkultur fort-
gezüchtet, verliert es dieselbe und vermag dann
nur noch Nitrite zu zersetsen. Aus den Versuchen
über die Bedeutung der Nitritzersetzung für den
Stoffwechsel von B. Actinopelte scheint hervor-
zugehen, daß die Nitrite des Sauerstoffs wegen
zerstört werden und das Bakterium also bei Gegen-
wart von Nitriten anaerob zu leben vermag. Der
Denitrifikationsprozeß an sich wird durch Sauer-
stoffzutritt gefördert. Das Temperaturminimum,
bei welchem B. Actinopelte noch wächst und
denitrifiziert liegt bei etwa + 5" C., das Optimum
bei -\- 20 — 25° C, das Maximum bei etwa
+ 35" C. _, .
Bacterium lobatum, eine andere denitnfizie-
rende, aus einer aus der Kieler Außenföhrde herstam-
menden Schlickprobe isolierte Bakterienspezies ist
2 — 3 ;ti lang und 0,75 — 1 /« breit, also größer als
B. Actinopelte, gleicht demselben aber sonst in
Form, Beweglichkeit, Färbbarkeit und bildet wie
dieses auch keine Sporen. Auch B. lobatum be-
darf behufs besseren Wachstums der Kohlehydrate
und zwar sind am geeignetsten Glykogen, Propyl-
alkohol, Mannit. B. lobatum zersetzt nur Nitrite,
verliert dieses Vermögen aber fast immer, wenn
es einige Wochen in Reinkultur fortgezüchtet
wird. Wie bei B. Actinopelte wird auch bei B.
lobatum durch Luftzutritt die Denitrifikation be-
günstigt, desgleichen durch die Gegenwart der
Nitrite anaerobes Wachstum ermöglicht. Das
Temperaturminimum, bei welchem B. lobatum
noch wächst und denitrifiziert, liegt bei etwa o" C.
das Optimum bei 20—25** C, das Maximum bei
39_4o0 Q Dr. A. Liedke.
Rob. Stäger, Infektionsversuche mit
Gramineen-bewohnenden Claviceps-Arten. —
(Bot. Zeitung, 1903, p. iii.) Das Mutterkorn
ist eine im Spätsommer auf Roggenfeldern sehr
häufig auftretende Erscheinung. Es stellt den
Dauerzustand eines Pilzes dar, der im Frühjahr
die junge Saat befällt und auf ihr den bekannten
Honigtau hervorruft, eine schleimige, süße
Masse, in der zahlreiche Pilzsporen enthalten sind,
die durch Insekten weiterverbreitet werden und
so eine große Zahl anderer Roggenpflanzen
infizieren können. Früher, als man den Entwick-
lungsgang des Mutterkornpilzes noch nicht kannte
und noch nichts von der Zusammengehörigkeit
des Honigtaues mit dem erwähnten blauschwarzen,
hornartigen „Mutterkorn" wußte, hielt man das
Honigtaustadium für einen besonderen Pilz, den
man als Sphacelia segetum bezeichnete.
Der Pilz kommt außer auf Roggen und anderen
Getreidepflanzen noch auf zahlreichen Gräsern
vor. Man kennt sechs verschiedene Arten ,^ von
denen die auf Roggen vorkommende Claviceps
purpurea die bekannteste und wohl auch ver-
breitetste ist.
Verf hat nun künstliche Infektionsversuche
vorgenommen, um festzustellen, ob diese sechs
Arten wirklich spezifisch dififerent sind, und ob
vielleicht die auf verschiedenen Gramineen wach-
senden Clavicepspilze ebensoviele Rassen dar-
stellen, die allein w.eder ihre verschiedenen Nähr-
pflanzen befallen. Die Infektion nahm Verf. so
vor, daß er die im Wasser suspendierten Pilz-
sporen mittels eines Zerstäubungsapparates auf
Gramineenblüten übertrug. Natürlich wurden die
einzelnen Versuchspflanzen unter möglichster Ab-
sonderung der verschiedenen Versuchsreihen unter-
einander geimpft. Als günstigster Zeitpunkt für
die Infektion ergab sich die Zeit der höchsten Blüte
der Gräser. Auf noch nicht blühendem Roggen
bleiben die Pilzsporen unter Umständen drei bis
vier Tage keimfähig. Nach dem Abblühen tritt
eine Infektion nicht mehr ein.
Die Fähigkeit, durch den Mutterkornpilz infi-
ziert zu werden, ist bei den verschiedenen Grami-
neen sehr ungleich. Einige sind gegen Infektion
nahezu oder völlig immun, andere dagegen zeigen
eine sehr leichte Empfänglichkeit dafür. Zwischen
beiden Extremen bestehen zahlreiche Gradunter-
schiede. Auf die zahlreichen, sehr sorgfältigen
Infektionsversuche des Verfassers kann hier im
einzelnen nicht eingegangen werden. Verf kommt
zu dem Schluß, daß bei denjenigen Gräsern, bei
welchen eine Infektion mit vom Roggen stammen-
den Sporen nicht gelang, die auf ihnen im Freien
N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
141
wachsenden Mutterkörner besondere spezialisierte
Formen oder biologische Abarten der typischen
Claviceps purpurea darstellen. Besonders hervor-
zuheben ist das Ergebnis, das Verf. mit der In-
fektion von Loliumpflanzen erzielte. Es gelang
ihm nämlich in keinem F"alle, Lolch mit Pilzsporen
zu infizieren, die auf Roggenpflanzen gewachsen
waren, ebensowenig umgekehrt von Lolium stam-
mende Sporen auf Roggen zu übertragen Dieses
Resultat ist deswegen bemerkenswert, weil die
Ansicht allgemein verbreitet ist, daß die Roggen-
felder gewöhnlich von den am Rande der Felder
wachsenden Lolchpflanzen aus infiziert werden,
eine Annahme, die übrigens schon deswegen nicht
richtig sein kann, weil der Pilz am Roggen zuerst
auftritt, nämlich Ende Mai und im Juni, während
erst im Juli, August und gegen den Herbst hin
an Lolium Honigtau zu beobachten ist. Die
Infektionsversuche und Beobachtungen im PVeien
zeigen , daß aus dem gleichzeitigen Befallensein
verschiedener Nährpflanzen durch Mutterkornpilze
an einem und demselben Standort nicht auf die
Identität ihrer Parasiten geschlossen werden darf.
In einem Anhange an seine Arbeit führt Verf
ein Verzeichnis der Insekten auf, welche mit
Honigtau befallene Gräser besuchen. Eine groI.5e
Zahl von Insekten, unter denen besonders Fliegen,
Käfer und Ameisen reichlich vertreten sind, gehen
dem zuckerhaltigen Honigtau nach , sowie auch
dem ebenfalls Zucker enthaltenden Blütenstaub.
Dabei beladen sie sich mit Honigtau und schleppen
mit diesem Sporen des Pilzes fort, die sie auf
andere, noch gesunde Blütenstände übertragen,
welche sie aufsuchen, um Blütenstaub zu verzehren
oder daselbst an den Blüten nach Honigtau herum-
zusuchen. Die Insekten finden sich da, wo Honig-
tau vorhanden ist , so zahlreich und mit solcher
Regelmäßigkeit ein , daß sie durch ihre Menge
denselben häufig geradezu verraten.
Günstige Objekte zur Beobachtung bieten be-
sonders die Lolcharten und das an Teichen und
Gräben häufig vorkommende Rohr-Bandgras, Pha-
laris arundinacea.
Von den angeführten Insekten vermitteln be-
sonders die Fliegen die Verbreitung des Pilzes,
während die Ameisen weniger dazu beitragen.
Diese stellen sich zwar überall da in großer Zahl
ein, wo es Zucker zu naschen gibt, besuchen aber
anscheinend honigtaulose Gräser nicht, übertragen
daher die Pilzsporen nicht oder nur selten auf
gesunde Pflanzen. Se.
Hans Moli seh. Über vorübergehende
Rotfärbung der Chlorophyllkörner in Laub-
blättern. (Ber. d. Dtsch. Botan. Gesellscli. , Bd.
XX, 1902, S. 442). — Chromoplasten, d.h. proto-
plasmatische Körperchen, an die gewisse Farbstoffe,
besonders rote und gelbe, gebunden sind, finden
sich in den Zellen der Blumenblätter und F"rucht-
schalen häufig vor , nur ausnahmsweise dagegen
in anderen Organen der Pflanze, wie z. B. in den
Mohrrüben und in tien Sprossen und Blättern
einiger parasitisch lebender Gewächse , wie Oro-
banche, Neottia u. a. Unter Umständen entstehen
Chromoplasten aber auch in Laubblättern; so im
Herbst, beim Ab.sterben und Abfallen der Blätter.
.^ber auch an lebenden Blättern kann, wie Verf.
beobachtete, vorübergehend eine Rotfärbung auf-
treten. So nahm Molisch wahr, daß die Laub-
blätter mehrerer Aloearten, wenn sie im Frühling
(Mai) aus dem Gewächshause ins Freie gestellt
und dem direkten Sonnenlichte ausgesetzt wurden,
ihre grüne Farbe auf der Oberseite verloren und
sich stattdessen braun oder rotbraun färbten. Diese
Rotfärbung beruhte aber nicht, wie Verf feststellen
konnte, auf einer Bildung von .^nthocyan, dem
bekannten, im Zellsaft gelösten roten Farbstoffe,
sondern wurde durch eine Veränderung der Chloro-
phyllkörner hervorgerufen. Der Chlorophyllfarbstoff
wurde dabei in rotes Carotin umgewandelt.
Die Ursache für diese eigentümliche P'arben-
änderung ist zweifellos in der intensiven Belich-
tung zu suchen; sie bleibt bei dunkel gehaltenen
Pflanzen derselben Arten aus. Auch verschwindet
eine bereits eingetretene Rotfärbung der Blätter
bei länger andauernder Verdunkelung der Pflanze.
Bei lange Zeit einwirkendem, direktem Sonnen-
lichte tritt in den meisten Phallen ganz allmählich
wieder die grüne P"ärbung auf.
Ahnliche Beobachtungen wie an den .^loearten
konnte Verf auch an Blättern und Stengeln von
Selaginella machen. Se.
Die Berechtigung des Namens „Algon-
kium". — Gegen eine zu ausgedehnte Anwen-
dung des Namens „.Algonkium" wendet sich Law-
son in einer kleinen Schrift (The Eparchaean
Interval. A criticism of the use of the term Al-
gonkium. Bull, of Dep. of Geol. Univ. of Calif.
Vol. III Nr. 3) deren Inhalt im wesentlichen fol-
gender ist :
F"ür die von Logan und Hunt aufgestellten
P'ormationen „Laurentium" und ,,Huronium" schuf
Dana den zusammenfassenden Begriff des Archai-
kums. Man verstand unter dieser IBezeichnung alle
(vordem auch „azoisch" genannten) Gesteine von
vorkambrischem Alter. 1899 beschloß dann die
geologische Landesanstalt der Vereinigten Staaten,
die vorkambrischen Sedimente als Algonkian
(oder Algonkium; der Name ist von einem Indianer-
stamm hergenommen) zusammenzufassen, während
„die Zeit der Bildung der alten krystallinen Ge-
steine" die archäische heißen sollte. Die so um-
schriebene Schichtenfolge ist keineswegs eine klar
kenntliche geologische F"ormation. Will man Ab-
lagerungen wie die Animikie-series und die Kewee-
nawan-series der Lake Superior-Gegend, die durch
eine Diskordanz vom Laurentium getrennt und
vom oberen Kambrium diskordant überlagert
werden, Algonkium nennen, so hat Lawson da-
gegen nichts einzuwenden. Scharfen Einspruch
aber erhebt er dagegen, daß auch solche Gesteine
zum Algonkium gerechnet werden, die älter als
die große postarchäische Diskordanz sind. Diese
142
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
trennt nämlich nach Lawson überall die ältesten
krystallinen Gesteine von den darüber liegenden
Schichten. Ein sehr langer Zeitraum muß dieser
Pause in der Gesteinsbildung entsprechen und nach
L. hat man noch nirgends Gesteine gefunden,
welche diesem „eparchaean interval" entsprechen.
Es wäre aber gegen allen Gebrauch, wenn man
Formationen zusammenfassen wollte, die zu beiden
Seiten einer Diskordanz liegen, welche an Be-
deutung alle anderen Diskordanzen übertrifft, nach
denen man sonst Formationsgrenzen gezogen hat.
Soweit Lawson. Wir möchten dem folgendes hin-
zufügen. Dal3 die Abgrenzung des Algonkiums nach
unten schwer sei, mußte schon bei der Aufstellung
dieser neuen geologischen Formation zugegeben
werden. In der Tat scheint dieser Punkt mehr
Schwierigkeiten zu verursachen, als man nach den
Darlegungen Lawsons vermuten sollte. Die dem
,, eparchaean interval" entsprechende Diskordanz ist
keineswegs so allgemein in deutlicher Ausbildung
vorhanden, daß man die Grenzlinie nach ihr mit
Leichtigkeit ziehen könnte. Zudem ist ja nicht
nur die Gliederung, sondern vor allem die Paral-
lelisierung dieser fossilleeren, vielfach aus erup-
tivem Material aufgebauten Gesteinskomplexe oft
geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Die Ge-
steine des Algonkium sind dazu auch häufig so
stark verändert, daß sie ebenfalls die Bezeichnung
„krystalline Schiefer" verdienen.
„Unterhalb des Algonkiums", sagt Walcott,')
„kennt man keine klastischen Gesteine mehr". Dann
würde man also nur noch diejenigen Gesteine ar-Ä
chäisch nennen dürfen, die sich auf der Erde zu''?
jener uralten Zeit gebildet haben, als das Wasser K
in flüssiger Form noch nicht existierte. (Denn
sobald sich Wasser auf die Erde niederschlug, be-
gann es auch sogleich seine abtragende Tätigkeit
und schuf Sedimente aus den Trümmern der Ge-
steine, die es zerstörte.) Aber wo kennt man
solche Gesteine, — die Gesteine der ersten Er-
starrungskruste unseres Planeten ? Seitdem durch
Rosenbusch, besonders durch die Untersuchung der
Schwarzwälder Gneiße, nachgewiesen ist, daß alle
,, krystallinen Schiefer" entweder umgewandelte
Sedimente oder umgewandelte Eruptivgesteine sind,
muß man sagen, daß man mehr als je in Ver-
legenheit ist, auf diese Frage eine Antwort zu
geben. Die ältesten krystallinen Schiefer erweisen
sich als Sedimente, die von eruptiven Massen in-
jiziert und daher älter als diese sind — was für
Gesteine kann man überhaupt noch archäisch
nennen, wenn man die Worte Walcott's als Richt-
schnur nehmen will? Von diesem Gesichtspunkte
aus muß man die Berechtigung von Lawson's Ein-
spruch anerkennen, was kaum tunlich wäre, wenn
man sich nur auf die Bedeutung des „eparchaean
interval" stützen wollte.
Eine nicht beseitigte Unsicherheit haftet also
noch dem Gebrauche des Namens Algonkium an.
So berechtigt es ist, Sedimente, die man unter
dem untersten Kambrium antrifft, mit einem be-
sonderen Formationsnamen zu belegen, so schwierig
ist es, die Linie zu ziehen, welche diese Formation
nach unten abgrenzt, wenn man nicht das Ar-
chaikum gänzlich aus der geologischen Nomen-
klatur ausmerzen will, wozu keine Veranlassung
vorliegt. Über diese Schwierigkeit kommen wohl
auch diejenigen, die die Existenz klastischer Ge-
steine archäischen Alters nicht leugnen, kaum hin-
weg. Daß das Algonkium noch eine unsichere
Stellung in der geologischen Formationsreihe ein-
nimmt, geht auch aus dem Umstand hervor, daß
es in der neuesten Auflage von Credner's „Ele-
menten der Geologie" als Äquivalent des Kam-
briums, Silurs usw. behandelt wird (was auch
Lawson für das Richtige hält), während Kayser es
in seiner „Formationskunde" ebenso wie Frech in
der „Lethaea palaeozocia" als einen Zeitabschnitt
betrachtet, welcher dem Paläozoikum gleichwertig,
ja ihm an Dauer noch weit überlegen ist. Für
die letztere Auffassung scheint neben der großen
Mächtigkeit der fraglichen Ablagerungen der Um-
stand zu sprechen, daß auch innerhalb des „Algon-
kiums" Diskordanzen vorkommen. Bei der Un-
möglichkeit der Parallelisierung der „algonkischen"
Gesteinsmassen in den verschiedenen Gebieten ihres
Vorkommens, wird man sich vielleicht darauf be-
schränken müssen, sich mit lokalen Gliederungen
zu begnügen und durch den Gebrauch der neu-
tralen Bezeichnung „präkambrische Formationen"
"einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu wählen,
deren Überwindung einstweilen noch ganz außer-
halb des Bereiches der Möglichkeit zu liegen
scheint. Dr. Otto Wilckens.
') Compte rendu du XIII. Congri'S gtol, intcrn;ition;il.
I-. iasc. pag. 299.
Das Alter der Sonne. — Lord Kelvin hatte
vor einiger Zeit Berechnungen über die Energie-
verluste der Sonne angestellt und daraus den
Schluß gezogen, daß, wenn diese Energiemengen
lediglich eine Folge der Kontraktion des Sonnen-
balles sein sollen, die Sonne sicherlich vor 500
Millionen Jahren die Erde noch nicht beleuchtet
haben könnte, wahrscheinlich sogar nicht einmal
vor 100 Millionen Jahren. Andererseits könnte
alsdann der Fortbestand der Sonnenstrahlung kaum
noch für viele Millionen Jahre zu erwarten sein.
Kürzlich hat nun G. H. Darwin diese Rech-
nung des Lord Kelvin unter etwas veränderter
Beurteilung der Zunahme des Energieverlustes bei
der Konzentration der Sonnenmasse wiederholt
und anstelle jener lOO Millionen Jahre des Lord
Kelvin sogar nur 12 Millionen Jahre als wahr-
scheinliches „Alter der Sonne" gefunden. Der-
selbe Forscher weist aber zugleich in einem an
die „Nature"r "gerichteten' Schreiben vom 20. Sep-
tember er. darauf hin, daß die Entdeckung der
radioaktiven Substanzen allen derartigen Berech-
nungen den Boden entzieht, da die von diesen
Substanzen abgegebenen Energiemengen ganz
außerordentlich^groß sind, ohne daß wir die Quelle
derselben in Kontraktion suchen dürfen. „Da wir
N. F. III. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
143
jetzt wissen, daß ein Atom Materie fähig ist, in
sich selbst einen enormen Energievorrat zu be-
sitzen, haben wir, glaube ich, kein Recht zu be-
haupten, daß die Sonne unfähig sei Atom-Energie
in einer Intensität frei zu machen, die vergleichbar
ist mit der, die sie entwickeln könnte, falls sie
aus Radium bestünde. Dementsprechend sehe ich
keinen Grund ein, daran zu zweifeln, daß man die
aus der Gravitationstheorie abgeleitete Abschätzung
des Energievorrates der Sonne sehr wohl durch
einen solchen Faktor auf den zehn- oder zwanzig-
fachen Betrag erhöhen könnte." Es ist klar, daß
durch solche Modifikationen der kosmologisch ge-
schätzten Entwicklungszeiträume eine Annäherung
an die bisher sehr stark abweichenden Ansichten
der Geologen möglich sein würde, worauf G. H.
Darwin am Schlüsse seines Briefes hinweist.
das Vergrößerungsglas zu Hilfe genommen wer-
den, um das Schattenbild des Netzes zu erkennen.
Ionisierung der Luft durch eine elektri-
sierte Spitze. — Hierüber macht Righi in der
Ph)'sik. Zeitschrift IV, Seite 641 interessante Mit-
teilungen. Bereits vor mehreren Jahren hat der-
selbe gezeigt, daß die von einer Spitze ausgehen-
den, geladenen Teilchen eine Bewegung längs der
Kraftlinien annehmen, so daß sich elektrische
Schattenphänomene durch in den Weg gestellte
Objekte erzielen ließen. Der modernen Theorie
gemäß handelt es sich hier natürlich um Ionen
und darum hat Righi die Versuche von neuem
aufgenommen. Eine Spitze, die durch Verbindung
mit einer Elektrisiermaschine dauernd geladen ge-
halten wird , wurde rings von einer Metallkiste
umgeben, in der sich nur eine durch ein geerdetes
Drahtnetz verschlossene (Öffnung befand. Zwischen
den Maschen dieses Drahtnetzes treten nun die
Ionen, die mit der Spitze gleichartige Ladung
haben, hindurch und können sowohl elektro-
metrisch, als auch in besonders instruktiver Weise
mit Hilfe des Schwefel-Mennige-Pulvergemisches
nachgewiesen werden. Im ersteren Falle läßt man
sie auf eine mit dem Elektrometer verbundene
Metallplatte auftreffen, im letzteren dagegen auf
eine Ebonitplatte, die auf ihrer vom Netz abge-
wendeten Seite eine Stanniolbelegung besitzt. Wird
durch Ladung dieser Belegung — am besten mit
Hilfe einer Leydener Flasche — zwischen dem
Netz und der Ebonitplatte ein elektrisches Feld
erzeugt, das die Ionen nach der letzteren hintreibt,
so erreichen diese die Platte auch bei beträcht-
licher Entfernung von dem Drahtnetz, und da sie
sich auf den Kraftlinien bewegen, so läßt sich
durch Bestäubung mit dem Pulvergemisch das
geometrische Abbild des Drahtnetzes sichtbar
machen, indem je nach dem Vorzeichen der Ionen
der Mennige- oder Schwefelstaub an den von
Ionen getroffenen Stellen festgehalten wird. Der
Staub zeigt sich daher in kleinen Quadraten an-
geordnet, deren Zwischenräume den Maschen des
Drahtnetzes entsprechen , von denen keine Ionen
auf die Platte übergingen. Selbst bei sehr engen
Drahtnetzen gelingt der Versuch , nur muß dann
Himmelserscheinungen im Dezember 1903.
Stellung der Planeten: Merkur ist Ende des Monats
nacli Sonnenuntergang kurze Zeit im SW. sichtbar, Venus
glänzt als Morgenstern 3—4 Stunden lang. Mars und
Saturn stehen unweit von einander und sind etwa l'/^ Stunde
lang abends im SW. sichtbar, während Jupiter noch volle
5 Stunden lang am südwestlichen Aheudhimmel glänzt.
Verfinsterungen der Jupitermonde:
3. Dez. 9 Uhr 31 Min. 37 Sek. ab. M.E.Z. I. Austritt
8- „ 5 .. 8 „ 41 „ „ „ II. Eintritt
8. ,, 7 ,, 44 ,, 19 „ ,, ,, II. Austritt
12. „ 5 >, 56 ,, 3 „ n n I. „
'5- M 7 .. 46 .. 43 „ „ ,, 11- Eintritt
•5- M 10 „ 22 ,, 8 „ ,, „ II. AuslriU
19- „ 7 „ 51 .. 36 ., „ „ I- „
26. „ 9 „ 47 n 6 „ „ „ I.
27. M 6 „ 40 „ 17 „ „ „ III.
Sternbedeckung: .\m Morgen des 7. wird der Fi.xstern
1 Germinoruni durch den Mond bedeckt. Der Eintritt erfolgt
für Berlin um 6 Uhr 45,9 Min. M.E.Z., der Austritt um 7 Uhr
42,9 Min.
Algol-Minima: .Am 3. um 7 Uhr 44 Min. abends, am
23. um 9 Uhr 27 Min. abends und am 26. um 6 Uhr 16 Min.
aljends.
Bücherbesprechungen.
Dr. Arthur Meyer, Prof. d. Botanik in Marburg,
Praktikum der botanischen Bakterien-
kunde. Einführung in die Methoden der bo-
tanischen Untersuchung und Bestimmung der Bak-
terienspezies. Zum Gebrauche in botanischen, bak-
teriologischen und technischen Laboratorien sowie
zum Selbstunterrichte. Mit i farbigen Tafel und
31 Abt. im Te.Kt. Gustav Fischer in Jena 1903.
— Preis 4.50 Mk.
Die bisherigen bakteriologischen Praktika haben
meist Nicht-Botaniker zu Verfassern, so daß es inter-
essant sein muß zu sehen, wie denn nun ein Fach-
Botaniker den Gegenstand vorbringt. Freilich vertritt
nun der Autor in seinem Praktikum einige Anschau-
ungen, die noch sehr der Aufklärung bedürfen, so
daß das Buch nicht hinreichend den allgemeinen An-
sichten und Kenntnissen über die Bakterien, sofern die
botanische Seite in Betracht kommt, angepaßt ist.
Prof. Dr. A. Hansgirg , Phyllobiologie nebst
Übersicht der biologischen Blatt-Typen
von Einundsechzig Siphonogamen - Familien. Mit
40 Abbildungen im Text. Berlin, Verlag von Ge-
brüder Bornträger, 1903. — Preis 12 Mk.
Die in dem vorliegenden Buche beschriebenen
biologischen Typen oder Klassen der Laubblätter sind
auch für die Pflanzensystematik von hohem Werte, so
daß sie in neuerer Zeit auch von den Systematikern
bei spezieller Bearbeitung einzelner Gattungen und
Fainüien der Siphonogamen berücksichtigt wurden und
wo es nicht geschehen ist, hoffentlich noch Berück-
sichtigung finden werden, da sie zumeist sehr auf-
fallende und konstante Charaktere abgeben. Ein Buch
zu besitzen, das dasjenige, was wir bis jetzt über die
ökologischen Eigentümlichkeiten der Laubblätter wissen,
zusammengestellt bietet, wird vielfach angenehm em-
pfunden werden.
144
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 9
Prof. J. M. Pernter, Allerlei Methoden, das
Wetter zu prophezeien. Vortrag. 36 Seiten.
Mit 8 Abb. Wien, 1903. Selbstverlag des Vereins
z. Verbr. naturw. Kenntnisse.
In fesselnder Darstellung bespricht Verf. die vieler-
lei Methoden der Weiterprognose und wendet sich
nach Abfertigung aller falschen Propheten dem wissen-
schaftlichen Verfahren zu, das die Luftdruckverteilung
zur Grundlage hat. An der Hand von acht typischen
Wetterkärtchen werden die charakteristischen Witte-
rungslagen von Mitteleuropa zur Anschauung gebracht,
und über die allerdings noch recht bescheidenen An-
fänge der wissenschaftlichen Prognose ohne jede Über-
treibung berichtet. Den Wert der auf vielhundert-
jährigen Beobachtungen beruhenden echten „Bauern-
regeln" für eine lokale Voraussage erkennt Verf. voll
an, während er sich mit Entschiedenheit, aber in vor-
nehmer Weise gegen diejenigen wendet, die von vor-
gefaßten Meinungen aus ihre Prophezeiungen gewinnen
und leichtfertig in die Welt hinaus senden. Die kleine
Schrift ist als ein Muster populärer Belehrung zu be-
zeichnen.
Herrn O. L. in Chemnitz. — Vergleichen Sie die Ab-
handlung von Alfred Burgcrstcin „Vegetabilische Surro-
gate tierischer Rohstoffe" (Wiener illustrierte Gartenzeilung.
Wien 1903. Heft VII, p. 243—250), in der Sie behandelt
finden 1) das vegetabilische Elfenbein, von den Samen
der rhytelephas und Coclococcussamcn herrührend, 2) vcget.
Roßhaar, das von Tillandsia usneoides stammt (Surrogate
bilden Zostcra marina und Teile von Cliamacrops humilis),
3'j Pflanzen seiden, die von Asclcpiadaceen und Apocy-
ncen gewonnen werden (auch aus Baumwolle und Holzcellu-
l.ise "wird ,, Kunstseide" erzeugt), 4) Pflanzcndunen :
Pllanzenwolle in den Fruchtkapseln der Bombacecn, 5) vege-
tabilisches Wachs.
Literatur.
Frank, weil. Prof. Dr. A. B. : Pflanzen-Tabellen zur leichten,
schnellen u. sicheren Bestimmung der höheren Gewächse
Nord- u. MiUeldeutschlands. 8. verm. u. verb. Aufl., neu
hrsg. V. Gymn.- Oberlehr. Dr. G. Worgitzky. (XXXVI,
238 S. m. Abbildgn. 8". Leipzig '03, H. Schmidt & C.
Günther. — 2,40 Mk. ; kart. 2,65 Mk. ; geb. 3 Mk.
Klockmann, Prof. Dr. F.: Lehrbuch der Mineralogie. 3.,
verb. u. verm. Aufl. (Xll, s88 u. 41 S. m. 522 Fig.) gr. 8".
Stultcrart '03, F. Enke. — 14 Mk.; geb. in Halbfrz. 16 Mk.
Herrn Simonson in Moskau. — Ober das Element von
C z a n g i und v. B ä r z a y entnehmen wir dem ,, Elektrotechniker"
(Nr. 11), daß es sich um ein Element handelt, bei dem Elek-
troden und Depolarisator dem Bunscnelement entsprechen,
während als Erreger eine Quecksilberoxydnilratlösung dient,
der zur Erhöhung der Leistung Cyankalium und Alkohol zu-
gesetzt ist. F. Peters hat dieses Element geprüft und mit
ähnlichen ohne den Cyankaliumzusatz verglichen und ist da-
bei zu günstigen Resultaten gelangt. In einem Versuche z.B.
war bei E'ntladung mit 0,1 Ohm äußerem Widerstand noch
nach 30 Minuten eine E. M. K. von 1,4 Volt und eine Strom-
stärke von 13 Ampere zu beobachten, während ohne jenen
Zusatz nur 0,5 Volt bzw. 5 Ampere erzielt wurden. StaU
einer Abnahme ist bei den neuen Elementen während geraumer
Zeit sogar eine Zunahme der Leistung zu beobachten. Die
Patentierung der neuen Elemente wurde daher von Peters
empfohlen. — Wie es jedoch mit der Ökonomie , Lebens-
dauer und praktischen Verwendbarkeit steht, wurde von Peters
nicht untersucht und bleibt daher abzuwarten. — Eine Bezügs-
quelle des Elements anzugeben sind wir nicht in der Lage.
Herrn Lehrer K. in Ellrich. — Für Ihre Zwecke dürften
am empfehlenswertesten sein die „Periodischen Blätter für
Realicnunterricht und Lehrmiltelwesen", Tetschen, Verlag von
O. Henckel, Preis jährlich (6 Hefte) 5 Mk. Mehr den Unter-
richt an höheren Lehranstalten ausschließlich berücksichtigen
die ..Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unter-
richt", Berlin, J. Springer; Preis jährlich (12 Hefte) 12 Mk.
Die biologischen Zweige des Unterrichts finden besondere
Forderung in „Natur und Schule", Leipzig, B. G. Teubner,
Preis jährlich (8 Hefte) 12 Mk.
Herrn Oberlehrer Günthatt (?) in Bremen. — Ein an Sie
adressierter Brief ist als unbestellbar zurückgekommen.
Herrn A. H. in Augsburg. — Ich möchte Sie noch darauf
aufmerksam machen, daß die Symbiose und ihre Stellung in
der Deszendenzlehrc in vorzüglicher und sehr ausführlicher
Weise in „Weismann's Vorträge über Deszendenztheorie" (Gustav
Fischer in Jena) Vortrag IX erörtert worden ist. W. Leo.
Briefkasten.
Herrn C. Grün in Neuwied a. Rhein. — Die beste Aus-
kunft gibt das ,, Biographisch -liter. Handwörterbuch zur Gesch.
der exakten Wissenschaften ges. von Poggendorf. Bd. !, 2
(bis \Sc,8 reichend) 1863, Bd. 3i, 3, 2 (reicht bis 1883) 1898."
Dr. M. Blumenthal.
Herrn Kieckbusch in Ellrich. — Zum Studium der
Mineralien des Harzes empfehlen wir Ihnen „Die Minerale
des Harzes". Eine auf fremden und eigenen Beobachtungen
beruhende Zusammenstellung der von unserm heimischen Ge-
birge bekannt gewordenen Minerale und Gesteinsarten von
Dr. Otto Luedeckc, Prof. an der Universität Halle a. S.
Gr. 8. Mit einem Atlas von 27 Tafeln und einer Karte. Ge-
heftet 56 Mk., in Halbfranz geb. 60 Mk. (Verlag von Gebrüder
Borntraeger in Berlin.) Von geologischen Führern des Harzes
sind außer dem bekannten Führer von v. Groddeck zu nennen:
Behme, Dr. Fr., Geolog. Führer durch die Umgebung von
Harzburg, einschließlich Ilsenburg, Brocken, Altenau etc.
1895. Haben, Hannover. 60 Pfg.
1 Geolog. Führer durch die Umgebung der Stadt Goslar
am Harz, einschließlich Hahnenklee, Lautenthal etc.
2. Aufl. 1895. 90 Pfg.
_, Geolog. Führer durch die Umgebung der Stadt Claus-
thal i. Harz, einschließlich Wildemann, Grund und (Oste-
rode. 1898. 1,80 Mk.
Inhalt: Dr med W. V. Gößnitz: Die Kiemenbogentheorie der Wirbeltiere. — Kleinere Mitteilungen: E. Baur: l'ber
„zwei denitrifizierende Bakterien aus der Ostsee". - Rob. Stäger: Infektionsversuche init Grammeen- bewohnenden
Claviceps-Arten. - HansMolisch: Über vorübergehende Rotfärbung der Chlorophyllkorner m Laubblattern —
Lawson: Die Berechtigung des Namens „Algonkium". - G. H. Dar wi n : Das Alter der Sonne^ - Righi; Ioni-
sierung der Luft durch eine elektrisierte Spitze. — Himmelserscheinungen im Dezember 1903. - Bucherbesprechungen:
Dr. Arthur Meyer; Praktikum der botanischen Bakterienkunde. - Prof. Dr. A. Hansg.rg: Phyllobmlog.e nebst
Übersicht der biologischen Blatt-Typen. - Prof J. M. Pernter; Allerlei Methoden, das Wetter zu prophezeien. -
Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr,), Naumburg a. S.
Herrn H. H. in Tetschen. — Am besten ist es, Sie
setzen sich mit einer geeigneten Firma in Verbindung. Diese
wird Ihnen mit näherem gewiß gern an die Hand gehen. Es
würde hier zu weit führen, auf die Frage näher einzugehen.
Im übrigen empfehle ich Ihnen „F. Fischer, das Wasser und
seine Reinigung", worin Sic sich eingehend über die Trink-
wasserrcinigung unterrichten können. An Firmen könnte ich
Ihnen nennen: Arnold & Schirmer. G., Berlin NO. Gr. Frank-
furterstraße 123. (Feinfilter für Wasser u. a.) Berliner Wasscr-
reinigungs-GesclIschaft m. b. H. Fricdenau b. Berlin, Rönne-
bergstraße 4. Bühring & Co., Berlin C. NW. Louisenstr. 21.
Dr. Lb.
, t-.^
Einschliefslich der Zeitschrift „^16 NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 6. Dezember 1903.
Nr. 10.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
utul Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der I'ost
I ; Pfg. extra. Postzeitungsliste .\r. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Pctilzcile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, lUumenstraße 46, Buchhändlerinserate durcli die
Verlagshandlung erbeten.
fNachilruck verboten."
Die Kiemenbogentheorie der Wirbeltiere.
Von Dr. med. W. v. Göfsnitz, Jena.
Die Extremitätentheorie.
Einleitendes.
Schon außerhalb der Wirbeltierreihe stoßen uns
der Lokomotion dienende Anhänge des Körpers
auf, die, paarig vorhanden wie z. B. typisch bei
den Insekten, oft den Extremitäten der Wirbel-
tiere verglichen werden könnten, wenn sie nicht,
was als fundamentaler Unterschied hervorzuheben
ist, äußere Skelettbildungen darstellten.
Die ersten Wirbeltiergliedmaßen waren ihrem
Zwecke , Fortbewegung im Lebenselemente der
Fische, dem Wasser, entsprechend flächenhaft an-
gelegt; ihre stiitzende Grundlage ist eine innere
Skelettbildung. Man findet bei den Fischen i.) so-
genannte unpaare Gliedmaßen sowohl auf
der Rücken- als auch auf der Bauchseite, die aus
einem primitiven medianen Flossensaum hervor-
gingen; Fortsätze der Wirbelsäule gaben ihnen
inneren Halt, der Saum gliederte sich in einzelne
Abschnitte, wie sie bei den Fischen typisch sind.
Wesentlich anders verhält es sich aber 2.) mit den
paarigen Flossen, der Brust- und Bauchflosse
der Fische, den Vorläufern der paarigen Extremi-
(Schluß.)
täten sämtlicher übrigen Wirbeltiere. Das Einheit-
liche an ihnen bis herauf zum Menschen ist der
Besitz je eines Extremitäten gürteis (Schulter-
und Beckengürtel) und je eines Paares mit dem
zugehörigen Gürtel beweglich verbundener freier
Extremitäten: vordere Gliedmaßen (Arme) und
hintere Gliedmaßen (Beine).
I. Gegenbaur's Archipterygiumtheorie
in kurzem Überblick.
Nach Gegenbaur's Archipterygiumtheorie
leiten sich die paarigen Extremitäten von zwei
letzten Kiemenbogen in ihrer Gesamtheit ab. Je
ihr Gürtel und die freie Extremität, letztere als
Archipterygium, repräsentieren also ursprüng-
lich eine gemeinsame Anlage, die von der Ver-
bindungsstelle beider als Grundlage perip her-
wärts in Ober- und Unterarm, Hand, Finger usf.
ausgewachsen ist. Diese ehedem am Hinter-
rande des Kopfteiles lokalisierten Bögen wan-
derten unter fortgesetzter Aus- und Umbildung
kaudalwärts, d.h. in der Richtung nach dem
Schwanzende des Körpers, bis sie schließlich an
auch noch bei den Säugetieren nicht völlig
146
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 10
fixen Punkten als vordere und hintere Extremität
anlangten.
Als wichtig kommt noch in Betracht, daß
trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Fällen
beide einander homodynam sind und in ihrer
Einrichtung viel Gemeinsames aufweisen.
Als von Gegenbaur's Seite diese Haupt-
sätze der Archipterygiumtheorie bekannt ge-
geben wurden, erhob sich bald eine ausgedehnte
und starke Gegnerschaft; ich nenne nur Autoren
wie Dohrn, Mivart, Rabl und Wieders-
heim. Der zeitlich erste wirkliche Gegner, Bal-
four, stellte als die wesentlichste Gegenhypothese,
der die meisten anderen im Prinzip mehr oder
weniger nahe kommen, die Lateral falten-
hypothese auf, gestützt ebenfalls auf eine Reihe
von auf Tatsachen begründeten Forderungen.
2. Balfour's Lateralfaltenhypothese.
Nach dieser Hypothese, die vorwiegend an
die Ontogenie anknüpft, entstehen in einer
den Körper umziehenden Seitenfalte gleichwertige,
d. h. einzeln oder in Gruppen je einem Segmente
zugehörige Knorpelstäbe; diese verwachsen beider-
seits an ihrem dem Körper zugewandten (medialen)
Ende zu einem stäbchenartigen Bindestück, dem
Bas i p t er y gi u m , von welchem aus der Glied-
maßengürtel, Schulter- resp. Beckenskelett, sich
bilden.
Was hier vorliegt ist also i. keine einheit-
liche, d. h. ursprünglich einem Segmente zu-
gehörige Anlage,
und zugleich liegt hier 2. ein von der Peripherie
zentralwärts gerichtetes Wachstum vor
- — zwei scharfe Gegensätze, zu denen als dritter
noch die A b 1 e u g n u n g einer Wanderung
unter Behauptung einer plnlogenetischen t-nt-
stehung im wesentlichen an Ort und Stelle hinzu-
kommt.
Verhältnis zwischen Ontogenie und ver-
gleichender Anatomie als Wissen-
schaften.
Aus dieser Gegensätzlichkeit zweier Anschau-
ungen, wie sie in der Archipterygium- und Lateral-
falten-Hypothese niedergelegt sind, die jede in
ihrer Art mit gewichtigen Gründen von autori-
tativer Seite gestützt erscheint, ersieht man wieder
die Notwendigkeit gegenseitiger kritischer Ab-
wägung, nicht bloß nach Zahl, sondern auch nach
Bedeutung der Beweismaterialien. Je mehr sich
unsere Kenntnis erweitert hat, um so mehr trat
diese Notwendigkeit schärfster und umfassendster
Kritik in den Vordergrund. Um ein ganz ein-
leuchtendes und sehr einfaches Beispiel aus der
Empirie, der Systematik der Organismenwelt, an-
zuführen: Der Walfisch hat lange als Fisch ge-
golten wegen einer Reihe äußerer Charaktere,
des allgemeinen Habitus, bis genauere Beobachtung
an einer Reihe noch wichtigerer Merkmale
erkannte, daß er ein Säugetier ist ; ein Säugetier,
das erst sekundär wieder in Anpassung an das
Leben im Wasser den äußeren*' Habitus eines
Fisches — Konvergenz unter dem Einflüsse
gleicher Lebensbedingungen — angenommen hat.
Wenn nicht zugleich die typischen Merkmale,
Besitz von Zitzen, eines furchenreichen und typisch
gebauten Großhirnes, eines Zwerchfelles etc. schon
einleuchtend genug wären , so kommen noch
schließlich rudimentäre Organe, wie die Anlage
der nicht zur Entwicklung gelangenden Säugetier-
zähne als Beweismittel zu ihrem Rechte. War
dieses schon von Darwin besprochene Objekt
der Tierwelt, dem ich den früher zu den Palmen
gerechneten Cycas, der in die Verwandtschaft
der Nadelhölzer gehört, an die Seite stelle,
einer von vielen längst abgetanen Streitpunkten
der Systematik, so werden jetzt immer größere
Komplexe spezieller Fragen ins Gefecht ge-
führt. — Augenblicklich besteht eine starke
Gegensätzlichkeit am meisten in den beiden
Lagern, welche der \'ergleichenden .'\natoniie resp.
der ontogenetischen Forschung den Hauptaus-
schlag zusprechen. In der letzteren , der Ent-
wicklungsgeschichte, die seit der Erfindung des
Mikroskopes zur Wissenschaft wurde und der wir
die gewaltigsten epochemachenden Entdeckungen
verdanken, besitzt nach Gegenbaur's Worten
(S. 17) „die vergleichende Anatomie eins der wich-
tigsten Hilfsmittel, insofern die Palin genese
(d. h. die Wiederholung phylogenetisch aneinander
gereihter Stadien im Embrj'onalleben des Einzel-
wesens — wesentlicher Inhalt des biogenetischen
Grundgesetzes) Zeugnisse bietet für die Vor-
geschichte der Organismen. Dieser Wert der
Ontogenie ist jedoch kein absoluter;
die mit der Palingenese vermischte Cänogenie
(Haeckel) in ihren mannigfachen Erscheinungen
Iseschränkt jenen Wert und läßt ihn nur als einen
relativen anerkennen. Bei der Verwertung der
Ontogenese zu phylogenetischen Folgerungen be-
darf es daher der kritischen Sichtung, der scharfen
Sonderung der palingenetischen und cänogene-
tischen Instanzen. Wer die Ontogenie mit allen
ihren Erscheinungen für palingenetische Schlüsse
in Anspruch nimmt, gerät auf Irrwege, wie wir
sie allerdings vielfach betreten finden." Die auf
winzigen Zeitabschnitt beschränkte Ontogenese
kann eben kein völlig getreues Bild der im Ver-
hältnis dazu fast unendlich langen Phylogenie geben.
In ihr findet — abgesehen von meletogene-
tischen Gebilden, die mit der Phylogenie gar
nichts zu tun haben und die der Anpassung an
spezielle Zustände des Embryonallebens ihr Dasein
verdanken, so sämtliche F r u c h t h ü 1 1 e n der
Vertebraten — bedingt natürlich in ihrer Kürze
nicht nur Abkürzung, sondern auch Über-
springung älterer Zustände statt, die sich weiter-
hin in örtlicher (Heterotopie) und zeitlicher
(Heterochronie) Verschiebung äußert.
Alles dies spielt auch in die referierend von
mir behandelte Frage hinein; diese Abschweifung
hat zugleich Bezug auf die Einleitung zu Gegen-
N. F. III. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
147
b a u r ' s vergleichender Anatomie, S. i — 28 ff., deren
Studium nur dringend zu empfehlen ist.
EinigesausderArchipterygiumtlicorie.
Es erübrigt nun noch eingehender die Extremi-
tätentheorie im Sinne Gegenbaur's zu besprechen;
da jedoch bei ihr das Gebiet, wie an der starken Gegner-
schaft ersichtlich ist, als ein noch sehr strittiges er-
scheint und die ganze Argumentationsreihe spez.
Fig. 16. Reell tes Br US tflosscnskcle tt eines fossilen
Haies (.Xenacanthus Decheni) [aus Gegenbaur n. A. Fritscli].
s Stamm, r Radien (Übergang des biserialen in den uniseri-
alen Typus).
auch die periphere Difterenzierung innerhalb der
Gliedmaße für eine populäre Darstellung leicht zu
unverständlich wird, so will ich nur auf einige
wichtige Punkte eingehen, um dann mit einer
kurzen Würdigung der unserer Ansicht nach höchst
wichtigen Resultate der kürzlich publizierten Arbeit
von E. Rüge über die Ontogenese des Flossen-
skeletts zu schließen.
Genese des Archipterygiums.
Wenn wir Gegenbaur bei der vergleichend-
anatomischen Entwicklung des Archipterygiums
folgen wollen, so müssen wir mit ihm auf in-
differente Zustände bei den Selachiern zurück-
greifen. Wir sehen dort die freie Extremität mit
Hilfe eines sogenannten Basale mit dem Schulter-
gürtel(-Bogen) artikulieren : Dem Basale sitzen eine
Reihe von Radien an, deren terminale Sprossung
und Abgliederung wir sogar heute noch, selbst
bei Individuen derselben Art, beobachten können.
Parallel damit ist ein ähnlicher Prozeß in dem
Diesen genannten Punkten entnimmt Gegenbaur
die Berechtigung, auch für die Phylogenese der
Extremität einen ähnlichen Vorgang supponieren
zu dürfen. Er geht dabei von einer Grundform
aus, welche an dem Stammradius, der durch ein
abgegliedertes Basale mit dem Schultergürtel ge-
lenkig artikuliert, eine gefiederte Anordnung von
Fig. 18. Linker Brustgüitcl mit Flosse von
Hcptanchus (Haie) (n. R. Ilcrtwigl.
s Scliulterblatt (^Scapula) der linken, Si der rechten Seite (durch-
scheinend gedacht), u unterer Teil des Schultergürtel, nl Nerven-
loch, 1,2,3 basale Teile der freien Kxtremität: Pro-, Meso-,
Metapterygium; a Stammreihe, r Nebenreihen der knorpeligen
Flossenradien, h Hornfaden oder Flossenstrahlcn, bei h' durch-
schnitten, da ihr dem Schultergürtel zugekehrter Teil sonst die
Enden der Flossenstützen zudecken würde (fast rein uniserialer
Typus).
Fig. 19. Schemata zur Differenzierung des Brust-
flosscnsk el e tts der Selachier (n. Gegenbaur).
F'ig. 17. Scliemata zur Erläuterung der Homodynamie des Extrem i
tätenskeletts mit jenen der Kiemen (n. Gegenbaur).
a — d Kiemenbogen von Selachiern, e Archipterygiumform.
Skelett der wirklichen Kiemen zu verfolgen. Dort
sieht man an einigen Bogen einen mittleren .Strahl
sich verstärken und einzelne andere Strahlen auf
ihn als Hauptstrahl überwandern. Diese fiedrige
Anordnung besitzt, mehr oder weniger noch durch
Teilungsvorgänge kompliziert, Gegenstücke im
Skelett lebender, besonders aber fossiler Haie (Fig. 1 6).
übergewanderten Radien als
erste Anlage einer freien Ex-
tremität aufweist. Diese Grund-
form bezeichnet er als Archi-
pterygium (Fig. 17). Je nach
verschiedener Sprossung und
Teilung, die entweder die
Radien beider .Seiten des Haupt-
strahles gleichmäßig betrifft
oder eine zurückbleiben läßt,
ist ein biser ial es oder ein
uniscriales (Fig. 18 u. 19) Archripterygium
das Endergebnis , zwei Formen , die durch eine
Reihe Übergänge miteinander verbunden sind.
Die gesamte Anlage ist eine einheitliche,
ein Körpersegment betreffende, die dann peripher-
wärts in eine wechselnde XHelheit von abgeglie-
derten Strahlen als freie Extremität auswächst, für
148
Naturwissenschaftliche AVoclienschrift.
N. F. III. Nr. lo
die sich fernerhin die Zahl 5 als Dauertypus
festgelegt hat. Der Bogen selbst kompliziert sich
durch Auflagerung von Deckknochen, auch durch
Rückwanderung von Strahlengliedern zu dem
Schulter- und Beckengürtel, wie sie uns heute be-
kannt sind.
Während bei den Dipnoern, besonders bei
Ceratodus (Fig. 20), noch ein schön ausgebil-
detes biseriales Archipterygium erhalten ist, so
hat sich schon die Flosse der übrigen im Wasser
lebenden Wirbeltiere zur uniserialen umgewandelt.
Fig. 20. Brust flosscn-
skclctt von Ceratodus
p'orsteri, '/s d. n. Cr. (aus
Gegenbaur).
h Basale des Flossenstammes,
s Glieder des letzteren,
r Radien ; darüber hinaus
gehen die Ilorniäden.
Fig. 22. Nervus collec-
t orv. Accipenscr sturi 0
(Stör) mit dem Skelett der
Bauchflosse.
19 — 31 Wirbelzahl,
\ Nerven-
v^ — V4 ventrale I zweige an
dl — d^ dorsale j die Glied-
) maCe
(aus Gegenbaur n.
v. DavidofiQ.
Nur kurz will ich noch das weitere Verhalten
bei den Tetrapoden, wo die Extremität als
Hebel wirkend der Lokoinotion dient, berühren.
Schon bei den im Wasser lebenden Vertebraten
war ein gelenkiges Basalstück ähnlich jetzt dem
Oberarm und -Schenkel abgegliedert worden; der
Rest der freien Extremität zeigt als Prototyp
(Fig. 21) nur noch ein uniseriales X'erhalteii und
trägt innerhalb dieses den Namen Chiropte-
rygium; dieses, das mehr oder weniger deutlicli
in den Skelettbildungen bis zti den Säugetieren
hinauf nachweisbar ist, prägt sich z. B. beim
Ichthyosaurus hübsch aus. Die Zahl 5 der
Radien wird bei den Säugetieren zwar häufig re-
duziert, sie ist aber in der Ahnenreihe, wie in
geradezu klassischer Weise das Pferd zeigt, (ein
Verdienst der amerikanischen Paläontologen Cope
und Marsh), immer wieder nachweisbar.
Ein wichtiger Punkt bliebe noch zu behandeln,
die Wanderung der Extremität, die noch
eine Reihe Belege finden muß. Für die F'ische
ist sie leichter zu erschließen, da dort wenigstens
die vordere Extremität dicht hinter den Kiemen-
bögen liegt. Doch wird theoretisch die Schwierig-
keit, für die hintere Extremität eine successive
kaudalwärts gehende Wanderung zu postulieren,
ichon geringer, wenn man beachtet, wie allein
schon die vordere Gliedmaße von den Fischen
bis zu den Vögeln immer weiter nach hinten
tritt unter Anwachsen der zwischen ihr und dem
Kopfe eingeschalteten Halswirbel.
Fig. 21. Schema einer 5fingerigen
Extremität (aus R. Hertwig n. Gegenbaur).
Die durchgezogene Linie stellt den Stamm-
radius dar, die punktierten geben die Seiten-
radien an. Die für die hintere Extremität
gültigen Bezeichnungen sind eingeklammert.
II Oberarmknochen (Oberschenkel),
U Ellenbogen (Wadenbein),
R Speiche (Schienbein),
G Handwurzel (Fußwurzel) bestehend aus
2 Reihen und 2 zentralen Stücken :
I. Reihe r Radiale (Tibiale),
i Inlermedium,
u ulnare (Tibulare),
II. Reihe i — 5 Carpalia (Tars.^lia"),
c Centralia.
Die Mittelhand (Miltelfuß) und die Finger
(Zehen) sind nicht bezeichnet worden.
Bedeutung der N e r v e n b e z i e h u n g e n.
Eine weitere, höchst wertvolle Argumentation,
welche die Wanderung der Extremitäten als etwas
durchaus nicht Unnatürliches erscheinen läßt , ist
in Beziehungen zum Nervensystem gegeben. Ge-
netisch gehören bekanntlich Nerv und Muskel zu-
sammen , wie uns die Neuromuskelzelle
niederster Organismen an die Hand gibt; bei den
Wirbeltieren wird diese Eigenschaft in der Metho-
dik der Forschung jetzt viel benutzt, da das zen-
trale Organ mit seinen abgehenden Nerven
geringeren Schwankungen unterworfen ist als das
periphere Gebiet (Muskel etc.) und daher um so
eher und um so sicherer primitive Zustände in
der Art seiner Nervenabgabe erkennen läßt.
Speziell den umfangreichen und eingehenden Ar-
beiten M. Fürbringer's verdanken wir es, daß
in den ein Organ versorgenden Nerven ein wich-
tiger Anhalt sowohl für die segmentale Zugehörig-
keit als auch für weitere verwandtschaftliche Be-
zielnmgen dieses Organes gesucht wird, dieses
mag sich peripher noch so sehr verschieben ; ist
N. F. III. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
149
es der ursprünglichen AnInge homolog, d. h.
völlig gleichen morphologischen Ursprunges, so
zeigt der z.ugehörige Nerv durch die Stelle seines
Austrittes an dem VVirbelkanal den segmentalen
Ursprungsort und in seiner Lagerung den Wände
rungsweg des Organes an. Beispiele erläutern
dies: Der zur Kopfregion gehörige Nervus
vagus, im wesentlichen Nerv des dritten Kiemen-
bogens, verläuft zu Kehlkopf, Luftröhre, Lunge,
Herz und Magen als Wegweiser ihrer Bildungs-
stätte, ihrer primitiven Lagerung und sekundären
Wanderung hin.
Der Nervus hypoglossus, ein Nerv der
Unterkiemenmuskulatur zeigt an, da(3 diese bis an
den Unterrand des Brustbeines, d. h. bis in Magen-
höhe, gewandert ist, ja, innerhalb der Säugetier-
reihe verläuft er in seinen Endgliedern bei einigen
Arten fast bis zum Becken; das Schuppentier
Manis ist es, bei dem die zum Ameisenfang aus-
gebildete Zunge diesen so tief herabgehenden
Ursprungsort an dem bogenförmig verlängerten
Schwertfortsatz gefunden hat. Hier liegt also
schon in einem Nerven nnt seiner zugehörigen
Muskulatur der Weg vom Kopfe zur hinteren
Extremität, nur für ein anderes Organ, angegeben.
Ebenso ist das Zwerchfell, der wichtige
und typische Säugetieratemmuskel (dessen Anfänge
höchstens bei Amphibien angedeutet sind), aus der
Hypobranchiallängsmuskulatur der oberen Hals-
region, wo es Anschluß zur Hypoglossusmuskulatur
hatte, mit dem Herzen bis in Magenhöhe gewan-
dert, wie jetzt noch durch seinen Nerven, N. phre-
nicus, dargethan wird.
Behält man diese Beispiele im Auge , so ist
auch für die Extremität eine Wanderung nichts
Fremdes mehr, die in der oberen Extremität, noch
dazu in der Innervation eines Muskels (Trapezius),
durch einen (z. t.) Kopfnerven (Accessorius) belegt
erscheint (abgesehen von den unter die mittlere
Verbindung des Schultergürtels getretene Hypo-
branchialmuskulatur). Die Kopfregion ist eben,
wie alle genannten Beispiele zeigen, die ehemalige
Lagerungsstätte der meisten wichtigen Körper-
organe gewesen.
Ferner sind noch die Nervenplexus, d. h.
Schlingenbildungen der Nerven untereinander, wie
sie für die Nerven beider Extremitäten typisch
geworden sind, als wichtiger Anhalt zu besprechen.
Diese Schlingenbildung beruht auf peripherer An-
gliederung n eu er Segmente für bestimmte
Organe, die dadurch der ursprünglichen Anlage
nicht mehr rein homolog , aber noch s e r i a 1 -
homolog sind, da entspreciiende Muskelabschnitte
den neu zuerworbenen Segmenten entnommen
werden. Daß diese Neuaufnahme in ihrem Fort-
schreiten eine schwankende ist , erkennen wir an
der wechselnden Zusammensetzung der Plexus
aus verschiedenen Spinalnerven in der ganzen
Vertebratenreihe bei im wesentlichen vorherrschen-
der Konservierung der gegenseitigen Nerven-
beziehungen innerhalb der Plexus. Im Gegensatz
zu den .-Vnuren sind bei den meisten höheren
Vertebraten die mehr kopfwärts gelegenen Teile
der Plexus in Rückbildung begriffen, der kaudal-
wärts gelagerte Abschnitt jedoch [jrogressiv tätig.
Auch in diesem V'erhalten der Plexus ist ein
wichtiger Fingerzeig gegeben, der sich beim Plexus
der Bauchflosse niederster Fische darin ausdrückt,
,,daß der vorderste jenem Gebiete zugeteilte Nerv
(wie Davidhoff und Braus fanden) mit einem
Längsnervenstamme in Verbindung steht, in wel-
chem sich eine Anzahl der vorhergehenden Spinal-
nerven vereinigen". Dieser Nervus collector
i^Fig. 22) ist von verschiedener Länge und spricht
dafür, „daß die Bauchflosse einen Weg von vorn
nach hinten zurückgelegt hat, auf welchem sie
nach und nach in die Gebiete immer weiter zu-
rückliegender Spinalnerven, d. h. Rumpfmetameren,
gelangte, aus denen sie jeweils ihre Muskulatur
bezog. Diese Wanderung der Gliedmnße erscheint
als ein ähnlicher Vorgang wie jener, welcher die
vordere Gliedmaße betraf." (Gg. S. 839.)
In diesem Sinne wird auch das Auftreten einer
die Flossenanlage jeder Seite verbindenden Inte-
gumentfalte von Gegenbau r mit der supponierten
Wanderung der Hintergliedmaße in Verbindung
gebracht. Darauf würden auch die sogenannten
„Aborti vknospen" (Dohrn) der betreffenden
Muskelsegmente als Zeichen ehemaliger Verwen-
dung im Dienste der Extremität zu beziehen sein.
Aus vorstehendem Abschnitte über die Archi-
pterygiumtheorie ist zu ersehen , daß die dafür
angeführten Punkte im wesentlichen aus der
Vergleich ung erschlossene Postulate dar-
stellen , ebenso wie dies für die zugunsten der
Balfour'schen Hypothese angeführten onto-
genetischen Befunde gilt.
Neue Ergebnisse der ontoge netischen
Forschung.
Im Gegensatz zu den bisherigen entwicklungs-
geschichtlichen Resultaten werden in der erwähn-
ten Arbeit E. R u g e 's („Die iLntwicklungsgeschichte
des Skeletts der vorderen Extremität von Spinax
niger") jedoch jetzt gerade auf dem Gebiete der
Ontogenie Tatsachen zum Vorschein gebracht,
die auch hier zugunsten der Archipterygiumtheorie
in den Hauptpunkten sprechen. Rüge konnte beim
Vergleichen einer Anzahl verschiedenaltriger Sela-
chierEmbryonen in klarster Form verfolgen, daß
die Verknorpelung des Extremitätsskeletts von
einer einheitlichen Vorknorpelmasse aus-
ging. Vorwiegend zuerst differenzieren und glie-
dern sich Schultergürtel und die basaleren Teile
der Extremität, Meso- und Metapterygium und
hierauf die einzelnen Knorpelstrahlen ; mit anderen
Worten: in der Ontogenie besteht eine einheit-
liche Grundlage, die sich perip herwärts
fortschreitend differenziert. Auch für
die Forderung, daß primär ein biseriales
Arch i p t e ry gi u m vorhanden sein muß, fand er
Beleg im Nachweis eines sogenannten Postaxial-
radius, der dann wieder zugrunde geht.
Einige weitere speziellere und wichtige For-
150
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. lo
derungen der Archipterygiumtheorie werden eben-
falls wahrscheinlicher gemacht, so daß jetzt der
Lateralfaltenhypothese auch auf ihrem Haupt-
argumentationsgebiete der Ontogenie — über die
ich Gegenbau r's Ansicht einleitend referierte —
abgesehen von älteren Arbeiten neuerdings wieder
eine Reihe wichtiger Gründe entgegenstehen.
Weitere Forschungen werden hoffentlich end-
gültigen Ausschlag geben.
Zusammenfassung und Schlufs.
Kurz rekapituliert wäre der Vorgang bei der
Extremitätenbildung folgender: an den letzten
ehemaligen Kiemenbogen bilden sich die Radien
um, indem sie sich an einen stärkeren als Haupt-
strahl funktionierenden angliederten. Eine weit-
gehende Teilung gab dem Ganzen, das sich auch
im Schulter- und Beckengürtel, z. B. durch
Rückwanderung von Radien zum Bogen nach der
Ventral- und Dorsalseite des Körpers hin kompli-
zierte, eine größere Beweglichkeit. Die vom Ver-
bände der übrigen Kiemenbogen unter Funktions-
wechsel gelösten Extremitäten wanderten dann,
sich mehr und mehr vom Kopfe und voneinander
entfernend, zuerst als Flosse und später aus dieser
als Vierfüßlergliedmaße differenziert, kaudalwärts.
Demnach leiten sich beim Menschen scliließ-
lich von 9 — II primären Kiemenbogen eine Reihe
Organe der Mundhöhle und des Ohres, dieSprech-
und Atemorgane, sowie das Skelett der F'ort-
bewegungsorgane ab (vgl. die Tabelle).
Es gehen also Hammer, Amboß und
Trommelfell sowie der Unterkiefer auf
den I. Kiemenbogen zurück;
Steigbügel, Ohrknorpcl mit Ohr-
muschel, kleines Zungenbein hörn etc.
auf den 2. Kiemenbogen.
Der lufthaltige Teil des Ohres: Eustachi-
sche Röhre, Paukenhöhle und äußerer
Gehörgang ist identisch mit der ersten
Kiementasche.
Der Rest des Zungenbeines gehört zum
dritten, der Schildknorpel zum vierten
und fünften Bogen.
Die übrigen Gebilde des Kehlkopfes
und die Ringe der Luftröhre bewahren die
Überbleibsel des sechsten und siebenten
Bogens.
In der Halsmandel, der K a 1 b s m i 1 c h
(Thymus) und Schilddrüse sind nur noch
Epit hellen je der 2. — 4. Kiemenspalte
weiter vererbt worden, die übrigen 2 kamen zum
Schwunde. Und endlich sind in dem Skelett
der beiden Extremitäten paare zwei
letzte Bögen weiter differenziert worden.
Meine Erörterungen sollten nur in gemein-
verständlicher Weise den vorläufigen Ab-
schluß der Kiemenbogenfrage wiedergeben.
Immer neue Funde werden gemacht, neue
Verknüpfungen und Ideen tauchen modifizierend auf.
Dauernd in ihrem vollen Umfange ist ja
überhaupt keine unserer höchsten Wahr-
heiten festgelegt und abgeschlossen;
immer schönere, weiter und tiefer gehende P'ragen
tun sich den neuen Generationen auf, die auch
jede ihr Teil zum Fortschritte beitragen wollen.
Und so sagt Gegenbaur in seinem Vorworte :
„Das ist ja das Leben einer Wissenschaft, daß
sie nicht zum Abschluß kommt, das wäre ihr
Ende, ihr Tod."
Die Steinkammern bei Erdbach an der neuen Westerwald-Querbahn.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Edgar
So häufig die Höhlen im Süden Deutschlands
sind, namentlich in Württemberg, welches man
daher auch als das klassische Land der Höhlen-
forschungen in Deutschland bezeichnen kann, so
selten sind sie im allgemeinen im mittleren und
nördlichen Deutschland anzutreffen. Die beiden
Höhlen bei Erdbach, welche die große und die
kleine Steinkammer genannt werden, sind zwar
schon lange bekannt, aber doch bis jetzt weder
dem Publikum zugänglich gemacht, noch auch
überhaupt einer eingehenden Untersuchung unter-
zogen worden. Es ist dies um so auffallender, da
eine im Jahre 1884 durch Oberst von Cohausen
den verstorbenen , verdienstvollen Vorstand des
Wiesbadener Altertums - Vereins , vorgenommene
oberflächliche Untersuchung, auf welche wir noch
näher eingehen werden, schon verschiedene inter-
essante Funde ergeben hat.
Der Ostabhang des Westerwaldes, an welchem
auch Erdbach liegt, zeichnet sich durch große
geologische Mannigfaltigkeit aus. Ältere und jüngere
Odernheimer.
neptunische Gesteine werden hier von plutonischen
Massen des verschiedensten Alters durchbrochen
und überlagert. Von älteren sedimentären Ab-
lagerungen kommen hauptsächlich Schiefer, Schal-
steine und Massenkalk , von jüngeren feuerfeste
Tone und Braunkohlen in Betracht ; von plutoni-
schen Gesteinen Feldspatporphyr, Diabasgesteinc,
Trachyte, Phonolithe und Basalte verschiedenen
Ursprungs. Dieser großen Verschiedenartigkeit
der Gesteine entspricht auch die Mannigfaltigkeit
nutzbarer Minerallagerstätten : Roteisensteinlager in
Wechsellagerung mit Schalsteinen und Diabas-
gesteinen, Dachschieferlager im Devon, Brauneisen-
stein- und Manganerz auf dem Massenkalk und
Schalstein, ferner Eisen-, Blei-, Silber- und Zink-
erzgänge in den Koblenzschichten, Kupfer-, Nickel-
und Schwefelkiesgänge im Diabas und sporadisch
Zinnobererze, ferner Schwerspat. In den diluvialen
und tertiären Schichten finden sich außer den
schon erwähnten massigen Ablagerungen plastischer
Tone und Braunkohlen Braunsteine, Sphäro.siderite,
N. F. III. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
151
Phosphorite und tonige Kobalterze. Diese kurze
Beschreibungdes geologischen Aufbaues der näheren
Umgebung der Höhlen schicke ich zum Verständnis
des Weiteren voraus. Als Quellen erwähne ich
F. Odernheimer, Das Berg und Hüttenwesen im
Herzogt. Nassau 1867 und E. Frohwein, Beschrei-
bung des Bergreviers Dillenburg 1885. Ferner die
geologische Karte von v. Dechen. Bei der Be-
schreibung der Höhlen selbst und ihrer Umgegend,
soweit sie sich auf das frühere, jetzt teilweise ver-
änderte Aussehen bezieht, ist die Schilderung des
Herzogt. Nassau von C. D. Vogel 1843 und die
geognostische Beschreibung von C. E. Stifft zu-
grunde gelegt.
Der Ausgangspunkt für den Besuch der Höhlen
ist das an der Köln-Gießener Bahnlinie im Dill-
tale, am Fu(.5e des Westerwaldes gelegene alte
Städtchen Herborn. Herborn mit seinem male-
rischen alten Schlol.3 bildet auch den Anfangspunkt
der jetzt im Bau befindlichen Westerwald-Ouer-
bahn, welche die reichen Naturschätze des Wester-
waldes erschließen soll. Wir folgen daher auch
bei unserem Gange der zukünftigen Trace dieser
Bahn. Nachdem die Bahn kurz hinter Herborn
die Dill überschritten hat, durchschneidet sie in
einem tiefen Einschnitt bei Burg Kieselschiefer,
Mandelstein, Hyperstenfels und Kramenzel und ge-
langt dann in das enge Waldtal der Amdorf. Es
folgt darauf wieder Mandelstein, dem sich bei
Neuhaus, einem früheren Jagdschlößchen der Grafen
von Dillenburg ein Schieferzug nähert, der von
jetzt ab auf der rechten Talseite der Bahn parallel
läuft und erst bei Erdbach erreicht wird. Zwischen
Uckersdorf und Amdorf verläßt die Bahn das Tal
der Amdorf, die hier die Erdbach aufnimmt. Von
der zukünftigen Station Erdbach führt uns der
Weg in wenigen Minuten zu den Steinkammern.
Wir folgen der Erdbach, die plötzlich in unter-
irdischem Laufe in den Felsen verschwindet und
stehen vor einer steilen Kalksteinwand, von mäch-
tigen Buchen umschattet, die ihre Wurzeln tief
hinabsenden in das zerklüftete Gestein. Das
Hauptvorkommen des Massenkalkes ist auf das
Gebiet zwischen Langenaubach, Medenbach, Erd-
bach und Breitscheid beschränkt und umfaßt den
Ostrand der Westerwälder Tertiärablagerung, wäh-
rend weiter gegen Nordosten nur schwache Partien
dem unteren Schalstein aufgelagert sind. Der
Kalk, der im Kontakte mit Posidonomyenschiefer
steht, ist in frischem Zustande ein dichtes, blau-
graues, dickbänkiges Gestein mit Querklüften,
welches an der Oberfläche unter dem Einflüsse
der Verwitterung stark zerklüftet erscheint. Die
Spalten sind oft scharf, wie mit dem Meißel, in
den Felsen gearbeitet , vielfach in Form recht-
winkliger Kreuze, so daß man versucht ist an das
Werk von Menschenhänden zu denken. Der Kalk-
stein zeigt große Neigung zur F'elsbildung. Über-
gänge in Dolomit sind selten. G. Bischof) fand
') G. Bischof, Lehrbuch der ehem. u. physik. Geologie,
Bonn 1855, Bd. 2, S. 1085 u. 11S2.
parallel der Schichtung eine schmale, braune Lage,
welche eine fast schon vollständige Extraktion der
Karbonate zeigte und seine braune Farbe der
höheren Oxydation des Eisenoxj'dul- und Mangan-
oxydulkarbonats verdankt. Deutliche Versteine-
rungen kommen selten vor. Die sicher bestimmten
hat Koch ^) in seiner Arbeit über die Paläozoischen
Schichten und Grünsteine in den Ämtern Dillen-
burg und Herborn zusammengestellt.
Verfolgt man das durch die Kalksteinwände
eingeschlossene enge Felsental weiter, so kommt
man auf freies Feld. Den Kalk bedeckt westlich
und zwar dicht bei Breitscheid Basalt und be-
sonders südöstlich des Dorfes Ton und Walker-
erde. Wir befinden uns an dem Ausgehenden der
Braunkohlenformation. Hier und da zeigen sich
an der Oberfläche des Bodens Vertiefungen, welche
durch das Einstürzen unterirdischer Höhlen und
Klüfte entstanden sind und noch entstehen. Mehr
als zwanzig solcher Vertiefungen finden sich auf
der kleinen Fläche, die sich vor dem Dorfe Breit-
scheid ausbreitet. Wie Vogel berichtet, entstand
am Anfange des vorigen Jahrhunderts mitten im
Dorf ein solcher Erdfall. Die Zerklüftungen des
Gebirges, die das Wasser überall durchsickern
lassen, sind auch die Ursache, daß sich in diesem
Dorfe keine zutage gehende Quelle findet und
auch kein Ziehbrunnen anzulegen ist, sondern das
Wasser von dem nahe gelegenen Basaltgebirge
hergeleitet werden muß. In diese Erdfälle stürzt
sich der kleine Bach, der durch Breitscheid fließt
und, nachdem er ca. ^;., Stunde in verborgener
Tiefe unter dem Berge durchgeflossen ist, kommt
er, wie schon erwähnt, an dessen Fuße unten im
Tale verstärkt wieder kristallklar zum Vorschein
und treibt sofort eine Mühle. Dieser Berg mit
dem unterirdischen Laufe des Baches heißt in der
Umgegend die ,, große Brücke" und hat diesem
selbst den Namen „Erdbach" gegeben. Es ge-
bricht ihm niemals an Wasser und er friert auch
bei der strengsten Kälte nicht zu. Von den Höhlen
selbst gibt Becher -) folgende Beschreibung vor etwa
100 Jahren: „Ungefähr ■\!^ des Berges, der zwischen
25 und 30 Grad aufsteigt, sind die Höhlen. Der
Eingang der einen (kleine Steinkammer) ist niedrig
und gleicht einer Dachshöhle. Man muß hinein
kriechen. Nach 8 Schuh erweitert sie sich aber,
und wird so hoch, daß aufrecht gegangen werden
kann. Nach zurückgelegten 50 Fuß wird der Tag
wieder erblickt. Durch eine enge Öffnung gelangt
man in eine Grotte, welche 12 Schuh breit, in der
Mitte 7 hoch und 30 lang ist und deren Ausgang
das Ende der Höhle ist. Auf der rechten Seite
geht noch eine besondere Höhle hinein, die ich
35 Schuh untersuchte. Abgerissene Kalksteinblöcke
lagen auf dem Boden. Das Innere beider Höhlen
war mit Tropfstein geziert.. Sechzig Schuh davon
sind die großen Steinkammern in einem Kalkstein-
') Jahrbuch des Vereins für Naturkunde im Herzogt.
Nassau 1858, S. 233 ff.
^) Becher, Beschreibung der Oranien-Nassauischen Lande
S. 221 ff.
152
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. lo
felsen, der mit Epheu bewachsen ist. Der Weg
dahin führt über schroffe Kalksteinfelsen. Die
Grotte vor denselben ist 28 Schuh lang und 15
breit. Gerade über ihr hängt eine große auf
beiden Seiten schon losgetrennte Last Kalkstein,
die oben noch wie eingekeilt scheint. Auf der
rechten Seite ist der Fels wellenförmig gesprungen,
wodurch Klüfte entstanden, die im Zickzack in
ihm hineingehen. Weiter als 20 Schuh konnte
ich nicht kommen, da die Höhle zu enge ward.
Ich bemerkte, daß sie ungefähr 12 oder einige
Schuh mehr hoch und mit Tropfsteinen überzogen
war."
Die zweite Untersuchung fand, wie schon in
der Einleitung angeführt, durch Oberst von Cohausen
1884 statt.
Da es interessant ist die beiden etwa 80 Jahre
auseinander liegenden Messungen der Höhlen zu
vergleichen, so führe ich auch diese Daten hier
an. Nach Cohausen reicht die große Steinkammer
6,5 m in das südliche Berggehänge, ist 2 — 3 m
weit und i — 3 m hoch; sie steht am hintersten
Ende mit einer 80 cm weiten, i m hohen offenen
Spalte in Verbindung, welche sich nach rechts auf
7 m Länge abzweigt, dann verengt und tiefer
niedersetzt.
Die kleine Steinkammer hat eine 3,5 m weite
Öffnung von 2 m Höhe in einer senkrechten Fels-
wand, verengt sich bald auf 1,2 m und geht bei 4,5 rn
Entfernung vom Eingang in eine 3 — 4 m weite Halle
über. Letztere steht einerseits mit einer 80 cm hohen
und 70 cm weiten offenen Kluft in Zusammen-
hang, welche auf 6,6 m Länge in östlicher und
weiter noch auf 2,15 m Länge in südöstlicher
Richtung verläuft und sich dann so verengt, daß
eine L'ntersuchung nicht mehr ausführbar ist,
während andererseits ein 70 cm hoher und offener
Raum in südwestlicher Richtung von der Halle
abzweigt, welcher bei 13 m Länge sich bei gleicher
Breite auf 1,5 m Höhe erweitert und wieder ins
Freie mündet. Während also bei der großen
Steinkammer die ältere Messung mit der neueren
gut übereinstimmt, differiert sie bei der kleinen
Höhle nicht unwesentlich. Früher war dieselbe
noch auf eine Länge von ca. 58 Fuß zugänglich,
was jetzt nicht mehr möglich ist.
In der großen Steinkammer war die Ausbeute
nur gering. Cohausen fand nur wenige Knochen
rezenter Tiere, welche von Raubtieren dorthin
geschleppt waren, einen kleinen Meil.jel aus Ton-
schiefer und einen flachen, durchbohrten Griffel,
wie derselbe vor 40 Jahren in den Schulen ge-
braucht wurde. Reichhaltiger waren dagegen die
Funde in der kleinen Steinkammer. Es fanden
sich menschliche Gebeine, jedoch kein Schädel,
ein Bronze-Armring, 5 Ohrringe mit Bernstein und
Glasperlen, ein eiserner Halsring, verschiedene
Topfscherben, Knochen vom Hund und Fuchs,
hauptsächlich aber vom Rind, und ein Reißzahn
vom braunen Bären (Ursus arctus), aber keine
Waffen und Feuersteinmesser.
Vor einiger Zeit hat nun der Herborner Alter-
tumsverein auf Anregung des Vorsitzenden Hoff-
mann und des Oberförsters Behlen beschlossen,
die Arbeiten wieder aufzunehmen und den Be-
mühungen dieser Genannten ist es zu verdanken,
daß die Behörden die Erlaubnis zu den in um-
fassendem Stile geplanten Ausgrabungen erteilten.
Da sich der Schreiber dieser Zeilen an der Be-
aufsichtigung dieser Arbeiten beteiligte, so sei es
gestattet, etwas näher auf das Ergebnis derselben
einzugehen, wobei ich außer eigener Anschauung
noch den Bericht des Herborner Altertumsvereins
zugrunde lege.
Die Beschaffenheit der Höhlen läßt vermuten,
daß wir es wie bei den Höhlen der schwäbischen Alb,
der dieses kleine Gebiet in seinen steil abstürzen-
den Rändern und seiner landschaftlichen Konfigura-
tion nach auffallend gleicht, mit einem ausge-
waschenen Kluftsystem und nicht mit einer eigent-
lichen Verwerfungsspalte zu tun haben.
Vor dem Eingang zur Höhle der großen Stein-
kammer befindet sich eine große Lehmanhäufung
und es wurde beschlossen, diese systematisch ab-
zugraben und zu durchsuchen. Daß wir hier keinen
typischen Höhlenlehm vor uns haben, sondern Ein-
schwemmungen von außen, geht aus den in dem
Lehm aufgefundenen zahlreichen Gesteinstrümmern
hervor, welche ihrer Abstammung nach unzweifel-
haft auf ihre Herkunft aus dem Breitscheider P~eldc
hinweisen. Es sind neben Kalksteintrümmern,
hauptsächlich basaltische und trach_\-tische Kon-
glomerate. Der eigentliche Höhlenlehm aber muf^
sich nach den Lhitersuchungen von Professor
E. Fraas ') in der Höhle selbst an Ort und Stelle
gebildet haben. Fremdartige eingeschwemmte Ge-
steine oder Geröllablagerungen fanden sich in dem-
selben niemals. P2r hält den Höhlenlehm vielmehr
für den Rückstand des ausgelaugten Kalkgesteins.
Das massenhafte Auftreten fremdartiger Gesteine
in unserem Lehm läßt sich auch durch die schon
erwähnten trichterförmigen Erdfälle oberhalb der
Höhle auf dem Breitscheider Felde erklären. Von
dem durch diese Erdfälle, namentlich bei heftigen
Gewitterregen transportierten Lehm und Geröll,
stammt daher auch jedenfalls diese Erdanhäufung
vor der Höhle der großen Steinkammer. So fand
z. B. Petzholdt,-) daß im Etschtale, wo Spalten
den Kalkstein durchsetzen, am unteren Ende der-
selben mächtige Schutthaufen angehäuft sind.
Dieselben Beobaclitungen machte Bischof bei den
Erdfällen in der Gegend von Paderborn. Die Erd-
anhäufung zeigte auch keine Wölbung in der Mitte,
wie sie für den Höhlenlehm charakteristisch ist.
Fraas fand bei anderen Höhlen, daß die Firstlinie
dieser Wölbung stets mit derjenigen der Höhle
zusammenfiel, und daß an den Seitenwandungen
der Höhle der Lehm so niedrig lagerte, daß eine
Rinne frei blieb. Die Spitze der Schuttanhäufung
der Steinkammer liegt an dem Ende und weist
') Jahreshefle des Vor. f. vaterl. Naturkunde in Württem-
berg. 50. Jahrg. S. LXVf.
'') Beiträge zur Geogn. v. Tyrol, S. 208.
N. F. III. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
153
auf den Eingang der Höhle hin, breitet sich von
da kegelförmig vor ihrer Mündung wie eine Schutt-
halde aus, wo sie durch die weit überragenden
Felsen an der weiteren Abschwemmung geschützt
wurde. Die stark vorspringende Neigung der
Felsen gab auch die Veranlassung zur Vermutung,
daß diese jetzt weit außerhalb gelegenen Fels-
partien die frühere Fortsetzung der Höhle nach
außen bildeten, deren obere Wölbung aber ein-
gestürzt sei. Wäre dieses der Fall, so könnte die
jetzige Erdanhäufung vor der Höhle eine im Innern
derselben entstandene Höhlenlehmbildung sein. Daß
dieses aber höchst unwahrscheinlich ist, geht aus
dem gänzlichen Fehlen der diese Bildungen charak-
terisierenden Eigenschaften hervor. Die starke
Neigung der bloßgelegten Felspartien wird viel-
mehr durch die zur horizontalen geneigte Einfall-
fläche der Kalkschichten bedingt. Dieser Schilde-
rung entsprechend waren auch die Resultate der
Ausgrabung in der vor der Höhle lagernden Masse
nicht sehr bedeutend, obgleich, am unteren Ende
anfangend, der Schuttkegel bis zum Eingange des
untersten Felsspaltes systematisch, Schritt für Schritt
fortschreitend, bis auf eine Tiefe von ca. 2 m,
allerdings bis jetzt nur in einer Breite von etwa
1,50 m, abgegraben wurde. Bei anderen Höhlen
wurden auch die wichtigen, auf ursprünglicher
Lagerstätte ruhenden, Funde nur im charakte-
ristischen Höhlenlehm gemacht.
Es wurden eine ganze Reihe Gefäßscherben
gefunden, und die Funde weisen nach, daß die
Höhle schon vor über 3000 Jahren den ersten
Bewohnern der Gegend als Wohnstätte und bis
in spätere Zeiten als Zufluchtsort bei Kriegsgefahr
gedient hat. Als erste Spuren menschlicher Tätig-
keit sind die ca. 30 mm dicken, grobsandigen, rohen
Scherben und zur Markgewinnung zerschlagene
Knochen vom Rind oder Pferd anzusehen. Weiter
kamen Scherben aus der Bronze- und Eisenzeit,
rauhe dicke, sowie glatte Stücke mit teils ganz
roher Verzierung vor. Gleichfalls fanden sich auch
Gefäßbruchstücke, wie sie die Burg Dernbach bei
Herborn-Seelbach und der Brandschutt von 162 1
in der Stadt Herborn aufweist. Eine sogenannte
Kulturschicht, wie deren die meisten Flöhlen zeigen,
d. h. der Boden, auf dem die Bewohner lebten,
Feuer anzündeten und Reste ihrer Mahlzeiten :
Knochen, sowie Scherben, Werkzeuge usw. liegen
ließen, ist bis jetzt noch nicht gefunden worden.
Außer den Gefäßscherben fanden sich mehrere
Hundert Knochen von Raubtieren, dann vom Dachs,
dem Reh, Hasen und von Vögeln, ferner vom
Rind, Schaf usw. Auch ein kleiner Huf, vom Esel
oder kleinen Pferd herrührend, wurde gefunden.
Alle diese Knochen tragen aber einen durchaus
rezenten Charakter, vielleicht mit Ausnahme eines
einzigen ca. V-2 "'' langen Knochens, welcher nach
Behlen von Megaceros giganteus stammen könnte.
In der obersten Erdschicht fanden sich Gegen-
stände aus der neuesten Zeit, z. B. ein Knopf wie
er an den Bauerntrachten vor 40 — 50 Jahren in
dieser Gegend zu sehen war. Keiner der gefun-
denen Scherben lag da, wo ihn seinerzeit die Be-
wohner zurückgelassen haben ; alle sind wohl vor-
wiegend durch die Tätigkeit des Dachses und
Fuchses im Lehm zerstreut eingebettet worden,
da sich Scherben aus der Hallstadtzeit über den-
jenigen aus dem Mittelalter fanden. Durch diese
Grabungen ist also bis jetzt weder die eigentliche
Höhlenfauna, noch auch eine sogenannte Kultur-
schicht aufgefunden worden. Prof. Dr. Ritterling
von Wiesbaden, welcher vor einigen Tagen die
Arbeiten an der Steinkammer und die P'unde be-
sichtigte, rät zur Weiterarbeit. Es ist daher zu
hoffen, daß die Regierung nicht nur die Erlaubnis
zur Weitergrabung, die wegen Schwierigkeiten,
welche die Forstbehörde machte, vorderhand ein-
gestellt werden mußte, erteilt, sondern auch Mittel
zur Verfügung stellt, um die Ausgrabungen, deren
Kosten bis jetzt von dem kleinen Fterborner
Altertumsverein aufgebracht worden sind, in syste-
matischer Weise weiterführen zu können. Es steht
zu erwarten, daß die weiteren Grabungen, nament-
lich im Innern der Höhlen, noch interessante Funde
zutage fördern werden.
Tropfsteinbruchstücke sind in dem Schutt bis
jetzt nicht gefunden worden, was ebenfalls darauf
hinweist, daß man die der Höhle selbst ent-
stammende Lehmschicht noch nicht erreicht hat,
denn nach P>aas ist das Auftreten von Stalaktiten
ebenfalls ein weiteres, nie fehlendes Charakteristi-
kum des Höhlenlehms.
Es mag noch zum Schlüsse angeführt werden,
daß auch die Legendenbildung um diese im Waldes-
dunkel gelegenen Höhlen und die mit blaugrünen
Flechten bekleideten, schwer zugänglichen Fels-
spalten, geheimnisvolle Schleier webt. Auch Schätze
sollen hier noch vergraben sein, welche einst die
Besitzer der 1337 zerstörten Burg Dernbach in
Kriegszeiten in den Steinkammern verborgen haben
Kleinere Mitteilungen.
In seiner ersten Studie über Meeresbak-
terien behandelt H. H. Grau die Reduktion von
Nitraten und Nitriten (Bergens Museums Aarbog.
Bergen 1902).
Zur L'ntersuchung dienten Meereswasserproben,
welche in der Zeit vom August bis November 1901
zwischen Helder und Texel wöchentlich von der
Meeresoberfläche in sterilen Gefäßen entnommen
wurden.
VJm dem Umstände vorzubeugen, daß Bakterien-
arten, welche auf Platten nicht gut fortkommen,
womöglich der Beobachtung entgehen , wurden
nicht nur Platten angelegt, sondern auch sog. An-
häufungsversuche (elektive Kulturen) mit flüssigen
Nährsubstraten angestellt und durch wiederholte
Überimpfung aus solchen Kulturen in dieselbe Art
154
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. lo
von Nährlösung schließlich ein konstantes Arten-
gemisch erhalten. Die hieraus gewonnenen Rein-
kulturen lassen sich je nach ihrem Verhalten zu
Nitraten und Nitriten in folgende vier Gruppen
einteilen :
1. Nitrate und Nitrite werden schnell bis zu
freiem Stickstoff reduziert ; Ammoniak wird nicht
gebildet.
2. Nitrate werden leicht zu Nitriten reduziert
und diese letzteren \erschwinden später auch,
jedoch ohne deutliche Stickstoffentwicklung. Da-
gegen entsteht regelmäßig etwas Ammoniak, be-
sonders bei Gegenwart von Zucker.
3. Nitrate werden nicht zu Nitriten reduziert,
Nitrite können langsam, ohne deutliche Stickstoff-
entwicklung, aus den Kulturen verschwinden. So-
wohl Nitrate als Nitrite werden auch als einzige
Stickstoffciuelle assimiliert.
4. Nitrate und Nitrite werden nicht reduziert
und, als einzige Stickstoffquelle vorhanden, fast
garnicht assimiliert, während Ammoniaksalze unter
denselben Bedingungen eine gute Nahrung bieten.
Es wurden im Laufe der Untersuchung mehr
als 20 verschiedene Arten denitrifizierender Bak-
terien gefunden. Von diesen ist nur eine kleine
Anzahl von größerer Bedeutung für die Deni-
trifikation. Drei Arten, welche besonders stark
reduzieren, werden genauer beschrieben und zwar
Bacillus repens und t ri vialis, welche beide
leicht Nitrate und Nitrite unter Bildung von
Ammoniak zersetzen und der B. H e n s e n i i , wel-
cher Nitrate und Nitrite unter Bildung von freiem
Stiffstoff reduziert.
Die Frage, ob die gefundenen Denitrifikations-
bakterien echte Meeresbakterien oder nur durch
Zufall ins Meer gelangte Landbakterien sind, konnte
durch Versuche dahin entschieden werden, daß
es sich um echte Meeresbewohner handelte. Wenn
nun auch sicher schien, daß an der niederländischen
Küste gewöhnlich und regelmäßig denitrifizierende
Bakterien vorkommen, so stand doch noch der
Beweis dafür aus, daß diese in Rede stehenden
Reduktionsvorgänge auch unter den natürlichen
Lebensbedingungen, wie sie im Meere herrschen,
vor sich gehen. Von Faktoren, welche besonders
imstande sein könnten, diese Prozesse zu beein-
flussen, nennt Verfasser die Temperatur, die Sauer-
stoffspannung und die Nährstoffe. Was zunächst
die Temperatur anbetrifft, so beschränkt sich
Verfasser darauf, das für 2 Arten von Baur ange-
gebene Resultat (wissenschaftliche Meeresunter-
suchungen. Abtlg. Kiel. N. F. Bd. 6) anzuführen,
wonach das Optimum für die Denitrifikation bei
20 — 25" C lag und bei 5" C die Reduktion sehr
viel langsamer vor sich ging, ohne indessen völlig
gehemmt zu werden, und hält es dadurch schon
für bewiesen, daß die Temperaturen, welche im
Sommer und Herbst an den Küsten Nord-Europas
gemessen werden, an und für sich nicht niedrig
genug sind, um die Denitrifikation wesentlich zu
hindern. Hinsichtlich der Bedeutung der Säuer-
st offspannung kommt Verfasser in seinen Ver-
suchen zu demselben Ergebnis wie Baur, wonach
gutes Lüften das Wachstum wie die Denitrifi-
kation beschleunigt, und hält es für sehr wahr-
scheinlich, daß auch die hohe Sauerstoff-
spannung der Meeresoberfläche für die Denitrifi-
kation günstig sein wird, doch nicht für ganz sicher
und fordert eine genauere Prüfung dieser Frage. Aus
des Verfassers Versuchen über die Ernährungs-
bedingungen geht hervor, daß in der freien Natur
die Art der Nahrung keine Bedeutung für die
Denitrifikation haben dürfte, dagegen die Menge
der kohlenstoffhaltigen Nahrung von ent-
schiedenem — und zwar begünstigendem — Ein-
flute auf den Ablauf des Prozesses ist.
Dr. A. Liedke. j
Die patagonische Formation nimmt im süd-
lichsten Teil Südamerikas weite FJächenräume ein.
Soweit nicht diluviale Bildungen sie bedecken,
tritt sie im patagonischen Tiefland, von der Kor-
dillere bis an den Ozean , überall zutage. Ihre
.Ablagerungen sind vielfach sehr reich an Fossilien
— meist Mollusken — , von denen schon d'Orbigny
und Darwin einige nach Europa gebracht haben,
die aber in ihrer großen Mannigfaltigkeit erst in
neuerer Zeit beschrieben sind. An dem tertiären
Alter dieser Schichten ist niemals gezweifelt wor-
den, wenn man sie auch bald in dieses, bald in
jenes Niveau stellte; aber die Versuche, die Ab-
lagerungen zu gliedern und in Unterabteilungen
zu zerlegen, hatten wenig Erfolg. Der argentini-
sche Wirbeltierpaläontologe Ameghino hatte in
neuerer Zeit eine „leonensische" und eine „julien-
sische" Stufe unterschieden und die obersten Schich-
ten als eine besondere, „suprapatagonische", For-
mation abgetrennt. Die Berechtigung dieser Eintei-
lung wurde nun durch O r t m a n n einer sorgfältigen
Prüfung auf Grund des reichen Materials unter-
zogen , welches die Expedition der Princeton
Uni\-ersität in Patagonien gesammelt hat. Ort-
mann stellt fest (Rep. of the Princ. Univ. Exped.
to Patagonia. Palaeontology. Tertiary Inverte-
brates), daß die Leitfossilien der einzelnen Stufen
Ameghinos an vielen I'undstellen mit einander
gemischt, ja im selben Gesteinsblock vorkommen,
während A. sie auf einzelne Schichtenkomplexe
bescliränkt glaubte. — Gleichaltrige, aber räumlich
getrennte tertiäre Schichten enthalten oft sehr
verschiedene Faunen. Dies rührt daher, daß die
Tertiärbildungen , die wir auf der Erde kennen,
fast ausnahmslos in seichten, oder küstennahen
Meeren entstanden sind. Tertiäre Ablagerungen
der hohen See sind uns kaum bekannt. Man
muß bei der Vergleichung und Altersbestimmung
tertiärer Faunen immer im Auge behalten , daß
man die lokalen Einflüsse, unter denen die Orga-
nistuen gelebt haben, besonders stark mit in
Rechnung ziehen muß. So ist es auch erklärlich,
daß die patagonische Formation an weit ausein-
ander liegenden Plätzen recht verschiedene F"ossi-
lien liefert und man darf auf diesen Umstand nicht
ohne weiteres eine Gliederung der Schichten
N. F. III. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
155
basieren. Im Gegenteil zeigen Ortmann's Unter-
suchungen, daß die patagonische Formation ein
einheitliches, nicht weiter in Unterstufen zerleg-
bares Gebilde ist.
Das Alter der in Rede stehenden Schichten
läßt sich am sichersten durch den Vergleich mit
anderen Faunen bestimmen. Es ist unter-
miocän. Die Fauna zeigt nahe Beziehungen zu
derjenigen chilenischer, neuseeländischer und austra-
lischer Ablagerungen, dagegen nur geringe zu
miocänen Faunen des nördlichen Südamerikas.
Man muß daher annehmen, daß der Kontinent
zur Miocänzeit aus zwei, durch einen Meeresarm
von ziemlich beträchtlicher Breite getrennten
Hälften bestanden hat , deren Küsten von sehr
verschiedenen Tierformen bewohnt waren. Der
Umstand, daß dagegen das neuseeländische und
australische Tertiär so nahe faunistische Beziehun-
gen zur patagonischen Formation aufweist, verlangt
folgende Erklärung: Die ,, patagonischen" Fossilien
sind Küstennähe liebende Formen, die sich nicht
quer über den Ozean, sondern nur an Küsten ent-
lang \erbreiten konnten. FIs muß also irgend eine
Landbrücke zwischen Australien und Südamerika
bestanden haben. Die meisten Forsclier, die sich
mit dieser Frage beschäftigt haben, sind der Mei-
nung, daß man die Existenz einer antarktischen
Landmasse annehmen muß, die noch zu Beginn
der Tertiärzeit einerseits mit Südamerika, anderer-
seits mit Australien verbunden war und an deren
Küsten hin die Mollusken usw. von einem. Meer in
das andere wanderten. Diese Annahme dürfte am
meisten Wahrscheinlichkeit für sich haben, obgleich
andere Erklärungen theoretisch nicht ausgeschlossen
sind. Für dieselbe sprechen auch Gründe zoolo-
gischer Natur, wie dies von Meisenheimer in
Nr. 2 dieses Jahrgangs der Naturw. VVochcnschr.
ausführlich dargestellt ist. Dieser Abhandlung ist
auch eine Karte beigegeben , aus der zu ersehen
ist, wie man sich die Verbindung der Südkontinente
mit der antarktischen Landmasse vorstellen kann.
Dr. Otto Wilckens.
Zur Analyse von Schwingungen hat Grim-
sehl einen recht einfachen Apparat ersonnen.
Derselbe besteht aus einem Fernrohr, durch dessen
Bildebene man eine kleine photographische Platte
hindurchfallen lassen kann. Auf dieser Platte kann
man z. B. dadurch eine Reihe von punktförmigen Ein-
drücken erzielen, daß man einen Lichtstrahl durch
die Löcher einer gedrehten Sirene hindurch in das
Fernrohr leitet. Man erhält dann durch Abzählen
der Punkte *) mittels der durch einen Vorversuch
ermittelten Fallgeschwindigkeit der Platte die
Schwingungszahl des Sirenentones, ohne daß die
Drehung der Sirenenscheibe durch die Einschaltung
eines Zählwerks eine Störung erfährt. — Um die
Schwingungskurve einer schwingenden Saite zu
fixieren, spannte G. die Saite vertikal vor dem
leuchtenden, horizontalen Glühkörper einer Nernst-
lampe aus. Im P"ernrohr sieht man dann, wenn
auf die Saite scharf eingestellt wird, einen hellen
Streifen, der eine dunkle Unterbrechung zeigt.
Beim Schwingen der Saite schwingt dieser dunkle
Punkt hin und her und die in der Bildebene herab-
fallende, photographische Platte zeigt uns daher
nach der Entwicklung eine schöne Wellenlinie,
deren Studium nun in Ruhe ausgeführt werden
kann. Bemerkenswert ist auch hierbei der Um-
stand, daß die Fixierung der Schwingungsform auf
rein optischem Wege, also ohne jede störende
Beeinflussung der schwingenden Saite zustande
kommt. — Auch elektrische Entladungen, Licht-
schwankungen einer singenden Bogenlampe etc.
lassen sich durch den einfachen Apparat studieren.
F. Kbr.
Neue, für Ultraviolett durchsichtige Glas-
arten sind auf der Xaturforscherversammlung in
Kassel von E. Zschimmer beschrieben worden.
(Phys. Zeitschr. IV, Nr. 26b.) Über die technische
Herstellung dieser vom Jenaer Glaswerk Schott u.
Gen. fabrizierten Gläser wurde bis jetzt noch nichts
weiter bekannt gemacht, als daß die Variation der
chemischen Zusammensetzung allein nicht zum
Ziele geführt hat. Die neue Glasart läßt bei einer
Glasschicht von i cm Dicke von Strahlen der
Wellenlänge 305 /(/( (im Anfang des Ultraviolett)
noch etwa 50 Prozent hindurch. Bei 280 iiu, wo
gewöhnliche Gläser bereits völlig undurchsichtig
sind, läßt die neue .Sorte allerdings nur bei i mm
dicker Schicht noch 50 Prozent hindurch. Durch
ein Deckgläschen aus der neuen Sorte konnte das
Spektrum bis 248 //// photographiert werden,
während es bei Vorschaltung eines gewöhnlichen
Deckgläschens bei 297 ,«/< abbricht.
,,Daß die gesteigerte Durchlässigkeit der neuen
Jenaer Glasarten von Bedeutung sein wird, zeigten
einige bereits ausgeführte astrophotographische
Versuche des Herrn Dr. Villiger in Jena, welche
ergaben, daß man bei Anwendung von Objektiven
aus den neuen Glasarten in der Tat eine erheb-
lich größere Anzahl von Sternen und merklich
gesteigerte Feinheit im Detail erhält, als mit ge-
wöhnlichen Objektiven." F. Kbr.
') Natürlich rücken die Punkte infolge der beschleunigten
Fallbewegung weiter auseinander, man kann daher an ihnen
auch die Kallgcsetze bestätigen.
Metallographie. — Das Studium der Metalle
ist jahrzehntelang nur chemisch-analytisch und vom
Standpunkte der Festigkeitslehre aus betrieben
worden. Es sind dabei jedoch oftmals Erschei-
nungen aufgetreten, die weder durch die Festig-
keitsprüfung noch durch die Analyse erläutert
werden konnten, so daß man in diesem Falle vor
Rätseln stand, deren Lösung einem besonderen
Zweige der Naturwissenschaft vorbehalten war.
Dieser neue Zweig wissenschaftlicher Erforschung
der Metalle nennt sich Metallographie und be-
zweckt die Untersuchung der Metalle in normalen
und abnormen Verhältnissen bezüglich ihres inneren
Aufbaues. Um dies erreichen zu können, bedient
156
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. lo
man sich des Mikroskops und der Bestimmungs-
methoden für Sclimelz- und Erstarrungspunkte,
bzw. der Abküiilungserscheinungen der Metalle.
Das Mikroskop liefert uns bei verhältnismäßig
starker Vergröl3erung an angeätzten Schliffen einen
Einblick in den inneren Aufbau. Wir müssen zu
diesem Zwecke die Metalloberfläche beleuchten
und das reflektierte Licht durch das Mikroskop
gehen lassen. Wir können also hier nicht mit
Dünnschliffen arbeiten, wie es bei Gesteinen der
Fall ist. Die Metalle im reinen Zustande zeigen
unter dem Mikroskop einen ähnlichen inneren
Aufbau wie die einfachen Gesteine, beispielsweise
Marmor oder Quarz. Haben wir es aber mit Le-
gierungen zu tun, so treten Verhältnisse auf, wie
wir sie bei gemengten Gesteinen beobachten können.
Wir haben also hier verschiedenartig gefärbte Ge-
fügebestandteile, die sich deutlich voneinander
unterscheitlen und in jedem Falle ein charakte-
ristisches Merkmal an sich haben, so daß man
sie identifizieren kann.') Die mi-
kroskopisciie Beobachtung ist nun
allein nicht im stände das Wesen
der Metallographie auszumachen,
sondern wir müssen uns auch
physikalischer und chemischer
Arbeitsverfahren bedienen , um
treffende Schlüsse zu ziehen. Die
Metallographie gebraucht infolge-
dessen die Methoden der analy-
tischen Chemie zu ihrer Unter-
stützung , sie bedient sich der
Festigkeitsprüfung und galvani-
schen Untersuchung und sie be-
trachtet die Metalle auch vom
phj'sikalis-chchemischen Stand-
punkt aus, indem sie die Er-
scheinungen bei der Erstarrung
in Einklang zu bringen sucht mit
den wissenschaftlichen Erkennt-
nissen der chemischen Lösungs-
theorie. Schon vor längerer Zeit
wurde von Ledebur erkannt, daß die Legie-
runcren als erstarrte Lösungen aufzufassen seien,
aber erst neuere Arbeiten, welche \'on Guthrie,
Osmond, Le Chatelier, van t'Hoff, Roozeboom,
Heyn und anderen ausgeführt wurden, haben
diese Anschauungen bestätigt und erweitert. Die
Metalllösungen sind den Salzlösungen an die Seite
zu stellen und es gelten für sie die nämlichen Be-
dingungen wie für die letztgenannten. Betrachten
wir beispielsweise zuerst nach den Untersuchungen
Guthries die Kochsalzlösungen, so finden wir, daß
dieselben bei ihrer Abkühlung Änderungen ihrer
Zusammensetzung aufweisen, wie wir sie später
auch beim Abkühlen geschmolzener Legierungen
beobachten können. So ist beispielsweise eine
Lösung von Kochsalz in Wasser mit 23,5 "',j Koch-
salz bei — 22" C. gesättigt für Eis wie für Chlor-
natrium. Ist der Kochsalzgehalt der Lösuncr ore-
ringer, so wird sich beim Abkühlen von gewöhn-
licher Temperatur bis — 22" C. zuerst Eis aus-
scheiden und die Kochsalzlösung der Sättigung
für — 22" C. zustreben. Ist der Kochsalzgehalt
höher als 23,5'',,, so wird sich zuerst Kochsalz
ausscheiden und schließlich bei — 22" C. ebenfalls
die für diese Temperatur gesättigte Lösung er-
starren. Kühlt man weiter ab, so wird die ganze
Masse fest. Wir haben also folgende Systeme in
den Kochsalzlösungen zu unterscheiden : Die Lö-
sungen mit 23,5";'|, Kochsalz sind bis zu — 22" C.
flüssig; Lösungen mit höherem Kochsalzgehalt
scheiden zuerst Kochsalz, solche mit niedrigerem
Kochsalzgehalt zuerst Eis aus, wenn man bis
— 22" C. abkühlt; sämtliche Systeme unterhalb
— 22" C. sind fest. Dies veranschaulicht auch
die beigegebene Kurve. Analog verhalten sich
nun die Kupfersilberlegierungen, die folgendes Er-
starrungsbild darstellt: bei 778" C. erstarrt die
flüssigste Legierung mit 28",, Ku[)fer. Legierungen
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>) Vgl. den .Artikel von Dr. Brühl in N. F. Bd. I, S. 213f.
mit höherem Kupfer- bzw. Silbergehalt erstarren
bei höheren Temperaturen und haben 2 Erstarrungs-
punkte. Bei dem obersten beginnt metallisches
Kupfer bzw. metallisches Silber sich auszuscheiden,
die Temperatur sinkt weiter bis 778", wo dann
die ganze Masse fest wird. Bei niedrigerem Kupfer-
gehalt sättigt sich die flüssig bleibende Legierung
unter Ausscheidung von Silber so weit, bis eine
Legierung mit 28",, Kupfer entstanden ist, die
erst bei 778" C. erstarrt. Ist der Kupfergehalt
höher, so strebt bei Abkühlung die Lösung eben-
falls diesem Gleichgewichte zu, nur daß sich zuerst
Kupfer ausscheidet und schließlich ebenfalls eine
Legierung mit 28" ,, Kupfer übrig bleibt. In gleicher
Weise verhalten sich die Blei-Antimonlegierungen,
die Blei ■ Silberlegierungen und auch die Eisen-
Kohlenstofflegierungen (siehe Abbildung). Bei
Eisen-Kohlenstoft'legierungen ist insofern eine be-
sondere Eigenart zu bemerken, als dieselben auch
im erstarrten Zustande bei höheren Temperaturen
N. F. III. Nr. lo
Naturwissetischaftliche Wochenschrift.
157
diese Umwandlungen zeigen. Es steht aber der
Annahme nichts im Wege, daß auch im äußerlich
festen Zustande Lösungserscheinungen auftreten
und daß die Eisen-Kohlenstofflegierungen auch im
erstarrten Zustande verschiedene Aggregatzustände
annehmen. (Vgl. E. Heyn, Vortrag im 5. inter-
nationalen Kongreß für angewandte Chemie, Berlin
1903.) Wenn wir auch bisher gewohnt sind, nur
3 verschiedene Aggregatzustände anzunehmen und
wenn wir beispielsweise beim Schwefel die anderen
Modifikationen zwar chemisch als dasselbe aber
doch eben als besondere Modifikationen ansehen,
so ist es doch möglich diese Modifikationen als
feste Aggregatzustände aufzufassen. So hat bei-
spielsweise das Eisen mit etwa 0,2% Kohlenstoff
2 verschiedene Aggregatszustände, den einen bei
etwa 880'' C, den anderen bei etwa 700" C. Der
dritte Aggregatszustand ist dann der flüssige. Wir
können beim Eisen ebenso wie beim Schwefel
diesen Aggregatszustand festhalten. Dies geschieht
-fAlY
^,1 -t/f -f/tJtKo^tm
durch Abschrecken bei den betreffenden Temiie-
raturen. Um der Sache näher zu treten, sei er-
wähnt, daß nach den Untersuchungen von Ledebur,
Mylius, Förster, Schöne und anderen bei Lösungen
von Eisen -Kohlenstofflegierungen bis etwa 1,3",,
Kohlenstoff in kalter verdünnter Schwefelsäure
unter Luftabschluß Eisenkarbid ausgeschieden wird
und Eisen in Lösung geht. Wir haben es daher
bei Eisen - Kohlenstofflegierungen wahrscheinlich
mit Legierungen von Eisen mit Eisenkarbid zu
tun, und wir können an der Hand des gegebenen
Schaubildes daraus schließen, daß sich bei Le-
gierungen unter 0,95 "/o Kohlenstoff beim Ausgang
aus einem festen Aggregatszustand in den anderen
zuerst Eisenkrystalle und dann bei etwa 700" C.
eine feste Lösung mit 0,95 "„ sich ausscheidet. Ist
der Kohlenstoffgehalt höher, so scheidet sich zuerst
Eisenkarbid aus, bis bei etwa 700" C. ebenfalls
der gleiche Gewichtszustand erreicht ist und eine
Lösung mit 0,95",, Kohlenstoff erstarrt. Um dies
nachzuweisen hat man aber noch ein sehr »utes
Hilfsmittel, und zwar ist dies das Mikroskop, welches
uns zeigt, daß diese Schlüsse der Wirklichkeit
entsprechen. L'm die mikroskopischen LTnter-
suchungen ausführen zu können, muß man die
Metallproben eben schleifen und hochglanzpolieren.
Diese Schliffe werden alsdann durch geeignete
Ätzmittel angeätzt und unter dem Mikroskop be-
trachtet, wobei man nötigenfalls bis zu sehr hohen
Vergrößerungen schreiten muß, um eingehende
Aufschlüsse zu erhalten. Man ist so imstande
Hand in Hand mit den Schmelzpunktkurven die
theoretische Lösung hüttenmännischer Fragen dem
Auge wahrnehmbar zu machen, so daß es selbst
dem Laien möglich ist, diese LJntersuchungen als
vollständig stichhaltig anzuerkennen.
Bei einem Bilde, welches eine Blei-Antimon-
leglerung darstellt, die mehr als is"/,, Antimon
enthält, sehen wir ausgeschiedenes Antimon und
eine Mischung von Blei und Antimon in innigster
Vereinigung. Diese innige Mischung stellt die
leichtflüssigste Legierung dar, welche aus
i3"/u Antimon und 87"/,, Blei besteht.
Haben wir höhere Gehalte an Blei , so
scheidet sich das Blei in Form großer
Kristalle zuerst aus und wir finden hier
ebenfalls das erwähnte innige Gemenge
von Blei und Antimon als Zwischenmittel
zwischen den Bleikristalliten. Auch andere
Legierungen geben natürlich entsprechende
Bilder.
Nachdem wir nun das Wesen der
Metallographie und seiner Hilfsmittel
kennen gelernt haben , wollen wir auch
auf den Wert dieser Wissenschaft für die
Praxis eingehen. An der Hand der Schmelz-
punktkurven ist es möglich, sich für be-
stimmte Zwecke Legierungen auszusuchen,
welche gewissen Anforderungen , welche
„y die Praxis an sie stellt, gerecht zu wer-
^ jf' den vermögen. An der anderen Seite kann
man aber auch nachweisen, ob ein Material,
beispielsweise Kesselblech , durch Hämmern oder
Walzen in kaltem Zustande ganz oder stellenweise
in seinen Festigkeitseigenschaften beeinfluIH worden
ist, oder ob im Gegenteil eine lokale Uberhitzung
oder Dauererhitzung stattgefunden hat. In jedem
dieser F'älle wird man zwar durch Festigkeits-
prüfungen und zwar besonders durch Biegeproben
einige Aufschlüsse erhalten, die Frage warum
jedoch wird uns erst die metallographische Prüfung
beantworten. Bei Kupfer beispielsweise wird es
möglich sein nachzuweisen, ob man Elektrolx't-
kupfer oder hüttenmännisch dargestelltes Kupfer,
bzw. umgeschmolzenes Elektrolytkupfer vor sich
hat. Einen ferneren \'orteil bietet die Metallo-
graphie, indem sie sich mit der t'inwirkung von
Gasen auf die Metalle beschäftigt. Es ist ihr da-
durch gelungen nachzuweisen, daß Wasserstoff auf
Eisen und Kupfer einen dauernd schädlichen Ein-
fluß auszuüben imstande ist. Es ließe sich noch
eine große Reihe von praktischen Beispielen nach-
weisen, aber schon diese wenigen werden genügen,
158
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. lo
den Wert dieser neuen Wissenschaft darzutun.
Die Metallographie hat, trotzdem sie durch die
Untersuchungen von A. Martens in den 70 er Jahren
des vorigen Jahrhunderts als eine deutsche Wissen-
schaft bezeichnet werden darf, ihre hauptsächlichste
Ausbildung im Auslande gefunden. Eine große
Anzahl deutscher Hochschulen steht ihr noch
fremd gegenüber und es wird erst der Zukunft
vorbehalten sein, für die Metallographie an deutschen
Hochschulen den Boden zu gewinnen, der ihr ge-
bührt. Die Metallographie wird aber nur dann
zu einer vollständig ausgebildeten Wissenschaft
werden können, wenn die ihr von den Ministerien
zugeteilten Bearbeiter nicht allein die Mittel zu
ihrer Ausarbeitung an die Hand bekommen, sondern
auch darin ihre Lebensaufgabe erblicken können.
Mögen diese Zeilen dazu beitragen, der Metallo-
graphie einen größeren Interessentenkreis zuzu-
führen und ihr an geeigneter Stelle Gehör zu ver-
schaffen.
Ernst A. Schott.
Bücherbesprechungen.
Dr. Martin KHz, Beiträge zur Kenntnis der
Quartärzeit in Mähren. Mit 180 Illustra-
tionen und 2 Tafeln. Steinitz (Mähren) 1903. Selbst-
verlag des Verfassers. 560 Seiten. 8".
Wenn man die Würze eines Buches neuerdings
mit Recht in einer wohltuenden Kürze sucht, so mul3
das vorliegende Werk zu den schwach gewürzten ge-
zählt werden. Die umständliche Beschreibung mancher
Nebensachen, die trotz der vielen Kapitelüberschriften
wenig übersichtliche Darstellung und die oft zusammen-
hangswidrige P^infügung der Abbildungen erschweren
das Lesen der umfangreichen Arbeit. Aber das Buch
enthält eine solche Fülle von Tatsachen über die vom
Verfasser seit mehreren Jahrzehnten mit ungemeiner
Sorgfalt unternommenen Nachgrabungen im Lößhügel
von Predmost bei Prerau und in den Höhlen der
mährischen Devonkalke in den linken Seitentälern der
Zwittawa nordöstlich von Brunn, daß wir diese deutsche
Zusammenfassung seiner bisher vielfach in tschechischer
Sprache erschienenen Einzelarbeiten nur außerordent-
lich dankbar begrüßen können. Der Umfang des
Buches verbietet ein genaueres Eingehen auf den
Inhalt. Als Nachschlagebuch betreffs der Fund-
umstände ist das Werk zweifellos durchaus zuverlässig.
Zweifelhafter erscheint die Sicherheit der gezogenen
Schlüsse. Der Verfasser meint, der diluviale Mensch
der älteren Steinzeit sei gleich den nordischen Tier-
forinen (Eisfuchs, Schneehase, Rentier u. a.), die mit
seinen Resten zusammen gefunden werden, von dem
vorrückenden Inlandeise gedrängt, aus Sibirien (?) in
Mähren eingewandert und nach der Eiszeit wieder
jener Tierwelt nach Norden gefolgt, wo Reste in
den Lappen noch fortleben sollen. Inzwischen
hätte sich in Mähren eine Steppenfauna ver-
breitet und darauf wanderte während des Allu-
viums der Mensch der jüngeren Steinzeit , der
Arier, ein, der aus dem Osten des Aralsees seine
Haustiere mitbrachte, Ackerbau trieb und die Kunst
des Töpfers wie des Webers kannte. — Für diese
noch so durchaus strittigen Fragen scheint dem Ref
in dem vorliegenden Werk die Urgeschichte des
westlichen Europa doch zu wenig in Betracht ge-
zogen. Vor allem dürfte die Neandertalrasse, die der
Verfasser abgetan glaubt, lebenskräftiger als je sein
und wesentlich zur Verschiebung und Verwicklung der
Frage beitragen. F. S.
Gelcich, Die astronomische Bestimmung
der geographischen Koordinaten. 126
Seiten. Mit 46 Abb. VlI. Teil der „Erdkunde"
von W. Klar. Leipzig u. Wien, F. Deuticke. 1904.
— Preis für Abnehmer d. ganzen Werkes 4 Mk.,
Einzelpreis 5 Mk.
Bei der Auswahl des behandelten Stoffes hat Ver-
fasser sich davon leiten lassen, daß er dem angehen-
den Geographen eine ausreichende Einführung in das
für ihn wichtige Gebiet geben wollte. Dementsprechend
sind mathematische Kenntnisse in möglichst geringem
Umfange vorausgesetzt und benutzt worden. Vor
allem hat es unseren Beifall, daß der sphärische
Kosinussatz vorzugsweise benutzt wird, während auf
die eleganteren, aber schwieriger im Gedächtnis haf-
tenden Formeln der sphärischen Trigonometrie ver-
zichtet wurde. Daß auch die Zeitbestimmung be-
handelt ist, scheint völlig gerechtfertigt, ebenso wie
die Aufnahme der Breitenbestimmung nach Horrebow-
Talcott. In Fortfall könnte u. E. in Zukunft die
Längenbestimmung durch Monddistanzen kommen, da
die Schwierigkeit der Beobachtung, sowie die um-
ständliche Reduktion gewiß nur sehr selten eine An-
wendung diesei; Methode empfehlen wird. Fällt doch
sogar von 1905 ab die Angabe der Monddistanzen
in der ,,Connaissance des temps" gänzlich fort, da
nach Ansicht des „Bureau des longitudes" die für
deren Berechnung aufzuwendende .Vrbeit in keinem
Verhältnis steht zur Seltenheit ihrer Benutzung. Dafür
würden wir ein noch etwas breiteres Eingehen auf
die Methode der Standlinien freudig begrüßen. —
Sehr nützlich werden sich dem Anfänger die überall
in aller Ausführlichkeit angefügten Zahlenbeispiele
erweisen. F. Kbr.
Prof Dr. Kollert, Katechismus der Physik.
6. Aufl. 593 Seiten mit 364 Abb. Leipzig, J. J.
Weber. 1903. — Preis geb. 7 Mk.
Der Name „Katechismus" könnte sowohl in bezug
auf Inhalt als auch Form des Buches falsche Vor-
stellungen erwecken. Dasselbe stellt ein handliches,
aber recht inhaltreiches Kompendium der Physik dar,
das an zahlreichen Stellen von mathematischen Ent-
wicklungen durchsetzt ist, die hier und da sogar die
Elemente Differential- und Integralrechnung voraus-
setzen. Das Büchlein kann demnach ziemlich weit-
gehenden Bedürfnissen genügen. — Bei der Elek-
trisiermaschine wird eine sehr seltene Form der In-
fluenzmaschine beschrieben , während die heute fast
allein in den Handel kommende Konstruktion nach
Wimshurst gar nicht erwähnt wird. Im übrigen aber
beobachtet man überall das Streben des Verfassers,
dem neuesten Standpunkt der Wissenschaft und Technik
gerecht zu werden. F. Kbr.
N. F. III. Nr. lO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
159
i) Wilhelm Wislicenus, Die Lehre von den
Grundstoffen. Antrittsrede, gehalten bei Über-
nahme der ordentlichen Professur der Chemie an
der Hochschule zu Tübingen am 30. April 1903
im Festsaale des Universitätsgebäudes. Tübingen.
Verlag von Franz Pietzker. 1903. — Preis — .80 Mk.
2) Sir William Ramsay, K. C. B., Einige Be-
trachtungen über das periodische System
der Elemente. Vortrag gehalten auf der 75. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Arzte zu
Kassel. Leipzig. Verlag von Johann Ambrosius Barth.
1903. — Preis I Mk.
i) Das von Mendelejeff und Lothar Meyer ausge-
baute periodische System der Elemente, das in den
beiden Schriften den Gegenstand der Behandlung
bildet, gehört unstreitig zu einem der merkwürdigsten
Gesetze der Chemie. An derselben Stätte, an der
vor nahezu dreißig Jahren Lothar Meyer den Lehr-
stuhl für Chemie einnahm, hat nun Wilhelm
Wislicenus seine Antrittsrede gehalten , welcher er
im Andenken an jenen großen Forscher einen
Überblick über die Lehre von den Elementen zu
gründe legte. Er bespricht in knapper Darstellung
die Wandlungen, die diese Lehre seit Aristoteles bis
auf unsere Tage erfuhr, schildert die auffallenden Ge-
setzmäßigkeiten, welche die Elemente hinsichtlich ihrer
Atomgerichte , ihrer chemischen und physikalischen
Beschaflenheit aufweisen, und die schließlich zur Auf-
stellung des periodischen Systems geführt haben. Er
zeigt, wie dieses Gesetz auch dazu gedient hat, neue
Elemente zu entdecken und deren Eigenschaften
theoretisch voraus zu bestimmen, und berührt am
Schlüsse seines Vortrags auch die neueren For-
schungen auf dem Gebiete der strahlenden Materie,
deren Wirkung zuerst am Uranpecherz wahrgenommen
wurde, und die zur Entdeckung des Radiums führte.
Der Stoft" ist gemeinverständlich und interessant be-
handelt und die Schrift bei ihrer klaren Darstellungs-
weise jedem, der mit Interesse den Gang der wissen-
schaftlichen Forschung verfolgt, aufs Angelegentlichste
zu empfehlen.
2) Ramsay gibt in seiner Abhandlung einen rein
wissenschaftlich gehaltenen llberblick über die gegen-
wärtige Bedeutung des periodischen Systems in der
neueren Chemie. Wir kommen in einer näheren Mit-
teilung noch auf den genannten Vortrag zurück.
Lb.
Posner, Priv.-Doz. Dr. Tlidr. : Lehrbuch der synthetischen
Methoden der organischen Chemie. Für Studium und
Pra.xis. (XXXII, 436 S.) gr. 8". Leipzig '03, Veit & Co.
— Geb. in Leinw. 10 Mk.
Literatur.
Kollert, Gewerbeakad.-Lehr. Prof. Dr. Jul. : Katechismus der
l'liysik. 6., verb. u. verm. .'Xufl. Mit 364 in den Text gedr.
Abbildgn. (XVI, 593 S.) Leipzig '03, J. J. Weber. —
7 Mk.
Krämer, Marine-Oberstabsarzt Dr. Augustin: Die Samoa-
Inseln. t ntwurf e. Monographie m. besond. Berüclisicht.
Deutsch-Samoas. II. Bd. Ethnographie. Mit 2 Taf. , 148
Textbildern u. 44 Te.\tfig. 4. u. 5. (Schluß-)Lfg. (X u.
S. 297 — 445 m. 117 Abbildgn.) gr. 4". Stuttgart '03, f..
Schwei/crbart. — 4 Mk.
Salmon, Gco. : Analytische Geometrie der Kegelschnitte mit
besond. Berücksicht. der neueren Methoden. Frei bearb. v.
Prof. Dr. Wilh. Fiedler. 6. .\utl. 2. Tl. (XXIV u. S. 443
bis 854 m. Fig.) gr. 8". Leipzig '03 , B. G. Teubner. —
8 Mk. ; geb. in Leinw. 9 Mk.
Briefkasten.
Herrn Oberlehrer Dr. L. in Krankfurt a. M. — I. Wo
finde ich Literaturangaben über das Treiben von Knollen-
gewächsen speziell von Arum cornutum }
2. Sind nähere Untersuchungen über das Wachstum von
Arum cornutum gemacht worden und wo finden sich die be-
treffenden Arbeiten?
3. Woher kommt Arum cornutum?
4. Entsprechen die im Handel vorkommenden sogen.
Knollen und Doppelknollen ein und derselben Spezies oder
sind es verschiedene?
.Antwort auf Frage i: ,,ln den meisten Garten-
büchern, u. a. in F. C. Heinemann, Erfurt, Gartenbibliothek
Xr. 8, Kultur der Zwiebelgewächse; Betten, Praktische
Blumenzucht im Zimmer, 3. AuH.; Ilesdörfl'er, Handbuch der
praktischen Zimmergärtnerei."
Antwort auf Frage 2; ,, Veröffentlichungen über das
Wachstum von Arum cornutum , richtiger Sauromatum veno-
sum Schott, sind u. a. zu finden gelegentlich der Beschreibung
des Wachstums von Amorphophallus Rivieri , einer anderen
Aracee, in einem ausführlichen Bericht des Kgl. Garteninspektors
Lindemuth im Heft 5 der Gartenllora, Jahrg. 1903. S. 127.
Abbildung und Beschreibung von Sauromatum venosum in
Gartenllora 1899, S. 66." Siehe auch Naturw. Wochenschr.
N. F. Bd. 11, S. 126.
Antwort auf Frage 3: ,,i )stindien."
Antwort auf Frage 4; ,,Die Doppelknollen, die Sie
im Auge haben, kenne ich nicht. Es sind wahrscheinlich nur
die älteren Knollen mit der daraufsitzenden neuen Knolle."
L. Wittmack.
Herrn Dr. F. R. in Köln a. Rh. — Sie wünschen die
Angabe einiger Werke mittleren Umfanges, welche
in anregender, jedoch wissenschaftlicher Form
geschrieben einzelne Arten oder Familien der
Evcrtebraten (z. B. Ameisen, Spinnen, Wasserkäfer, Lauf-
käfer, Kellerasseln, Krebse, Seesterne, Schwämme, Infusorien
etc.) in bczug auf Bau, Lebensweise etc. (nicht syste-
matisch) ausführlich behandeln.
Werke, die diesen Anforderungen entsprechen, gibt es
leider recht wenige und doch dürften sie dem Lehrer bei
seiner Vorbereitung sehr nützlich sein. Gewöhnlich ist in wissen-
schaftlichen Werken der Lebensweise der Tiere zu wenig Rechnung
getragen oder es kommt umgekehrt die Anatomie zu kurz. Viel-
fach treten uns Darstellungen der gewünschten Art als Einleitung
in systematischen Werken entgegen , namentlich allerdings in
älteren systematischen Werken, da sich die modernen Systema-
liker meist wenig um die .Anatomie kümmern. Derartige Ein-
leitungen leiden aber gewöhnlich an dem Fehler, dati sie zu
kurz und knapp geschrieben sind und auüerdem meist auch
der .Abbildungen entbehren. — Von Werken, welche den An-
forderungen am vollkommensten entsprechen , nenne ich an
erster Stelle K. Mob ins, Die Auster und die .Austernwirt-
schaft, Berlin, 1877 (3 Mk.), ein Werk, welches den so frucht-
baren Gedanken der Biocönose oder Lebensgemeinschaft zum
ersten Male zum Ausdruck bringt. Dann schließen sich außer
T. H. Huxley, Der Krebs, deutsche Übersetzung, Leipzig
1881 (5 Mk.) verschiedene Werke über die Honigbiene an,
z. B. Franz Huber 's Neue Beobachtungen an den Bienen,
übersetzt von G. Kleine, F.inheck 1859 (8,50 Mk) ; A. v.
Berlepsch, Die Biene und ihre Zucht mit beweglichen
Waben, 3. Aufl., Mannheim 1873 (lo Mk.) ; Tony Kellen,
Bilder und Skizzen aus dem Leben der Bienen imd den Wun-
dern ihres Staates, Nördlingen 1890 (4 Mk.) etc. — Ferner
ist zu nennen J. Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen
(deutsche Übersetzung), Leipzig 1883 (7 Mk.). — Alle Insekten
werden behandelt in einem älteren englischen Werk, das auch
in deutscher Übersetzung erschienen ist, es ist W. Kirby
und W. Spence, Einleitung in die Entomologie, übersetzt
von Üken, 4 Bde., Stuttgart 1823 — 1833 (10 Mk); ferner in
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 10
V. Graber, Die Insekten, 2 Bde., München 1877— 1879
(8 Mk.) und in J. H. Kolbe, Eintührung in die Kenntnis
der Insekten, I. Bd., Berlin 1889 — 1893 (14 Mk.). Von letz-
tcrem Werke ist allerdings bis jetzt nur der erste, anatomische
Teil erschienen. — Von Spinnen gibt es nur zwei amerikani-
sche Werke: J. H. Emerton, The slructure and habits of , ■ ,
sniders Salem 1 878 (7,so Mk.) und H. C. M c C o o k , American punkt der Erde gerichtete Kraft entsteht, deren Intensität so
.ilH.r.'nnd their sninninpwork, ■; vol., Philadelphia 1889- groß ist, als sie sein müßte, wenn die Gesamtmasse der Erde
im Mittelpunkt vereinigt wäre. Für einen inneren Punkt kommt
versuche, doch befriedigt keiner. Übrigens haben wir bei
Gelegenheit von Bücherbesprechungen mehrfach auf Erklärungs-
versuche der Gravitation hingewiesen.
Die Anziehung geht von jedem Massenteilchen aus, doch
setzen sich für einen außerhalb der Erde liegenden Punkt die
Kräfte so zusammen, daß eine resultierende, nach dem Mittel-
1893 (250 Mk.). — Über Protozoen, Schwämme, Echinodermen,
Asseln etc. scheinen ähnliche, selbständige Werke noch nicht
vorzuliegen. Es muß deshalb auf Bronn 's Klassen und Ord-
nungen des Tierreichs verwiesen werden, obgleich dieses Werk
sich ganz andere Ziele setzt. Es würden für Sie in Betracht
kommen: O. Bütschli, Die Protozoen, 3 Bde., Leipzig
1880—1889 (85 Mk.), G. C. J. Vosmaer, Klassen und Ord-
nungen der Spongien, Leipzig und Heidelberg 1882—1887
(24 Mk.); H. Ludwig und O. Hamann, Die Echino-
dermen, i. Teil, Seewalzen, Leipzig 1892 (24 Mk.), 2. Teil,
Seesterne, Leipzig 1894 (l8Mk.), 3. Teil bisher etwa 30 Liefe-
rungen ä 1,50 Mk. ; endlich A. Gerstäcker, Die Klassen
und Ordnungen der Gliedertiere, 2 Bde., die Krebse zu Ende
geführt von Ortmann, Leipzig 1866-1901 (136,50 Mk.). —
Die Preise z. T. für antiquarische E.\emplare sind nach den
Katalogen von R. Friedländer & Sohn beigefügt.
Prof. Dr. Friedr. Dahl.
die Wirkung derjenigen Kugelschale in Abzug, auf deren
Innenfläche der betrachtete Punkt liegt. Daher nimmt die
Schwere im Erdinnern, wie auch durch Versuche bestätigt ist,
mit zunehmender Tiefe ab und im Erdmittelpunkt würden sich
die von den einzelnen Massenteilchen ausgeübten Kräfte gegen-
seitig aufheben, so daß dort die Schwere gleich Null sein müßte.
C) Die Frage nach der Zeit, zu welcher sich die Natur-
wissenschaft in Sonderdisziplinen aufgelöst hat , für die an
Universitäten besondere Lehrstühle entstanden, läßt sich allge-
mein nicht beantworten, da sich diese Entwicklung allmählich
vollzog und die verschiedenen Universitäten natürlich ungleich
schnell der Notwendigkeit der Trennung nachgaben. Vor
hundert Jahren waren die Hauptzweige gewiß überall schon
gesondert, aber die Spezialisierung schreitet noch gegenwärtig
vorwärts, so daß z. B. für Paläontologie , Elektrochemie , an-
gewandte Mathematik, Astrophysik etc. gegenwärtig an man-
chen Orten besondere Lehrstühle bestehen, an anderen nicht.
HerrnG. B. inStyrum. — A) Reinigung des Queck-
silbers. 1. Reinigung von Staub. Man sprenge von
Herrn A. G. C. — Das Buch von F. v. Schwarz, „Sint-
einVr Flasche mTtUngemVengem Hals (Seltersflasche)' den"Boden flut und Völtowandcrangen^', fmden Sie in der Naturwiss.
ab, lege über die Halsöffnung ein Stück Fensterleder und be "'- ■' >--
festige es durch einen darüber gezwängten Gummiring (nötigen-
falls Bindfaden oder Eisendraht). Gießt man das Quecksilber
von der Bodenöffnung her ein, so läuft es bis auf einen Rest
durch das Leder. Bei Max Stuhl, Berlin, Friedrichstr. 131
bekommt man einen ähnlichen Apparat für ca. 3 Mk. , der
mit Hilfe einer Wasserluftpumpe alles ohne Rest durchsaugt;
bei Kahler & Martini, Berlin, Wilhelmstr. 50, einen Queck-
silberreiniger für ca. 6 Mk., bei dem das Metall durch feine
Rinnen an einem eingeschliffenen Glasstab läuft.
2. Reiniaung von beigemengten Metallen, wie
Messing etc. Man gieße das Quecksilber in eine Flasche,
darüber verdünnte Salpetersäure und lasse es eine Zeitlang
stehen. Oder man lasse es aus dem oben beschriebenen
.Apparat durch die verdünnte Säure tropfen und dann noch
eine kurze Zeitlang stehen. Darauf gieße man die Säure ab,
schüttle so lange mit Wasser, das immer wieder zu erneuern
ist, bis das Wasser nicht mehr von Quecksilbernitrat milchig
getrübt ist. Um zu waschen, kann man das Quecksilber auch
durch den unter I. erwähnten Apparat in Wasser gießen, das
sich in einem hohen, schmalen Cylinder belindet, so daß das
Quecksilber durch viel Wasser lallt.
3. Reinigung von Wasser. Man gießt das Queck-
silber einige Male durch den Apparat, nötigenfalls unter Er-
neuerung des Leders, oder gießt es in eine saubere Porzellan-
schale und dampft das Wasser ab.
4. Da reines Quecksilber schwerer ist als solches, das
fremde Metalle enthält, kann man durch öfteres Reinigen nach
1. mit Hilfe mehrerer Apparate einen verunreinigten Rest von
dem reinen Quecksilber abscheiden, und die höchst lästige
und zeitraubende Reinigung nach 2. bei dem Rest ab und zu
vornehmen. — Wer sich gewöhnt, gebrauchtes Quecksilber
jedesmal durch Leder zu gießen, und es nie ungereinigt
zu dem reinen zurückzugießen, braucht die Reinigung 2. sehr
selten auszuführen. Natürlich dürfen dann auch die Flaschen
für reines Quecksilber nie ungereinigtes aufnehmen.
Dr. A. Schmidt.
B) Das rein hypothetische Gebiet der Drucktheorie
der Gravitation möchten wir in dieser Zeitschrift lieber
nicht anschneiden. Es gibt sehr viele derartige Erklärungs-
Wochenschr. Bd. X (1895) Nr. 30 p. 366 besprochen; diese
Besprechung gibt Auskunft über die in dem Buch ausge-
sprochene Sintfluthypothese. Danach ist v. Schwarz der An-
sicht, daß im zentralen Asien an der Stelle der großen Mon-
golischen Wüste sich früher ein Meer von der Größe des
Mittelländischen befunden habe, dessen Spiegel durch eigen-
artig komplizierte Faltenbildung bis zu 6000 Fuß Seehöhe
emporgehoben war. Durch Erdbeben wurde dann mit einem
Male eine Lücke in die umgebenden Gebirgspartien gerissen,
und die ungeheure Wassermasse ergoß sich nun als ein Strom
von 20 bis 30 km Breite und etwa 1500 m Tiefe mit der
60-fachen Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Flusses in die
.^ralo-Kaspische Niederung und von dort aus ins Schwarze
und ins Mittelmeer. Die infolgedessen eintretenden klimati-
schen Veränderungen verursachten in der Folge große Völker-
wanderungen, welche jene Verteilung der Völker herbeiführte,
wie sie uns zunächst etwa zwischen 2000 und 1500 v. Chr.
entgegentritt.
Den Ausbau dieser Theorie und die Beweisführung kann
man nicht anders als äußerst geschickt bezeichnen ; daß dem
Verfasser hier und da auf den ihm fremden Wissensgebieten
wesentlichere Schnitzer mitunterliefen, darf, zumal bei dieser
Fülle von Material, nicht verwundern.
Trotzdem aber die Beweise zuweilen geradezu bestechend
erscheinen und die frühere Existenz des großen Mongolischen
Meeres auch aus anderen Gründen recht wahrscheinlich ist,
so lassen sich doch gegen die v. Schwarz'sche Theorie
schwerwiegende Bedenken erheben, wenngleich man zugeben
muß, daß sie nicht so sehr in der Luft schwebt, wie alle
übrigen Erklärungen über das Wesen der Sintflut ohne Aus-
nahme.
Ausführlicheres am angeführten Ort.
E:in Leser bittet um Aufnahme folgender Frage:
,,Gibt es eine billige und praktische Beleuchtung von
Karten und Wandtafeln (mit Lampe und Spiegel, doch ohne
Gas und Elektrizität) für Vortragszwecke und wo sind die
dazu nötigen Apparate erhältlich?" Wir bitten Leser, die
darüber Erfahrungen haben, freundlichst der Redaktion Mit-
teilung zukommen zu lassen.
liThalt: Dr med. W. v. Gößnitz: Die Kiemenbogentheorie der Wirbeltiere. (Schluß.) - Edgar O d er nh e i mer : Die
Steinkammern bei Erdbach an der neuen Westerwald-Querbahn. - Kleinere Mitteilungen: H. H. Grau: Studie
über Meeresbakterien. - Ortmann: Die patagonische Formation. - Grimsehl: -^"^ A«^ Y^'^ TnW "'"^"bücW
ler: Neue, für UhravioleU durchsichtige Glasarten. — Ernst A. bchott: Metallographie. — Bucher-
E. Z s c h i m m
besprechungen : Dr. Martin Kfiz: Beiträge zur Kenntnis der Quartärzeit in Mahren. — Gele
sehe Bestimmung der geographischen Koordinaten. - Prof. Dr. Kollert: Katechismus der Physi
Wislicenus: Die Lehre von den Grundstoffem 2) Sir William Ramsay, K. C. b. : Lmige
Gel eich: Die astronomi-
sik. — 1) Wilhelm
Betrachtungen über
das periodische System der Elemente. — Literatur: Liste.
Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. PStz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 13. Dezember 1903.
Nr. 11.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Anpassung der Tiefseefauna an die Eigenheiten des Tiefseewassers.
Ein Referat nach Chun (Aus den Tiefen des Weltmeeres, 2. Aufl. 1902) und Seeliger (Tierleben der Tiefsee 1901).
[Nachdruck verboten.] Von Paul Apitzsch, Oelsnitz i. V.
Die allgemeine Regel ist, daß jede Lebensform
ein bestimmt abgegrenztes Gebiet bewohnt und
daß sie, wenn sie dieses Gebiet verläßt, sich der
Gefahr aussetzt, ihrem Organismus zu schaden
oder ganz zugrunde zu gehen. Die Tiergeographie
weist nach , daß nicht Willkür und Laune der
Geschöpfe bei der Wahl ihres Aufenthaltsortes
maßgebend sind, sondern bestimmte Gesetzmäßig-
keiten.
Während man nun bei der Landfauna diese
Gesetzmäßigkeiten schon vor Jahrzehnten kannte
und in wissenschaftlicher Weise bearbeitete, wäh-
rend man die gesamte Landmasse der Erde sowohl
in horizontaler wie auch in vertikaler Richtung
in Faunengebiete einteilte, hielt man die Tierwelt
des Meeres für eine große kosmopolitische Ge-
sellschaft, die sich nach Belieben nach allen drei
Dimensionen hin verbreiten könne. Diese naive
Ansicht hat die Wissenschaft längst widerlegt, und
wenn auch die Verbreitungsbezirke der Meeres-
fauna nicht so scharf abgegrenzt sind wie die der
Landfauna, weil im Meerwasser so schroffe Kon-
traste nicht gut möglich sind, so existiert doch
tatsächlich eine gewisse Tiergeographie auch für
die Bewohner der Meere, und zwar ebenfalls in hori-
zontaler und vertikaler Richtung. Bezüglich der
ersteren besteht allerdings nur ein einziger nennens-
werter Unterschied: die Temperaturverhältnisse;
denn die Temperatur des Oberflächenwassers
schwankt zwischen -(- 32 " C. in den Tropen und
— 3 " C. im Polarmeere. Daß ein derartig großer
Unterschied die Tierwelt beeinflussen muß, ist
ohne weiteres ersichtlich. Mehr als ein unter-
scheidendes Merkmal kommt aber dann in Betracht,
wenn man die vertikalen Schichten des Meer-
wassers auf ihre Eigenschaften hin untersucht und
miteinander vergleicht. Wenn man auch nicht
mehr, wie seinerzeit der englische Zoologe Eduard
Forbes (1843), acht solcher Schichten unter-
scheidet und jede derselben mit einer ihr allein
eigentümlichen Tierwelt bevölkert, so sind doch
unbedingt zwei Schichten streng voneinander zu
halten: das Oberflächenwasser und das Tiefen-
wasser. Zweck dieser Abhandlung soll nun sein,
die Eigenheiten des Tiefseewassers, im
Gegensatz zum Oberflächen wasser,
Fig. I. Aphrocallistcs, zu den HcxaMncllidcn (Glassclnvämnicn) gehörend. Natürl Größe. 677 m.
Süd-Nias-Kanal.
N. F. III. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
163
festzustellen und nachzuweisen, wie
sich die Fauna derTiefsee diesen eigen-
artigen Verhältnissen anpaßt.
Zwischen Oberflächen- und Tiefenwasser be-
stehen fünf einschneidende Unterschiede, von
denen jeder allein schon zu der Annahme führen
könnte und vor gar nicht allzulanger Zeit auch
zu der Annahme geführt hat, daß die Tiefen der
Meere unbewohnt seien. Es sind dies: I. Der un-
geheure Wasserdruck, II. die niedrige Temperatur,
III. die chemische Beschaffenheit, IV. die Vege-
tationslosigkeit, V. das Fehlen des Sonnenlichtes.
I. Der Wasserdruck ist in der Tiefe so be-
deutend , daß man zunächst annehmen müßte,
er würde jedes lebende Wesen unbedingt ver-
nichten. Lastet doch auf einer Bodenfläche von
I qm in einer Tiefe von 6000 m das ungeheure
Gewicht von 6 Millionen kg, das wäre ungefähr
gleich dem Gewicht von 15 Güterzügen mit je
30 Wagen. Die Folge dieses gewaltigen Wasser-
Kig 2.
l'li crone ni;i raiiliLuius F. E. Schulze, zu den Ilexaktiuelliden (Glasschwämmen) gehörend.
Etwas verkleinert. 80^ m. Nikobaren.
164
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. II
druckes ist, daß Gegenstände aus nachgiebigem
Material, z. B. die Korkscheiben an den Schlepp-
netzen der Tiefseeexpeditionen, auf mehr als die
Hälfte ihres Volumens zusammengepreßt werden
oder daß heruntergelassene Glasthermometer ein-
fach zerdrückt werden. Nun müßte man weiter
daraus folgern, daß dann die unendlich feineren
Gewebe der zarten Tiefseeorganismen erst recht
zerpreßt werden müßten. Dies ist keineswegs der
Fall ; denn es handelt sich nicht um einen ein-
seitig wirkenden Druck, sondern die Tiere leben
nicht nur allseitig umgeben, sondern auch er-
füllt von demselben verdichteten Wasser, sodaß
Druck und Gegendruck sich gegenseitig aufheben;
und die Tiefseetiere werden ebensowenig erdrückt
als wir Menschen von dem doch auch nicht
unbeträchtlichen Luftdruck. Wenn nun alle
Meerestiere so eingerichtet wären , daß sie ohne
weiteres die Innenräume ihres Körpers mit dem
sie umgebenden Medium füllen könnten, dann
würde ihnen die Möglichkeit gegeben, unbehelligt
vom größeren oder geringeren Wasserdruck, in
jeder beliebigen Tiefe zu leben. Bei einer Anzahl
von Fischen ist dies auch der Fall : die Schwimm-
blase derselben steht mit dem Darm durch einen
Luftgang (Physostomen) in Verbindung, sodaß
beim Auf- oder Abwärtssteigen die Spannung
der Blase reguliert werden kann. Daraus erklärt
sich auch die Tatsache, daß solche Fische ebenso-
gut an der Oberfläche als auch in Tiefen bis zu
2000 m gefunden worden sind. Befinden sich
aber im Innern des Körpers allseitig abgeschlos-
sene, mit Luft gefüllte Räume, deren gasiger Inhalt
auf ein geringes Volumen zusammengepreßt ist,
so wird beim Aufwärtssteigen des Tieres infolge
der Abnahme des äußeren und der Zunahme des
inneren Druckes letzterer so stark w^erden , daß
die umgebenden Gewebe zerrissen werden. Zart-
gebaute Tiefseeorganismen kommen infolgedessen
häufig zerfetzt an die Oberfläche, und Brisinga
elegans z. B. dürfte wohl überhaupt noch kein
menschliches Auge lebend gesehen haben. „Aber
auch da, wo keine luftführenden Räume sich finden,
kommen umfangreiche Zerreißungen vor, wenn
die Gewebe den raschen Druckverschiedenheiten
nicht schnell genug zu folgen vermögen. So er-
beutet man Tiefseefische häufig mit hervorgetretenen
Augen, mit ausgestülptem Schlund und Enddarm."
(Seeliger.)
II. Die niedrige Temperatur. Die Tem-
peraturverhältnisse des Meeres überhaupt sind
äußerst komplizierter Art. Denn der gewöhnlich
angenommene Satz: „je tiefer, desto kälter" hat
keineswegs allgemeine Bedeutung, z. B. nicht
für die arktischen und antarktischen Meere. So
verschieden aber die Temperaturverhältnisse der
oberen und mittleren Wasserschichten sein mögen,
in der Tiefe herrscht eisige Kälte, und die Tem-
peratur hält sich meist in der Nähe des Gefrier-
punktes. Eine Ausnahme hiervon machen, wenig-
stens soweit bis jetzt bekannt ist, nur drei Meeres-
teile der Erde : das Mittelländische Meer, der .Sulu-
Fig. 3. Sempernella cucumis, zu den Hexaktinelliden
(Glasschwämmen) gehörend. 362 m. Nikobaren. '/l latürl. Gr.
N. F. III. Nr. 1 1
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
lös
See bei Borneo und das Mentaweibecken bei
Sumatra. Im Mittelmcere geht selbst in der be-
trächtHchen Tiefe von 4000 m die Temperatur nie
unter-)- 13 "C, in den beiden anderen genannten
Meeresteilen nicht unter -|- 10,3 " C. bez. -|- 6 " C.
Der Grund zu dieser Sonderstellung ist beim
Mittelmeere darin zu suchen , daß bei Gibraltar
ein unterseeischer Höhenrücken Europa und Afrika
verbindet, sodaß das kalte, vom Pol herströmende
Unterwasser des Ozeans nicht in das abgeschlossene
Mittelmeerbecken eintreten kann. Die anderen
beiden Meeresteile sind durch unterseeische Riffe
allseitig umgeben, so daß auch hier das kalte Grund-
wasser des Ozeans nicht einströmen kann. Abge-
sehen aber von diesen drei Meeresteilen hat das
Tiefenwasser eine sehr niedrige Temperatur. Dies
hat zur Folge, daß eine gewisse Übereinstimmung
der Lebensbedingungen in der Tiefe auch der
tropischen Meere und in den oberen Schichten
der arktischen und antarktischen Meere besteht.
Daher sind Oberflächenformen der Polarmeere,
insofern sie die Fähigkeit haben, in die Tiefe zu
steigen, nicht selten Tiefseeformen der tropischen
Meere, da die Temperaturverhältnisse die gleichen
sind. Ausdrücklich aber sei hinzugefügt, daß dies
nicht zur Regel wird, ja daß sogar in einigen
Fällen das Gegenteil vorkommt. In den Tropen,
wo die Temperaturunterschiede zwischen Tiefen-
wasser und Oberflächenwasser am größten sind,
kommen viele mit dem Grundnetz zu Tage ge-
förderte Tiefseeorganismen in völlig aufgelöstem
Zustande an die Oberfläche, da sie das warme
Wasser der oberen Schichten nicht vertragen.
Warmwasserformen können niemals in der Tiefe
vorkommen, sondern immer nur solche Lebewesen,
die sich dem kalten Wasser angepaßt haben.
III. Die chemische Beschaffenheit
des Tiefen Wassers. In vier wesentlichen
Punkten unterscheiden sich in dieser Beziehung
Oberflächen- und Tiefen wasser. a) Nach den Be-
d e
Fig. 4.
a. Mclanostomias melanops n. gen. et. sp. Brauer (Fam. Stomialidae), Ind. Ozean. 1024 m. Wenig verkleinert.
b. Gigantactis Vauhoeffeni n. gen. et. sp. Brauer (Fam. Ceratiidae). Ind. Ozean. 2500 m. Nat. Gr.
c. Cryptopsarcs Couesi (?) Gill. (Fam. Ceratiidae). Golf v. Aden. 1840 m. Wenig verkleinert.
d. Melanocetus Johnsoni G. (Fam. Ceratiidae). Golf v. Guinea. 4000 m. Wenig verkleinert.
e. Melanocetus Krechi Brauer n. sp. Ind. Ozean (Seychellen). Nat. Gr.
i66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. II
obachtungen der Challencrer- und der deutschen lieh dickere Gehäuse entwickeln. Ebenso sind
Tiefseeexpedition nimmt der Sau erstoffgehalt die Korallen und Moostierchen weniger stark mit
des Wassers nach der Tiefe zu allmählich ab, Kalk durchsetzt; sie bilden schwächere Zweige
erreicht bei 730 m das Minimum und steigt dann und sind leicht zerbrechlich. Die Seeigel der
Fig. 5. Nephrops mit zu kleinen Stummeln rück gebildeten, pigmcntlosen Augen.
Sud -Nias- Kanal. 614 m.
wieder etwas, ohne aber das Oberflächenmaximum
auch nur annähernd zu erreichen. Das Tiefen-
wasser ist demnach sauerstoffarm. Der Grund
hierzu ist einmal darin zu suchen, daß der Tief-
see, wie im nächsten Abschnitt behandelt werden
wird, die den Sauerstoff produzierenden Pflanzen
fehlen und dann, daß die Möglichkeit ausge-
schlossen ist, den Sauerstoff der atmosphärischen
Luft aufzunehmen. Dieser Sauerstoffarmut steht
b) der Reichtum an Kohlensäure gegen-
über. Ein Liter Oberflächenwasser enthält etwa
5 cg gebundene Kohlensäure; nach der Tiefe zu
steigt der Gehalt , um bei 3000 m Tiefe 6 cg zu
erreichen. Sauerstoffarmut und Kohlensäurereich-
tum des Tiefenwassers scheinen die Pauna der
Tiefe weniger zu beeinflussen, wenigstens nicht in
dem Maße, wie die beiden nächsten chemischen
Eigentümlichkeiten, c) Die Kalkarm ut. Hier-
über schreibt Professor Seeliger in seinem ,, Tier-
leben der Tiefsee": „Die Kalkarmut des Tiefen-
wassers beeinflußt allerdings die Organisation der
Tiere. Unter den P'oraminiferen der Tiefsee finden
sich oft Formen, deren Kalkschalen durch außer-
ordentliche Zartheit auffallen, während die nächst-
verwandten Arten im seichten Wasser beträcht-
Tiefe zeigen Neigung zur Beschränkung der Kalk-
platten, und die Muscheln fallen oft durch ihre
geringe Größe auf. Die Tiefseefische haben häufig
spongiöse, lückenhafte Knochen, die an Kalksalzen
verhältnismäßig arm sind; und bei den Tiefsee-
krebsen kann man es geradezu als die Regel be-
trachten, daß der Kalkpanzer, der die oberfläch-
lich lebenden .Arten schützt, dünn wird und auch
vollkommen schwindet." d) Der Kalkarmut steht
ein auf^erorderitlicher Reichtum an Kiesel-
säure gegenüber. Daraus erklärt sich das Vor-
kommen der Glasschwämme oder Hexaktinelliden
in der l'iefsee. Während Kalk- und Hornschwämme
im allgemeinen auf die oberflächlichen Regionen
beschränkt sind, ist die Tiefsee das eigentliche
Gebiet der aus reiner Kieselsäure wunderbar fein
gewobenen Skelette der Glasschwämme. (Siehe
Figur I — 3). Aus der beträchtlichen Tiefe von
4636 m hat die deutsche Tiefseeexpedition im
Südpolarmeere zwei prächtige Vertreter der Hexak-
tinelliden (Holascus und Caulophacus) gehoben.
Erstere Form stellt glatte Röhren dar, letztere
hat Ähnlichkeit mit einem Hutpilze; sämtliche
Skeletteile beider aber bestehen aus feinen Kiesel-
säurenadeln , die als Sechsstrahler (Hexaktine)
N. F. III. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
167
oder als von diesen abzuleitende Nadelformen auf-
treten.
IV. Die Vcgetationslosigkeit der
Tiefe. Das Oberflächenwasser des Meeres ist
außerordentlich reich an pflanzlichen Org-anismen;
und zwar sind es in erster Linie die Diatomeen,
einzellige Pflanzen, welche das bekannte „Plankton"
bilden. Da die Diatomeen sich auf ungeschlecht-
lichem Wege durch Teilung vermehren, so stauen
sie sich in kurzer Zeit so massenhaft an, daß die
Oberfläche des Meeres verfärbt erscheint. Die
Hauptmasse genannter Organismen kommt aber
nicht direkt an der Oberfläche, sondern in einer
Tiefe von 40 — 80 m vor. Dann aber nimmt der
Reichtum pflanzlicher Stofif^ nach der Tiefe zu
beständig ab, um bei 450 — 500 m völlig aufzu-
hören. Die Tiefsee ist also vegetationslos. Wie
ist es dann überhaupt denkbar, daß die Tiere der
Tiefe, die doch in erster Linie Pflanzenfresser
sind, überhaupt existieren können? Die in den
oberen und mittleren Schichten massenhaft \-or-
kommenden pflanzlichen Stoffe sterben und sinken
zu Boden. „Der konservierenden Kraft des kalten
Seewassers ist es zuzuschreiben , daß das Proto-
plasma nicht sofort zersetzt wird, sondern, mehr
oder minder verändert und von der Schale um-
schlossen, auch in noch tiefere Schichten gelangt.
Manchmal war der Inhalt der durch kräftige
Schalen ausgezeichneten Diatomeen noch so wohl
erhalten, daß man die betreffenden F"ormen aus
etwa 1000 m Tiefe für lebend hätte halten mögen,
wenn nicht die veränderte Gruppierung der Chro-
matophoren darauf hindeutete, daß es sich um
bereits abgestorbene Organismen handelte. Von
der reichbesetzten Tafel an der Oberfläche fallen
also immerhin nicht wenig Brosamen in die Tiefe,
welche den dort befindlichen tierischen Formen
das Dasein ermöglichen." (Chun.) Rechnet man
noch dazu, daß auch alle die Millionen der in den
oberen und mittleren Regionen lebenden Tiere
einmal sterben müssen und daß deren Leichen
ebenfalls in die Tiefe sinken, so kommt man zu
der Überzeugung, daß es der Grundfauna der
Meere durchaus nicht weder an pflanzlicher noch
an tierischer Nahrung jemals fehlen wird. Chun
stellt den Satz auf: „Je größer das Quantum von
organischer Substanz ist, welches an der Ober-
fläche produziert wird und wie ein feiner Regen
in die tieferen Schichten niederrieselt, desto reich-
haltiger ist das Tierleben auf dem Grunde ausge-
bildet." Die Anpassung würde in diesem Falle
demnach nicht die Organisation des Tieres be-
treffen , sondern lediglich darin bestehen, solche
Schlaraffenländer des Meeresgrundes ausfindig zu
machen.
V. Das Fehlen des Sonnenlichtes.
Die notwendigste Vorbedingung für die Entwick-
lung pflanzlicher Gebilde ist allenthalben das Licht.
Soweit das Sonnenlicht in die Tiefe des Meeres
hinabzudringen vermag, soweit ist auch die Mög-
lichkeit zur Bildung pflanzlicher Lebewesen ge-
geben. Die unterste .Lichtgrenze ist demnach
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 1 1
zugleich die Grenze für die lebende Meeresflora.
Es" würde zu weit führen , alle die älteren und
neueren experimentellen Untersuchungen aufzu-
zählen, welche lediglich die Frage beantworten
sollen: Bis zu welcher Tiefe ist das Meer erleuch-
tet ? Das Ergebnis derselben ist : Von etwa 30 m
Tiefe an schimmert das Meerwasser in schwach
bläulichem Lichte, das an Stärke immer mehr
abnimmt, je mehr die Tiefe wächst. Zwischen
550 und 600 m hört jede Belichtung durch die
.vÄ^^S^S^.
Fig. 7. Barathronus bicolor G. u. B. 1289 m. Somaliküste. Nat. Größe.
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Fig. 8. Achtarmiger Cephalopode (Amphitretus) (mit Teleskop au gen.) Bis 1800 m. Agulhasstrom. Wenig vergrößert.
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Fig. 9. Jugendform von Fischen aus dem Indischen Ozean, mit Stielaugen. (Stylophthalmus Brauer.) Bis 2000 m.
Links der Kopf einer mit kürzeren, brei'eren Augenstielen ausgestalteten Jugendform.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Sonnenstrahlen auf, und ewige Nacht reicht bis
zum Grunde der Ozeane.
Wie beeinflußt nun das Fehlen des Sonnen-
lichtes die Organisation und Lebensweise der Tief-
seefauna ?
a) Zunächst macht sich der Einfluß in der
Färbung bemerkbar. Rot und schwarz sind die
beiden markantesten Schutzfarben auch schon der
mittleren Regionen, da in diesen, wie oben er-
wähnt, schwach bläuliches Licht herrscht, und
in blauem Lichte sind rote und schwarze Gegen-
stände schwer wahrnehmbar. Dasselbe gilt auch
für die Tiefsee; denn unter der Annahme, daß
in der Tiefsee noch andere Lichtquellen existier-
Fi
g. 10. Munidopsis, ein Krebs mit pigmentarmen .'\ugen. Nalürl. Gr. 646 m. Süd-Nias-Kanal.
I/o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. II
ten , müßten auch diese einen blauen Schein
verbreiten. Darum sind die Hauptfarben der
Tiefseetiere rot und scliwarz. Die meisten Tief-
seekrebse sind liochrot gefärbt, sehen also etwa
so aus wie unsere gekochten Krebse. Die Polypen
der Tiefe, an ihrer Spitze der gewaltige über 2 m
lange Monocaulus Imperator, sind blutrot gefärbt.
Nahe Verwandte dieser Tiere, die im Oberflächen-
wasser leben , zeigen oft eine wesentlich andere
Färbung. Eine in Tiefen von 1420 — 3380 m
lebende blinde Eryonide, der 13 cm lange Noto-
stomus Westergreni Fnxon (3200 m), die bis 2000 m
vorkommende Brisinga endecacnemos Asbjörnson,
ja sogar eine Tiefseequalle, die Periphylla mirabilis
Haeckel, alle sind hochrot, die letztere mattrot
gefärbt. — Im Gegensatz zu diesen wirbellosen
Tieren sind die Fische der Tiefsee meist sammet-
schwarz gefärbt. Die im Indischen Ozean häufig
c) Eine Folge der herrschenden Dunkelheit ist
auch die Rückbildung der Augen vieler Tiefsee-
formen. ,, Unter den Bewohnern der Grundfauna
treten uns eine ganze Anzahl von Formen ent-
gegen, welche die Verkümmerung der Augen bis
zum völligen Verlust in allen Stadien verfolgen
lassen. (Siehe Figur 5 u. 10). Unter den Grund-
fischen ist der Barathronus (siehe Figur 7) ein
typisches Beispiel für die Rückbildung der Augen,
an deren Stelle zwei in goldenem Metallglanze
erstrahlende Hohlspiegel getreten sind. Auch in
allen jenen Fällen, wo die Augen anscheinend wolil-
erhalten uns entgegentreten, erweist die anatomi-
sche Zergliederung eine tiefgehende Rückbildung
des Sehorgans." Noch zwei andere Eigentümlich-
keiten zeigen die Augen mancher Tiefseeformen :
die Bildung des Teleskopauges (siehe Figur 8) und
das V^orkommen von Tieren mit Stielaugen. Bei
Das unter dem Auge
Fig. II. Malacosteus n. sp. mit zwei Paaren von Lcuchtorganen.
gelegene Organ glänzt im Leben rubinrot, das hintere ist augenähnlich gestaltet, liegt in einer Grube und
glänzt grün. Bis 5000 m. Südatlantischcr Ozean.
vorkommende Echiostoma, der seltenere, außer-
ordentlich bizarr gestaltete Melanocetus und viele
andere haben einen tiefschwarzen Ton. (Siehe
Figur 4).
b) Da viele Tiefseeorganismen , wie weiter
unten erwähnt werden wird, keine Sehorgane
haben oder, falls diese vorhanden sind, der Ge-
brauch derselben infolge der herrschenden Finster-
nis unmöglich oder erheblich eingeschränkt ist,
so müssen andere Organe die Orientierung im
Räume ermöglichen; und darum sind die Tast-
organe der Tiefseetiere ganz besonders ausge-
bildet. Die Fische tragen, meist in der Nähe des
Maules, lange fühlerartige Barteln. (Siehe Figur 6).
Bei den Krebsen sind die Tastorgane oft 3 — 4-
mal so lang als der gesamte Körper. (Siehe
Figur 5). So hat der im Mittelmeer vorkommende
Sergestes magnificus bei einer Körperlänge von
38 mm fadenartige Fühler von 115 mm Länge.
Aber nicht nur die Fühler sind zu Tastorganen
ausgebildet, sondern an allen möglichen Körper-
stellen, am Maule und an den Extremitäten befin-
den sich äußerst empfindliche Borsten und Haare,
die es den Tieren möglich machen, sich trotz der
Finsternis mit größter Sicherheit zu bewegen.
Fischen sind diese
ausgebildet. (Siehe
mehreren Jugendformen von
Stiele geradezu monströs
Figur 9).
d) Nun könnte man einwenden: Wozu brau-
chen die Tiefseetiere überhaupt Augen > wenn in
der Tiefe absolute Finsternis herrscht? Hierzu ist
zu bemerken; Nachgewiesen ist nur, daß das
Sonnenlicht niemals in die Tiefe gelangen
kann. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß die
Tiefsee noch andere Lichtquellen aufzuweisen hat;
und sie hat tatsächlich eine solche, nämlich: das
Leuchtvermögen vieler Tiefseetiere
selbst. Chun schreibt in seinem im Vorjahre in
zweiter Auflage erschienenen Werke „Aus den
Tiefen des Weltmeeres": ,,Es gewährt einen feen-
haften Anblick, wenn in der Dunkelheit das Ver-
tikalnetz mit dem teilweise noch lebenden Inhalt
an die Oberfläche gelangt und die in ihm ent-
haltenen Organismen in phosphorischem Schein
erglühen. Bald sondern sie leuchtende Sekrete
ab, bald erstrahlt der ganze Körper, bald be-
schränkt sich das Leuchtvermögen auf einzelne
Organe. An den Zweigen der Pennatuliden
huschten, blitzartig von Pol)'p zu Polyp übergrei-
fend, die Strahlen auf und 'ab. Die Protozoen,
N. F. ni. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
171
die Würmer, der von Asbjörnson entdeckte See-
stern Brisinga, viele Krebse der Tiefsee und vor
allen Dingen ein großer Teil der Tiefseefische
sind durch ihre Phosphoreszenz ausgezeichnet. Bei
manchen der letztgenannten umsäumen die Leucht-
organe, als Blendlaternen mit Hohlspiegeln und
Linsen ausgestattet, die Seitenteile des Körpers
und den Bauch , während andere Fische als Dio-
geneße der Tiefsee ihre Glühlämpchen am Kopfe
und auf dem Unterkiefer tragen. Selbst die Re-
gion vor der Schwanzflosse und die Schwanzspitze
können als Träger von Leuchtorganen erscheinen."
Die Bedeutung der Leuchtorgane im biologischen
Sinne kann selir verschieden gedeutet werden.
Häufig liegen die Organe am Kopfe und sind
so gestellt, daß sie das Terrain vor demselben er-
leuchten. Sie würden also in diesem I'^alle den
Zweck haben, dem Lichtträger das Erkennen heran-
kommender Beutetiere zu ermöglichen. Diese Er-
klärung gilt aber nicht für die an den Seiten und
am Schwänze befindlichen Leuchtorgane, da der
von diesen ausgehende Lichtkegel nicht direkt den
Augen des Lichtträgers zugänglich erscheint. Die
Ansicht, daß die Leuchtorgane als Schreckmittel
anzusehen seien , widerlegt das oft erprobte Ex-
periment, daß die in große Tiefen hinuntergelassenen
elektrischen Schwimmlampen in kurzer Zeit von
einer außerordertlich großen Zahl der verschieden-
sten Tiefseeorganismen umschwärmt waren. Also
nicht eine Flucht vor der Lichtquelle, sondern
vielmehr ein Zustreben zu derselben wurde kon-
statiert. Demnach scheinen die Leuchtorgane
eher den Zweck zu haben, Beutetiere heran-
zulocken. Diese Erklärung ließe sich auch in
Einklang bringen mit der Tatsache, daß eine
ungewöhnlich große Zahl solcher Tiere mit
Leuchtkraft ausgestattet sind, die am Grunde des
Meeres festsitzen (Aclyonarien und Seesterne) und
die vielleicht ohne ein solches Lockmittel zeit-
weilig an Nahrungsmittel zu leiden hätten.
Einige typische Vertreter der leuchtenden Tief-
seefauna zeigen die dieser Abhandlung beigegebe-
nen Abbildungen, die sämtlich dem Chun'schen
Werke entnommen sind. Figur 4 a zeigt einen
leuchtenden Tiefseefisch aus der Familie der
Stomiatiden (Melanostomias melanops n. gen. et
sp. Brauer), bei dem die Leuchtorgane teils am
Kopfe, teils an den .Seiten des Körpers sichtbar
sind. Zu derselben Familie gehört der in Figur 6
abgebildete Macrostomias lon^jibarbarus n. g^en. n.
^. fy*
Fig.
12. Calli tcutli 16 u.
Übersälen Bauchseite.
i p. , vun der mit Leuclitorgancn
1500 m. Indischer Ozean.
Fig. 13. Ly CO f eil tli is diadenia Ch. n. sp. von der
Bauchseite. Tliotogr. Aufnahme nach dem Leben. Prächtige
Leuchtorgane. looo m. Bouvet-Inseln. Wenig vergrößert.
1/2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. II
sp. Brauer. Die übrigen auf Tafel 4 befindhchen
Tiefseefische gehören der Famiüe der Ceratiiden
an. „Diese monströsen F"ormen besitzen eine
zwischen den Augen auf der Stirnfläche des
Kopfes sich erhebende oder direkt von der vorge-
zogenen Schnauzenspitze ausgehende, lange, durch
Muskeln bewegliche Rute, welche in einen Knopf
ausläuft." Dieser Knopf ist mit Organen besetzt,
die zwar nicht auf Grund direkter Beobachtung,
wohl aber auf Grund ihres anatomischen Baues
als Leuchtorgane zu betrachten sind. Besonders
auffällig ist dies bei Gigantactis Vanhoeffeni n.
gen., n. sp. Brauer (Figur 4 b).
Prächtige Beispiele von Phosphoreszenz bieten
auch die Cephalopoden, wie sie Figur 12 und 13
zeigen. Erstcre stellt einen Vertreter der Gattung
Calliteuthis dar. Die ganze Körperoberfläche von
den Schwanzflossen bis zu den Armen ist mit
Leuchtorganen besetzt, und zwar die Bauchseite
reichlicher als die Rückenfläche. — Während es
aber den Mitgliedern unserer deutschen Tiefsee-
expedition nicht vergönnt war, diesen Tintenfisch
leuchten zu sehen, kam der in Figur 13 abgebil-
dete Cephalopod noch lebend und leuchtend an
die Oberfläche und wurde sofort photographiert.
In der ersten Auflage seines Werkes (19C0) be-
zeichnet ihn Chun als Enopioteuthis diadema,
während die 2. Auflage (1902) ihn Lycoteuthis
diadema nennt. Dieser Tintenfisch hat 24 Leucht-
organe, die eine ganz eigenartige Gruppierung
aufweisen. An jedem der beiden großen Fang-
arme sind zwei; der Unterrand der Augen ist von
je fünf Organen umsäumt, und die übrigen zehn
liegen an der Bauchseite. Am auffälligsten aber
ist, daß diese 24 Leuchtorgane nicht ein und das-
selbe Kolorit zeigen, sondern in fünf verschiedenen
Farben erglänzen: das mittelste der Augenorgane
ist ukramarinblau, und die äußeren sind perlmutter-
glänzend. Von den Organen auf der Bauchseite
erstrahlen die vorderen in rubinrotem Glänze,
während die hinteren schneeweiß oder perlmutter-
farben sind mit Ausnahme des mittelsten , das
einen himmelblauen Ton aufweist. Mit Recht
verdient darum dieses wunderbare Geschöpf
den Beinamen diadema; wie mit einem Dia-
dem bunter Edelsteine besetzt erscheint der ganze
Körper.
Professor Chun, gewiß die erste Autorität auf
dem Gebiete der Tiefseefauna, bekennt selbst am
Schlüsse seines hochinteressanten Werkes: ,, Woll-
ten wir die Anpassungen der Tiefseefauna an die
eigenartigen Existenzbedingungen gründhch er-
örtern, so möchten unsere Kräfte hierzu nicht
ausreichen."
Kleinere Mitteilungen.
A. J. Nabokich, Über den Einflufs der
Sterilisation der Samen auf die Atmung.
(Ben d. Dtsch. Botan. Gesellsch., Bd. XXI, 1903,
Heft 5-) — Ein Teil der bei Versuchen über
Pflanzenatmung beobachteten Kohlensäure rührt
unzweifelhaft nicht von den Versuchsobjekten,
Samen, Blättern, Zwiebeln, Keimpflanzen usw. her,
sondern von den auf der Oberfläche der Objekte
vegetierenden Mikroorganismen, von Schimmel-
pilzen und besonders Bakterien. Verf. hat ver-
gleichende Untersuchungen darüber angestellt,
wieviel von der konstatierten Kohlensäure sozu-
sagen „bakterielle" Kohlensäure ist. Er arbeitete
dabei mit Samen von Pliaseolus vulgaris in 300 ccm
fassenden Pettenkofer'schen Röhren. Die Samen
wurden im einen Falle in der Röhre sterilisiert;
im Parallelversuch unterblieb diese Behandlung.
Die Kohlensäurebestimmung wurde im Verlaufe
von 36—48 Stunden regelmäßig alle 4 Stunden
vorgenommen.
Es zeigte sich, daß die infizierte Kultur erheb-
lich mehr Kohlensäure ausschied als die sterilisierte,
und zwar betrug dieses Plus durchschnittlich 25
bis 30 "/„ der gesamten ausgeschiedenen Kohlen-
säure. Die Mikroorganismen dürfen also unter
keinen Umständen vernachlässigt werden, falls die
Versuche den Zeitraum von i^o bis 2 Tagen
überschreiten, und der Experimentator mit abso-
luten Bestimmungsgrößen der Kohlensäure rechnen
muß. Anfänglich tritt freilich die Atmung der
Bakterien und keimenden Schimmelpilzsporen noch
nicht sehr deutlich hervor, so daß sie am ersten
Tage ohne großen Fehler ignoriert werden kann.
Nach I — I Y2 Tagen dagegen tritt die Lebens-
tätigkeit der Bakterien sehr lebhaft in den \^order-
grund, so daß die von ihnen herrührende Atmungs-
kohlensäure nicht mehr übersehen werden darf
\^erf hat weiter Versuche angestellt zur Er-
klärung des Einflusses, den die Sterilisation mittels
Broms und Sublimates auf die Samen und ihre
Atmung ausübt. Beide Antiseptika wirken an-
fänglich steigernd auf die Atmungsenergie; dann
aber tritt die entgegengesetzte Reaktion ein , bis
allmählich die Wirkung der Reagentien aufhört,
und die Samen auf ihren normalen Zustand zurück-
gehen.
Da die Atmung anästhesierter Samenportionen
mit der nicht anästhesierter verglichen werden
sollte, so konnten die Versuche natürlich nicht
an sterilisiertem Material vorgenommen werden,
sondern es mußte die mit Sublimat oder Brom
behandelte Portion, um sie mit der zu vergleichen-
den Samenportion unter gleiche Bedingungen zu
bringen, ihrerseits nach der Behandlung mit dem
Reagens wieder mit Mikroorganismen infiziert
werden. Diese Infektion wurde vorgenommen
mit dem Aufgußwasser gequollener Bohnen.
Das Resultat der Versuche war, daß bei den
mit Brom oder Sublimat behandelten Samen die
Atmungsenergie zu Anfang merklich zunimmt,
nach einer gewissen Zeit aber wieder sinkt, wäh-
rend die nichtsterilisierten Samen ihre Atmungs-
N. F. III. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
173
tätigkeit langsam, aber dauernd steigern. Der
Sterilisationsprozeß verläuft also nicht ohne Ein-
wirkung auf die Samen. Diese reagieren im
Gegenteil sehr energisch auf die Sterilisation, ob-
wohl die Reagentien nur in verdünnten Lösungen
(i : 500 bis I : looo) und auf kurze Zeit (V2 Stunde)
zur Anwendung gebracht wurden. Se.
Die starke magnetische Störung vom
31. Oktober, die in ganz Europa erhebliche
Stockungen des Telegraphenbetriebes zur Folge
hatte, hat nach einer Mitteilung von Moureaux
(Comptes rendus v. 2. November) in Val-Yoyeux
um 6 Uhr 12 Minuten mit einer plötzlichen Ver-
größerung der Deklination und Horizontalintensität
unter gleichzeitiger Verminderung der Vertikal-
intensität ihren Anfang genommen. Später traten
starke Schwankungen dieser Elemente des Erd-
magnetismus ein; gegen Mittag nahm die Vertikal-
intensität sehr stark zu, während Deklination und
Horizontalkraft sprunghafte Änderungen aufwiesen.
Die Deklination verringerte sich kurz vor 2 Uhr
nachmittags innerhalb eines Zeitraumes von drei
Minuten um 1 " 39', und nahm kurz nach 2 Uhr
ebenso schnell wieder um 1" 18' zu. Im allge-
meinen war die Vertikalkraft durch die Störung
vergrößert , die beiden anderen Elemente ver-
kleinert. Die erdmagnetische Kraft hat um ca. 2"/||
ihres Gesamtbetrages variiert und die Deklina-
tionsstörung belief sich im Maximum auf 2" 4',
Beträge, wie sie nur sehr selten beobachtet wurden.
Ähnlich lauten natürlich auch die Berichte aus
Straßburg, Potsdam usw. Marchand hat (Comptes
rendus v. 16. Nov.) gleichzeitige Beobachtungen
in Bagneres und auf dem Pic du Midi veröffent-
licht, aus denen hervorgeht, daß die Störung in
der Höhe viel beträchtlicher war als im Tal.
Daraus muß man schließen, daß die die Störung
verursachenden Ströme mindestens zum Teil in
den höheren Schichten der Atmosphäre verlaufen.
Interessant ist der Umstand, daß auch diese
Störung mit der Passage einer größeren Sonnen-
fleckengruppe durch den Mittehneridian der Sonne
zeitlich zusammenfiel. Auch wurde am Abend des
31. namentlich in Nordamerika ein glänzendes
Nordlicht wahrgenommen. F. Kbr.
Über die spektroskopische Bestimmung des
Atomgewichts hielt Prof. Runge einen Vor-
trag vor der Naturforscherversammlung in Cassel.
— Obgleich schon seit langem bekannt ist, daß
zwischen den Linienspektren der Elemente und
ihren Atomgewichten Beziehungen bestehen — die
Linien rücken im allgemeinen mit wachsendem
Atomgewicht nach demrotenEndedesSpektrums — ,
so bereitet doch die Aufsuchung der entsprechenden
Linien in den Spektren verschiedener Elemente
Schwierigkeiten, die auch jetzt noch nicht durch-
weg behoben werden konnten. Indessen können
da, wo Linienserien auftreten (d. h. Liniengruppen,
deren Wellenlängen durch eine mathematische
Formel zusammenhängen), diese Serienlinien auf-
einander bezogen werden. Für einzelne Linien
liefert in vielen Fällen das Verhalten im mag-
netischen Felde (der Zeeinann-Effekt) ein gutes
Mittel zur Auffindung der entsprechenden Linien
verschiedener Spektra. Hat man diese entsprechen-
den Linien festgestellt, so sind deren Schwingungs-
zahlen eine glatte Funktion des Quadrats des
Atomgewichts, so daß man dann das Atomgewicht
eines Elements aus den Atomgewichten verwandter
Elemente (graphisch oder durch empirische Formeln)
ermitteln kann. Auf solchem Wege fanden Runge
und Brecht das Atomgewicht des Radiums gleich
257, während Frau Curie 22$ gefunden hat. Welche
Zahl nun die richtigere ist, muß vorläufig noch
unentschieden bleiben. F. Kbr.
Elektrolytische Läuterung des Kupfers. —
In einer von \\'. D. Bancroft kürzlich vor der
amerikanischen Elektrochemischen Gesellschaft vor-
getragenen und im „American Electrician" wieder-
gegebenen Arbeit über obigen Gegenstand wird
über eine Reihe von Versuchen berichtet, deren
Zweck die Feststellung der ökonomischen Be-
dingungen war. Die hauptsächlichen Faktoren,
die bei diesen Versuchen variiert wurden, waren
die Temperatur und die Stromdichte. Es wurden
zwei Kurvensysteme aufgezeichnet, von denen das
eine die Beziehung zwischen den Kosten der
Fällung einer Tonne Kupfer und der Arbeits-
temperatur wiedergibt; die zweite Serie zeigt die
Beziehung zwischen denselben Kosten und der bei
dem \'erfahren benutzten Stromdichte. Aus diesen
Kurven ergibt es sich, daß eine Temperatur von
70* am günstigsten ist. Wenn auch die Kosten
bei dieser Temperatur und bei einer Stromdichte
von I Ampere pro Ouadratdezimeter sehr erheb-
lich sind, so tritt doch ein sehr schneller Abfall
ein, wenn die Stromdichte zunimmt, bis bei höheren
Werten derselben ein ziemlich konstanter Wert
erreicht wird. Zwischen 3,5 und 3,75 Ampere pro
Quadratdezimeter liegt die beste Stromdichte zur
Erzielung ökonomischer Resultate, da bei dieser
Dichte keine besondere Energie zur Erwärmung
der Lösung erfordert wird. Wenn man bei dieser
Stromdichte und mit bedeckten Trögen arbeitet,
um allzu hohe Strahlungsverluste zu verhüten, so
genügt der Strom allein zur Erwärmung des Elektro-
lyten auf eine über 80" liegende Temperatur. Um
einen guten Kreislauf zu erzielen, was für gute
Niederschläge bei großen Stromdichten sehr wesent-
lich ist, wurden Pumpen verwandt. Wenn die Zu-
und Ableitungsröhren der Pumpe gehörig isoliert
waren, so sank die Lösung vor der Rückkehr nach
den Trögen nicht unter 70".
Außerdem erzielt man beim Arbeiten mit so
bedeutender Stromdichte ganz bedeutende Er-
sparnis in bezug auf Herstellungskosten der An-
lage, da eine geringere Anzahl von Trögen zum
Ausfällen einer gegebenen Kupfermenge in ge-
gebener Zeit genügt. Je geringer die Heizkosten
sind, um so größer ist der Vorteil einer hohen
Temperatur. Verfasser faßt die Ergebnisse seiner
174
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. II
Untersuchung dahin zusammen, daß er zunäclist oben
verschlossene Tröge, zweitens eine Stromdichte von
3,5 Ampere pro Quadratdezimeter und drittens eine
Temperatur von 70" C. empfiehlt. A. Gr.
Bücherbesprechungen.
i) Karl A v. Zittel, Professor an der Universität zu
München, Grundzüge der Paläontologie
(Paläo Zoologie). i. Abteilung; Invertebrata.
Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Mit
1405 Abbildungen. (R. Oldenbourg, München und
Berlin, 1903.) — Preis geb. 16.50. Mk.
2) Dr. Gustav Steinmann , o. Prof. d. Geologie u.
Paläontol. an der Univ. Freiburg i. B., Einführung
in die Paläontologie. Mit 818 Textabb.
Leipzig (Wilhelm Engelmann) 1903. — Preis 12 Mk.
3) Dr. Hippolyt Haas, Prof d. Geol. u. Paläontologie
an d. Univ. Kiel, Katechismus der Ver-
steinerungskunde (Petrefaktenkunde, Paläonto-
logie), eine Übersicht üb. die wichtigeren Formen
des Tier- u. Pflanzenreichs der Vorwelt. Zweite,
gänzlich umgearbeitete Auflage. Mit 234 Abbil-
dungen und I Tafel. Verlag von J. J. Weber in
Leipzig. — Preis 3,50 Mk.
i) Erst 1895 ist die erste Auflage des Zittel'schen
Werkes erschienen, das aus dem umfangreichen Handbuch
der Paläontologie hervorgegangen war, und schon jetzt
können wir eine zweite Auflage anzeigen. Wenn das
vorliegende Werk auch auf der im „Handbuch" ein-
geschlagenen Methode der Darstellung und Anordnung
fußt, so geben die „Grundzüge" doch keineswegs einen
einfachen Auszug aus demselben, sondern in ihnen
spiegelt sich das Resultat der zahlreichen und wich-
tigen Entdeckungen der letzten Jahre wieder, welche
in den Anschauungen der Paläontologen Verände-
rungen tiefgreifendster Art herbeigeführt haben.
Einer Hauptaufgabe der Paläontologie, nämlich der
Erzielung einer natürlichen, den morphologischen und
phylogenetischen Erfahrungen entsprechenden Syste-
matik, wurde vom Verfasser ganz besondere Aufmerk-
samkeit gewidmet.
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage der „Grund-
züge" wurde durch den ehemaligen Schüler und Freund
des Verfassers Dr. Gh. Eastman in Harvard Mass.
eine englische Übersetzung oder besser Bearbeitung
des Werkes veröffentlicht. Neben einzelnen Ab-
schnitten, welche in unveränderter Form Eingang in
die englische Ausgabe fanden , wurden andere von
hervorragenden amerikanischen oder englischen Spezial-
forschern überarbeitet und teilweise wesentlich umge-
staltet. Das englische „Textbook of Palaeontology"
weicht namentlich bei den Crinoideen, Bryozoen, Mol-
lusken und Trilobiten nicht unerheblich von den
deutschen Grundzügen ab und weist insbesondere in
der systematischen Gruppierung des Stoffes bedeutende
Änderungen auf Auch der Umfang einzelner Ab-
schnitte ist in der englischen Ausgabe erheblich ver-
größert. Die bis jetzt erschienenen Klassen der
Wirbeltiere (Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel),
welche einen zweiten Band bilden , schließen sich
enger an das deutsche Original an, sind aber eben-
falls von angesehenen Forschern (A. Smith Wood-
ward, Williston, Lucas) überarbeitet und in
mancher Hinsicht verbessert und ergänzt worden. In der
vorliegenden zweiten Auflage der „Grundzüge" wurde
nun den Verbesserungen der englischen Ausgabe Rech-
nung getragen, jedoch in der Hauptsache an der ur-
sprünglichen Verteilung des Stoffes und an der in
Deutschland eingebürgerten systematischen Gliederung
derselben festgehalten. Einzelne Abschnitte, wie die
Korallen und Pelmatozoen, erheischten allerdings eine
vollständige Umarbeitung. Der Umfang des Buches
wurde dadurch etwas vergrößert, und da eine ähnliche
Überarbeitung auch bei den Wirbeltieren erforderlich
ist, so erschien es rätlich, das schon in erster Auflage
etwas zu dickleibige Buch in zwei Abteilungen zu zer-
legen, wovon die erste die Invertebraten, die zweite
die Wirbeltiere enthält. Jede Abteilung erhält ihr
eigenes Register, bildet daher gewissermaßen ein selb-
ständiges Werk und ist einzeln käuflich.
Bei der sehr reichen Illustration und der guten
Ausstattung des Werkes ist der Preis desselben ein
sehr mäßiger.
2) Das Steinmann'sche Buch ist gegenüber dem
Zittel'schen Werk, das auch dem Fachmann weitgehend
dient, nur eine Gesamtübersicht der Paläontologie für
die Studierenden : es berücksichtigt daher auch die
Paläobotanik, und man muß sagen in einer für einen
Nicht-Spezialisten sehr anerkennenswerten Weise.
Freilich ist es — wie sich an mehreren Stellen zeigt — •
nicht zweckmäßig, wenn man in einer Disziplin wie
der Paläobotanik Zusammenstellungen nur nach der
Literatur macht, ohne selbst das Gebiet in seiner
Gesamtheit als Spezialist zu betreiben, da es
sich in diesem Fall um eine Disziplin handelt,
die noch zu sehr im Werden (in der Gärung) be-
griffen ist. Es wäre daher gut, wenn Verf. bei einer
Neu-Auflage einen neuzeitlichen (von der bota-
nischen Seite her kommenden) Paläobotaniker zu Rate
zöge. Besser als Steinmann den Abschnitt bearbeitet
hat, wird irgend ein anderer Zoopaläontologe das auch
kaum können : Steinmann gehört unter den letzteren
zu den besten Kennern der fossilen Pflanzentypen,
wie er überhaupt einer derjenigen Geologen ist, die
wirklich das ganze Gebiet einschließlich der unmittel-
bar dazu gehörigen Nebendisziplinen übersehen. —
Der weit umfangreichere paläozoologische Teil (p. 60
bis 451; die Paläobotanik reicht von S. 11 — 59) ist
dagegen recht brauchbar.
3) Der Haas'sche Katechismus ist sehr geeignet
eine elementare Übersicht über das Gebiet zu geben.
Steinmann zitiert in seinem weit umfangreicheren
Buch weder Literatur, noch gibt er die Quellen an,
woher die von ihm entlehnten Figuren stammen,
obwohl man gerade in einem vergleichsweise so
eingehenden Werk doch einige Literaturzitate
wünschen möchte, um eine Brücke zu weiterem
Studium zu haben. Haas hingegen gibt die gewünschten
Winke; unter den Figuren freilich könnten aber wohl
in Zukunft die Quellen bei einem bloßen ,, Katechismus"
wegfallen, um so mehr, als sie — wenigstens für die
pflanzlichen Fossilien — zum Teil unrichtig wieder-
gegeben sind ; so stammt Fig. 2 1 7 nicht von Frech
N. F. III. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
175
sondern von Potonid, Fig. 218 nicht von Frech sondern
von Feistmantel. Für denjenigen, der ein kurz orien-
tierendes Buch wie den Haas'schen Katechismus zur
Hand nimmt, sind solche Angaben ganz belanglos. Die
Paläobotanik umfaßt nur die Seiten 214 — 237, die für
den Studierenden wichtigere Paläozoologie p. 3 — 213.
i) Dr. L. Rellstab , Die elektrische Tele-
graphie. 122 S. mit 19 Fig.
2) Dr. Nippoldt jun., Erdmagnetismus, Erd-
strom und Polarlicht. 136 S. mit 3 Tafeln
und 13 Fig.
Sammlung Göschen. Leipzig 1903, Göschen's Verlag.
Preis pro Heft geb. 80 Pf.
Nr. I gibt in meisterhafter Kürze einen Überblick
über das umfassende Gebiet der Telegraphie. Staunend
erfährt der Neuling von der immensen Summe genialer
Erfindungen, die zu der heutigen Vollkommenheits-
stufe der telegraphischen Technik geführt haben ; mit
aufrichtigem Bedauern gewahrt er andererseits, wie
das Bessere des Guten Feind ist, und wie die ganze
Lebensarbeit eines Erfinders ersten Ranges durch eine
auf anderem Prinzip beruhende, noch zweckmäßigere
Methode zum alten Eisen gestellt wird. Ausgehend
von einer historischen Einleitung fuhrt uns Verf vom
einfachen Morseapparat über die Gegensprechsclialtung
und Mehrfachtelegraph ie zu den genialen Typen-
druckern von Hughes, Bandet und Rowland, um
schließlich die neuesten Errungenschaften : die Schnell-
telegraphie von Pollack und Virag, sowie die draht-
lose Telegraphie kurz zu besprechen. Auch der unter
eigenartigen Verhältnissen arbeitenden Kabeltelegraphie
ist ein besonderes Kapitel gewidmet.
Auch der Verf von Nr. 2 weiß sein umfangreiches
Gebiet in trefflicher Kürze zur Darstellung zu bringen
und uns durchaus mit dem neuesten Standpunkte der
Wissenschaft gegenüber dem rätselvollen erdmagne-
tischen Erscheinungskomple.t bekannt zu machen.
Stellenweise wird etwas zuviel mathematische Theorie
geboten, die für den ungeschulten Leser unverständ-
lich bleiben muß. Vielleicht wären einige Abbildungen
charakteristischer Polarlichter den meisten Lesern will-
kommener, als die Erörterungen über Potential und
Kugelfunktionen (Nr. 21 — 28). F. Kbr.
Dr. P. Ferchland, Grundriß der reinen und
angewandten Elektrochemie. Mit 59
Figuren im Text. Halle a. S., Wilhelm Knapp. 1903.
266 Seiten. — Preis 5 Mk.
Unter der sich stetig mehrenden Zahl von Büchern,
die die Einführung in die elektrochemischen Tat-
sachen und Theorien vermitteln sollen , dürfte der
vorliegende Grundriß, der bei seinem Leser die
chemisch-physikalischen Kenntnisse eines Studierenden
im 4. Semester voraussetzt, wegen der großen Klar-
heit, mit welcher er den dem Anfänger nicht immer
leicht verständlichen Stoff darbietet, eine der ersten
Stellen einzunehmen bestimmt sein. Schon die äußere
Gliederung läßt diesen Vorzug erkennen, insofern als
die mit Energieänderungen verbundenen elektro-
chemischen Vorgänge bereits durch die Überschrift
des sie behandelnden (zweiten) Abschnittes von den
Erscheinungen unterschieden werden, die lediglich die
Folge der Stromleitung in den Elektrolyten sind und
denen der erste Abschnitt des Buches gewidmet ist.
Dadurch wird der Neuling vor der Versuchung be-
wahrt, die erfahrungsgemäß leicht an ihn herantritt,
auch da energetische Vorgänge zu vermuten und nach
einer möglichen Erklärung zu suchen, wo es sich gar
nicht um solche handelt. Ln einzelnen erfüllt das
Buch vollständig die Erwartungen, die man nach der
klaren Disposition hegen darf: überall, auch in schwie-
rigeren Kapiteln (z. B. in dem die Polarisations- und
die verwandten Erscheinungen betreffenden) weiß der
Verfasser den Stoff mundgerecht zu machen, und durch
die geschickte Art der Darstellung das Verständnis
zu erleichtern. In den 16 Kapiteln der erwähnten
beiden Abschnitte wird ein vollständiger Überblick
über das Gebiet der Elektrochemie gegeben, wobei
auch die neuesten Forschungsergebnisse Berücksichti-
gung finden, wie z. B. die interessanten von J. Bil-
litzer ausgeführten Messungen der Potentialdifferenz
Hg/0,1 norm. Kaliumchloridlösung, die mit Kalomel
gesättigt ist, deren beträchdiche Abweichungen von
dem bisher allgemein angenommenen Werte, soweit
dem Referenten bekannt ist, noch nicht erklart woiden
sind. Ein dritter Abschnitt behandelt aut etwa zwei
Druckbogen die elektrochemischen Prozesse (nament-
lich die Karbidgewinnung), sowie die wichtigsten tech-
nisch-elektrochemischen Vorgänge. — Die Ausstattung
des Buches entspricht dem bekannten guten Ruf des
Verlags. Böttger.
Dr. phil. F. W. Neger, Prof. an der großherzogl.
Forstlehranstalt zu Eisenach, Die Handels-
pflanzenDeutschlands, ihreVerbreitung,
wirtschaftliche Bedeutung und tech-
nische Verwendung. (Chemisch - technische
Bibliothek. Band 268.) A. Hartleben's Verlag.
Wien und Leipzig. „1904''. — Preis: 3,80 Mk.
In dem i. Teil des Büchelchens sind die deut-
schen Handelspflanzen nach den aus ihnen gewonnenen
Rohstoffen angeordnet; zugleich enthält dieser Ab-
schnitt Angaben über die wichtigsten chemischen und
physikalischen Eigenschaften der in der Technik, im
Erwerbsleben und als Heilmittel verwendeten pflanz-
lichen Stoffe. Der 2. Teil zählt die deutschen Handels-
pflanzen in alphabetischer Reihenfolge ihrer lateinischen
Namen auf, unter Beifügung von Angaben über Kultur,
Ernte, Verwendung, Verarbeitung und Bedeutung im
Welthandel etc. Dieser Teil bildet dadurch zugleich
eine wesentliche Ergänzung des kürzer gefaßten ersten
Teiles. Den Bedürfnissen desjenigen, der mit bota-
nischen Namen und Ausdrücken weniger vertraut ist,
wird dadurch Rechnung getragen, daß die deutschen
Namen der aufgeführten Handelspflanzen im Register
berücksichtigt sind, sowie dadurch, daß in einem
Anhang die wichtigsten zur Verwendung kommenden
botanischen Fachausdrücke kurz erläutert werden.
Literatur.
Le Blanc, Dir. Prof. Dr. Ma.v : Lehrbuch der Elektrochemie.
3- verm. Aufl. (VIII, 284 S. m. 31 Hg.) gr. 8". Leipzig
'03, O. Leiner. — 6 Mk. ; geb. in Leinw. 7 Mk.
176
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 1 1
Bloch, Dr. Ernst: Alfred Werner's Theorie des Kohlcnstoff-
atoms und die Stercochemie der karbocyklischen Verbin-
dungen. (IV, 88 S. m. 48 Fig. u. 3 Taf.) gr. 8». Wien '03,
C. Fromme. — 3 Mk.
Dannstedt, Staats-Laborat.-Dir. Prof. Dr. M. : Anleitung zur
vereinfachten Elementaranalyse f. wissenschaftliche u. tech-
nische Zwecke. (44 S. m. Abbildgn.) gr. 8". Hamburg '03,
O. Meißner's Verl. — !,20 Mk.
Eibner, Priv.-Doz. Dr. A. : Zur Geschichte der aromafischen
Diazoverbindungen. (VIII, 267 S.) gr. 8". München '03,
R. Oldenbourg. — 6 Mk.
Gegenbaur, weil. Prof. Dir. C. : Lehrbuch der Anatomie des
Menschen. 7. verb. Aufl. 2. unveränd. Abdr. 2 Bde. (XVIII,
478 u. X, 658 S. m. 734 zum Teil färb. Holzschn.) gr. 8».
Leipzig '03, W. Engelmann. — 25 Mk. ; geb. in Halbfrz.
30 Mk.
Giesenbagen, Prof. Dr. K.: Lehrbuch der Botanik. 3. Aull.
m. 557 Te.xtfig. (XI, 475 S.) gr. 8». Stuttgart '03, F. Grub.
— 7 Mk. ; geb. in Leinw. 8 Mk.
Gelcich, Reg.-R. Zentralinsp. Insp. Eug. : Die astronomische
Bestimmung der geographischen Koordinaten. Mit 46 Holz-
schn. im Te.xte (X, 126 S.) Wien '04, F. Deuticke. — Sub-
skr.-Pr. 4 Mk. ; Einzelpr. 5 Mk.
Hilbert, Prof. Dr. Dav. : Grundlagen der Geometrie. 2., durch
Zusätze verm. u. m. fünf Anh. verseh. Aufl. (V, 175 S. m.
F'g) gl"- S". Leipzig '03, B. G. Teubner. — 5,20 Mk. ; geb.
in Leinw. 5,60 iSIk.
Hoff, J. H. van't. : Vorlesungen üb. theoretische u. physikalische
Chemie. 3. Heft. gr. 8". Braunschweig, F. Vieweg & Sohn.
Katzer, Landesgeol. Dr. Frdr. : Grundzüge der Geologie des
unteren Amazonasgebietes (des Staates Parä in Brasilien).
Mit I geolog. Karte in Farbendr., 4 Bildnissen u. zahlreichen
Abbildgn. im Text, darunter 16 Versteinerungstaf. (III, 298 S.)
LcK. 8". Leipzig '03, M. Weg. — 14 Mk.
Kraepelin, Prof. Dr. Emil : Psychiatrie. Ein Lehrbuch f.
Studierende u. Ärzte. 7., vielfach umgearb. Aufl. i. Bd. All-
gemeine Psychiatrie. (XV, 47S S.) gr. S". Leipzig '03, J. A.
Barth. — 12 Mk. ; geb. in Leinw. 13,20 Mk. bar.
Zittel, Prof. Karl A. v. : Grundzüge der Paläontologie (Paläo-
zoologie). I. Abtlg. : Invertebrata. 2. verb. u. verm. Aufl.
(VIII, 558 S. m. 1405 Abbildgn.) gr. 8». München '03, R.
Oldenbourg. — Geb. in Leinw. 16,50 Mk.
Briefkasten.
Abonnent in Stockholm. — Uns ist nur der „Leitfaden bei
zoologisch-zootomischen Präparierübungen" von August v. Moj-
sisovics (Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann) bekannt,
als noch kürzer wie das Buch von Kückenthal. Er behandelt
in absteigender Linie die Klassen der Vertebraten bi.« inklusive
Coelenteraten und hat sich als sehr brauchbar bewährt. Sonst
käme eventuell noch in Frage „das zootomische Practicum"
von M. Braun (Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke).
Herrn A. L. in Hcßlar.
Der Pilz ist Crucibulum vulgare.
Herrn S. in Ratztburg. — Sie finden Auskunft in Otto
Bachmann's Leitfaden zur Anfertigung mikrokopischer
Dauerpräparate. München (R. Oldenbourg). — Preis 6 Mk.
Ein .Abonnent bittet um Angabe einer Firma, die in der
Lage wäre, den Panzer einer Schildkröte (Chelone imbricata)
mit künstlichem Kopf und künstlichen Gliedmaßen zu versehen.
Herrn Dr. Th. Seh. in Ludwigsburg. — Wir ergänzen die
geol. Lit. des Taunus (vgl. N. W. v. 22. Nov. 03 p. 127)
durch die .\ngabe, daß insbesondere vom Taunus die geolog.
Spezialkarten nebst Erläuterungen von Karl Koch vorliegen;
sie sind von der Kgl. preuß. geol. Landesanstalt in Berlin,
Invalidenstr. 44, zu beziehen.
Herrn A. S. in Wien. — Ein Buch der gewünschten Art
gibt es nicht; farbige Abbildungen aller Drogen sind mir
ebenfalls nicht bekannt. Von Atlanten, welche die Stamm-
pflanzen farbig darstellen, nenne ich A. Meyer und K. Schu-
mann: Atlas der in dem Deutschen Arzneibuche enthaltenen
Pflanzen. Englisch geschrieben, gut aber teuer ist Bentley
and Trimen: Medical plants. Prof. Dr. K. Schumann.
Herrn F. B. in Reinsdorf b. Artern. — In den mißge-
bildeten Blüten von Sinapis arvensis wuchert der Pilz, der
bekannt ist unter dem Namen Cystopus candidus, der aber
jetzt von vielen Mykologen mit Recht als Albugo Candida
(Pers.) O. Kze. bezeichnet wird, da die Gattung Albugo früher
aufgestellt worden ist. Die schmutzig - weißen autgeplatzten
Streifen sind die Conidienlager des Pilzes, während sich in
dem Gewebe der angeschwollenen Blätter der monströs ver-
größerten Blüten die Oosporen , d. s. die Dauersporen ge-
bildet haben. Prof. Dr. P. Magnus.
Herrn M. G. in Unterringingen. — Von den von Ihnen
genannten Floren würden wir Ihnen Garcke's Flora empfehlen,
die auch Süddcutschland berücksichtigt. Besonders wichtig
ist Ascherson-Graebner's Synopsis der mitteleuropäischen Flora.
Als Honigtau bezeichnet man I. klebrige, süße Überzüge
besonders auf Blättern ; es sind Ausscheidungen von Blatt-
läusen, die diesen , .Honigtau" verursachen. Er ist den Tieren,
die die Blätter fressen, unschädlich. Vgl. hierzu : Der Honig-
tau. Biologische Studien an Pflanzen und Pflanzenläusen. Von
Dr. M. Büsgen, Prof. an der Großh. Sachs. Forstlehranstalt
in Eisenach. (Gustav Fischer in Jena, 1891). 2. Die als Honigtau
bezeichnete fade — süßlich schmeckende Flüssigkeit, die sich
zuweilen zwischen den Spelzen von Gräsern (insbesondere des
Roggens) vorfindet, ist der von einem Pilz (Claviceps purpurea)
erzeugte Schleim.
Herrn K. in Ellrich. — Das Ihnen empfohlene Buch von
Luedecke enthält auch viel Geologisches. Eine kurze Auf-
zählung der Harzmineralien mit Angabe des Vorkommens ist
E. Schulze, Lithia hercynica.
Ein Werk speziell für den Südharz existiert unseres Wissens
nicht.
Groddeck's .Abriß der Geognosie des Harzes, 2. Aufl.
1883, ist nur noch antiquarisch zu haben; Genaueres finden
Sie in der geologischen Spezialkarte von Preußen, Lieferung 1,
(Blätter Zorge, Benneckenstein, Hasselfelde, Ellrich, Nordliausen,
Stolberg), die durch jede Buchhandlung zu beziehen ist, und
von der jedes Blatt mit einem Heft Erläuterungen 2 Mark kostet.
Herrn M. in Cottbus. — Die auf einer Hochschule (Berg-
akademie usw.) verbrachten Semester werden bei der Doktor-
Promotion bei den meisten Universitäten bis zu 3 Semestern
auf das Universitäts-Triennium angerechnet; die Immatrikulation
an einer solchen ist daher unbedingt erforderlich. Näheres
finden Sie in den Einzelbestimmungen der Universitäten und
in dem Heft: „Mein künftiger Beruf." Der philosophische
Doktorgrad. Leipzig, Verlag von C. Bange. Preis 50 Pfg.
Herr B. B. in Görlitz. — Über Diosmose vgl. Sie
Pfeffer's Pflanzenphysiologie (Wilhelm Engelmann in Leipzig,
I 1897 p. 73 ff.) und E. du Bois Reymond's Vorlesungen
über die Physik des organ. Stoffwechsels (August Hirschwald
in Berlin, 1900).
Inhalt : Paul Apitzsch: Die Anpassung der Tiefseefauna an die Eigenheiten des Tiefseewassers, — Kleinere Mitteilungen:
A. T. Nabokich: Über den Einfluß der Sterilisation der Samen auf die Atmung. — Mourea ux : Magnetische Störung
voni 31. Oktober. — Prof. Runge: Spekfroskopische Bestimmung des Atomgewichts. — W. D. Bancroft: Elektro-
lytische Läuterung des Kupfers. — Bücherbesprechungen: i) Karl A. v. Zittel: Grundzüge der Paläontologie
(Paläozoologie), 2) Dr. Gustav Steinmann: Einführung in die Paläontologie, 3) Dr. Hippolyt Haas: Katechis-
mus der Versteinerungskunde. — l) Dr. L. Rellstab: Die elektrische Telegraphie, 2) Dr. Nippoldt jun. : Erdmag-
netismus, Erdstrom und Polarlicht. — Dr. P. Ferc bland: Grundriß der reinen und angewandten Elektrochemie. —
Dr. phil. F. W. Neger: Die Handelspflanzen Deutschlands, ihre Verbreitung, wirtschaftliche Bedeutung und technische
Verwendung. . — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortliclicr Redakteur: Prof. Dr. H. Potonic, Grofs-Lichterfeldc-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr,), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „O^^ JNa.tUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoniö und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-^^'est bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Baad;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 20. Dezember 1903.
Nr. 12.
Abonnement : Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. e.\tra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten.]
Über die Symbiose von Pflanzenwurzeln mit Pilzen.
Ein Sammelreferat mit kritischen Bemerkungen
Unter gleichem Titel wie der obige hat der
verstorbene Professor A. B. F r a n k 1 888 im zweiten
Bande dieser Zeitschrift einen Aufsatz veröffent-
licht. Drei Jahre vorher meinte er, nachgewiesen
zu haben, „daß ganz allgemein die Wurzeln unserer
Waldbäume eine wesentlich andere Organisation
als die gewöhnlichen Wurzeln der anderen Pflanzen
hätten, indem sie regelmäßig mit einem Pilz ver-
gesellschaftet sind, welcher wie ein lückenloser
Mantel die ganze Oberfläche der Saugwurzel bis
zu deren Spitze nicht nur überzieht, sondern dabei
auch in fester organischer Verwachsung mit der
Wurzel sich befindet." Dem aus Pilz und Wurzel
zusammengesetzten Gebilde hatte er den Namen
Mykorhiza gegeben, die er in dem eben be-
schriebenen F"alle als eine ektotrophische be-
zeichnete. Außerdem hatte er aber auch im ganzen
Umfange der Ericaceenfamilie eine endotro-
phische Mykorhiza kennen gelehrt, bei welcher
Pilze innerhalb der Epidermiszellen leben, ein Fall,
der in ähnlicher Weise bereits früher bei Orchi-
deen bekannt geworden war.
Da Frank beobachtet hatte, daß die My-
korhizapilze der Bäume nicht bloß an den Wurzeln
Prof. Dr. F. Kienitz-Gerloff in Weilburg a. d. Lahn.
haften, sondern von diesen aus in den Boden ein-
dringen um dort mit den pflanzlichen Trümmern
in Verbindung zu treten, und da eine völlig chloro-
phyllose Pflanze unserer Wälder, der Fichten-
spargel (Monotropa Hypopitys), wie schon Ka-
mienski nachgewiesen hatte, eine ganz eben-
solche Bildung zeigt, so glaubte Frank, den
physiologischen Nutzen der M_\-korhiza in allen
Fällen darin erblicken zu sollen, daß der Pilz der
höheren Pflanze die organischen, kohlenstoffhaltigen
Bestandteile des Humus nutzbar mache. Damit
wäre dann eine direkte Verwertung des letzteren
bei der Ernährung der Bäume gegeben gewesen,
und die alte Humustheorie wäre in einem neuen,
früher nicht geahnten Sinne für die Waldbäume,
soweit sie Mykorhizen haben, wieder zur Gültigkeit
gelangt. Sehr wesentlich in seiner Auffassung
wurde Frank bestärkt durch den Ausfall von Ver-
suchen, bei denen Buchenkeimpflanzen im Topfe
in Humusboden erzogen wurden und zwar die eine
Hälfte in unverändertem, die andere in solchem,
wo vorher durch mehrstündigen Aufenthalt im
Dampfsterilisierungsapparate alle Pilzkeime zer-
stört worden waren. Denn während die Pflanzen
178
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 12
der ersten Hälfte Mykorhizen bildeten und sich
üppig entwickelten, hatten die der zweiten nor-
male, mit Wurzelhaaren versehene Wurzeln ge-
bildet, gingen aber im zweiten Jahre der Kultur
allmählich zu Grunde.
Den Pilzen der endotrophen Mj-korhiza schrieb
Frank ursprünglich denselben Wert für die höheren
Pflanzen zu wie denen der ektotrophen, äußerte
aber später (1891) die Vermutung, daß hier die
Pilze ihre Eiweißstoffe an die sie beherbergende
Pflanze abgäben, und bezeichnete letztere als pilz-
verdauend.
In einer Anzahl seitdem erschienener Abhand-
lungen über das gleiche Thema sind dann noch
verschiedene andere H)-pothesen betreffs der Be-
deutung der Mykorhiza geäußert worden. Auf
der einen Seite meinte man sie darin zu finden,
daß die Pilze, abweichend von den grünen Ge-
wächsen, imstande seien, auch ohne Mitwirkung
des Lichtes die aus dem Boden aufgenommenen
anorganischen Salze, speziell Stickstoffverbindungen,
zu Proteinstoffen zu verarbeiten. Von anderer
Seite wurde den Pilzen der endotrophen My-
korhiza die Fähigkeit zugeschrieben, den freien
Stickstoff der atmosphärischen Luft zu fixieren.
Endlich hat man auch die Pilze nur als unschäd-
liche Schmarotzer angesehen, ihnen aber keinen
Nutzen für die bewohnten Pflanzen beigemessen.
Die letztvergangenen Jahre haben wiederum
einige Arbeiten gezeitigt, die sich mit diesem
Thema beschäftigen und über die hier berichtet
werden soll, zumal besonders eine von ihnen die
ganze Frage in ein vollständig neues Licht zu
setzen bestrebt ist. Sie rührt von E. Stahl in
Jena her, der dadurch seinen vielen Verdiensten
um die Aufklärung namentlich ökologischer Ver-
hältnisse ein neues hinzugefügt hat.^)
Zunächst suchte Stahl die Verbreitung der
Mykorhizensymbiose zu bestimmen, die ja nach
den ersten Arbeiten Franks, wenn auch für ge-
wisse biologische Gruppen charakteristisch, doch
nur ein beschränktes Vorkommen im Pflanzenreich
zu zeigen schien. Freilich hatten schon Arbeiten
von Schlicht und Janse gelehrt, daß die Er-
scheinung sowohl in Europa, als auch in den Tropen
sehr viel verbreiteter sei , als man ursprünglich
annahm, denn Schlicht hatte von 105 in Nord-
deutschland gesammelten Arten nicht weniger als
70, Janse in Westjava von 75 untersuchten Arten
69 mindestens gelegentlich verpilzt gefunden. Stahl
kommt zu dem Schluß, daß die Mykorhizen führen-
den Gefäßpflanzen mindestens ebenso zahlreich,
wenn nicht gar zahlreicher sind als diejenigen,
welche dieser Bildungen entbehren. Und zwar
finden sich besonders endotrophe Mykorhizen weit
häufiger, als man geglaubt hatte, z. B. bei Koni-
feren, bei den Geisblattarten, vielen anderen Laub-
hölzern und einer sehr großen Zahl von kraut-
artigen Pflanzen. Spärlich verpilzt zeigten sich
') Der Sinn der Mykorhizenbildung. Eine vergleicliend
biologische Studie. Jabrb. f. wissensch. Botanik. Bd. XXXIV.
H. 4. 1900.
von den Holzgewächsen die Eschen, Ulmen, Weiden,
Pappeln und Birken, stets vollkommen pilzfrei
Holunder, Tulpen-, Walnuß-, Götter- und Essig-
baum, sowie einige Sträucher, von Krautgewächsen
außer mehreren anderen alle Cruciferen, Cype-
raceen, Poljpodiaceen und Equisetaceen. Der Ein-
fluß des Standortes machte sich insofern geltend,
als die Mykorhizenpflanzen am reichlichsten auf
humusreichem Boden vertreten sind und mit ab-
nehmendem Humusgehalt zurücktreten, wenn auch
nie bis zum vollständigen Schwinden, daß ferner
Pflanzen, welche auf unkultivierten Böden in der
Regel verpilzte Wurzeln führen, auf kultiviertem
den Pilz entweder gar nicht oder nur vereinzelt
beherbergen und trotzdem gut gedeihen. Dem-
nach unterscheidet Sta hl zwischen obligaten und
fakultativen Mykorhizenpflanzen einer- und my-
korhizenfreien Gewächsen andererseits.
Daß eine chlorophyllarme oder, wie der Fichten-
spargel, gänzlich chloro])hyllfreie Pflanze, welche
nicht Schmarotzer ist, sich von den organischen
Bestandteilen des Humus nährt, ja auf diese allein
angewiesen ist und in ihrem Nahrungserwerb
möglicherweise durch die Pilze unterstützt wird,
leuchtet ohne weiteres ein; schwer begreiflich ist
es hingegen, weshalb chlorophyllreiche und zur
Kohlenstoffassimilation wohl befähigte Gewächse
nicht ohne diese Humuskörper sollten gedeihen
können. Die vorher aufgeführten Standortsverhält-
nisse, insbesondere das Zurücktreten der Verpilzung
auf nährsalzreichem Boden führten Stahl daher
auf den Gedanken, „daß die Mykorhizen-
bildung wahrscheinlich mit der er-
schwerten N äh rsal zge vvin n u ng in irgend
einem näheren Zusammenhang stehen
m öchte."
Es fragte sich also, ob diese Vermutung in
anderen Umständen als in den Standortsverhält-
nissen Stützen findet.
Zunächst ist die Versorgung der Pflanzen mit
Salzen abhängig von ihrer mehr oder weniger
reichlichen VVasserdurchströmung. Kennzeichen
einer solchen sind aber einerseits die Ausscheidung
flüssigen Wassers, welche stets auch mit reich-
licher Verdunstung gepaart ist , so daß wasser-
ausscheidende Pflanzen, abgeschnitten, in kurzer
Zeit verwelken und verdorren. Andererseits sind
die von Wasser stark durchströmten Gewächse
meist auch dadurch von den übrigen unterschieden,
daß sie bei der Assimilation des Kohlenstoffs er-
hebliche Stärkemengen in ihren Chlorophyllkörnern
speichern, daß sie „Stärkeblätter" besitzen oder
„amylophyll" sind, während anderweitig lösliches
Kohlehydrat, vor allem Zucker angesammelt wird,
so daß man von „saccharophyllen" Pflanzen mit
„Zuckerblättern" sprechen kann. Bei ersteren wird
infolge der Unlöslichkeit der Stärke und der Ab-
nahme der Zellsaftkonzentration die Verdunstung
gesteigert, bei letzteren durch die Zunahme ge-
löster Stoffe erschwert sein. In der Tat haben
frühere Untersuchungen das Bestehen eines der-
artigen Zusammenhanges bestätigt.
N. R III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
179
Die Vergleichung der mylvorhizenführenden und
mykorhizenfreien Pflanzen hinsichtlich aller dieser
Verhältnisse schien nun zu ergeben, daß jene in
der Tat im allgemeinen eine geringe, diese eine
starke Wasserdurchströmung besitzen, und eine An-
zahl von Ausnahmen ließ sich unter Berücksichti-
gung der Nebenumstände mit Stahl's Annahme
ziemlich gut in Einklang setzen. So gehören bei-
spielsweise die Esche und die Birke, welche, auf
das Laubtrockengewicht bezogen, am stärksten
von allen Laubbäumen verdunsten, zu denjenigen,
die nur gelegentlich Wurzelverpilzung zeigen,
während sie sich bei den übrigen Arten in der
Regel vorfindet, und andererseits haben die stets
mykorhizenfrei gefundenen Holzgewächse, wie
Weiden, Holunder u. a. ein sehr bedeutendes
Wasserbedürfnis. Die gegen Trockenheit sehr
empfindlichen Orchisarten zeigen niemals Wasser-
ausscheidung, haben oberflächliche Wurzeln, häufig
selbst an schattigen und feuchten Stellen den sonst
an solchen Orten ungewöhnlichen Blattglanz, welcher
die Transpiration einschränkt, und besitzen Zucker-
blätter. Ihre Wurzeln sind verpilzt. Das stark
verdunstende Cypripedium hingegen scheidet Wasser
aus, besitzt lange, tiefgehende Wurzeln, keinen
Blattglanz, Stärkeblätter und ist oft völlig frei von
Pilzen.
Indem sich Stahl nun fragt, wie es kommt,
daß besonders auf humusreichem Boden, in welchem
die Nährsalze gut absorbiert werden , die Ver-
pilzung so häufig ist, und welches seine Eigen-
schaften sein möchten, die den grünen Pflanzen
mit unverpilzten Wurzeln den Kampf ums Dasein
erschweren, kommt er zu dem Ergebnis, daß es
die den Humus durchsetzenden, zahllosen Pilz-
mycelien sind, welche namentlich bei der Bildung
ihrer Fruchtkörper und Sporen mit den grünen
Pflanzen in Wettbewerb um die Nährsalze treten.
Hiernach „könnten die an humusreiches Substrat
gebundenen obligaten Mykorhizenpflanzen bei ihrer
geringen Wasserdurchströmung aus eigenen Kräften
den Kampf um die Nährsalze mit den Pilzen und
anderen stark transpirierenden Gewächsen nicht be-
stehen ; sie haben es aber verstanden, sich gewisse
Pilze tributär zu machen, welche sie des selb-
ständigen Nährsalzerwerbes mehr oder weniger ent-
heben, indem sie von ihnen schon weiter ver-
arbeitete organische Verbindungen empfangen."
Eine experimentelle Prüfung stellte Stahl auf
die Weise an, daß er Exemplare von weißem
Senf, von Gartenkresse, Weizen und Flachs, Pflanzen,
welche mit Ausnahme der letztgenannten keine
Mykorhizen bilden, teils in unverändertem, teils
in solchem Buchenwaldhumus zog, der durch
Dämpfe von Äther und Chloroform sterilisiert
worden war. Die ersteren blieben in ihrer Ent-
wicklung beträchtlich hinter den letzteren zurück,
• konnten aber durch Begießen mit K n o p ' scher
Nährlösung leicht gekräftigt werden. Dabei zeigten
sie viel längere Wurzeln, eine Erscheinung, die
man auch sonst beobachtet, wenn man Pflanzen
in salzarmem oder salzfreiem Wasser erzieht. Gleich-
zeitig ergab sich aber auch aus dem schon mit
bloßem Auge erkennbaren, üppigen Wachstum der
Pilzmycelien in den begossenen Töpfen, wie gierig
diese die ihnen zugänglichen Salze ausnutzten.
Diese Versuchsergebnisse, sagt Stahl, „bilden
ein beachtenswertes Gegenstück zu den Frank-
schen Kulturen mit Fagus- und Pin\is-Keimpflanzen.
Während Frank diesen mykotrophen Holzge-
wächsen durch Sterilisierung des Humus, wobei
nicht nur die antagonistischen, sondern auch die
symbiontischen Pilze beseitigt wurden, das Ge-
deihen erschwerte, wirkte auf unsere autotrophen
Versuchspflanzen die Entfernung oder doch Zurück-
drängung der Pilzmycelien in eminent fördernder
Weise. Die stark transpirierenden autotrophen
Gewächse finden nämlich in den Pilzmycelien bloß
Konkurrenten, während die mykotrophen Pflanzen
es verstehen, sich gewisse Pilze tributär zu machen,
und so imstande sind, den Kampf mit den den
Boden erschöpfenden Mycelien erfolgreich zu be-
bestehen."
Eine weitere Bestätigung seiner Ansicht meint
Stahl noch in einigen anderen Umständen zu
finden. Erstens darin, daß keine obligate Myko-
rhizenpflanze nitratführend gefunden wird, selbst
wenn auf demselben Boden wurzelnde mykorhizen-
freie Gewächse oft reichlich damit versehen sind,
insofern nämlich bei ersteren die Verarbeitung der
Nitrate bereits in den Pilzen vor sich geht. Zweitens
auch darin, daß ihr Aschengehalt im Vergleich zu
den autotrophen Gewächsen verhältnismäßig gering
ist, weil die notwendigen mineralischen Substanzen
von ihnen ganz oder doch zum großen Teil in
Gestalt von organischen Verbindungen aufge-
nommen werden, während die Autotrophen gleich-
zeitig mit den notwendigen nicht unerhebliche
Mengen entbehrlicher Salze aufzunehmen gezwungen
sind. Dies tritt auch darin hervor, daß die myko-
trophen Gewächse, falls nicht etwa besondere Ver-
hältnisse vorliegen, im allgemeinen arm sind an
Kalkoxalat, welches ja diejenige Form zu sein
pflegt, in der der überschüssig aufgenommene Kalk
in den Pflanzen abgelagert wird.
Besonderes Interesse verdient der vorletzte Ab-
schnitt von Stahl's Arbeit, in dem er die Mj-ko-
rhizenpflanzen mit den Fleisch verdauenden und
schmarotzenden vergleicht. Er sucht darin die
Frage zu beantworten, auf welche Weise etwa „im
Laufe der Zeit aus autotrophen Pflanzen, die mit
ihren Wurzeln Wasser und Nährsalze aufnahmen
und unter dem Einfluß des Lichtes in den Blättern
organische Verbindungen erzeugten, unselbständige
Wesen werden konnten."
Wollte man Schwächung oder Verlust der
Kohlenstoffassimilation als das primäre ansehen,
so hätte, meint er, dieser Vorgang nur in licht-
armer Umgebung eintreten können. Die Folge
wäre dann mangelhafte Ausbildung der Assimila-
tionsorgane gewesen, diese hätte wieder die Ent-
wicklung eines kräftigen Wurzelsystems, damit
auch jede Möglichkeit einer lebhaften Wasser-
durchströmung verhindert und so den Nährsalz-
i8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
erwerb beschränkt. Diese Annahme ist Stahl
unwahrscheinlich, nach seiner Meinung ist „die
zuerst nur partielle Aneignung der Nährsalze mit
fremder Hilfe der erste Schritt gewesen auf einer
Bahn, die in manchen Fällen (Orobancheen, Balano-
phoreen, Rafflesiaceen, Monotropa) zur gänzlichen
Unselbständigkeit der Ernährung geführt hat." Be-
züglich der Mykotrophen weist er dabei auf die
Orchideen und Gentianeen hin, bei denen es
zwischen den völlig selbständigen und den gänz-
lich saprophytischen Arten mannigfaltige Uber-
gangsstufen gibt. F"erner auf die grünen Wurzel-
schmarotzer unter den Rhinanthaceen und die
Mistel, deren Natur als Nährsalzparasiten entweder
sicher nachgewiesen oder im höchsten Grade
wahrscheinlich ist, die nur schwach entwickelte
Wurzeln besitzen und besonders auf Wirtspflanzen
mit starker Wasserdurchströmung gedeihen, und
endlich auf die fleisch verdauenden Gewächse, welche
sich bekanntlich in der Regel auf nährsalzarmer
Unterlage befinden und die aus den gefangenen
Tieren wahrscheinlich nicht nur ihren Bedarf an
Stickstoffverbindungen, sondern auch an anderen
wichtigen mineralischen Nährstoffen decken, nament-
lich an Kali und Phosphorsäure.
Da Insektivore und Parasiten niemals Myko-
rhizenbildung zeigen, so würde also nach Stahl
der Nährsalzerwerb nicht autotropher grüner Pflan-
zen auf dreierlei Weise zustande kommen : ent-
weder durch Vergesellschaftung mit Pilzen oder
durch Insektenverdauung oder drittens durch
Schmarotzertum.
Betrachten wir nun die Ergebnisse der anderen
Forscher, welche sich in allerletzter Zeit mit der
Mykorhizenfrage beschäftigt haben, zunächst die
von Werner Magn us, dem Japaner Shibata und
diejenigen von H i 1 1 n e r und Tubeuf. Magnus
untersuchte besonders Orchideen und zwar in
erster Linie Neottia Nidus avis,\) Shibata die
Konifere Podocarpus (chinensis und Nageia) und
die Lycopodiacee Psilotum, außerdem Erle und
Gagel (Myrica rubra)-), und auch Hiltner's Unter-
suchungen beziehen sich auf3er auf die Ölweide
(Elaeagnus) auf die Erle und Podocarpus.*)
Hatte man bisher für die fast chlorophyllfreie
Neottia mit einiger Sicherheit annehmen zu können
gemeint, daß ihr die Hauptmenge ihrer Kohlen-
stoffverbindungen mit Hilfe des Wurzelpilzes aus
dem Humus, auf dem sie ja ausschließlich gedeiht,
zugeführt werde, so kommt Magnus zu einer
ganz anderen Ansicht und zwar deshalb, weil der
wurzelbewohnende Pilz bei ihr, sowie bei anderen
Orchideen fast ganz in das Innere der Wurzel ein-
geschlossen ist und nur sehr wenige und unregel-
mäßige Verbindungen nach außen besitzt. Bei
Neottia findet er sich ausschließlich in der dritten
bis fünften Zellschicht von außen, und es lassen
sich hier deutlich zweierlei Arten von Zellen unter-
scheiden, die bei den übrigen Orchideen noch
wenig, bei Neottia aber ganz scharf gesondert sind.
In den Zellen der mittleren Schicht (der vierten
von außen) bildet der Pilz nämlich dickwandige,
von Zweigen ringförmig umsponnene und dadurch
') Studien an der endotrophen Mykorhiza von Neottia
Nidus avis. Jalirb. f. wissensch. Botanik. Bd. XXXV H. 2 igoo.
'■') Cytologische Studien über die endotrophen Myko-
rhizen. Jalirb. f. wissensch. Botanik. Bd. XXXVIl H. 4 igo2.
") Naturwissenschaftliche Zeitschrift für Land- und Forst-
wirtschaft. H. I 1903.
Fig. I. Neottia. Wurzelquerschnitt. V Verdauungszellen, P Pilz-
wirtszellen, 50: I. Nach W. Magnus.
Fig. 2. Neottia. Pilzwirtszelle,
Nach \V. iSIagnus.
Fig. 2 a. Neottia. Rin-
denhyphe in Entste-
hung, 1000 : I. Nach
W. Magnus.
Fig. 3. Neottia. Verdauungszellc,
jung, 333; 1. Nach W. Magnus.
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
187
gewissermaßen umrindete Hyphen, welche ihrer-
seits wieder dünnwandige, die ganze Zelle durch-
setzende Haustorienh\-phen entsenden, die zum
Nahrungserwerb wohl geeignet erscheinen (Fig. I
bis 3). Beim Absterben der Wurzel bleiben erstere
am Leben und sind dazu bestimmt, den Pilz außer-
halb der Pflanze zu überwintern. Magnus nennt
■daher die betr. Zellen „Pilz wi rtsze 11 en". In
den Zellen der beiden anderen Schichten zeigt der
Pilz deutliche Desorganisationserscheinungen. Dies
sind die „Pilz ve rdau u ngszell e n". Hier wird
er von seinem ersten Eindringen an durch das
Zellplasma geschädigt. Gerade dadurch , daß
letzteres einen üppigen Nährboden darstellt, kommt
der Pilz nicht mehr dazu, eine starke Membran zu
entwickeln, er bildet dünnwandige, plasmareiche
Hyphen , welche in dichtem Knäuel die ganze
Zelle durchwachsen (Fig. 3), teilweise Eiweiß
speichern, dann aber durch das Wurzelplasma
getötet und als Nahrung verwendet werden, so
daß nur noch ihre unverdauliciien Bestandteile als
zusammengedrückte, klumpenförmige Reste in der
der Orchideen erinnert also in vielen Punkten an
die Bakteriensymbiose der Leguminosen.
Ganz ähnliche Sonderung in Wirts- und Ver-
dauungszellen, dort mit dicken, braunen , niemals
entartenden, hier mit feinen, sehr schnell degene-
rierenden H_\-phen meint Magnus auch bei der
Heidelbeere und dem Heidekraut beobachtet zu
haben.
Die von Shibata untersuchten Pflanzen be-
sitzen alle reichlich Chlorophyll, so daß sie zur
Kohlenstoftassimilation wohl befähigt sind. Die
feineren Wurzeln der Podocarpus - .Arten sind in
zwei Reihen reichlich besetzt mit kugeligen Knöll-
chen von 0,5 bis i mm Durchmesser, in deren
Rindeiiparenchjmi der Pilz fast ausschließlich vor-
kommt, während die äußersten Zellschichten meist
keine oder nur spärliche, derbe Pilzfäden von sehr
dicker Wandung beherbergen. Bei dem wurzel-
losen Psilotum bewohnt der Pilz fast jede Rinden-
zelle bis zur Nähe des Meristems der wachsenden
Rhizomspitze. Auch bei diesen beiden Pflanzen
besitzen die Pilzmycelien nach außen nur sehr wenige
Fig. 4. Podocarpus.
Von Pilzmyccl erfüllte
Nach Shibala.
KnöUchenzelle, 780: I.
Fig. !^. Psiloluni. Verdauungs-
zclle mit beginnender Klumpen-
bildung, 426: I. Kl Klumpen,
K Kern. Nach Shibata.
Zelle Übrig bleiben und schließlich von einem
Schmarotzerpilz als dritten Kommensualen auf-
gezehrt werden.')
So stellt sich nach Magnus die S}'mbiose bei
Neottia und, abgesehen von der unvollkommeneren
Sonderung, wohl auch bei den übrigen Orchideen,
dar, einerseits als ein Kampf zwischen Pilz und
höherer Pflanze, der andererseits wieder beiden
Symbionten zum Nutzen gereicht , der höheren
Pflanze in den Verdauungszellen, die ihr in dem
substanzreichen Pilz Nahrung liefern, dem Pilz in
den Wirtszellen, wo er schmarotzend wächst und
Uberwinterungsorgane bildet. Die Pilzsymbiose
*) Bei der Nachuntersuchung finde ich die Sonderung in
Wirts- und Verdauungszellen nicht ganz so scharf wie Magnus
angibt. Erstere kommen auch in der dritten Schicht vor,
ohne daÜ ihnen auüen Verdauungszellen anliegen.
Verbindungen, so daß die Stoffaufnahme ausschließ-
lich von der Wirtspflanze besorgt werden muß.
Während nun in den Knöllchen von Podo-
carpus die reichlich entwickelten Mycelien des
endophytischen Pilzes unter eigentümlichen .-\nde-
derungen der Wirtszellkerne auf einmal von den
Wirtszellen verdaut und resorbiert werden, wobei
nicht nur der plasmatische Inhalt des Pilzes, sondern
auch seine aus Chitin bestehende Hautsubstanz
dem Wirte zugute kommt, lassen sich bei Psi-
lotum wiederum Wirts- und Verdauungszellen unter-
scheiden, die jedoch hier regellos nebeneinander
vorkommen. Auch hier erleidet der Kern der
letzteren Änderungen, die Hautsubstanz des Pilzes
bleibt aber nach der Verdauung unversehrt zurück
und wird zu einem Klumpen zusammengeballt
(Fig- 4, 5).
I»2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
Auch bei der Erle und Gagel, wo der Infek-
tionsorganismus gleichfalls im Rindenparenchym
gedeiht, ohne nach außen hervorzutreten, wird er
von dem Protoplasma der bewohnten Zellen verdaut.
Der von früheren Forschern für einen Faden-
pilz gehaltene Erreger der ErlenknöUchen wird
m.
Fig. 6 a— c. ErlenknöUchen. a erstes Stadium der ,,Spo-
rangien"-Bildung, b .späteres Stadium, c ausgebildete in Tcil-
stücke zerfallene „Sporangien" ^'""' , nach Shibata ; d Bak-
teroiden von der Wicke, e ebensolche von der Lupine '■'°",,.
von Shibata und Miltner als ein bakterien-
artiger Organismus angesprochen. Ersterer glaubt,
das Anfangsstadium der Infektion dicht unter dem
Teilungsgewebe der Wurzeln beobachtet zu haben,
wo er einzelne in die Zellen eindringende und
deren Leiber durchwachsende, äußerst feine, haut-
lose, stellenweise verzweigte Fäden wahrnahm, die
sehr oft in verschieden lange, gerade oder ge-
krümmte Stäbchen zerfielen. Im Verlauf der
Fäden treten stark färbbare, rundliche und sich
allmählich vergrößernde Knötchen auf. Die Zell-
kerne nehmen zu Anfang der Infektion bedeutend
an Umfang zu, Stärkekörner verschwinden, und
neben dem Kern findet sich ein großer, dichter,
mit dem wandständigen Plasma durch dünne Fäden
verbundener Plasmaklumpen, der kleine, tropfen-
artige Gebilde, die „Sekretkörperchen", umschließt.
Diese vermehren sich, während die Pilzfäden zu
dichteren Knäueln heranwachsen, häufig in kurze
Stäbchen zerfallen und an der Peripherie zahl-
reiche, kugelige Gebilde entwickeln, die man schon
flüher kannte und Sporangien genannt hat, da
man ihnen eine Haut zuschrieb und da ihr Inhalt
in zahlreiche eckige, als Sporen gedeutete Teil-
stücke zerfällt (Fig. 6 a — c). Sie und das Faden-
gewebe verschwinden endlich und werden ver-
daut, wobei die „Sporen" sich etwas hartnäckiger
erweisen. .Shibata streitet ihnen die Sporen-
natur ab und hält sie für identisch mit den so-
genannten Bakteroiden der Leguminosenknöllchen
(Fig. 6d).
Im Gegensatz hierzu erfolgt nach H i 1 1 n e r die
Infektion der Wurzeln genau wie bei den Legumi-
nosen durch die Wurzelhaare, die sich dabei ab-
norm umformen (Fig. 7) und später verschwinden,
worauf an den Wurzeln Schwielen als erste An-
deutung der Knöllchen entstehen. Er hält die
Bläschen des Erlenorganismus auch jetzt noch für
Sporangien, ihre Inhaltskörper für Sporen und
schreibt gleiche Natur auch kleinen, stark auf
Eiweiß reagierenden Körperchen zu, die innerhalb
der Schleimfäden auftreten.
Bei der physiologischen Deutungderbetreft'enden
Bildungen geht Hiltner von den Leguminosen-
knöllchen aus. Der heute allgemein angenommenen
Auffassung, wonach die Leguminosen die Bakterien
einfangen und ihnen in den Knöllchen eine Brut-
stätte bereiten, um die von ihnen erzeugten Assimi-
lationsprodukte des Stickstoffs auszubeuten, wider-
spricht Hiltner, ja er hält selbst die von allen'
anderen Forschern geteilte Meinung, daß die Bak-
teroiden Involutionsformen, d. h. krankhafte Bil-
dungen seien, entstanden unter dem Angriff des
Leguminosenplasmas und später von diesem zum
Zweck der Stickstoffaneignung zerstört, für falsch.
Nach ihm stehen die Erlen- und Leguminosen-
pflanzen gegen die für sie giftigen Bakterien im
Kampf, dessen Ausgang von dem Ernährungs-
zustande jener, der Virulenz dieser abhängt. Ge-
lingt es der höheren Pflanze zu siegen, den Knöll-
chenerreger zu resorbieren, ,,so unterbleibt jede
Stickstoffassimilation, die Pflanze nimmt dem Para-
siten dann nur jenes an sich nicht große Stick-
stoft'kapital wieder ab, das sie ihni vorher aus ihrer
eigenen Leibessubstanz zugeführt hatte." — ,,In
normalen, stickstoffsammelnden Knöllchen, die nicht
durch mangelhaft angepaßte und infolgedessen für
die betreffende Pflanzenart wenig virulente Bak-
terien entstanden sind, fällt jedenfalls ein Teil der
eingewanderten und im Wurzelgewebe zur Ver-
mehrung gelangten Bakterien den Pflanzen zum
Opfer; aber die Stickstoftassimilation innerhalb der
Knöllchen ist gerade darauf zurückzuführen, daß
sich die Bakterien vor der resorbierenden Wir-
kung der Pflanze zu schützen wissen, indem sie
das ihnen von der Pflanze durch deren Enzx'me
Fig. 7. Eindringen des Schmarotzers in die Wurzelhaare der
Erle und plasmodienartiges Wachstum innerhalb der Wurzel-
zollen. Nacli Hiltner.
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
183
entzogene Eiweiß durcli Stickstoffsanimlung immer
wieder zu ersetzen imstande sind. Das weitaus
wichtigste physiologische Moment, das sich uns
beim näheren Studium der Knöllchenvorgänge
offenbart, ist nicht in der völligen Resorption der
Bakteroi'den gegeben, wie Frank meinte, sondern
darin, daß diese Bakteroiden Mittel und Wege
finden, sich durch Stickstoffassimilation vor dieser
Resorption zu schützen."
Die Bakteroiden nun hält H i 1 1 n e r für Spo-
rangien, welche von den Bakterien als Schutz-
mittel gegen die Einwirkung des Zellplasmas ge-
bildet werden, und er meint nachgewiesen zu
haben, daß sie in traubenzuckerhaltigen Lösungen
in s[)orenartige, wieder zu Stäbchen auswachsende
Teilstücke zerfallen.') ,, Die Pflanze resorbiert, nach-
dem zwischen ihr und den Bakterien ein Gleich-
gewichtszustand hergestellt ist, nicht diese selbst,
bzw. die aus ihnen hervorgegangenen Bakteroi'den,
sondern nur Teile von ihnen, die sich durch hohen
Eiweißgehalt auszeichnen."
Es gelang H i 1 1 n e r ferner , Bakterien von
solcher Virulenz für die Erbsenpflanze zu erlangen,
daß sie der Einwirkung der VVurzelzellen auch
ohne Bakteroi'denbildung zu widerstehen ver-
mochten. ,,In stickstoffarmen Medien wachsende
Erbsenpflanzen werden durch solche hochvirulente
Bakterien nicht zur Stickstoflsammlung angeregt,
sondern im Gegenteil nicht unbeträchtlich ge-
schädigt, so daß sie eine erheblich geringere Ernte-
masse ergaben, als die Vergleichspflanzen."
Auch von den Erlenknöllchen meint H i 1 1 n e r
den Beweis erbracht zu haben, daß in ihnen Stick-
stoffassimilation stattfindet. Das Endschicksal der
Erlenorganismen kann daher auch nicht das sein,
resorbiert zu werden und S h i b a t a ' s Befund muß
sich auf solche KnöUchen beziehen, welche keinen
Stickstoff sammelten, weil sie höchst wahrschein-
lich von Pflanzen stammten, die in zu stickstoff-
reichem Boden wuchsen. In den von H i 1 1 n e r
gezogenen Knöllchen ging hingegen Stickstoff-
assimilation vor sich, und hier spielen sich denn
dieselben Vorgänge wie in den Leguminosen-
knöllchen ab, d. h. also, es werden nicht die
Knöllchenerreger verdaut, sondern nur Teile von
ihnen, die immer wieder ersetzt werden. Die
Erlenbakterien bilden die sogenannten Sporangien,
die allerdings eigentlich nur nuklei'nreiche, in ver-
schieden große Teile zerfallende Plasmamassen sind.
Aber diese Teile sind wirkliche Sporen, welche
vermutlich von Zelle zu Zelle wandern,-) wenn sie
nicht sofort zu Stäbchen und Fäden auswachsen.
Was für die Erle, das soll in allem wesent-
lichen auch für Podocarpus gelten, dessen Pilz in
den Knöllchen an seinen Fäden seitlich ansitzend
überaus eiweißreiche Gebilde entwickelt. Letztere
sind es, die zu Sporangien werden sollen und unter
') Diese Auffassung der Bakteroiden durfte wohl wenig
Anklang finden, da sie mit den Befunden über die Sporen-
bildung bei anderen Bakterien in vollem Widerspruch stehen.
^) In welcher Weise dies ,, Sporen" fertig bringen sollen,
ist m. E. nicht einzusehen.
Umständen auch können, meistenteils aber vor
ihrer vollen Ausbildung verdaut werden.
Tubeuf ^) stimmt mit Miltner bezüglich der
endotrophen Mykorhiza darin überein, daß auch
er ihr die Fähigkeit zur Assimilation des Luft-
Stickstoffs zuschreibt, während er eine Ausnutzung
des Substrats durch sie deshalb für unmöglich hält,
weil kein Zusammenhang besteht zwischen den
Pilzfäden im Pflanzeninnern und jenen im Substrat.
Er macht aber darauf aufmerksam, daß die endo-
trophen Mykorhizapilze wahrscheinlich auch außer-
halb der Wurzeln Stickstoff aus der Luft aufnehmen
können und den Boden dadurch an Stickstoff be-
reichern.
Sind also nach dem V^orst eh enden bezüglich
der endotrophen Mykorhiza der zuletzt genannten
Pflanzen noch zahlreiche Meinungsverschiedenheiten
vorhanden und Streitfragen zu erledigen, so gilt
dies in erhöhtem Maße hinsichtlich der übrigen
Mykorhizen.
V^on diesen wollen wir vorläufig diejenigen der
Kiefer ausscheiden , da dieser Baum nach zwei
Veröffentlichungen von A. Möller'-) eine Sonder-
stellung einzunehmen scheint. Möller wies experi-
mentell nach, daß an der Kiefer im märkischen
Sandboden die ektotrophe M\korhiza gerade in
humusarmen und humusfreien Böden auftritt, im
Humusboden hingegen fehlt. In diesem sind die
Wurzeln lang und reich verzweigt, von der Basis
nach der Spitze an Länge regelmäßig abnehmend.
Die ektotrophen M}-korhizen sind hier Wurzeln,
welche durch Pilzinvasion an ihrer normalen Ent-
wicklung gehindert sind. Dementsprechend
wächst die Kiefer auch am besten auf Humus-
boden, vor allem in der obersten , als Rohhumus
bezeichneten, torfig -faserigen Schicht, mit noch
deutlich erkennbarer Pflanzenstruktur. Dies soll
sich dadurch erklären, daß dieser Boden, vor Aus-
trocknung geschützt, der Kiefer bessere Stickstoff-
nahrung bietet als jede andere Schicht, wobei
allerdings fraglich ob, ja sogar unwahrscheinlich ist,
daß bei dem Stickstoffbezug die Mykorhiza eine
Rolle spielt. Schlechter wächst der Baum im
Sandboden, besonders in de.ssen nährstoffreichster
unterster Schicht, dem Gelbsand, während der
durch die Atmosphärilien ausgelaugte Bleisand
bessere Resultate ergab. Die Kiefernwurzel sucht
daher auch den letzteren auf. Die Hauptwurzel
und die Spitzen der Hauptseitenwurzeln werden
übrigens hier nie zu M_\'korhizen. Auch eine endo-
trophe Mykorhiza fand Möller bei diesem Baum
allgemein verbreitet, er schreibt ihr aber bei der
Ernährung ebenfalls keine Rolle zu, da sie keine
Verbindung mit dem Boden besitzt und außerdem
in allen Böden vorkommt.
^) Naturwissenschaftliche Zeitschrift für Land- und Forst-
wirtschaft. H. 2 1903.
*) Über die Wurzelbilduog der ein- und mehrjährigen
Kiefer im märkischen Sandboden. Keitschr. f. Forst- und
Jagdwesen. 1902. S. 197. Untersuchungen über ein- und
zweijährige Kiefern im märkischen Sandl.H.)den. Ebenda. 1903.
H. 5-
i84
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 12
Was nun die Mykorhiza der übrigen Pflanzen
anbelangt, so will es mir als ein Fehler erscheinen,
daß die älteren Bearbeiter der Frage die physiologi-
sche Deutung der M)'korhiza immer nur von einem
einzigen Gesichtspunkt aus gesucht und diesen
dann oft auf alle doch recht ungleichartigen Fälle
ausgedehnt haben. Das gilt auch für die Anschau-
ungen Stahl's, der mir trotz der großen Achtung,
die ich gegenüber den Arbeiten des hochgeschätzten
Forschers hege, in diesem Falle zu einseitig zu
verfahren scheint, was er ja gewissermaßen selbst
zugibt und was auch z.B. von G.Karsten her-
vorgehoben wird.')
Wenn bei Frank und seinen Schülern die
Einseitigkeit ursprünglich in der Annahme liegt,
daß die Pilze überall, wo sie vorkommen, die
direkte Ernährung der Pflanzen aus dem Humus
übernähmen, gleichgültig, ob die Wirtspflanze kein
oder reichliches Chlorophyll enthält, und darin, daß
er später wieder alle endotrophen Mj-korhizen als
Pilzfallen, die sie beherbergenden Pflanzen als pilz-
verdauende ansprach, so scheint mir andererseits
Stahl besonders darin zu einseitig vorzugehen,
daß er den endotrophen Mykorhizen dieselbe
Funktion zuschreibt wie den ektotrophen.-) Letztere
sind ja bis jetzt bei nur verhältnismäßig wenigen
Pflanzen nachgewiesen worden, und ich kann den
Umstand, daß an den Wurzeln von Juniperus
(communis sowohl wie nana) bald endotrophe,
iDald ektotrophe Mykorhizen vorkommen, nicht
mit Stahl so deuten, daß beiderlei Bildungen sich
gegenseitig vertreten können.
Ich glaube, es wird vor allem darauf ankommen,
in welchem Maße die betreffende M\-korhiza aus-
gebildet ist. Ist diese Ausbildung derartig wie bei
den Cupuliferen, daß die ganze Wurzel von einem
Pilzmantel vollständig eingeschlossen und die Bildung
von Wurzelhaaren gänzlich unterdrückt wird, daß
ferner von der Mykorhiza nach allen Seiten den
Waldboden durchsetzende Fäden ausgehen, so
kann es ja wohl keinem Zweifel unterliegen, daß
der Pilz hier zum Nahrung aufnehmenden Organ
geworden ist, und es liegt im Hinblick auf den
Chlorophyllreichtum des Wirts und die Aus-
führungen Stahl's sicherlich näher, den Nutzen der
Mykorhiza in der Beschaffung der Nährsalze als
im Bezüge des Kohlenstoffes aus dem Humus zu
suchen. Sie mag sich in der Tat im Kampfe mit
den Pilzen um die Nährsalze des Bodens ausge-
bildet haben, und es wäre sehr wohl denkbar,
daß bei manchen Bäumen, bei den Cupuliferen
und namentlich bei der Rotbuche die Anpassung
so weit gegangen ist, daß die betreffenden Pflanzen
allmählich zum selbständigen Nährsalzervverb un-
fähig geworden sind. Dafür scheinen ja die P" r a n k -
sehen Kulturen zu sprechen, bei denen in dem
geglühten und mit Nährlösung begossenen Quarz-
') In seiner Besprechung von Stahl's Abhandlung in der
botanischen Zeitung, Jahrg. 58 1900. II. Abteilung Nr. 14.
^) Ebenso auch Percy Groom auf Grund seiner Be-
obachtungen an der saprophytischen Burmanniacee Thismia in
Annais of Botany, Vol IX 1895.
Sande von einem Kampfe mit den Pilzen keine
Rede sein konnte. Immerhin möchte ich her\'or-
heben, daß es sich hier stets nur um mehr oder
weniger oberflächliche Wurzeln handelt und daß
über das Verhalten der in die tieferen Boden-
schichten eingedrungenen meines Wissens bis jetzt
ebensowenig bekannt ist, wie über die äußerste
Tiefe, in welcher im Waldboden noch Pilzmycelien
vorkommen. Die Töpfe, welche Frank zu seinen
Kulturen benutzte, waren nur 18 cm tief, und die
Kultur dauerte etwa 2 Jahre. Nun treibt aber die
Buche schon in den ersten Jahren eine unter
günstigen Umständen i m Länge erreichende, mit
zahlreichen Nebenwurzeln besetzte Pfahlwurzel. Die
Möglichkeit ist also nicht ausgeschlossen, daß auch
die im sterilisierten Boden erzogenen Buchen, so-
bald sie die ersten ungünstigen Verhältnisse über-
wunden hatten, bei größerer Tiefe der Töpfe
schließlich zu gedeihlicher Entwicklung gekommen
wären. Und endlich verdient es wohl auch hervor-
gehoben zu werden, daß nach R. Hart ig selbst
an 1 2jährigen Exemplaren der verschiedensten Cupu-
liferen, auch der Rotbuche, im forstlichen Ver-
suchsgarten zu München keine Spur der Myko-
rhiza zu beobachten war, und daß hier auch an
solchen Bäumen, deren Wurzeln sehr arg von
Mykorhiza befallen waren, immer ein sehr großer
Teil pilzfreier Wurzeln aufgefunden wurde.') Diese
Beobachtung Hartig 's wird von Stahl, der ihn
doch zitiert, gar nicht erwähnt, vielmehr werden
von ihm die Cupuliferen als regelmäßig myko-
rhizenführende Bäume aufgeführt.
Bei schwächerer Ausbildung der ektotrophen
Mykorhiza und besonders bei ihrem mehr ge-
legentlichen Vorkommen kann ich hingegen keinen
zwingenden Grund erkennen, aus dem man ihr
dieselbe Funktion wie in den extremen Fällen zu-
schreiben müßte.
Am allerwenigsten aber bei der endotrophen
Mykorhiza, um die es sich in der Stahl'schen
Arbeit vorzugsweise handelt. Wo sie bis jetzt
genauer studiert wurde, fand sich, daß sie nach
außen nur ganz wenige und unbedeutende Ver-
bindungen besitzt und meistens nicht einmal in
der Epidermis oder in den Wurzelhaaren vor-
kommt. Aber selbst, wo dies der Fall ist, müßten
doch Wasser und Salze erst deren Zeilhäute durch-
dringen , um an den von ihnen umschlossenen
Pilz zu gelangen. Stahl hebt wiederholt die ge-
ringe Oberflächenentwicklung der m)-korhizen-
führenden Wurzelsysteme hervor. Nun wird diese
Oberfläche ja aber durch die endotrophe Myko-
rhiza nicht im mindesten vergrößert, und ich kann
mir auch deshalb von der Art und Weise, wie
diese bei dem Wasser- und Nährsalzerwerb wirken
soll, keine auch nur einigermaßen klare Vorstellung
machen.
Bei den Ericaceen findet sich der endophyte
') Botanischer Verein in München , Generalversammlung
vom II. November 1885. Bericht im Botan. Zentralblatt,
Bd. XXV 1886 S. 350—352.
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
185
III. sterihsierte Erde
Pilz allerdings ausschließlich in den weiten Epi-
dermiszellen der Wurzeln. Wenn letztere aber
auch keine Wurzelhaare entwickeln, so sind sie
dafür selbst, wie auch Stahl angibt, ganz be-
sonders lang und dabei haardünn, so daß sie
physiologisch die Haare vertreten, jedenfalls aber
eine sehr bedeutende Oberfläche besitzen. Und
gerade hier, nämlich bei der Heidelbeere, hat
Stahl selbst experimentell gezeigt, daß die in
sterilisiertem Heideboden völlig pilzfrei erzogenen
Exemplare sehr wohl gediehen, ja sogar die in
frische Heideerde eingesetzten und mit charakte-
ristischen Mykorhizen versehenen Pflänzchen über-
trafen. Was aber seine Versuche mit dem Machs,
dem Senf, der Gartenkresse und dem Weizen an-
belangt, die in dem unsterilisierten Boden nicht
fortkamen, so besitzen wir eine ganz neue Arbeit
von F. W. Neger,') der diese Dinge an der
Gartenkresse nachgeprüft hat, namentlich um fest-
zustellen, welchen Einfluß die Sterilisierung auf
den Boden ausübt. Er stellte in je drei Kultur-
töpfen Böden von folgenden Eigenschaften her:
I. nicht sterilisierte Erde 1 chemisch - physikalische
^^ .... . , ^ I Eigenschalten verschie-
II. sterihsierte u. nicht , j^,^ _ phvsiolog. Eigen-
stenhsierte Erde | gehaften gleich.
chemisch - physikalische
Eigenschaften gleich,
phx'siologische Eigen-
schaften verschieden.
Dabei ging er von folgender Überlegung aus:
a) ,, Gedeihen die Versuchspflanzen in I und II
gleich schlecht und in III bedeutend besser , so
besteht ein Kampf um die Nährsalze; denn es ist
klar, daß die Bodenpilze im Topf II schnell das
ganze Erdreich in ihre Gewalt bringen, um so
mehr, als die beiden Bodenarten in II gut ge-
mischt und die Mischung einige Tage stehen ge-
lassen wurde, ehe die vorgekeimten Versuchs-
pflanzen eingesetzt wurden.
b) Gedeihen hingegen die \^ersuchspflanzen in
II und III gleich gut und besser als in I, so ist
diese Förderung weniger auf Rechnung des fehlen-
den Kampfes mit den Bodenpilzen zu setzen (in
II sind solche reichlich anwesend), als vielmehr
auf die Wirkung der Sterilisation des Bodens
zurückzuführen."
Neger's Resultate deckten sich nun ziemlich
genau mit der zweiten erörterten Möglichkeit. Das
Wesentliche war jedenfalls, daß die Pflanzen in
nicht sterilisiertem Boden sich in auffallendem
Nachteil befanden gegenüber denjenigen in ge-
mischtem Boden, obwohl in letzterem die Kon-
kurrenz der Bodenorganisinen als nahezu ebenso
groß angenommen werden kann wie im nicht
sterilisierten Boden. Das günstige Wachstum der
Pflanzen in sterilisiertem Boden kann also der
') Ein Beitrag zur Mykorhizafrage: Der Kampf um die
Nährsalze. Naturwissenscliafil. Zeitschr. f. Land- und Forst-
wirtschaft. H. 9 S. 372 1903.
Hauptsache nach als P'olge der günstigeren Er-
nährungsbedingungen, welche ein sterilisierter Boden
durch die darin angehäuften und der Zersetzung
preisgegebenen Tierleichen usw. bietet, aufgefaßt
werden und nicht als Folge des Fehlens der kon-
kurrierenden Bodenorganismen. Dann ist es aber
nicht wunderbar, daß die Pflanzen im gemischten
Boden nicht die gleiche Üppigkeit der Laub-
entfaltung zeigen wie diejenigen im sterilisierten,
da ihnen ja auch nur die Hälfte der durch die
Sterilisation zugänglich gemachten Nährstoffe zur
Verfügung steht.
,,Das Wurzelsystcm aller drei Gruppen von
Versuchspflanzen war absolut ungefähr gleich. Zieht
man aber in Betracht, daß die Pflanzen von I hin-
sichtlich ihrer oberirdischen Entwicklung den
Pflanzen von II und III um das 2- bis 4 fache
nachstehen, so kann auch hier die von Stahl
hervorgehobene Erscheinung bestätigt werden, daß
Pflanzen , welche unter ungünstigen Ernährungs-
bedingungen leben, ein verhältnismäßig viel mäch-
tigeres Wurzelsystem besitzen als Pflanzen, welche
in einem an Nährstoffen reichen Boden wurzeln.
Daß aber die Pflanzen in II und III bei gleicher
oberirdischer Entwicklung hinsichtlich ihrer Be-
wurzelung keine bemerkenswerte Unterschiede auf-
weisen , spricht nicht besonders für einen sehr
heftigen Kampf um die Nährsalze in dem von
Pilzen durchsetzten Boden des Gefäßes II."
Ich selbst möchte noch hinzusetzen, daß für
die genannten Pflanzen Buchenwaldhumus ein völlig
ungewohntes Substrat ist, dem sie mit der in ihm
entbrennenden Konkurrenz mit den Pilzen überhaupt
nicht angepaßt sind. Einen Beweis, daß die
Pflanzen in ihm durch ihre endophytischen Pilze
unterstützt wurden, kann ich in Stahl's Versuchen
um so weniger erblicken, als selbst der Flachs,
der nach Stahl stets reichlich verpilzte Wurzeln
besitzt, sich in dem unsterilisierten Humus schlechter
entwickelte als in dem sterilisierten.
Die von Stahl betonten Standortsverhältnisse
lassen sich m. E. ebenfalls in ganz anderer Weise
erklären. Denn die in Betracht kommenden Pilze
sind ja ebenso wie die höheren Pflanzen ganz be-
stimmten und je nach ihrer Art verschiedenen
Substraten angepaßt, und es kommt für sie ein
ganz bestimmter Gehalt des Bodens an Feuchtig-
keit, an Nährsalzen und, da sie Saprophyten sind,
auch an organischen Stoffen bestimmter Art und
bestimmten Zersetzungsgrades, endlich auch der
Luftgehalt, die Erwärmung und Beleuchtung des
Bodens sehr in Betracht. Es kann also kaum be-
fremden, wenn z. B. Pflanzen, welche in voll-
kommen durchnäßtem Boden wachsen, ebenso-
wenig Mykorhizen führen wie typische Sand-
pflanzen. Und wenn auf Böden, welche an mine-
ralischen Nährstoffen reich sind, wie auf Äckern,
Gärten, Schutthaufen, die Mykorhizenpflanzen zu-
rücktreten und auch solche Gewächse sich pilzfrei
erweisen, die auf unkultiviertem Boden Mykorhizen
führen, so ist doch auch zu erwägen, daß auf der-
artiger Unterlage höhere Pilze überhaupt selten
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
beobachtet werden, selten wenigstens im Vergleich
mit jedem humusreichen Boden.
Bezüglich der ektotrophen Mykorhiza macht
Tubeuf gegen Frank geltend,') daß bei ihr die
Wurzelhaare nicht gänzlich fehlen, sondern sowohl
im humusfreien, als im humosen Boden vorhanden
sind, wie Möller schon früher angegeben hatte.-)
Während er die von Stahl aufgeführten Tat-
sachen zugibt, mißbilligt er seine Schlüsse. Seiner
Auffassung nach besteht eine Konkurrenz zwischen
den Pflanzen und Pilzen nicht so sehr, denn von
den Fruchtkörpern wird das Nährstoffkapital nur
vorübergehend benutzt und zwar besonders im
Herbst , wenn die Hauptnährstoffaufnahme der
Holzpflanzen zu Ende ist. Ferner gehen die Nähr-
stoffe aus den Fruchtkörpern bei deren Zerfall
größtenteils wieder in das Substrat zurück. Überhaupt
wird im Wald und Moor das Nährstoffkapital
immer wieder durch Verwesen dem Boden zurück-
gegeben, die in die Tiefe gewaschenen Stoffe werden
dann durch die Wurzeln wieder in die Höhe ge-
bracht.
Der Nutzen der ektotrophen Mykorhiza besteht
nach Tubeuf darin, den Pflanzen den Humus-
stickstofl" verwertbar zu machen, den sie in P'orm
von Eiweiß an die Pflanzen abgeben. Denn
1. sind im Humus nachgewiesenermaßen keine
Nitrate,
2. kann nach Tubeuf 's Kulturversuchen den
Pflanzen der ektotrophen M\-korhiza der Humus-
stickstoff durch Nitraternährung ersetzt werden.
3. Koniferen und Kupuliferen, die alle fakul-
tative Mykorhizenpflanzen sind, können sich bei
nötigem Nährsalzvorrat selbständig ernähren. Sie
sind für die künstliche Düngung sehr dankbar, so
daß Buchen dabei schon im ersten Jahre zu be-
sonders kräftigen Pflanzen erwuchsen. Wenn sie
dagegen nicht künstlich ernährt werden, kümmern
sie trotz Mykorhiza.
4. Sollte die Mykorhiza die Nährsalzaufnahme
erleichtern, so würde es sich dabei auch um
Nitrate handeln. P'ehlt es Pflanzen mit geringer
Wasserdurchströmung an Nährsalzen, so fehlt es
ihnen auch an Nitraten. Kann der Pilz diese nicht
beschaffen, so nützt es wenig, wenn er die anderen
Salze liefert.
Tubeuf unterscheidet
1. Pflanzen mit hier und da auftretender ekto-
tropher Mykorhiza, bei denen letztere ohne prak-
tische Bedeutung ist (Weiden).
2. Pflanzen mit reicher ektotropher Mykorhiza,
aber auch noch normaler Bewurzelung (ev. Be-
haarung) und normalem Assimilations- und Transpira-
tionssystem.
3. Pflanzen mit ektotropher Mykorhiza und
reduziertem Wurzel-, Assimilations- und Transpira-
tionssj'stem bei denen alle Nährstoffe vom Pilz
vermittelt werden müssen (Monotropa).
4. Pflanzen mit ektotropher und endotropher
Mykorhiza.
Das Verhältnis zwischen Pilz und höherer
Pflanze ist nach ihm folgendes:
Die Pflanzen ernähren sich selbständig. Wo
ihnen Stickstoff in anorganischer Form fehlt, köimen
sie durch Vermittlung der endotrophen M\'korhiza
Luft-, durch die der ektotrophen Humusstickstoff
in assimilierter Form erhalten.') Diejenigen, bei
welchen eine geringe Wasserdurchströmung, ge-
ringeres Nährsalzbedürfnis, langsameres Wachstum,
geringere Wurzelentwicklung vorhanden ist, sind
dem Pilzbefall am meisten ausgesetzt und werden
abhängig.
Mit Zunahme der Verpilzung ist Verminderung
des Wurzelsystems verbunden, die Wurzeln können
daher das Substrat nicht mehr so ausnützen, die
Mykorhiza verwendet den Stickstoff" der nächsten
Umeebung. Mit der Reduktion der Wurzeln
schwinden Assimilations- und Transpirationsorgane,
der Pilz übernimmt die Gesamterährung (Mono-
tropa).-)
Die Bäume sind vor Überhandnähme der Ver-
pilzung gesichert, da sie ihre Wurzeln aus der
Humusregion weit hinaussenden und damit die
P'ähigkeit selbständiger Ernährung behalten. Die
schnellwüchsigen, wasserbedürftigen scheinen am
selbständigsten zu sein, denn je weiter die Wurzel
in den nährkräftigeren Untergrund reicht, und von
da ohne Pilze Nährstoffe bezieht, desto besseres
Gedeihen zeigten die betreffenden Pflanzen.
Die Initiative zur Mykorhizenbildung ist nicht
von den Pflanzen ausgegangen, sondern von den
Pilzen, die von ersteren Salze und Kohlehydrate
erhalten , sich also wegen Nährstoffmangel der
Wurzeloberfläche anlegen und in ihr Inneres
eindringen. Denn die ektotrophen Pilze hängen
den Wurzeln keineswegs nur äußerlich an, sondern
sind auch im Wurzelinnern nachweisbar, wo sie
die Intercellularen erfüllen und die nährstoffreichen
WurzelzeJlen umspinnen. Da aber die Pflanze den
Befall der Wurzelparasiten nur dann aushält, wenn
ihr vom Pilz Stickstoff geboten wird, so sind zur
Symbiose nursolche Pilze gelangt, welche freien Stick-
stoff aufnehmen oder Humusstickstoff verarbeiten.
Ich selbst stelle mir die Entstehung der Myko-
rhizenbildung etwa so vor, daß sich auf überhaupt
mycelhaltigem Boden in resp. auf den Wurzeln,
bzw. sonstigen unterirdischen Organen solcher
höherer Pflanzen, deren Protoplasma dies gestattete,
Pilze schmarotzerisch ansiedelten, die in den meisten
Fällen ihren Wirten weder Nutzen bringen, noch
Schaden zufügen. So bei dem größten Teile der
endotrophen und bei den fakultativen ektotrophen
Mykorhizen. Unter besonderen Verhältnissen, wie
1) A. a. O.
^) Zeitschr. f. Forst- u. Jagdwesen 1902. S. 197.
') Die Verwertung des atmosphärischen Stickstoffs durch
die ektotrophe Myliorhiza bestreitet auch Möller für die
Eiche ebenso wie für die Kiefer.
-) Bei chlornphyllfrcien Pflanzen ohne ektotrophe Myko-
rhiza müssen hingegen die Wurzelzellen Kohlenstoff auf-
nehmen (Neottia).
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
187
in dem Falle der Cupuliferen, wo die äußere Ver-
pilzung einen extremen Grad erreichte, trat dann
das oben für die Buche unter den angedeuteten
Einschränkungen erörterte Verhältnis ein, daß der
Wiit den Pilz als geeigneten Verbündeten im
Kampfe mit seinen Artgenossen um die Nährsalze
und vielleicht die Stickstoff- oder, wie bei Mono-
tropa, auch um die kohlenstoffhaltigen Humus-
bestandteile in Anspruch nahm. Freilich ist ja selbst
in dem letztgenannten Falle noch keineswegs etwas
Sicheres darüber ermittelt, ob der Fichtenspargel
nicht auch ohne den Pilz zu gedeihen und nicht
selbständig den Humus zu assimilieren vermag.
In den extremen Fällen der endotrophischen
Mykorhiza hingegen , die wir au(3er bei Podo-
carpus, Psilotum und eventuell bei Alnus und
M\'rica, namentlich bei den Orchideen verwirklicht
finden, bildete sich die Mykophagie in verschie-
denem Grade aus, die schließlich bei Neottia zu
einer besonders weit gehenden Sonderung und
Anpassung innerhalb der VVurzelgewebe führte.
Daß der Pilz hier mit dem Kohlenstoffbezuge
nichts zu tun hat, erscheint mir ebenso wie
Magnus undShibata als sicher. Denkbar aber
wäre es immerhin, daß er entweder, wie die Bak-
terien der LeguminosenknöUchen, den atmosphä-
rischen Stickstoff assimilierte, oder daß er dem
Wirte die von dessen Wurzeln zwar aufgenom-
menen, aber für ihn selbst schwer verarbeitbaren
Ammoniumsalze nutzbar machte.
Jedenfalls wird es noch zahlreicher und ge-
nauer Bearbeitungen der Einzelfälle, ganz be-
sonders aber solcher Kulturversuche bedürfen, die
mehr als die meisten bisherigen die am natür-
lichen Standort gegebenen Verhältnisse berück-
sichtigen , um die schwierige Frage nach der
physiologischen Bedeutung der M_\'korhiza aufzu-
hellen.
Kleinere Mitteilungen.
Der Humboldtfelsen im Zittauer Gebirge. —
Das weite Lausitzer Granitgebiet wird im Süden
von Zittau durch eine gewaltige Verwerfung be-
grenzt, längs welcher der anstoßende Brongniarti-
quader ungefähr 280 m in die Tiefe gesunken ist.
Die verschiedene Verwitterbarkeit der beiden be-
nachbarten Gesteine hat aber im Laufe der Zeiten
die Höhenverhältnisse derart umgekehrt, daß jetzt
das Sandsteingebirge sich mauergleich ca. 100 m
über die Zittauer Ebene erhebt. Der Grenzstreifen
des Sandsteins zeigt zwei Eigentümlichkeiten, die
vermutlich beide im ursächlichen Zusammen-
hange stehen: erstens ist der Sandstein von zahl-
reichen Basalt- und Phonolithgängen durchschwärmt,
Der Ilumliiililtrilsin im ZiUauer Gebirge.
i88
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
und zweitens ist in der Nähe dieser Gänge das
Hauptgestein mit außerordentlich festem Kiesel-
säurezement verhärtet und porös. Die letzten
beiden Eigenschaften machen den Sandstein be-
sonders geeignet zur Herstellung von Mühlsteinen.
Die geschilderten geognostischen Verhältnisse
lassen sich trefflich studieren in einem der Brüche
von Jonsdorf, an einer Stelle, die einst schon einem
Alexander v. Humboldt hohes Interesse abgelockt
hatte. Ein fast kreisförmiger Eruptionsstiel aus
Nephelinbasalt durchbricht hier den Sandstein in
nahezu senkrechter Richtung. Durch den Stein-
bruchbetrieb ist dieser Stiel seit Humboldt's Besuch
bis in 40 m Tiefe freigelegt worden. Die plump
kugelförmige Absonderung des Basaltes brachte
es mit sich, daß der 6 — 8 m dicke Stock allmäh-
lich immer mehr an Höhe verlor. Zeitweise er-
Beispiel, wie durch verschiedene Verwitterbarkeit
die Niveauverhältnisse beeinflußt werden.
In nächster Nähe des Humboldtfelsens ist
übrigens noch eine geologische Merkwürdigkeit
die ebenfalls verdient, vor ihrer gänzlichen Zer-
störung im Bilde festgehalten zu werden. Es ist
die sogenannte Orgel. Frei am Rande eines Ab-
sturzes erhebt sich eine Sandsteinmasse von 5 m
X 9 m Umfang, die in lauter senkrechte Säulen
von ungefähr 2 m Höhe abgesondert ist. Zur
Zeit finden wir in der Nähe kein Eruptivgestein
mehr, das diese Absonderung veranlaßt haben
könnte. Doch unterliegt es keinem Zweifel, daß
sie in ursächlichem Zusammenhange mit einem
ehemals aufliegenden , jetzt aber weggewitterten
Phonolithgange steht. Dr. P. Wagner.
Die Orgel in der Nähe des liumboldtfelscns.
forderte die Betriebssicherheit im Bruch die Ent-
fernung der oberen Blöcke, und so tritt uns heute
der sogenannte Humboldtfelsen nur noch als eine
6 m hohe kegelförmige Masse entgegen.
Im Umkreise des Basaltstiels ist der Sandstein
in Säulen zersprungen, die — nur getrennt durch
etwas Reibungsbreccie — sich radial um den Ba-
salt anordnen. Unser Bild zeigt uns rechts noch
einen hellen Phonolithgang, dessen stark ver-
wittertes Gestein eine weithin gerade fortlaufende
grabenartige Einsenkung ausfüllt. Zur Rechten
bildet der silifizierte Sandstein eine gewaltige
Wand ; links läuft parallel ein ungefähr halb so
breiter Basaltgang, dessen wagerechte Säulen
gleich einem Stoße von Holzscheiten den Phono-
lith überragen. Diese drei Gesteinsarten in un-
mittelbarer Nachbarschaft geben uns ein treffliches
Einen Apparat zur Erklärung des Phä-
nomens von Ebbe und Flut hat ¥. S. Are he n-
hold, der Leiter der Treptow-Sternwarte, kon-
struiert und in der Halbmonatsschrift „Das Welt-
all", 4. Jahrg., Heft 2, pag. 38 fif. beschrieben.
Ich erläutere den Apparat an der beigegebenen
P'igur: Die Kugel m repräsentiert den Mond; die
von dem Drahtgeflecht umgebene Kugel ist die
Erde.') Das Drahtgeflecht selbst stellt die die Erde
umgebenden Wassermassen dar, und zwar ist der
Einfachheit halber angenommen, daß die Erde voll-
ständig von einem Wassermantel umgeben sei,
') Natürlich sind hier wie bei allen Tellurien und ähn-
lichen nemonstralionsapparatcn die Größen- und Entfcrnungs-
vcrhältnisse völlig falsche, worauf heim Gebrauch im L'nter-
licht mit Nachdruck liinzuweiscn ist. Ked.
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
189
d. h. daß sämtliche Kontinente und Inseln ganz
und gar überschwemmt seien.
Zuerst wird die Mondkugel durch den Dozenten
verdeckt, und der Apparat zeigt uns die Erde
ohne Begleiter: die Wassermassen legen sich kon-
zentrisch um die Erde. Durch einen Ruck an der
Mondkugel, die mit der Erdkugel durch ein Feder-
system verbunden ist, wird der Erdkern c nach c',
die Wassermengen bei a nach a' und die bei b
nach b' gerückt , wobei a a' c c' b b' ist : das
System Elrde — Mond stellt sich nunmehr in seiner
wirklichen Gestalt dar. Man sieht, dal3 sich durch
die Attraktionswirkung des Mondes zwei um 180"
voneinander entfernte Flutberge, der eine bei
Pfeil A und der andere bei Pfeil B, bilden ; auf
allen Teilen der Erde, die von den beiden Flut-
bergen um einen rechten Winkel abstehen ist Ebbe.
Besonders wird durch den Apparat deutlich ge-
macht, daß nicht nur ein Flutberg bei Pfeil A,
sondern auch ein Plutberg bei Pfeil B entsteht.
Archenhold'scher Ebbe- und Flutapparat.
eine Erscheinung, deren Verständnis bekanntlich
dem Laien gewisse Schwierigkeiten zu bereiten
pflegt.
Mit Hilfe der Handhabe H läßt sich die Erde
in der Richtung des Pfeils um ihre Achse drehen ;
dadurch wird ersichtlich, daß sich Ebbe und Flut
in Abständen von je sechs Stunden folgen — ge-
nauer: in Abständen von je 6 Stunden 12,5 Min.,
da der Mond wegen seiner Bewegung um die
Erde täglich etwa 50 Minuten später kulminiert
als am voraufgegangenen Tage. Sehr anschaulich
wird auch durch den Archenhold'schen Apparat,
daß das Phänomen von Ebbe und Flut verlang-
samend auf die Erdrotation wirkt. Die Flutberge
werden vom Monde festgehalten, und die Erde
dreht sich unter ihnen fort: die Flutberge sind
gewissermaßen eine Bremse für die P>drotation,
diese wird immer mehr verlangsamt, bis schließlich
Erdtag und Monat zusammenfallen.
Die Firma Ferdinand Ernecke in Berlin bringt
den Apparat in zwei Ausführungen — mit Vor-
richtung für die Erdrotation für So Mark, ohne
sie für 45 Mark — in den Handel. Im „Astrono-
mischen Museum" der Treptow-Sternwarte in Trep-
tow bei Berlin ist der Apparat zur Besichtigung
aufgestellt. Mg.
Die Elektrometallurgie des Goldes. — Die
Elektrometallurgie des (Toldes beruht auf dem
Umstände, daß sich der elektrische Strom mit Vor-
teil sowohl zur Auflösung von metallischem Gold
in Cyanidlösung, als Doppelsalz AuKCy.,, als auch
zum Niederschlagen desselben aus einer solchen
Lösung verwenden läßt. Die Wirkung des Stromes
beim Auflösungsprozeß scheint, wie W. H.Walker
in einer kürzlich in der Amerikanischen P,lektro-
technischen Gesellschaft vorgetragenen Arbeit her-
vorhebt (siehe „Elektrochem. Ind." Nr. 14), darin
zu bestehen, daß derselbe Sauerstoff liefert. Anderer-
seits haben Laboratoriums-
versuche gezeigt, daß in einer
Lösung des obigen Doppel-
salzes das Kation K und das
Anion Au Cy,_, ist, was für
den Niederschlagsprozeß von
größter Bedeutung ist. Das
Kation K wird nämlich zunächst
ausgefällt, wirkt dann auf die
Lösung des Doppelsalzes ein
und führt so durch einen sekun-
dären Prozeß die Fällung des
Goldes herbei. Das Gold ist
daher in den von der Kathode
ausgehenden Anionen enthalten,
so daß der Strom danach strebt,
den Goldgehalt der Lösung in
der Nähe der Kathode zu ver-
mindern. Andererseits ist ge-
rade an der Kathode Gold er-
forderlich, um die sekundäre
Reaktion zwischen dem primär
niedergeschlagenen Kalium und
der Lösung zu ermöglichen. Hieraus geht her-
vor, wie wichtig es ist, bei dem Fällungsprozeß
gut umzurühren , und erklärt sich auch der
geringe Nutzeffekt. Verfasser gibt im weiteren
eine Übersicht über die verschiedenen elektro-
chemischen Goldverfahren, und teilt diese in zwei
Klassen : zur ersten Klasse gehören die Verfahren,
bei denen Auflösung und Ausfällen nicht gleich-
zeitig stattfinden; zu dieser Klasse gehört das in
großem Umfange in Südafrika benutzte Siemens &
Halske'sche \'erfahren. Der hauptsächliche Vorteil,
den nach Ansicht des Verfassers die elektro-
chemische Fällung von Gold gegenüber der che-
mischen Methode bietet, ist der Umstand, daß die
erstere weniger konzentrierte Lösungen erfordert
und auch der Cyanidverbrauch geringer ist. Zu
der zweiten Klasse von Verfahren gehören die-
jenigen, bei denen Auflösung und Fällung gleich-
zeitig stattfinden. Drei der wichtigsten Verfahren
igo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
werden vom Verfasser beschrieben und ausführUch
besprochen, nämUch das Peletan-CIerici'sche, das
Ricl<en'sche und das Aurex-Sluice-Verfahren. Der
Grund für den Mifjerfolg, den diese Verfahren bei
ihrer technischen Verwertung erhtten haben, scheint
darin zu liegen , daß bedeutende Erzmengen zur
Gewinnung einer geringen Goldmenge erforderlich
sind, und daß diese großen Erzmengen in fort-
währender Bewegung erhalten werden müssen.
Schließlich gibt der Verfasser einiges Nähere über
von ihm ausgeführte Versuche, bei denen es sich
um kathodische Reduktion von Goldtellurid handelt.
Die Ergebnisse beweisen, daß die derartige Erze
behandelnden Verfahren weit mehr auf kathodischer
Reduktion basiert sind, als auf Auflösung des
Minerals in der Anodenflüssigkeit und darauf folgen-
der Fällung des Goldes an der Kathode. Guter
Kontakt mit der Kathode ist daher ein wesentliches
Erfordernis, was von den ersten Experimentatoren
nicht genügend berücksichtigt worden ist. A. Gr.
Wetter-Monatsübersicht.
Im diesjährigen November trug das Wetter noch mehr
als im Oktober einen milden, aber außerordentlich trüben
Charakter an sich. Anfänglich bewegte sich das Thermometer
im gröl3ten Teile Deutschlands Tag und Nacht nur innerhalb
sehr enger Grenzen und lagen die in beistehender Zeichnung
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Berliner Wetterbureau.
wiedergegebenen Durchschnittstemperaturen immer ein paar
Grade über ihren normalen Werten. Seit dem 9. traten im
Osten und Süden etwas häufiger Nachtfröste auf, und um
Mitte des Monats fand eine allgemeinere, wenn auch nur
langsame Abkühlung statt, die sich meist bis zum 19. fort-
setzte. Dann stiegen die Temperaturen wieder und erreichten
um den 24. noch einmal nahezu die Werte, mit denen der
Monat begonnen hatte, worauf sich die Luft von neuem und
diesmal stärker abkühlte, so daß in den letzten Novembertagen
vielfach leichter Frost herrschte.
Im Monatsmittel wurden die normalen Novembertempera-
turen überall in Deutschland um ungefähr 1 '/2 Grad über-
troffen. Zu diesem Temjieraturüberschuß, an dem die Sonnen-
strahlung fast gar keinen Anteil hatte , trug auch weniger die
Wärme der überwiegend vom Ozean kommenden' Winde als
die dichte Nebelschicht und eine starke Wolkendecke bei,
welche fast beständig den Erdboden vor Ausstrahlung schützten.
Beispielsweise gab es in Berlin während des ganzen Mo-
nats nicht mehr als 22 Stunden mit Sonnenschein , wäh-
rend hier in dem allerdings besonders klaren November des
vorigen Jahres die Sonne an 101 Stunden, aber auch in dem
gleichfalls sehr trüben November des Jahres 1901 immer noch
an 37 Stunden geschienen hat.
Bis zum 9. November waren die Niederschläge, wie die
nebenstehende Zeichnung erkennen läßt, überall sehr gering,
in manchen Gegenden Süddeutschlands blieben sie sogar
X?iäacr3cr)lag6l]öl]2ii im X^ownil'cr J903.
-I -^ Miltlerer Werf für .
Deufschland.
^otiatssumnie im Novor.
Iä03. 02, Ol 00 1835 3«.
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10.- 30. November.
ä
™ m iTinp
erliner Welterbureau.
völlig aus. Darauf folgten aber allgemeine und sogleich
ziemlich ergiebige Regenfälle, die vom 10. bis 12. an der
Küste verschiedentlich von Hagel begleitet waren und sich
dann fast täglich in größerer oder geringerer Stärke wieder-
holten. Zwischen dem 17. und 20. fanden im Binnenlande,
namentlich in Schlesien, dem Königreich und der Provinz
Sachsen, Thüringen und Bayern zahlreiche Schneefälle statt.
Im Gebiete der Oder traten infolge der lange anhaltenden
Niederschläge Hochwasser ein, die mancherlei Scliäden
brachten und in den nächsten Tagen noch anwuchsen. Vom
21. zum 22. nämlich jagte ein schwerer Sturm von Westen
nach Osten durch ganz Deutschland hindurch, brachte wieder-
um starke Regenfälle, an der Küste Hagelschauer und zwi-
schen Rhein und Elbe vielfach Gewitter mit sich. Nach
seinem Vorübergange wurden die Niederschläge zwar zunächst
geringer, hörten jedoch nirgends gänzlich auf, und schon nach
wenigen Tagen stellten sich abermals stürmische Westwinde
mit reichlichen Regen ein, die mehr und mehr in Schnee
übergingen. So hatte der Monat nicht allein eine besonders
große Zahl von Regen- und Schneetagen, sondern auch mehr-
mals, namentlich in Westdeutschland, sehr bedeutende Nieder-
schlagsmengen, und sein gesamter Ertrag an Niederschlägen,
der sich für den Durchschnitt der berichtenden Stationen auf
69,5 Millimeter bezifferte , war daher viel größer als in den
meisten der Novembermonate seit Anfang des vorigen Jahr-
zehntes, nur im November 1893 und 1901 ist er annähernd
erreicht worden.
Während des ganzen November wurde Nordeuropa von
immer neuen barometrischen Depressionen durchzogen, (.He
anfänglich nur mäßige Tiefe besaßen und ihren Bereich nicht
sehr weit nach Süden ausdehnten, Die mittleren Breiten
Europas wurden dabei gewöhnlich von einem umfangreichen
Hochdruckgebiete bedeckt. Als aber am 10. November eine
tiefere Depression auf dem europäischen Nordmeer erschien,
zerfiel das Maximalgebict in eine östliche und eine westliche
Hälfte, zwischen denen von dieser und mehreren ihr folgen-
den Depressionen Teilminima in Mitteleuropa einzudringen
vermochten. Am tiefsten war ein iSIinimum, das um den 20.
nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Nordeuropa orkan-
N. F. III. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
191
artige Stürme erregte, die auf den Meeren außerordentlich
zahlreiclic SchitTsunglücksfiiUe herbeifülirten.
Im letzten Monatsdrittel traten die Barometorminima in
niedrigeren Breiten auf dem atlantischen Ozean auf und eilten
von dort immer schnell in östlicher Richtung weiter. Beson-
ders eine sehr umfangreiche Depression, die am 27. vor Irland
erschien und namentlich in England , Frankreich und Süd-
deutschland heftige Stürme verursachte, rückte mit unvermin-
derter Tiefe weit ins Innere des europäischen Festlandes ein,
so daß der November in ganz Mitteleuropa mit ungewöhnlich
niedrigem Luftdruck und unablässigen Regen- und Schnee-
fällen endigte. Dr. E. Lcss,
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. Thome, Flora von Deutschland,
Österreich und der Schweiz. 2., verm. u.
verb. Aufl. Bd. I. Mit i6o Tafeln in Farbendruck.
Gera, Reuß j. L. (Friedrich von Zezschwitz) 1903.
Preis 18,75 ^k.
Nach Floren ist das Bedürfnis sehr groß, daher ist
auch die Zahl derselben Legion. Thome's Flora ge-
hört zu denjenigen, die sich Freunde erworben haben.
Der Genre, den sie vertritt, erfüllt ein oftenkundiges
Bedürfnis, denn viele, die sich nicht gerade wissen-
schaftlich mit Floristik beschäftigen wollen, aber doch
gern etwas — wenigstens die Namen — der sie um-
gebenden wilden Pflanzen wissen möchten, ist eine wie
die vorliegende gut und in den Naturfarben illustrierte
Flora genehm , insbesondere dann , wenn die Arten,
wie hier, in natürlicher Größe dargestellt sind. Dieses
Bedürfnis ergibt sich, kurz gesagt, daraus, ein Werk
zu besitzen, das möglichst schnell und bequem Auf-
schluß über den Namen einer bestiinmten , gerade
vorliegenden Pflanze gibt. Wenn nun auch nicht die
Thome'sche Flora alle Arten abbildet, so bringt sie doch
so viele Abbildungen, daß sie mit Zuhilfenahme des
Textes nur selten einmal versagen wird. Übrigens
ist der Text umfangreich genug, und der allgemeine
Teil dazu angetan, die ersten Schritte auch für ein
tieferes Eindringen in den Gegenstand zu ebnen. Der
vorliegende Band behandelt die leider als Krypto-
gamen bezeichneten Pteridophyten, ferner die Gym-
nospermen und die Monocotyledonen.
Es wird sicherlich in dem Interessentenkreise der
Thome'schen Flora freudig begrüßt werden, daß sie
auf das ganze Pflanzenreich erweitert wird, indem
Prof Migula die Bearbeitung der Bryophyten und
Thallophyten übernommen hat. Es liegen von dieser
Bearbeitung bereits 14 Lieferungen (ä i Mk.) vor,
enthaltend die Bryophyten, von denen nicht mehr viel
fehlt. Sobald der erste Band (der 5. des ganzen
Werkes, inkl. der Pteridophyten und Phanerogamen)
von Migula's Flora vorliegen wird, kommen wir auf
das Unternehmen zurück.
Oberlehrer L. Geisenheyner, Flora von Kreuz-
nach und dem gesamten Nahegebiet
unter Einschluß des linken Rheinufers
von Bingen bis Mainz. Bearbeitet zum Ge-
brauch in Schulen und auf Exkursionen. Zweite
Auflage. Kreuznach, Druck und Verlag von Ferd.
Harrach [1903]. 328 Seiten. Preis 3 Mk.
Der in weiten Kreisen rühmlich bekannte Verfasser,
dem sein mühsames Schulamt noch Zeit und Lust zu ver-
dienstlichen biologischen Forschungen läßt, von denen
wir hier nur seine Studien über Pteridophyten und über
PHanzengallen erwähnen wollen, bietet uns hier das
Ergebnis mehr als 30 jähriger Forschungen in einem
der anziehendsten Teile des deutschen Rheingebietes.
Schon vor mehr als 100 Jahren haben hier Koch
und Ziz, Gmelin (der von hier seine Saxifraga spon-
hemica beschrieb), später F. Schultz, W i r t g e n ,
Bogenhard und mancher andere herborisiert, und
immer noch ist der Reichtum dieses Lokalgebiets
nicht erschöpft, in dessen Tälern die letzten Aus-
läufer derPontischen Flora tnediterranen Einstrahlungen
begegnen, während die Flora der Höhen noch unter
dem Einfluß des atlantischen Florenelements steht
(einer der neueren Funde betrifft z. B. die von F.
Wirt gen dort nachgewiesene Carex binervis). Die
gewissenhafte und kritische, trotz kurzer Fassung dem
pflanzengeogiaphischen Bedürfnis genügende Darstel-
lung des floristischen Materials macht das Büchlein
auch dem auswärtigen Fachgenossen wertvoll. Auch
der beschreibende Teil verdient alle Anerkennung
und macht das Werk zur Benutzung beim Unterricht
und auf Exkursionen, für die es in erster Linie be-
stimmt ist, im ganzen recht brauchbar, wenn auch
einzelne nicht ganz auf der Höhe heutiger Morpho-
logie stehende Definitionen unterlaufen. Verfasser zeigt
überall, daß er mit offenen Augen im Freien ge-
forscht und die Literatur mit selbständigem Urteil
benutzt hat; allerdings hätten wir neben Rosa, Rubus
und Hieracium, die in engem Anschluß an Keller,
F o c k e und Nägeli-Peter dargestellt sind, auch
Menta (so schreiben die römischen Autoren, nicht Mentha)
mit Berücksichtigung von Briquets Forschungen
bearbeitet gewünscht, welche Gattung auf dem Stand-
punkt von Wirt gen (1857) geblieben ist. Die Be-
rücksichtigung von Formen und Bastarden ist ungleich-
mäßig ; hauptsächlich sind von letzteren nur die von
den älteren Floristen schon aufgeführten, oft für Arten
gehaltenen, aufgenommen. Die Kulturpflanzen sind
sehr eingehend, etwa in dein Umfange wie in den
Florawerken des Referenten berücksichtigt. Die Aus-
wahl der Zierpflanzen beweist, daß teils aus klima-
tischen , teils aus historisch-ethnologischen Gründen
(Nähe von Frankreich) doch nicht unerhebliche Unter-
schiede von den nordostdeutschen Gärten stattfinden ;
so sind Saxifraga punctata und Broussonetia papyrifera
aufgenommen, wogegen Nicotiana rustica weder kul-
tiviert noch verwildert vorzukommen scheint. Sehr
dankenswert ist für ein Gebiet, in dem die Kultur
der Rebe eine so wichtige Rolle spielt, die ausführ-
liche Darstellung der wichtigsten Kulturformen des
Weinstocks.
Besonderen Wert legt Verfasser auf die deutsche
Nomenklatur, in welcher er mehrfach Meigen folgt,
auch da, wo dessen Verkürzungen dem Referenten als
„Verschliinmbesserungen" erscheinen. So heißt z. B.
Veronica teucrium (latifolia) nicht breitblättriger, son-
dern breiter Ehrenpreis; das winzige Androsaces
elongatum, an dem die Blütenstiele nur verhältnis-
mäßig länger sind als bei septentrionale, heißt langer
Mannsschild, das auch noch recht unansehnliche A.
maximum großer M. , wo „größter" entschieden
192
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 12
passender wäre. Referent steht diesen Bestrebungen,
eine einheidiche deutsche Nomenklatur zustande zu
bringen, sehr skeptisch gegenüber. Wenn E. H. L.
Krause es für richtig hält, eine solche, ohne Rück-
sicht auf die lateinische, die für ihn veränderlich
bleiben kann, herzustellen, so ist diese Umkehrung des
Richtigen bei der Neigung zu Paradoxen, der sich
dieser talent- und kenntnisreiche Autor leider über-
läßt, nicht zu verwundern. Referent kann es aber
nicht verstehen, daß ein im ganzen nüchterner Schrift-
steller wie M eigen die lateinischen Namen auch in
Gelehrtenschulen entbehrlich findet. Referent ist der
Ansicht, daß Liebhaber der Flora, die kein Latein
verstehen und Elementarschüler, wenn sie eine größere
Zahl einheimischer Pflanzen kennen lernen sollen,
ebenso gut die lateinischen Namen lernen können
wie das Gärtner und Gartenfreunde, die doch_ oft
auch keine gelehrte Schulbildung haben, ohne Wider-
rede tun. Referent kann auch nicht einsehen, daß
es eine Erleichterung für das Gedächtnis ist, statt
Isnardia Heusenkraut und statt Aldrovandia Wasser-
hade zu lernen. Von diesen nichtssagenden Erfin-
dungen ist es nur noch ein Schritt zu den Oken-
schen „Zullen" und „Schnullen". Indes soll dieser
prinzipiell abweichende Standpunkt den Referenten
nicht hindern, das G.'sche Werk als ein gutes Buch
anzuerkennen. P- Ascherson.
Literatur.
Deckert, Dr. Emil: Nordamerika. Eine allgemeine Landes-
kunde! 2., neubearb. Aufl. Mit 140 Abbildgn. im Text,
12 Karten u. 19 Taf. in Holzschn., .\tzg. u. Farbendr. (In
14 Lfgn.) I. Lfg. (S. 1—48) Lex. 8». Leipzig '03, Biblio-
graph. Institut. — I Mk.
Graff, L. v. : Die Turbellarien als Parasiten u. Wirte. Hrsg.
als Festschrift der k. k. Karl-Franzens-Universität zu Graz
f. d. J. 1902. (VI, 66 S. ra. I Fig., 3 Taf. u. 3 Bl. Er-
klärgn.) gr. 4". Graz '03, Lcuschner & Lubensky. — 14,50 Mk.
Jörgensen, Prof. Dr. S". M. : Grundbegriffe der Chemie, an
Beispielen und einfachen Versuchen erläutert. (IV, 196 S.
m. 13 Fig.) 8». Hamburg '03, L. Voß. — 2 Mk.
Krafft, Prof. Dr. F. : Kurzes Lehrbuch der Chemie. Anorganische
Chemie. Mit zahlreichen Holzschn. u. I Spektraltaf. 5. verm.
u. verb. Aufl. (XIV, 525 S.) gr. 8". Wien '04, F. Deuticke.
— 9 Mk. ; geb. 10,50 Mk.
Briefkasten.
Abonnent in Stockholm. — Zu empfehlen ist je nach
dem speziellen Zweck: , .Tierphysiologisches Praktikum für
Tierärzte und Landwirte" von E. H. Stein. Stuttgart, Enke,
1903. 144 Seiten. Enthält die physiologisch wichtigen che-
mischen Methoden sehr klar und handlich. — „Leitfaden für
das physiologische Praktikum" von L. Hermann. Leipzig,
1899. Berücksichtigt hauptsächlich die physikalischen und
vivisektorischen Schulversuche, ist in erster Linie für den stud.
med. berechnet. Beide Werke ergänzen einander.
Prof. N. Zuntz.
Herrn J. J. in München. — Wir empfehlen Ihnen
Dannemann, Grundriß der Geschichte der Naturwissen-
schaften. Leipzig (Wilhelm Engelmann). I.Bd.6Mk. und U. Bd.
9 Mk. Das Werk ist entschieden ausgezeichnet als Einführung
in die Geschichte der Naturwissenschaften, wenn auch — wie
das bei dem großen Gebiet kaum anders sein kann — ein-
zelne Teile verbesserungsbedürftig sind, so vor allem das, was
sich auf die Geschichte der botanischen Morphologie bezieht,
wie der AbschniU ,,Die Botanik unter dem Einfluß der Meta-
morphosenlehre: Goethes Versuch über die Metamorphose der
Pflanzen 1790." (Vgl. diesbezüglich Potonie, Ein Blick in die
Geschichte der botanischen Morphologie und die Pericaulom-
Theorie. Gustav Fischer in Jena. Preis I Mk.).
Herrn K. S. in Gera. Die in Ihrem Schreiben ausge-
sprochene Idee, daß die Energie der Becquerelstrahlen , .um-
geformte Schwerkraftsenergie" sein könnte, ist zuerst von
Heydweiller in der Physik. Zeitschr. vom 15. Oktober 1902
(IV, Nr. 2) geltend gemacht worden. Er hält auf Grund von
vermeintlicher Gewichtsabnahme strahlender Substanzen die
Radioenergie für umgewandelte, potentielle Gravitationsenergie
und beruft sich bei dieser Vorstellung auf Lord Kelvin's
Ahterwirbel-Atomtheorie. Auch Geigel hat diese Ansicht ex-
perimentell zu begründen versucht (Ann. d. Physik, X, 429.
1903), indessen wurde ihm von Forch und Kucera (Phys.
Ztschr. IV, Nr. il v. I. März 1903) widersprochen. Jeden-
falls ist die Ansicht rein hypothetisch und es wird wohl vielen
so ergehen, wie dem Schreiber dieser Zeilen, daß sie sich
nämlich überhaupt keine rechte Vorstellung davon machen
können, was jene Hypothese besagen will.
Herrn W. M. in Hannover. — Mit bezug auf die Ihnen
in Nr. 8 gegebene Auskunft werden wir aus dem Leserkreise
freundlichst aufmerksam gemacht auf das Werk des an der
deutschen Seewarte amtierenden Professor Stechert,„Das
Marinechronometer und seine Verwendung in der nautischen
Praxis", 1894, Preis 3 Mk. Dieses Buch dürfte Ihren Wün-
schen besonders entsprechen.
Herr Lehrer L. in Hefslar. — Von meteorologischen
Vereinen in Deutschland kennen wir nur die ,, Deutsche meteo-
rologische Gesellschaft", deren Zweigverein Berlin z. Z. Prof.
Sprung als Vorsitzenden und Dr. Lachmann (Ansbacherstr. 41)
zum Schriftführer hat. Beschäftigung als meteorologischer
Beobachter können Sie in Preußen natürlich nur von der vor-
gesetzten Behörde, d. h. dem Berliner kgl. meteorologischen
Institute, erhalten.
Herrn G. K. in Thierberg-Abbau b. Osterode O.-Pr. —
Die Wissenschaft weiß nichts von einem zweiten, bzw. dritten
Erdmonde. Vor einigen Jahren wollte ein Hamburger Privat-
gelehrter einen zweiten Erdmond entdeckt haben , der sich
den Blicken der Menschen nur sehr selten zeige. Die Sache
beruhte auf Irrtum und falschen Voraussetzungen und hat
vielleicht gerade deshalb in Greifswald Nachahmung gefunden.
Möglicherweise hat in Greifswald der Vorübergang eines
dunkeln Körpers vor der Sonnenscheibe zu der Annahme
eines noch unbekannten Erdmondes geführt. Eine vereinzelte
Beobachtung solcher Art ist aber absolut nicht beweiskräftig,
da sie einfacher auf einen meteorischen Körper oder auch
auf einen in großer Höhe ziehenden Vogel zurückgeführt wer-
den kann. Nur falls solche Vorübergänge in regelmäßigen
Zwischenzeiten vorkämen, könnten sie zur Annahme eines die
Erde umkreisenden Körpers zwingen. Bis jetzt ist davon
nichts bekannt geworden. F. Kbr.
Berichtigung.
Auf Seite 147 der Nr. 10 N. F. III. sind im Artikel von
W. V. Gößnitz (Die Kiemenbogentheorie der Wirbeltiere) die
Figuren 16 und 19 versehentlich miteinander vertauscht.
Ebenso muß die Buchstabenerklärung zu Figur 19 gestellt
werden, die Bezeichnung selbst hat stehen zu bleiben.
Inhalt: F. Kienitz- Gerlo ff; Über die Symbiose von Pflanzenwurzcln mit Pilzen. - Kleinere Mitteilungen: Dr^ P.
Wagner: Der Humboldtfelsen im Zittauer Gebirge. - F. S. Ar c h enh o Id . Emen Apparat -;;^F-'< """g '^^ J^a-
nomL von Ebbe und Flut. - W. H. W alk er : Die Elektrometallurgie des Goldes. - Wetter-Monatsubers.cht -
Bücherbesprechungen: Prof. Dr. Thom6: Flora von Deutschland .Österreich und derSdiwe.z. - Ober ehrer l^
Geisenheyner: Flora von Kreuznach und dem gesamten Nahegebiet unter Einschluß des linken Kheinufers von
Bingen bis Mainz. — Literatur: Liste. — Briefkasten. — Berichtigung^ ^
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfeldc-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr,), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „^-'^^ NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
F. Koerber
Redaktion
Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 27. Dezember 1903.
Nr. 13.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Pust
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Pctilzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Elementare Berechnung der Logarithmen.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. A. Schmidt.
I.
Unter der großen Zahl derer, die mit Loga-
rithmentafeln oder Rechenschiebern rechnen, sind
wenige, die von der Berechnung der Logarithmen
durch die logarithmische Reihe etwas wissen, aber
wahrscheinlich viele, die nach einem Weg fragen,
auf dem man zu ihrer Berechnung kommen kann.
Ob es der beste Weg ist, kommt nicht zuerst in
Frage; darin ist die Logarithmenberechnung in
derselben Lage, wie die des Kreises. Auch bei 7t
fällt es niemandem ein, so zu rechnen, wie wir es
in Sekunda lernen und wie die Griechen ge-
rechnet haben. Trotzdem bleibt die Berechnung
der Kreisvielecke der anschaulichste und leichteste
Weg, auf dem wohl noch lange jedem Laien
gezeigt werden wird, wie man tc berechnen kann.
Bei den Logarithmen ist es ähnl.ch. Hier ist
der anschauliche Weg der, daß man darauf hin-
weist, daß Potenzen des Numerus gleich oder doch
annähernd gleich Potenzen von 10 sind. Nur
muß die Angabe der Potenzen von 10 und dem
Numerus so beschaffen sein; daß man sie nach-
rechnen kann. Daß 2!""""" fast gleich lo'"'!«'*
kleiner als 10-* und 2'°'' wenig größer als 10^^
ist, das kann jeder Sekundaner nachprüfen, den
man 2 ^^, 2 -", 2 ■*", 2 **•• ausrechnen läßt.
Der folgende Aufsatz will zeigen, wie man für
alle Primzahlen durch die Betrachtung ihrer Po-
tenzen die Logarithmen berechnen kann. Dabei
beschränkt sich dieRechnungzunächstaufßDezimal-
stellen, eine Genauigkeit, die etwa der der Rechen-
scliieber gleichkommen dürfte. Welchen Wert für
den Numerus die dritte Stelle der Logarithmen
hat, wird an 10 ''•'"•' untersucht. Zum Schluß wird
noch angegeben, wie man mit Hilfe der vor-
handenen Tafeln das Absuchen der Reihenfolge
der Potenzen einer Primzahl sich erleichtern kann,
so daß man ohne weiteres diejenigen berechnet,
die zur Kenntnis des Logarithmus führen, und die
wegläßt, die für diesen Zweck wertlos sind.
IL
Hat man zwei Werte eines Logarithmus, die
sich in der dritten Dezimale unterscheiden, wie
3,044 und 3,045, und ist 10 "'"^^^x, so ist
10
.04 6 ^^ jQ 3,044 + 0,001 ^_ j.. jO
0,001
ist, kann niemand nachprüfen, daß aber 2 °" wenig Wenn man darum den Wert von 10"'""' kennt.
194
so kennt man auch den Einfluß der dritten Dezi-
male auf das Resultat.
1000
Anstatt aber lo "■'"'" oder )' lo zu berechnen,
1024
wählen wir ) lO; denn da 1024 = 2'" ist, so
läßt sich diese Wurzel durch Quadratwurzelziehen
berechnen ; und das eine Resultat wird vom anderen
nicht viel abweichen. Jedenfalls ergibt sich der
10ä4
Einfluß der dritten Stelle aus | 10 ebensogut wie
lOoü
aus j' 10 ■
Die Quadratwurzeln können dabei so gezogen
werden, daß jedesmal 3 Dezimalen genau und die
nächsten durch abgekürzte Division gefunden
werden nach folgendem Schema:
110=3,162278
100:61
3900:626
14400:6322
1756:6324
491
48_
Man erhält dadurch
) 10,00000 ■=^ 3,162278
13,162278 = 1,778280
17778280= 1,333 522
1/1,074608 = 1,036633
1' 1,036 63 3 = 1,018151
1/1,018 151 r= 1,009034
1' 1^009034= 1,004507
11,004 507= 1,002250
IU33522= 1,154782
11,154782 = 1,074608
Also ist lo"'""' ungefähr gleich 1,002 und die
Vergrößerung der letzten Stelle eines dreistelligen
Logarithmus um I bedeutet die ISIultiplikation des
Numerus mit 1,002 oder die Addition von y/ff-j
des Wertes des Numerus. Ist also umgekehrt ein
Numerus bis auf etwa Yfj'Tnr seines Wertes genau,
so ist es auch der Logarithmus bis auf 3 Stellen.
— Dies bedeutet, daß z. B. die Logarithmen von
2400 und 2401 sich in 3 Stellen nicht unter-
scheiden. [Fünfstellig hat man log 2400 = 3,38021
log 2401=3,38039.] Nun ist 2400 = 8-3- 100,
2401 = 7*, also kann der dreistellige Logarithmus
von 7 dadurch gefunden werden, daß man mit den
Logarithmen von 2, 3 und 5 den von 2400 be-
rechnet, ihn gleich dem von 2401 setzt und dar-
aus den Logarithmus von 7 sucht, wie es unten
geschieht.
IIL
Um nun planmäßig die Potenzen der Prim-
zahlen zu suchen, die Potenzen von 10 nahezu
gleich sind, schreibe man zunächst eine größere
Reihe von Potenzen von 2 und 3 auf Die fol-
gende Tabelle enthält sie bis 2'*" und bis 3-'.
2
2048
2097 152
4
4096
4194304
8
8 192
8388608
16
16384
16777216
32
32768
33554432
le Wochenschri
ft.
N. F. m. Nr. 13
64
65536
67 108864
128
131
072
134217728
256
262
144
268435456
512
524
288
536870912
1024
1048 576
1073741824
3
177 147
9
531 441
27
1594323
81
4782969
243
14348907
729
43046721
2 187
129 140 163
6561
387420489
19683
I 162261 467
59049
3486784401
3
-'= 10460353203
Hier unterscheiden sich um etwa tAtf ^o""
einander
2" =
=65536 und
io-3« =
= 65610.
Denn der tausendste
Teil
ist bei beiden Zahlen
etwa 66, die eine aber ist nur um 74 kleiner als
die andere. Wir wollen daher setzen
2^®=^ 10-3* oder
i61og2 = 81og3+ 1.
Ebenso können wir die Zahlen 10460353203
und 1048576-10^ für unseren Zweck einander
gleich setzen, so daß sich ergibt
20 log 2 =: 2 1 log 3 — 4.
Aus diesen beiden Gleichungen erhalten wir
176 log 2 ^53 und 176 log 3 = 84, also
log2 = i\\ = 0,30i
log 3 = tV^ = 0,477-
Aus log 2 = 0,301 folgt ohne weiteres log 5 = 0,699.
IV.
Für die folgenden Primzahlen suche man Po-
tenzen, die bis auf einen Fehler von etwa yVött mit
Zahlen übereinstimmen, die durch schon behandelte
ausdrückbar sind.
I\Ian findet 7^ ^ 2401 und 2400 = 2''-3 - lO"^,
also können wir setzen
4 log 7 = 3 log 2 + log 3 + 2
= 0,903 +0,477+2 = 3,380
log 7 = 0,845.
ir''= 161051 wird gleich 161 000 oder
gleich 7-23-10^ gesetzt,
23^ = 279841 gleich 280000 oder 2--7-io^
Also ist 5 log II = log 7 + log 23 + 3
4 log 23 = 2 log 2 + log 7 + 4
20 log 1 1 = 5 log 7 + 2 log 2 + 16
= 4,225 -\- 0,602 + 16
= 20,827
log II = 1,041.
13^=2197 wird gleich 2200 gesetzt. Man
hat 3 log 1 3 ^ log 2 + log 1 1 + 2
= 3.342
log 13= i,>i4-
N. F. III. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
195
17-' r= 4913 kann gleich 4900 gesetzt werden;
dabei ist zwar der Fehler bei log ij'' etwas zu groß,
aber nicht bei log 17, wo er auf den dritten Teil
zurückgeht.
3 log I7 = 2l0g7 + 2
= 3.690
log 17= 1,230.
19*^130321 kann gleich 130000 gesetzt
werden.
4log 19 = 1,114 + 4
log 19= 1,279.
Die folgende Tabelle gibt für die Primzahlen
unter 100 die benutzten Potenzen, die benutzten
Näherungswerte und die damit berechneten Loga-
rithmen.
Primzahl-
potenz
Wahrer \Vert
Näherungs-
wert
Logarithmus
23^
279841
280000
1,362
29'^
841
840
1,462
31^
961
960
1.49'
37'
I 874 161
I 870000
1,568
41*
68921
69000
1,613
43'
1849
1850
1.633
47'
2209
2210
1,672
S3'
2809
2808
1.724
59'^
3481
3480
1,771
61^
3721
3720
1,785
67*
300763
300000
1,826
71'
5041
5040
1,851
73'
5329
5330
1,863
79'
6241
6240
1,898
.83^
6889
6890
1,919
89^
7921
7920
1,949
97'
9409
9408
1,987
Daß die Reduzierung auf einen Näherungswert
in den angegebenen Grenzen auf die drei ersten
Stellen der Mantisse keinen Einflui3 hat, kann man
auch am Beispiel so zeigen.
Aus 9400 ^ 2 •47- 10'^
9405 =5-9-ii-i9
9408 ^ 3 • 49 • 64 statt 9409 erhält man stets
2 log 97 = 3,973.
V.
Kommt es nur darauf an, zu zeigen, wie etwa
eine dreistellige Logarithmentafel berechnet werden
kann, so genügt das in III und IV benutzte Ver-
fahren. Will man darauf hinweisen, wie eine be-
liebige Genauigkeit erzielt werden kann, so gehe
man folgendermaßen vor.
Die Tabelle der Potenzen von
oio = 1024
^ I 048 576
= 1073741824
= 1099 511 627776
= 1125 899 906 842 624
= I 152921 504606846976
zeigt die Werte
220
.,30
t')0
oüO
2 '" := I 1 80 59 1 620 7 1 7 4 II 303 424
2"" =1208925819614629174706176
2«o = I 237940039285 38027489g 124224
2ioo-_ I 267650600228229401 496703 205 376.
Multipliziert man diese Zahlen mit 8, so findet
man 2"^ dicht vor einer Potenz von 10, 2'"* dicht
hinter einer solchen. Es ist
2»-'< lo-s und 2l''3> io31.
Also ist
TVj<l0g2<||
0,30097 < log 2 < 0,30107.
Bildet man die Quadrate, so findet man, daß
2iso<^ionö und 10-»« > lO«- ist.
Da aber 2'"= 1024 ist, also das Produkt einer
Zahl mit 1024 sich von dem mit 1000 gebildeten
nur wenig unterscheidet, so muß auch 2'"" nahezu
gleich 10°" sein.
Da 2^»« = (126 765...). (123794. ..)-64
= 1028 . . . ist, so findet man
TV^<log2<H
0,30102 << log 2 <; 0,30107.
So kann man fortfahren und durch weiteres
Potenzieren log 2 in immer engere Grenzen ein-
schließen.
Bei anderen Primzahlen erhält man ähnliche
Resultate. Zum Beispiel ist
3'-'>ioi'' 3-ä<io"
U<lo&3<H
0,47619 < log 3 < 0,47816.
Also ist auch 3*->io-" und 3^''-< 10'-'. Da
aber die ersten Stellen von 3^'- gleich 109418,
und die von 3" gleich 887303 sind, so sind die
ersten Stellen von 3" gleich 98477, und es ist
3^->io-» 3^*<io-', also ist
t^<Iog3<H
0,47619 < log 3 < 0,47727.
1039
und 71^ = 968 , also
7i9> loi» 7^*< 10", oder
i^<log7<H
0,84211 <Clog 7 <C 0,8461 5.
VI.
Auf die oben geschilderte Weise ist es möglich,
zunächst mit Beschränkung auf wenige Dezimal-
stellen und dann mit beliebiger Genauigkeit die
Logarithmen der Primzahlen zu berechnen. Es
bleibt noch übrig, ein Mittel anzugeben, wie man
das Suchen nach Potenzen der Primzahlen , die
einer Potenz von 10 benachbart sind, abkürzen
kann. Zu diesem Zweck stelle man die jetzt vor-
handenen Logarithmen durch Kettenbrüche dar.
Zum Beispiel ist oben gefunden log 59 = i,77J-
Durch die folgende Divison
1000
771
3
229
84
I
61
23
I
15
8
I
7
1 .
erhält man
ig6
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 13
log 59=1
1 +
3 + -
2 +
H-
1 +
i-l-
und daraus die Nährungswerte für den Bruch
n
T'
3 7
in 21
T7' ^5'
3 7
und für log 59 die Werte
fi4
1 Ol
TU'
_■ 7 1
lüTilT'
I 2
T' T'
16 2 3 fi2
"5 ' T"J' "36'
il
1 4 7
?5 '
232
T71'
17 7 1
TTlTi"iJ-
Man hat
10'
10'
10'
<S9 <io2
<59* <io«
•<59« <ioi
io23<59>3<;io"
io*i-< 59''^<; 10"- usw.
Hat man über den Logarithmus einer Zahl
gar keinen Anhalt, so bleibt nichts übrig, als eine
möglichst große Reihe von Potenzen aufzuschreiben
und daraus diejenigen zu bestimmen, die Potenzen
von 10 benachbart sind. \^erwandelt man die
Logarithmen der fünf- oder mehrstelligen Tafeln
in Kettenbrüche, so wird diese Arbeit sehr ge-
kürzt. Dabei zeigt sich aber, daß für die fort-
schreitende Genauigkeit nicht alle Näherungswerte
in Betracht kommen, die durch Potenzieren oder
Multiplizieren der ersten sich ergeben. Zum Bei-
spiel erhält man für log 2 aus der folgenden
Division
100 000
9691
421
45
5
2
30103
3
1030
9
188
2
8
5
3
I
I
2
die Näherungswerte
Ol 3 2S 59 14R ,,c!„r
T' -5' TlT' -51' T9(I' 7^f "SW.
Schon 1^1=0,30103 liefert den Logarithmus
auf 5 Stellen genau. Aus der Reihe
11)3 \/Og 2 <^^^
fehle
aber
ÜTl
(^V^<)TVü<l0g2<TVV
z. B. die Beziehungen
(ÄV <) TsVä < log 2 < ^V^
_ . . - _yIJ' die
zwar auch Grenzen für log 2 liefern, aber nicht
und Tpg\.
0,30102, ^!>/^ = 0,30107
0,30100, ^V5 = 0'30I04
MJ = 0,30102, ^^1 = 0,30105.
^■"St iil <C log - <C ii'i liefert bessere Grenzen.
0,30101, 1^1=0,30103.
bessere als ^^-^-
Denn tV'e =
9 0
1^5 ■
14 9
ins
Der Grund liegt in der Eigenschaft der Ketten-
biüche, stets mit den kleinsten Zahlen die ge-
nauesten Näherungswerte zu liefern.
VII.
Als Beispiel dafür, wie man an der Hand der
vorhandenen Tafeln die Logarithmen berechnen
kann, diene log 877. Die fünfstellige Tafel gibt
log ^77 = 2,94300 und man erhält dafür den Ketten-
bruch.
log 877 = 2 -fi
16 +
5 +
und die Näherungswerte
3 5 0
T' TT'
A3
18'
103 56S 2943
^5 ' TS'S' TUTnr-
= 769(.ioä)
= 592(-io»)
= 35o(.io^>)
10^*)
14 liefert die Beziehung 87^'^'^ 10^°. Man kann
also bei der Berechnung der Potenzen von 877 bis
zur I7ten beliebig viele auslassen. Darum rechnet
man
wobei die einge-
klammerten Poten-
zen von 10 die An-
zahl der nicht aus-
geschriebenen Stel-
len durch die gleiche
Anzahl von Nullen
nachweisen.
Aus den Ungleichungen
877''> 10'^" u. 877^*< I0-" erhält man durch
Potenzieren
877^*>io>"» 8773«< lo'»"
877" > loi»" 877'-' < 10'»» usw.
Die erste führt auf den Zwischenwert Sjj^'',
die zweite auf 877°- und 877^'', die zu prüfen sind.
Man findet 877^^ = 1009 (• 10""), also
877^
877*
877«
8771«= I22(
877>' = io7(.io''ä)>io'^
877»* = 942 (• I0'*''j < lO'*
877^5-^ IQlOS
877'-
877 »^
i77'^''< io"8; ferner ist
877i'>io'»8
877is<;ioi
Folglich hat
man
^ = 2,941 18 < log 877 < 2,94444 = fl
V/ = 2,94286 < log 877 < 2,94444= V^6
V^/ ^ 2,94231 < log 877 < 2,94340 = V-j»
usw.
Bestimmt man den Kettenbruch und die Nähe-
rungswerte mit einer siebenstelligen Tafel, so
bleiben die ersten Werte konstant, die anderen
ändern sich und führen auf andere Ungleichungen
zwischen Potenzen von 10 und dem Numerus.
Für die Berechnung der Logarithmen ist das aber
natürlich ganz gleichgültig. Die vorliegende Theorie
besagt, daß man unter den Potenzen des Numerus
zwei auswählt, die von unten und von oben an
N. F. III. Nr. n
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
197
Potenzen von lü herankummen. Durch l'otenzieren
der beiden zuerst gefundenen kommt man zu
neuen, zwischen denen noch andere liegen, die
den gesuchten Logarithmus in immer engere Grenzen
einschließen. Dabei dient, wie gesagt, der vor-
handene Logarithmus und der daraus hergeleitete
Kettenbruch nur als Wegweiser. Der Schüler, den
man so rechnen läßt, wird leicht einsehen, daf3
man in Ermangelung anderer Methoden auf diese
Weise die Logarithmentafeln berechnen könnte.
Wer es etwa zuerst so gemacht hätte, der hätte
in Unkenntnis des schließlichen Ergebnisses natür-
lich länger suchen müssen, als der, der heute mit
den Näherungswerten als Führern sucht.
Kleinere Mitteilungen.
Der Laubwechsel tropischer Bäume betitelt
sich ein Aufsatz von Prof. Dr. tj. Volkens in
der Gartenflora (Berlin, Gebrüder Bornträger, 1903).
— Der Wechsel der Jahreszeiten wird uns Nord-
ländern durch nichts so sinnfällig gemacht, als
durch das fallende Laub im Herbst und das neu
treibende im Frühjahr. Wir sprechen von einem
Schlafengehen der Natur zum Winter hin und von
ihrem Wiedererwachen im Lenz. Daß es auch
bei uns eine ganze Reihe von Bäumen und Sträuchern
gibt (z. B. Coniferen, Buchsbaum, Stecheiche), die
immergrün sind, bei denen zum mindesten das
Fallen der Blätter an keine bestimmte Jahreszeit
gebunden ist, daran denken wir meist nicht. Die
Abhängigkeit des Laubwechsels von klimatischen
Faktoren wird allgemein als feststehende Tatsache
angesehen. Bei dieser Sachlage muß es auffällig
erscheinen , daß verhältnismäßig spät erst von
Botanikern an die Lösung einer Frage heran-
gegangen wurde, welche doch sehr nahe liegt, an
die nämlich: Wie verhalten sich die Holzgewächse
bezüglich der Lauberneuerung in Gegenden, wo
das Wetter das ganze Jahr über völlig oder un-
gefähr dasselbe bleibt, wo insbesondere immer
gleiches Sonnenlicht strahlt, wo reichliche Regen-
mengen und hohe Temperatur in keinem Monat
einen Stillstand der Vegetation bedingen?
Sein Aufenthalt in Buitenzorg durch 7 Monate
gab V. Gelegenheit, Schimper's diesbezügliche all-
gemeinere Feststellungen im einzelnen zu verfolgen.
Buitenzorg hat den Nachteil, daß von einem sich
das ganze Jahr über durchaus gleichbleibenden
Klima nicht die Rede sein kann und zwar darum
nicht, weil ein Wechsel zwischen einem regen-
reichen und einem regenärmeren Jahresabschnitt
besteht. Man darf aber nicht vergessen, daß Ört-
lichkeiten, die ein durchaus das ganze Jahr über
sich gleich bleibendes Klima besitzen, überhaupt
auf der Erde nur spärlich gesät sind.
Eine weit verbreitete Mein'ung ist, daß in legen-
reichen Tropenländern die Natur nie zur Ruhe
komme, daß Werden und Vergehen sich ohne
Pause aneinanderschließe. Mit Bezug auf den Laub-
wechsel hieße das: die Bäume treiben fortdauernd,
lassen an der Spitze aller Zweige unaufhörlich
neue Blätter hervorsprießen, während früher ge-
bildete in der Reihenfolge ihrer Entstehung zum
Abfall gelangen. Ein solches Verhalten kommt
nun allerdings vor, es ist aber äußerst selten.
V. kann nur zwei Bäume nennen, bei denen er es
konstatierte, Albizzia moluccana, eine Leguminose,
und Filicium decipiens, eine Sapindacee. Albizzia
ist ein Baum, der es in 18—20 Jahren auf eine
Höhe von 30 und auf einen Umfang von 2 — 3 m
bringt. Mit unglaublicher Schnelle schießt er wie
eine Staude empor, nimmt anfangs an jedem Tage
um I mm im Umfange zu, stirbt aber zu einer
Zeit bereits wieder ab, wo viele unserer Bäume
erst in das tragfähige Alter kommen. Mit diesem
beschleunigten Abspinnen des Lebenszyklus mag
es zusammenhängen, daß Albizzia moluccana und
Filicium decipiens keine Periodizität des Treibens
zeigen. Bei allen übrigen Bäumen trat dieselbe
in augenfälligster Weise auf Die Zahl der Bäume,
bei denen der Laubwechsel sich ähnlich vollzieht,
wie bei unseren Buchen, Eichen, Linden usw., bei
denen sämtliche alten Blätter fallen, bevor neue
gebildet werden, ist auch in den regenreichsten
Tropengegenden sicher viel größer, als man ge-
meinhin annimmt. Fast alle Holzgewächse, deren
Laub krautig ist, nicht die Textur etwa des Lorbeer-
oder Oleanderblattes hat, gehören hierher. Wenn
die meisten Reisenden trotzdem den tropischen
Wald als immergrün erklären, so liegt dies daran,
daß einerseits bei vielen Arten die Zeit, während
der einzelne Baum kahl steht, eine sehr kurze ist,
sich auf wenige Tage beschränkt, und daß anderer-
seits die verschiedenen Individuen ein und der-
selben Art ihr Laub nicht zu gleicher Zeit fallen
lassen.
Wenn man die Bäume, die völlig kahl werden,
in Gruppen sondert, so treten einem besonders
auffällig diejenigen entgegen, welche ihr Laub
mehrmals im Jahre verlieren. Von einem Feigen-
baum, Ficus hirta, sah V. zu jeder Zeit einzelne
Exemplare kahl stehen, andere im vollen Laube,
noch andere entweder dabei, eben die Blätter ab-
zuwerfen oder neue zu treiben. Die genauere
Prüfung ergab, daß diese Art den Laubwechsel
regelmäßig in Fristen von 4^/2 — S'/.j Monaten voll-
zieht, daß die einzelnen Exemplare 3 — 5 Tage
kahl stehen, daß das \yerfen 8 — 10 Tage, die
Wiederbelaubung vom Öffnen der Knospen bis
zur völligen Ausbildung der Blätter i'/.j— 2V2
Wochen erfordert. Pongamia glabra, eine Legumi-
nose, die an allen tropischen Küsten gemein ist,
wirft das gesamte Laub zweimal im Jahr, im
Januar und im Juli, ebenso Terminalia belerica,
während Terminalia Catappa meist im Frühjahr
und wiederum im Herbst ein neues Blätterkleid
anzieht. Ein Schritt weiter führt zu Arten, die alle
S— 10 Monate wechseln, bei denen also das ein-
igS
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 13
zelne Exemplar in diesem Jahr vielleicht im August,
im nächsten im Juni, 1905 im März für kurze Zeit
blattlos wird. Arten, die sich in der Richtung
genau wie unsere Bäume verhalten, daß sie sich
regelmäßig nur im Frühjahr neu belauben, kommen
auch vor, aber sie sind keine alb.u häufige Erschei-
nung.
Fassen wir das Werfen als Einzeltatsache ins
Auge, so ist zunächst zu bemerken, daß es physio-
logisch wie bei uns durch das Auftreten einer
Korklamelle veranlaßt wird, die am Grunde des
Blattstiels auftritt und den in den Leitungsbahnen
der Zweige sich fortbewegenden W'asserstrom ver-
hindert, weiterhin in das Blatt überzutreten. Das
Laub wird gelb danach, in vielen Fällen aber auch
rot. Der Abfall geschieht entweder gleichzeitig,
indem alle Äste auf einmal werfen, oder er be-
ginnt an der Spitze und setzt sich zur Basis der
Krone fort — auch das Umgekehrte tritt ein —
oder endlich es verliert ganz unregelmäßig heute
dieser, morgen jener Ast seine Blätter. Ebenso
wechselnd ist die Zeit, in der der Laubfall sich
abspielt. Bei der einen Art umfaßt sie wenige
Tage, bei der anderen Wochen, ja sogar Monate.
Auch die Zeit des Kahlstehens ist außerordentlich
verschieden. Terminala Catappa kann heut das
letzte Blatt fallen gelassen haben und am nächsten
Morgen öfifnen sich bereits allenthalben die jungen
Knospen. Pongamia glabra stand mehr als 5 VVochen
kahl, zwei Exemplare der Albizzia lebbek ver-
harrten volle 6 Monate im Zustande der Winter-
ruhe. Bei der einen Art vergehen im weiteren
kaum 8 Tage und der vorher kahl gewesene Baum
prangt wieder in vollem Schmuck seines Blätter-
kleides, bei der anderen zieht sich die Wieder-
belaubung vom ersten Sichtbarwerden neuer Blätter
bis zu deren Heranwachsen zu normaler Größe
viele Wochen lang hin.
Als eine zweite Gruppe von Bäumen seien
solche zusammengefaßt, die, ohne völlig kahl zu
werden, doch an den einzelnen Zweigen das ge-
samte Laub wechseln. Das kann sich in dreierlei
Weise abspielen, einmal, indem die Neubelaubung
allenthalben zugleich mit dem Fallen eintritt, dann,
indem die Blätter erst abgeworfen werden, nach-
dem die neuen bereits fertig ausgebildet sind, end-
lich, indem ein Ast nach dem andern oder deren
viele zugleich werfen und von neuem treiben,
während der Rest vorläufig noch in Ruhe bleibt.
Der letzte Fall kommt darauf hinaus, daß die
Krone nicht in der Gesamtheit, sondern partie-
weise, in Intervallen, die Belaubung erneuert, so
ist's bei dem bekannten Brechnußbaum, Strychnos
nux vomica. Mitte April sah man an ihm unter-
mischt zweierlei Äste: solche, an denen alles alte
Laub abgefallen war und an denen eben neben
Blüten junge, rötliche Blätter hervorbrachen, und
andere, an denen sich das dunkelgrüne, alte Laub
noch vorfand. 14 Tage später warfen auch die
letzteren und in weiteren 8 Tagen waren auch sie
wieder frisch ergrünt. — Ein am Ende der Reihe
stehendes Beispiel ist eine Zizyphusart. Ein Exem-
plar derselben fiel Mitte Januar dadurch in die
Augen, daß es in dem Grün seiner eiförmigen
Krone zwei voneinander getrennte, mehrere Quadrat-
meter große, zirkumskripte Stellen gewahren ließ,
welche sich durch schön rosenrotes, eben zur Ent-
faltung gekommenes Laub auszeichneten. Es ge-
hörte, wie eine nähere Prüfung ergab, zwei vom
Stamm abgehenden Ästen an, die an sämtlichen
ihrer letzten , buschig gehäuften Auszweigungen
eben neu getrieben hatten. Das rote Laub wurde
nach 4 — 5 Tagen grün, war aber durch seine
lichtere Tönung noch 6 Monate später von dem
älteren Laube wohl zu unterscheiden. Anfang
April wiederholte sich das Spiel und ebenso im
Juni; beide Male waren es abermals je zwei der
Hauptäste, die einen vollständigen Blattwechsel
vollzogen.
Es gibt — wie gesagt — auch Arten, die das
alte Laub — und zwar vollständig — erst ver-
lieren, nachdem das neue sich gebildet hat. Durch
diese werden wir zu den immergrünen Bäumen
im engeren Sinne hinübergeführt. V. versteht dar-
unter solche, bei denen wir zu jeder Zeit im Jahr
zum mindesten zwei Blattschübe unterscheiden
können. Ein Blattschub ist die Gesamtheit aller
Blätter, die eine Zweigknospe vom Beginn bis zum
Abschluß eines einmaligen Treibens erzeugt. An
einem Zweige sind drei Blattschübe vorhanden,
wenn die noch in Funktion befindlichen Blätter
an ihm gruppenweise in drei verschiedenen, auf-
einander folgenden Zeitabschnitten entstanden sind,
die 5 untersten beispielweise im März, die fünf
höheren im Juli und die 5 letzten am Gipfel im
November eines Jahres. Die einzelnen Schübe sind
meist streng voneinander zu unterscheiden. Schub
von Schub setzt sich zumeist durch die sichtbar
bleibenden Narben abgefallener Knospenschuppen
ab. Häufig sind die ersten Blätter eines neuen
Schubes kleiner oder größer als die letzten des
vorhergegangenen Schubes, manchmal beginnt auch
der neue Schub mit einem Blattpaar, das eine von
den folgenden durchaus abweichende Gestalt hat,
ja es kommt vor, daß immer abwechselnd der eine
Schub kleine, der nächste größere Blätter erzeugt.
Bei vielen hierzulande kultivierten Rhododen-
dronarten und Pirolaceen kann man beobachten,
daß die Blätter an den aufrechten Zweigen zu
Etagen übereinander geordnet sind, immer eine
Mehrzahl spiralig inserierter ist durch ein blatt-
freies Zwischenstück von der höheren wie von der
tieferen Gruppe geschieden. Jede Gruppe bildet
nach V.'s Terminologie einen Blattschub. Solche
etagenartig übereinander — oder auch wohl an
horizontalen Ästen nebeneinander stehenden —
Blattschöpfe sind bei tropischen Bäumen unge-
mein häufig. Sie werden vielfach dadurch ver-
anlaßt, daß das erste Internodium zu einem finger-
bis handlangen Zweigstück auswächst, während die
folgenden ganz kurz bleiben. — Lassen uns alle
die aufgeführten Merkmale im Stich, so können
wir die einzelnen Blattschübe mitunter durch ein
nur in den Tropen mögliches Kennzeichen scharf
N. F. III. Nr. I
Natiirvvissciisrhaftlichc Wochenschrift.
199
voneinander sondern, durch ihre Bedeckung mit
epiphytischen Mechten und Algen nämlicli.
Die immergrünen Bäume lassen sich in zwei
Klassen bringen. Bei den einen geraten sämtliche
oder doch die ganz überwiegende Zahl der Knd-
knospen bzw. auch vereinzelte .Seitenknospen zu
gleicher Zeit ins Treiben, bei den anderen immer
nur ein kleinerer oder größerer Bruchteil aller.
Was die ersteren angeht, so ist es ein sehr ver-
breiteter Fall, daß der Baum sich über und über
mit neuen hellgrünen, bleichen, sehr häufig auch
roten Blättern bedeckt, bald nachdem oder kurz
vordem die Blätter des vorvorletzten .Schubes ab-
gefallen sind. An solchen treffen wir dann dauernd
zwei Blattschübe in Funktion, einen jüngeren und
einen älteren, einen hell- und einen dunkelgrünen.
Daß drei I^lattschübe immer gleichzeitig vorhanden
sind, kommt auch noch häufig vor, vier, fünf und
mehr sind zum wenigsten an alten, ausgewachsenen
Bäumen eine Seltenheit. — Die immergrünen
Bäume der zweiten Klasse, die sich dadurch aus-
zeichnen, daß immer nur eine beschränkte Zahl
von Knospen neue Blätter entstehen läßt, weisen
im einzelnen eine große Mannigfaltigkeit der hier-
her gehörigen Erscheinungen auf. Wir stoßen auf
Arten, bei denen zu jeder Zeit, wann wir auch
den Baum betrachten mögen, einige wenige oder
auch eine größere Zahl von Zweigspitzen mit eben
sich entfaltendem Laube bedeckt sind, während
alle übrigen in Ruhe erscheinen, und wir sehen
andere, die in ganz regelmäßigen Intervallen von
VVocIien und Monaten einen Teil ihrer Knospen
zum Ausschlagen bringen. Für beide gilt, daß
die jeweilig obersten Blätter an den verschiedenen
Auszweigungen der Krone ungleichen Alters sind,
denn die einen können ja vor acht Tagen, die
anderen vor acht Monaten erzeugt worden sein.
Eine bestimmte Gruppe unter den immer-
grünen Bäumen stellen diejenigen dar, welche nach
der Ausdrucksweise Treubs ihr Laub , .ausschütten".
Wir bemerken an ihnen, daß eine Anzahl Blatt-
knospen zu gleicher Zeit mächtig anschwellen, alle
zusammen in einer Nacht aufbrechen und dann
am Morgen als das Produkt jeder einzelnen ein
ganzes Büschel fast völlig ausgewachsener, schlaff
herunterhängender, lichtgrüner, weißer oder roter,
neuer Blätter gewahren lassen. Das Merkwürdigste
dabei ist, dal:! dieses Ausschütten, das von monate-
langen Pausen unterbrochen wird, alle im Buiten-
zorger Garten vorhandenen Exemplare einer Art
fast genau zu derselben Stunde befällt. Wir haben
da ein Seitenstück zu einer von Went ausführ-
licher erörterten Tatsache, die auch Schimper er-
wähnt. Dieser sah im Buitenzorger Garten am
13. Dezember 1889 ausnahmslos alle Exemplare
einer epiphytischen Orchidee, Dendrobium cru-
menatum, genau zur selben Zeit ihre weifSen Blüten
öffnen und dasselbe am 19. Januar 1890 an allen
ihm zu Gesicht kommenden Exemplaren der Art
in der Umgebung der Stadt Samarang geschehen.
Eine weitere Besonderheit bot die Dammara-
fichte, Agathis Dammara, dar. Betrachtet man
deren letzte Auszweigungen, so findet man sie von
einem kurzen, zentralen Endgliede und einem meist
dreigliedrigen Quirl von Seitenzweigen gebildet.
Endglied wie Seitenzweige schließen mit einer
Knospe ab. Das Treiben gestaltete sich nun so,
daß erst, am 10. Mai, die Knospen des Endgliedes
ausschlugen und bis zum 20. Mai ein neues, reich
beblättertes, aus einem zentralen und drei Seiten-
zweigen bestehendes Achsensystem lieferten. Dann
trat Ruhe ein bis zum 8. Juni, wo ein neues
Treiben anhub, das aber diesmal nur die End-
knospen der im Quirl stehenden Seitenzweige er-
faßte und deren einfache Verlängerung bewirkte.
Ganz eigenartige Verhältnisse bieten einige Ver-
treter der Meliaceen-Gattungen Chisocheton, Aglaia
und Dysoxylon dar. Bei ihnen hat nicht nur der
Zweig am Ende eine Knospe, mit der er ab-
schließt, sondern auch jedes einzelne der großen,
paarig gefiederten Blätter. Beiderlei Knospen
treiben periodisch aus , durch die Tätigkeit der
einen wird der Zweig verlängert, durch die der
anderen fügt das Blatt den schon vorhandenen
Blättchenpaaren ein paar neue hinzu.
Wir unterscheiden bei unsern Bäumen und
Sträuchern Zweigknospen mit begrenztem und
solche mit unbegrenztem Wachstum. Eine Roß-
kastanie, die begrenzte Knospen hat, bildet aus
diesen im Frühjahr schnell hintereinander gewöhn-
lich 5 — 7 Blätter, dann \erharrt der Zweig bis
zum nächsten Jahr in Ruhe. Eine Weide mit un-
begrenzten Knospen schlägt im März oder April
aus, es entstehen neue Seitenzweige und diese ver-
längern sich den ganzen Sommer hindurch, pro-
duzieren an der Spitze fortdauernd neue Blätter,
bis der Herbst einen Stillstand eintreten läßt. Be-
grenzte und unbegrenzte Knospen treffen wir nun
auch bei den Bäumen des tropischen Waldes an,
jedoch mit der Einschränkung, daß unbegrenzte
sehr selten sind. Die Regel bilden begrenzte
Knospen, d. h. also solche, die beim jedesmaligen
Treiben nur eine beschränkte Zahl von Blättern
liefern, oft sogar eine ganz bestimmte, für die Art
konstante.
Was das Werfen der immergrünen Bäume an-
betrifft, so kann es ein periodisches sein wie das
Treiben, bei sehr vielen Arten ist es aber im Gegen-
satz dazu ein unperiodisches. Wir sehen im letzteren
Fall das neue Laub in bestimmten Intervallen an
allen oder wenigen Zweigen hervortreten, das alte
aber löst sich vereinzelt das ganze Jahr über ab;
an welchem Tage wir auch einen Baum ins Auge
fassen, immer werden wir eine größere oder kleinere
Zahl gelber Blätter an ihm sehen, die dicht vor
dem Abfall stehen.
Was ist denn nun wohl der Grund, daß auch
in Gegenden, wo das ganze Jahr über ein gleich-
mäßiges Klima herrscht, dennoch bei der Laub-
erneuerung ein ständiger Wechsel zwischen Perioden
der Tätigkeit und Perioden der Ruhe zu beob-
achten ist. Wir nehmen es als selbstverständlich
an, daß es bei uns die Kälte ist, die die Blätter
zum Abfall bringt, und die steigende Wärme, die
20O
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 13
sie im Frühjahr wieder hervorlockt. Unterschiede
zwischen einer warmen und kalten Jahreszeit
existieren aber in Java überhaupt nicht, und die
Unterschiede zwischen den regenreicheren und den
regenärmeren Monaten sind zu geringfügig, als
daß wir ihnen einen tiefgreifenden Einfluß zuschreiben
könnten. Wir erfuhren ja auch, daß die eine Art
ihr Laub vielleicht im Juli, die andere im Dezember
wechselt und es ist hinzuzufügen, daß selbst die
verschiedenen Individuen ein und derselben Art
in dieser Beziehung ein sehr ungleiches Verhalten
zeigen. Das Klima kann es also jedenfalls nicht
sein, das als Urheber der Periodizität angesprochen
werden könnte. Was nun aber sonst .' Wir müssen
gestehen, wir wissen es nicht.
Bei den Erscheinungen des Laubwechsels stehen
wir vor Rätseln. Zwei Exemplare des Legumi-
nosenbaumes Schizolobium excelsum besaßen im
Januar je einen starken, \'om Stamm ausgehenden
Ast, der völlig laublos war, während die übrigen
Äste reich beblättert waren. Jeder würde diese
beiden Äste für tot gehalten haben und dies um
so mehr, als sie volle drei Monate lang keine
Spur wieder erwachenden Lebens zeigten. Dennoch
waren sie nicht tot, sie hatten nur geschlafen. Im
Mai schlugen sie wieder aus und waren vier Wochen
später von ihren Genossen nicht mehr zu unter-
scheiden. Derartige „schlafende" Äste sind auch
bei anderen Arten verbreitet, so namentlich an
einem Obstbaum der Tropen, der Sapindacee Lan-
sium domesticum , doch fallen sie hier darum
weniger auf, weil sie nicht der ersten, sondern
einer höheren Ordnung angehören. ixl ""
Über photographische Wirkungen im
Dunkeln. — Gelegentlich von Versuchen, die ich
im Laufe des letzten Jahres zu dem Zwecke an-
stellte, um das Verhalten belichteter Uransalze
zu beobachten, kam mir folgende Erscheinung
unter: Auf weißes Papier wurden mittels Uranitrats
einige Worte geschrieben, das Papier sodann für
kurze Zeit dem Sonnenlicht ausgesetzt und, im
Dunkeln mit einer Bromsilberplatte bedeckt, einen
Tag der Einwirkung überlassen. Zu meiner LTber-
raschung zeigte sich bei der Entwicklung anstelle
eines erwarteten verkehrten Positivs ein Negativ.
Das belichtete Uransalz hatte also nicht auf die
Platte gewirkt, dagegen zeigte weißes, besonntes
Papier eine deutliche Wirkung auf die photo-
graphische Platte. Dadurch wurde ich auf das
Verhalten belichteten Papiers aufmerksam gemacht
und ich stellte eine Anzahl von Versuchen an,
welche mir ergaben, dal3 weißes oder in ent
sprechender Weise gefärbtes Papier, die Eigen-
schaft hat , nach intensiver Belichtung durch
Sonnenlicht, auch nach Aufhören derselben noch
längere Zeit chemisch wirksame Lichtstrahlen aus-
zusenden , welciie auf die photographische Platte
wirken.
Da mir mein Beruf nicht gestattet, die Sache
weiter zu verfolgen, teile ich hier einige gemachte
diesbezügliche Beobachtungen mit , in der Hoff-
nung, daß andere berufene Forscher die Sache
weiter verfolgen werden.
1. Man setzt weißes, schwarz oder rot be-
drucktes Papier M einige Minuten dem Sonnenlicht
aus, legt dann möglichst bald auf die besonnte
Seite in der Dunkelkammer eine Trockenplatte
und läßt einige Stunden bis einen Tag liegen.
Nun entwickelt man mit einem der gewöhnlichen,
kräftigen Entwickler und erhält ein, je nach der
Beschaffenheit des Papiers, schwächeres oder
kräftigeres Negativ des Druckes. Lag das Papier
vorher längere Zeit im Dunkeln und bedeckt man
während der Besonnung einzelne Stellen mit
schwarzem Papier, das während des Kontakts mit
der Bromsilberplatte natürlich wieder entfernt wird,
so erweisen sich diese Stellen als unwirksam, ein
Beweis, daß tatsächlich die Belichtung und nicht
etwa chemische Einwirkung des Papiers auf die
Platte, die Ursache der Schwärzung derselben ist.
2. Versuche mit Sonnenlicht, welches durch
farbige Gläser filtriert wurde, ergaben folgendes:
Belichtung mit Licht des Spektrums von rot bis
blau hatte keine Wirkung, violettes Licht wirkte
weitaus am besten.
3. Nicht alles weiß scheinende Papier gibt
gleich gute Resultate. Papier mit einem Stich
ins gelbliche oder rötliche wirkt schwach oder
gar nicht.
4. In der Masse blau gefärbtes Papier wirkt
sehr stark ^) , doch ist nicht alles blauaussehende
Papier gleich wirksam. Anderes gefärbtes Papier
wirkt schwach oder gar nicht." )
5. Holzstoffreiches Papier (selbst gelblich ge-
färbtes) wirkt sehr energisch.
6. Läßt man ein kräftiges Spektrum auf weißes,
längere Zeit im Dunkeln gelegenes Papier ein-
wirken , so zeigt sich , daß die Wirkung erst im
violetten und ultravioletten Teil auftritt, d. h. daß
nur jene Stelle des Papiers, welche unter dem
Einfluß des violetten und ultravioletten Teiles des
Spektrums stand, photographisch wirksam wird.
Infolge der gemachten Beobachtungen wurden
mii' einige bisher unerklärliche Erscheinungen an
käuflichen Trockenplatten erklärt. Wiederholt
zeigen sich die oberen Platten solcher Pakete,
welche in weißem Pajsier eingewickelt waren, ver-
schleiert. Besonders gilt dies von Entwicklungs-
papieren. Nach dem Mitgeteilten sollte die licht-
empfindliche Schicht derartiger Papiere nicht auf
solches weißes Papier aufgetragen werden, welches
vorher längere Zeit dem Tageslicht ausgesetzt war.
Die meisten Platten zeigen an zwei gegenüber-
liegenden Stellen am Rand nach dem Entwickeln
dunklere Streifen. Sie rühren von den weißen
') Auch Schriften mit anderen Stoßen (Tinte , farblose
Salze) verhindern die photochemischc AUtion des belichteten
Papiers und liefern daher Negative.
^) Sehr stark wirkt z. B. das dem käuflichen Kalzium-
Brillantpapier beigegebene blaue Papier mit der Gebrauchs-
anweisung.
^) So scheint Ultramarinblau unwirksam zu sein. Ks
wäre gut, wenn verschiedene Farbstoffe, bzw. auch .Vnilin-
farben, auf ihre photochemische Wirksamkeit geprüft würden.
N. 1'. III. Nr. I-,
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
201
Papierzwischenlagen her, welche zur Trennung der
Platten eingelegt werden.
Zur Erklärung der Erscheinung mag hier be-
merkt werden, daß es sich wahrscheinlich um
auch nach der PCrregung fortdauernde Lichtschwin-
gungen nach Art jener in der sogen. Leuchtfarbe
handelt. Prof. Dr. J. Blaas, Innsbruck.
Die Birkeland'sche elektromagnetische
Kanone. — Die skandinavische Fachpresse hat in
jüngster Zeit die Besprechung der Professor Birke-
land'schen elektromagnetischen Kanone wieder auf-
genommen. Bekanntlich besteht das Prinzip dieses
Apparates darin, daß ein Eisenkern in ein Sole-
noid hineingezogen und am anderen Ende heraus-
geschleudert wird. Dies Prinzip war freilich nicht
neu, und was der Erfindung des norwegischen
Gelehrten ihren eigentlichen Wert verleiht, ist die
Methode, nach der mit verhältnismäfiig geringem
Energieverbrauch und ohne P\inkenbildung gute
Resultate erzielt werden.
Wenn man ein Geschoß vermittels einer elek-
trischen Kraft in das Innere einer Spirale hinein-
saugt, so wird dasselbe magnetisch und bleibt
in cler Mitte des Solenoids stehen, wo die beiden
entgegengesetzten Kräfte, die auf dasselbe ein-
wirken, sich das Gleichgewicht halten. Wenn
man den Strom gerade in diesem Augenblicke
unterbricht, so geht der Kern weiter und fliegt,
wenn die Stromstärke beträchtlich war, mit sehr
bedeutender Kraft hinaus. Die zu lösende Schwierig-
keit liegt in der Art der Stiomunterbrechung.
Die Birkeland'sche Kanone besteht aus einer
Reihe kurzer und platter Elementarspulen, in denen
nacheinander der Strom unterbrochen wird, je nach-
dem der vordere Pol des Geschosses an den Spulen
vorbeipassiert; auf diese Weise haben dieselben
keine merkliche Einwirkung auf den Hinterpol des
Geschosses. Zu diesem Zwecke werden die Ver-
bindungen durch Stromunterbrecher gebildet, die
in einem in der Kanone angebraciiten Längs-
einschnitt angeordnet sind. Die Arme dieser .Strom-
unterbrecher können gegeneinander verschoben
werden, so daß ihr Kontakt zerstört und auf diese
Weise der die betreffende Solenoidgruppe durch-
fließende Strom unterbrochen wird. Diese Ver-
schiebung wird durch einen keilförmigen Stift be-
wirkt, welcher auf einem vom Geschoß mitge-
nommenen Schlitten aufsitzt. Beim Vorwärts-
dringen des Geschosses werden die Kontaktarme
nacheinander getroffen und von dem Stift zur
Seite geschoben. Um das Eisengeschoß mit
Magnetismus zu sättigen , verwendet man eine
Spule mit unabhängiger Strom(|uelle. ¥Än be-
sonderer Motor, dessen Achse mit dem Hinterteile
des Geschosses fest verbunden ist, dient dazu,
letzteres vor Beginn seines Laufes in Rotation zu
versetzen.
Die von Birkeland ausgeführten Versuche haben
sehr bemerkenswerte Ergebnisse geliefert. Es ist
von Interesse, die bedeutenden Überspannungen
zu beachten, welche die Leiter erfahren können.
vorausgesetzt, daß diese nur während kurzer Zeit
wirken; das Eigenartige der elektromagnetischen
Kanone besteht gerade in der Bewirkung sehr be-
deutender Überspannung während einiger Hundert-
stel Sekunden. Der Strom wird, nachdem er in
alle Spulen geschickt worden ist, während des
Vorwärtsdringens des Geschosses nacheinander aus
einer immer größeren Zahl derselben ausgeschaltet.
Der Erfinder hat auch ein Solenoidgeschoß
von geringerem Kaliber konstruiert, dessen Ver-
wendung besonders bei Stromquellen mit geringem
iimeren Widerstände vorteilhaft ist. In diesem
Falle empfiehlt es sich, die Solenoide in serie-
verbundenen Gruppen anzuordnen, wobei jede
Gruppe einen ununterbrochenen Draht darstellt,
an dem das Geschoß entlang gleitet. A. Gr.
Himmelserscheinungen im Januar 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist bis zum 11. abends
im SW., gegen Ende des Monats morgens im SO. für kurze
Zeit sichtbar. Venus ist als Morgenstern zuletzt noch 1^/4
Stunden lang sichtbar. Mars kann abends im W. immer
noch I '2 Stunden lang, Jupiter im SW. zuletzt noch 3 Stun-
den lang gesehen werden, während Saturn um die Mitte
des Monats unsichtbar wird.
Verfinsterungen der Jupitertrabanten:
3. Jan. 9 Uhr 33 Min. 50 Sek. ab. M.E.Z. des 111. Eintritt
4. ,, () ,, II ,, 24 ,, „ „ ,, 1. Austritt
9- V 7 ,. 35 .. 55 >. .. .. ., II- „
II- » 5^ ,, 6 „ 46 ,, ,, „ ,, 1. „
27- „ 6 n 26 „ 3 „ „ „ „ 1. ,,
31. ,, 4 „ 56 „ 56 ,, „ ,, „ IV. Eintritt
31. ., 6 ,, 23 ,, 29 ,, ,, ,, ,, IV. .-\uslriu
Sternbedeckungen: In der Neujahrsuacht wird .\ldcbaran
durch den Mond bedeckt. Der Eintritt erfolgt für Berlin um
1 Ulir 51,6 Min. morgens, der Austritt um 2 ühr 8,8 Min.
.\ni Abend des 5. Jan. wird o Leonis um 1 1 Uhr 22,0 Min.
bedeckt und tritt um 12 Uhr 23,6 Min. wieder hervor. Am
31. wird /. Germinorum um 4 Uhr 8,1 Min. abends bedeckt
und tritt um 5 Uhr 0,9 Min. wieder aus.
Algol-Minima: Am 12. um 11 Uhr 9 Min. abends, am
15. um 7 Uhr ;S Min. abends und am 18. um 4 Uhr 47 Min.
abends.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Nach der längeren Ruhepause
des Sommers nahm die Gesellschaft am Freitag,
den 9. Oktober, abends 8 Uhr, mit einem Experi-
mentalvortrag des Herrn Professor Gustav A m -
berg über „Licht und Farbe " ihre gewohnte
Tätigkeit wieder auf Schon geraume Zeit vor Beginn
des Vortrages hatte sich der Hörsaal der alten
Urania in der Invalidenstraße bis auf den letzten
Platz gefült. Nachdem der I. Vorsitzende, Herr
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kny, die zahlreich Er-
schienenen mit warmen Worten begrüßt und ihnen
den reichhaltigen ArbeitS[.ilan der Gesellschaft für
das Jahr 1903 04 bekannt gegeben hatte, erteilte
er das Wort dem mit lautem Beifall empfangenen
Herrn Vortragenden. In klarer, anschaulicher Weise
behandelte Herr Amberg zunächst das Wesen des
physikalischen Vorganges, den wir mit dem Namen
„Licht" bezeichnen und der in Wellenbewegungen
des alles durchdringenden .\thers besteht; an der
Hand ausgezeichneter Experimente erläuterte er
202
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 13
alsdann das Gesetz der Brechung und der Re-
flexion des Lichtes in verschiedenen Medien, zeigte
die totale Reflexion des Lichtes durch Wasser und
Prismen, führte durch Winkelspiegel bezw. Hohl-
spiegel erzeugte virtuelle bezw. reelle Bilder vor
und erklärte den Gang der Lichtstrahlen durch
Linsen an dem holländischen und astronomischen
Fernrohr. Die Zerlegbarkeit des scheinbar ein-
fachen Lichtes in die Regenbogenfarben, deren
Wiedervereinigung zu Weiß experimentell nach-
gewiesen wurde, gab Anlaß zu einem näheren
Eingehen auf die Spektral- Analyse und das Wesen
und die Bedeutung der Frauenhofer'schen Linien.
Zum Schluß führte der Herr Vortragende noch
eine Reihe von Photographien in den natürlichen
Farben mit Hilfe der dreifachen Farbenfilter vor. —
Unter Führung des gelehrten Pilzkenners Herrn
Prof. P. Hennings vom Königl. Botanischen Mu-
seum wurde am Sonntag, den 11. Oktober, vor-
mittags eine Exkursion zum Studium der heimischen
Pilzflora nach Finkenkrug unternommen. Trotz-
dem der am voraufgegangenen Mittwoch herrschende
Sturmwind den Waldboden stark ausgetrocknet und
die in ungeschützter Lage aufgeschossenen Hut-
pilze vernichtet hatte, war das Ergebnis der Ex-
kursion doch noch ein verhältnismäßig befriedi-
gendes. Im ganzen mögen gegen 50 Arten be-
obachtet worden sein. Mit Ausnahme mehrerer
Giftpilze , wie Fliegenschwamm , Knollenblätter-
schwamm , zerbrechlicher Täubling, Hartbovist,
Schwefelkopf, sowie des orangefarbenen Pfifferlings
sind die Arten als sämtlich unschädlich, wenn auch
nicht in allen Fällen als eßbare Pilze zu bezeichnen.
Manche kleinere Arten, so die zarten Mycenen,
das Moos-Glöckchen, die Tintenpilze usw. würden
sich für diesen Zweck nicht lohnen.
In größerer Menge wurde überall an Baum-
stümpfen, sowie auch an abgestorbenen Birken-
stämmen der Hallimasch, in dichten Rasen auf-
tretend, beobachtet. Das strangförmige Mycel des-
selben, welches meist den Waldboden durchzieht,
ist ein gefährlicher Baumverderber, da es von den
erkrankten Wurzeln aus bis hoch in die Stämme
hinaufwächst und diese abtötet. Der Pilz hat einen
etwas säuerlichen Geschmack, ist aber ein vortreff-
licher Speisepilz, welcher gewiß mit Vorteil dem
Berliner Pilzmarkte zuzuführen wäre, zumal er oft
in ungeheurer Menge auftritt. — Der Lauchschwamm
oder sogenannte Museron fand sich vereinzelt auf
Heideboden, er ist als Gewürz für Braten und
Saucen bekannt genug. Von Ritterlingen wurde
die blauviolette Form (Tricholoma personatum) ge-
sammelt, welche zwischen trockenem Laub meist
häufig vorkommt und eßbar ist. Der Krämpling
(PaxiUus involutus) wächst meist in Umgebung
von Birken, er wird trotz seines nußfarbigen Aus-
sehens, sowie der etwas schleimigen Hutoberfläche
vielfach gegessen. Der Nelkenpilz (Marasmius
Oreades) ist ein vorzüglicher Suppenpilz, während
der lederige (Marimius urens) einen brennenden
Geschmack besitzt. Verschiedene Trichterlinge
(Clitocybe infundibuliformis, Cl. laccata, Cl. inversa.
Cl. flaccida usw.) sind, da sie meist herdenweisc
auftreten, gute Suppenpilze von angenehm mildem
Geschmack. Der Lackschwamm (Cl. laccata) findet
sich bald in amethystfarbener, bald bräunlicher
oder gelbrötlicher Form. • — Der auch im rohen
Zustande äußerst wohlschmeckende Waldchampi-
gnon fand sich nur vereinzelt. Derselbe wird leider
oft mit dem giftigen Knollen-BIätterschwamm ver-
wechselt, ist aber durch das F'ehlen des scheidigen
Stielknollens, durch die bräunlichen Blätter leicht
von letzterem, welcher stets weißbleibende Blätter
besitzt, leicht zu unterscheiden. Von Milchblätter-
schwämmen wurden nur einzelne Arten, die sich
meist durch weif31iche, sehr scharfschmeckende
Milch auszeichnen, so der rotbraune und der wol-
lige Milchling beobachtet. Beide Arten sind trotz
des scharfen Geschmackes eßbar, zumal wenn das
Aufkochwasser weggegossen wird. Ersterer wird
in Ostpreußen , Rußland usw. für den Winter
in großen Mengen eingemacht. Auch die meisten
anderen Arten sind eßbar. Dies gilt ebenso
für die Täublinge, von welchen jedoch der Spei-
teufel, sowie der mehrfach bemerkte zerbrechliche
Täubling, der in verschiedenen Färbungen vor-
kommt, sehr scharf und als giftig verdächtig sind.
— Von Röhrenpilzen wurden besonders die Ziegen-
lippe, der Maronenpilz, vereinzelt der Butterpilz,
der Schmerling und der Kapuzinerpilz gesammelt,
dieselben sind sämtlich eßbar. P'erner wurde der
kleine Pfeffer-Röhrenpilz hin und « ieder bemerkt,
der sich durch brennenden Geschmack leicht be-
merkbar macht und jedenfalls verdächtig ist. Ebenso
ist der bitteie Röhrenpilz wegen intensiv bitteren
Geschmackes nicht el3bar. Fast alle anderen
heimischen Arten sind gute Speisepilze. — Von
Porenschwämmen wurde an Birkenstämmen mehr-
fach der Birken-Porenschwamm in jungen Exem-
plaren angetroffen, welche einen milden Geschmack
und weiches Fleisch besitzen. — Von Bauchpilzen
wurden einzelne Streulinge gesammelt, welche im
jungen Zustande eßbar sind. Der Kartofl'elbovist, oft
als deutsche Trüffel verwendet, ist im frischen Zu-
stande giftig. — Von Hahnenkämmen machte sich
nur der kleine kammförmige bemerkbar; derselbe
ist wie fast alle Arten eßbar, ebenso der Ziegen-
bart, der in großen bis i Kilo schweren Exem-
plaren nicht selten an Kiefernstünipfen auftritt. —
Die nächste Sitzung fand am Mittwoch, den
28. Oktober, im Bürgersaale des Rathauses statt.
Vor Eintritt in die Tagesordnung machte der
Herr \^orsitzende die erfreuliche Mitteilung, dal3
die Mitgliederzahl nunmehr das erste Tausend
überschritten habe. Darauf erteilte er Herrn Dr.
He in rot h das Wort zu seinem Vortrage über
das Thema; „Der Vogelzug und seine Ursachen".
— Der Vortragende ging von den landläufigen
Anschauungen über den Vogelzug aus, denen zu-
folge der Zugvogel regelmäßig in großen Höhen
unaufhaltsam mit fabelhafter Geschwindigkeit ge-
sellig zusammengeschart seinem Ziele zustrebt.
Gätke von Helgoland hat mit seinem Werke zum
Teil die Schuld an den fehlerhaften Berichten, die
N. F. III. Nr. I :!
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
20^
trotz exakter neuerer Forschungen immer noch
in der Literatur wieder Platz finden.
Man kann unter denjenigen Vögeln, die zum
Winter ihre Brutheimat verlassen, solche unter-
scheiden, welche durch äußere Einflüsse, d. h. vor-
wiegend durch Nahrungsmangel gezwungen, dem
Süden zustreben, und diese pflegen erst dem
eigentlichen Einbruch des Winters zu weichen und
mit den ersten milden Frühlingstagen wieder zurück-
zukehren, ja einzelne Tiere bleiben auch wohl in
besonders geschützten Lagen oder, wenn der
Mensch ihren Tisch deckt, während der kalten
Jahreszeit zurück. Rotkehlchen, Stare, Lerchen,
viele Wasservögel zählen zu diesen.
Diesen gegenüber stehen zahlreiche Vögel,
welche mehr aus inneren, d. h. uns unbekannten
Gründen ziehen. Der Storch z. B. erscheint bei
uns im März, d. h. zu einer Zeit, in der er unter
dem bittersten Nahrungsmangel, Schnee und Kälte
zu leiden hat, und verläßt Europa gerade dann,
wenn bei prächtigstem Wetter sich ihm Nahrung
in Hülle und Fülle bietet. Manche \''ögel, wie
Kuckuck, Pirol, Segler u. a. sind überhaupt nur
etwa dreiundeinhalb Monate bei uns. Wenn man
sich die Entstehung des Vogelzuges in der Weise
denkt, daß ursprünglich wegen der gleichmäßigeren,
wärmeren Temperatur auf der Erdoberfläche auch
die Verbreitung der Vogelarten eine gleichmäßigere
war, dann aber durch das allmähliche Herein-
brechen der Eiszeiten in die gemäßigte Zone die
Vögel während des größten Teiles des Jahres
zurückgedrängt wurden, so müssen wir annehmen,
daß die in Rede stehenden Zugvögel als die
empfindlicheren und dem Hunger leichter ausge-
setzten nur kurze Zeit an ihren Brutplätzen weilen
konnten und diese Eigentümlichkeit in die jetzige
Erdperiode mit herüber genommen haben. \'iel-
leicht kann man aus dem Verhalten dieser Tiere
schließen, daß der Eiszeitsommer früher im Jahre
begonnen und bereits im August geendet hat.
Da bei einem großen Teil, namentlich der
kleineren Insektenfresser, der Zug einzeln und
außerdem nachts stattfindet, so ist es für uns un-
verständlich, wie die Tiere den Weg zum Süden
finden. Da sie auch im Käfig bei Wärme und
Überfluß an Nahrung nachts zur Zugzeit unruhig
werden, so dürfen wir wohl ein Zugzentrum im
Zentralnervensystem annehmen.
Soviel wir aus den Beobachtungen der Luft-
schiffer und physikalisch denkender Forscher wissen,
ziehen die Zugvögel bei gutem, d. h. sichtigem
Wetter in einigen hundert Metern Höhe, bei Nebel
jedoch viel niedriger. Die Angaben, daß Vögel
in 1 2 000 Metern Höhe ziehen, sind ins Reich der
Fabel zu verweisen. Die Wanderer würden bei
den hohen Kältegraden (über — 30") erfrieren, und
genau angestellte Versuche haben gezeigt, dalä bei
dem niedrigen Luftdruck dieser Höhen Vögel sofort
sterben. Außerdem ist zu bedenken, daß selbst
fliegende Kraniche und Schwäne nur wenige hundert
Meter hoch noch für unser Auge erkennbar sind.
Die durchsclinittliche Fluggeschwindigkeit dürfte
etwa 50 bis 60 km in der Stunde betragen; die
Rauchschwalbe soll allerdings die vierfache Strecke
zurücklegen können. Der flüchtige Beobachter
neigt dazu, den Wind bei seinen Angaben außer
acht zu lassen, dessen Geschwindigkeit natürlich
je nach der Richtung zu der des Fluges zuge-
rechnet oder von ihr abgezogen werden muß.
Zahlreiche Vögel, die im ersten Jahre noch
nicht fortpflanzungsfähig sind, treiben sich während
dieser Zeit fast auf der ganzen Erde herum, nament-
lich sind dies einige Strandläufer, die überall an
den Meeresküsten gleiche Existenzbedingungen
finden. — Der Vortragende geht dann noch auf die
Gefahren ein, welchen die Vögel häufig in großen
Massen während des Zuges erliegen. Da die Ver-
mehrung der Wander- und Standvögel eine an-
nähernd gleiche ist, so kann man annehmen, daß
der Winter unter den letzteren etwa dieselben
Opfer fordert wie der Vogelzug unter den ersteren.
Im Anschluß an den Vortrag berichtete Herr
Kammergerichtsrat Hauchecorne noch über
einige von ihm beobachtete eigentümliche Wachs-
tumserscheinungen an Eibenbäumen unter Vor-
legung von Querschnitten und photographischen
Aufnahmen. —
Den Beschluß der Sitzung bildete die dies-
jährige Hauptversammlung. Zur Erstattung
des Jahresberichts erteilte der I. Vorsitzende, Herr
Geh. Rat Kny das Wort zunächst dem I. Schrift-
führer der Gesellschaft, Herrn Oberlehrer Dr. Greif.
Spricht schon, so führte derselbe aus, die erfreuliche
Mitteilung, welche der Herr Vorsitzende zu Beginn
des heutigen Abends zu machen in der L-age war,
von der gedeihlichen Weiterentwicklung der Gesell-
schaft in dem verflossenen Geschäftsjahre, so wird
aus dem Überblick über die in diesem Zeitraum
von ihr entfaltete Tätigkeit nicht minder klar
hervorgehen, daß sie getreu ihren Bestrebungen
und Zielen rastlos fortgeschritten ist. Es haben
von Anfang Januar bis Ende Dezember 1902 statt-
gefunden 18 Einzelvorträge, 12 Exkursionen und
4 je 6 stündige Vortragszyklen, ein physiologischer,
ein elektrotechnischer, ein landwirtschaftlicher und
ein hygienischer. Alles in allem genommen hat
somit das verflossene Geschäftsjahr 54 einzelne
Veranstaltungen gebracht, das macht unter Abzug
der drei Ferienmonate durchschnittlich 6 Ver-
anstaltungen im Monat, gewiß eine bei den ge-
ringen der Gesellschaft zu Gebote stehenden Mitteln
recht ansehnliche Leistung. Daneben hat sich der
Wirksamkeit der Gesellschaft ein neues Arbeits-
feld dadurch erschlossen , daß dem „Verein für
volkstümliche Naturkunde zu Stettin" auf sein Er-
suchen und nach reiflicher Prüfung aller einschlä-
gigen Verhältnisse durch den Vorstand unserer
Gesellschaft die Berechtigung erteilt wurde, sich
als „Zweigverein der Deutschen Gesellschaft für
volkstümliche Naturkunde" zu konstituieren. Der
Vorstand hat mit besonderer Genugtuung die Ge-
legenheit begrüßt, auf diese Weise einen wichtigen
Schritt vorwärts zu tun zur Verwirklichung des in
§ 2 der Satzungen festgelegten weiteren Zieles der
304
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 13
Gesellschaft, das seiner Zeit den Gründern derselben
bei der Namengebung vorgeschwebt hat. Möge
das Vorgehen des Stettiner Vereins auch ander-
wärts Nachahmung finden, damit in immer weiterem
Umfange die Gesellschaft an der edlen und schönen
Aufgabe wirken kann, die Kenntnis der Natur und
die Liebe zu ihren Gebilden zu einem der her-
vorragendsten Bildungs- und Erziehungsmittel
unseres deutschen Volkes zu gestalten. Mit herz-
lichen Wünschen für das Aufblühen und Ge-
deihen des zwar noch kleinen, aber rührigen und
strebsamen Stettiner Vereins verband der Bericht-
erstatter noch den wärmsten Dank an alle die-
jenigen, die durch ihre wertvolle Mitwirkung und
Unterstützung zum Gelingen der so erfolgreichen
Arbeit des Jahres 1902 beigetragen haben.
Im Anschluß an diesen Bericht gab der I. Schatz-
meister, Herr Konsul Seifert eine Übersicht über
die Finanzen der Gesellschaft. Die Einnahmen
einschließlich des vom Vorjahre übernommenen
Kassenbestandes von Mk. 1523,87 beliefen sich
auf Mk. 45 5 2,5 7; diesen standen an Ausgaben gegen-
über Mk. 3059,24, so daß am Schluß des Geschäfts-
jahres 1902 sich ein Kassenbestand von Mk. 1493,33
ergibt. Der zu laufenden Ausgaben nicht be-
nötigte Teil des Vereinsvermögens ist auf einem
unter dem Namen der Gesellscliaft errichteten
Depositenkonto bei der Direktion der Diskonto-
Gesellschaft hinterlegt und beträgt zurzeit Mk. looo.
Die Rechnungen sind durch die von der vorigen
Hauptversammlung gewählten Kassenprüfer, die
Herren Verlagsbuchhändler Schmidt und Rentier
Marti ny, in Ordnung befunden worden. Die
beiden genannten Herren werden auch für das
folgende Jahr mit dem gleichen Amte betraut.
Dem Vorstand wird hierauf Entlastung erteilt,
nachdem ilim durch Herrn Kammergerichtsrat
Hauchecorne der Dank der Gesellschaft für
seine umsichtige Geschäftsführung ausgesprochen
worden ist.
Es wird nunmein- zu der Neuwahl des Aus-
schusses geschritten. In denselben werden wieder-
gewählt die seitherigen Mitglieder des Vorstandes,
Herren Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kny, Prof. Dr.
Jaekel, Geh. Bergrat Prof. Dr. Wahnschaffe, Ober-
lehrer Dr. Greif, Prof. Dr. Plate, Konsul Seifert,
Direktor Archenhold und Prof. Dr. Potonie, sowie
die Herren Prof. Amberg, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr.
Bastian, Prof Dr. Börnstein, Dr. Brühl, Graf Douglas,
Dr. Deckert, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Engler, Kauf-
mann W. Gericke, Kammergerichtsrat Hauchecorne,
Direktor Dr. Heck, Dr. Heinroth, Direktor Dr.
Hermes, Oberbürgermeister Kirschner, Direktor Prof
Dr. Reinhardt, Kaufmann H. Schalow, Geh. Reg.-
Rat Prof Dr. E. Schulze, Prof. Dr. K. Schumann,
Prof Dr. Thoms, Prof Dr. Tornier, Chefredakteur
Trojan, Sanitätsrat Dr. Ulrich, Geh. Reg.-Rat Prof.
Dr. Wittmack und Fräulein Charlotte Effer. Neu
hinzugewählt wird Herr Geh. Legationsrat und
vortragender Rat im auswärtigen Amte Dr. Lentze.
Die nach § 12 der Satzungen unmittelbar nach
Schluß der Hauptversammlung durch den Aus-
schuß zu vollziehende Neuwahl des engeren Vor-
standes hatte folgendes Ergebnis:
I. Vorsitzender Herr Geh. Reg.-Rat Prof.
Dr. Kny,
II. \'orsitzender Herr Prof. Dr. Jaekel,
III. X'orsitzender Herr Geh. Bergrat Prof. Dr.
W ah nschaf fe,
I. Schriftführer Herr Oberlehrer Dr. Greif,
II. Schriftführer Herr Prof Dr. Plate,
I. Schatzmeister Herr Konsul R. Seifert,
II. Schatzmeister Herr Prof Dr. Bö r n st ei n,
I. Beisitzer Herr Kammergerichtsrat Hauche-
corne,
IL Beisitzer Herr Landesgeologe Prof Dr.
Potonie.
I. A. : Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
Berlin SO 16, Köpenickerstraße 142.
Bücherbesprechungen.
Max Verworn: „Allgemeine Physiologie".
Vierte, neu bearbeitete Auflage. Verlag: Gustav
Fischer Jena 1903. (652 Seiten, 300 Abbildungen,
gegen 631 Seiten, 295 Abbildungen der III. Aufl.).
— Preis i5 Mk.
„Die Naturforschung kann nicht auf die Dauer
ohne einen philosophischen Arbeitsplan ersprießliche
Fortschritte machen, und wir sehen ja auch in der
C.eschichte der Wissenschaft, daß niemals durch be-
schränkte Spezialforschung, sondern stets nur von wahr-
haft philosophisch, d. h. planmäßig, methodisch
und zielbewußt arbeitenden Naturforschern große
Fortschritte gemacht wurden."
Dieser geschickt in die Praxis übertragene Grund-
satz des Verfassers kennzeichnet auch durchaus das
vodiegende Werk und verleiht ihm Bedeutung und
Interesse weit über die Schranken enger Fachwissen-
schaft hinaus: von der ersten bis zur letzten Seite
wird die Aufmerksamkeit des Lesers aufs lebhafteste
angeregt, weil die wissenschaftliche Einzeltatsache
durchgängig nur als Baustein behandelt ist zur Be-
gründung klarer, zu einem übersichtlichen System ver-
schmolzener Vorstellungen vom Wesen des Lebens,
von seiner Herkunft und seinen Beziehungen zur „un-
belebten" Natur. Nirgends ermüdet ein Verweilen
im Speziellen um des Speziellen willen : Das ganze
Werk ist vielmehr ein wohlgebauter Organismus, der
auch gegenüber den benachbarten Wissenszweigen und
gegenüber der Philosophie seine naturgen-iäße Stellung
zu finden und klare Auseinandersetzung in den Grenz-
gebieten herzustellen sucht. Wer nach lükenntnis des
Lebens strebt, sei es auf philosophischem, sei es auf
naturwissenschafdichem Wege, wird an diesem Buche
nicht vorübergehen können.
Es sei daher gestattet, bei Besprechung der IV. Auf-
lage etwas ausführlicher gerade auf diese allgemeinen
Verdienste des Werkes einzugehen, die bei den frülieren
Besprechungen 'j nur kurz angedeutet wurden.
Der Gedankengang, der die Darstellung trägt, ist
in Kürze etwa der folgende:
Nr.
>)X.
35 S.
Bd. 1895
419.
Nr. 40 S.
S. 499. XII. 1'.>1. 1S97
N. F. III. Nr. I-,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
205
Die Physiologie beschäftigt sich mit der Erforschung
des Lebens. — Was ist „Leben"? was „Erforschen"?
„Erforschen" heißt Zurückführen von unbekannten
Erscheinungen auf allgemeinere, bekannte, letzten
Endes auf eine allgemeinste, bekannte Erscheinung.
Dieses letzte versuchte unter anderen philosophi-
schen Bestrebungen für die ganze Welt Spinoza's
Monismus zu leisten, aber die „Substanz", auf die er
alles zurückführte, war nichts Bekanntes, bekannt
waren erst ihre bereits zwiegeteilten Äußerungsformen :
„Denken" und „Ausdehnung", die also wieder nicht
ein einziges Erklärungsprinzip darstellten. Weiter
sucht des Verfassers Psychomonismus zu dringen:
Alles was wir tatsächlich von der Welt wahrnehmen
— ohne Zuhilfenahme überflüssiger Hypothesen — sind
Empfindungen und Vorstellungen. Wir kennen also
tatsächlich nur psychische Dinge. („Körper", „I^e-
wegungen" sind zusammengesetzte, „Gefühle", „Em-
pfindungen" sind einfachere psychische Gebilde.) Daß
diesen Erscheinungen etwas nicht Psychisches
zugrunde liege, ist überflüssige, deshalb unberechtigte
Hypothese, da die ganze Welt, die wir kennen,
sich aus rein psychischen Elementen aufbaut : aus
komplizierteren , nämlich den körperlichen und Be-
wegungs-Eindrücken und aus einfacheren : den Emp-
findungen.
Dieser Gedanke darf uns aber nicht zum „Sol-
ipsismus verführen, da die Erfahrung lehrt, daß nicht
nur e i n wahrnehmendes psychisches Zentrum , das
„Ich" existiere; vielmehr ist die welterfüllende Psyche
differenziert in unzählig viele psychische Zentren : In-
dividuen verschiedenster Art (organische und an-
organische), die einander gegenseitig begrenzen (und
zwar nach unserer Vorstellung ,, räumlich" und
„zeitlich" sich begrenzen).
Alle diese Individuen sind Erscheinungsformen der
unbegrenzten, ewigen Psyche, aber ihre Realität be-
ruht einzig und allein auf Wechselwirkung, d. i. gegen-
seitiger psychischer Beeinflussung und Wahrnehmung.
Es ist dies nach Ansicht des Referenten in Praxi
durchaus dieselbe Auffassung wie diejenige der Ener-
getiker oder des Spinozistisch-Haeckelschen Monismus,
nur daß diese von naturwissenschaftlichem Denken
ausgehenden Weltanschauungen an die räumliche Aus-
dehnung der Weltsubstanz anknüpfen (gleichviel ob
der „Raum" als solcher real oder nur unsere An-
schauungsform ist), während Verworn, mehr an philo-
sophische Denkart sich anlehnend, betont , daß die
Substanz nur durch ihr Wirken (Wechselwirkung der
einzelnen Individuen) Realität hat, und daß ihr ge-
samtes Wirken wiederum als eine Reihe psychischer
Zustände und deren Wechsel seinen vollkommenen
Ausdruck findet, ohne daß irgend ein Rest nicht
psychischer Natur überbliebe. Ein solcher Rest könnte
allenfalls in der reinen Form und Ausdehnung und
deren Wandelung gefunden werden, aber auch das sind
ja psychische Gebilde, d. h. Dinge, die nur für eine
wahrnehmende Psyche — es braucht keine menschliche
zu sein — irgendwelche Wesenheit besitzen.
Da wir also in Wahrheit nur Psychisches kennen,
heißt Erforschen : Rückführen der komplizierteren
psychischen Gebilde auf die einfachsten psychischen
Elemente : weil aber die Atome, aus denen die „Körper-
welt" sich aufbaut, nicht einfachste psychische Ele-
mente sind, sondern bereits komplizierte psychische
Vorstellungen, deshalb kann man nicht alles Psychische
auf Atome im physikalischen Sinne, d. h. auf den Be-
griff der Körperlichkeit , zurückführen , wie es einst
der extreme Materialismus wollte.
Andererseits möchte Unterzeichneter darauf hin-
weisen, daß man sehr wohl beim Bau des Weltbildes
auch in historischer Weise von den Atomen ausgehen
kann, insofern die „Weltpsyche" oder Substanz —
denn das, was Verworn „Psyche" nennt, umfaßt alles,
was das Wesen von Spinoza's „Substanz-' ausmacht,
sowohl die res cogitans, wie die res extensa — in-
sofern diese sich ja tatsächlich in Atome, d. h. räum-
liche Komplexe difterenziert hat , und auch unsere
menschliche Psyche — objektiv, als Gebilde im Raum
betrachtet — aus Atomen, Molekülen und Zellen auf-
gebaut ist. Freilich muß man dann den zunächst rein
physikalisch-chemischen Begriff des Atoms durch die
Vorstellung eines zugehörigen subjektiv -psychischen
Moments erweitern in der Weise, wie es Haeckel tut,
und darf nicht vergessen, daß überhaupt die Begriffe
,, Körperlichkeit", ,, Ausdehnung" und „Bewegung" sich
aus einfacheren, rein psychischen Eindrücken zu-
sammensetzen.
Bleibt man dessen eingedenk, so bietet gerade
der Ausgang von den Begriften „Raum" und „.\tom"
eine so klare und leichte Orientierung, daß dieser
Weg sicherer und praktischer erscheint als der für
den ungeschulten Geist wenigstens etwas dunkle und
schwierige Pfad von den „psychischen Elementen" her.
In einem Punkte darf der Verfasser nicht miß-
verstanden werden : er leugnet in keiner Weise die
Realität der Objekte, er leugnet keine einzige physi-
kalische Wirkung, sondern weist nur einzig darauf hin,
daß wir mit dem Namen „Körper", mit dem Namen
„Wirkung" Beeinflussungen unserer Psyche bezeichnen,
daß — jede Wahrnehmung fortgedacht — die
Welt überhaupt wesenlos wird ; denn das Wesen der
Dinge besteht in der gegenseitigen Beeinflussung.
Alle Kennzeichen von Beeinflussung sind aber rein
psychischer Natur; ein Ding, das sich nicht mani-
festieren kann, hat überhaupt nicht Realität.
Nachdem Verfasser sich so mit der skeptischen
Philosophie auseinandergesetzt, geht er an seine engere
Aufgabe: Wie die psychomonistische Betrachtung be-
wies, gilt letzten Endes für die ganze Welt, die wir
kennen, ein einziges Erklärungsprinzip. Die Physio-
logie im engeren hat es mit den körperlichen
Lebenserscheinungen zu tun, und da sich die
Erscheinungen der anorganischen Körper alle auf
kleinste körperliche Elemente, die kraftbegabten Atome,
zurückführen und dadurch erklären lassen, müssen wir
fragen , ob auch die Erscheinungen der lebenden
Körper auf die Eigenschaften derselben Elemente
zurückführbar sind.
Der Vitalismus antwortet „nein". Aber die von
ihm konstruierte, besondere „Lebenskraft" würde —
so wie der Begriff meist aufgefaßt wird — dem
Energiegesetz widersprechen. Alle scheinbaren Unter-
schiede der organischen Kräfte erklären sich übrigens
2o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. I-
leicht aus den Besondertieiten, welche die komplizierte
chemisch-physikalische Struktur der organischen Körper
ihnen naturgemäß verleiht. Ein „Körper" bleibt stets
ein Körper und die Gesetze des Körperlichen sind
physikalisch-chemische.
Die heutige Neigung zu vitalistischer Mystik be-
ruht im übrigen wohl auf einer momentanen Ent-
mutigung, die eingetreten ist, weil die von den großen
Physiologen des XIX. Jahrhunderts zur Erforschung
der Organ-Physiologie geschaffenen Methoden nach
Erfüllung dieser Aufgabe nunmehr versagen, wo die
Wissenschaft in die eigentlichen, elementaren Lebens-
vorgänge eindringen will , deren Sitz der Ur- und
Elementarorganismus, die Zelle, ist und in dieser die
Eiweißverbindungen, deren eigentümlicher Chemismus,
der ,, Stoffwechsel" den eigentlichen elementaren und
allgemeinen „Lebensvorgang" darstellt. Diesen zu er-
forschen ist die Chemie und die Zellular p hys i o -
1 o g i e berufen, welche letztere daher den eigentlichen
Gegenstand der „allgemeinen Physiologie" bildet.
Diesen Forschungszweig, dessen Förderung bisher
fast allein den Zoologen zu verdanken ist, von physio-
logischer Seite in Angriff genommen und auf seine
Bedeutung aufmerksam gemacht zu haben , ist ein
Hauptverdienst des Verfassers.
Die dabei anzuwendende Methode ist nach dem
Verf. in erster Linie die vergleichende, die seit des
großen Joh. Müllers Tode von der Physiologie zu
ihrem Schaden vernachlässigt worden ist, trotzdem die
glänzenden Resultate der Entwicklungslehre, besonders
der vergleichenden Morphologie, gerade hier hätten
Anregung schaffen und die Forschung erleichtern müssen.
Als besonders günstiges Objekt bieten sich die
freilebenden Einzelzellen (Protisten), weil sie die z. Z.
einfachsten Zustände der lebenden Materie und ihrer
Äußerungen darstellen und lebend unter dem Mikroskop
beobachtet werden können, während man Gewebezellen
höherer Tiere erst aus ihrem natürlichen Verbände
reißen muß.
Demgemäß hat die Physiologie hauptsächlich, auf
drei große Entdeckungen der neueren Zeit gestützt,
weiterzubauen :
i) die Entdeckung des Eneriegesetzes,
2) die Zellenlehre, d. h. die Erkenntnis, daß jeder
Organismus aus Zellen aufgebaut ist, Elementarorganis-
men, deren Einzelleistungen seine Gesamtleistung be-
dingen,
3) die Deszendenz, d. h. die Verwandtschaft der
gesamten Lebewelt und ihre gemeinsame Herkunft
aus dem Anorganischen.
Diesen Gesichtspunkten sucht das vorliegende
Werk in sehr glücklicher Art gerecht zu werden und
von ihnen her den ganzen Mechanismus des Lebens
— soweit der gegenwärtige Stand des Wissens das
erlaubt — abzuleiten und klar zu legen : das erste
Kapitel iS. i — 58) beschäftigt sich haujjtsächlich mit
den eben angedeuteten Betrachtungen und enthält
außerdem eine Entwicklungsgeschichte der physio-
logischen Forschung.
Das zweite Kapitel (S. 59 — 146) handelt „von
der lebendigen Substanz", ihrer chemisch -physikalischen
Zusammensetzung und ihren Unterschieden gegenüber
der anorganischen und toten Substanz.
Im dritten Kapitel (S. 147 — 288) werden die
elementaren Lebenserscheinungen besprochen: der
Stoff-, Form- und Energiewechsel, wobei besonderes
Interesse auf die Enzyme verwandt wird, deren Wir-
kungsweise der der anorganischen katalytischen Körper
gleich zu sein scheint. Beim „Formwechsel" teilt sich
die Betrachtung in die der phylogenetischen und onto-
genetischen Entwicklungsreihe, die beide zum Aufbau
des vielzelligen Organismus aus dem einzelligen führen.
Das vierte Kapitel (S. 2S9 — 370) bespricht die
,,allgemeinen Lebensbedingungen" 1) die heutigen Be-
dingungen des bestehenden Lebens, 2) die Herkunft
des Lebens und seine Entwicklung zu höheren Stufen,
wobei eingehend die Theorien über diese Probleme
kritisiert und besonders auch die Vermutungen be-
handelt werden, die man nach dem heutigen Stande
der Forschung über die chemischen Vorgänge und
Bedingungen bei der Urzeugung sich bilden darf. Es
folgt eine Darstellung des Sterbevorganges und seiner
in allmählichen Veränderungen der Zelle bestehenden
Ursachen.
Das fünfte Kapitel (S. 371 — 507) behandelt die
Reize und ihre Wirkungen, ein Gegenstand, bei dem
am meisten die eigenen Versuche des Verfassers an
Einzellern interessieren dürften.
Hochbedeutsam für die mechanistische Erklärung
der Lebenserscheinungen ist der Inhalt des letzten
Kapitels: „Vom Mechanismus des Lebens" (S. 508
bis 636) in dem, soweit dies z. Z. möglich, eine
chemisch-mechanische Herleitung der gesamten körper-
lichen Lebenserscheinungen oder doch ein Nachweis
der Möglichkeit einer sochen Herleitung versucht wird :
dieses Kapitel gliedert sich in die Abschnitte :
I. Der Lebensvorgang.
II. Die Mechanik des Zellebens.
III. Die Verfassungsverhältnisse des Zellstaates.
Als ,, Biogene" werden die lebenden Eiweißmoleküle
im Gegensatz zu den toten bezeichnet, deren chemische
Struktur eine andere ist. Der Lebensvorgang ist der
Chemismus (Stoffwechsel) der Biogene, die sehr labile
Verbindungen darstellen, ihr fortwährender Zerfall
(Dissimilation) und Wiederaufbau (Assimilation). Das
Verhältnis Assimilation zu Dissimilation heißt Biotonus.
Die Reize beeinflussen fördernd und hemmend in
mannigfacher Weise diese chemischen Vorgänge und
verändern so den Biotonus. Darauf beruhen die Lebens-
erscheinungen, insonderheit alle Kontraktions- (Be-
wegungs-)Erscheinungen, besonders lassen sich alle
photo-, gahano- usw. -taktischen Erscheinungen auf
diese Weise leicht erklären.
Das Wachstum beruht auf Polymerisation der
Biogene, die Zellteilung auf der Veränderung, welche
die Ernährung bei einfachem Wachstum dadurch er-
fährt, daß die Oberfläche nur quadratisch, der Inhalt
der Zelle kubisch zunimmt. Durch die Teilung
werden die Anfangsbedingungen wiederhergestellt
und der Prozeß beginnt von neuem. Bei der
Nahrungsaufnahme und Verarbeitung spielen teils physi-
kalische, teils chemische Kräfte eine Rolle. Selbst
sehr komplizierte und scheinbar physikahsch nicht
N. F. m. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
207
erklärbare Vorgänge werden als rein [jlnsikalisch-
chemischer Natur nachgewiesen durch sinnreiche
Parallelversuche an unbelebtem Material.
Hier stützt sich Verf. vielfach auf Untersuchungen
Rhumblers, der auf diesem Gebiete durch besonders
tief eindringende Forschung bekannt, für die 4. Auflage
des vorliegendenWerkes den Abschnitt über die Mechanik
des Zellteilungsvorganges (S. 571 — 8i) auf Grund der
neusten Untersuchungen erweiternd bearbeitet hat. Die
Ausführungen über alle diese Gegenstände sind außer-
ordentlich lichtbringend und lesenswert ; der auf diesem
Gebiet Fremde wird überrascht sein , wie tief die
Forschung bereits in die Zellmechanik eingedrungen,
wie weit sie in der mechanischen Erklärung
der Lebenserscheinungen fortgeschritten ist. Es ist
hier nicht möglich weitere Einzelheiten zu besprechen,
ich muß auf das Werk selbst verweisen, nur möchte
ich noch hervorheben, daß die außerordentlich über-
sichtliche Disposition, in Verbindung mit der kr\stall-
klaren Sprache, die auch den sprödesten Stoff spielend
bewältigt, die Lektüre selbst für den Nichtfachmann
zu einer verhältnismäßig leichten und sehr angenehmen
macht. E. Me\er.
Weber u. Wellstein, Encyklopädie der Ele-
mentar- Mathematik. Ein Handbuch für
Lehrer und Studierende. Erster Band. Elemen-
tare Algebra und Analysis von Heinrich
Weber. Leipzig, Teubner, 1903. 447 S. —
Preis geb. 8 Mk.
Neben der großen Enzyklopädie der Mathematik,
die seit einigen Jahren im gleichen Verlage erscheint,
wird den Studierenden , die auf die Fundamente der
höheren Mathematik zurückgreifen, und den Lehrern,
die ihren Unterrichtsstoff vom Standpunkt der höheren
Mathematik aus betrachten wollen, ein Ersatz geboten
für die jetzt vergriffenen Elemente der Mathematik
von Baltzer. Die vorliegende Enzyklopädie soll
3 Bände umfassen , von denen der zweite die Geo-
metrie, der dritte die Anwendungen behandeln wird.
Der erste Band enthält neben dem, was die preu-
ßischen Lehrpläne den Schulen zuweisen, den Gauß-
schen Beweis von der Existenz der Wurzeln einer
algebraischen Gleichung, einiges über Kongruenzen
und Potenzreste , einen Abschnitt über unbestimmte
Gleichungen zweiten Grades, die Pell'sche Gleichung,
den Sturm'schen Satz, die Unlösbarkeit der Gleichungen
5. Grades; ferner aus der Analysis die unendlichen
Produkte und die Transzendenz von q und ft.
Diese Herzählung zeigt , daß iii dem Buche das
Gebiet der Elementarmathematik ziemhch genau so
begrenzt ist , wie es die höheren Schulen tun. Das
Buch bietet eine Wiedergabe dessen, was der Ver-
fasser seit 1 5 Jahren seinen Studenten über die
Elementarmathematik gelesen hat, und wird daher
für viele eine willkommene Gabe sein, die von ihrer
eigenen Studienzeit her eine derartige zusammen-
fassende Betrachtung über die Elementarmathematik
nicht kennen. A. S.
Prof. Dr. Hermann Schubert, Elementare Be-
r e c h n u n g d e r Logarithmen, eine Ergänzung
der Arithmetikbücher. Leipzig, Göschen. 1903.
87 S. — Preis 1.60 Mk.
Zweck des Buches ist, zu zeigen, wie ohne Be-
nutzung der logarithmischen Reihe und der natür-
lichen Logarithmen die gemeinen Logarithmen mit
beliebiger Genauigkeit berechnet werden können.
Grundlage der Berechnung werden die Formeln
2) -5 < 2l0g X — log (X — l) — log (X -f- l)
2X" I
"^ 2X- — 1 ^ 7 (2X2 _ j) (^ __ i)'
WO d eine zwischen | und i liegende Konstante ist ;
3) Y„ ^ — log X -j- Uj log (x + i) —
n-. 'og (-^ + 2) + . . . — (— )° log (x -f- n),
wo X und n ganze positive Zahlen sind, und Y„ eine
positive Zahl ist, die mit wachsendem x und n
immer kleiner wird.
Für den L^nterricht würde es genügen, um den
Schülern eine Möglichkeit zu zeigen, wie man Loga-
rithmen berechnen kann, sich auf die Anfänge der
Schubert'schen Entwicklungen zu beschränken. Da
aber auch hier schon e und e- gebraucht werden,
scheint mir der Weg über die logarithmische Reihe
und die natürlichen Logarithmen kürzer und auch
darum vorzuziehen zu sein, weil auf diesem Wege
tatsächlich berechnet wird. Will man Sekundanern
einige Logarithmen vorrechnen , so kann man
auch die Schubert'sche Methode nicht anwenden. Es
ist aber wohl möglich, durch Betrachtung der Po-
tenzen des Numerus Logarithmen zunächst auf 3 Stellen
zu berechnen.')
Die Mathematiker aber seien auf die vorliegende
Arbeit ausdrücklich hingewiesen ; es gewährt außer-
ordentliches Vergnügen, zu sehen, wie hier die ge-
meinen Logarithmen direkt berechnet werden, und
dem Verfasser Schritt für Schritt durch seine Unter-
suchungen zu folgen. A. S.
Proi". H. Pellat, Cours d'electricitd Tome IL
Paris 1903. Gauthier-Villars, 554 pages avec 221
fig. — Prix 18 fr.
Dem von uns Bd. I, S. 96 angezeigten ersten
Bande reiht sich der nun vorliegende zweite würdig
an. Das Bestreben des Verf., die Grundgesetze der
Elektrizitätslehre auf festem Fundamente unter Be-
nutzung möglichst einfacher, mathematischer Methoden
zu entwickeln, kommt durchweg in einer eleganten
Darstellung zum Ausdruck. Die Elektrodynamik be-
ginnt den zweiten Band, der Magnetismus wird erst
danach im zweiten Kapitel behandelt. Verf bezweckt
mit dieser Reihenfolge eine deutlichere Klarstellung
des Wesens des Magnetismus, der sich nur als ein
sehr bequemes , mathematisches Hilfsmittel darstellt,
dem keinerlei physische Realität entspricht. Im
dritten ICapitel werden die Induktionserscheinungeh
behandelt, im vierten die Anwendungen derselben in
Motoren und Dynamomaschinen, im fünften die elek-
') Vgl. den Aufsati am Eingänge dieser Nummci-,
208
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 13
Irischen Schwingungen und das umfangreiche sechste
Kapitel setzt die elektromagnetischen Messungen aus-
einander. Die Elektrolyse bleibt dem in Vorbereitung
befindlichen dritten Bande des Werkes vorbehalten.
Dr. Adolph Kohut, Justus von Liebig, sein
Leben und ^Virken. Auf Grund der besten
und zuverlässigsten Quellen geschildert. Mit un-
gedruckten Briefen Liebig's, zwei Briefen Liebig's
in Faksimile und 34 Original-Illustrationen. Gießen,
Verlag von Emil Roth, 1904. — Preis geb. 6 Mk.
Der Verfasser schildert das Leben und AVirken
Justus von Liebig's auf Grund der bereits gedruckt vor-
liegenden Nachrichten und mancherlei neuer hand-
schriftlicher Mitteilungen. Man verkehrt gern mit be-
deutenden Menschen und die Form der Biographie
ist ein Verkehr mit ihnen in der angenehmsten Form.
Die vorliegende Liebig-Biographie ist wohl geeignet
seine Persönlichkeit und seine Taten näherzurücken.
Durch die ausgiebige Benutzung von brieflichen Mit-
teilungen, den Abdruck von mancherlei geschickt aus-
gewählten Stellen aus Liebig's Schriften ist dem Leser
mancherlei zur Beurteilung von Liebig's Eigenart selbst
überlassen, oder es ist ihm doch die Möglichkeit gegeben,
Schlußfolgerungen über den Helden der Biographie
selbst zu ziehen.
Literatur.
Kronecker, Leop.; Vorlesungen üb. Mathematik. (In 2 Tln.)
II. Teil. Vorlesungen üb. allgemeine Arithmetik. 2. .Abschn. ;
Vorlesungen über die Theorie der Determinanten. Bearb.
u. fortgeführt von Prof. Dr. Kurt Hensel. I. Bd. I. bis 21.
Vorlesg. (XII, 390 S. m. 11 Fig.) gr. 8". Leipzig '03, B. G.
Teubner. — 20 Mk. ; geb. 21 Mk.
Langenhan, .\. : Versteinerungen der deutschen Trias (des Bunt-
sandsteins, Muschel-Kalks u. Keupers), auf Grund 40 jähriger
Sammeltätigkeit zusammengestellt u. nach den Naturobjekten
• autogr. (22 S. m. Abbildgn. u. 17 Taf.) gr. 8". Liegnitz '03,
E. Scholz Nachf. in Komm. — 2,50 Mk. bar.
Lassar-Cohn, Prof Dr.: Einführung in die Chemie in leicht-
faßlicher Form. 2. Aufl. (XII, 292 S. m. 60 Abbildgn.)
gr. 8". Hamburg '03, L. Voß. — 3 Mk. ; in Leinw. geb.
4 Mk.
Lindman, C. A. M. : Beiträge zur Kenntnis der tropisch-
amerikanischen Farnflora. [Aus: ,,Arkiv f. Botanik".] (S.
187—275 m. 8 Doppeltaf) gr. 8". Stockholm '03, (Berlin,
R. Friedländer & Sohn.) — 4 Mk.
Martin, Ch.-Ed. : Le , Boletus subtomentosus' de la rcgion
genevoise. Essai de Monographie. (IX, 39 S. m. 18 färb.
Taf.) Bern '03, K. J. Wyss. — 8 Mk.
Müller, Dr. Herrn : Beitrag zur Embryonalentwicklung der
Ascaris megalocephala. Mit 5 färb. Taf. u. 12 Fig. im Text.
(30 S.) Stuttgart '03, E. Nägele. — 36 Mk.
Pfeiffer, Prof E)r. Eman. : Physikalisches Praktikum für An-
fänger. Dargestellt in 25 .arbeiten. (VIII, 150 S. m. 47
.Abbildgn.) gr. 8''. Leipzig '03, B. G. Teubner. — Geb. in
Leinw. 3,60 Mk.
Briefkasten.
Herrn E. S. in Leipzig-Schönefeld. — Wir nennen
Ihnen: Schlömilch's Handbuch der Mathematik. L Bd. Ele-
mentarmathematik. II. Bd. Höhere Mathematik. Leipzig,
J. A. Barth. Preis pro Band ca. 20 Mk. Dressel's Lehrbuch
der Physik, Freiburg, Herder's Verlag. Preis 15 Mk. In-
dessen ist die einschlägige Literatur außerordentlich reich an
brauchbaren Werken. Vermutlich würden für Ihren Zweck
schon gute Schulbücher in Verbindung mit Aufgabensamm-
lungen ausreichen, z. B. Lanner , Naturlehre, Wien, J. Roth.
Preis geb. ^,20 Mk. ; Bork-Nath, Mathematische Hauptsätze,
Leipzip, Dürr. ca. 5Mk. ; Martus, Sammlung mathematischer
-Aufgaben. Leipzig, E. A. Koch. ca. 6 Mk.
Herrn J. in Calais. — Wir können da nur mit Dickens
(Pickwickier I. Kap. 4) sagen: „Viele Schriftsteller hegen
eine nicht nur törichte, sondern in der Tat auch unehrenhafte
Abneigung, die Quellen anzugeben, aus welchen sie ihr Ma-
terial schöpfen." Wir können das nicht ändern. Für die
wissenschaftliche Bearbeitung irgend eines Gegenstandes muß
man sich eben selbst eine hinreichende Kenntnis der in Betracht
kommenden Literatur zu verschaffen suchen, um die Quellen
zu finden. Freilich wird das bei dem Übermaß „wissen-
schaftlicher" Produktion immer schwieriger und einmal ge-
radezu unüberwindlich werden.
Herrn H. R. Hoogenraad in Ryswyk (Holland). —
DieWurzeln der h öh er en P flanzen schei den eine
Reihe von gelösten Substanzen aus, die teils an-
organischer, teils organischer Natur sind. Von ersteren konn-
ten Kali, Kalk, Magnesia, Salzsäure, Schwefelsäure und Phos-
phorsäure mit Sicherheit nachgewiesen werden, hiervon aller-
dings nur Kali und Phosphorsäure in einigermaßen reich-
licher Menge, und zwar als Monokaliumphosphat , das aller
Wahrscheinlichkeit nach zum größten Teile aus lebenden
Wurzelhaarzellen, aus der Epidermis und den Rindenzellen
der haartragenden Region der Wurzel herrührt. Von organi-
schen Substanzen ist Ameisensäure, in Form von Kalium-
formiat, ein recht häufiges Vorkommnis im Wurzelsekret. Die
Säure diffundiert aus lebenden Zellen der jüngsten Wurzel-
particn , ist also kein Zersetzungsvorgängen entstammendes
Produkt. In einem Falle wurde Oxalsäure, ebenfalls als
Kaliumsalz , gefunden , nämlich an den .Ausscheidungen der
Wurzeln von Hyacinthus orientalis. Bemerkenswert ist , daß
die Wurzeln oxalsäurereicher Pflanzen, wie Rumex, Oxalis u. a.,
keine Oxalsäure ausscheiden. Essigsäure und Milchsäure,
deren Vorkommen auch behauptet worden ist, finden sich in
den Wurzelausscheidungen nicht vor. Die bekannte Erschei-
nung der Rotfärbung von Lakmuspapier durch die Ausschei-
dungen der Wurzeln beruht in der Regel auf der sauren
Reaktion des sezernicrten Monokaliumphosphates. Die durch
Wurzeln hervorgerufenen Korrosionserscheinungen an Gcsteins-
platten sind auf die Ausscheidung von Kohlensäure zurück-
zuführen, der der Hauptanteil an allen zur Beobachtung
kommenden Anätzungserscheinungen zugestanden werden muß.
Man kann im allgemeinen sagen, daß Substanzen, die durch
Kohlensäure nicht in Lösung gebracht werden können, wie
z. B. Silikate, auch von den Wurzelabsonderungcn nicht in
merklichem Grade angegriffen werden. Dabei befindet sich
die Kohlensäure natürlich nicht in freiem, gasförmigem Zu-
stande, sondern ist im Imbibitionswasser der äußeren Membran-
schichten der Wurzelzellen und in den benachbarten Flüssig-
keitsschichten des Bodenwassers gelöst. Kohlensäure ist also
die einzige freie Säure, die regelmäßig von den Wurzeln
höherer Pflanzen ausgeschieden wird ; doch findet auch noch,
wie erwähnt, durch andere Stofl'e eine Säurewirkung statt. —
Ausführlicheres über diesen Gegenstand finden Sie in der
Arbeit von Friedrich Czapek, Zur Lehre von den
Wurzel au sscheidungen (Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. 2g,
1896), der die vorstehenden Mitteilungen entnommen sind.
Dr. Seckt.
Inhalt: Dr. A. Schmidt: Elementare Berechnung der Logarithmen. — Kleinere Mitteilungen: Prof Dr. G. Volkens:
Der Laubwechsel tropischer Bäume. — Prof. Dr. J. Blaas: Über photographische Wirkungen im Dunkeln. — A.
Gradenwitz: Die Birkeland'sche elektromagnetische Kanone. — Himmelserscheinungen im Januar 1904. — Vereins-
wesen. — Bücherbesprechungen: Max Verworn: Allgemeine Physiologie. — Weber u. Well stein: Encyklo-
pädie der Elementar-Matheniatik. — Prof. Dr. Hermann Schubert: Elementare Berechnung der Logarithmen. —
Prof H. Pellat: Cours d'electricite. — Dr. A d olph Ko hu t: Justus von Liebig, sein Leben und Wirken. — Litera-
tur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 3. Januar 1904.
Nr. 14.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegcld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltcne Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft, [nseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, lUumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über die chemische Reinigung und Konservierung von Altertümern.
[Nachdruck verboten.]
Durch die archäologischen Ausgrabungen auf
den Trümmern ehemaliger Kulturstätten sind uns
eine große Menge wertvoller Gegenstände über-
liefert worden, Denkmäler aus Stein und Erz, die
uns als Zeugen vergangener Zeiten über die Kultur-
zustände jener Tage aufklären, nachdem sie Jahr-
hunderte, Jahrtausende lang in Schutt und Asche
begraben lagen. Kunst und Wissenschaft schöpfen
gleichzeitig aus diesen Quellen, die ihnen die
Kenntnis einer anderen Welt erschließen.
Doch ist es oft schwierig und mit gewissen
Gefahren verbunden, die aufgefundenen Altertümer
in zweckentsprechender Weise v'or dem Verfall zu
retten und der Nachwelt zu erhalten , da sie,
wenigstens was die metallenen Gegenstände be-
trifft, zum großen Teil bereits mehr oder weniger
der Verwitterung anheimgefallen sind. So
waren die wertvollen Bronzen der Akropolis bei
ihrer Auffindung teilweise in starker Zersetzung
begriffen, das Metall hatte sich mit einer dicken
Schicht von Oxydationsprodukten des Kupfers be-
deckt, und es bedurfte schleuniger Abhilfe, um
diese Zersetzung aufzuhalten. Auch Schichten mine-
ralischer Natur, insbesondere aus Kalkstein be-
Von Dr. Richard Loebe.
Stehende, hatten sich an den Bronzen festgesetzt.
Und in noch viel höherem Maße war dies bei den
aufgefundenen ägj-ptischen Tontafeln der Fall.
Intolge dieser Inkrustationen war zuweilen nicht
einmal ersichtlich, was der Gegenstand überhaupt
vorstellte. Und Inschriften wurden oft an Stücken
entdeckt, erst nachdem sie von der Verunreinigung
befreit waren.
So war es denn notwendig, das Augenmerk
zunächst darauf zu lenken, wie man die Altertums-
funde von den ihnen anhaftenden Zersetzungs-
produkten, seien sie nun metallischer Herkunft
oder mineralischer Natur, am zweckmäßigsten
befreien könne.
An eine mechanische Entfernung solcher Fremd-
körper ist in den meisten Fällen gar nicht
zu denken , da mit ihr eine gänzliche Zerstörung
der Kostbarkeiten gleichbedeutend wäre. Und so
mußte sich die Chemie in den Dienst der Archäo-
logen stellen, sie mußte auf Mittel und Wege
sinnen, dem Übel zu steuern. Und es ist inter-
essant zu verfolgen wie ihr dies gelang.
Bevor wir jedoch auf die näheren Einzelheiten
der Reinigung der Altertümer übergehen, ist es
2IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
nötig, über das dabei zu verfolgende Prinzip einige
Bemerkungen vorauszuschicken.
Wie bereits bemerkt, bestehen die \'erun-
reinigungen der metallenen Gegenstände zumeist
aus Oxyden, also bei Bronzen aus den verschie-
denen Kupferoxyden. Da die Kohlensäure jedoch
ebenfalls bei dem langen Zerstörungswerke behilf-
lich gewesen ist, finden sich auch Karbonate
in den Zersetzungsprodukten vor, von denen ja
das saure Salz des Kupfers, die Patina, allgemein
bekannt ist. An m i n eral ischen Stoffen treten
uns bei Bronzen und Allei tümern aus Stein besonders
Kalkstein, dann aber auch tonige Bestandteile
und Gips entgegen, oft auch gemischt mit
Kieselsäure. Diese steinartigen Krusten besitzen
eine große Widerstandsfähigkeit gegen mecha-
nische Einwirkungen und widersetzen sich zu-
weilen, wie bei den ägyptischen Tontafeln, selbst
chemischen Agentien, soweit solche wegen der
ebenfalls erdigen Natur des Tones überhaupt in
Frage kommen können.
Während die Kalksteinkruste leicht durch eine
Säure, die das Metall selbst nicht angreift, unter
Kohlensäureentvvicklung von dem metallenen
Gegenstande heruntergelöst werden kann (z. B.
Salzsäure bei Bronze), mußten zu dessen Entfernung
bei den Ton tafeln besondere, von Rathgen ') em-
pfohlene und später angegebene Maßnahmen ge-
troffen werden. Bei der Reinigung von antiken Metall-
gegenständen aber handelt es sich in der Regel
nur um eine Reduktion der Oxyde, die entweder
durch den bei der Elektrolyse von Salzlösungen
entstehenden kathodischen Wasserstoff oder den
bei der chemischen Einwirkung einer Säure auf
ein Metall freiwerdenden Wasserstoff ,,in statu
nascendi" herbeigeführt wird.
Nachdem die Antiquitäten so von anhaftenden
Zersetzungen befreit worden sind, ist es noch
nötig, sie mit einer Schicht undurchlässigen Ma-
terials zu imprägnieren, um sie vor dem Einflüsse
der Atmosphärilien zu bewahren.
Indem man nun in der angegebenen Richtung
auf verschiedenen Wegen zum Ziele gelangte,
gewann die chemische Reinigung von Altertums-
funden immer mehr an Bedeutung. Denn durch sie
wurde es ermöglicht, Inschriften von großer Wichtig-
keit zu lesen , andere wurden , wie eingangs er-
wähnt, nach der Reinigung durch Zufall überhaupt
erst entdeckt. So wuiden Kunstgegenstände bis
zu der überlebensgroßen Statue des Jünglings von
Antikythera -) dem Reinigungsprozesse unterworfen
und darnach zusammengefügt und zeigen nun
dem bewundernden Beschauer selbst in den Einzel-
heiten nie gesehene Vollendung. So wurden aus-
gegrabene antike Gebrauchsgegenstände des täg-
lichen Lebens, Werkzeuge, Waffen und Schmuck-
gegenstände der verschiedensten Kulturepochen
durch die Reinigung vor dem Zerfall bewahrt und
ihnen ein gutes Aussehen wiedergegeben. Kurz,
die Archäologie, mit ihr die Philologie, die
Kunst und die Geschichte, insbesondere auch
die Kulturgeschichte verdanken so der
Naturwissenschaft, und speziell der che-
mischen Forschung, einen großen Teil ihrer
Erfolge.
Wir wollen jetzt die Reinigungsmethoden der
verschiedenartigen Antiquitäten näher betrachten.
In neuerer Zeit haben sich insbesondere
zwei tüchtige Fachmänner um die Frage der
Reinigung und zugleich der Konservierung der
Altertümer verdient gemacht. Es sind dies der
Chemiker der königlichen Museen zu Berlin, Pro-
fessor Dr. F"riedrich Rathgen und der Direktor
der Industrie- und Handelsschule, sowie Chemiker
der Königlichen Museen zu Athen, Professor Dr.
O. A. Rhousopulos. Nachdem ersterer bereits im
Jahre 1898 mit einem Handbuche ') über die brauch-
barsten Methoden zur „Reinigung und Konser-
vierung von Altertumsfunden" in die (Öffentlich-
keit getreten war, brachte Rhousopulos kürzlich
in der „Chemischen Zeitschrift"-) einen bemerkens-
werten Beitrag zu dieser Frage, über den im
2. Jahrgang der „Naturwissenschaftlichen Wochen-
schrift"'^) bereits berichtet wurde, und in welchem
er die auf Grund seines neuen Verfahrens ge-
machten Erfahrungen niedergelegt und das Ver-
fahren selbst weiteren Kreisen zugänglich gemacht
hat. Rhousopulos behandelt die Bronzegegenstände
im verdünnten Salzsäurebade bei Gegenwart von
Zink in Form von Schnitzeln oder um den Gegen-
stand herumgelegter Streifen. Einmal kann hierbei
die Salzsäure die Kalksteinschichten leicht vom
Metall herunterlösen, ohne daß sie auf die Bronze
einwirkt, und auf der andern Seite kommt das
Prinzip der Reduktion bei diesem Verfahren zur
Geltung, indem der durch Einwirkung der Säure
auf das Zink entstehende Wasserstoff in statu
nascendi die Hauptrolle spielt. Dadurch werden
die Oxydationsprodukte des Kupfers, Kupfer-
oxychlorid, Kupferoxyd und endlich auch Kupfer-
oxydul zu Metall reduziert. Das Kupferoxydul
ist aber ein sehr kompakter Körper, daher der
chemischen Einwirkung schwer zugänglich und
kann der Reduktion durch seine Gegenwart
Schwierigkeiten bereiten. In solchem Falle ver-
wendet Rhousopulos Zinks taub statt des festen
Metalls. ^) Zum erfolgreichen Gelingen der Re-
duktion ist die peinlichste Sorgfalt darauf zu
richten,durch längeres Abwaschen in kochendem
Wasser jede Spur von Salzen und Kupferoxyd-
verbindungen von dem Stücke zu beseitigen;
') Rathgen. Chemikerzeitung 1903, 27, 66. Siehe jedoch
unten.
") Siehe Abbildung i.
') Friedrich Rathgen. Die Konservierung von Altertums
funden. Berlin 1888 (Handbücher der Königlichen Museen),
*) O. A. Rhousopulos. Über die Reinigung und Kon-
servierung von .Antiquitäten. Chemische Zeitschrift 1903, 2
202, 364.
^) Naturwissenschaftliche Wochenschrift, II. Band. Heft 27
Seite 319.
*) Chemische Zeitschrift, 2. Jahrgang, Nr. 24, Seite 762,
Rathgen verwendet ebenfalls Zinkstaub , aber in alkalische
Lösung, cf. weiter unten.
N. F. ni. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
21 1
andernfalls können diese Spuren die Ursache später
eintretender Ausblühungen werden.
Gegen die Anwendung eines sauren Bades macht
nun Rathgen ^j starke Bedenken geltend, da er nicht
glaubt, daß es möglich sei, auf die angegebene Weise
auch die äußerst geringen Spuren von Säure, die sich
in den feinen Poren des Metalls festsetzen können,
vollständig wegzuwaschen. Nach seiner Meinung
bietet selbst die Prüfung der Waschwasser mit
Silbernitrat keine hinreichende Gewähr für das
Gegenteil. Aber selbst zugegeben , daß der-
artige Spuren von Salzsäure imstande sind,
ein neues Zerstörungswerk in die Wege zu
leiten, so darf man nach Rhousopulos' Schil-
derungen wohl annehmen , daß jene Befürchtung
Standbild des Jünglings von Antikythera nach der
Reinigung und wochenlangem Auskochen mit
destilliertem Wasser bis jetzt sehr gut erhalten.
Rhousopulos hatte das Glück, Tausende solch
kostbarer Antiquitäten in Behandlung zu nehmen,
sowohl ägyptischen, wie auch griechischen Ur-
sprungs, darunter die berühmten mycenäischen
Schwerter, sowie die Bronzen der Akropolis und
die wunderbaren Meeresfunde von Antikjthera,
die mehr denn zwei Jahrtausende der Einwirkung
des Meerwassers und der darin lebenden Orga-
nismen ausgesetzt waren.
Herr Professor Rhousopulos hatte die Liebens-
würdigkeit, mir einige Original-Abbildungen von
solchen Bronzen zur Verfügung zu stellen, die er nach
Figur 1.
Bronzekopf a) vor der Reinigung.
b) Nach der Reinigung.
unberechtigt ist. Denn Rhousopulos verwendet
viel mehr Zink, als in der Säure aufgelöst werden
kann, und bei Beendigung des Reinigungsprozesses
kann daher freie Säure im Bade kaum mehr vor-
handen sein. Wäre dies dennoch der Fall, so
würde sie ja durch die auf das Säurebad folgende
Behandlung des Gegenstandes mit sehr verdünntem
Alkali neutralisiert werden. Jedenfalls aber hat
sich die Brauchbarkeit des von Rhousopulos ange-
gebenen Verfahrens, wenigstens unter den attischen
Verhältnissen, während eines Zeitraumes von vier-
zehn Jahren erwiesen. So hat sich z. B. auch jenes
') Chemikerzeitung 1903, 27, 56.
seinem Verfahren gereinigt hat, und ich spreche
ihm hierfür auch an dieser Stelle meinen verbind-
lichsten Dank aus. Zwei dieser Bronzen sind in
nebenstehenden Abbildungen in ihrem Zustande
vor und nach der Reinigung wiedergegeben.
Ersteres ist ein fragmentarischer Bronzekopf, letz-
teres die überlebensgroße Statue des Jünglings
von den Meeresfunden bei Antikythera , welche
wohl an Großartigkeit ihrer Körperformen von
keiner anderen Schöpfung griechischer Kunst er-
reicht worden ist.
Es ist ersichtlich, welcher Aufwand von Mühe
und Sachkenntnis erforderlich war, um aus den
Stark verunreinigten Stücken jene Bildnisse von
212
Naturwissenscliaftüche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 14
bewunderungswürdiger Schönheit wieder zu neuem
Leben zu erwecken.
Rhousopulos beschäftigt sich bereits seit 1888
mit der Reinigung von Altertümern, und seine be-
schriebene Methode ist bereits im Anfang der
neunziger Jahre im '.-/g/(ao/.oy(xoi' Jt'/awv (1892,
S. 32) zum erstenmale veröffentlicht worden. Fast
gleichzeitig mit ihm hatte auch Finkener ein Ver-
fahren in Vorschlag gebracht, das sich auf die
reduzierende Wirkung des bei der Elektrolyse
einer Cyankaliumlösung an der Kathode, in unserm
Falle also am Metallgegenstand selbst, entstehen-
den Wasserstoffs gründete. Diese Methode hat
aber den Nachteil, daß man dazu einer Menge Platin-
drahtes bedarf — gewiß ein Grund, billigere Vor-
schläge zu prüfen. Rhousopulos' Verdienst ist es,
dieses Finkener'sche Verfahren durch ein viel ein-
facheres, billigeres, gefahrloseres und zuverlässigeres
ersetzt zu haben. Denn er führt die Reduktion ohne
Benutzung des elektrischen Stromes aus und mit
gefahrloseren Mitteln, als dem giftigen Cyankalium.
Außerdem erreichte er mit seinem Verfahren nicht
nur die Reduktion oxydierter Bronzen, sondern auch
die Entfernung fingerdicker, kalkiger Schichten ohne
Schwierigkeit, während er genötigt war, bei der Be-
handlung eines mycenäischen Beils nach derFinkener-
schen Cyankali- Methode den Prozeß sehr bald
zu unterbrechen, da der Gegenstand anfing ab-
zubröckeln.') Er glaubt dies darauf zurückführen
zu müssen, daß bei Anwendung des elektrischen
Stromes die reduzierende Wirkung radikaler vorsieh
gehe. Ein anderer Teil desselben Beils ließ sich
dagegen nach seinem Verfahren ohne Beschädigung
reinigen.
Ob das Verfahren auch für Eisensachen brauch-
bar ist, darüber liegen noch keine Erfahrungen vor.
Um sie vor dem Einfluß der Atmosphärilien zu
schützen, überzieht Rhousopulos die fertig ge-
reinigten Bronzegegenstände in der Wärme mit
einer feinen Schicht reinsten Wachses. Falls aber
der Gegenstand die hierzu erforderliche Erwär-
mung nicht verträgt, verwendet er Zapon zur
Imprägnierung. Sofern die vorhergegangene Reini-
gung in jeder Beziehung mit der unbedingt nötigen
Peinlichkeit zu Ende geführt ist, soll der Wachs-
überzug volle Gewähr für unbedingte Haltbarkeit
bieten. Rathgen ") macht jedoch hiergegen den
Einwurf geltend, daß die Fettsäuren des Wachses
im Laufe der Zeit wohl imstande seien, in schäd-
licher Weise auf das Metall einzuwirken, und zu
Ausblüh ungen Veranlassung geben können. Denn im
Berliner Museum hat man zuweilen an so impräg-
nierten Altertümern aus Bronze Zersetzungserschei-
nungen wahrgenommen, die diese in südlichen
Gegenden nicht aufwiesen. Da aber nun nach
dem Berichte des griechischen Chemikers das
Konservierungsverfahren mittels Wachs sich wäh-
rend eines Zeitraumes von vierzehn Jahren in den
Athener Museen gut bewährt hat, so ist man wohl
zu der Annahme berechtigt, daß diese Zersetzungen
auf klimatische Einflüsse zurückzuführen sind.
Dem obengenannten Aufsatz von O. A. Rhou-
sopulos mögen noch einige hochinteressante
Angaben entnommen sein, die sich auf die merk-
würdigen Funde jener Bronzen im Meeresgrunde bei
Antikythera beziehen, weil sie uns außer anderen
Merkwürdigkeiten über die Zusammensetzung an-
tiker Bronzen unterrichten und auch zeigen, in
welcher Weise diese durch den Einfluß der ver-
schiedenen Organismen und des Wasserdruckes
gelitten hatten.') „Ursprünglich bestand die Le-
gierung aus 85"/,) Cu und i5"/o Sn. Viele Gegen-
stände waren nur an der Oberfläche, andere bis
an den Kern in Chloride und Oxyde umgewandelt.
Diese konnten kaum das saure Bad vertragen und
muteten sofort durch ein Pottaschelösungsbad ge-
härtet und gereinigt werden. Eine Hand hatte
eine dünne, schwarze, aus Kupferoxyd bestehende
Oberfläche, darunter eine dicke Schicht von grauen
Chloriden, sodann Oxydul und ganz im Innern
einen rein metallischen Kern." Die von Rhouso-
pulos vorgenommenen Analysen dieser Bronzen und
ihrer Zersetzungsprodukte sprechen für die von
Berthelot ~) aufgestellten Formeln, die in anschau-
licher Weise den Entwicklungsgang der Zersetzung
wiedergeben :
A.
I. 4 Cu -|- 4O ^ 4 CuO
11. 4 CuO -f- 2 NaCl 4- CO., + 4 H.,0 = 3 CuO •
CuCl, •4H.,0 + Na.,CO.,
B.
III. 3 CuO -CuCl., -4 H.,0 + 4 Cu + NaCl =
Cu,Cl„ -NaCl -|- 3'Cu.,0 + 4 H.,0
IV. 3 CuCl., + 30 + 4 H.,0'= 3 CuÖ, CuCI, +
2 CuCL
V. CuCL + 3 Cu + 3O + 4 H.,0 = 3 CuO - CuCl,, •
4 H.,0.
Zur Reinigung metallischer Antiquitäten hat
auch Rathgen beachtenswerte Vorschläge gemacht.
Bezüglich des Reduktionsverfahrens zieht er das
Finkenersche jedem anderen vor. Neuerdings ■*)
empfiehlt er zur Reinigung kleinerer Gegenstände,
wie S i 1 b e r m ü n z e n und kleiner Eisensachen mit
gut erhaltenem Kern die Reduktion mit Cyankalium
im .Schmelzfluß. Die alten Silbermünzen sind in der
Regel durch einen Überzug von Chlorsilber verun-
reinigt. Bringt man nun Cyankalium im Porzellan-
tiegel zum Schmelzen und legt die Münze dahinein,
so wird das anhaftende Chlorsilber reduziert und
das reduzierte Silber schwimmt schwammförmig
auf der Oberfläche der Schmelze. Diesem Pro-
zesse folgt ein gründliches Auswaschen mit destil-
liertem Wasser und Alkohol. Zuletzt muß die
Münze im Trockenschrank getrocknet und endlich
mit einer weichen Bürste bearbeitet werden. Falls
sich das Tränken mit einem luftabschließenden
') Chemische Zeitschrift, 2. Jahrgang, Nr. 24, S. 762.
■■') Chemilierzeitung 1903, 27, Nr. 56.
') Rhousopulos. Chemische Zeitschrift, 2. Jahrgang, Nr. 7,
Seite 204.
*) Compt. rend. 118, 768 (1894). I'^h entnelimc diese
Angaben der Arbeit Rhousopulos'.
^) Chemil<erzcitung 1903. Nr. 74, Seite 897.
N. F. in. Nr. 14
Naturvvissenscliaftliche Wochensclirift.
21'
Stoffe erforderlich erweist, so empfiehlt Rathgen
die Anwendung von Zapon. Nach beendeter
Reinigung zeigt die Silbermünze ein silberweißes,
mattes Aussehen. Außer Cyankalium allein kann
auch dieses mit C)-annatrium oder mit Pottasche
oder Soda gemischt zur Reduktion im Schmelz-
fluß dienen. Bei der Verwendung von kohlen-
sauren Alkalien hat man aber zu bedenken, daß dabei
Silberkarbonat entsteht, und muß dieses mit Essig-
säure entfernen. Auf diesem Wege erhielt Rathgen
die Münzen mit Spiegelglanz. Daß auch für kleinere
Eisengegenstände die Cyankalibehandlung durch-
gehends brauchbar ist, glaubt Rathgen annehmen
zu dürfen, da es ihm gelang, einem eisernen Ring,
der zwar der Neuzeit angehört, aber stark an-
gegriffen war, durch Reduktion mit geschmolzenem
gegenständen ist auch von Krefting^) angegeben
worden, der zur Reduktion den bei der Einwir-
kung von Kalilauge auf .Aluminium freiwerdenden
Wasserstoff verwendet. Das Prinzip ist also
hierbei das gleiche wie bei dem Verfahren von
Rhousopulos.
Zur Aufarbeitung von Silbermünzen benutzt
Rathgen auch die Reduktion mit Aluminium
in Kalilauge nach Krause, das er eine Abart des
Krefting'schcn nennt"'). Es hieße jedoch den Rahmen
dieser Mitteilungen überschreiten, wollte ich auf
alle die einzelnen Verfahren besonders eingehen.
Nur verdient eine Methode von Rathgen zur Wieder-
herstellung alter Bleimedaillen noch näher er-
wähnt zu werden.'') Er *) benutzt zu dem gedachten
Zwecke das Kreftingsche Verfahren, und zwar unter
a) vor der Reinigung und Zusammenfügung.
Figur 2.
Jüngling (Paris?) von Antikyüicra
b) nach der Reinigung.
Cyankalium seine ehemalige mattgraue Eisenfarbe
wieder zu verleihen. Auch hier ist, wie eben in
allen Fällen der Konservierung, sorgfältigstes
Waschen und Trocknen unbedingte Notwendigkeit
nach dem Reinigungsprozeß.
Für größere Gegenstände läßt sich das Ver-
fahren wegen der erforderlichen großen Cyanka-
liummenge nicht gut durchführen. Deshalb wählte
Rathgen an Stelle von Cyankalium das Schwefel-
cyankalium, und es gelang ihm damit einige prä-
historische Eisenstücke ziemlich rostfrei zu erhalten.
Dabei werden die Sauerstoffverbindungen des
Eisens durch das Rhodankalium in Schwefeleisen
umgewandelt, und dieses scheint sich leichter ent-
fernen zu lassen als jene.
Ein Verfahren zur Reinigung von antiken Metall-
Anwendung von Zinkstaub mit Natronlauge, wobei
man darauf zu achten hat, daß kein Zinkstaub,
durch Oxyd festgehalten, an der Münze hängen
bleibt. Nach dem gründlichen Waschen mit luft-
freiem destilliertem Wasser, bringt n.an das Blei-
stück in noch nassem Zustande in geschmolzenes
Paraffin, worin man es beläßt, bis keine Wasser-
dampfblasen mehr auftreten. Endlich saugt man
mit Hilfe eines Baumwollenlappens das überflüssige
Paraffin auf und die Münze ist zur xAufbewahrung
fertig.
') Chemikerzeitung 1903, 27, Nr. 56.
'') Chemikerzeitung 1903, 27, Nr. 56.
') Chemikerzeitung 1903, 27, Nr. 67.
*) ,,Rivista itahana di numismatica"
Rathgen, Konservierung von BIcimcdaillen.
1903
Nach
214
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
Die Bleimedaillen , die Rathgen behandelte,
waren mit Zersetzungsprodukten von basischem (?)
Bleikarbonat bedeckt Das erklärt sich daraus,
daß die Kohlensäure der Luft aus den Bleiver-
bindungen, welche durch organische (P'ett-)Säuren
durch vieles Anfassen entstanden sind, das Karbonat
ausfällt, während die freiwerdende Säure dann den
Vorgang sich immer weiter ins Innere fortpflanzen
läßt.
Auch mit der Konservierung von baby-
lonischen Tontafeln hat sich Rathgen ^) ein-
gehend beschäftigt. Diese sind vielfach von dicken,
äußerst festen Krusten von Kalkstein, Gipskristallen
oder tonigen Bestandteilen, oder auch einem Gemenge
dieser Mineralien mit Kieselsäure bedeckt. Bestehen
die Tafeln aus hartgebranntem Tone, so genügt
es, sie ein bis zwei Tage lang in schwach säure-
haltigem Wasser liegen zu lassen. Auch hier
ist natürlich wieder ein äußerst sorgfältiges Aus-
laugen mit Wasser Bedingung. Man muß sich
nach Beendigung des Waschens durch Titration
mit j'5 normal Silberlösung und Kaliumchromat-
zusatz von der gänzlichen Abwesenheit von Salz-
säure überzeugen. Erst dann kann die Tafel ge-
trocknet und zur besseren Haltbarkeit mit einer
Mischung von Leinölfirnis und Benzin (1:3 — 4)
Fig"'' 3- Babylonische Tontafel
;i) vor der Reinigung b) nach der Reinigung.
imprägniert werden. — Oft ist der Ton aber zu
wenig oder überhaupt nicht gebrannt und verträgt
dann nicht einmal die Behandlung mit Wasser. In
solchem Falle werden die Tafeln in einem mit
6 Bunsenbrennern erhitzten Muffelofen bis 590" C
erhitzt. Lassen sich die Inkrustationen nach dem
Erkalten nicht ohne weiteres durch Abheben ent-
fernen, und nützt auch die Behandlung mit Wasser
nichts, so muß man sie wie oben mit Salzsäure
liegen lassen. Erweicht aber der Ton, wenn man ihn
nach dem Brennen mit Wasser oder Salzsäure be-
tupft, so muß das Brennen wiederholt werden,
nötigenfalls bis 1050" C, bei welcher Temperatur
der Ton in der Regel die nötige Härte erreicht
hat. Dann erst behandelt man die Tafel weiter
mit verdünnter Salzsäure. — Nebenstehende Ab-
bildung zeigt eine babylonische Tontafel vor und
nach der Reinigung.
Von großem Interesse sind endlich noch die
Mitteilungen von Rhousopulos über die Reinigung
von Lecythen, antiken tönernen Vasen, ' ) die mit einer
Kruste von der Dicke einer Eierschale bedeckt
sind. Auf dieser Schicht sind scheinbar mit Wasser-
farben verschiedene Figuren zur Darstellung ge-
bracht. Die verwendeten Farben, am häufigsten
Rotbraun und Rot, zuweilen auch Blau und Violett,
sind aber sehr leicht verwischbar, so daß dieser
Umstand die Reinigung der Lec)-then außerordent-
lich erschwert. Aber auch in dieser Hinsicht waren
die Versuche des griechischen Chemikers von Er-
folg gekrönt. Säuren greifen die Farben an und
rufen, wohl infolge geringer Verunreinigungen, gelbe
Flecken auf dem weißen Grund hervor, sie waren
also von vornherein von den Versuchen auszu-
schließen. Rhousopulos sagt selbst: „Die Empfind-
lichkeit dieser Farben ist so groß, daß z. B. das Blau
fast gar nicht zu retten ist ; auch kommt es vor, daß
die weiße Schicht bei der Behandlung mit Flüssig-
keiten sich aufbläht und abblättert. Manchmal
sind die Vasen mit einer fettig aussehenden Sub-
stanz bedeckt, gegen welche jedes Mittel versagt ;
an ein Reiben ist garnicht zu denken, da man
damit auch den Farben schadet."
Als einziges Mittel ergab sich Sprozentige, che-
misch reine Salzsäure. Hierhinein taucht man die Le-
cj'then, beobachtet genau den Vorgang und nimmt
die Vase aus diesem Bade heraus, sobald der Beginn
einer Entfärbung oder Aufblähung wahrzunehmen ist.
Man läßt trocknen, spült gut in destilliertem Wasser,
trocknet abermals und fixiert mit verdütmter
Wasserglaslösung. Irgend welche mechanischen
Eineriffe sind, wie aus dem Gesagten hervor-
geht, unter allen Umständen zu vermeiden. Zur Ana-
l\'se der Lecythenfarbe stand Rhousopulos kein ge-
nügendes Material zu Gebote. Es gelang ihm aber,
die Farben sehr antiker farbiger Statuen aus Marmor
und porösem Stein näher zu untersuchen, und es
zeigte sich, daß das Rotbraun aus Eisenoxyd und
das schönere, feurige Rot aus Zinnober bestand. Das
Blau war basisch kohlensaures Kupfer und das Grün
enthielt Kupferox}-d mit Spuren von Eisenoxyd.
Auch fand sich vom Licht geschwächtes Zinnober
vor.
Vorstehende Ausführungen erheben nicht den
Anspruch, eine erschöpfende Darstellung dessen
zu sein, was die Chemie im Interesse der Alter-
tumsforschung geleistet hat und noch leistet. Denn
nicht allein mit der Reinigung von Altertums-
funden materieller Beschaffenheit steht sie im
Dienste jener Schwesterwissenschaft. Auch zur
Regenerierung und Konservierung geistiger
Denkmäler, alter Schriften und bildlicher Darstel-
lungen muß sie zu Rate gezogen werden. So
sehen wir in der vatikanischen Bibliothek zu Rom
zahlreiche Chemiker sich mit diesen Fragen be-
schäftigen. Die vorliegende Ausführung will viel-
mehr nur zusammenfassend über die neuerdings
wieder einmal in den Vordergrund getretene Frage
- ') Prometheus 1901, 12. Chemikerzeitung 1903, Nr. 66,
Seite Sil.
Chemische Zeilschrift, 2. Jahrg, Nr. 2+, S. 763.
N. F. III. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
215
der Wiederherstellung antiker, meist ausgegra-
bener Denkmäler berichten, die die Zeichen plasti-
scher Kunst und ehemaliger geistiger Kultur an ihrer
Stirn tragen, und denen wir so viele wertvolle
Beiträge für die verschiedenen Zweige unserer
heutigen Wissenschaft verdanken.
Kleinere Mitteilungen.
Die Wundbehandlung nach biologischem
Prinzipe setzt L. Ihrig auseinander. (Beitr. z.
klin. Chir., Bd. 40, .1903, S. 285.) Alle anti- und
aseptischen Maßregeln vermögen Wundinfektionen
nicht auszuschließen, andererseits heilen sichtlich
stark infizierte Wunden oft überraschend gut. Die
Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch
sieht Verf darin, daß bei der Wundheilung zwei
Faktoren konkurrieren, die Lebenskraft der stets
in größerer oder geringerer Zahl in die Wunde
eelansrenden Keime und die Lebenskraft der Ge-
webszellen. Die Fernhaltung der Infektionskeime
bzw. die Verminderung ihrer Zahl ist für die
Wundheilung zwar förderlich, aber nur dann, wenn
die dazu verwendeten Mittel nicht gleichzeitig die
Gewebszellen schädigen und sie so ihrer normalen
Widerstandskraft gegenüber den Bakterien be-
rauben. Man wird sich daher auf physikalische
Maßnahmen zur Verhütung einer Infektion be-
schränken müssen , während bei schon erfolgter
Infektion jede Manipulation in der Wunde, mag
sie sich mechanischer, chemischer oder thermischer
Mittel bedienen, außer den Bakterien stets auch
die Gewebszellen schädigt. „Jeder Insult der
Wundzellen ist ein doppelter: er hält die natür-
liche Regeneration hintan und bringt die Infektion
auf lebensgeschwächtem Gewebe zum Auskeimen.
Aus diesem Grunde ist eine ausgesprochene Be-
schädigung der Lebenskraft ein größerer Schaden
für die Wunde wie die Infektion." Auswischen
der Wunde und Anwendung von Desinfizientien
ist daher zu verwerfen , auch vor Austrocknung
ist die Wunde zu schützen. L hat sich daher be-
müht, ein für die Wunde unschädliches Medium
zu finden und empfiehlt als eine solche dem Blut
einigermaßen entsprechende Flüssigkeit eine körper-
warme Lösung von CaCl._, 0,03 Proz. , NaHCOg
0,04 Proz. und NaCl 0,9 Proz. Nur mit dieser
Lösung kommt die Wunde in Berührung, auch
die Verbandstoffe werden damit angefeuchtet.
Nach M. V. Brunn (Tübingen) im Zenlralblatt für AUg.
Pathologie u. Pathol. Anatomie.
Obschon ich annehmen kann, daß die Ein-
wirkungstarker elektrischer Ström e auf Chaeto-
poden längst durch exakte Versuche festgestellt
ist, will ich doch nicht mit der Mitteilung einer
Beobachtung zurückhalten, die ich bei einem
heurigen Sommergewitter zu machen Gelegenheit
hatte. Um 2 Uhr nachmittags schlug der Blitz
auf eine Entfernung von nur etwa 200 Schritten
Luftlinie von meinem Hause in eine, diesem gegen-
überliegende, triefendnasse Bergwiese ein. Im
Augenblicke des Blitzschlages bezeichnete eine starke
Dampfwolke, wie man sie sonst nur beim Ab-
feuern eines Geschützes zu sehen gewohnt ist, die
Stelle, an welcher der Ausgleich der Elektrizitäten
erfolgt war. Fünf Minuten später befand ich mich
an diesem Punkte und fand eine etwa i qm große
Fläche der Wiese von der Grasnarbe entblößt und
in deren Mitte eine spannentiefe Grube ausge-
schlagen, von welcher aus reichverästelte „Blitz-
rinnen'', nach allen Seiten, insbesondere aber gegen
den nasseren Teil der Wiese auf eine Entfernung
bis etwa 8 m bemerkbar waren. Erdbrocken und
Rasenstücke waren 70 — 80 Schritte weit weg-
geschleudert worden. Was mich besonders über-
raschte, war der Umstand, daß ich an den der
Rasennarbe beraubten Stellen die Regenwürmer
mobil fand. Diese hatten den gewaltigen elek-
trischen Schlag heil überstanden und suchten sich
mit größter Beweglichkeit durch die Flucht zu
retten. Es wäre daraus zu schließen, daß Lum-
bricus auch durch sehr starke elektrische Ströme
keinen Schaden nimmt. Einige der Würmer wurden
ja genau in der Grube sichtbar, die der Blitzstrahl
gewühlt hatte und die also ganz augenscheinlich
den Mittelpunkt der elektrischen Kraftsphäre bildete.
Dr. Wahrmund Riegler.
Neue Funde diluvialer Springmaus-Reste
aus Mitteleuropa. — Die große Springmaus,
welche früher gewöhnlich als Alactaga jaculus Pall.
bezeichnet wurde, jetzt aber nach den neuen
Nomenklatur - Regeln meistens Alactaga saliens
Gmel. genannt wird, gehört heutzutage zu den
charakteristischsten Säugetieren der südostrussischen
und westsibirischen Steppen. Sie erreicht in auf-
gerichteter Körperhaltung etwa die Größe eines
zierlichen Kaninchens und wird wegen einer ge-
wissen Ähnlichkeit des Kopfes mit dem Hasen
von den Russen „Erdhase" genannt; im übrigen
hat sie mit dem Hasen nichts zu tun, sondern
gehört zu der merkwürdigen Nager-Familie der
Dipodiden , die in ihren Bewegungen manches
Känguruhähnliche zeigen und zu den Charakter-
tieren der Steppen und Wüsten gehören.
Es ist nun eine sehr beachtenswerte, aber viel-
fach noch nicht hinreichend gewürdigte Tatsache,
daß die oben erwähnte große Springmaus einst
während eines gewissen Abschnittes der Diluvial-
Periode (= Pleistocän-Periode) in Mitteleuropa ge-
lebt und sicher bestimmbare Reste zurückgelassen
hat.
Über die früheren Funde, welche bei Gera,
Westeregeln, Thiede, Quedlinburg, Rübeland, Pöß-
neck, Saalfeld i. Thür., Würzburg, Zuzlawitz, Prag,
Türmitz, Angiesl und Aussig gemacht sind, habe
ich in dem ,, Neuen Jahrbuch für Mineralogie" etc.
1898, Bd. II, S. 2 ff., ausführlich berichtet und auf
;i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
ihre Bedeutung hingewiesen. Siehe auch „Naturw.
Wochenschr." vom 11. Juli 1897.
Inzwischen sind wieder einige neue, bemerkens-
werte Funde von Alactaga-Resten mir teils be-
kannt geworden, teils unter die Hände gekommen.
Zunächst erwähne ich ein ganzes Skelett, welches
Herr Lehrer Ferd. Seehars, von dem ich früher
eine Anzahl charakteristischer Alactaga-Knochen
erhielt, kürzlich im Löß bei Türmitz (Nordböhmen)
gefunden hat. Nach einer bezüglichen Mitteilung
des genannten Herrn lagen die Wirbel der betr.
Springmaus noch in der natürlichen Reihenfolge,
so daß man annehmen darf, das Tier habe am
Fundort selbst seinen Tod gefunden.
Andere Alactaga-Reste sind vor kurzem von
Herrn Gymnasialoberlehrer Dr. Löscher (Gera)
bei Pohlitz unweit Köstritz gesammelt worden.
Siehe Sep.-Abdr. aus dem 43. — 45. Jahresbericht
igoo — 1902 d. Ges. v. F"r. d. Naturwiss. zu Gera,
S. 45. — Ferner hat Herr Dr. Quantz einige
Alactaga-Reste bei Pößneck entdeckt, welche ich
1899 kurz besprochen habe.^)
Endlich erhielt ich durch die Herren Dr. Lampe
in Quedlinburg und Kand. Brandes, z. Z. in
Berlin, einige charakteristische Alactaga-Knochen
(4 Tibiae), welche kürzlich in einer pleistocänen
Spaltausfüllung des Seveckenberges bei Quedlin-
burg gefunden sind, zur Bestimmung, und zwar
zusammen mit den ebendort ausgegrabenen Resten
einiger anderer charakteristischer Steppen-Säuge-
tiere (Spermophilus rufescens, Foetorius Evers-
manni, Equus caballus ferus). Dieselben sollen
an einem anderen Orte eingehender besprochen
werden.
Durch diese Funde wird die von mir schon
oft verteidigte Annahme einer pleistocänen
Steppenzeit für Mitteleuropa von neuem
unterstützt. Herr Prof. Dr. A. Penck in Wien
ist in einer kürzlich erschienenen Publikation („Die
alpinen Eiszeitbildungen und der prähistorische
Mensch", Arch. f. Anthrop. 1903, N. F., Bd. I,
S. 78 — 90) sogar zu der Annahme zweier ,, Step-
penphasen" für Mitteleuropa gelangt, indem er v i e r
Eiszeiten in unseren Gegenden als nachweisbar
ansieht und die ältere Steppenphase (mit dem
älteren Löß) in die 2. Interglazialzeit, die jüngere
Steppenphase (mit dem jüngeren Löß) in die
3. Interglazialzeit verlegt.
Über die Einzelheiten des von Penck a. a. O.
S. 90 aufgestellten tabellarischen Schemas der
pleistocänen Epochen wird wohl noch viel debattiert
werden ; insbesondere würde hier die Frage in
Betracht kommen, in welche der beiden , .Steppen-
phasen" unsere große Springmaus gehört , falls
überhaupt zwei solcher Phasen anzunehmen sind.
Es wird eine wichtige Aufgabe zukünftiger Forscher
sein, über diese Frage möglichst genaue Beob-
achtungen anzustellen. Vorläufig scheint es mir
besonders wichtig zu sein, darauf hinzuweisen,
daß die große Steppen-Springmaus an zahlreichen
Fundorten Mitteleuropas und in zahlreichen P^ossil-
resten sicher festgestellt worden ist.
Prof. Dr. A. Nehring.
Eine abnorme Refraktionserscheinung wurde
im Sommer 1902 von Ta u di n • C h ab o t in
Degerloch (Württemberg) beobachtet. Derselbe
stellte nämlich fest, daß die Sonne am 25. Juni
etwa 4 Bogenminuten nördlicher als am 24. Juni
1900 unterging, während im normalen Verlaufe
der Untergangspunkt der Sonne an beiden Tagen
genau der gleiche hätte sein müssen , da das
Sommersolstitium 1902 gerade einen Tag später
stattfand als 1900. Ein an der betreffenden Stelle
seines Horizontes sichtbares Türmchen ließ diese
merkwürdige Erscheinung ohne alle Instrumente
bemerkbar werden. Die Erklärung kann ent-
weder darin gesucht werden, daß am 25. eine
beträchtlichere seitliche (oder laterale) Refraktion
zustande kam, oder aber auch darin, daß die ge-
wöhnliche Strahlenbrechung an diesem Tage so
gesteigert war, daß die Sonne erst erheblich
später und daher in nach Norden zu vorgerückter
Stellung unterging, als es bei normaler Wirkung
der Refraktion hätte der P"all sein müssen. Ob
diese Abnormität mit den vulkanischen Erschei-
nungen des verflossenen Jahres in Zusammenhang
zu bringen ist, kann wohl kaum mit Sicherheit
entschieden werden. Wir berichten über die
Wahrnehmung hauptsächlich zu dem Zwecke,
um diejenigen Leser, die zu regelmäßigen Be-
obachtungen des Sonnenunterganges Gelegenheit
haben, darauf aufmerksam zu machen, daß solche
mühelose und ohne Hilfsmittel ausführbare Natur-
beobachtungen neben dem ästhetischen Genuß
auch recht interessante wissenschaftliche Ergeb-
nisse liefern können. Es wäre gewiß wertvoll,
wenn ermittelt würde, ob ähnliche Anomalien des
öfteren vorkommen und wie sie etwa mit den
Jahreszeiten und Witterungszuständen in Zusammen-
hang stehen mögen. F. Kbr.
') Sitzungsber. Berl. Nat. Fr. 1899, Nr. 6.
Interessante photographische Aufnahmen
des Kometen Borelly veröffentlicht E. E. Bar-
nard im Oktoberheft des „Astrophys. Journal".
Diese mit einer Projektionslinse hergestellten Auf-
nahmen zeigen nicht nur einen bis 15" langen
Schweif, von dem mit dem Auge selbst in licht-
starken Fernrohren nur etwa das vorderste Viertel
wahrzunehmen war, sondern am 24. Juli enthüllten
diese .Aufnahmen auch ein höchst bemerkens-
wertes, für die Theorie der Kometenschweife wich-
tiges Ereignis, nämlich die Abspaltung eines
Schweifsegmentes, das sich mit großer Geschwindig-
keit vom Kopfe des Kometen entfernte (vgl. die
beistehende Reproduktion zweier Aufnahmen vom
24. Juli).
Zu den beiden hier wiedergegebenen Aufnah-
men vom Yerkes-Observatory gesellt sich noch
eine von Quenisset in Nanterre gemachte, so daß
der Komet an jenem Tage dreimal photographiert
wurde, und zwar sind die Mitten der i- bis 2^j„-
N. F. m. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
217
stündigen Expositionszeiten der drei Platten ii*"
30™, lö"" 15™ und ig** 14™ mittlere Greenwicher
Zeit. In den Zwischenzeiten hat das abgetrennte
Schweifstück eine stündliche Geschwindigkeit von
10,7' in bezug auf den Kopf besessen , und zwar
bewegte es sich nach der Seite hin, von welcher
der Komet kam. Die Abtrennung müßte dem-
nach am gleichen Tage etwa um 2^ 30™ M.Gr.Z.
erfolgt sein. Übereinstimmend damit zeigen die
Aufnahmen vom 23. Juli nichts von der Spaltung,
die andererseits bis zum 25. Juli dadurch ver-
schwunden war, daß der abgetrennte Teil sich
im Weltraum verloren hatte. Barnard berechnet
die lineare Geschwindigkeit der Bruchstelle in
Bezug auf den Kometenkopf zu 46 km pro
Sekunde, wovon jedoch 35 km auf Rechnung der
Annäherung des Kometen an die Sonne zu setzen
sind, so daß die Zunahme der Entfernung des
Schweifes von der Sonne rund 1 1 km pro Se-
kunde betragen hat. Die Erklärung der Abtrennung
glaubt Barnard in einer plötzlichen Richtungs-
änderung der vom Kopfe ausgehenden Ausströ-
mung suchen zu sollen, die eben um 2^1., Uhr
stattgefunden haben mag. Jedenfalls haben wir
also infolge jenes Ereignisses in diesem Falle zum
ersten Male die bereits von Bessel vermutete Be-
wegung der Schweifteilchen deutlich verfolgen
können. Die Zunahme der Geschwindigkeit von
10,1' auf 10,7' im Zeitraum weniger Stunden
deutet auf das wirkliche Vorhandensein einer
dauernd wirkenden, in der Sonne ihren Sitz haben-
den, abstoßenden Kraft. In vielen anderen Fällen
muß die Geschwindigkeit der Bewegung der
Schweifteilchen jedenfalls noch weit größer ange-
nommen werden , als sie hier beobachtet wurde.
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß Mr. Wallace
aus den Yerkes-Aufnahmen vom 22. Juli ein präch-
tig wirkendes Stereoskopbild des Kometen Borelly
zusammengestellt hat, das uns im Stereoskop das
zarte Nebelgebilde wunderbar schön als vor dem
Fixsternhimmel im Räume schwebend erkennen
läßt. Die Fixsterne erscheinen allerdings natur-
gemäß auf allen Kometenaufnahmen zu Strichen
verzerrt , da während der mehrstündigen Expo-
sitionszeit auf den Kometen pointiert wurde und
dieser in einigen Stunden schon merklich unter
den Fixsternen fortschreitet. Die Richtung der
von den Fixsternen erzeugten Spuren gibt uns
daher die Bewegungsrichtung des Kometen an.
F. Kbr.
Juli 24, 17h 591
m 2o'l '»Q'n
Der Komet Borelly (c 1903).
Juli 24, 14I1 57"
nach photographischen Aufnalimen von Barnard und Wallace.
17" 34"
Die Nachfarben der Salze durch Einwirkung untersuchte Goldstein, wie er in den Sitzungs-
von Kathoden-, Becquerel- und Röntgenstrahlen, berichten der Berliner Akademie 1894 mitteilte,
Nachdem es bekannt war, daß Kathodenstrahlen ob nicht dauernde Änderungen der bestrahlten
viele Substanzen zum Phosphoreszieren bringen, Substanzen eintreten könnten. Er benutzte ein
21!
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
zylindrisches Entladungsrohr von 272 bis 4 cm
Weite mit seitlich angebrachter Anode. Das zu
untersuchende Salz wurde in 2 — 3 cm Entfernung
vor der Kathode auf die Gefäßwand gebracht und
die Kathodenstrahlen durch den Magneten auf
das Salz konzentriert. Brachte er dorthin weißes
Chlorlithium, so nahm es eine heliotrop- bis dunkel-
violette Färbung an , während das ursprüngliche
blaue Phosphoreszenzlicht allmählich verschwand.
Das in der evakuierten Röhre abgeschmolzene
Salz behielt seine Farbe ; an die Luft gebracht,
wurde es in kurzer Zeit wieder weiß. Goldstein
bezeichnete die bleibenden Farben als Nachfarben,
im Gegensatz zu den Phosphoreszenzfarben. Ähn-
liche Eigenschaften wurden beobachtet an Chlor-
natrium, Chlorkalium, Bromkalium, Jodkalium,
kohlensaurem Kalium, Bromnatrium, Bromlithium
und Jodlithium. Goldstein deutete diese Erschei-
nungen als physikalische ; weitere Versuche er-
gaben, daß das Verschwinden der Farben von
der Einwirkung des Lichtes herrühre. Besonders
lichtempfindlich zeigten sich die durch Kathoden-
strahlen hervorgerufenen Änderungen bei Chlor-
kalium, Bromkalium und Jodkalium. Temperatur-
erhöhung beschleunigte die Wirkung des Lichtes
auf die Färbung bedeutend.
Wiedemann und Schmidt haben diese Nach-
farben durch eine Zersetzung der betreffenden
Salze durch die Kathodenstrahlen erklärt, und
zwar so, daß Chlor, Brom, Jod entweiche und
ein farbiges Subhaloid zurückbleibe. Nun wurde
aber bei den Versuchen , die freien Alkalimetalle
nachzuweisen, von Giesel gefunden, daß das natür-
liche, blau gefärbte Steinsalz die gleichen Eigen-
schaften zeigte, wie die durch die Kathodenstrahlen
gefärbten Haloidsalze. Es gelang ihm , derartige
Färbungen auf synthetischem Wege zu erhalten.
Er erhitzte die wasserfreien Kristalle mit Kalium-
oder Natriumdampf in zugeschmolzenen Glasröhren
bis nahe an die Rotglut. Es entstanden nun viel
lebhaftere Farben , als die durch die Kathoden-
strahlen erzeugten. Brom- und Jodkalium färbten
sich zyanblau, Chlorkalium dunkelheliotrop, Chlor-
natrium gelb bis braun. Die Salze waren ganz
durchgefärbt, bei bleibender Klarheit, hielten die
Farbe an der Luft; aus wässerigen Lösungen
kristallisierte wieder farbloses Salz, wie auch schon
die Lösungen farblos waren. Bei höheren Tem-
peraturen verloren sie wieder ihre Farbe. Das
natürliche blaue Steinsalz zeigte, auf obige Weise
erhitzt, gelbe oder braune, bei höheren Tempe-
raturen rosa, blauviolette und z^'anblaue Färbungen,
die man durch Abkühlen der Kristalle in jedem
Stadium fixieren konnte. Das Steinsalz und die
oben angeführten Salze zeigten also hierbei die-
selben Erscheinungen, wie durch Einwirkung der
Kathodenstrahlen. Giesel schloß daraus, daß in
beiden Fällen dieselbe Ursache wirksam sein
müsse.
Dagegen gelangte Abegg schon durch die
Beobachtung des Chlorkali^ums, Chlornatriums
und Bromnatriums zu der Überzeugung , daß es
sich hier nur um eine physikalische Wirkung der
Kathodenstrahlen handeln könne, sobald die ver-
wendeten Salze ganz rein seien. Er verglich die
Einwirkung der Licht- und Kathodenstrahlen und
gelangte zu folgendem Resultate:
Es verändern
Liclit- u. Kaf/i. strahlen : Licht nic/it, aber Kath.str. :
Chlorsilber, Bromsilber, Alkalihaloide.
Kalomel.
Katli.str.niclit, aber Liclit: beide nicht:
Cuprochlorid. Cuprichlorid, Kalium-
sulfat.
Im Jahre 1901 untersuchte nun Goldstein die
früher nur an Alkalisalzen wahrgenommene Er-
scheinung an einer ganzen Reihe von Körpern.
Er benützte dabei eine Röhre, die um das Abzugs-
rohr drehbar war, so daß die Salze sowohl in
Ruhe den Strahlen ausgesetzt werden , als auch
gleitend durch dieselben hindurchgeführt werden
konnten. Gleichzeitig konnten die Substanzen
durch eine Bunsenflamme erhitzt werden.
Es stellte sich heraus, daß auch die Sulfate,
Phosphate und Karbonate sich färben, wenn sie
vorher geschmolzen und stark erhitzt werden, so
z. B. Kaliumsulfat grün, Natriumsulfat .^rau , Na-
triumkarbonat blau. Goldstein teilte jetzt die
entstandenen Nachfarben in 2 Klassen. Die erste
zeigt die Farberi durch kurze Einwirkung der
Kathodenstrahlen bei gewöhnlicher Temperatur;
ihre Färbung kehrt bei Tageslicht bald in das
ursprüngliche Weiß zurück. Die Farben der
zweiten Klasse entstehen nur durch starke Er-
hitzung; ihre Lichtempfindlichkeit ist sehr gering;
durch stärkere Erhitzung können aber auch hier
die Nachfarben beseitigt werden. Und nun
kommt eine anscheinend kühne Folgerung Gold-
stein's : Da bei vielen Salzen sich die Nachfarben
erst nach vorherigem Glühen zeigen , so vermag
die Untersuchung mit Kathodenstrahlen als Kri-
terium zu dienen, ob die Salze auf feurig-flüssigem
Wege oder auf dem Wege der Kristallisation aus
wässeriger Lösung entstanden sind.
Weiterhin entdeckte Goldstein, daß die Nach-
farben nicht nur durch Kathodenstrahlen erzeugt
werden, sondern auch in weniger stark evakuierten
Röhren, bei 50 mm Druck, wenn aus einer spitzen
Elektrode Entladungen auf darüber geschichtetes
Salz geleitet werden. Ferner entstehen sie durch
geschichtetes positives Licht, durch die Becquerel-
strahlen der radioaktiven Substanzen und durch
ultraviolettes Licht, das die Funken einer Leidener
Flasche erzeugen. Er nahm daher als wahrschein-
lich an, daß beim Auffallen der Kathoden-, Bec-
querel- und Röntgenstrahlen an deren Enden
ultraviolettes Licht entsteht, das die Wirkung des
Nachfärbens hervorbringt.
Bei absolut reinen Salzen wurden indertat, wie
Abegg schon behauptet hatte, keine Nachfarben
gefunden; dagegen genügte die geringste Verun-
reinigung durch gewisse Salze zur Erzeugung der-
selben. Eine Beimengung von ^.25 000 eines solchen
genügte, um diese hervorzubringen. Es können
N. F. III. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Ziq
deshalb nach Goldstein — dies ist die zweite prak-
tische Anwendung unserer Erscheinung — auf die-
sem Wege Salze auf ihre Reinheit geprüft werden.
Daß die Nachfarben auch unter Einwirkung
der Röntgenstrahlen entstehen, ist von Holzknecht
nachgewiesen worden; es färbte sich Kochsalz
chamois, Chlorkalium heliotrop, Bromkalium blau-
grün. Im Tageslichte verschwanden die Farben
in sehr kurzer Zeit. Auch er schloiS sich Gold-
stein's Auffassung an, daß die Nachfarben unter
dem Einflüsse ultravioletter Strahlen entstünden.
Die Halogenverbindungen, die durch Kathoden-
und Becquerelstrahlen gefärbt sind, sind nun, wie
Elster und Geitel nachwiesen, photoelektrisch wirk-
sam; ein durch Radiumstrahlen grün gefärbtes
Kaliumsulfat, dem die Belichtung durch Sonnen-
licht nichts schadete, ergab eine bedeutend ge-
steigerte photoelektrische Zerstreuung einer nega-
tiven Ladung. Diese Eigenschaft konnte mit den
von Giesel durch Erhitzen in Kalium- oder
Natriumdämpfen erhaltenen Präparaten nicht nach-
gewiesen werden.
Von besonderer Wichtigkeit sind die neuesten
Untersuchungen Goldstein's, bei denen er Ammon-
salze den Kathodenstrahlen aussetzte, da bei
diesen Salzen ein färbender Metallbestandteil fehlt.
Ammoniumchlorid, -bromid und -Jodid ergaben
bei gewöhnlicher Temperatur keine Nachfarbe.
Nachdem aber diese Salze bis nahe an die Tem-
peratur der flüssigen Luft abgekühlt waren, trat
eine kräftige Grünfärbung ein, die im Tageslicht
und bei gewöhnlicher Temperatur wieder ver-
schwand. Bei dieser Behandlung färbten sich
konzentrierte Schwefelsäure bernsteingelb, Salz-
säure lauchgrün, Pliosphorsäure hyazinthrot. Auch
eine Menge organischer Verbindungen zeigten bei
der Temperatur der flüssigen Luft die Nachfarben.
Daß, wie Wiedemann und Schmidt annahmen,
die Veränderungen der Körper durch die Kathoden-
strahlen als eine allotrope Modifikation angesehen
werden können, zeigte Goldstein am Schwefel.
Bringt man Schwefel auf die Temperatur der
flüssigen Luft, so wird er weiß. Nimmt man die
Abkühlung in einer evakuierten Röhre vor und
setzt diese den Kathodenstrahlen aus, so färbt er
sich chamois ; Tageslicht und Erhöhung der Tem-
peratur bringen die Farbe wieder zum Verschwinden.
Goldstein nimmt an, daß durch die Kathoden-
strahlen bei vielen Substanzen die selektive Licht-
absorption bedeutend gesteigert wird , und daß
alle die farblosen oder nahezu farblosen Verbin-
dungen, welche mindestens ein Element enthalten,
dem diese Eigenschaft zukommt , Nachfarben er-
zeugen können.
Die Zahl der unerklärten molekularen Ände-
rungen der Substanz ist durch diese merkwürdigen
Erscheinungen der Allotropie, hervorgerufen durch
sehr niedere oder sehr hohe Temperaturen, sowie
durch die Einwirkung des ultravioletten Lichtes,
erweitert worden. Eine endgültige Lösung dieser
Rätsel müssen wir von der Zukunft erhoffen.
Dr. VV. Scharf
Elektrolyse des Wassers. — In einer kürz-
lich vor der Amerikanischen Elektrochemischen
Gesellschaft vorgetragenen Arbeit (nach „American
Electrician" Oktober 1903) setzten Professor
Richards und W. S. Landis ihre Untersuchungen
über die Elektrolyse des Wassers fort. Die in
einer früheren Arbeit beschriebene Zellenform war
sehr unbequem infolge ihrer großen Länge; die
Verfasser verwenden nunmehr zur Erzielung hoher
Widerstände kurze Kapillarröhren und bringen so
die Dimensionen des Apparates auf ein hand-
licheres Maß. Die Kapillarröhre verbindet die
beiden Gefäße, in welche die Platinelektroden
eingesetzt werden. Es stellt sich heraus, daß die
Größe der Elektroden die Angaben der Meß-
instrumente ganz erheblich beeinflußt, da ja ari
kleinen Elektroden natürlich schnelle Polarisation
stattfindet. Das schließlich gewählte Maß für die
Elektrodenfläche war ungefähr 25 qcm für jede
Elektrode. Lösungen von Schwefelsäure von ver-
schiedener Konzentration wurden gemessen und
die Ergebnisse der Messungen in Tabellenform
und in Kurven wiedergegeben. Die Verfasser
stellten fest, daß der Stromfluß bis zu 3 Volt fast
genau das Ohm'sche Gesetz befolgt; über diese
Grenze hinaus wurden die Beobachtungen nicht
fortgesezt. Der Widerstand der Zelle ist sehr er-
heblich und beträgt ungefähr 284000 Ohm bei
einer '/,y-prozentigen Lösung. Bei Messung des
Stromflusses wurde die Korrektion in bezug auf
Polarisation in der Weise vorgenommen, daß man
die Ablesungen stets eine bestimmte Zeit nach
dem Schließen des Stromes vornahm. Nachdem
die Ablesung erfolgt war, wurde der Strom ge-
öffnet und der Polarisationsstrom abgelesen, nach-
dem dieselbe Zeit wie bei der ersten Beobachtung
verstrichen war. Diese Zeit betrug im allgemeinen
7 Sekunden, was zum Konstantwerden der Aus-
schläge genügte. Die Summe dieser beiden Ab-
lesungen wurde hierauf als wahrer Wert ange-
nommen, da die Methode unabhängig von der
nach Schließung des Stromkreises verstreichenden
Zeit einen konstanten Stromfluß ergab. Wenn
auch während dieses Versuches von den Elektroden
keine Gase abgegeben wurden, so erhält man
doch allgemein eine Gasentwicklung an dem
einen Pol, wenn die betreffende Elektrode klein
ist, obwohl auf der anderen kein Gas aufzutreten
braucht. Verfasser meint, daß diese Methode sich
an Stelle der Kohlrausch'schen Methode zur Messung
von Widerständen nützlich erweisen dürfte.
A. Gr.
Vereins'wesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Na-
turkunde.— Über ,, Pflanzen mit eigenartiger
Ernährung" sprach am Mittwoch, den 22. April,
Herr Prof Dr. Carl Müller. Über den Vortrag
tragen wir auf Grund des inzwischen eingegangenen
Originalberichts das Folgende nach. — Die Frage
eigenartiger Ernährung setzt die Kenntnis der
220
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
normalen Tätigkeit lebender Pflanzen voraus, die
sich in aller Kürze dahin zusammenfassen läßt, daß
der Pflanze schlechthin, das heißt, sofern sie in
dem grünen Gewände erscheint, die Fähigkeit
innewohnt, die in der atmosphärischen Luft ent-
haltene Kohlensäure so zu verarbeiten, daß der in
der Kohlensäure zur Verbrennung gelangte Kohlen-
stoff mit den Elementen des Wassers zu einer
Unzahl von „Kohlenstoffverbindungen" vereint wird,
unter welchen die „Kohlenhydrate", insonderheit
das erste sichtbar werdende Erzeugnis, die Stärke,
und der mit ihr chemisch in naher Beziehung
stehende Zucker \^on allgemeinster und hervor-
ragendster Bedeutung sind. Stärke und Zucker
bilden den Ausgang für eine schier unbegrenzte
Reihe chemischer Vorgänge in der Pflanze, welchen
allen die Verknüpfung der drei Grundstoffe Kohlen-
stoff, Wasserstoff und Sauerstoff eigentümlich ist.
Die aus diesen Grundstoffen erzeugten chemischen
Körper dienen in erster Linie dem Aufbau der sie
erzeugenden Pflanze, oder sie werden in dem Lebens-
prozesse derselben als ,, Stoffwechselprodukte", d. h.
als Nährstoffe des Organismus verbraucht und
liefern die Kräfte, welche zur Leistung der pflanz-
lichen Arbeit erforderlich sind. Der bei der Ver-
arbeitung der Kolilcnsäure in Freiheit gesetzte
Sauerstoff wird von der Pflanze an die Luft zurück-
gegeben.
Der Zersetzung und Verarbeitung der Kohlen-
säure gesellt sich ein zweiter chemischer Vorgang
zu: die Aufnahme und Verwertung des Stickstoffs.
Obwolil derselbe in freier Form etwa ■'4 des Lms
umgebenden Luftinecres ausmacht, ist seine Ein-
beziehung in die Stoffwechsclprozesse doch eine
schwierige. Die Pflanze vermag den Stickstoff der
atmosphärischen Luft niclit unmittelbar in ihren
Dienst zu zwingen, sie gewinnt vielmehr denselben
aus stickstoffhaltigen Bodenbestandteilcn (Salpeter,
Kalksalpeter und vielleicht anderen stickstoffhalten-
den chemischen Verbindungen, namentlich Am-
moniak und seinen Salzen). Dabei ist zu beachten,
daß die StickstoftVerarbeitung in letzter Linie zur
Bildung der lebendigen Substanz, des Protoplasmas
führt, welches seiner chemischen Natur nach ein
Eiweißstoff ist, und alle Eiweißstoffe sind unver-
hältnismäßig reich an Stickstoff.
Nun setzt die chemische Arbeit der Pflanze in
dem oben skizzierten Sinne voraus, daß die lebende
Pflanze die bekannte grüne Farbe zeigt, d. h. im
Besitze sogenannten Blattgrüns (des „Chlorophylls")
ist, und daß sie während ihrer Lebenstätigkeit von
Sonnenlicht bestrahlt wird.
Alle Fälle eigenartiger Ernährung werden daher
in dem einen oder anderen Punkte Abweichungen
von der Regel darstellen. Entweder wird es sich
um einen anderen Weg der Kohlensäurezufuhr
oder um den Kampf um das Sonnenlicht oder
um einen begünstigten Erwerb stickstoffhaltiger
Nahrung handeln.
Die einfachste Art eigenartiger Ernährung zeigen
die grünen, untergetaucht lebenden Wasserpflanzen.
Ihnen kann die zu verarbeitende Kohlensäure nur
vermittels des die Pflanzen umgebenden Wassers
zugeführt werden. Hier kommt der Pflanze die
Eigenschaft des Wassers als Lösungmittel vieler
Stoffe zugute. Wie sich etwa Zucker im Wasser
löst, so löst sich auch die in der Luft enthaltene
Kohlensäure im Wasser. Diese gelöste Kohlen-
säure wird den untergetauchten Blättern grüner
Wasserpflanzen zur Hauptnahrung.
Der Kampf um das Licht zwingt eine Reihe
von Pflanzen dadurch der Unterdrückung zu ent-
gehen, daß sie sich im Geäst der Baumkronen an-
siedeln. Solche Pflanzen werden wohl als „Über-
pflanzen" (Epiphyten) bezeichnet. Zahllose Bei-
spiele dieser Art bieten die Tropenwälder; Aroi-
deen, Orchideen und Bromeliaceen haben sich viel-
fach dieser eigenartigen Lebensweise angepaßt,
welche vielfach die Entwicklung von Luftwurzeln
statt der sonst allgemeinen Bodenwurzeln zur
weiteren Folge hat. Daß die im Lichtgenuß be-
vorzugten Epiphyten entsprechend gedeihen, zeigen
ihre vielfach prächtigen und duftreichen Blüten. Wir
brauchen nur an die duftreichen Vanillearten zu er-
innern, welche in den Kaffeepflanzungen als „Epi-
pliyten" der Kaffeebäume gezüchtet werden.
Gelingt es der Pflanze nicht, sich den I.icht-
genuß zu erkämpfen, so wird sie als Unterdrückte
mehr oder minder verkümmern. Vielfach begnügt
sie sich dann damit, von den verwesenden Resten
anderer Pflanzen, namentlich des faulenden Laubes
zu leben. Solche Pflanzen zeigen dann als Fäulnis-
bewohner (Saprophyten) eine oft wesentlich ge-
änderte äußere Gestaltung. Zunächst erzeugt der
Lichtmangel eine gewisse Bleichsucht; die grüne
Parbe des Chlorophylls vermag sich nicht zu
bilden, und damit geht der Schwund grüner Blätter
Hand in Hand, ein Verlust, welchen dann meist
die eigenartige Ausgestaltung' unterirdischer Stamm-
gebilde ausgleicht. Beispiele dieser Art bildet die
bei uns heimische Korallenwurzorchidee (Coral-
liorrhiza), das Vogelnest (Neottia nidus
avis) und das äußerst seltene Epipogon.
Im Gegensatz zu solchen durch Lichtmangel
unterdrückten Pflanzen mit eigenartiger Ernährung
erfreuen sich viele Pflanzen eines nicht zu unter-
schätzenden Vorzuges bezüglich der Erwerbung
stickstoffreicher Nahrung. Eine solche bietet in
erster Linie alles Fleisch dar. Und so genießen
denn in der Tat eine ganze Reihe von Pflanzen
das Fleisch von Tieren, welche sie mit besonderen
Apparaten einzufangen verstehen. Die Schilde-
rung fleischfressender (carnivorer oder insektivorer)
Pflanzen gehört daher auch zu den anziehendsten
Betrachtungen der volkstümlichen Wissenschaft.
Vertreter der tropischen und subtropischen
Gattungen Nepenthes, Cephalotus, Darling-
tonia und S'arracenia entwickeln eigenartige
Kannenblätter, deren Inneres mit einer wässerigen
Flüssigkeit erfüllt ist, welche auf Fleisch in ähn-
licher Weise zersetzend und lösend wirkt wie
unsere Magen- und Darmsäfte. Alle diese Kannen-
blätter sind zugleich Insektenfangapparate, welche
N. F. III. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
22 I
die naschlüsternen Tierclien anlocl^en, berauschen
und schließlich vernichten.
Die als Venusfliegenfalle (D i o 11 a c a m u s c i -
pula) bezeichnete Piianze besitzt klappenartig zu-
sammenschnellende Blatthälften, deren Bewegung
ausgelöst wird, sobald ein Insekt die auf jeder
Blatthälfte in Dreizaiil vorhandenen Reizborsten
berührt. Hat das Blatt ein Insekt gefangen, so ist
es „gereizt" und §cheidet dann aus mikroskopischen
Drüsen den Saft aus, welcher die Lösung des
Fleisches des gefangenen Tieres herbeiführt.
Ahnlich liegen die Verhältnisse bei den beiden
Wasserpflanzen Aldrovanda und Utricularia.
Ihnen fallen im Wasser sich tummelnde Infusorien
und Krebstierchen (Daphnien, Cyclo[)sarten u. a.)
als Beute zu.
Die auf unseren Wiesen nicht seltene „Fett-
pflanze" (Pinguicula) überzieht ihre leuchtend
hellgrünen Blätter mit einem aus Drüseiihaaren
abgesonderten klebrigen Schleim, an welchem In-
sekten festhaften. Dadurch gereizte Blätter rollen
sich dann von beiden Seiten her dütenförmig zu-
sammen. Ihre Entfaltung tritt erst dann wieder
ein, wenn das Fleisch des Insekts völlig gelöst ist.
Von dem geöffneten Blatt vermag dann der Regen
das Skelett des vernichteten Tieres herabzuspülen.
Noch eigenartiger gestaltet sich der Tierfang
der Sonnentauge wachse (Drosera und
Drosophy 1 lu m). Ihre Blätter erglänzen wie
von Tausenden glitzernder Diamanten besäet durch
funkelnde Schleimtröpfchen, welche an den kolbig
verdickten Spitzen haarähnlicher Drüsenfortsätze
des Blattrandes und der Blattfläche ausgeschieden
werden. Hier wird die Eigenart der Insekten, dem
Lichte nachzugehen, zu ihrem Verderben. Lassen
sie sich vom Glänze anlocken, so kleben sie am
Blatte wie am Leimstocke fest, sterben ab, und
ihr Fleisch wird durch den .Schleimsaft ebenso
zersetzt wie in den Kannenblättern der Nepenthes-
arten.
In allen Fällen, wo der Pflanze der Fleisch-
genuß ermöglicht ist, handelt es sich um die be-
queme und ausgiebige Versorgung mit Stickstoff-
nahrung.
Eine eigenartige Ernährungsweise kommt ferner
allen Schmarotzerpflanzen (Parasiten) zu.
Ein Teil derselben, wie unsere IVIistel (Vis-
en m album), beschränkt sich in ihrem Schma-
rotzerleben darauf, von der Wirtspflanze die gün-
stige Wohnstätte und mit dieser zugleich die be-
queme Wasserversorgung zu erlangen. Mit ihren
grünen Blättern befleißigt sie sich aber derselben
Arbeitsleistung wie alle übrigen grünen Pflanzen;
sie verarbeitet in reichem Maße Kohlensäure und
baut aus den gewonnenen Erzeugnissen ihren Leib
auf. Man kann sie deshalb einen Halbschmarotzer
nennen, der seinem Wirte Wohnung und Wasser-
leitung allein abzwingt.
Andere .Schmarotzerpflanzen, wie unser Fichten-
spargel (Monotropa), die Flachs- und Klee-
seide (Cusc Uta- Arten), die Orobanche-
Arten und die große Zahl tropischer Schmarotzer-
pflanzen wie die Balanophoreen u. a. sind anspruchs-
voller. Sie erzwingen sich außer Wohnung und
Wasser alle Nahrung des Leibes mit Hilfe ihrer
Schöpfwurzeln (Haustorien), welche sie in das Innere
der Wirtspflanze einsenken.
Diesen Ganzschmarotzern sind nun mannig-
faltige Kennzeichen, fast möchte man sagen Kains-
zeichen, eigen. Sie entbehren des grünen Farb-
stoffes und damit der grünen Blätter; oft schmücken
sie sich mit auffälligen Farben, mit reichen Blüten
und mei.st tragen sie eine strotzende Üppigkeit
zur Schau. Es ist ihnen eben ein üppiges Leben
leicht gemacht durch die Pflanze, deren Saft sie
saugen.
In dieser Erscheinung liegt nun das Eigenartige,
welches allen Pflanzen zukommt, welche den ge-
wöhnlichen Weg der Ernährung aufgegeben haben.
In allen Fällen, auch im Tierreiche, tritt uns die
Erscheinung entgegen, daß eine eigenartige Er-
nährungsweise eine eigenartige Ausgestaltung des
Körpers bedingt, mag sich diese abweichende
Eigenart auf einzelne Organe oder auf den ge-
samten Körperbau erstrecken. Geht es im Menschen-
leben anders zu, tritt uns hier nicht augenfällig
genug der Einfluß der ,, Unter"- wie der „Über-
ernährung", der Einfluß normalen und abweichen-
den Lebenswandels entgegen?
I. A.: Dr. W. Greif, 1. Scliriflführcr,
SO 16, Köpeaickerstraße 142.
Bücherbesprechungen.
Ludwig Woltmann, Dr. phil. et. med.. Politische
Anthropologie. Eine Untersuchung über den
Einfluß der Deszendenztheorie auf die Lehre von
der politischen Entwicklung der Völker. Thürin-
gische Verlagsanstalt Eisenach und Leipzig. 1903.
326 S. gr. 8».
Dieses Werk stammt ebenfalls aus dem Jenaischen
Wettbewerb. Es ist das umfangreichste und am gleich-
mäßigsten durchgearbeitete unter den bis jetzt ver-
öffenllichten Werken. Die zu den Entscheidungen des
Preisgerichts von Dr. H. E. Ziegler gegebenen Er-
läuterungen besagen in bezug auf die Woltmann'sche
Abhandhmg: „Diese war in mancher Hinsicht eine
der besten, insbesondere auf dem naturwissenschaft-
lichen und soziologischen Gebiet mit vielseitigen Kennt-
nissen bearbeitet. Herr Dr. Woltmann hat den ihm
zugesprochenen (dritten) Preis abgelehnt und sein
Buch 'selbständig herausgegeben." Die Vererbungs-
fragen werden eingehend behandelt, und wenn Wolt-
mann sich auch nicht ganz auf den .Standpunkt Weis-
mann's stellt, so veitritt er doch nach reiflicher Kritik
im wesentlichen dessen Ansichten, insbesondere be-
treffs der Reduktionsteilung und der genealogischen
Kontinuität des Keimplasmas. Er zieht auch aus den
Vererbungstatsachen die richtigen praktischen Folge-
rungen für die Gesellschaftstheorie. Nicht nur die
individuellen Anlagen sind durch erbliche Übertragung
bedingt, sondern auch die Rassenanlagen. Woltmann's
Buch ist bis jetzt das einzige, in dem die Rassen-
fragen in vorurteilsloser und klarer Weise erörtert
222
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. 111. Nr. 14
werden. Alles soziale Geschehene ist anthropologisch
bedingt. Die germanische oder, allgemein gesprochen,
die nordeuropäische Rasse ist die aktivste auf dem
Erdball, daher auch die führende in der Kulturent-
wicklung. Der internationale Wettbewerb richtet sich
nach Art und Grad der Rassenmischung der Völker,
auch die innere soziale Schichtung geht aus den an-
geborenen Rassenanlagen der Mischlinge hervor. Diese
Auffassung scheint dem Referenten gerade das Ver-
dienstvollste an Weltmann 's Arbeit zu sein, denn
sie dient dazu, alte Vorurteile zu beseitigen und natur-
gemäßen Anschauungen Raum zu schaffen. Es wäre
interessant zu wissen, ob das Preisgericht entgegen-
gesetzter Ansicht war und vielleicht die Rassentheorie
noch nicht für hinlänglich begründet hielt, um sie
als Unterlage eines soziologischen Systems anzuer-
kennen ? Dann könnte man sich erklären , daß die
Arbeit nur einen dritten Preis erhielt, obschon sie
in beregtem Punkte alle anderen, auch die Schall-
mayer'sche , bedeutend überragt. Wenn das Preis-
gericht so gedacht hätte, so hätte es den Fortschritt, den
es fördern sollte und wollte, verhindern helfen. Ver-
gleicht man Woltmann's gediegene Arbeit mit der-
jenigen Ruppin's , die einen zweiten Preis erhielt,
trotzdem sie eine Hauptsache, die Erblichkeit, stief-
mütterlich behandelt, so kann man es dem Dr. Welt-
mann nicht verargen, daß er den dritten Preis ab-
gelehnt und seine Abhandlung zurückgezogen hat.
Zugegeben muß werden. , daß das Buch nicht in
einem so fesselnden und anschaulichen Stil geschrieben
ist wie das Schallmayer'sche. Manche Stellen lesen
sich zwar immer geläufig, aber doch recht trocken,
fast protokollmäßig. Indessen ist dies Nebensache.
Ins Gewicht fällt, daß Woltmann nicht so reich an
positiven Vorschlägen ist, wie Schallmayer, der sich
da auf einem von ihm schon lange mit Vorliebe be-
bauten Gebiet bewegt. Praktisch laufen aber seine
Forderungen auf das gleiche hinaus. Dafür ist die
Kritik der bestehenden politischen Parteien und ihrer
Bestrebungen bei Wollmann weit sorgfältiger ausge-
arbeitet. Es gibt in dem Buche nur wenige Be-
hauptungen, die Referent nicht unterschreiben würde.
Um Beispiele anzuführen, heißt es einmal, die Söhne
glichen häufig der Mutter, der Beweis für diese Be-
hauptung fehlt jedoch. Von vornherein würde ich
glauben, daß entsprechend der Vererbungstheorie, zu
der sich Woltmann selbst bekennt. Söhne ebenso
häufig dem Vater wie der Mutter gleichen werden;
nur eine Statistik könnte das Gegenteil beweisen und
dadurch zu einer Modifikation der Theorie ■ Veran-
lassung geben. Auch möge mir gestattet sein, einen
Irrtum zu berichtigen in einem Zitat aus meiner
„Natürlichen Auslese beim Menschen". Ich habe nicht
nachgewiesen, daß die Kopfform vom Kindesalter an
unverändert bleibt, sondern meine Messungen haben
(in Übereinstimmung mit anderen Autoren) ergeben,
daß der Kopfindex in der Wachstumsperiode um etwa
I Einheit abnimmt, daß also die kindlichen Köpfe
mehr in die Länge als in die Breite wachsen. Doch
dies sind unbedeutende Dinge gegenüber einer Ge-
samtleistung, wie Woltmann's Werk sie darstellt, und
die jedenfalls zu den hervorragendsten Ergeb-
nissen des Jenaischen Wettbewerbs gehört. Dem Re-
ferenten liegt die Absicht ferne, den Preisrichtern zu
nahe zu treten. Sie haben ihre schwierige Arbeit
unzweifelhaft mit redlichem Bestreben und großer Mühe
gelöst. Ihre Überzeugung in Ehren , aber es muß
erlaubt sein , Kritik an den wissenschaftlichen An-
schauungen zu üben, von denen das Preisgericht aus-
gegangen zu sein scheint. Referent ist unbefangen,
denn er war an dem Preisbewerb nicht beteiligt.
Auch kann Referent sich zum voraus verwahren gegen
die Unterstellung irgend einer Voreingenommenheit
für Dr. Woltmann, den er nicht persönlich kennt und
der ihm durchaus keinen Grund gegeben hat, für ihn
voreingenommen zu sein; eher das Gegenteil. Wenn
es sich aber um eine ernste Kritik handelt, die An-
spruch auf Beachtung macht, müssen alle persönlichen
Rücksichten gegen die sachlichen Erwägungen zurück-
treten. Otto Ammon-Karlsruhe.
Natur und Staat, Beiträge zur naturwissenschafüichen
Gesellschaftslehre. III.^) Vererbung und Aus-
lese im Lebenslaufder Völker. Eine staats-
wissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Bio-
logie von Dr. Wilhelm S c h a 1 1 m a y e r in
München. Jena, Gustav Fischer, 1903. 386 S. 8".
Der Veröffentlichung dieser Schrift wurde vielfach
mit Spannung entgegengesehen, weil sie bei dem be-
kannten Jenaischen Wettbewerb mit dem i. Preis aus-
gezeichnet wurde. Sie ist in der Tat auch eine sehr
anziehende und reichhaltige Darlegung einer natur-
wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie. Im Hinblick
auf die beiden vorausgegangenen Veröffentlichungen
(von Matzat und Ruppin) muß der Schallmayer'schen
nachgesagt werden, daß sie leichter und flüssiger zu
lesen, ohne jede Schwierigkeit zu verstehen und in
vielen wesentlichen Punkten geeignet ist, Zustimmung
zu wecken. Der Verfasser stellt sich in der Ver-
erbungsfrage ganz auf den Standpunkt Weismann's,
dessen Theorie er eingehend und mit feinem Ver-
ständnis darlegt. Er ist dadurch in die Lage ver-
setzt, auch die Ausscheidung von krankhaften An-
lagen bei der Reduktionsteilung erklären zu können,
und da er die Germinalseleklion in Verbindung mit
der Personalselektion behanrlelt, leistet ihm die Weis-
mann'sche Theorie mehr, als ihm die Lamarck'sche
der Übertragung individuell erworbener Eigenschaften
hätte leisten können. Im weiteren Verfolg kommt das
Buch der gestellten Aufgabe sehr nahe. Den Kern-
punkt bildet die vom Verfasser empfohlene „Be-
völkerungspolitik", die er in eifriger, zum Teil auch
glänzender Beredsamkeit von allen Seiten zu be-
leuchten weiß. Sein Standpunkt ist schwer in Kürze
anzugeben, doch sei folgendes gesagt: Die Kultur
macht viele minderwertige Individuen lebensfähig, die
es fih- sich allein nicht wären. Je weiter die Er-
haltung und Fortpflanzung solcher Individuen fort-
schreitet, desto mehr muß der Durchschnitt der Be-
völkerung sinken. Ein Fehler unserer gesellschaft-
lichen Einrichtungen besteht darin, daß die von Natur
') Bericht über I und II siehe in Nr. 3 der Naturwiss.
Wochenschrift.
N. F. IIT. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
223
günstiger veranlagten Individuen der höheren Klassen
zu spät erst heiraten und nur eine kleine Kinderzahl
erziehen können, während die minderbegabte Masse
sich stärker fortpflanzt. Mit Nachdruck sollte auf die
Beseitigung dieses Übelstandes hingewirkt werden,
denn das Aufsteigen begabter Individuen von unten
bietet keinen Ersatz, der den Rückgang und die
schließliche Erschöpfung des Anlagenkapitals hindert.
Alle schwächlichen, verkommenen oder mit anstecken-
den Krankheiten behafteten Individuen wären eigent-
lich von der Ehe auszuschließen. Nüchtern abwägend
bezweifelt der Verfasser, ob die öffentliche Meinung
schon reif genug wäre, um z. B. dem Ausschluß der
Tuberkulösen zuzustimmen. Der Ausschluß der Ge-
schlechtskranken habe jedoch auch nach den heute
herrschenden Begriffen so viel Gerechtigkeit, Humanität
und Nützlichkeit für sich, daß man hoffen dürfe, ihn
durchzusetzen. Notgedrungen muß der Verfasser zur
völligen Klarlegung seiner Ansichten über die Gienze
der gestellten Frage der „innerpolitischen" Entwick-
lung hinausgreifen, denn diese hat im Gefolge die
Aufgabe, den Staat zum Kampf ums Dasein mit an-
deren Staaten taufrlich zu machen, wobei freilich nicht
die dauernde Widerstandsfähigkeit augenblicklichen
Interessen geopfert werden kann. So kann die .•Aus-
gestaltung der militärischen Kraft durch gesundheit-
liche und finanzielle Rücksichten beschränkt werden,
um nicht in Raubbau auszuarten. Die Versuchung
ist groß, noch näher auf den reichen Inhalt der
Schallmayerschen Schrift einzugehen, doch muß hier
abgebrochen werden, um Raum für einige kritische
Bemerkungen zu gewinnen. Um gleich an das letzte
anzuknüpfen: Ist es nicht denkbar, daß bei einer
nahenden Kriegsentscheidung die Zurüstungen bis über
die Schongrenze hinausgehen, mit anderen Worten,
daß sie scheinbar Raubbau sein dürfen? Denn im
Kriege entscheidet die beste Rüstung und Vorbereitung
bei den Mannschaften und der Führung ; weichliche
Selbstschonung kann zum Verderben werden, während
die Schäden des Raubbaus nach dem errungenen
Siege wieder ausgeglichen werden können. Beispiels-
weise wird ein Staat alle für seinen Flottenbau ge-
machten Schulden leicht tragen und verzinsen , wenn
es ihm mittels der Flotte gelingt, die Monopolherr-
schaft eines anderen Staates auf den Weltmeeren zu
brechen. Ist aber der Wille dazu nicht vorhanden,
oder wird die Flotte nicht in genügender Stärke ge-
baut, dann allerdings sind die Kosten als Raubbau
anzusehen. Schallmayer wäre durch die Aufwerfung
solcher Fragen tiefer in die Würdigung der „Tendenzen
der politischen Richtungen" hineingeführt worden, die
einen Teil der Preisaufgabe bildete, tmd die er sehr
kurz abtut. Löblich ist, daß der Verfasser der an-
geborenen Veranlagung der Individuen neben den
Traditionswerten zu ihrem Rechte verhilft, indem er
immer und immer wieder auf die Wichtigkeit der
Abstammung hinweist, eigentümlich aber, daß er für
die Rassenfrage absolut nichts übrig hat. Ja,
während die bisher besprochenen Werke von Matzat
und Ruppin der Frage nur stillschweigend aus dem
Wege ^ehen, erklärt Schallmayer die Rasse für einen
konventionell gewordenen Begriff und glaubt , daß
man einen Rassetypus nicht feststellen könne, weil
innerhalb einer Rasse die individuellen Varianten
weiter voneinander abweichen, als die Durchschnitts-
individuen zweier verschiedener Rassen voneinander.
Diese falsche Auffassung ist nur dadurch erklärlich,
daß Schallmayer die Literatur über die Rassenfrage
nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit verfolgt hat,
wie die der übrigen in seinem Buch berührten Fragen.
Er nennt und bekämpft Gobineau und Chamberlain,
die allerdings anfechtbare Stellen haben. Er selbst
bringt aber eine ganze Menge von Beispielen für die
seelische Verschiedenheit der Rassen, leider ohne die
F'olgerungen zu ziehen und namentlich ohne auf die
Begleiterscheinungen der immer weiter fortschreiten-
den Rassenmischung scharf einzugehen , wozu ihm
doch gerade die Weismann'sche Theorie Anhaltspunkte
genug gewährt hätte. In manchen Kreisen wird die
Verwerfung des Rassenbegriffs dem Buche Freunde
verschaft'en, aber bei denen, die von dem Preisbewerb
einen Fortschritt erwarteten, wird man anders denken.
Eigentümlich berührt auch Schallmayer's begeisterte
Schilderung des biologischen Wertes der chinesischen
Kultur. Hier möchte man bei jedem Satze sagen:
wie schief und verkehrt! Die Tatsache steht doch
fest, daß die stagnierende chinesische Kultur sich nur
halten konnte, weil kein stärkerer Wettbewerber da
war, und daß sie sich als wehrlos erwies, sobald die
europäischen Mächte auf dem Plan erschienen! Die
Auslesebedingungen in China sind last durchweg zweck-
widrig, so z. B. fragen die Staatsprüfungen kaum nach
wirklichem Wissen, nur nach formalem und unnützem
Ballast. Wie man Offizier wird, das allein schon er-
klärt die chinesischen Niederlagen, und Verwaltung
und Justiz sind auf dem System der Käuflichkeit und
Bestechlichkeit aufgebaut. Recht anerkennenswert ist
dagegen, was der Verfasser über den schwindenden
Wert des deutschen Gymnasialunterrichts sagt, der uns
nach und nach auch in chinesische Zustände hinein-
zufiihren droht. Für das gute Wort, das er der körper-
lichen Erziehung der Jugend widmet, muß man ihm
herzlich die Hand schütteln ; es ist doch wieder eine
berufene Stimme mehr ! Der (iesamteindruck des Buches
ist der, daß es jedenfalls an die Lösung der ge-
stellten Preisaufgabe sehr nahe heranreicht und nicht
nur inhaltlich wertvoll, sondern auch gut geschrieben ist.
Otto Ammon- Karlsruhe.
Prof. Dr. C. Christiansen und Dr. Jobs. J. C. Müller,
Elemente der theoretischen Physik. Mit
einem Vorwort von Prof. Dr. E. Wiedemann. Zweite
verbesserte Auflage. Mit 160 Figuren im Text.
Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1903. 532 S.
Als vor TG Jahren das Christiansen'sche Original-
werk in dänischer Sprache erschien, veranlaßte E.
Wiedemann eine deutsche Übersetzung, die von
Müller in Verbindung mit dem Autor ausgeführt wurde.
Wiedemann's Absicht dabei war, besonders den Stu-
dierenden ein Buch in die Hand geben zu können,
in dem von den grundlegenden Problemen soviel an-
gegeben ist, daß es als Einführung dienen kann für
spezielle Studien über die theoretische Physik. Bei
224
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 14
der vorliegenden neuen Auflage haben nur solche
Abschnitte eine Änderung zu erfahren brauchen , die
Gebiete betreffen, die gerade jetzt in der Entwicklung
sind. Das gilt von der Diffusion und Osmose und
der Elektrolyse. Außerdem ist bei der Lehre von
den Trägheitsmomenten, dem Kreisprozeß und der
Entropie die Darstellung erweitert, sowie das Prinzip
der virtuellen Geschwindigkeiten , der Begriff der
freien Energie und das thermodynamische Potential
eingefügt. Im übrigen hat das Buch seinen Charakter
bewahrt und wird in der neuen Auflage wie in der
alten vielen der erste Wegweiser in die theoretische
Physik oder ein bequemes Orientierungsmittel auf
diesem Gebiete sein. A. S.
Dr. H. Danneel, Spezielle Elektrochemie.
Lieferung i. Halle a. S. Wilhelm Knapp. 1903.
80 S. — Preis 3 Mk.
Dem dieser Lieferung vorgeheftelen Prospekt zu-
folge soll das Handbuch der Elektrochemie „über
jede bis jetzt bekannt gewordene elektrochemische
Reaktion, ihren Ursprung, ihre Theorie und An-
wendung möglichst allseitigen Aufschluß geben", es
ist daher in erster Linie als Hilfsmittel für den be-
stimmt, der irgendwie, experimentell oder literarisch,
mit elektrochemischen Arbeiten beschäftigt ist. Da(3
ein solches angesichts der fast erdrückenden Anzahl
elektrochemischer Untersuchungen , die insbesondere
während der letzten Jahrzehnte ausgeführt w-orden sind,
dringend notwendig ist, muß ohne weiteres zuge-
standen werden. Denn wenn deren Ergebnisse auch
in einer verhältnismäßig kleinen Anzahl wissenschaft-
licher Zeitschriften veröffentlicht worden sind, so er-
schwert doch die Verschiedenartigkeit ihres Inhaltes
den Überblick in hohem Maße, und es bedarf eines
nicht geringen Zeitaufwandes, um an der Hand von
Jahresberichten, Referierzeitschriften u. dgl. diejenigen
Arbeiten aufzufinden und zu verwerten, die für den
bestimmten Zweck gebraucht werden. Soweit sich
aus der voiliegenden ersten Lieferung eines Bandes
vom Handbuch der Elektrochemie erkennen läßt, wird
dieser die mühsame .Arbeit zum großen Teil, wenn
nicht ganz ersparen. In ihr wird über die bisher
bekannt gewordenen elektrochemischen Reaktionen
des Wasserstoffs, seiner Sauerstoffsverbindungen, der
Haloid- und Sauerstoffsäuren der Halogene , des
Schwefelwasserstoffs, der Sauerstoffsäuren des Schwefels,
endlich der Salpetersäure im Zusammenhang kurz be-
richtet, und unter sorgfältiger Angabe der Original-
literatur werden alle Forschungsergebnisse kritisch
zusammengestellt, die hinsichtlich der Darstellung oder
Zerlegung der genannten Stoffe unter Vermittlung der
elektrischen Energie bisher gewonnen wurden. In
wie gründlicher Weise dies geschehen ist, zeigt nament-
lich der das Wasser betreffende Abschnitt, in dem
außerdem noch die reiche Litteratur über die tech-
nische Gewinnung der Zersetzungsprodukte, sowie über
die Reinigung der Trink- und Abfallwässer mittels
elektrochemischer Methoden in größter Vollständigkeit
verarbeitet ist. Die spezielle Elektrochemie soll außer
den entsprechenden Angaben für die übrigen Ele-
mente und deren anorganische Verbindungen noch
Daten über Leitfähigkeit, Polarisation und Änderungen
der freien Energie bei Reaktionen bringen. Von den
übrigen Bänden des auf 175 Druckbogen berechneten
Werkes (theoretische Elektrochemie, Maßkunde, Ele-
mente und Akkumulatoren, Elektroanalyse, anorganisch-
und organisch - elektrochemische Technik, Galvano-
technik, elektromagnetische Aufbereitung), deren Be-
arbeitung andere hervorragende auf dem Gebiete der
Elektrochemie tälige Forscher übernommen haben, ist
der die elektromagnetische Aufbereitung behandelnde
Band bereits- erschienen. Böttger.
Literatur.
Treadwell, Prof. Dr. F. P. : Tabellen zur qualitativen Analyse,
bearb. unter Mitwirkg. von Prof. Dr. Vikt. Meyer. 5., verm.
u. verb. Aufl., neu bearb. von Dr. F. P. Treadwell. (24 Tab.
in gr. 4». u. gr. 8". m. IV S., 4 Bl. ra. 6 S. Text) gr. 8».
Berlin '04, F. Dümmlcr's Verl. — Kart. 4 Mk.
Steinmann, Prof. Dr. Gust. : Einführung in die Paläontologie.
(IX, 466 S. m. 818 .\bbildgn.) gr. 8». Leipzig '03, \V. Engel-
mann. — 12 Mk. ; geb. in Leinw. 13 Mk.
Ulmer, Geo. ; Über die Metamorphose der Trichoptcren. [.Aus:
,,Abhandlgn. a. d. Geb. d. \aturwiss."] (154 S. m. 13 Ab-
bildgn. u. 4 Taf.) gr. 4". Hamburg '03, L. Fricderichscn & Co.
— 6 Mk.
Zeuthen, H. G. : Geschichte der Mathematik im XVI. u. XVII.
Jahrh. Deutsche Ausg. unter Mitwirkg. des Verf. besorgt v.
Raph. Meyer. (VIII, 434 S. ra. 32 Fig.) Leipzig '03, B. G.
Teubner. — 16 Mk. ; geb. 17 Mk.
Briefkasten.
Herrn E. Th. in Oberkirch (Baden). — Sie schreiben:
Letzhin bekam ich ein Hühnerei in die Hände, das ein
Taubenei an Größe kaum erreichte. Beim Aufschlagen des-
selben zeigte sich dasselbe ganz mit Eiweiß angefüllt. Von
Eigelb keine Spur. Wie ist nun das Zustandekommen eines
solchen Eies zu erklären und kommen derartige Fälle häufiger
vor?
„Taube" Eier (ohne Dotter) sind keine Seltenheit. Die
Eischale entsteht nicht aus dem Ei selbst, sondern ist etwas
,, Akzessorisches". Sie bildet sich im mittleren Teile des Ei-
leiters. Daher können auch Fremdkörper, die künstlich in den
Eileiter eingeführt werden, von einer Eischale eingeschlossen
(umhüllt) werden. Reichenow.
Bezugnehmend auf Nr. 1 1 der „Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift" biete ich meine Dienste zur Herstellung der
Schildkröte an. L. Pohl, Präparator am Königl. Zool. Institut
und Jluseum der Universität Breslau I, Universitätsplatz I.
Inhalt: Dr. Richard Loebe: Über die chemische Reinigung und Konservierung von Altertümern. — Kleinere Mit-
teilungen: L. Ihrig: Die Wundbehandlung nach biologischem Prinzip. — Dr. W. Ri egl e r: Einwirkung starker
elektrischer Ströme auf Chaetopoden. — Prof. Nehring: Neue Funde diluvialer Springmaus-Reste aus Mitteleuropa.
— Taudin-Chabot: Abnorme Refraktionserscheinung. — E. E. Barnard: Photographische Aufnahmen des Ko-
meten Borelly. — Dr. W. Scharf: Die Nachfärben der Salze. — A. Gradenwitz: Elektrolyse des Wassers. —
Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Woltmann: Politische Anthropologie. — Schallmayer, Vererbung
und Auslese. — Prof. Dr. C. Christiansen und Dr. J o h s. J. C. Müller: Elemente der theoretischen Physik. —
Dr. H. Danneel: Spezielle Elektrochemie. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert ,'4 Co. (G. Patz'sche Biichdr.), N;uimhnrff a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DiC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Heue Folge III. Baod;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 10. Januar 1904.
Nr. 15.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahnspreis ist M. 1.50. Bringcgcld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.\ufträgcn entsprechender Rabalt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstrafie 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Übersicht über die verschiedenen Refraktionszustände des menschlichen Auges.
[N.-iclidruck verboten.]
Von Dr. Weinhold.
Über die verschiedenen Brechungszustände des
menschlichen Auges, über die Begriffe „Kurzsichtig-
keit, Weitsichtigiceit" etc. herrschen noch vielfach
etwas ungenaue Vorstellungen, so daß eine kurze
Zusammenstellung des Wichtigsten aus diesem
Kapitel manchem Leser vielleicht willkommen sein
dürfte.
Das menschliche Auge stellt bekanntlich eine
Kamera, analog der photographischen, dar, eine
allseitig geschlossene, schwarz ausgekleidete Kapsel;
in ihrem Hintergrunde enthält sie eine lichtem-
pfindliche Schicht, auf welcher durch ein im vorderen
Teile angebrachtes Linsensystem ein umgekehrtes,
reelles Bild der Gegenstände in der Außenwelt er-
zeugt wird. Wenn der Photograph unendlich ferne
Gegenstände aufnehmen will, stellt er durch Ver-
längerung oder Verkürzung des Balges den Apparat
so ein, daß die lichtempfindliche Schicht, d. h. die
photographische Platte, in den Brennpunkt des
Linsensystems, des sog. Objektivs, zu stehen kommt,
da an dieser Stelle die von einem unendlich fernen
Punkte kommenden Lichtstrahlen wieder zu einem
Punkte vereinigt werden und so ein reelles Bild
dieses Punktes erzeugen. Das normale mensch-
liche Auge ist nun so gebaut, daß es ebenfalls für
unendlich ferne Punkte eingestellt ist. Die licht-
empfindliche Schicht ist hier die Netzhaut, welche
die auf sie treffenden Lichtstrahlen in Nerven-
erregungen umsetzt und dem Gehirne weiter ver-
mittelt. Das brechende System, das im photo-
graphischen Apparate aus mehreren Glaslinsen von
verschiedenen Krümmungsradien und verschiedenen
Lichtbrechnngskoeffizienten zusammengesetzt zu sein
pflegt, besteht im Auge aus der Hornhaut, dem
Kammerwasser, der Linse und dem Glaskörper; diese
sog. brechenden Medien des Auges haben ebenfalls
verschiedene optische Brechungskoeffizienten imd
grenzen mit verschieden stark gekrümmten Kugel-
flachen aneinander, bzw. an die Luft. Die Horn-
haut ist so durchsichtig, daß man sie, obwohl sie
der vorderste Teil des Auges ist, für gewöhnlich
nicht sieht, sondern nur die auf ihr als auf einem
Konvexspiegel erzeugten Reflexe. Diese Reflexe
zu sehen sind wir so sehr gewöhnt, daß uns auf
einem Gemälde ein ohne dieselben dargestelltes
Auge unnatürlich, leblos, erscheinen würde. —
Wie genau wir unbewußt darauf zu achten ge-
wöhnt sind, mag folgendes Beispiel zeigen: In
220
Naturwissenschaftliche VVoclienschrift.
N. F. m. Nr. 15
vielen Zigarrenläden sieht man jetzt ein Plakat
aushängen, das auf goldenem Grunde einen etwa
lebensgroßen weiblichen Kopf mit eigentümlich
starrem Gesichtsausdruck darstellt. Jedem , der
das Bild sieht, ist dieser Eindruck sofort deutlich,
ohne ihn sich sogleich erklären zu können. Der
einzige Grund ist der, daß die erwähnten Reflexe,
vielleicht mit Absicht, falsch dargestellt sind, näm-
lich je einer, symmetrisch zur Mittellinie, auf der
inneren Hälfte des Auges, statt einer auf der
inneren Seite des einen Auges, der andere auf der
äußeren Seite des anderen, wie dies bei gewöhn-
lichen Beleuchtungsverhältnissen der Fall ist. —
Will man nicht diese Reflexe, sondern die Horn-
haut selbst sehen, so ist dies für gewöhnlich nur
möglich, wenn man das Auge eines Menschen im
Profil betrachtet; dabei überzeugt man sich, daf3
ihre Oberfläche die Gestalt eines Kugelabschnittes
hat. Sie besitzt einen Brechungsindex von ca.
1,37 und wirkt also, da sie an der Grenze von
dünnerem Mittel, Luft, zu dichterem, Hornhaut,
nach letzterem zu konkav gekrümmt ist, auf parallel
aus der Unendlichkeit kommende Strahlen sammelnd,
so daß diese Strahlen nach einem hinter der Horn-
haut gelegenen Punkte konvergent werden. (Der
Unterschied zwischen den Brechungsindices der
Hornhaut, des hinter ihr befindlichen Kamraer-
wassers und des den Hauptinhalt des Auges aus-
machenden, gallertartigen Glaskörpers ist unbe-
deutend, so daß wir diese 3 Medien als annähernd
homogen betrachten können.) Aber diese stralilen-
sammelnde Wirkung ist so gering, daß der Schnitt-
punkt dieser gesammelten Strahlen nicht i m Auge,
sondern noch weit dahinter liegt. Es kann
also noch kein deutliches Bild auf der Netzhaut
entstehen. Daher ist im Auge noch die sog.
Kristalllinse enthalten, welche die ursprünglich
parallelen, durch dieHornhaut konvergent gemachten
Strahlen noch stärker konvergent macht und zwar
so stark, daß sie sich in einem Punkte schneiden,
der in der Netzhaut liegt. Jetzt bildet sich ein
leuchtender, unendlich ferner, also parallele Strahlen
aussendender Punkt auf der Netzhaut punktförmig
ab. Wäre die Linse nicht im Auge vorhanden,
so würde der Punkt sich als verwaschener, kreis-
förmiger Fleck auf der Netzhaut abbilden, da diese
den Strahlenkegel schneiden würde, ehe die Strahlen
in einem Punkte vereinigt wären. Wir sehen also,
daß ein, wenn auch unvollkommenes Sehen, ohne
Linse sehr wohl möglich ist. Dies ist der Fall
bei Leuten, die keine Brille tragen, nachdem sie
am grauen Stare operiert sind. Früher hielt man
die Linse für das lichtempfindende Organ des
Auges und mußte somit annehmen, daß ein Auge
ohne Linse blind sei. Während nun der graue
Star dadurch entsteht, daß sich die Linse trübt
und undurchsichtig wird, glaubte man früher, daß
diese Trübung sich nicht in der Substanz der
Linse, sondern vor derselben bilde. Man operierte
daher den Star in .der Weise, daß man mit einer
Nadel durch die Hornhaut stach und die getrübte
Masse von der Linse herunter zu reißen suchte.
Erst im Jahre 1705 gelang es einem französischen
Militärarzt, namens Brisseau, den wahren Sach-
verhalt aufzuklären. Er operierte in der genannten
Weise ein mit Star behaftetes Auge eines toten
Soldaten, schnitt dies dann auf und fand, daß die
getrübte Masse, welche er mit der Nadel aus der
Pupille entfernt und in den Glaskörper hinab-
gedrückt hatte, die Linse selbst war. Jetzt wird
die Operation so vorgenommen, daß man am Rande
der Hornhaut einen Schnitt ins Auge macht und
durch diesen die getrübte Linse herausdrückt. In
einem solchen aphakischen, d. h. linsenlosen
Auge werden nun, wie wir gesehen haben, die
parallel ankommenden Lichtstrahlen durch die
Hornhaut nur so schwach konvergent gemacht,
daß sie sich erst weit hinter der Netzhaut treffen
würden. Will man also dem aphakischen Auge
sein normales Sehvermögen wiedergeben, so muß
man den durch Entfernung der Linse entstandenen
Verlust an Brechkraft wieder ersetzen. Dies er-
reicht man dadurch, daß man eine Konvexlinse
aus Glas (Starbrille) vor das Auge setzt, welches
die parallelen Strahlen so stark konvergent macht,
daß die strahlensammelnde Wirkung der Horn-
haut genügt , um die Strahlen nunmehr w'ieder
auf die Netzhaut zu vereinigen. Jetzt kann, wenn
die Operation tadellos verlaufen ist, das Auge
wieder so scharf sehen wie ein normales.
Wir haben jetzt nur die Einstellung des Auges
für die L'nendlichkeit betrachtet. Wie verhält es
sich nun bei dem im täglichen Leben viel häufiger
notwendigen Sehen für die Nähe? Wenn der
Photograph einen näher gelegenen Gegenstand
aufnehmen will, von dem die Lichtstrahlen nicht
mehr parallel, sondern divergent ausgehen, so muf5
er nach bekannten optischen Gesetzen die licht-
empfindliche Platte weiter vom Objektiv entfernen,
über dessen Brennpunkt hinaus zurückschieben,
bis an den dem Objekte konjugierten Punkt, d. h.
bis an die Stelle, wo die von einem Punkte des
Objektes divergent ausgehenden, durch das Ob-
jektiv konvergent gemachten Strahlen sich wieder
vereinigen. Ein solches Zurückweichen des licht-
empfindlichen Teiles ist aber beim Auge nicht
möglich, da dessen Lederhaut (deren vorderer Teil
als ,,das Weiße im Auge" durch die durchsichtige
Bindehaut scheint) eine annähernd starre Kapsel
darstellt. Ebenso wenig kann unter normalen Ver-
hältnissen die Linse in beträchtlicherer W'eise vor-
oder rückwärts geschoben werden, etwa wie man
ein P'ernrohrokular auszieht. Wenn also die brechen-
den Flächen der Hornhaut und Linse ihren Ab-
stand von der lichtempfindlichen P'läche nicht
ändern können und doch die divergent auf das
Auge treffenden Strahlen auf dieselbe Stelle zu-
sammen gebrochen werden sollen w^ie vorher die
parallelen, so ist dies nur dadurch möglich, daß
das brechende System an Brechkraft zunimmt.
Das wird bekanntlich erreicht durch den als Ak-
kommodation bezeichneten Vorgang, der auf will-
kürlich erzeugter Krümmungszunahme der Linsen-
flächen in folgender Weise zustande kommt : Die
N. F. III. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
22:
Linse eines jugendlichen Menschen hat zwar an-
nähernd die Gestalt, der sie ihren Namen verdankt;
aber ihre festweiche, in eine elastische Kapsel ein-
geschlossene Masse hat das Bestreben, sich mög-
lichst der Kugelgestalt zu nähern; dabei nimmt
ihr Dickendurchmesser zu und ihre Flächen
krümmen sich stärker. Die Linse ist jedoch durch
ein an ihrem Rande ringsherum befestigtes Band,
das sog. Strahlenbändchen (Zonula Zinnii), so ge-
spannt aufgehängt, daß sie diesem Betreben, sich
der Kugelform zu nähern, nicht nachgeben kann.
Das Strahlenbändchen ist seinerseits wiederum in^
seiner ganzen Peripherie an einem Muskel, dem
sog. Ciliarmuskel , befestigt und zwar straff ge-
spannt, solange der Muskel untätig ist. Sobald
er sich aber zusammenzieht, wird das Aufhänge-
band der Linse gelockert und dieser, je nach der
A n Spannung des Muskels und der entsprechenden
Entspannung des Bändchens, mehr oder weniger
ermöglicht, sich der Kugelgestalt zu nähern. Durch
die erwähnte, dabei auftretende Krümmungszunahme
ihrer Flächen erhält die Linse erhöhte Brechkraft,
so daß sie nun imstande ist, den erhöhten .An-
forderungen zu entsprechen und die Strahlen wieder
auf der Netzhaut zu vereinigen. Dieses, die Ak-
komodation ermöglichende Bestreben, sich der
Kugelgestalt zu nähern, nimmt aber von der Jugend
zum Alter stetig fortschreitend ab infolge eines
allmählich zunehmenden Yerhärtungsprozesses der
Linsensubstanz. Ein älterer Mann kann sehr wohl
den Akkommodationsmuskel anspannen und dadurch
das Strahlenbändchen entspannen, aber die Linse
ändert nur wenig oder gar nicht mehr ihre Form,
eine Zunahme ihrer Brechkraft und dadurch eine
Einstellung des Auges für näher gelegene Punkte
hört auf, die Akkommodationsfähigkeit erlischt, wäh-
rend das Sehen für die Ferne unverändert bleibt.
Bis jetzt haben wir nur vom normalsichtigen,
vom sog. emmetropischen Auge gesprochen. Die
Abweichung vom normalen Bau, die Ametropie,
ist entweder durch abweichende Krümmung der
brechenden P'lächen oder durch abweichende Länge
der Augenachse bedingt. Ist im Verhältnis zur
Brechkraft der brechenden Medien die Augenachse
zu kurZj d. h. ist der Augapfel zu kurz gebaut,
so können sich nur solche Lichtstrahlen auf der
Netzhaut schneiden, die bereits konvergent auf das
Auge treffen. Solche Strahlen kommen aber im
allgemeinen in der Natur nicht vor, sondern nur
parallele oder divergente. Parallele Strahlen schnei-
den sich jedoch in diesem kurzgebauten Auge erst
hinter der Netzhaut, und das Auge muß, um sie
auf der Netzhaut zu vereinigen, bereits für die
Ferne eine Akkommodationsanstrengung machen
und zwar um so stärker, je kürzer es gebaut ist,
während das emmetropische Auge für die Ferne
im Ruhezustande verharrt. Für die Nähe, wo auch
das normale Auge akkommodieren muß, hat natür-
lich das kurzgebaute Auge noch eine entsprechend
größere Leistung aufzubringen. Um die damit
verbundene Mehranstrengung möglichst zu ver-
meiden, hat es das Bestreben, feinere Sehobjekte,
z. B. Druckschrift, möglichst weit von sich ab-
zuhalten. Daher nennt man ein solches kurz-
gebautes Auge weitsichtig (oder auch übersichtig,
hypermetropisch, weil sein Fernpunkt, d. h. der
Punkt, auf den es in der Ruhe eingestellt ist, jenseits
der Unendlichkeit oder hinter dem Auge liegt).
In der Jugend wird nun dieser Mehraufwand an
Akkommodationsanstrengung leicht aufgebracht,
mit den Jahren aber, mit zunehmender Verhärtung
der Linse und dadurch abnehmender Akkommo-
dationsmöglichkeit (mit der Verkleinerung der
„Akkommodationsbreite"), tritt die Unfähigkeit,
ohne Anstrengung in der Nähe zu sehen, mehr
und mehr zutage. Der Besitzer dieses Auges glaubt
nun weitsichtig ') geworden zu sein. Dies ist aber
durchaus nicht der Fall; die Übersichtigkeit, Hyper-
metropie, ist ein angeborener Fehler, der nur ver-
mindert, nie erworben oder vergrößert werden
kann. Es kann niemand übersichtig werden, der
es nicht seit Geburt ist; nur kommt es ihm erst
mit den Jahren zu Bewußtsein, wenn seine Ak-
kommodationskraft abnimmt, wenn er, wie man
sagt, alterssichtig, presbyopisch, wird. Die Pres-
byopie ist nur durch die Veränderung der Linse
bedingt und tritt bei jedem Menschen ein, mag
sein Auge normal, zu kurz oder zu lang gebaut
sein. Alterssichtig wird jeder, der nicht vorher
stirbt, nur machen sich die dadurch verursachten
Beschwerden beim Übersichtigen eher geltend als
beim Normalsichtigen. Diese Beschwerden be-
stehen, wie gesagt, darin, daß für die Nähe nicht
mehr akkommodiert werden kann; deswegen muß
für Nahearbeit das Manko in der Brechungszunahme
der Linse durch vor's Auge gestellte Konvex-
gläser ersetzt werden.
Das gerade Gegenteil der Übersichtigkeit ist
die Kurzsichtigkeit, die Myopie. Diese ist nicht
angeboren, sondern beruht auf einer besonders in
der Jugend entstehenden Verlängerung des Aug-
apfels, die sehr hochgradig werden kann. Daher
kommt es, daß stärker Kurzsichtige meist sog.
Glotzaugen haben ; die Verlängerung betrifft zwar
nur den hinteren Teil des Augapfels, aber wegen
der räumlichen Beschränkung in der Augenhöhle
muß der Augapfel nach vorn ausweichen. Was ist
nun die optische Folge dieses Langbaues ? Parallel
aufs Auge fallende Strahlen schneiden sich vor
der Netzhaut oder richtiger, diese ist hinter den
Schnittpunkt der Strahlen zurückgeschoben. Sollte
dieser Schnittpunkt bis in die Netzhaut zurück-
gebracht werden , so müßte sich die Linie ab-
flachen, die Krümmung ihrer Flächen müßte ab-
nehmen , was aber infolge ihres anatomischen
Baues unmöglich ist. Das langgebaute Auge ist
also auf keine Weise imstande, ferne Gegenstände
deutlich zu sehen. Dafür gibt es in der Nähe
einen Punkt, von dem die Strahlen so divergent
ausgehen, daß sie nach dem Durchgange durch
') Der leicht zur Verwirrung führende .\usdruck „weit-
sichtig" sollte am besten g.inz vermieden und durch ,, über-
sichtig" ersetzt werden.
22t
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 15
die brechenden Medien sich gerade auf der Netz-
haut vereinigen, ohne daß das Auge eine Akkom-
modationsanstrengung zu leisten braucht. Dies ist
der Fernpunkt des betreffenden Auges. Will es
sich auf noch näher gelegene Punkte einstellen,
so muß es natürlich auch akkommodieren, aber
entsprechend weniger als das normale Auge, und
zwar um den Betrag der Leistung weniger, die
das normale aufbringen muß, um von der Un-
endlichkeit bis auf den Fernpunkt des Kurzsichtigen
zu akkommodieren. Will der Myop auch in die
Ferne scharf sehen, so bleibt ihm nichts übrig,
als durch ein vorgesetztes Konkavglas die parallel
ankommenden Strahlen so stark divergent zu
machen, als kämen sie von seinem Fernpunkte,
so daß sie sich nunmehr in der Netzhaut schneiden.
w
I.'Emmetropie, Akkommodationsruhe. 2. Emmetropic, Akko-
mmodation (^Linse stärker gewölbt). 3. Aphakie. 4. do. mit
Konve.iglas. 5. Hypermetropie (.Augapfel verkürzt). 6. do.
mit Konve.xglas. 7. Myopie [.Augapfel verlängert, seine
Wandung nach hinten zu verdünnt. 8. do. mit Konkavglas
(F = Fernpunkt.)
Mit diesem Glase verhält er sich dann durchaus
wie ein Normalsichtiger und muß für jeden näher
gelegenen Punkt dieselbe Akkommodationsan-
strengung leisten wie der normale. 'Im Alter
rühmen es bekanntlich die Kurzsichtigen als einen
Vorteil, daß sie nicht weitsichtig werden. Dieser
Ausdruck ist aber nicht korrekt, denn, wie wir
gesehen haben, wird überhaupt niemand weit-
sichtig; und alterssichtig. Presbyopen, werden die
Kurzsichtigen ebenso wie die Normal- und Über-
sichtigen, d. h. sie verlieren das in der Jugend
vorhandene \'ermögen, von dem — bei ihnen nahe-
liegenden — Fernpunkte auf noch näher liegende
zu akkommodieren. Aber von diesem Vermögen
macht der kein Glas tragende jugendliche Myop
keinen Gebrauch, darum empfindet er im .•\lter
dessen Verlust nicht. Er hält nach wie vor die
Sehobjekte, z. B. die Schrift, ohne zu akkommo-
dieren in seinen Fernpunkt. Hat er aber, was in
den meisten Fällen durchaus zu empfehlen ist,
sein richtiges Konkavglas getragen und damit
seinen Fernpunkt in die Unendlichkeit hinaus-
gerückt, so kann er ihn einfach dadurch wieder
heranrücken, daf3 er das Glas für die Nähe ab-
nimmt.
Eine scheinbare Ausnahme verdient noch er-
wäiint zu werden : Es gibt Leute, die ohne Brille
Schrift nur lesen können, wenn sie sie sehr nahe
ans Auge halten, und deshalb für hochgradig kurz-
sichtig gelten, während sie im Gegenteil hoch-
gradig übersichtig sind. Diese würden nämlich,
um in der Nähe sehen zu können, eines so starken
Akkommodationsaufwandes bedürfen, daß sie ihn
gar nicht zu leisten vermöchten und deswegen
von vornherein darauf verzichten zu akkonmio-
dieren. Um trotzdem lesen zu können, halten sie
die Schrift so nahe als möglich ans Auge, um
dadurch möglichst große Netzhautbilder der Buch-
staben zu bekommen, die sie dann, wenn auch in
Zer?treuungskreisen, erkennen können. Solche nur
scheinbar Kurzsichtige müssen natürlich Konvex-
gläser tragen.
Wir sind bis jetzt nur davon ausgegangen,
daß die Augenachse im Verhältnis zur Norm zu
kurz oder zu lang ist. Natürlich kann Ametropie
auch dadurch bedingt sein, dal.5 die Augenachse
normale Länge hat, die brechenden Medien aber
zu schwach oder zu stark gekrümmte Flächen
haben. Die Emmetropie ist nicht an bestimmte
absolute Werte geknüpft, sondern nur durch das
V^erhäknis von Achsenlänge zur Krümmung der
brechenden Flächen bestimmt. Die oben ange-
stellten Überlegungen bleiben dieselben, ob z. B.
die Hornhaut normal gekrümmt, das Auge aber
zu kurz ist, oder ob das Auge normale Länge, die
Hornhaut aber zu geringe Krümmung hat. In
beiden Fällen schneiden sich parallel ankommende
Strahlen erst hinter der Netzhaut. Im i. Falle
besteht Achsen-, im 2. Krünimungshypermetropie.
Ein kleiner Unterschied besteht zwischen Achsen-
und Krümmungsametropie nur hinsichtlich der
durch die Brillengläser erzeugten Veränderung der
Bildgröße auf der Netzhaut und dadurch der schein-
baren Größe der Außendinge. Man hört zuweilen
die Angabe, daß durch Konvexgläser alles zu grol5,
oft die Klage, daß durch Konkavgläser alles zu klein
erscheint. Dieses Phänomen ist physikalisch be-
dingt und deswegen unvermeidlich, aber absolut
gültig nur für die — selteneren — Fälle der
Krümmungsametropie, für die — viel häufigeren —
Fälle der Achsenametropie nur relativ; denn bei
den letzteren erzeugen alle Dinge in der Nähe
ohne Brille beim Hypermetropen kleinere, beim
Myopen größere Netzhautbilder als beim Emme-
tropen, die aber durch die entsprechenden Brillen,
wobei alle 3 Arten von Augen die gleiche Ak-
kommodation aufbringen müssen, gleich groß
werden. Dem zu lang gebauten Auge z. B. er-
N. F. III. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
229
scheinen also durch seine Brille diese Gegen-
stände zwar kleiner, als ohne Brille gesehen, aber
nicht kleiner, sondern ebensogroß als dem nor-
malen Auge, wenn es darauf akkommodiert. Dies
ist bei Krümmuiigsametropie nicht genau der Fall.
In der Hauptsache ist Krümmungsametropie
durch abnorme Gestalt der Hornhaut bedingt.
Durch die Linse kann sie zum Beispiel verursacht
sein, wenn infolge einer Verletzung das Strahlen-
bändchen einreißt; dann ist die Linse nicht mehr
straff gespannt aufgehängt, sie nähert sich der
Kugelform, erhält stärkere Krümmung ihrer Flächen,
dadurch größere Brechkraft und erzeugt so Myopie.
Daß dies aber nur in der Jugend möglich ist, er-
gibt sich aus dem oben über das Härterwerden
der Linse Gesagte. Aphakie, Linsenlosigkeit, ge-
hört ebenfalls hierher als eine hochgradige Krüm-
mungsh3'permetropie. Sie kommt gleichfalls ge-
legentlich durch Verletzung zustande, wenn die
Linse von ihrem normalen Platze hinter der Pu-
pille weggerissen wird.
Zum Schluß sei kurz noch eine besondere
Form der Krümmungsametropie erwähnt, die sich
mit normalem, zu langem und zu kurzem Bau
des Auges kombinieren kann, der Astigmatismus.
Bei diesem sehr häufigen Prahler stellt die Horn-
haut keine reine Kugelfläche dar, sondern sie er-
scheint in einer Richtung, meist von oben nach
unten, etwas zusammengedrückt, so daß ihr,, Durch-
messer" in dieser Richtung stärker gekrümmt ist
als der darauf senkrecht stehende Durchmesser.
Dieser Fehler wird durch zylindrisch geschliffene
Gläser korrigiert und zwar folgendermaßen. Bricht
z. B. der senkrechte Durchmesser im Verhältnisse
zum wagrechten zu schwach, weil er schwächer
gekrümmt ist als dieser, so wird ein Konvex-
zylinder mit wagrechter Achse vors Auge gesetzt,
so daß die zu schwache brechende Wirkung des
senkrechten Durchmessers durch die Konvex-
krümmung des Zylinders erhöht wird, während
die Wirkung des wagrechten unverändert bleibt,
da ein Zylinder in den durch seine Achse ge-
legten Ebenen optisch unwirksam ist. Bricht aber,
wie es meist der Fall ist, der senkrechte Durch-
messer zu stark im Verhältnis zum wagrechten,
so wird ihm durch einen Konkavzylinder mit
horizontaler Achse das Plus an brechender Kraft,
das er dem wagrechten gegenüber hat, genommen.
Besteht außer dem Astigmatismus noch Hyper-
metropie oder Myopie, so werden die Zylinder-
gläser mit sphärischem Konvex- oder Konkav-
gläsern kombiniert.
[Nachdruck verboten,]
Über Papieruntersuchung.
Von F. A. Rofsmärsler.
Mit Benutzung des Werkes „Papier-Untersuchun
Leipzig, Eiscnsc
Die nicht selten zu hörende scherzhafte Be-
zeichnung unseres Zeitalters als „das papierne"
läßt recht deutlich erkennen, von welch außer-
ordentlicher Bedeutung und Wichtigkeit das Papier
für uns geworden ist. Durch die, man könnte
fast sagen, ununterbrochene Berührung, in welche
wir in den verschiedensten Ausübungen unseres
Berufes oder sonstiger Tätigkeit mit diesem Pro-
dukte einer Großindustrie kommen, ist das Papier
ein so alltäglicher Gegenstand des Gebrauches ge-
worden , daß es jedermann genau bekannt ist,
wenigstens der Sache nach. Diese Kenntnis des
uns unentbehrlichen Papiers ist jedoch in vielen
Fällen eine mehr als oberflächliche, und beschränkt
sich häufig auf den einen Umstand, daß es aus
Lumpen dargestellt wird, und nicht selten mag es
vorkommen, daß der Konsument nicht imstande
ist, mit Sicherheit beurteilen zu können, ob eine
Papiersorte die für ihn zweckentsprechende ist, oder
nicht. Aus diesem Grunde glaube ich annehmen
zu dürfen, daß es nicht ohne Wert sein wird, einige
nähere Betrachtungen über das Papier anzustellen.
Ich will jedoch keine Beschreibung der Papier-
fabrikation geben, über welche jedes Konversations-
Lexikon genauesten Aufschluß bietet, sondern mein
Augenmerk einer anderen Seite der Papierfrage
zuwenden, die für den Papierhändler und mit ihm
das große Publikum die wichtigste ist.
gen" von U. Winker und Dr. H. Karst en.s,
limidt & Schulze.
Durch die so außerordentlich vielfältige An-
wendung des Papiers ist es notwendig geworden,
dasselbe in vielen verschiedenen Sorten darzu-
stellen, die in ihren Eigenschaften weit voneinander
abweichen, wie z. B. das dem Raucher unentbehr-
liche, fast gänzlich aschelos verbrennende, seiden-
weiche Zigarettenpapier und das harte, spröde
Holzstoffpapier, oder das chemisch reine Filtrier-
und das wasserdichte Pergamentpapier. An jede
dieser vielen Sorten werden gewisse Anforde-
rungen gestellt, denen sie entsprechen müssen.
Die Ausführung der aus diesem Grunde nötig ge-
wordenen Untersuchung des Papiers kann weder
Sache des Händlers noch des F"abrikanten sein,
sie muß, um wirklichen Wert zu erhalten, von
einer dritten, unparteiischen Seite aus geschehen,
die von besonders zu diesem Zwecke entstandenen
Anstalten vertreten ist. Diese Anstalten, gleich-
viel ob behördliche oder private , führen die
Papieruntersuchungen nach wissenschaftlich aus-
gearbeiteten Methoden aus, deren Resultate un-
anfechtbar sind und ein sicheres Kriterium bieten.
— Den wichtigsten dieser Untersuchungen nähere
Aufmerksamkeit zu schenken ist der Zweck vor-
liegender Betrachtungen.
Die wichtigsten Fragen, mit denen die Papier-
untersuchung sich zu beschäftigen hat, sind fol-
gende ;
J30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 15
1. Zusammensetzung nach Art der verarbeiteten
Pflanzenfaser.
2. Füllstoffe.
3. Leimung und Imprägnierung.
4. Leimfestigkeit.
5. Festigkeit gegen Reißen, Knittern und Reiben.
6. Gewichts- und Dickenmessung.
7. Saugfähigkeit.
8. Filtrationsfähigkeit.
9. Durchscheinbarkeit.
10. Verunreinigungen.
11. Neigung zum Vergilben.
12. Feuchtigkeits- und Aschegehalt.
Da die Beantwortung dieser vielen Fragen auf
bloß mechanischem oder chemischem Wege un-
möglich ist, teilt man die Gesamtuntersuchung in
die mechanische und die chemische Prüfung, zu
denen dann noch, hauptsächlich zur Beantwortung
der Frage i, die mikroskopische kommt.
I. Mechanische Prüfung.
I. Festigkeitsbestimmung gegen
Reißen. Streng genommen müßte die Festig-
keit des Papiers gegen Reißen in der Weise be-
stimmt werden, daß man die erforderliche Länge
eines an einem Ende frei aufgehängten Papier-
streifens ermittelt, bei welcher das Eigengewicht
des Streifens die Festigkeit des Papiers übersteigt
und ein Zerreißen erfolgt. Die Unausführbarkeit
derartiger Bestimmungen, deren Ergebnis die eigent-
liche Reißlänge wäre, zwingt einen anderen
Maßstab zur Feststellung der Festigkeit gegen
Reißen anzuwenden, nämlich das Reißgewicht,
welches dann in die wirkliche Reil31änge umge-
rechnet und in Längenmaß verwandelt wird. Das
Reißgewicht wird ausgedrückt durch das erforder-
liche Gewicht in Kilogrammen, welches der Zug-
kraft entspricht, die man anwenden muß, um einen
Streifen Papier von bestimmter Breite (15 mm)
in der freien Längsrichtung auseinander zu reißen.
Zur Bestimmung der Reißfestigkeit dient ein
von Schapper nach dem System der Schnellwagen
konstruierter Apparat. Zwischen zwei auf dem
Nullpunkt stets 180 mm voneinander entfernten
Klemmen wird der zu prüfende Papierstreifen be-
festigt und die Kurbel gedreht. Der hierbei er-
zeugte Zug wird durch den Streifen auf den Ge-
wichtshebel übertragen und bringt ihn zum Aus-
schlage, der vermöge einer selbsttätigen Einschaltung
beim Zerreißen des Streifens nicht zurückschnellt,
sondern stehen bleibt, so daß man an dem Grad-
bogen das dem Ausschlagen des Hebels ent-
sprechende Gewicht ablesen kann. Gleichzeitig
wird durch ein Zahngetriebe ein zweiter Hebel-
arm zum Ausschlagen gebracht, der auf einer
zweiten, beweglichen Skala die Dehnung des Papiers
in Millimetern angibt. Durch eine Vorrichtung
wird beim Reißen des Streifens das Getriebe aus-
geschaltet, so daß der Hebel seinen Ausschlag bis
zum Ablesen der Werte behält.
Die vorher erwähnte Umrechnung des Reiß-
gewichts in die Reißlänge geschieht mit Hilfe der
Feinheitsnummer {== Quotient aus Länge und Ge-
wicht des Streifens) nach folgendem Beispiel : „Ein
Streifen von 15 mm Breite und 180 mm Länge
hat das Reißgewicht von 5,6 kg, sein Gewicht
beträgt 0,363 g, dann ist
180 (mm)
Feinheitsnummer
0,496 und
363 (mg)
Reißlänge 0,496 >< S.6 = 2,778 km.
Bei der Festigkeitsprüfung gegen Reißen ist noch
der Umstand zu erwähnen, daß zwischen Papier-
streifen, die in der Längsrichtung und solchen, die
in der Ouerrichtung des Maschinenlaufs geschnitten
sind, ein nicht unbedeutender Unterschied in Bezug
auf Widerstandskraft herrscht, aus welchem Grunde
man die Prüfung mit beiden vornehmen und den
Mittelwert der Resultate als gültig für die be-
treffende Papiersorte annehmen muß. Ein Diagonal-
streifen besitzt annähernd diesen Mittelwert. Auch
der größere oder geringere Feuchtigkeitsgehalt ist
von erwähnenswerter Beeinflussung der F'estigkeit
des Papiers, es ist daher orforderlich, die Prüfung
nicht eher anzustellen, bis das Papier auf geeignete
Weise auf einen Wassergehalt von 7 — 8",, ge-
bracht ist.
2. S a u g f ä h i g k e i t der Löschpapiere wird auf
folgende Weise bestimmt. In ein flaches Wasser-
gefäß werden aus beiden Richtungen (lang und
quer zum Maschinenlauf) geschnittene Streifen mit
einem Ende eingetaucht, die neben einer Skala in
einem horizontalen Träger senkrecht eingeklemmt
sind. Während einer Versuchsdauer von 10 Minuten
beobachtet man wie hoch sich das Wasser in den
Streifen aufsaugt und teilt je nach der Höhe von
20, 40, 50 und 60 mm die Sorten in vier Klassen
ein.
3. P" i 1 1 r a t i o n s fä h i g k e i t. Gutes Filtrier-
papier muß drei Bedingungen gerecht werden :
F'iltrationsgeschwindigkeit , Scheidungsvermögen
und F'estigkeit des durchfeuchteten Filters. Die
Filtrationsgeschwindigkeit wird nach der Zeit be-
messen, in welcher 100 ccm Wasser von 15" C
durch ein Filter vom 10 cm durchfließen, was bei
einem guten Papier innerhalb 3 — 4 Minuten der
Fall ist. Die Scheidungsfähigkeit wird mit frisch
gelalltem Baryt geprüft, den man zu diesem
Zwecke aus einer Lösung von Chlorbaryum mit
schwefelsaurem Natron unter verschiedenen Ver-
hältnissen niederschlägt, und zwar bei gewöhn-
licher Temperatur, bei 60, 80 und 100" C. Eine
fünfte P'ällung wird aus siedender mit Salzsäure
angesäuerter Chlorbaryum-Lösung mittels siedender
verdünnter Schwefelsäure niedergeschlagen. Je
nachdem das Filter die verschieden gefällten Nieder-
schläge klar oder trübe durchläßt, kann man fünf
Klassen aufstellen :
I. ungenügend, wenn
klar filtriert ;
II. mäßig, wenn
klar filtriert;
III. genügend, wenn nur erste und zweite Fällung
trübe filtriert;
nur die fünfte Fällung
die fünfte und vierte Fällung
N. F. III. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
231
IV. gut, wenn nur die erste Fällung trübe filtriert ;
V. sehr gut, wenn alle fünf Fällungen klar
durchfließen.
4. Leimfestigkeit. Durch einfaches Auf-
schreiben von Doppelkreuzen mit schwacher und
scharfer Tinte auf das auf Leimfestigkeit zu prüfende
Papier lassen sich durch Zusammenfließen und
völliges Durchschlagen, oder Nichtdurchschlagen,
wohl die besten und schlechtesten Sorten fest-
stellen, aber ein deutliches Frkennen der ange-
nommenen vier verschiedenen Stufen der Leim-
festigkeit, nämlich leimschwach, annähernd leim-
fest, leimfest und außerordentlich leimfest, ist mit
diesem einfachen Mittel nicht zu bewerkstelligen.
Diesen Zweck kann man jedoch auf folgende
Weise mit Sicherheit erreichen. Aus einer Tropf-
pipette läßt man aus geringer Entfernung auf das
zu prüfende Papier, Tropfen einer ["/„igen Eisen-
chloridlösung fallen, die man nach verschiedenen
Zeiten, und zwar nach i, 4, 7 und lO Minuten
absaugt und abtrocknet. Das Trocknen mit Lösch-
papier muß genau zu der angegebenen Zeit er-
folgen. Nach völligem Auftrocknen bestreicht man
nun die Rückseite des Papiers mit einer i "/„ igen
Tanninlösung, dieauchgleich wieder mit Löschpapier
aufgesaugt wird. Eine entstandene deutliche Blau-
färbung, oder Ausbleiben derselben, läßt erkennen,
in welchem Grade ein Durchschlagen der Eisen-
chloridlösung stattgefunden hat, oder ob sie gänz-
lich ausgeblieben ist.
II. Chemische Prüfung.
Zweck der chemischen Prüfung des Papiers ist
die Nachweisung fremder Beimengungen, welche
entweder als sogenannte Füllstoffe dem Faserstoff
des Papiers absichtlich beigemengt sind, oder dem-
selben während der Herstellung des Papiers oder
der Zubereitung seiner Rohstoffe zugeführt sind,
oder ihm schon von vornherein anhaften. P'erner
ist es in manchen Fällen nötig nachzuweisen, mit
welchen Stoffen die Leimung resp. Imprägnierung
ausgeführt worden ist. Wenn auch nicht für alle
Papiersorten absolute Reinheit von fremden Bei-
mengungen erforderlich ist, so gibt es doch viele,
bei denen diese Forderung im Interesse ihrer Ver-
wendung erhoben werden muß, so z. B. bei dem
Filtrierpapier für chemische Arbeiten , bei den
photographischen Papieren, bei den Wertzeichen-
und Urkundenpapieren, die eine fast unbegrenzte
Existenzdauer haben sollen.
I. Unbeabsichtigte Verunreinigungen.
Zu diesen gehören hauptsächlich Fette, die den
alten I.umpen anhaften und nur äußerst schwierig
denselben völlig entzogen werden können ; ferner
Chloride, Sulfate und Karbonate der Alkalien und
alkalischen Erden, Eisen Verbindungen und organische
Stoffe, selbst freies Chlor und freie Säuren (Salz-
und Schwefelsäure), die teils durch den Reinigungs-
und Bleichprozeß, teils durch das Fabrikationswasser
in die Papierrohstofie gelangen können.
Die erste Prüfung, die man vorzunehmen hat,
besteht darin, daß man das ungeleimte Papier mit
l"/,, iger Natronlauge auskocht und nach dem Er-
kalten der Flüssigkeit mit Salzsäure oder Schwefel-
säure versetzt; eine auftretende Trübung zeigt
die Gegenwart fettartiger Körper an.
Man kocht das Papier mit destilliertem Wasser
aus und verdampft den Auszug, bleibt dabei
ein fester Rückstand, so ist die Anwesenheit von
in Wasser löslichen anorganischen Salzen nach-
gewiesen, die auf analytischem Wege zu bestimmen
sind. Eine weitere Probe des Papiers digeriert
man mit chemisch reiner Salzsäure, die dabei
keine gelbe Färbung annehmen darf, deren Auf-
treten auf einen Gehalt von Eisenverbindungen
deuten würde.
2. Füllstoffe. Um dem Papier ein schönes
Aussehen zu geben, oder seine Undurchsichtigkeit
zu erhöhen, oder auch nur zum Zwecke der billi-
geren Herstellung, wird es vielfach mit Füllstoffen
beschwert, die zum größten Teil aus Silikaten,
Karbonaten und Sulfaten der Tonerde und Mag-
nesia bestehen. Diese absichtlichen Beimengungen
werden in der Asche des betreffenden Papiers be-
stimmt, in der sie enthalten sind, allerdings nicht
als alleiniger Bestandteil, sondern vermengt mit
den Salzen, die in den zur Herstellung des Papiers
verarbeiteten Pflanzenfasern abgelagert waren, oder
dem Papierstoff vom Reinigungs- und Bleichprozeß
her anhaften. Die Menge dieser Salze ist aber so
verschwindend klein, daß sie bei der Untersuchung
der Asche auf den Ursprung der Füllstoffe un-
berücksichtigt bleiben können.
Um die Quantität der Füllstoffe zu bestimmen,
verascht man eine abgewogene Papiermenge in
einem Piatintigel, glüht die Asche solange, bis sie
vollkommen weiß ist, wägt den Glührückstand und
berechnet wieviel Gramm Asche auf 100 g Papier
kommen. Der Aschengehalt nicht gefüllten und
ungeleimten Papiers schwankt zwischen V'., bis
3 Prozent. Die qualitative und quantitative Be-
stimmung der Füllstoffe in der Asche ist dann
Sache der chemischen Analyse.
3. Leimung und Imprägnierung.
Soll ein Papier zum Beschreiben mit Tinte ge-
eignet sein, so darf es der Tinte ein Eindringen
und Verlaufen zwischen seine Fasern nicht zu-
lassen, es muß mit einem Mittel behandelt sein,
welches dies verhindert. Von alters her geschah
dies durch Eintauchen in eine Lösung tierischen
Leims, auf welche Weise eine Oberflächenleimung
erzeugt wurde. Dieses Verfahren ist in der mo-
dernen Papierfabrikation durch das Leimen im
.Stoff, das im sogenannten Holländer mit der Papier-
masse vorgenommen wird, fast als verdrängt zu
bezeichnen. Erst nachdem man die vegetabilische
oder Harzleimung kennen lernte, hat sich das
Leimen im Stoff eingebürgert und wird sich, seiner
großen Vorzüge wegen, wohl auch erhalten, da
es nicht nur für Harz , sondern auch für Leim
ausführbar ist. Leim und Harz sind jedoch nicht
die einzigen Materialien, die dazu benutzt werden
Schreibpapier herzustellen, denn auch das Kasein
findet die gleiche Verwendung, wenn auch weniger
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 15
für die Fabrikation des eigentlichen Schreibpapiers,
so doch für Kunstdruckpapier, Buntpapier, Spiel-
karten usw.
Unter mehreren von verschiedenen Chemikern
vorgeschlagenen Mitteln zum Nachweisen anima-
lischer Leimung ist das Auskochen des Papiers
mit destilliertem Wasser und Zusatz einiger Tropfen
Gerbsäurelösung das einfachste und dabei sicherste,
da der Leim durch die Gerbsäure in Gestalt eines
geblichen Niederschlages (Leder!) ausgeschieden
wird.
Ebenso untrüglich und leicht ausführbar ist die
Bestimmung der vegetabilischen Leimung. Man
kocht das Papier in Alkohol aus, in welchem sich
das Harz vollständig auflöst, und wenn man nun
die Lösung in ein Becherglas voll Wasser gießt,
so erscheint an der Oberfläche des Wassers eine
bläulich gefärbte, trübe Schicht, welche von äußerst
fein verteilten Harztröpfchen gebildet wird.
Um Kasein nachzuweisen kocht man das Papier
mit kalzinierter Soda, dann fügt man noch so viel
Soda zu, daß sich die filtrierte Flüssigkeit klebrig
anfühlt und versetzt mit Essigsäure. War das
Papier mit Kasein geleimt, so wird letzteres als
voluminöser weißer Niederschlag gefällt.
Zur Fabrikation besonders geschmeidiger Pack-
und Einschlagpapiere, die gleichzeitig für Wasser
undurchdringlich sein sollen, ferner leimfesterPapiere
von gewisser Durchsichtigkeit wird das dazu be-
stimmte Papier mit verschiedenen Stoffen, wie
Fett, Öl, Wachs, Stearin und Paraffin imprägniert.
Dies geschieht entweder von der Oberfläche des
fertigen Papiers aus, oder, ebenso wie bei der
Leimung, mittels aus solchen Stoffen erzeugter
Emulsionen im Holländer. — Um diese Körper zu
bestimmen, extrahiert man eine abgewogene Menge
des zu untersuchenden Papiers im Extraktions-
apparat mit Ätheralkohol und läßt den Extrakt in
einer tarierten Schale im Wasserbad verdampfen.
Der in der Schale zurückbleibende Fettkörper
wird noch getrocknet und gewogen. Ist derselbe
unverseifbar, so besteht er aus Paraffin, im ent-
gegengesetzten F'alle kann man noch, wenn ge-
nügende Menge vorhanden ist, durch Bestimmung
der Hübl'schen Jodzahl und der Verseifungszahl
nach Köttsdorfer die Natur des verseif baren Fett-
körpers feststellen.
4. Holzschliff und Strohstoff Trotz-
dem der Holzschliff von allen jetzt zur Papier-
fabrikation verwendeten Materialen der schlechteste
ist, wird er doch vielfach als Surrogat des wert-
vollen F"aserstoffs selbst besseren Papiersorten zu-
gesetzt. So zweckdienlich er ist, die Herstellungs-
kosten geringer Sorten zu vermindern, sollte er
doch von der Herstellung solchen Papiers, von
dem eine lange Lebensdauer verlangt wird, aus-
geschlossen sein. Nur in einer Beziehung verleiht
er der Ware eine für manche Verwendung er-
wünschte Eigenschaft in höherem Maße, als die
Leinen-, Hanf- und Baumwollenfaser, nämlich die
Undurch.sichtigkeit. Es ist zu empfehlen, alle
Papiere, welche zu besseren Zwecken Verwendung
finden sollen, auf Holzschliff zu prüfen.
In einer ganzen Reihe von Körpern, die zu
den Produkten der chemischen Steinkohlenteer-
Verarbeitung gehören, stehen uns Mittel zu Gebote,
die mit großer Sicherheit als Reagenzien auf Holz-
schliff dienen können, so z. B.
Phenol in alkoholischer Lösung mit einigen
Tropfen Salzsäure färbt gelb.
Resorcin in alkoholischer Lösung mit einigen
Tropfen Salzsäure färbt blauviolett.
Phloroglucin in alkoholischer Lösung mit
einigen Tropfen Salzsäure färbt rotviolett.
Naphtol in alkoholischer Lösung mit einigen
Tropfen Schwefelsäure färbt grün.
Anilinsulfat in wässriger Lösung mit einigen
Tropfen Salzsäure färbt gelb.
Ebenfalls als Reagenzien auf Holzschliff können
Chlorwasser, Salpeterschwefelsäure, Atzkali, Amyl-
schwefelsäure und Goldchlorid verwendet werden,
die mit demselben gleichfalls charakteristische
Färbungen erzeugen.
Auch auf Strohstoff kann das Anilinsulfat an-
gewendet werden, auf welchem es nach einigen
Stunden einen roten Fleck hervorbringt.
5. Freie Säuren und Chlor. Von allen
Verunreinigungen des Papiers sind freie Säuren
und Chlor die schädlichsten, da sie direkt zer-
störend auf den Papierstoff einwirken. Ihr Vor-
handensein kann nur infolge ungenügendenWaschens
nach dem Bleichprozeß entstehen und gehört auch
zu seltenen Ausnahmefällen, ist sogar von vielen
Autoritäten entschieden bestritten worden.
Sichere Mittel zum Nachweis dieser Schäd-
linge haben wir für das Chlor im Jodkatiumstärke-
papier, für Schwefelsäure und Salzsäure im Kongorot.
6. Eisen Verbindungen, und zwar in der
Form fettsaurer und harzsaurer Salze, sind als Ur-
sache des Vergilbens zu betrachten. Vom Vor-
handensein solcher Eisenverbindungen kann man
sich nach Dr. Klemm auf folgende Weise über-
zeugen : Etwa I g Papier wird mit i "!„ iger Natron-
lauge Übergossen und in einem Reagenzgläschen
gekocht. Die Lösung wird vorsichtig in ein anderes
Gläschen gegossen und darin mit eisenfreier Salpeter-
säure versetzt, bis die Flüssigkeit deutlich sauer
reagiert. Dann gibt man ca. 2 ccm Rhodan-
ammonlösung hinzu und überschüttet das Gemisch
mit etwa 5 ccm Äther. Nun schüttelt man kräftig
durch und läßt abstehen; eine mehr oder weniger
kräftige Rotfärbung der oberen Ätherschicht deutet
auf Vorhandensein der Eisenverbindungen.
III. Mikroskopische Prüfung.
Mit Ausnahme des Holzschliffes kann die Frage,
aus welchen Arten vegetabilischen Faserstoffes ein
Papier zusammengesetzt sei, nur durch die mikro-
skopische Untersuchung beantwortet werden.
Zur Ausführung einer solchen ist natürlich die
richtige Herstellung des Faserstoff- Präparats das
erste Erfordernis. Dasselbe muß, um ein klares
Bild der Stoffzusammensetzung geben zu können,
N. F. III. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
233
als frei von allen nicht zu den Faserarten ge-
hörigen Fremdkörpern, zu denen auch Leimungs-
materialien und Füllstoffe der betreffenden Papier-
sorte zu zählen sind, gelten können. Zur Her-
stellung solcher Präparate verfährt man am besten
auf folgende Weise :
Kine Probe des Papiers, etwa 6 qcm groß, wird
in kleine Stückchen zerrissen, in ein Reagenzglas
gefüllt, mit 5 ccm einprozentiger Natronlauge Über-
gossen und zum Kochen erhitzt. Mit dem Kochen
fährt man solange fort, bis an einem Nichtzunehmen
der eingetretenen graugrünlichen Färbung der
Lauge ein vollständiges Lösen der Leimung zu
erkennen ist. Nun gießt man die Flüssigkeit von
den Papierschnitzeln vorsichtig ab, und wäscht diese
solange mit destilliertem Wasser aus, bis letzteres
nicht mehr alkalisch reagiert. Hierauf werden die
Papierflocken in eine Schüttelflasche übergespült,
die man zur Hälfte mit Wasser füllt; nachdem
man noch Glasperlen oder Granaten zugefügt hat,
verschließt man die Flasche und schüttelt deren
Inhalt kräftig durcheinander, bis das Papier in einem
gleichmäßigen Brei verteilt ist. (War das zu unter-
suchende Papier nicht geleimt, dann fällt die Be-
handlung mit Lauge weg.)
Von dem so zubereiteten Brei bringt man
einen kleinen Teil auf den Objektträger, trocknet
ihn durch Betupfen mit Filtrierpapier und
schreitet nun zur Färbung der Faserprobe. Durch
die Färbung erhalten die Bilder des mikroskopischen
Sehfeldes eine größere Übersichtlichkeit und er-
leichtern die Erkennung und Unterscheidung der
verschiedenen Faserstoffe einer Papiersorte sehr
bedeutend, so daß ein geübter Sachkenner imstande
ist, selbst eine quantitative Bestimmung mit ge-
nügender Genauigkeit auf mikroskopischem Wege
auszuführen. Durch die charakteristische Färbung,
welche die verschiedenen Fasern bei der Behand-
lung mit den drei gebräuchlichen Mitteln, der Jod-
Jodkaliumlösung, Chlormagnesiumjodlösung und
Chlorzinkjodlösung annehmen, wird die Erkennung
der charakteristischen Fasergestalt wesentlich unter-
stützt, und in manchen Fällen eine durch Ähnlich-
keit der Gestalt bedingte Verwechslung verhütet.
Mit Jod- Jodkalium färben sich :
braun : Baumwolle, Leinen, Hanf;
gelb: Holzschliff, ungebleichter Manillahanf
und Jute.
Mit Chlorzinkjodlösung färben sich:
violett bis rotbraun : Leinen, Hanf, Baumwolle ;
blau bis grau : gebleichte Jute, Holz-Cellulose,
Esparto, Bambus, Strohstoff, Manillahanf.
Mit Chlormagnesiumjodlösung färben sich:
rotbraun: Leinen, Hanf, Baumwolle;
blauviolett: Strohstoff, Bambus, Esparto;
hellbraun: Holz-Cellulose;
gelb: Holzschliff und ungebleichte Jute.
Von animalischen oder mineralischen Faser-
stoften kommen im Papier Schafwolle und Asbest
vor.
Kleinere Mitteilungen.
Zur Versorgung des Inlandes mit See-
fischen. — Die deutsche Hochseefischerei hat
zwar im letzten Jahrzehnt einen gewaltigen Auf-
schwung genommen, denn sie beschäftigt z. Zt.
allein in der Nordsee 530 F"ahrzeuge mit einer
Besatzung von 4020 Mann. Diese Flotte, unter
welcher zu Anfang d. J. 135 Dampfer waren,
wird noch eine beträchtliche Steigerung erfahren,
sobald die von der Dampffischerei- Gesellschaft in
Nordenham in Auftrag gegebenen großen Steamer
zur Ablieferung gelangen und die Ausrüstung mit
Hilfsmotoren für eine Reihe von Finkenwerder
Seglern durchgeführt sein wird. Dennoch werden
angesichts der stetigen Bevölkerungszunahme im
Deutschen Reiche die Erträgnisse der Hochsee-
fischerei nicht ausreichen, die Bedürfnisse des In-
landes an guter und billiger Fischnahrung zu
decken ; da trotz der wachsenden Frequenz unserer
Nordsee-Fischmärkte durch englische und dänische
Fänger und erhöhter Zufuhren die Nachfrage das
Angebot bisher immer noch überstiegen hat. Be-
sonders gilt dies von solchen Fischgattungen, für
welche eine wesentliche Steigerung der Fangerträge
weder in den heimischen noch in den europäischen
Gewässern überhaupt zu erwarten steht, und die
deswegen einen Preis bedingen, welcher ihren
Konsum den breiteren Volksschichten nahezu
gänzlich unmöglich macht. Erwägungen dieser
Art haben dazu geführt, daß HamburgAltonaer
Großfirmen die Einfuhr von Edelfischen von
außereuropäischen Gewässern in Angriff genommen
und damit ein nicht zu unterschätzendes Maß von
Unternehmungsgeist und hanseatischem Wagemut
bekundet haben. Der Umstand, daß in den sibi-
rischen Gewässern , besonders im Amur ein un-
gewöhnlicher Reichtum an Lachsen vorhanden
ist, veranlaßte die Reedereifirma Th. & H. Eimbcke
mit einer Reihe von P'irmen in Nikolajefsk und
Wladiwostock Verträge auf regelmäßige Liefe-
rungen solcher Fische in großen Mengen abzu-
schließen. Den sibirischen bzw. russischen Firmen
in den genannten Orten Ostasiens gelang es, ihrer-
seits eine hinreichende Zahl von einheimischen
Fischern für den Fang zu verpflichten. Für den
Transport der Fische nach Deutschland wurde
zunächst der Dampfer „Bianka" ausersehen und
zu dem Zwecke zu Anfang d. J. auf der Reiher-
stiegwerft einem teilweisen LImbau unterzogen.
Letzterer erstreckte sich besonders auf den Ein-
bau von Kühlanlagen und -räumen , nach deren
Fertigstellung der Dampfer im Juni seine Ausreise
nach dem Amurgebiete antrat. Die geschlossenen
Verträge erwiesen sich als ausreichend, und die
Lieferung von frischen F'ischen vollzog sich so
glatt, daß der Dampfer bereits am 30. September
mit voller Ladung die Heimreise antreten konnte.
234
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 15
Sein Eintreffen in Hamburg erfolgte Anfang
Dezember. Von der Beschaffenheit und dem
Absatz der ersten Sendung wird es abhängen,
ob sich die Firma zur Einstellung eines weiteren
Dampfers in diesen neuen Zweig ihres Betriebes
in nächster Zukunft entschließen wird.
Ein zweites, nicht minder interessantes Unter-
nehmen betrifft die Einfuhr frischer Aale aus
Ägypten, die seitens zweier Altonaer Firmen,
Moilgaard u. Bill ins Werk gesetzt worden ist.
Im Juni d. J. entsandten dieselben eine Kommis-
sion, bestehend aus Vertretern ihrer Häuser und
Berufsfischern, die eine Untersuchung der Strand-
seen im Nildelta auf ihren Aalbestand vornehmen
und im günstigen Falle dortige Fischer für das
Unternehmen verpflichten sollten. Der Expedition
wurden seitens der ägyptischen Behörden keine
Schwierigkeiten bereitet, so daß sie mit Umsicht
und Eifer sich ihres Auftrages entledigen konnte.
Als besonders aalreich erwies sich der zwischen
Damiette und Port Said belegene, mehr als 2000
Quadratkilometer bedeckende See Mensaleh, wo-
gegen der Befund bei mehreren anderen Küsten-
gewässern weniger befriedigend war. Die Firmen
beschlossen daher, den Betrieb zunächst auf den
erstgenannten See zu beschränken, und die Expe-
dition schloß mit einer größeren Anzahl einheimi-
scher Fischer Lieferungsverträge. Zur Konservie-
rung der eingelieferten Fänge mußten mit Rück-
sicht auf das Klima Unterägyptens besondere
Vorkehrungen getroffen werden. Es wurde daher
in der Nähe der Eisenbahnstation Mensaleh ein
umfangreiches Depot eingerichtet und dasselbe
mit Kellereien, Salzlagern, Eismaschinen usw.
ausgerüstet. Die zur Einlieferung gelangenden
Aale werden sortiert, geschlachtet, ausgenommen,
sauber gespült, gehörig mit Salz eingerieben und
dann in Fässern zwischen Eislagen verpackt, denen
etwas Formalin, ein in hohem Grade die Fäulnis
verhinderndes Mittel, zugesetzt wird. Die Fässer
werden mittels der Eisenbahn nach Alexandrien
überführt und unter Erneuerung der Eispackung
in den dortigen Kellereien der Firmen bis zur
weiteren Verladung nach Triest aufgespeichert.
Den Seetransport übernehmen die Schiffe des
Österreichischen Lloyd, worauf von Triest aus die
Weiterbeförderung nach Hamburg mit der Eisen-
bahn erfolgt. Obwohl die mehrmalige Umpackung
und -ladung die Transportkosten nicht unwesent-
lich erhöhen, stellt sicli der Preis der Fische am
Hamburger Markt durchweg niedriger als derjenige
für heimische Ware gleicher Art, weil in Ägypten,
wo Aale von der Bevölkerung wenig geschätzt
werden, der an die Fischer zu zahlende Preis 6 bis
8 Pfennige das Stück nicht übersteigt, die Fische
sich aber im allgemeinen durch Größe und Güte
auszeichnen. Die erste an den Hamburger Markt
gelangte Sendung umfaßte rund 1 5 000 Stück, die
schnellen und nutzbringenden Absatz nach dem
Inlande fanden. Sobald die ägyptischen Fischer
sich auf den P'ang der Aale besser eingerichtet
haben werden, wird die Einfuhr eine bedeutende
Steigerung erfahren können; jedenfalls rechnen
die Unternehmer mit wöchentlichen Sendungen
bis zu 150000 Stück.
Allerdings fehlt es z. Zt. noch an Erfahrungen
darüber, wie sich die Einfuhr der genannten
F"ische rentieren wird ; bei der Umsicht, Sorgfalt
und Sachkenntnis jedoch, mit welcher die gesamten
Vorarbeiten in Ostasien sowohl, als auch in Ägyp-
ten eingeleitet und durchgeführt worden sind,
läßt sich für die Rentabilität der Unternehmungen
das beste erhoffen. Sollten sich die gehegten
Erwartungen erfüllen, so sind die Unternehmungen
in volkswirtschaftlicher Hinsicht nicht zu unter-
schätzen, da es nur eine Frage der Zeit sein kann,
daß sie weiteren Kreisen zugute kommen werden.
C. Lund.
Wohl von jedem, der sich näher mit dem Staaten-
leben der Honigbiene beschäftigt hat, ist es als
eine der empfindlichsten Lücken unseres Wissens
empfunden worden, daß wir über die biologischen
Verhältnisse der Meliponiden , welche in einem
großen Teile der Tropen unsere Honigbiene ver-
treten, so wenig sichere Beobachtungen besaßen.
Es ist deshalb ein großes Verdienst von H. von I be-
ring, uns in einer kürzlich erschienenen ') Ab-
handlung über die Biologie der stachellosen
Honigbienen Brasiliens einen genaueren Einblick
in das Leben dieser Insekten gegeben zu haben.
Dauernder Aufenthalt in den Tropen ermöglichte
es Verf, eine bedeutende Menge von Material für
seine Untersuchung zu sammeln und zu verwerten,
und es seien deshalb im folgenden seine Ergeb-
nisse im einzelnen etwas eingehender besprochen.
Die in Südamerika vorkommenden Arten von
stachellosen Bienen gehören der Gattung Meli-
pona und Tri go na an, die sich bekanntlich von
den echten Honigbienen (der Gattung Apis) da-
durch unterscheiden, daß ihr Stachel verkümmert
ist, und daß die Absonderung der Wachsplättchen
an der Dorsalseite der Abdominalsegmente erfolgt.
Als typische Nestform ist das Baumnest anzusehen,
sein Aufbau ist kurz charakterisiert folgender (vgl.
Textfig. i). Die Baumhöhle, in welcher sich das
Nest befindet, ist oben und unten durch eine senk-
recht zur Achse des Stammes stehende Scheide-
wand, dassog.Batumen, abgeschlossen. Den äußeren
Zugang bildet das Flugloch, das sich nach außen
in eine Röhre oder trichterförmige Erweiterung
fortsetzen kann, nach innen durch einen kurzen
Gang zu dem eigentlichen Mittelpunkt des ganzen
Nestes, zu der Brutmasse, führt. Letztere ist außen
von konzentrischen Wachslamellen, dem Involucrum,
umgeben und besteht im Innern aus einer Anzahl
horizontal gelagerter Brutwaben, die sich ihrer-
seits aus kurzen, sechseckigen Zellen aufbauen.
Im oberen und unteren Teile der Höhle grenzen an
die Brutmasse die Vorratstöpfe an, große, kugelige
oder ovale Wachsgebilde, die teils mit Pollen teils mit
M In: Zoolog. Jahrbücher. Abteil, für System, etc. 19. Bd.
1903.
N. F. m. Nr. it;
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
235
Honig angefüllt werden. Für die Auswahl der
Nestanlage werden meist die mittleren und höheren
Partieen des Stammes bevorzugt, Melipona nigra
baut dagegen in der Regel am unteren Stamm
ihr Nest, Trigona fulviventris sogar in großen
hohlen Wurzeln. — Ein zweiter Nesttypus wird
durch die Erdnester dargestellt, die in einer Tiefe
von 2 — 4 m angelegt werden. Als Beispiel greifen
wir Trigona subterranea heraus (vgl. Textfig. 2).
Der zuführende Kanal verläuft in unregelmäßigen,
weiten Spiralvvindungen bis zu einer geräumigen,
halbkugelförmigen Höhle, deren Wände ebenso
wie die des Ganges geglättet und mit einer feinen
Wachsschicht überzogen sind. Durch einen 2 cm
breiten Zwischenraum von der Wand der Höhle
getrennt, liegt innerhalb derselben nun die eigent-
die Honigtöpfe und zum großen Teile auch die
Brutzellen aufgebaut. Zu den Brutwaben und dem
Invokicrum wird ferner eine wachsartige Substanz
benutzt, das sog. Cerumen, welches an der Flamme
nicht schmilzt, sondern unterteilweiser Verbrennung
verkohlt. Die Flugröhre besteht bei den Trigonen
gleichfalls aus Cerumen, ebenso die Batumenplatte,
der noch Harze und Pflanzengummi beigemischt
sind, bei den Meliponen dagegen besteht die letztere
aus Ton, ebenso wie die Umgebung des Flug-
loches und die Flugiöhre. Selbst beim Bau der
Honigtöpfc mischen die Meliponen Erde unter das
Wachs. — Das Flugloch ist bei den Meliponen
und einem Teil der Trigonen eine enge, runde
Öffnung, die nur eine Biene auf einmal durchläßt,
bei einzelnen Trigonen indessen ist sie stark er-
/-
Fig. I. Baumnest von Melipona.
f Flugloch, r Flugröhre, iü Brut-
waben , t Vorratstöpfe , in Invo-
lucrum, ba ßatumen.
Fie
liehe Nestmasse aus Wachs, durch kleine Wachs-
pfeiler gestützt und an der Wand befestigt. Die
Brutwaben, welche wiederum im Zentrum der
Nestmasse gelegen sind, sind nach außen von einem
dichten Gewirr feiner Wachslamellen umgeben, so
daß ein System anastomosierender Gänge ge-
schaffen wird, die den Arbeitsbienen zum VV'ohn-
räum dienen. Die Vorratstöpfe sind um die Nest-
masse in ringförmiger Zone angeordnet. — Neben
diesen beiden Nesttypen finden sich noch mancher-
lei andere, von denen vor allem noch die frei-
stehenden Nester hervorzuheben sind, wie sie bei-
spielsweise Trigona helleri aus Lehm, Wachs und
Pflanzenfasern auf Waldbäumen, Trigona ruficrus
in kugeliger Form auf Sträuchern anlegt.
Bei genauerer Betrachtung weist der Nestbau
bei den einzelnen Formen nun noch mancherlei
Besonderheiten auf. Von dem verwandten Material
ist Wachs das weitaus wichtigste, aus ihm sind
Erdnest von Trigona subterranea im Durchchnitt.
weitert und verlängert sich in eine cylindrische
oder trichterförmige Röhre. Die Scheidewände
(Batumen) können bei Melipona bis zu 12 cm dick
werden, ihr Bau unterbleibt, oder wird nur un-
vollständig ausgeführt, wenn eine natürliche Ab-
grenzung der Baumhöhle vorhanden ist. Das Innere
der Höhlung, deren Wände von Resten faulen
Holzes sorgfältig gereinigt, geglättet und mit einem
feinem Wachsüberzug bekleidet werden, wird nur
zum Teile von der Brutmasse und den Vorrats-
töpfen eingenommen, der Rest bleibt leer. Ein-
gehüllt ist die Brulmasse in das aus feinen Wachs-
lamellen sich zusammensetzende hivolucrum, da-
neben haben einige Nester, namentlich die frei-
stehenden, noch ein System härterer Lamellen, die
sog. Spongiosa, aufzuweisen, welche nach außen
von dem Involucrum liegen und im einzelnen ge-
wisse Besonderheiten aufweisen. Die Pollen- und
Honigtöpfe liegen im allgemeinen nach außen von
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 15
der Brutmasse, bei den Meliponen in der Regel
über und unter derselben, bei den Trigonen bald
seitlich davon, bald darunter, bald randständig.
Während weiter bei den Trigonen die Pollen- und
Honigtöpfe zuerst ziemlich unregelmäßig durch-
einander angeordnet sind, sind sie bei den Meli-
ponen, insofern die Pollentöpfe näher der Brut-
masse liegen, getrennt voneinander, was für die
Gewinnung des Honigs von großem Vorteile ist.
Die gegenseitige Anordnung der Töpfe ist eine
ganz unregelmäßige, sie bilden einen dicken, durch
Wachspfeiler an der Wand befestigten Klumpen
einzelner Töpfe, die regellos unter großer Ver-
schwendung von Baumaterial aneinander gefügt
werden, so daß die zentralen Teile sogar nur
unter Abtragung der peripheren Töpfe zugänglich
sind. Die Größe der Töpfe schwankt je nach
den einzelnen Arten von der Größe einer Erbse
bis zu der eines Hühnereies, ebenso schwankt die
Dicke der Wandung sehr beträchtlich. Große
dickwandige Töpfe werden wahrscheinlich als Dauer-
töpfe wiederholt benutzt (Meliponen), die dünn-
wandigen dagegen nach einmaliger Benutzung ab-
getragen (Trigonen). Den zentralen Teil des
Nestes nimmt die eigentliche Brutmasse ein, sie
setzt sich aus Waben zusammen, die unter nor-
malen Verhältnissen horizontal gelagert und durch
Pfeiler untereinander und an der Wand befestigt
sind. Nur einige Trigonen weichen von der hori-
zontalen Lagerung der Waben ab, insofern sie eine
kontinuierliche Wabenplatte spiralig um eine Achse
anlegen. Auch finden sich in den Brutwaben der
Trigonen in der Regel Öffnungen zwischen den
einzelnen Zellen, die zur Erleichterung des Ver-
kehrs zwischen den einzelnen Waben dienen. Be-
sonders hervorzuheben ist, daß bei den Meliponen
solche Durchgangsöffnungen niemals vorkommen.
Die einzelne Wabe besteht aus sechseckigen Zellen,
die in regelmäßigen Quer- und Längsreihen an-
geordnet sind, aus feinen Wachswänden sich zu-
sammensetzen und oben wie unten gedeckelt sind.
Sie dienen zur Aufzucht der Brut, werden stets
nur ein einziges Mal benutzt und sodann wieder
abgetragen.
Schließen wir hieran zunächst die Beobachtungen
des Verfassers über die Aufzucht der Jungen an. Jede
Zelle wird von oben her zur Hälfte mit dem
Futterbrei gefüllt, der im wesentlichen aus Pollen
besteht, eine gelbe Farbe besitzt und bei den ver-
schiedenen Formen eine wechselnde Konsistenz
aufweist. Die Zelle wird mit dem Ei besetzt und
sodann durch einen Deckel verschlossen. Das Ei
schwimmt auf dem oberen Rande des Futterbreis,
die ausschlüpfende Larve zehrt denselben völlig
auf, wobei sie sich frei bewegen kann, also mit
dem Kopfe bald nach unten, bald nach oben ge-
richtet ist, und geht schließlich in das Nymphen-
stadium über. Nun ist der Kopf stets nach oben
gewendet und die auskriechende Imago braucht nur
den über ihr befindlichen, dünnen Wachsdeckel zu
durchbeißen, um ins Freie zu gelangen. Die Waben,
aus denen reife Brut bereits ausgebrochen ist, zeigen
daher ausnahmslos die Zellen an der oberen Deckel-
seite geöffnet. Eine Fütterung der Larven
findet niemals statt.
Die Königin spielt im wesentlichen im Haus-
halte der Meliponiden dieselbe Rolle wie bei der
Honigbiene (Apis mellifica), weist aber im einzelnen
in ihrem Verhalten mancherlei Besonderheiten auf
Sie ist auch hier das einzige befruchtete Weib-
chen, welches Eier legt und dessen Leben sich
gänzlich innerhalb des Stockes abspielt. Dagegen
vermag sie nicht den Stock beim Ausschwärmen
zu begleiten, verhindert wird sie daran in erster
Linie durch die beträchtliche Größenzunahme ihres
Abdomens, die bei den Meliponen weniger augen-
fällig ist, bei einzelnen Trigonen dagegen bis zu
dem Vierfachen eines Arbeiters anwachsen kann.
Im ganzen macht die Königin einen sehr schwer-
fälligen Eindruck, zumal auch ihre Flügel im Neste
sehr bald abgenutzt und defekt werden. Ihr ge-
wöhnlicher Aufenthalt ist die Brutmasse, wo ihre
einzige Aufgabe darin besteht, die neu hergerich-
teten Zellen mit Eiern zu versehen. Die Arbeiter
kümmern sich im Gegensatz zur Honigbiene nur
sehr wenig um ihre Königin. Jungfräuliche Köni-
ginnen beunruhigen die alte Königin im Neste
nicht im mindesten, Verf. zählte deren bis zu vier-
undzwanzig , sie werden bei Melipona aus nor-
malen Arbeiterzellen erzogen, bei den Trigonen
dagegen aus wohlausgebildeten Weiselzellen. Diese
jungfräulichen Königinnen spielen eine sehr wichtige
Rolle im Stocke, insofern sie es sind, die mit einem
Teil des Schwarmes zur Gründung neuer Kolonien
ausziehen, d. h. also das Schwärmen übernehmen.
Leider ist dieser Vorgang nur sehr schwer zu be-
obachten, da die Vorbereitungen zu demselben
nur kurze Zeit dauern, und Verf. vermag deshalb
nur wenige Angaben im einzelnen darüber zu
machen. — Die Männchen werden stets in den
gleichen Zellen aufgezogen wie die Arbeiter, unter-
scheiden sich auch in der Größe kaum von den
letzteren, ihr Verhältnis zur Gesamtheit des Stockes
ist ganz dasselbe wie bei der Honigbiene, sie
werden sogar im Herbste in ganz ähnlicher Weise
aus dem Neste vertrieben.
Die Arbeitsbienen endlich besorgen die Ar-
beiten im Stocke, sie sind äußerst geschäftig und
beginnen im allgemeinen mit ihrer Tätigkeit schon
am frühen Morgen. Das Flugloch, welches einige
Trigonen des Nachts verschließen, ist stets von
Schildwachen besetzt. Ihre Hauptbeschäftigung
bildet indessen das Eintragen von Pollen und Lehm,
welche Substanzen an den Körbchen der Hinter-
beine festgeklebt und so transportiert werden. Die
Meliponen nehmen als eigene Nahrung nur Honig
ein, die Trigonen lecken dagegen auch pflanzliche
und tierische Säfte aller Art gierig auf, sie suchen
Exkremente, Aas und dergleichen auf und können
dem Menschen oft sehr lästig werden, indem sie
sich auf der Haut niederlassen, um den Schweiß
aufzusaugen. Bemerkenswert ist weiter ihr Ver-
halten beim Öffnen der Nester. Der Brasilianer
unterscheidet nach ihrem Verhalten gegenüber dem
N. F. III. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
237
Menschen zwischen „zahmen" und „wilden" Bienen,
je nachdem sie sich ohne Gegenwehr ihres Honigs
berauben lassen (i\Ieliponen), oder wütend über
den Angreifer herfallen (Trigonen). Sie stürzen
sich namentlich auf den Kopf des Feindes, wühlen
sich zwischen die Haare ein, dringen in Auge,
Ohr und Nase ein und verursachen durch Bisse
in die Haut kleine Wunden, von welchen die-
jenigen der Trigona cacafogo auch für den Menschen
wirklich schmerzhaft sind und erst nach längerer
Zeit heilen. Bei den Kolonisten heißen sie all-
gemein j.Haarvvickler", von denen die bösartigsten
die Trigonen mit freiem Nest und weiter Flug-
öffnung sind , sowie die Raubbienen. Letztere
finden sich häufig, sie dringen einzeln in fremde
Stöcke ein, um hier Honig zu rauben, oder über-
fallen sogar, wie Trigona dorsalis beispielsweise,
in Scharen andere Stöcke, aus denen sie unter
heftigen Kämpfen die alten Bewohner vertreiben,
um selbst von dem Stock Besitz zu ergreifen.
Die Stärke der Bienenvölker ist eine außer-
ordentlich verschiedene, sie schwankt bei Melipona
zwischen 500 — 4C00, bei Trigona zwischen 300
bis 80000 Individuen, doch mögen Nester von
Trigona mit über 100 000 Bewohnern vorkommen.
Dieses normale Leben des Bienenstockes wird
im Süden Brasiliens unterbrochen durch den Winter,
im Norden durch die sommerliche Regenzeit, und
für diese ungünstigen Jahreszeiten werden die reich-
lichen Vorräte aufgespeichert. Indessen tritt, da
die jahreszeitlichen LInterschiede hier nicht so
scharf ausgeprägt sind wie in Europa, eigentlicii
niemals eine völlige Ruhepause ein und die Arbeit
wird nie auf längere Zeit gänzlich unterbrochen.
Weiter bringt Verf. eine Reihe von Angaben
über die Zucht der Bienen, sowie über die Ge-
winnung des Honigs, der von den Brasilianern seit
alters her geschätzt wird. Das Wachs ist im all-
gemeinen sehr dunkel, es variiert bei den einzelnen
Arten von gelb bis dunkelbraun und findet haupt-
sächlich als Pfropfwachs Verwendung. Der Honig
ist sehr dünnflüssig und kann nur nach einer Vor-
behandlung durch Kochen längere Zeit aufbewahrt
werden, ohne zu verderben. An Geschmack kommt
derjenige der meisten Melipona-Arten dem euro-
päischen Bienenhonig gleich, übertrifft ihn sogar
an Aroma, bei den Trigonen ist er dagegen nicht
selten stark säuerlich, ja er vermag sogar bei ein-
zelnen Arten Vergiftungserscheinungen und Er-
brechen hervorzurufen. Durchschnittlich fand Verf.
Y2 — 2 1 Honig in einem Nest, doch sollen in
großen Nestern von Melipona nigra 10 — 15 1 und
mehr enthalten sein können. Überall trifft man
deshalb in Brasilien bei den Hütten der Wald-
arbeiter Mcliponen - Stöcke zur Honiggewinnung
aufgestellt, bald in primitiven Zuchtkästen, bald in
den natürlichen Baumklötzen. Indessen ist der
Ertrag dieser Stöcke sehr gefährdet durch Ameisen
und Raubbienen. Verf. spricht sich gegen eine
Einführung dieser Bienen in Europa aus, wie es
früher versucht worden ist, die Meliponiden stehen
unserer Apis niellifica nach in ihrer geringeren Wider-
standsfähigkeit, dem minder reichen Honigertrag,
in der VVertlosigkeit des Wachses und endlich
darin, daß es unmöglich ist, die Schwärme ein-
zufangen, wodurch eine rationelle Zucht sehr er-
schwert wird.
Zum Schlüsse wendet sich Verf einigen allge-
meineren, vergleichend-biologischen Betrachtungen
zu. Die Meliponiden zerfallen auch biologisch
scharf in die beiden Gattungen Melipona und
Trigona. Melipona zeigt äußerst einheitliche
biologische Verhältnisse, die charakterisiert sind
durch einfache, nicht mit Durchlässen versehene
Waben, durch reichliche Verwendung von Lehm
bei der Herstellung von Batumen und Flugloch,
sowie durch die geringe Größe der jungfräulichen
Königinnen, die nicht in besonderen Weisehviegen
aufgezogen werden. Weit mannigfacher in ihren
Lebensäußerungen tritt uns dagegen die Gattung
Trigona entgegen, wir haben drei verschiedene
Arten von Nestbau, wir finden Differenzen in der
Anlage der Flugröhre, in der Anordnung der
Waben und so fort. — In drei Punkten nament-
lich unterscheiden sich alle sozialen Bienen von
ihren solitären Verwandten: i. In der Differen-
zierung der weiblichen Individuen in unfruchtbare
Arbeiter und fruchtbare Königinnen ; 2. in der
Ausscheidung von Wachs und dessen Verwendung
zu Kunstbauten; 3. in der Ansammlung von Vor-
räten (Pollen und Honig). Für die Gattung Apis
kommen sodann als besondere (wahrscheinlich
sekundär modifizierte) Erscheinungen noch hinzu
das Offenbleiben der Brutzellen, die Fütterung der
Larven, der Bau von Doppelwaben sowie von be-
sonderen Weisel- und Drohnenzellen, das Einfüllen
des Honigs in Brutzellen. Apiden und Meliponiden
sind Zweige desselben Astes, und wenn auch, wie
Verf. hervorhebt, ein Vergleich analoger Verhält-
nisse bei beiden Gruppen nur mit einer gewissen
Einschränkung durchzuführen ist, so ist es doch
ganz zweifellos, daß die genaue Kenntnis der Bio-
logie der Meliponiden (sowie der tropischen Apiden)
zum völligen Verständnis des Staates der Honig-
biene unentbehrlich ist. J. Meisenheimer.
Über neue Asbest -Fundstätten. — Wer
kennt nicht die mannigfaltige Verwendung dieses
wichtigen Minerals: Geradezu unentbehrlich für
die Technik ist dieses Material geworden und
doch liegt seine allgemeine Anwendung kaum
ein Jahrzehnt hinter uns. Zu Dichtungen und
Packungen, Platten, Asbest-Tüchern und Seilen,
Filtern, Asbestfarben etc. etc. läßt sich dieser bild-
same Stoff verarbeiten. Seine Unverbrennlichkeit,
seine Widerstandsfähigkeit gegen Druck und gegen
Einwirkung heißer Gase, seine Unangreifbarkeit
durch Säuren und ätzende Flüssigkeiten, seine
selbstfettende Eigenschaft, sein schlechtes Leitungs-
vermögen für Elektrizität und Wärme, seine Form-
barkeit beim Zusammenkneten mit Wasser, seine
große Neigung, mit mineralischen Substanzen
cmail- und kittartige Verbindungen einzugehen,
seine leichte Verfilzbarkeit (worauf unter anderem
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 15
die Herstellung der Superatorplatten beruht), sein
geringes spezifisches Gewicht — das sind im
wesentlichen die Eigenschaften, auf welchen seine
technische Verwertung beruht.
Von neueren Erzeugnissen sei das Asbest-
porzellan genannt, welches dadurch erhalten wird,
daß feinst gepulverter und mit Säuren behandelter
Asbest in Kapseln eingeschlossen und dann einer
hohen Temperatur ausgesetzt wird. Man erhält
so eine weiße, dem Porzellan an Durchschein nahe
kommende Masse, welche sich vorzüglich als
Filtriermaterial eignet, indem sie Bakterien und
Verunreinigungen zurückhält. Außerdem bietet
das Asbestporzellan dem Durchgange des elek-
trischen Stromes einen viel geringeren Widerstand
als Biskuitporzellan dar und dürfte daher als
Diaphragma bei der Elektrolyse der Alkalichloride
von Bedeutung sein.
So sehen wir, daß der menschliche Erfindungs-
geist dem Asbest immer neue Verwendungs-
gebiete erschließt. Der Asbest ist bekanntlich
eine Varietät der Hornblende, ein Silikat, dessen
Kieselsäuregehalt gewöhnlich zwischen 39 und
49 Proz. schwankt.
Der in der Technik verarbeitete Asbest ist
zum allergrößten Teil kanadischer oder italienischer.
Der beste kanadische Asbest wird in Asbest-
gruben gewonnen, welche ausschließliches Eigen-
tum der „Boston - Asbestos - Packing Cie." sind.
Gewöhnlicher Asbest muß oft wegen anhaftender
Verunreinigungen einer reinigenden Operation mit
Salzsäure unterzogen werden, wobei jedoch Spuren
von Salzsäure auch bei sorgfältigstem Waschen
nur zu leicht im Asbest zurückbleiben und
bei seiner Verwendung zu Verpackungen und
Stopfbüchsen etc. das Metall angreifen. Der ge-
wöhnliche italienische (namentlich der korsikani-
sche) Asbest ist wegen seiner zu kurzen und, in-
folge größeren Tonerdegehaltes, brüchigen F"aser
zum Verspinnen untauglich. Dagegen liefern die
oberitalienischen Gruben bei Mailand lim Val
Tellino, Val d'Aosta) ebenfalls eine ausgezeichnete
Ware. Da der Verbrauch an Asbest in den
letzten Jahren außerordentlich gestiegen ist, so
hat man vielfach nach neuen Fundstellen dieses
wertvollen Materials geforscht. Neuerdings war
man so glücklich in Finnland mächtige Lager auf-
zufinden. Die Anwesenheit von Asbest war zwar
schon seit einigen Jahren bekannt, doch hat es
längerer Zelt und nicht unbedeutender Anstrengung
bedurft, die asbestführende Zone zu erkennen und
festzulegen. Unter den enormen Massen der Ab-
lagerungen kieselsaurer Magnesia in Finnland
kommen doch nur wenige P'undstätten für die
Gewinnung des Asbestes in Frage. Der sich an
diesen Stellen vorfindende Reichtum an Asbest
übertrifft allerdings alle Erwartungen , denn das
Asbestgestein kommt hier nicht in schmalen
Adern und Säumen, sondern in ganzen Felsen
und Gebirgen vor. Die Fundstätten liegen teil-
weise direkt am schiffbaren Wasser, in der Haupt-
sache aber in 30 — 35 km Entfernung vom Seen-
becken , das über Wiborg Verbindung mit dem
Meere hat. Dr. Edgar Odernheimer.
Eine Methode zur Erzeugung hoher Vakua
für die chemische Destillaton beschreibt Ernst
Erdmann in den „Berichten der Deutschen
Chemischen Gesellschaft" (Jahrg. XXXVI, pag.
3456 ff.). Die Wichtigkeit der Vakuumdestillation
für die Chemie ist zu bekannt, als daß ich näher
darauf einzugehen brauchte. Bisher benutzte man
zur Erzielung des Vakuums die einfache Wasser-
strahlpumpe, mit der man aber kaum einen ge-
ringeren Druck als 8 mm erreichte. Ernst Erd-
mann teilt nun ein Verfahren mit, das, auf einem
von Emil Fischer und Harries angegebenen Prin-
zipe beruhend, ganz vorzügliche Resultate zu liefern
scheint. Die Methode ist etwa folgende:
Zunächst wird aus dem Destillationsapparat
mit einer gewöhnlichen Wasserstrahlpumpe die
Luft zum größten Teil entfernt, dann wird aus
einem mit Marmor und Salzsäure beschickten
Kipp'schen Apparat durch Schwefelsäure und
Chlorkalzium gut getrocknete Kohlensäure einge-
leitet, wieder ausgepumpt usw. Dies wird einige
Male wiederholt, um möglichst alle Luft aus dem
Apparate zu verdrängen. Zuletzt wird auch die
Kohlensäure bis auf etwa 20 — 25 mm Druck aus-
gepumpt. Ist nun irgendwo in den Apparat ein
kleines Gefäß eingeschaltet und taucht man dieses
Gefäß in flüssige Luft, so kondensiert sich die
Kohlensäure in dem Gefäß, und der Druck sinkt in
dem Apparate innerhalb einer Minute von 20 mm
auf 0,1 mm und noch weniger, da die Tension
des Kohlendioxyds bei der Temperatur der flüssi-
gen Luft (ca. — 190") außerordentlich gering ist.
Offenbar ist für das Gelingen der Methode erfor-
derlich, daß die Kohlensäure frei von anderen
Gasen ist, die eine größere Spannung haben. Da-
her ist die in Bomben in den Handel gebrachte
verflüssigte Kohlensäure nicht geeignet, weil sie
eine ziemliche Menge Luft in gelöstem Zustande
enthält (0,75 Vol. p. Ct.).
Auf die angegebene Weise erhielt Ernst Erd-
mann leicht Vakua von 0,1 mm; der niedrigste
Druck, den er abgelesen hat, betrug nur 0,026 mm ;
die Tension der Kohlensäure bei der Temperatur
der flüssigen Luft beträgt also höchstens o,02Ö mm,
wahrscheinlich aber, so meint Erdmann, noch
weniger.
Das Kühlgefäß kann sehr klein sein; bei einem
Gesamtvolum des Destillationsapparates von 1,3 1
genügte ein Kühlgefäß von 10 ccm Inhalt und
25 qcm Kühlfläche.
Die Methode hat den Vorzug der größten
Einfachheit; sie erfordert keine kostspielige Appa-
ratur und ist überall dort zu verwenden, wo
flüssige Luft zur Verfügung steht, welche ja jetzt
in vielen Großstädten technisch hergestellt und
für billiges Geld verkauft wird; in Berlin kostet
z. B. bei der Gesellschaft für Kühlhallen i 1
flüssiger Luft nur 1,50 Mk. Mg.
N. F. in. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
?39
Bücherbesprechungen.
Dr. H. Röttger, Ober-Inspektor der Königlichen Unter-
suchiingsanstalt für Nahrungs- und Genußmiltel zu
Würzburg, Kurzes Lehrbuch der Nahrungs-
mittel-Chemie. Zweite vermehrte und ver-
besserte Auflage. Mit 21 .Abbildungen. Leiiizig,
Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1903. —
Preis II Mk.
Das sehr zweckdienliche Buch bespricht nicht zu
weitschweifig und auch nicht zu kurz, dabei klar und
übersichtlich die wichtigsten Tatsachen der Nahrungs-
mittelchemiu mit Weglassung alles Überflüssigen und
Veralteten. Größere Lehrbücher, wie z. B. das aus-
gezeichnete Werk von J. König, sind nicht jeder-
mann stets zugänglich, für den Studierenden aber zu
weitläufig. Das vorliegende Buch soll ein kurzer Leit-
faden sein für den Studierenden der Hochschule, ein
Ratgeber für den Praktiker; vielleicht kann es auch
die Aufgabe des mit dem praktischen Unterrichte Be-
trauten vielfach erleichtern, den Verwaltungs- und
Justizbehörden manche Auskunft erteilen.
Das Lehrbuch enthält zunächst die Grundzüge der
Ernährungslehre; sodann werden die animalischen und
vegetabilischen Nahrungs- und Genu(3mittel, schließ-
lich Wasser und Luft behandelt.
Die Besprechung der einzelnen (jegenstände um-
faßt die Charakreristik derselben, ihre Gewinnung,
normale Zusammensetzung, ihre Ausnutzbarkeit im
menschlichen Körper, die eventuellen Veränderungen
derselben bei ihrer Zubereitung, ihre Verunreinigungen
und Verfälschungen, ihre Untersuchung und Beurteilung
mit Berücksichtigung der einschlägigen Gesetze und
Verordnungen.
In der 2. Aufl. sind u. a. insbesondere die Ver-
einbarungen zur einheitlichen Untersuchung und Be-
urteilung von Nahrungs- und Genutimitteln für das
Deutsche Reich, sowie die amtlichen Vorschriften für
die LTntersuchung von Wein, Fetten etc. verwendet
worden. Wie die Erfahrung zeigte, waren einzelne
Untersuchungsmethoden in der i. Auflage für den
angehenden Nahrungsmittelchemiker zu kurz beschrie-
ben ; diese Methoden haben nunmehr eine ausführ-
lichere Behandlung erfahren. Die Technologie der
Nahrungs- und Genußmittel wurde eingehender be-
sprochen. Endlich wurde durch möglichst vollständige
Angabe der wichtigsten Literatur, durch Hinw-eise auf
Sammelreferate dem Leser des Buches Gelegenheit
gegeben, sich selbst über die einzelnen Gebiete weitere
Belehrung zu holen.
von den Gesteinen, welche dem Nichtfachmann zur
ersten Orientierung dienen soll. Bei der großen Be-
deutung der chemischen und mikroskopischen Unter-
suchungen für die heutige Petrographie durften die
Resultate derselben nicht übergangen werden.
Dr. W. Bruhns, a. o. Professor an der Lhiiversität
Straßburg, Petrographie. Mit 15 Abbildungen.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung in Leipzig 1903.
— Preis gebunden 80 Pf.
In dem vorliegenden Bändchen der Sammlung
Göschen wurde versucht, die wichtigsten Lehren der
Petrographie in möglichst kurzer und leichtfaßlicher
Weise darzustellen. In Anbetracht des verhältnismäßig
geringen zur Verfügung stehenden Raumes kann und
will die Arbeit natürlich nichts anderes sein, als eine
auszugsweise Wiedergabe unseres gegenwärtigen Wissens
Dr. Reinhold Reinisch, Petrograph isch es Prak-
tikum. Zweiter Teil: Gesteine. Mit 22 Text-
figuren. Berlin, Verlag von Gebrüder Bornträger,
1904. — Preis geb. 5 Mk. 20 Pf
Der erste Teil des Praktikums behandelte die ge-
steinbildenden Mineralien, der vorliegende zweite soll
ein Hilfsbuch zur Einführung in die Gesteinsunter-
suchung sein, kein Lehrbuch der Petrographie ; es
enthält daher auch keine zusammenhängenden Ab-
schnitte über Gegenstände der allgemeinen Petro-
graphie, sondern bringt die einzelnen Tatsachen je
bei einem geeigneten Objekt zur Sprache. Die Kenntnis
der petrographischen Grundbegrifte ist vorausgesetzt.
Das Buch umfaßt Eruptivgesteine, Sedimente und
kristalline Schiefer. Die Anordnung der Eruptiv-
gesteine erfolgt im wesentlichen nach dem Zirkel'schen
System als dem praktischsten, für die Einführung in
das Gesteinsstudium und besonders auch für das Be-
stimmen von Felsarlen geeignetsten. Alkalikalk- und
Alkaligesteine sind bei den betreffenden Arten streng
geschieden, auch seltene, aber in Hinblick auf Spal-
tungsvorgänge u. dgl. wichtige Gesteine herangezogen
worden. Eine besondere Gruppe von Orthoklas-Plagio-
klasgesteinen wurde nicht aufgestellt, aber allenthalben
auf sie hingewiesen.
Die kristallinen Schiefer schließen Abkömmlinge
von Eruptivgesteinen aus, soweit dies heute möglich
ist. Derartige Gesteine sind als Flaser- und Schiefer-
facies denjenigen Eruptivgesteinen angefügt worden,
von welchen sie zweifellos abstammen. Die beiden
Hefte sind sehr zu empfehlen.
Prof Dr. Harperath, Sind die Grundl agen der
heutigen Astronomie, Physik, Chemie
haltbar? Mit 2 Tafeln. 67 Seiten. Berlin 1903,
Mayer u. Müller. — Preis i Mk.
Von einem o. Professor der Chemie sollte man
erwarten, die im Titel genannten Fragen mit ja be-
antwortet zu hören. Dem ist aber nicht so, vielmehr
hat Verf. im vorliegenden Vortrag der Naturforscher-
versammlung zu Kassel verkündet, daß die Wissen-
schaft bis jetzt falsche Bahnen gewandelt ist. Licht
und Wärme empfangen wir nicht durch Ätherwellen,
sondern durch elektrochemische Wirkungen, was eine
Weiterbildung der Ansichten von Berzelius sein soll.
Andererseits haben die Astronomen Koppernikus Un-
recht getan, wenn sie dessen vermeintliche Drehung
der Erdachse auf einem Kegelmantel zur Erklärung
der Jahreszeiten für überflüssig erklärten und viel-
mehr die während des ganzen Jahres sich selbst
parallel bleibende Stellung der Erdachse aus dem Be-
harrungsvermögen ableiten. Die Zeitgleichung kommt
nach dem Verf durch eine ungleich schnelle Achsen-
drehung der Erde in verschiedenen Jahreszeiten her-
aus. Es hieße, den Raum dieser Spalten vergeuden,
wollten wir den Ideen des Verf bis zur x\bleitung
240
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. i;
der Titius-Bode'schen Reihe als einer notwendigen
Folge seiner Naturauffassung folgen. Nur dem, der
seine kosmischen und physikalischen Begriffe von
Grund aus in Verwirrung bringen möchte, könnten
wir das Studium der Schrift empfehlen.
Dr. phil. et med. Carl Oppenheimer, DieFermente
und ihre Wirkungen. 2. neubearbeitete Aufl.
F. C. VV. Vogel in Leipzig 1903. — Preis 12 Mk.
Die Kenntnis der Fermente hat nicht nur prak-
tisches, sondern auch eminent wissenschaftliches Inter-
esse, spielen sie doch in ihren Wirkungen beim Lebens-
prozeß hervorragende Rollen.
In der Neu-Auflage hat sich Verf wesentlich auf
den Ostwald'schen Standpunkt gestellt, daß die Enzym-
reaktionen zu den katalytischen gehören, jedoch betont
Verf, daß die Fermente innerhalb des Rahmens der
katalytischen Reaktionen doch noch Besonderheiten
zeigen, die eine etwas abweichende Stellung derselben
bedingen. Verf ist den Fortschritten überall gefolgt ;
neu hinzugekommen ist ein Kapitel über Fibrin-
ferment.
Litteratur.
Abbe, Ernst: Gesammelte .Abhandlungen. I. Bd. Abhand-
lungen üb. die Theorie des MiUroskops, m. 2 Taf. u. 29
Kig. im Text u. i Portr. d. Verf. (VIII, 486 S.) gr. 8°.
Jena '04, G. Fischer. — 9 Mk. ; geb. 10 MU.
Ahrens, Prof. Dr. Fei. B. : Handbuch der Elektrochemie. 2.
völlig neubearb. Aufl. (X, 686 S. m. 293 Abbildgn.) gr. 8".
Stuttgart '03, F. Enke. ^ 15 Mk.; geb. in Leinw. 16,20 .Mk.
Bauer, Prof. Dr. Ma.\: Lein buch der Mineralogie. 2. völlig
neubearb. Aufl. (Xll, 924 S. m 670 Fig.) gr. 8». Stutt-
gart '04, E. Schweizerbart. — 15 Mk.
Broesike, Prosekt. Dr. Gust. : Lehrbuch der normalen Ana-
tomie des menschliclien Körpers. 7., m. Berücksicht. der
neuen Nomenklatur neu bearb. Aufl. (XIV, i<oi S. m. 50
Abbildgn. u. 2 Taf.) gr. S". Berlin '04, Fischer's medizin.
Buchh. — 16 Mk. ;geb. 18 Mk.
Gattermann, Prof. Dir. Dr. Ludw. : Die Praxis des organi-
schen Chemikers. 6., verb. u. verm. Aufl. (X, 342 S. m.
91 Abbildgn.) gr. S". Leipzig '04, Veit & Co. — Geb.
in Leinw. 7 Mk.
Gobineau, Graf: Versuch üb. die Ungleichheit der Menschen-
raccn. Deutsche Ausg. v. Ludw. Schemanu. 4. (Schluß-)
Bd. 2. Aufl. (XLII, 380 S.) gr. 8'>. Stuttgart '03, F.
Frommann. — 4,50 Mk. ; geb. 5,50 Mk.
Groos, Prof Dr. Karl: Das Seelenleben des Kindes. .Aus-
gewählte Vorlesgn. (V, 229 S.) gr. 8". Berlin '04, Keuther
& Reichard. — 3 Mk. ; geb. 4 Mk.
Kassovi;itz, Prof. Dr. Ma.\ : Allgemeine Biologie. 3. Band.
Stoff- u. Kraftwechsel des Tierorganismus. (Vll , 442 S.)
gr. S^. Wien '04, M. Perles. — 10 Mk. ; geb. in Leinw.
12 Mk.
Kirchner, O., E. Loew u. C. Schröter, Proff. DD. : Lebens-
gesclüchte der Blutenpflanzen Mitteleuropas. Spezielle Öko-
logie der Blutenpflanzen Deutschlands, Österreichs und der
Schweiz, i. Bd. i. Lfg. Mit 71 Einzelabbildungen in 31
Figuren. (S. 1 — 96.) gr. 8". Stuttgart '04, E. Ulmer. —
3,60 Mk.
Kissling, Dr. Ernst: Die schweizerischen Molassekohlen west-
lich der Reuß. Mit 3 (färb.) Taf. (Vlll, 76 S. m. Fig.)
Bern '03, A. Francke in Komm. — 4 Mk.
Koninck, Ingen. Prof Dr. L. L. De: Lehrbuch der qualita-
tiven u. ijuantitativen Mincralanalyse. Deutsche Ausg., unter
Mitwirkg. v. Prof De Koninck bearb. v. Prof. Vorst. Dr.
C. Meineke. 2. Bd. Nach dem Tode des Bearbeiters der
deutschen Ausg. hrsg. v. Dr. A. Westphal. (XXlll, 720 S.
m. 89 Fig.) gr. 8". Berlin '04, R. Mückenberger. — 16 Mk.
Klein, Prof. Dr. Herm. J. : Führer am Sternenhimmel für
Freunde astronomischer Beobachtungen. Mit 7 Tafeln in
Lichtdr., Lith. u. Chromodr. , sowie zahlreichen Abbildgn.
im Text. 2. verb. .Aufl. (IV, 431 S.) gr. 8". Leipzig '03,
E. H. Mayer. — 8 Mk. ; geb. 9 Mk.
Merkel, Prof Dr. Fr.: Handbuch der topographischen Ana-
tomie. Zum Gebrauch f. Ärzte. III. Bd. i. Lfg. (244 S.
m. z. Tl. färb. Abbildgn.) gr. 8". Braunschweig '03, F.
Vievveg & Sohn. — 9 Mk.
Nernst, Prof Dr. Walth.: Theoretische Chemie vom Stand-
punkte der Avogadroschen Regel und der Thermodynamik.
4. Aufl. (XIV, 750 S. m. 30 Abbildgn.) gr. 8". Stuttgart
'03, F. Enke. — 16 Mk.; geb. in Leinw. 17,60 Mk.
Briefkasten.
Zur Frage auf Seite 160 unten in der Naturwissenschaft-
lichen Wochenschrift sind uns freundlichst 2 .Antworten zu-
gegangen :
I. Zur Beleuchtung von Wandtafeln bei Vor-
trägen ist Petroleumglühlicht sehr brauchbar, muß aber
einigermaßen' überwacht werden, damit es nicht zu rußen an-
fängt. Spiritusglühlicht wird wohl ebenso gut und beim
Transport reinlicher sein. Ganz vorzüglich in der Lichtstärke
ist das Mita-Reform-Licht von Siegel und Butziger in Dresden,
ein Spiritus-Preßgas-Licht mit ziemlich kleinen, aber sehr dichten
Glühstrümpfen, das auch im Projektionsapparat sehr brauchbar ist.
Das Licht rauscht zwar etwas, doch gewöhnt man sich in
wenigen Minuten so an dieses ganz gleichmäßige Geräusch,
daß es auch beim Vortrage nicht stört. Den Glühstrumpf
kann man bei einiger Geschicklichkeit nach dem Gebrauch
abheben und mit Stabiltunkc von R. Schering, Berlin, Chaussee-
straße 19, (kg 1.40 Mk.) tränken, er ist dann nach dem
Trocknen dieses Überzuges wieder völlig transportfähig.
W. Volkmann.
Karten und Wandtafeln kann man sehr gut mit dem
Lichtkonus einer Projektionslampe beleuchten. Als Lampe
benutzte ich einmal in einem Dorfe das Auer'sche Licht; statt
Gas wurde Alkohol verbrannt. Der Spiritus ist in einem
Blechbehälter enthalten. Das Ganze gleicht einer gewöhn-
lichen Petroleumlampe. Die Beleuchtung ist dann derjenigen
der Auergaslampe gleich. Die Lampe gehört dem Departe-
ment de rinslruction publique in Neuchätel Suisse.
Dr. Robert Tissot, Chaux-de-fonds, Suisse.
Herr M. L. in II. — Sie schreiben: „Welche Zeitschriften,
Zeitungen etc. vermitteln den Kauf von (frischen oder doch
noch nicht zubereiteten) Tierfellen ev. frisch geschossenen
Tieren? Es kommt mir nämlich darauf an, einen europäischen
Luchs, — ehe diese ganz aussterben — zum Ausstopfen zu
erhalten. Haben vielleicht die Rauchwarenhändler eine bezügl.
Zeitung oder dgl. r"
Ich bemerke, daß l) derartige Zeitungen nicht vorhanden
sind ; 2) die Rauchwarenhändler zwar eine Zeitung haben,
die Ihnen aber nichts nutzen würde und 3) die Vermittlung
für solche Anliegen durch Naturalienhandlungen gegeben ist.
.Am besten ist's, an diese die Bitte zu richten, den nächsten dort
in den Handel kommenden Luchs zu reservieren. Solche
Handlungen sind : W. Schlüter, Halle a. S., Wuchererstr. 8.
Linnaea, Berlin N., Invalidenstr. 105, J. N. Brunn, Trondhjem,
Fclsvarer engros & en detail, Strandgaden 37, (15 — 150 Kr.
pro Stück); V. Tric, Prag, Wladislawsgasse 2t a, J. F. G. Um-
lauft, Hamburg, Spielbudenplatz 8, Gust. Schneider, Basel,
Grenzacherstr. 67. Prof P. Matschie.
Inhalt: Dr. Weinhold: Übersicht über die verschiedenen Refraklionszustände des menschlichen Auges. — F. A. R o ß -
mäßler: Über Papieruntersuchung. — Kleinere Mitteilungen: C. Lund: Zur Versorgung des Inlandes mit See-
fischen. — H. von Ihering: Biologie der stachellosen Honigbienen Brasiliens. — Dr. Edgar Odern heimer: Über
neue Asbest-Fundstätten. — Ernst Erdmann: Eine Methode zur Erzeugung hoher Vakua für die chemische Destil-
lation. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Dr. H. Röttger: Kurzes Lehrbuch der Nahrungsmittel-Chemie.
— Dr. W. Bruhns: Pctrographie. — Dr. Reinhold Reinisch: Petrographisches Praktikum. — Prof Dr. Har p c -
rath: Sind die Grundlagen der heutigen .Astronomie, Physik, Chemie haltbar? — Dr. phil. et med. Carl Oppen-
heimer: Die Fermente und ihre Wirkungen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,I-^1^ NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion; Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 17. Januar 1904.
Nr. 16.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegcld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltenc Pelitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Heilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Schnecken als Parasiten.
Von Dr. C.
Man bezeichnet als Schmarotzer oder Parasiten
diejenigen Tiere, welche sich auf Kosten anderer
ernähren, wobei der Schmarotzer auf die Nahrung
angewiesen ist, die er von seinem Wirt erhalten
l<ann, weshalb er zu diesem in ein gewisses Ab-
liängigkeitsverliältnis tritt. Es gibt in räumlicher Be-
ziehung zw'ei große Abteilungen von Schmarotzern :
erstens solche, die auf der Körperoberfläche des
Wirtes leben (Ektoparasiten) und zweitens die,
welche im Innern (im Darm oder in anderen
Körperhöhlen) vorkommen, und die man als Binnen-
schmarotzer (Entoparasiten) bezeichnet.
Bekanntlich übt die Lebensweise eines Tieres
einen gewissen Einfluß auf seinen Körperbau aus, um
so mehr muß dieses der Fall bei den ScJimarotzern
sein, deren Lebensweise im Gegensatz zu anderen
Tieren eine überaus eigentümliche und vielge-
staltige ist.
Ektoparasiten, welche auf der äußeren Körper-
fläche leben, wie z. B. der Floh, die Mücke, die
Wanze, werden sich nicht so sehr von freilebenden
Insekten unterscheidin, als Binnenparasiten, wie
die im Darme lebenden Bandwürmer etc., da die
Daseinsbedingungen natürlich ganz anderer Natur
Tönniges.
sind als bei freilebenden Formen. Einmal muß
die ganze Organisation des Parasiten dem Innen-
leben angepaßt sein, weiterhin muß auch die Fort-
pflanzung einen ganz anderen Weg einschlagen,
um die Erhaltung der Art zu sichern.
Je einfacher ein Organismus gebaut ist, um so
leichter kann er natürlich auch seine ursprüngliche
Organisation ändern und sich dem parasitären
Leben anpassen. Aus diesem Grunde finden wir
unter den Wirbellosen die meisten, unter den
Wirbeltieren nur äußerst wenige Parasiten.
Die Weichtiere, welche im Reiciie der Wirbel-
losen eine hohe Stufe einnehmen, weisen infolge
ihrer hohen Organisation ebenfalls sehr wenige
Schmarotzer auf. Nur die Gruppe der Schnecken
besitzt einige dieser, ausschließlich auf Stachel-
häutern schmarotzenden Vertreter, welche ein ge-
wisses Interesse erwecken können, da an ihren
zahlreichen Organsystemen die weitgehendsten
\^eränderungen vor sich gehen müssen, bevor sie
für das parasitäre Leben geeignet erscheinen.
Einige dieser merkwürdigen und interessanten
Vorgänge zu verfolgen, wird der Zweck nach-
folgender Zeilen sein. Wir werden zuerst einige
242
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. III. Nr. i6
Schnecken betrachten, die als Ektoparasiten noch
sehr geringe Änderungen ihrer Gestalt aufweisen,
sondern noch ihre sämtlichen Schneckencharaktere
nahezu bewahrt haben. Dann kennen wir Schnecken,
die sich in einer Übergangsperiode von Außen-
zu Innenparasiten befinden, und deren Körper-
organisation schon sehr tiefgreifende V^eränderungen
erfahren hat. Schließlich treffen wir parasitäre
Schnecken in Holothurien (Seewalzen) an, die als
Entoparasiten so tiefgreifende Veränderungen er-
litten haben, daß man sie nicht mehr als Schnecken
erkennt, und man erst durch große aufgewandte
Mühe dahinterkam, wohin diese kleinen Schläuche
im zoologischen System zu stellen seien.
Interessante Blicke erhält man hier in das Ab-
hängigkeitsverhältnis tierischer Existenzen zuein-
ander; ganze Organsysteme werden der Zweck-
mäßigkeit halber rückgebildet, andere gewinnen
für den Parasiten eine größere Bedeutung als wie
bei freilebenden Formen.
Eigentümlicherweise schmarotzen alle bis jetzt
bekannten Schnecken auf Stachelhäutern (Echino-
dermen); ob dieses mit dem häufigen Vorkommen
der letzteren zusammenfällt, muß unentschieden
bleiben.
Die Schneckencharaktere sind bei den para-
sitären Formen entweder in geringerem oder
größerem Maße \-erloren gegangen oder umge-
wandelt worden.
Die Eulimaarten , welche auf der Haut von
Stachelhäutern herumkriechen und sich von dem
dort vorkommenden Schleim ernähren, sind noch
in ihrer Gestalt gewöhnliche Schnecken mit allen
Merkmalen derselben.
Diese Schneckengruppe ist für uns auch in-
sofern interessant, da sie die Übergangsstufen
bildet zu den echt parasitären festsitzenden Formen;
denn sie leben bald frei, bald kriechen sie auf dem
Stachelhäuter umher, oder sie werden auf der
Haut seßhaft und senken einen langen Rüssel durch
die Haut in die Leibeshöhle des Wirtes.
Gehäuse, Fuß etc. sind vorhanden; es fehlt
• den Tieren nur die Radula, jene Reibplatte in der
Mundhöhle der Schnecken, welche zur Zerkleine-
rung der Nahrungskörper gebraucht wird. Als
überflüssiges Organ ist es bei den Eulimaarten, da
die Tiere vom Schleim leben, rückgebildet worden.
Es ist dieses ein interessantes Beispiel, wie äußere
Lebensbedingungen nicht nur die äußere, sondern
auch die innere Organisation der Tiere beeinflussen
können.
Jedes Organ ist das getreue Spiegelbild seiner
funktionellen Leistung. Die Lebensbedingungen
geben den Organismen ihre Gestalt. Sobald ein
Organ durch die geänderte Lebensweise überflüssig
geworden ist, verfällt es dem Untergange; es wird
rückgebildet und andere zweckmäßigere Organe
treten dafür an seine Stelle. Die Reibplatte der
parasitären Schnecken muß als ein solches Organ
betrachtet werden.
Wir bemerken bei der Betrachtung des in Fig. i
abgebildeten Seesternes zwei parasitäre Schnecken,
von denen die eine mit Schale versehene zu den For-
men gehört, die nur wenig durch den Parasitismus
verändert sind (Thycaectoconcha). Diese Schnecke,
welche ihrer ganzen mützenförmigen Gestalt nach
zweifellos zu der Gruppe der Capuliden gehört,
besitzt nicht mehr die Fähigkeit, auf der Ober-
fläche des Seesternes frei herumzukriechen, sondern
Slilifcr
Fig. I. Secslcrn (Linckia) mit zwei parasitären Schnecken
beliaftet. Nacli Sarasin.
sitzt SO fest auf ihrer Unterlage, daß sie nur
schwierig gelöst werden kann. Wir haben auf
Fig. 2 eine solch losgelöste Schnecke bei stärkerer
Vergrößerung dargestellt. Die Schale des Tieres
ist weiß und glänzend und in der Längsrichtung
mit leistenförmigen Verdickungen verseilen (siehe
Abbildung).
Fig. 2. Tliyca ccloconclia. Nacli Sarasin,
Forschen wir nach der L^rsache, warum die
Schnecke so fest dem Seestern aufsitzt, so be-
merken wir auf einem Längsschnitt, welcher durch
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
243
das Tier und seine Unterlage geführt worden ist
(Abbildung 2 a), daß die Falten einer vom Schlund
durchbohrten Scheibe in die Haut des Seestcrncs
eingedrungen sind, um auf diese Weise eine feste
Verbindung der beiden Tiere herbeizuführen. Nach
früherer Auffassung sollte diese muskulöse Scheibe
aus dem F"uß hervorgegangen sein. Da jedoch
dieses Gebilde vom Schlund durchbrochen wird,
so ist es nur ein sog. „Scheinfuß" und ist in Wirk-
lichkeit der verdickte um den Mund herumliegende
Teil des Körpers, welcher diese Verwendung als
Haftorgan gefunden hat. Der eigentliche Fuß der
Schale
Darm
Scheinfuß
Haut des Seesterns Schnauze
Fig. 2a. Längsschnitt durch eine parasitäre Schnecke (Tliyca
ectoconcha), um die Art der Befestigung in der Haut des
Seesterns zu zeigen.
Schnecke liegt zum Teil als zurückgebildetes kleines
Organ hinter dem Scheinfuß, zum Teil ist er mit
zur liildung der muskulösen Scheibe verwandt
worden. Die Schnecke saugt vermittelst ihres
Rüssels die I.eibeshöhlenflüssigkeit ihres Wirtes
nach Art eines Blutegels auf Sie ist also ein
echter Parasit.
Nach der Ansicht anderer Forscher entspricht
der Scheinfuß dein wirklichen Prosobranchierfuß.
Es wurde bereits erwähnt, daß diese soeben
beschriebene Schnecke Verwandte besitzt, die eben-
falls auf Seesternen und Seeigeln leben, jedoch frei
beweglich sind, auf den Wirtstieren herumkriechen
und die Kieselschwämme etc., welche sich zwischen
den Stacheln festgesetzt haben, abweiden. Diese
Schnecken haben die bei Thyca ectoconcha
beschriebene muskulöse Schnauze nicht, sondern
sind vollständig normale Schnecken, die sogar
noch ihre Reibplatte im Schlünde besitzen.
Während die bislang erwähnten Schnecken aul
Grund ihrer mützenförmigen Schalenform und
weiterer anatomischer Merkmale keine tiefgehende
Veränderungen durch den Parasitismus erlitten
haben, so daß sie nicht als Schnecken bestiminbar
wären, weist die andere Gruppe, welche sich durch
hohes, turmartig gewundenes Gehäuse auszeichnet,
Formen auf die so stark durch den Parasitismus
verändert sind, daß ihre Bestimmung lange Zeit
groi-je Schwierigkeiten verursacht hat.
Zwischen den Stacheln gewisser Seeigel findet
sich eine Schnecke (M u c r o n al i a), die sich ver-
mittelst eines langen Rüssels an ihrent Wirte fest-
heftet, während mit ihr nahe verwandte Formen
noch frei auf den Seeigeln imiherkriechen. Die Schale
von Mucronalia (Fig. 3) ist spiralig gewunden.
Das Vorderende des Tieres ist dort, wo für ge-
wöhnlich der Kopf der Schnecke liegt, stark ver-
breitert und wird vom Schlünde, der in einen
langen Rüssel ausläuft (siehe die Abbildung) durch-
bohrt. Zwei kurze Tentakel mit Augen lassen
noch die Stelle erkennen, an der früher der Kopf
lag. Da dem Parasiten der ganze Schlundkopf
fehlt, so ist demgemäß auch keine Reibplatte vor-
handen. Der Fuß ist noch ziemlich gut ausge-
bildet. Vermittelst der scheibenförmig verbreiterten
Schnauze heftet sich die Schnecke auf dem See-
igel fest; der Rüssel durchbohrt das Kalkskelett
desselben , um aus dein Innern des Wirtes die
Leibeshöhlenflüssigkeit zu saugen.
Die Bestimmung dieser, durch den Parasitis-
mus noch wenig veränderten .Schnecke ist natür-
lich sehr einfach. Wir werden jedoch gleich
Schnecken, und sogar Vertreter derselben Gattung
kennen lernen, die ihre Schneckencharaktere nahe-
zu vollständig: \'erloren haben.
Scliale
A
Rüssel
Schnauze
Fig. 3. Mucronalia.
Eine nahe Verwandte von Mucronalia ist
für uns von besonderem Interesse insofern, als sich
auf der scheibenförmigen Verbreiterung der Schnauze
eine kranzförmige Hautfalte bildet, die, wie wir
gleich sehen werden, bei weiter vorgeschrittenem
Parasitismus eine große Rolle spielt.
Wir hatten bei Beginn unserer .Skizze einen
.Seestern abgebildet, welcher zwei verschiedene
Arten von parasitischen Schnecken enthielt. Die
eine mützenförmige hatten wir bereits eingehend
beschrieben, während wir der anderen, bei weitem
interessanteren Form (Stilifer Linckiae) noch
ein paar Zeilen widmen müssen. Wenn man die
betreffende Abbildung genauer betrachtet, so wird
man die Beobachtung machen, daß von der Schnecke
überhaupt nur die Spitze zu sehen ist und sie
selbst in einer kugeligen Anschwellung, die eine
anormale Bildung der Seesternhaut ist, steckt. Nur
vermittelst einer kleinen ( )ftnung steht die Schnecke
mit der Außenwelt in Verbindung. Trennt man
244
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. i6
die gallenförmige Auftreibung auf, so erhält man
einen Parasiten, dessen Schale von einem dicken,
fleischigen , tassenförmigen Mantel umgeben ist
(P'ig. 4). Da nun aber diese Hülle mit dem eigent-
lichen Mantel der Schnecken ijberhaupt nichts zu
tun hat, so wird sie als „Scheinmantel" bezeichnet
und entspricht der stark vergrößerten kranzförmigen
Hautfalte, die wir in ihrer Anlage bei der vorher-
Gehäuse der Schnecke
SclicinniaiUel
Fig. 4.
Rüssel
Stilifer Linckiae. Nacli Sarasin.
gegangenen Form (Mucronalia) angedeutet
haben. Der Scheinmantel ermöglicht jedenfalls
im gewissen Sinne die Atmung, indem er als
Pumpe gebraucht wird, um das Atemwasser im
Innern der Schnecke beständig zu erneuern. Der
Mund der Schnecke ist, wie aus der Fig. 4 hervor-
geht, zu einem langen Rüssel ausgewachsen, der
in das blutreiche Gewebe, welches zwischen der
Kalkschicht und der Leibeshöhlenwand liegt, ein-
dringt, um die Leibeshöhlenflüssigkeit des See-
sternes aufzusaugen. Der Darm geht in den Rüssel
hinein, an der Basis des letzteren liegen zwei
Tentakel, welche an ihrem Grunde Augen tragen.
Früher nahm man an, daß der lange Rüssel zurück-
ziehbar wäre, was jedoch in neuerer Zeit von ver-
schiedenen Autoren verneint wird.
l'"ig. 5. Stilifer Linckiae nach Entfernung des Schcinmanlcls.
Nach Sarasin.
Die wichtigsten inneren Organe sind wie bei
einer normalen Schnecke ähnlich oder überein-
stimmend ausgebildet.
Wird der Scheinmantel entfernt, so tritt uns
ein völlig normales Schneckeiigehäuse entgegen
(Fig. 5). Trotzdem wir in dieser Gattung Stilifer
verhältnismäßig ausgebildete Schnecken vor uns
haben, fehlt ihnen doch unter anderem die Reib-
platte: ein Hauptcharakteristikum der Schnecken.
Wie der Leser bemerkt haben wird, tragen die
besprochenen Schnecken einen mehr und mehr
ausgeprägten ]3arasitären Charakter. Von den
vollständig freilebenden Formen, von deren Be-
sprechung wir abgesehen haben, sahen wir nahe
Verwandte, die wohl auf Seesternen und Seeigeln
leben, um die zwischen den Stacheln befindlichen
Pflanzen- und Tierreste zu verzehren, die aber als
echte Parasiten nicht bezeichnet werden konnten,
da sie ihre Nahrung nicht aus dem Wirte selbst
nahmen. Doch bald begannen die Schnecken sich
vermittelst eines langen Rüssels an ihrem Wirte
festzuheften. Dieser drang in die Gewebe des
Körpers ein und dadurch wurde die Schnecke zu
einem wirklichen Autüenparasiten. Reibplatte und
Schlundkopf wurden dadurch überflüssig und rück-
gebildet. Der Parasit sinkt dann allmählich in
die Körperwand des Wirtes ein, während gleichcr-
zeits eine Randpartie der Schnauze in Form eines
Kdrpcrwand des Wirtes
Fuiidrüse.
- * 'varuim
Sclieinmantel
Leberdarm
■'*» Mund
Fig. 6. Enlocolax Ludwigii. Nach Voigt.
Mantels die ganze Schale bis auf einen Teil der
Spitze umwuchert. Es findet demnach eine fort-
schreitende Verlagerung der Schnecke von der
Haut des Seesternes oder Seeigels in das Innere
dieser Tiere statt, und wir werden gleich Schnecken
kennen lernen, die tatsächlich völlig im Innern,
entweder im Darm oder in der Leibeshöhle ihrer
Wirte leben. Dadurch gehen natürlich die weit-
gehendsten Umgestaltungen an diesen Parasiten vor
sich, so daß sie nahezu ihre sämtlichen Schnecken-
charaktere verloren haben.
Vor allem geht die für einen Innenparasiten
höchst hinderliche Schale verloren, wodurch der
Hauptcharakter der Schnecken nicht mehr vor-
handen ist. Ebenso wird die Form wie die ganze
Organisation so stark modifiziert , daß es über-
haupt unmöglich gewesen wäre, die Tiere zu be-
stimiTicn, wenn nicht von einer Form typische
Schnecken la rve n festgestellt worden wären.
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
245
Körperwand des Wirtes
Die beiden Formen von Innenparasiten, welche
wir hier besprechen wollen, schmarotzen in der
Leibeshöhle von Seewalzen. So lebt E n t o c o 1 a x
Ludwigii (Fig. 6) in der Leibeshöhle einer See-
walze (My riotrochus Rinkii), wo das Tier
mit dem einen Ende des wurmförmigen Körpers
an der Leibeswand des Wirtes befestigt ist (siehe
Fig. 6). Der Parasit sitzt mit dem Hinterende
vermittelst der Fußdrüse fest, während das Vorder-
ende frei in die Leibeshöhle hineinragt. Der wurm-
förmige Körper besitzt an seinem Vorderende die
Mundöffnung. In dem gewundenen Vorderteil
liegt der Darm, welcher keine deutliche Unter-
scheidung der Magenabteilung zuläßt.
Das Hinterende, welches
von dem zurückgestülpten
Scheinmantel bekleidet wird,
birgt in seinem Innern das
Geschlechtsorgan , welches
beim Weibchen durch be-
trächtliche Größenzunahme
der Eier stark anschwellen
kann (Fig. 6). Wie man
sieht , sitzt der Parasit ver-
mittelst der Fußdrüse an
der Körperwand fest. Dies
wurde zwar in neuerer Zeit
mehrfach bestritten, scheint
aber doch auf Richtigkeit
zu beruhen.
Wie man aus der Ab-
bildungersieht, ist die Schale
vollständig verschwunden,
und je mehr die Schnecke
in das Innere ihres Wirtes
einsinkt, um so vollständiger
verschwinden die .Sinnes-
organe, die Mantelhöhle mit
den Kiemen usw. Weiter
hin büßt der Darm seinen
Enddarm und After ein; die
Verdauungsdrüse wird zu
einem einfachen Sack , der
dem Darme anhängt. Na-
türlich fehlen bei dieser Form
auch Schlundkopf und Reib-
platte.
Auf diese Weise findet
eine allmähliche Rückbildung gewisser Organe
oder wie bei der Schale, dem Schlundkopf und
derRadula, ein vollständiger Schwund derselben statt.
Eine starke Umwandlung der ganzen Organi-
sation weist unter den bis jetzt bekannten para-
sitären Schnecken Enteroxenos auf (Fig. 7),
welcher ebenfalls in einer Seewalze vorkommt.
Mit dem einen Ende ist das Tier am Darm des
Wirtes befestigt , während das andere frei in der
Leibeshöhle flottiert. Alles Schneckenartige ist bei
dieser Form nach Verlust der Schale so voll-
kommen verwischt, daß nur aus den beschälten
Embryonen ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe
festgestellt werden kann. Diese im Brutraum von
Fig. 7. Enteroxenos.
Enteroxenos enthaltenen Embryonen besitzen
eine spiralig gewundene Schale, in die der Körper
zurückgezogen werden kann ; weiterhin haben sie
mehrere typische Schneckencharaktere, so daß sie
unzweifelhaft als solche aufgefaßt werden müssen.
Leider ist über die Entwicklung und Lebens-
geschichte dieser parasitären Schnecke sehr wenig
bekannt.
Der Vergleich der mit Schale versehenen
Außenparasiten (S t i 1 i f e r - und T h y c a arten) mit
Schale
'^'^hnauze
Körperwand
des Wirtes
r
Rüssel
Fis. 8.
Scliale
Scheinmantel
Körperwand
des Wirtes
Rüssel
Fig. 9.
dem soeben beschriebenen Innenparasiten ist sehr
schwierig, da die Zwisc hen forme n nicht
bekannt sind. Man hat mehrfach versucht,
die fehlenden Glieder zu konstruieren, und ich
kann es mir nicht versagen, ein paar dieser hypo-
thetischen Übergangsformen dem geneigten Leser
in Wort und Bild vorzuführen (Figg. 8 — ll).
Wie Schnecken dazu kommen können, bis in
die Leibeshöhle des Wirtes einzudringen, können
uns die beiden vorher beschriebenen Formen
Thyca (Fig. 2) und Stilifer (Fig. 4) zeigen.
246
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 16
Die erste Schnecke lebt noch vollständig auf der
äußeren Haut des Seesternes. Stilifer sitzt
bereits tief in einer von ilim hergestellten Höhlung
der Haut. Wir sahen, dafi nur eine dünne Haut-
schicht den Rüssel des Tieres von der darunter
liegenden Leibeshöhle trennte. Es ist nun sehr
wahrscheinlich , daß die Vorfahren der in der
Leibeshöhle schmarotzenden Schnecken auch das
dünne Epithel durchbrachen und so vollständig in
die Leibeshöhle gelangten (Figg. 9 u. 10).
Die Schale würde natürlich bei diesem Ein-
wanderungsprozeß sehr hinderlich gewesen sein,
Scheinmantcl
Leibeshöhle des Wirtes vor und steht nur noch
durch eine kleine ()ffnung des Scheinmantels mit
der Aut^enwelt in Verbindung. Wird diese letzte
Beziehung zur Außenwelt aufgegeben, so haben
wir eine Form vor uns, welche den entoparasitischen
Formen entspricht, die wir in den Abbildungen
6 u. 7 wiedergegeben haben.
Der aufmerksame Leser wird bei der Durch-
sicht dieser Zeilen die Beobachtung gemacht haben,
daß bei fortschreitendem Parasitismus die weit-
gehendsten Veränderuncren am Parasiten auftreten
und zwar so einschneidende, daß durch sie der
Scheinmantel
Körper-
wand des
Wirtes
Rüssel
weshalb sie vollständig rückgebildet wurde. Auch
der völlige Verlust der Sinnes- und Atmungs-
organe ist durchaus verständlich. Der Darm bildet
ein an seinem Hinterende blindgeschlossenes Rohr,
während die Kauorgane der Mundhöhle (Reib-
platte, Schlundkopf etc.) völlig verschwunden sind
(Fig. II). Den Hauptteil des Körpers nehmen
die vom Scheinmantel umschlossenen Geschlechts-
organe ein , die wie bei allen Parasiten eine
mächtige Entwicklung aufweisen.
Auf dem in Figur 1 1 abgebildeten Stadium
ragt der Parasit nahezu schon vollständig in die
Fußdrüse
Rüssel
Mund
Fig. II,
ganze Habitus des Tieres verloren gehen kann.
Alle überflüssigen Organe werden rückgebildet,
während andere, für den Parasiten wichtige Or-
gane, wie z. B. die Geschlechtsorgane, eine be-
deutend vollkommenere Ausbildung erfahren als
bei den freilebenden Formen.
Jedenfalls weist der Parasit betreffs seiner Or-
ganisation die für ihn am zweckmäßigsten aus-
gebildete Körperform auf. Für sein Milieu ist der
Parasit höher ausgebildet als jeder andere Or-
ganismus, wenn er aucli in vielen Fällen eine
starke Rückbildung erfahren hat, die ihm jedoch
für seine Lebensweise sehr vorteilhaft sein muß.
Naturschilderung aus dem südlichen Kaukasus.
[Nachdruck verboten.]
Von F. Rofsmäfsler, Leipzig.
Eine Reise in einem Gebirgslande, während
welcher man sich bald auf schwindelnder Höhe
befindet und im Genuß des herrlichen Überblicks
auf viele andere, noch höhere, zum Teil mit ewigem
Schnee und Eis bedeckte Berge schwelgt, bald in
tief eingeschnittener Schlucht dem Laufe eines
wilden Gebirgsflusses folgt; hier die Üppigkeit der
artenreichsten Vegetation anstaunt, dort in der
leblosen Öde einer vulkanischen Wüstenei sich von
einem unwillkürlichen Schauder befallen fühlt;
Tausende von Fußen auf steiler Bahn in die Höhe
klimmt, um auf der anderen Seite des Bergrückens
vielleicht noch tiefer hinabzusteigen; stundenlang
keinen Tropfen Wasser trifft, den brennenden Durst
zu löschen, und dann im kristallklaren Wasser
eines rauschenden Baches ein erfrischendes Bad
nimmt, oder mit Wonne den kühlen, prickelnden
Trunk aus einer Mineralquelle schlürft — und dies
alles, noch gewürzt von allerlei kleinen Abenteuern,
unter einer patriarchalisch lebenden, gastfreund-
N. F. III. Nr. \6
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
247
liehen Bevölkerung eines von der Kultur so gut
wie noch nicht beeinflußten Gebirgsvolkes — ist
ein Ereignis, dessen Eindrücke dauernde für das
ganze Leben sind.
Während eines Sommeraufenthaltes in der 1250m
über dem Meeresspiegel auf einem isoliert stehen-
den Felsberge, gleich einem Adlerhorst thronenden
kaukasischen Stadt Schuscha hatte ich das Glück,
Teilnehmer an einer solchen Reise werden zu
können — an dem Ritt von Schuscha nach Or-
dubat, am linken Ufer des Araxes, dem Grenz-
flusse zwischen der kaukasischen Provinz Karabagh
und Persien.
Ich will versuchen in nachstehendem diese
Reise zu beschreiben, die wir, bei einer Entfernung
von annähernd 130 km, in sechs Tagen, zwei Rast-
tage abgerechnet, zurücklegten.
Unsere Reisegesellschaft bestand aus sechs Per-
sonen, dem Generalmajor z. D. Hassan Beg Aga-
larow, einem der reichsten Grundbesitzer in Kara-
bagh, dessen sechzehnjährigem Sohn David Chan,
dem Bevollmächtigten des Generals (einem Armenier),
meiner Wenigkeit und zwei karabaghschen Dienern
aus dem zahlreichen Gefolge, mit welchem sich
der kaukasische Magnat zu umgeben liebte. Ein
grusinischer Koch und mehrere Knechte bildeten
den Vortrab, der schon am frühen Morgen Schuscha
verlassen hatte, und auf Lastpferden alles mit sich
führte, was zu unserer Bequemlichkeit und Be-
köstigung gehörte.
Am 20. Juni ritten wir aus Schuscha aus, und
da für den ersten Reisetag nur eine kurze Strecke
von ungefähr zehn Kilometer bestimmt war, hatten
wir unseren Aufbruch auf eine Nachmittagsstunde
verschoben , in welcher die größte Hitze schon
vorüber war.
Auf dem entsetzlich steilen Reitweg, der ziem-
lich geradlinig verläuft, erreichten wir das Tal des
Kargar-Tschai und kamen in den wohltuenden
Schatten des immer dichter werdenden Waldes,
der beide Berglehnen des romantischen Tals be-
deckt. Nach dreistündigem Ritt erreichten wir
den auserwählten Rastplatz, an dem wir die erste
Nacht verbringen sollten. Unter dem schützenden
Laubdach herrlicher Buchen und Eichen, auf dem
Teppich duftender Gräser und Kräuter, untermischt
mit in bunten Farben prangenden Blumen, waren
drei große, runde Filzzelte aufgestellt. Besonderen
Reiz hatte das lauschige Plätzchen für mich durch
einen eisenhaltigen Säuerlingsquell; wir befanden
uns an einer der in Karabagh so häufigen Stellen,
an denen die Gaben der Natur von den Bewohnern
dieses gesegneten Landes in ungekünstelter Form
genossen werden, an denen der Kranke sein Zelt
aufschlägt und im Schöße der Natur gesundet.
Nach einem schmackhaften, durchaus nicht
frugalen Abcndbrod, bei dem der köstliche Schasch-
lik,') des Kaukasiers Lieblingsspeise, die Haupt-
rolle spielte, gewürzt mit dem edlen Kachetiner-
') Über Holzkohlenfeuer am Spieß gebratene Stückchen
fetten Fleisches vom kaukasischen Fettschwanzschaf.
wein, verplauderten wir noch in fröhlichster Stim-
mung ein Stündchen, und suchten dann bald das
Lager auf, da uns für den nächsten Tag ein sehr
anstrengender Ritt bevorstand. Es galt die Wasser-
scheide zwischen Kura und Araxes zu übersteigen.
Wir stiegen immer höher und höher. Inner-
halb der Waldregion fielen mir neben dem eigent-
lichen Buchenbestand häufig vorkommende hoch-
und starkstämmige Wacholderbäume, ferner eine
Ahornart mit efeuartigen Blättern (Acer ibericum)
und prachtvolle Nußbäume auf, deren Stämme mit
kolossalen, oft drei Fuß im Durchmesser habenden
Maserknollen bewachsen waren ; das Unterholz
dieses herrlichen Waldes, der vielfach von Efeu
umrankt war, bestand zum großen Teil aus Cra-
taegus und Haselnuß, dessen große Nüsse äußerst
schmackhaft sind, .^uch blühten hier oben noch
überall die wilden, baumartig wachsenden Rosen
in reichster F'ülle, während sie unten in den Tälern
schon längst abgeblüht hatten ; nicht minder üppig
gedieh hier oben Paliurus. Die über der VVald-
region sich ausbreitenden Alpenweiden bieten den
Herden der Tataren, die mit ihrem gesamten Hab
und Gut den ganzen Sommer hier verbringen,
reichlichste Nahrung. Die einem Manne bis zu
den Hüften reichenden Alpengräser und -Kräuter
sind vermengt mit Arnika, dessen weithin leuch-
tende Blüten einen herrlichen Schmuck bilden ;
an vielen Stellen traf ich auf in großen Gruppen
wachsendes Pyrethrum roseum, dessen getrocknete
und gemahlene Blüten das gesuchte Insektenpulver
geben, für welches Transkaukasien ein ergiebiger
P'undort ist. Auf dem höchsten Punkte ange-
kommen, führte der Weg alsbald wieder hinab in
das Tal der oberen Akara und dann wieder steil
hinauf auf ein Plateau; die unermüdlichen kara-
baghschen Pferde kletterten wie die Gemsen.
Bald war der entgegengesetzte Rand des Plateaus
erreicht und wir hielten vor dem steilen Abhänge
einer Schlucht, in welcher das armenische Dorf
Garandsjur liegt. Auf einem halsbrecherisch steilen,
mit Geröll bedeckten Saumwege, der nur für Fuß-
gänger oder kaukasische Reiter passierbar ist, und
zum Teil mit über die flachen Dächer der in
terrassenförmigen Reihen stehenden Häuser führte,
gelangten wir in das ziemlich grof3e Dorf, wo wir
eine mehrstündige Rast hielten, die Pferden und
Reitern gleich nötig war.
Wie in den meisten karabaghschen Bergdörfern,
sind auch in Garandsjur die Häuser, welche zum
größten Teil nur einen Wohnraum und einen
verandaartigen Vorbau haben, nur aus der niedrigen
Vorderwand und zwei kurzen Seitenwänden er-
richtet, an welch letztere sich eine horizontale
Ausgrabung des Berges anschließt. Ein flaches
mit Erde gedecktes Dach bedeckt den rohen Bau,
dessen Inneres häufig nur durch die offene Türe
und den Rauchabzug im Dache Licht erhält; nur
an neu errichteten Häusern ist in der Vorderwand
ein P'enster angebracht. Viehstall und Scheune
sind dem karabaghschen Bauer unbekannt; das
Vieh befindet sich den Sommer über auf der
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 16
Weide, während des Winters im Walde, nur dem
Pferd wird eine etwas sorgsamere Behandlung zuteil.
Zur Aufbewahrung von Getreide sah ich außer-
halb der Dörfer riesige, auf Pfählen aufgestellte
korbartige Flechtwerke, in deren Nachbarschaft in
offenen Verschlagen die Ackergeräte und zwei-
rädrigen Wagen untergebracht sind.
Nach mehrstündiger Ruhe im Hause des Dorf-
ältesten stiegen wir wieder auf das Plateau, auf
welchem unser Weg auch noch für den nächsten
Tag verlief Auf diesem baumlosen Plateau be-
finden sich die Felder der umliegenden Dörfer,
die sämtlich an den Abhängen in der beschrie-
benen Weise wie Garandsjur angelegt sind. Das
Getreide, zum größten Teil Weizen und Gerste,
stand noch unabgeerntet auf den Feldern, während
in den Niederungen, die den karabaghschen Bergen
vorgelagert sind, die Zeit der Ernte schon seit
Wochen vorüber war.
Der dritte Reisetag neigte sich seinem Ende
zu, als wir die Stelle der eintönigen Hochebene
erreichten, an der wir wieder die Pracht des Hoch-
gebirges vor uns aufgerollt sahen. Wir hielten auf
dem Gipfel der einen Seite eines weiten Tals,
welches ein Zufluß des Berguschet durchströmt
und konnten auch an der uns gegenüberliegenden
Talwand ein armenisches Dorf, unser nächstes
Nachtquartier, erblicken. Die linke Talseite, auf
deren höchstem Punkt wir uns befanden, ist so
steil, daß ich es für unmöglich hielt, dieselbe
hinab zu reiten, aber bald überzeugte ich mich,
daß dem karabaghschen Pferd kein Steg zu schroff
ist, daß es sogar seine Zuflucht zu dem Mittel
nimmt, sich auf sein Hinterteil zu setzen, sich auf
die vorgestreckten Vorderfüße zu stützen und so,
den Reiter auf dem Rücken, sicher hinabzurutschen.
Wer dies zum ersten Male mitmacht, den über-
kommt wohl ein heimliches Grausen dabei, und
doch ist er im Sattel sicherer vor einem Ab-
stürzen, als auf seinen eigenen Füßen.
Aus der Tiefe starrten mir unzählige Pyra-
miden, aus trachytischem Gestein, vulkanischem
Tuff, Lava und Geröll bestehend, entgegen ; über-
all nackte, zum Teil überhängende Felsen, die
scheinbar jede Minute abzustürzen drohten. Wie
lange der grausige Abstieg auch dauerte, er ver-
lief doch glücklich ohne jeden Unfall und er-
leichtert atmete ich auf als wir endlich die Tal-
sohle erreichten. Hier hatte sich der Muß in dem
zutage tretenden Jurakalk einen tiefen Einschnitt
eingegraben, in welchem er weißschäumend zwischen
Felsbiöcken dahinstürzt, und jenseits — da ziehen
sich Gärten hin, an welche sich am rechten Ufer
wieder herrlicher Wald anschließt , der an der
anfangs allmählich ansteigenden Bergwand hinan-
klettert, bis auch diese, hoch oben, in starren P'els-
massen aufragend, das herrliche Panorama ab-
schließt. Der Hinaufblick zu dem nackten, so
überaus wild zerrissenen, vulkanischen linken von
dem im herrlichsten Vegetationsschmuck prangen-
den rechten Talgehänge aus erschien mir noch
viel efiektvoUer, als es der Hinabblick gewesen
war. Die erwähnten Gesteinspyramiden, aus der
Vogelperspektive gesehen, waren mir unbedeutender
erschienen als nun, da sie sich, von unten aus
gesehen, eine über der anderen sich auftürmend,
in ihrer ganzen grotesken Gestaltung und Größe
meinen bewundernden Blicken darboten.
Die uns entgegengekommenen Ältesten des
Dorfes begrüßten in asiatisch-zeremonieller Weise
den General und seine Begleiter und ließen es
sich nicht nehmen, uns in feierlichem Zug in das
größte und beste der halbunterirdischen Häuser
zu geleiten , dessen Fußboden mit Teppichen,
Matratzen und Kissen belegt war. Vor der Schwelle
des Hauses wurde, der Landessitte entsprechend,
uns zu Ehren ein Fettschwanzschaf geschlachtet
und während wir uns ruhend auf den Matratzen
lang ausstreckten, war alles beschäftigt ein nach
Möglichkeit glänzendes Abendessen herzurichten,
bei dessen Verzehren die Gastgeber mit kreuz-
weise untergeschlagenen Beinen , oder auf den
Fersen hockend, schweigend auf dem Boden im
Kreise um uns herumsaßen. An der später sich
entwickelnden, für mich unverständlichen Unter-
haltung, konnte ich nicht teilnehmen und zog es
vor, die dumpfe Luft der überfüllten Stube mit
der köstlichen, erquickenden Abendkühle im Freien
zu vertauschen. Lange Zeit saß ich noch, ver-
sunken im Anblick des prachtvollen Landschafts-
bildes, welches in der magischen Beleuchtung des
über dem Tale stehenden Vollmondes märchen-
haft schön war.
Nachdem wir am nächsten Morgen aus dem
malerischen Tal an dessen linkem Gehänge empor-
gestiegen waren, gelangten wir wieder auf eine
Hochebene und dann in das Tal des Berguschet.
Der Tag war sehr heiß und, vom Durst gequält,
waren wir froh in der Aussicht auf einen er-
frischenden Trunk aus den Wellen des Flusses.
Diese Hoffnung sollte aber unerfüllt bleiben, denn,
auf der Talsohle angelangt, sahen und hörten wir
wohl den Fluß, der sich einen noch tieferen, von
senkrechten Wänden umgebenen Einschnitt ge-
bildet hatte, aber zu dem so nahen und doch un-
erreichbaren Wasser zu gelangen, war unmöglich.
Durstig mußten wir nach einer kurzen Rast weiter-
ziehen. Auf einer natürlichen, von einer ungeheuren
Kalktuffmenge gebildeten Brücke überschritten wir
den Berguschet und nun ging es wieder an das
unsäglich schwere Erklimmen der rechten Tal-
wand. Auf den übermüdeten Pferden oben an-
gelangt, erblickte ich einen Turm, dem wir zu-
steuerten, und bei schon hereinbrechender Dunkel-
heit erreichten wir unser heutiges Nachtquartier,
ein armenisches Kloster. Wir gelangten durch ein
hohes Tor in der festungsartigen Umfassungs-
mauer in einen großen, mit mächtigen Bäumen
bewachsenen Hof, in dessen Mitte ein kristallklarer
Quell sich in ein Bassin ergoß. O welches Lab-
sal — herunter vom Pferd! und getrunken nach
Herzenslust !
Über das Kloster selbst, welches, beiläufig er-
wähnt, mehr als tausend Jahr alt sein soll, will
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
249
ich nichts erzählen, wohl aber über die Pracht,
die vor meinen trunkenen Bücken aufgerollt war,
als ich am nächsten Morgen an das Fenster der
Zelle trat, die mir und David Chan für die Nacht
eingeräumt worden war.
Das Kloster Tatiew liegt auf einem aus Lava
gebildeten Felsen, welcher an der Stelle der Ver-
einigung einer kleinen, engen Seitenschlucht mit
dem tiefen Tal des Berguschet einen senkrecht
aufsteigenden nackten Vorsprung bildet. Von dem
Fenster aus kann man fast die gewaltigen Säulen
mit der Hand ergreifen, in welche die einst heiß-
flüssige Lava bei ihrer Abkühlung zerklüftet war.
Tief unten im Abgrund braust, viele Wasserfälle
bildend, ein starker Gebirgsbach; an der gegen-
überliegenden Seite erhebt sich steil die mit Wald
bewachsene felsige Wand eines Berges. Zur Linken
sieht man hinab in das Haupttal, in welchem der
Berguschet wild dahinstürzt; zur rechten Hand,
die Schlucht aufwärts, liegen einige tatarische
Wassermühlen, und weiter hinauf türmt sich Berg
über Berg. Und das alles im goldenen Sonnen-
schein. Ein unvergeßlicher Anblick !
Von Tatiew aus verfolgten v^-ir nun, von dei
bisher eingehaltenen südlichen abbiegend, die Rich-
tung nach Westen, gelangten auf beschwerlichen,
aber interessanten Gebirgspfaden in ein von Tataren
und Armeniern bewohntes Dorf, welches mit seinen
Maulbeergärten eine liebliche Oase in einem wüsten
Gebirgskessel bildet, und spät abends in das Tal
des Aira-Baches, eines Zuflusses des Berguschet.
Hier wurde wieder, wie am Tage nach unserer
Abreise von Schuscha, und zu meiner besonderen
Freude, in den Zelten übernachtet, was entschieden
angenehmer war, als das Schlafen in den dumpfen,
von Ungeziefer nicht freien armenischen oder tata-
rischen Häusern.
Anfangs verfolgten wir den Lauf des Baches,
den wir jedoch bald verließen, da wir nun die
mächtige Alagös-Kctte übersteigen mußten, um
in das in südlicher Richtung zum Araxes führende
Tal des Giljan-Flusses zu gelangen. Nach mehr-
stündigem Ritt, ununterbrochen bergan, anfangs
im Bereiche schönen Waldes, dann duftiger Alpen-
matten, kamen wir in die der Schneegrenze be-
nachbarte Region, in der eine nur noch äußerst
spärliche Vegetation bemerkbar war, die den un-
verkennbaren Charakter der Hochgebirgsflora zur
Schau trug. Aber noch immer war der Gipfel
des Gebirgspasses nicht erreicht, wir mußten noch
höher steigen und kamen über ansehnliche Felder
alten Schnees und Eises. Wie hoch in Wirklich-
keit der Grat der Alagös-Kette an der Stelle ist,
an welcher wir uns befanden, ist mir unbekannt,
aber sicherlich nicht unter loooo Fuß, da wohl
anzunehmen ist, daß die angetroffenen .Schnee-
felder niemals wegschmelzen, und die Schnee-
grenze im südlichen Teile des Kleinen Kaukasus
bei 1 1 000 Fuß Meereshöhe liegt.
Welch imposantes Gebirgspanorama bot sich
uns dar! Zur linken Hand, ganz nahe, der 12855
Fuß hohe, zur Alagös-Kette gehörige Kapudschich;
hinter uns die ebenfalls mit Schnee und Eis be-
deckten Bergriesen des Karabagschen Gebirges,
und sicherlich wäre mir auch der Anblick des
Ararat zuteil geworden, wenn nicht in der be-
treffenden Richtung die Aussicht durch Dunst-
schleier beeinträchtigt gewesen wäre. Und welche
herrlichen Niederblicke in die gewaltigen. Tausende
von Fuß tiefen, meist nackten und unbewohnten,
dadurch aber um so imponierenderen Täler, in
denen das Walten der Natur durch keinerlei
Menschenwerk gestört ward. — Trotz der über
alle Beschreibung steilen, bald bergauf, bald bergab
führenden Wege erreichten wir noch bei hoch-
stehender Sonne das von alten Baumgärten um-
gebene und reichlich bewässerte Dorf Nassir-abat,
so daß wir den Ritt noch bis zu dem malerisch
schön gelegenenTatarendorfTiari fortsetzen konnten,
wo wir in einem großen Garten unsere Zelte zum
letzten Male vor unserer Ankunft in Ordubat zur
Nachtruhe aufschlugen.
In frühester Morgenstunde des sechsten Reise-
tages schwangen wir uns wieder in den Sattel.
Wir befanden uns nun im Tale des Giljan-Flusses
auf gutem Wege, der sogar die lange nicht ge-
sehenen Radspuren der kaukasischen Arba (zwei-
rädriger Wagen, dessen auf der Achse festgekeilte
Räder über mannshoch sind) erkennen ließ; zur
Rechten der Einblick in das gut bebaute, weite
Tal mit vielen Dörfern, überragt von dem pitto-
resken unersteigbaren Ilanlu-Dagh, zur Linken das
stets höher ansteigende Gebirge in stets wechseln-
den Formen.
Die günstigen Wasserverhältnisse des Giljan-
Tales lassen in demselben eine unbeschreiblich
reiche Vegetation zur Entfaltung kommen , die
ihm eine paradiesische Schönheit verleiht. Hatten
wir während der verflossenen fünf Reisetage mehr
die imposante, oft starre und wilde Großartigkeit
des kaukasischen Hochgebirges bewundert, so bot
uns der letzte den Genuß, eines der Täler zu
durchwandern, in denen die ganze Pracht der
kaukasischen Flora zu voller Geltung kam. Nament-
lich imponierten mir die mächtigen Platanen, welche
die Umgend Ordubats noch mehr als den wegen
dieser botanischen Schönheit berühmten Bazar-
platz Jelisawetpols schmücken. Wir hielten unsere
Mittagsrast im Schatten einer Gruppe dieser Riesen-
bäume, von denen der mächtigste in Brusthöhe
einen Stammumfang von 23 Fuß hatte. Die größte
aller Platanen Ordubats, leider ist dieselbe durch
einen Blitzschlag ihrer Krone beraubt, hat nach
den Messungen Dubois, die er während seiner
Kaukasusreise anstellte, am Wurzelstock einen Um-
fang von 42\/o, und sechs Fuß über dem Erd-
boden von 34 P'uß.
In einem Dorfe, in dessen Gärten eben die
Destillation von Branntwein aus den köstlichen
Maulbeeren, von der Größe des oberen Daumen-
gliedes einer Männerhand, im vollen, wenn auch
äußerst primitiven, unter freiem Himmel statt-
findenden Betriebe war, mußten wir die Werk-
250
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 16
Stätte eines Schmieds aufsuchen, um ein verlorenes
Hufeisen meines Pferdes zu ersetzen. — O Asien I
Was sah ich? Mit untergeschlagenen Beinen saß
der Jünger Vulkans außerhalb seiner Schmiede,
unter dem Schatten eines Baumes, auf einem
Lederkissen vor seinem .Amboß; ein Junge brachte
ihm das glühende Eisen zugetragen, welches er
nun in aller Behaglichkeit bearbeitete. — Warum
soll auch ein Mensch stehen, wenn er sitzend
arbeiten kann? Warum soll er sitzen, wenn er
liegen kann? Warum soll er überhaupt arbeiten,
wenn die gütige Mutter Natur seine geringen Be-
dürfnisse freigebig stillt?! — Glücklicher in seiner
Art als der anspruchslose Sohn eines fruchtbaren
Tales des südlichen Kaukasus kann kein Mensch
auf Erden sein!
Kleinere Mitteilungen.
Über „Hautsinnesorgane auf der Puppen-
hülle von Schmetterlingen" berichtet Dr. M.
Gräfin V. Linden in den Verhandlungen der
Deutschen Zoologischen Gesellschaft (1902). Die
Verf beobachtete an Schnitten durch die Puppe
von Papilio podalirius auf der Puppenhaut kleine
Haare, deren ganzer Bau auf die Funktion als
Sinnesorgane deutete. An der Ansatzstelle des
Haares findet sich ein feiner Kanal durch die
ganze Puppenhülle; dieser ist von einem Gewebs-
strang durchzogen , dessen Fortsetzung sich auf
dem Epithel der Puppe ausbreitet. Durch An-
wendung der bekannten Injektionsmethode mit
Methylenblau wurde die nervöse Natur dieser Ge-
bilde festgestellt, und die Verf kam zu dem Re-
sultat: „daß von dem Augenblick an, wo der
Chitinisierungsprozeß der Puppenhülle beendigt
ist, eine peiiphere Nervenausbreitung außerhalb
des Schmetterlingskörpers zwischen Puppenhülle
und Epidermis besteht, deren Endigungen mit
den Sinnesorganen auf der Puppenhülle in Ver-
bindung stehen und die Beziehungen des werden-
den Schmetterlings zur Außenwelt durch die
Puppenhülle hindurch vermitteln."
Der feinere histologische Bau dieser Organe
ist folgender: Wie schon gesagt, breitet sich unter
der Puppenhaut auf dem eigentlichen Epithel der
Puppe ein Netzwerk von Nervensträngen aus, das
seinerseits wieder mit den unter dem Epithel des
werdenden Schmetterlings liegenden peripheren
Nerven und somit auch mit dem Bauchganglion
in Verbindung steht. Von diesen unter der
Puppenhaut liegenden Nervensträngen tritt ein
Nerv in den Chitinkanal hinein. An seinem oberen
Ende erweitert sich der Kanal, und der Nerven-
strang löst sich in mehrere E"asern auf. Eine
dieser Fasern innerviert das Haar direkt, die übrigen
legen sich an das abgerundete Ende des Haares
an und bilden kleine Anschwellungen, die unter
sich durch einen ,,ringrörn)igen Gewebsstrang ver-
bunden sind". Der in der Sinnesgrube liegende
Teil des Haares ist kugelförmig, dann folgt nach
der Spitze zu eine Einschnürung und von da an
spitzt sich das Haar konisch zu. Die Spitze dieses,
etwa 16 /( langen, hohlen Haargebildes ist bis-
weilen gespalten ; eine Öffnung nach außen konnte
jedoch nicht sicher festgestellt werden.
Sodann teilt die Verf. mit, wie sich diese
Sinneshaare mit ihren nervösen Elementen bei
der Verwandlung der Raupe in die Puppe ent-
wickeln, ,,wie sich aus einer vollkommen normalen
Innervation der Raupenepidermis Nervenzüge und
Nervenendigungen herausbilden, die entgegen jeder
bisherigen Erfahrung außerhalb der Epithelgrenze
des Insektenkörpers gelegen sind.''
Die Sinneshaare sind auf dem Rücken und auf
den Seilenflächen der Puppen am zahlreichsten ;
seltener finden sie sich auf der Bauchseite, nie
auf den Flügeln. Die Annahme, daß diese Haare
Sinnesorgane für Tastempfindungen sind, widerlegt
die V^erf damit, daß sie sich auch an solchen
Körperstellen finden, wo sie von anderen Körper-
teilen wegen ihrer geringen Größe überdeckt
werden. Wahrscheinlicher ist es, daß wir es hier
mit Sinnesorganen zur Perzipierung von Temperatur-
schwankungen zu tun haben, zumal Schmetterlings-
puppen auf Licht- und Wärmereize deutlich
reagieren, wie Versuche mit Bestrahlung und An-
näherung erwärmter Gegenstände gezeigt haben.
Ernst Röhler.
Zu dem Artikel in Nr. 50 der ,, Naturwissen-
schaftlichen Wochenschrift": ,,Ein Beispiel zum
Kampfe ums Dasein in der Pflanzenwelt in
Verbindung mit der raschen Verbreitung
einer neu eingeführten Art" möchte ich einiges
aus der Karlsruher Gegend beifügen. Auch
hier ist Impatiens parviflora ebenso wie Erigeron
canadensis und Galinsoga parviflora, zwei aus
Kanada resp. Peru stammenden Gartenflüchtlingen
ein lästiges Unkraut geworden, das auch hier den
Kampf gegen Impatiens nolitangere siegreich über-
all durchgefochten hat. Hier ist kein Wasser, der
Boden ist trockener Sandboden , aber auch er
sagt diesem Unkraut zu, selbst im Wald, beson-
ders längs der diesen durchziehenden Straße hat
sich die kleinblühende Balsamine dermaßen an-
gesiedelt, daß sie auf weite Strecken hinein den
Boden so dicht bedeckt, daß keine andere Pflanze
aufkommen kann und der gleichmäßige, grüne
Teppich besonders im Frühsoinmer reciit hübsch
aussieht. In dem botanischen Garten, Schloß-
garten und Baumschule habe ich ihre Verbreitung
dadurch mit Leichtigkeit eingeschränkt, daß ich
jedes Jahr im Juni, ehe die Pflanze Samen ange-
setzt hat, mit Sense oder Sichel die sehr weichen
Pflanzen dicht über dem Boden abschneiden lasse,
was stehen bleibt, stirbt entweder ab oder treibt
nur noch spärlich aus. Die Pflanze ist hier und
in der Umgebung von Freiburg, wie auch bei
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^51
Dresden, Göttingen, Berlin, Breslau, Prag und wo
immer sie vorkommt, jedenfalls durch die botani-
schen Gärten als Flüchtling aus denselben ver-
breitet worden. Ältere Florenwerke, wie die Flora
von Gmelin 1808 — 1826 oder Reichenbach's flora
germanica 1830 führen Impatiens parviflora noch
nicht auf, erst Doell schreibt in seiner Flora des
Grol3herzogtums Baden von 1862 in einer An-
merkung unter Impatiens nolitangere : ,,In den
Umgebungen von Karlsruhe findet sich, nament-
lich in den Anlagen vor dem Ettlinger Tor noch
ein aus Asien stammender Gartenflüchtling mit
weit kleineren Blüten : Impatiens parviflora LX C.
Er hat zur Zeit noch keinen Anspruch auf einen
Platz in unserer Flora." Auch heute noch ist
Impatiens parviflora noch nicht sehr weit über
den Bannkreis von Karlsruhe, Freiburg, Heidel-
berg (botanische Gärten), Mannheim (Hafen) ge-
kommen, auf dem flachen Land, im Gebirge des
Schwarz- oder Odenwakles ist dieselbe noch nicht
anzutreffen, während die beiden anderen, oben
genannten Pflanzen lästige Unkräuter im ganzen
badischen Land geworden sind, vermöge der
leichten Verbreitungsfähigkeit ihrer Samen.
Graebener.
Eine einfache Vorrichtung zur Erklärung
der Flut und Ebbe. — Der in Nr. 12 der „Natur-
wissenschaftlichen Wochenschrift" dargestellte, ele-
gante Apparat des Herrn Archenhold veran-
laf3t mich, eine für Unterrichtszwecke seit einiger
Zeit von mir benutzte Vorrichtung zu beschreiben,
welche dem gleichen Zwecke dient und den Vor-
zug großer Einfachheit hat, so daß sie ohne Mit-
wirkung des Mechanikers angefertigt werden kann.
Aus Pappe oder Blech stellt man eine kreisförmige
Scheibe her und zerteilt sie durch geradlinige und
parallele Schnitte gleichen Abstandes in etwa 5
Stücke. Diese Stücke werden dann an einem zur
Schnittrichtung senkrechten Stab derartig aufge-
reiht, daß man sie an dem Stab und also in
dessen Richtung verschieben kann. Solange die
Stücke aneinander liegen, zeigen sie die Kreisform
und lassen die Gestalt des von Wasser bedeckten
Erdballs ohne Mondwirkung erkennen. Denkt
man sich in der Verlängerung des Stabes den
Mond, so kann dessen Einfluß zur Anschauung
gebracht werden, indem man nach ihm hin die
einzelnen Stücke des „Erdballs" um so mehr ver-
schiebt, je näher sie ihm stehen. So entsteht eine
Ellipse, an der man die beiden Flutberge recht
schön erkennen kann.
Zur Vervollständigung kann man auch die
einzelnen Stücke der Scheibe untereinander und
mit den Stabenden durch elastische Schnüre
(Drahtspiralen, Gummi) verbinden, welche im un-
gespannten Zustand die Stücke in Kreisform an-
einander halten. Ahmt man dann die Mond-
anziehung nach, indem man von einem Stabende
aus die Schnur spannt, so entsteht die Ellipsen-
form.
Daß eigentlich hierbei nur die Flut und nicht die
Ebbe dargestellt wird , dürfte zu Irrtümern kaum
führen. R. Börnstein,
Prof. an der Kgl. Landw. Hochschule in Berlin.
Die Gewinnung von Sauerstoff mit Hilfe
flüssiger Luft ist von George Claude auf
eine wesentlich vervollkommnete Stufe gehoben
worden (Comptes rendus vom 16. Nov. 1903).
Während man bisher die Luft zunächst völlig
verflüssigte und dann den Stickstoff zuerst sich
wieder vergasen ließ, um den Sauerstoff noch
flüssig zurückzubehalten, gewinnt Claude unmittel-
bar eine sehr sauerstoffreiche Flüssigkeit, indem
er die verflüssigten Teile der Luft in Berührung
mit dem Gasstrom , aus dem sich dieselben ab-
scheiden , zurückzufließen zwingt. Bei diesem
Zurückfließen wird der verflüssigte Teil der Luft
der Berührung mit dem Gasrest, aus dem er ab-
geschieden wurde und der nun nur noch wenig
Sauerstoff enthält, entzogen, kommt dafür aber
in Kontakt mit nachströmender Luft, so daß ein
Austausch des flüchtigeren, verflüssigten Stickstoffs
gegen den Sauerstoff des nachströmenden Gases
stattfinden kann. Claude hat mit Unterstützung
der Gesellschaft ,,t'Air liquide" einen auf diesem
Prinzip des Rückflusses der verflüssigten Luft be-
ruhenden Apparat konstruiert, der in einer Stunde
30 bis 40 cbm 92 "/o Sauerstoff oder auch 100
bis 120 cbm 56 " (, Sauerstoff zu liefern imstande
ist. Etwa nur ein Drittel des Gesamtvolumens
der benutzten Luft wird in demselben verflüssigt,
der Stickstoff bleibt also fast völlig gasförmig.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. -- Am Mittwoch, den 11. November,
abends 8 Uhr, sprach im großen Hörsaale des
von der Direktion freundlichst zur Verfügung ge-
stellten Physikalischen Instituts der Universität
Herr Prof Dr. W. Marckwald über „Radio-
aktive Stoffe".
H. Becquerel, so führte der Herr Vortragende
aus, beobachtete im Jahre 1896, daß Uransalze
durch lichtdichtes Papier hindurch bei wochen-
langer Einwirkung die photographische Platte
schwärzen. Das Uran selbst zeigt diese Wirkung
am kräftigsten. Daraus folgte, daß dieses Ele-
ment eine den Röntgenstrahlen ähnliche Strahlung
aussendet, die sogenannte „Becquerelstrahlung".
In ähnlicher Weise wirksam erwies sich noch
ein zweites Element, das in Mineralien häufig mit
dem Uran vergesellschaftet vorkommt, das Thorium.
Bei der Prüfung der natürlichen Uranmineralien
auf ihr Strahlungsvermögen (Radioaktivität)
beobachtete das Ehepaar Curie, daß die meisten
dieser Mineralien stärker aktiv sind als das reine
Uran oder seine Salze, und zogen daraus den
.Schluß, daß in diesen Mineralien noch ein anderer
radioaktiver Stoff von größeremStrahlungsvermögen
enthalten wäre. L^nter den geprüften Mineralien
zeichnete sich die Joachimstaler Pechblende durch
252
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. i6
besonders kräftige Radioaktivität aus. Die chemische
Untersuchung des Minerals zeigte, daß in ihm zu
einigen zehntel Prozent Wismut enthalten war,
welches sich nach den F"eststellungen der Frau
Curie von gewöhnlichem Wismut sonst in keiner
Hinsicht unterschied, aber sehr stark radioaktiv
war und zwar mehr als hundertmal stärker als
Uran. Die Entdecker vermuteten anfangs in diesem
Wismut ein neues Element, das sie Polonium
nannten. Als sie später eine allmähliche Abnahme
der Aktivität ihres Poloniums bemerkten, neigten
sie der schon früher von Giesel ausgesprochenen
Ansicht zu, daß das Polonium durch Indukti o n
aktiviertes Wismut sei. Die Curie's hatten näm-
lich inzwischen in der Pechblende einen zweiten,
noch viel stärker aktiven Stoff aufgefunden, welcher
sich mit dem nur zu einigen himdertstel Prozenten
in dem iVIineral enthaltenen Baryum abschied.
Der neue Stoff, den sie Radium nannten, zeigte
in seinen chemischen Reaktionen keinen Unter-
schied gegenüber dem Baryum. Wohl aber reicherte
sich beim Auflösen der Chloride in Wasser und
Abdunsten der Lösung in den zuerst auskristalli-
sierenden Anteilen die radioaktive Substanz an, wäh-
rend sich in den leichter löslichen Anteilen schließlich
nur gewöhnliches Baryumsalz fand. Durch einen
sehr langwierigen Prozeß fraktionierter Kristalli-
sation gelang es der Frau Curie schließlich, das
Radiumsalz vom Baryum ganz oder doch nahezu
zu befreien und das Radiumchlorid zu isolieren.
Dieses Salz färbt nun die nichtleuchtende Gas-
flamme nicht mehr grün wie Baryumchlorid, sondern
rot. Es enthält ferner nur ca. 24 "/^ Chlor, wäh-
rend das Baryumchlorid ca. 34 % Chlor enthält.
Demnach ist nicht zu bezweifeln, daß das Radium
ein neues Element darstellt.
Die Radioaktivität des reinen Radiums oder
vielmehr seiner Salze — denn das Metall ist noch
nicht isoliert worden — übertrifft wohl mehrere
hunderttausendmal diejenige des Urans. Kommt
es mit anderen Stoffen in Berührung, so vermag
es auf diese sein Strahlungsvermögen in mehr oder
minder hohem Grade zu übertragen, sie zu in-
duzieren. Indessen verliert sich die induzierte Ak-
tivität mit der Zeit wieder.
Um solche induzierte Aktivität handelt es sich
aber nicht beim Wismut der Pechblende. Viel-
mehr fand der Vortragende, daß dieses Wismut
eine äußerst geringe Menge, ca. Vioo"/o' Tellur ent-
hält, welches sich davon durch bekannte chemische
Reaktionen abtrennen läßt. Geschieht dies aber,
so wird das Wismut völlig inaktiv, während das
Tellur in um so höherem Maße aktiv ist. In-
dessen besteht auch dieser Stoff noch zu mehr
als 99 "/,, aus gewöhnlichem, inaktivem Tellur, und
nur der Rest enthält den eigentlichen Träger der
Aktivität, der vorläufig Radiotellur benannt
worden ist. Da dieser Stoff in der Pechblende
höchstens im \'erhältnis von i : i 000 000 000 ent-
halten sein dürfte, also sparsamer als Gold im
Wasser des Meeres, so ist es noch nicht gelungen,
eine zur chemischen Untersuchung genügende
Menge zu beschaffen. Dagegen genügen wegen
seiner hohen Wirksamkeit einige hundertstel Milli-
gramm Substanz, welche elektrolytisch auf kleinen
Kupferplatten niedergeschlagen sind , um das
Strahlungs\'ermögen den Zuhörern durch Versuche
zu demonstrieren.
Die Strahlen, welche Radium und Radiotellur
aussenden, sind nicht völlig identisch. Das Radium
sendet drei Sorten von Strahlen aus, die als «-, ß-
und ^Strahlen unterschieden werden. Die «-.Strahlen,
welche den sogenannten Kanalstrahlen zu ähneln
scheinen, sind sehr wenig durchdringend. Sie
werden durch feste Körper und Flüssigkeiten jeder
Art so stark absorbiert, daß sie z. B. durch Schreib-
papier kaum mehr hindurchgehen, durch Alu-
miniumfolie von Vino nim Stärke schon stark ge-
schwächt werden. Sie werden durch den Mag-
neten sehr wenig abgelenkt.
Die /i? Strahlen hingegen gehen durch viele feste
Körper, wie z. B. Papier, Aluminium, Guttapercha
mit sehr geringer Schwächung hindurch, von
anderen, wie z. B. Glas oder Schwermetallen werden
sie mehr oder minder stark absorbiert und vom
Magneten kräftig abgelenkt. Sie gleichen den
Kathodenstrahlen.
Die y-Strahlen endlich durchdringen noch dicke
Metallplatten und sind durch den Magneten gar
nicht ablenkbar. Sie gehören zu den Röntgen-
strahlen.
Vom Radiotellur nun gehen überhaupt nur «-
Strahlen aus, deren Identität mit den «-Strahlen
des Radiums freilich noch nicht sicher erwiesen,
aber sehr wahrscheinlich ist.
Auf die photographische Platte wirkt jede dieser
Strahlensorten ein. Aber während Radiumpräpa-
rate die Platte auch durch Holz, Glas und nicht
zu starke Metallplatten hindurch bei längerer oder
kürzerer Exposition schwärzen, bringt das Radio-
tellur schon durch Seidenpapier hindurch kaum
mehr eine Wirkung hervor. Der Vortragende
projiziert zur Erläuterung des Gesagten einige
Photographien.
Mit den ultravioletten und anderen unsichtbaren
Strahlen teilen die Becquerelstrahlen die Eigen-
schaft, die durchstrahlten Gase für Elektrizität
leitend zu machen. Der Vortragende zeigt, daß
ein Elektroskop schon bei der Annäherung eines
Stückes Joachimstaler Pechblende langsam ent-
laden wird. Ein Stäbchen, auf welchem sich eine
Spur Radiotellur befindet, bewirkt diese Entladung
momentan, wogegen in diesem Pralle keine Ent-
ladung stattfindet, wenn das Stäbchen in Papier
eingewickelt wird, welches die Strahlen nicht zu
durchdringen vermögen. Im Gegensatz hierzu ver-
mag ein Radiumpräparat, das in eine Büchse aus
Eisenblech eingeschlossen ist, die Entladung zu
bewirken. Freilich ist diese Wirkung der Straiilen
bei den verschiedenen Strahlensorten sehr ungleich.
Die «-.Strahlen sind bei weitem die wirksamsten.
Der Vortragende zeigt, daß man mittels einer
Kupferplatte, welche kaum ein zehntel Milligramm
Radiotellur auf einer Oberfläche von ca. 8 qcm
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
= 53
elektrol_\'tisch niedergeschlagen enthält, imstande
ist, ein durch eine Influenzmaschine in Gang ge-
setztes elektrisches Glockenspiel in wenigen Se-
kunden zum Schweigen zu bringen, eine Leidener
Flasche zu entladen u. a. m. Solche Wirkungen
lassen sich mit einem Radiumpräparat, welches
auch nur in eine dünnwandige Aluminiunibüchsc
eingeschlossen ist, nicht hervorrufen.
Auf viele Stoffe wirken die Becf]uerelstrahlen
jihosphoreszenzerregend ein. Besonders diejenigen
Stoffe, welche auch in den Röntgenstrahlen gut
phosphoreszieren, leuchten auf, wenn sie von den
neuen Strahlen getroffen werden. Auch hier zeigt
sich ein Unterschied zwischen den durchdringenden
und den leicht absorbierbaren .Strahlen insofern,
als gewisse Stoffe von den «-Strahlen zu schöner
Phosphoreszenz gebracht werden, auf welche die
/i- und /.Strahlen kaum einwirken, während bei
anderen Stoffen kein Unterschied hervortritt. Giesel
fand in der sogenannten Sidotblende (hexagonales
Zinksulfid) eine Substanz der ersteren Art, bei der
dieser Unterschied am stärksten hervortritt, hin-
gegen gehört das Baryumplatinc\'anür der zweiten
Klasse an. Der Vortragende zeigt die Phospho-
reszenz der Sidotblende in den Radiotellurstrahlen,
welche auch nach Entfernung des Präparates einige
Zeit anhält, ferner die Phosphoreszenz des Baryum-
]ilatinc)-anürs sowohl bei der Annäherung von
Radiotellur wie von Radium, wobei letzteres auch
durch feste Körper hindurch wirkt, ersteres hin-
gegen nicht. Endlich wird auch die Phospho-
reszenz von Diamanten gezeigt, die zur Prüfung von
deren Echtheit dienen kann.
Wird eine Funkenstrecke zwischen den Polen
eines Funkeninduktors so eingestellt, daß der
F"unke soeben nicht mehr übergeht, so setzt der-
selbe alsbald ein , wenn die Strecke von ultra-
violettem Licht bestrahlt wird. Die gleiche Wir-
kung vermag die Becquerelstrahlung hervorzurufen,
und zwar sind hier die durchdringenden -Strahlen
die wirksameren. Der Vortragende zeigt, daß
diese Erscheinung bei Annäherung eines Radium-
präparats schon auf eine Entfernung von mehreren
Dezimetern eintritt.
Die ph\-siologischen Wirkungen der Becquerel-
strahlen werden von den Ärzten sehr eifrig studiert,
nachdem sich gezeigt hat, daß diese Strahlen Bak-
terien abzutöten vermögen. Die längere Ein-
wirkung des Radiums auf die menschliche Haut
ruft ähnlich den Röntgenstrahlen bösartige Ent-
zündungen hervor, während eine gelinde Ein-
wirkung vielleicht bei gewissen Hautkrankheiten
wohltätig wirkt. Auch die Heilung \-on krebs-
artigen Erkrankungen durch diese .Strahlen ist
bereits Gegenstand von Versuchen, deren Ergeb-
nissen mit Spannung entgegengesehen werden darf
Vorläufig berechtigen diese noch nicht zu allzu
hohen Erwartungen.
Nicht die mindesten Aussichten auf P^rfolg aber
gewährt die von ärztlicher Seite angeregte Idee,
eine Wirkung, welche die Radiumstrahlen auf das
Auge ausüben, dazu zu verwerten, gewisse Blinde
sehend zu machen. Wenn man ein Radium-
präparat im Dunkeln dem Auge nähert, so erhält
dieses einen Lichteindruck, welcher auch bei solchen
Blinden eintritt, deren Erkrankung lediglich auf
die Linse beschränkt ist. Da aber die Becquerel-
strahlen niciit brechbar sind, also durch Linsen
nicht gesammelt werden können, so ist es nicht
möglich, diese Eigenschaft der Radiumstrahlen zu
benutzen, um dem Auge Bilder zu übermitteln,
wie dies bei den Lichtstrahlen der Fall ist.
Zum Schluß weist der Vortragende auf die-
jenigen radioaktiven Stoffe hin, deren Aktivität,
wie z. B. beim Thorium, äimlich wie beim L'ran
nur gering ist oder deren nähere Untersuchung, wie
z B. beim Aktinium, noch aussteht. Endlich streift
er die interessante Frage, ob die Erscheinung der
Radioaktivität mit dem Gesetz von der Erhaltung
der Energie vereinbar ist, senden doch Spuren
der radioaktiven Stoffe scheinbar unerschöpflich
erhebliche Energiemengen aus, ohne daß sie solche
aufzunehmen scheinen und ohne sich andererseits
merklich abzuschwächen. Eine völlig befriedigende
Erklärung fehlt hier noch, wenn eine solche auch,
ohne an dem so wohlbegründetcn Gesetze zu rütteln,
von der Zukunft zu erwarten ist. —
Im Bürgersaale des Rathauses hielt am Mon-
tag, den 23. November, Herr Dr. F. Solgcr,
Assistent am Märkischen Museum, einen Vortrag
über „Das Alter der Erde".
Der Vortragende wies zunächst in einem kurzen
geschichtlichen Rückblick darauf hin , wie noch
\'or 200 Jahren die Erde für wenig älter als das
Menschengeschlecht gegolten habe und wie erst
langsam die Tatsachen der Erdgeschichte zu der
Erkenntnis geführt haben, daß die Vergangenheit
unseres Planeten nicht nach Tausenden, sondern
nach Millionen von Jahren rechne. Er besprach
darauf die verschiedenen Wege, auf denen man
das Alter der Erde genauer zu bestimmen ver-
sucht hat. Teils schließt man aus der Geschwindig-
keit, mit der heute Gesteine an der Erdoberfläche
zerstört und wieder aufgebaut werden, auf die Zeit,
die zum Aufbau der ganzen geschichteten Erd-
rinde nötig war, teils sucht man in den Wärme-
verhältnissen der Erde einen Anhalt dafür, wie
lange sie bereits in der Abkühlung begriffen ist.
Ein dritter Weg, der bisher noch wenig, aber
nicht ohne Erfolg beschritten worden ist, beruht
darauf, daß man in den Schichtgesteinen desselben
Ortes Anzeichen eines mehr oder weniger regel-
mäßigen Wechsels zwischen Ablagerungen des
tieferen und flacheren Wassers findet, und dies
mit astronomisch gegebenen Perioden in Zusammen-
hang bringt. Da der Vortrag demnächst ausführ-
lich in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift"
erscheinen wird, so sei hier nur als Endergebnis
erwähnt, daß alle bisher gewonnenen Zahlen für
das Alter der Erde noch an einer großen Un-
sicherheit leiden. Die aus der Abkühlung be-
rechneten 25 Millionen Jahre bleiben sicher weit
hinter der Wirklichkeit zurück. Aus geologischen
Gründen müssen etwa 100 Millionen Jahre für die
2 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. t6
Bildung der Schichtgesteine unserer Erdrinde in
Anspruch genommen werden. Zum Schluß lenkte
der Vortragende die Aufmerksamkeit darauf, wie
wenig sich in den letzten lO — 50 Millionen Jahren
fortschreitende Veränderungen der Lebensbedin-
gungen auf der Erdoberfläche nachweisen lassen
und wie wir demgeniä(5 für die Zukunft noch eine
Reihe von Jalirmillionen weiterer üppiger Lebens-
entfaltung voraussetzen dürfen. Im Hinblick auf
das verhältnismäf^ig geringe Alter des Menschen
im Kreise der Tierwelt ergibt sich daraus ein
schier unabsehbarer Fernblick auf die Entwicklung
der Zukunftsmenschheit. —
Am Sonntag, den 29. November, mittags 12 Uln-,
erklärte Herr Prof. Dr. Jaekel einer größeren
Anzahl von Mitgliedern die neue geologische Schau-
sammlung des Königl. Museums für Naturkunde.
Durch die Einrichtung einer besonderen geo-
logischen Schausammlung im Kgl. Museum für
Naturkunde wurde einem längst empfundenen
Bedürfnis begegnet, und es muß mit aufrichtigem
Dank begrüßt werden, daß es dem Zusammen-
wirken der maßgebenden Stellen, nicht zum min-
desten den fortgesetzten Bemühungen des geehrten
Herrn Führers gelungen ist, auf einem verhältnis-
mäßig bescheidenen Räume eine treffliche Über-
sicht über das Gesamtgebiet unseres geologischen
Wissens zu liefern. So fühlbar sich jedoch der
Platzmangel bei Einrichtung der Sammlung auch
machte, er hatte wenigstens das Gute, daß von
dem vorhandenen Material immer nur das Wich-
tigste und Lehrreichste zur Verwertung gelangte.
Außer dem früher von der Schausammlung fossiler
Pflanzen, die jetzt in derjenigen fossiler Tiere pro-
visorisch ein Unterkommen gefunden bat, einge-
nommenen Saale stand noch ein kleineres an-
grenzendes Zimmer zur Verfüeune. In diesem
letzteren sind die Erscheinungen des Vulkanismus
und der Gebirgsbildung, in dem größeren Räume
die an der Erdoberfläche wirkenden Kräfte ver-
anschaulicht und an der Hand einer Formations-
sammlung eine Übersicht über die Phasen der
Erdgeschichte und die historische Entwicklung
ihrer pflanzlichen und tierischen Bewohner gegeben.
Dabei ist auf die Übersichtlichkeit des Ausgestellten
und auf möglichste Erleichterung des Eindringens
in das Verständnis derselben überall mit größter
Sorgfalt Bedacht genommen. Modelle und Zeich-
nungen von Lagerungsverhältnissen oder tektoni-
schen \'orgängen bieten im Verein mit größeren
Wandgemälden charakteristischer Landschaften
eine trefifliche Ergänzung der ausgestellten Objekte.
Ein Vortragszyklus über ,,Das System der Blüten-
pflanzen" wurde durch Herrn Prof. Dr. K.Schu-
mann in den Räumen des Königl. Botanischen
Museums in der Zeit vom 20. Oktober bis 24. No-
vember abgehalten. Der Zyklus umfaßte das fol-
gende Programm:
I. Vortrag, Dienstag, den 20. Oktober: Künst-
liches und natürliches System. Das phylogene-
tische System. Begriff der Blüte. Gymnospermen
und Angiospermen. Monocotylen und Dicotylen.
Die Stellung beider zueinander. Die Cycadeen. —
II. Vortrag, Dienstag, den 27. Oktober: Ausge-
storbene Familien, Gingkobäume, Coniferen, Gneta-
ccen. Monocot\'len, spezieller Pandanaceen, Gräser,
.^raceen. — III. Vortrag, Dienstag, den 3. No-
vember: Palmen, Lilien, Marantaceen und Zingi-
beraceen. — IV. Vortrag, Dienstag, den 10. No-
vember: Orchideen, Archichlamydeen, ältere Fa-
milien, Kätzchenträger und Feigen. — V. Vortrag,
Dienstag, den 17. November: Nelkengewächse und
Kakteen, Leguminosen, Rosifloren und ümbelli-
feren. — VI. \'^ortrag, Dienstag, den 24. November :
Metachlamydeen, Heidekräuter, Asclepiadaceen, So-
lanaceen, Rubiaceen, Compositae.
I. A.: Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
Berlin SO 16, Köpenickerstr.iße 142.
Bücherbesprechungen.
Carl Ernst Heibig, Die erste Erfindung. Vor-
geschichtliche und kulturhistorische Gedanken. Dres-
den-A. 2. Aufl. iqo2. Oscar Damm. 48 S. kl. 8".
Preis 1.20 Mk.
Die erste wichtige Erfindung des Vormenschen
ist dem Verf. das Feuermaclien. Den 20000 — 100 000
Jahren, die dem feuerkundigen Homo sapiens Linne
bisher vergönnt waren und die vermutlich zur Ab-
änderung seines Körpers nicht hinreichten, muß ejn
längerer Zeitraum des feuerlosen Homo stupidus
Haeckel vorausgegangen sein. Im Anschluß an diese
Betrachtungen, oder vielmehr als Einleitung dazu, er-
örtert der Verf. einige Fragen : das LTrsprungsland des
Menschen, den Verlust des Haarkleides, die -Anfänge
des Wohnungsbaues, der Sprache, der Familienbildung
und anderes. Nach der Natur der Sache sind ab-
schließende Ergebnisse nicht möglich, doch wird es
viele Leser anziehen, die bisher von anderen ausge-
sprochenen Anschauungen kritisch beleuchtet zu sehen.
Otto Ammon-Karlsruhe.
Dr. Georg Biedenkapp, Was erzähle ich mei-
nem Sechsjährigen? Aus Urzeit und Gegen-
wart. Mit 10 Illustrationen. Hermann Costenoble
in Berlin (ohne Jahreszahl). — Preis geb. 3 Mk.
Dem Autor ist es trefflich gelungen , Kinder-
geschichten zurechtzumachen , die vernünftige , be-
lehrende Tatsachen enthalten oder besser gesagt aus
ihnen zusammengesetzt sind. „Ich erzähle grund-
sätzlich nichts — sagt Verf. — was nach bestem
menschlichen Wissen und Gewissen mit der Natur
der Dinge unvereinbar ist und den Naturgesetzen ins
Gesicht schlägt." Daß dies in Geschichten für kleine
Kinder möglich ist, so daß sie dasselbe Interesse be-
kunden als hörten sie Märchen, hat Referent an dem
vorliegenden hübschen Buch selbst erprobt.
Dr. Karl Weule, Völkerkunde und Urge-
schichte im 20. Jahrhundert. Sonderabdruck
aus der Politisch-anthropologischen Revue. Thürin-
gische Verlagsanstalt Eisenach und Leipzig. 1903-
43 S. gr. 8". — Preis i Mk.
Der Verf., Direktor des Museums für Völkerkunde
N. F. III. Nr. i6
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
255
in Leipzig und Professor der Ethnographie und Prä-
historie an der Universität daselbst, erörtert die Auf-
gaben, die der Anthropologie, der Ethnographie und
Ethnologie, sowie der Urgeschichte gestellt sind. Dabei
kommen einige der bisherigen Forschungsergebnisse
in etwas abgerissener Weise zur Sprache. Seine
])ral<tischen Folgerungen gipfeln in dem Vorschlag,
die Naturvölker, die im Verschwinden begriffen sind,
sozusagen vor Torschluß noch gründlich zu studieren
und alles zu sammeln, was später von Wert sein kann.
Den Lehrstühlen für Ethnologie an einigen Universi-
täten müssen Museen angegliedert werden, weil sie
ohne solche sozusagen in der Luft stehen. Während
der Veif für seine Ansichten über die Aufgaben der
Ethnologie und L^rgeschichte allgemeinen Beifall finden
dürfte, scheint er die der Anthropologie verkannt zu
haben. Auch für diese gilt der Satz, die vorhandenen
und sich beständig verändernden Mischvölker mög-
lichst genau nach ihren Eigentümlichkeiten aufzu-
nehmen, um ihre mutmaßliche Zusammensetzung und
später die eingetretenen Veränderungen feststellen zu
können. Der Verf. spricht vom Standpunkt eines
Museumsdirektors aus, wenn er meint, die Aufgabe
der Anthropologie bestehe darin, die Rassenzugehörig-
keit eines Schädels unbekannter Herkunft zu be-
stimmen, und dies sei nicht gelungen. In manchen
Fällen ist es allerdings nicht gelungen und ist auch
nicht als Ziel angesehen worden , in anderen Fällen
aber ist es überraschend gut gelungen. Schwalbe's
klassische Untersuchungen über den Neandertal- und
Spxschädel , die zur Feststellung einer tiefstehenden
menschlichen Urrasse führten und Rudolf Martin's
Resignation glänzend widerlegten , finden sich bei
\\"eule angeführt, aber nicht nach ihrer Bedeutung
gewürdigt. Mit den Schädelmessungen mul.j man
sich bei den ausgestorbenen Rassen meist be-
gnügen , höchstens daß da und dort noch ein paar
der langen Exlremitätenknochen erhalten sind. Daß
man bei LTntersuchungen an Lebenden sich nicht
auf Kopfmessungen beschränkt, sondern Körpergröße,
Sitzgröße, oft auch Beinlänge, Spannweite, Gesichts-
und Nasenform, überall Augen-, Haar- und Hautfarbe
heranzieht , scheint Weule entgangen zu sein. Die
ungezählten Tausende von Indices machen dem Verf
Pein ; aber da muß man sich eben herzhaft hinein-
studieren! Es sind ihrer noch lange nicht genug,
und der von Schwalbe angeregte Plan einer deutschen
Massenuntersuchung beim Musterungsgeschät't sollte
baldmöglichst verwirklicht werden. Es wird Jahre dauern,
bis er durchgeführt ist , aber er allein kann uns für
die verschiedenen Teile Deutschlands gleichwertige
Materialien zur Kenntnis der gegenwärtigen Bevölke-
rungen bringen und nur auf Tatsachen können sichere
ScliRisse aufgebaut werden. Diese Aufgabe der Anthro-
pologie hat Weule übersehen. Einzelnes scheint auch
im urgeschichtlichen Teil der Weule'schen Abhand-
lung überholt zu sein ; so haben die bedeutenden
Arbeiten von Kosinna und von Much, die neue
Lichter auf die Urheimat der Indogermanen und die
vorgeschichüicheii Völkerwanderungen warfen , keine
Beachtung gefunden. (Jtto Ammon-Karlsruhe.
Georg Klebs, Prof in Halle, Willkürliche E n t-
Wicklungsänderungen bei Pflanzen. Ein
Beitrag zur Physiologie der Entwicklung. Mit 28
Abbildungen.
Preis 4 Mk.
Verf sucht
Gestaltung de
Gustav Fischer in Jena, 1903. —
die Beziehungen auf zwischen der
Pflanzen und den äußeren Einflüssen,
die auf sie wirken. So ist der Wechsel zwischen
vegetativeiB Wachstum und Fortpflanzung durch die
äußeren Verhältnisse bedingt. Man kann z. B.
Glethoma hederacea unter Umständen kultivieren,
die eine Blütenbildung nicht aufkommen lassen, wobei
aber die Pflanzen ständig weiter wachsen ; umgekehrt
konnte Verf. Veronica anagallis in pennanenter Blüte
züchten usw. Man nennt die von Klebs mit so
großem Erfolg gepflegte Richtung, die zu entscheiden
sucht, inwieweit die Formen der Organismen von
den Einflüssen der Lhiigebung abhängig sind,
auch die der „experimentellen IMorphologie"; das
ist eigentlich zu bedauern, da Morphologie in dem
Sinne von Goedie, der den Terminus einführte, etwas
ganz anderes ist, nämlich die Disziplin bezeichnet, die
zwar in ihrer historischen Entwicklung (man denke
an Alexander Braun) viel Metaphysisches produzieit
hat , jedoch , nach Ausschaltung desselben zu Recht
bestehen geblieben ist , wenn sich auch die heutige
Forschung im allgemeinen wenig um sie kümmert,
bis CS einmal wieder Mode werden wird, diese Rich-
tung in neuzeitlicher Weise zu pflegen. Die expeii-
mentelle Organngraphie, wie es besser heißt, ist das
gerade Gegenstück zur Morphologie: beide Disziplinen
suchen die Komponenten an der Gestaltung der Or-
gane auf, aber die experimentelle Ch'ganographie die-
jenigen, die durch die L'mgebung, die Morphologie
hingegen diejenigen, die durch die Beschaft'enheit,
Herkunft etc. der Organe selbst gegeben sind. Die
Standpunkte sind in beiden Fällen verschiedene und
einander wesentlich ergänzende. Im ersten Falle
frage ich : was wird aus den Organismen durch Be-
einflussungen aus der LTmgebung , im zweiten suche
ich die relativen Stabilitäten auf, die die Organismen
trotz der Einwirkungen von außen bewahren und
suche die Stabilitäten (insbesondere die stärksten unter
ihnen , die „morphologischen Merkmale", „Organisa-
tionsmerkmale") zu erklären.
Nach einer Einleitung (1), die auch Historisches
bringt, beschäftigen sich die folgenden Abschnitte mit
II. Wachstum und Fortpflanzung, III. mit Lhiiände-
rungen des Entwicklungsganges, IV. mit Metamorphosen
von Pflanzenorganen, V. mit der Regeneration, VI.
mit der Lebensdauer und endlich mit V^ariation und
Mutation. Die Angabe auf p. 154, die inan übrigens
öfter findet, daß die Korschinsky'schen Beobachtungen
über ,, sprungweise Variationen" — wie inan in meiner
Studienzeit sagte — (= Heterogenesis Korschinsky
= Mutation im Sinne von de Vries) erst igor, in der
nach seinem Tode herausgegebenen Arbeit bekannt
geworden seien , ist nicht zutreftend. Korschinsky
hat über den Gegenstand eine Originalmitteilung unter
dem Titel „Heterogenesis und Evolution" in der
Naturw. Wochenschr. vom 11. Juni 189g als vor-
läufige Mitteilung veröftentlicht. Diese Arbeit umfaßt
^S6
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. III. Nr. 16
etwa 10 Spalten des früiiercn gruloeii Formats der
Naturw. Wochenschi'. P.
Literatur.
Röttger, Ob.-Inspclit. Dr. II. : Kurzes Lehrbuch der Nahrungs-
mittel-Chemie. 2. , vcrm. u. vcrb. Aufl. (XIV, 698 S. m.
21 AbbildgD.) gr. 8°. Leipzig '03, J. A. Barth. — 1 1 Mk. ;
geb. iu Leinw. 12,20 Mk.
Sverdrup, Kapit. O.: Neues Land. 4 Jahre in arkt. Gebieten.
I\Iit 225 Abbildgn., darunter 69 Sep. -Bilder, und 9 Karten.
2 Bde. (XII, 576 u. X, 542 S.) gr. 8». Leipzig '03, F.
A. Broekhaus. — 18 Mk. ; geb. in Leinw. 20 Mk.
Slrasburger, Eduard, Fritz NoU, Heinr. Schenck, Geo.
Karsten , Proff. DD. ; Lehrbuch der Botanik für Hoch-
schulen. 6. umgearb. Aufl. Mit 741 zum Teil fatb. Ab-
bildgn. (VIII, 591 S.) Lex. 8». Jena '04, G. Fischer. —
7.50 Mk. ; geb. 8,50 Mk.
Treadwell, Prof. Dr. F. P. : Kurzes Lelirbuch der analytischen
Chemie in 2 Bdn. 1. Bd. Qualitative .Analyse. Mit 14 .Ab-
bildgn. und I Speklraltaf. 3. verm. u. verb. Aufl. (XIII,
444 S.) gr. S". Wien '04, F. Deuticke. — 8 Mk.
Smith, Prof. Dr. Ale.x. : Praktische Übungen zur Einführung
in die Chemie. Nach e. vom Verf. besorgten Umarbeitg.
der 2. amerikan. Aufl. übertr. v. DD. Prof. F. Haber und
M. Stoecker. (VIII, 159 S.) 8». Karlsruhe '04, G. Braun-
sche Hofbuchdr. — Geb. in Leinw. u. durchsch. 3,60 Mk.
Petzoldt, Jos, ; Einführung in die Philosophie der reinen Er-
fahrung. 2. Bd. Auf dem Wege zum Daueraden. (VIII,
341 S.) gr. 8". Leipzig '04, B. G. Tcubner. — 8 Mk.
Ursprung, Dr. .Alfr. : Die physikalischen Eigenschaften der
Laubblätler. Gekrönte Preisschrift. Mit 27 Fig. im Texte
u. 9 Tat". (V, 120 S. m. 3 Bl. F.rklärgn.). Stuttgart '03,
E. Nägele. — 28 Mk.
Pfaundler, Prof. Leop.: Die Physik des taglichen Lebens.
Gemeinverständlich dargestellt. Mit 464 Abbildgn. (XII.
420 S.) Stuttgart '04, Deutsche Verlags-Anslalt. — 7,50 Mk.
Briefkasten.
Herrn S. in J. — Wenden Sie sich an Herrn Professur
Hennings in Berlin, Kgl. Botan. Museum (Grunewaldstr. 6/7).
Herrn Prof. B. in M. — Die angegebene Zeitschrift
dürfte — weil zu speziell — kaum geeignet sein; wenden Sie
sich lieber an eine Firma wie die Linnaea (Dr. Müller) in
Berlin, die mit naturhistorischen Gegenständen handelt. Für
Objekte aus Süd-Afrika kommen doch nur Spezialisten als
Käufer in Frage, die durch Inserate nur sehr zufällig gefunden
werden.
l) Welchen Namen führt das in einigen Exemplaren bei-
gefügte Insekt, welches in hiesiger Gegend unter dem Namen
,,Gewitterwiirmchen-' in großer Anzahl vorkommt? 2) Welches
ist seine Stellung im System ? 3) Wo kann ich Genaueres
über dieses interessante Kerbtier erfahren? Zu den beigefügten
Tieren bemerke ich noch, daß dieselben heute lebend aus
ihren Schlupfwinkeln (verstaubten Bilderrahmen) hervorgeholt
wurden, während die Flugzeit in die Monate Juli und .\ugust
fällt, in welcher sie in großer Zahl , namentlich an gewitter-
schwülen Tagen, sich auf Gesicht und Händen niederlassen
und beim Kriechen ein unausstehliches Jucken veranlassen.
W. Spill.
Das kleine Insekt gehört zur Gattung Thrips. Die Spezies
kann nicht bestimmt werden. Thrips gehört zu der Ordnung
der Thysanoplera. Näheres darüber in G e rsta e c k er , Hand-
liuch der Zoologie. II. Arthropoden. Taschenberg,
Praktische Insektenkunde. Auch in Taschenberg (Brehm's
Tierleben. 9. Bd.). S. 609 fi'. H. J. Kolbe.
\ ou Frof. Dr.
M. Bouedikt,
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tischen Substanz des Zellkerns. ,\'^" ^" J'V
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Über das Schicksal der elterlichen und grofs-
elterlichen Kernanteile, i^iorphoiogisehe Beiträge
zum Ausbau der Ver-
erbungslehre. Von Dr. Valentiu Hacker, Professor an
der Technischen Hochschule in Stuttgart. Mit 4 Tafeln
und 16 Textfiguren. Preis: 4 llaik.
Über die Organisation und Physiologie der
Cyanophyceenzelle und die mitotische Teilung
ihres Kernes, y^'" '-•;■• *> '■• '^0'''' "■■ "■ ^!'°h?"'
der notanik an der Universität Mar-
burg. Mit 10 lithographischen Tafeln. 1903. Preis:
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Das Problem der geschlechtsbestimmenden
Ursachen ^ °" ^"^^ "^' ^*^" I-iMiUossek, o. Professor
! der Anatomie in Budapest. 1902. Preis:
2 Mark.
Betrachtungen über das Wesen der Lebens-
Ein Beitrag zum Begriff des Proto-
I plasnias. Von Prof. Dr. med. et phil.
Preis: 2 Mark.
Die Neuronenlehre und ihre Anhänger, „^j"
i Beitrag
zur Lösung des Problems der Beziehungen zwischen
Nervenzelle, Faser und Grau. VoQ Dr. Frauz JJissl,
a. o. Professor in Heidelberg. Mit 2 Tafeln. 1903.
Preis: 12 Mark.
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bildungen. Vierte neu be.irlieltetc .Vufl.ige. 1903.
Preis: 15 Mark, halbfranz gebunden 17 Mark.
Das Neuron in Anatomie und Physiologie.
Vortrag gehalten in der allgenieiiien Sitzung der medi-
zinischen Hauptgruppe der 72. Versammlung deutscher
Naturforscher und .\rzte zu Aachen am 19. Sept. 1900.
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Der Neo-Lamarckismus und seine Beziehungen
Vortrag gehallen in der all-
gemeinen Sitzung der 74. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und .irzte in Karls-
bad am 26. September 1902. Von Dr. Rieliard von
Wetti^teiii, Professor an der Universität Wien. Preis:
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erscheinungen
K. >eiiiiieister.
zum Darwinismus.
Inhalt: Dr. C. Tönniges: Schnecken als Parasiten. — F. Roßmäßlcr: Naturschilderung aus dem südlichen Kaukasus.
— Kleinere Mitteilungen: Dr. M. Gräfin v. Linden: Hautsinnesorganc auf der I'uppenhUlle von Schmetterlingen.
— Grae bener; Ein Beispiel zum Kampfe ums Dasein in der Pflanzenwelt in Verbindung mit der raschen Verbreitung
einer neu eingeführten Art. — Börnstein: Eine einfache Vorrichtung zur Erklärung der Flut und Ebbe. — George
Claude: Die Gewinnung von Sauerstoff mit Hilfe flüssiger Luft. — Vereinswesen. — Bücherbesprecbungen: Carl
Ernst Heibig: Die erste Erfindung. -^ Dr. Georg Biedcnkapp: Was erzähle ich meinem Sechsjährigen? —
Dr. Karl Weule: Völkerkunde und Urgeschichte im 20. Jahrhundert. — Georg Klebs: Willkürliche Entwicklungs-
änderungen bei Pflanzen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von I.ippert Sc Co. (G. Pätz'sctie Buctidr.), Naumburg a. S.
-^
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 24. Januar 1904.
Nr. 17.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buctihandlungen
lind Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltcnc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinseratc durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Entwicklung der altmexikanischen Religion.
[Nachdruck verboten.] Ein ethnologischer Versu
Wohl nirgends auf der Erde gestaltet sich der
Ursprung und die Entwicklung einer vielköpfigen
Göttervvelt und der Übergang vom Dämonismus
zu einer etiiisclien Religion so klar und durch-
sichtig wie im alten Mexiko, dessen Bewohner un-
abhängig von allen Einflüssen der alten Welt eine
imponierende Kultur erlangt hatten. Ihre zahl-
reichen religiösen Bilderschriften und die eingehen-
den spanischen und aztekischen Berichte aus der
ersten Zeit der Conquista ermöglichen es uns,
einerseits den Typus einer auf Fruchtbarkeits-
vorstellungen gegründeten primitiven Religion zu
erfassen, deren Elemente die Ethnologie bei sehr
vielen Völkern durchschimmern, aber nirgends er-
kennen und verfolgen läßt, andererseits den Über-
gang von niedrigen zu höheren Formen der Re-
ligion festzustellen. Freilich , ohne die induktiv
vergleichende Völkerkunde würden diese mexika-
nischen Quellen dem Forscher nichts verraten.^)
') Der Aufsatz beruht hauptsächlich auf meinen letzten
Arbeiten: l) Die Feuergötter als .Ausgangspunkt zum Ver-
ständnis der mexikanischen Religion in ihrem Zusammenhang
in Mitt. d. Anthrop. Ges. Wien 1903, S. 129 — 233. 2) Das
Relief bild einer mexikanischen Todesgotthejt. Zeitschr. f. Ethno-
ch von K. Th. Preufs.
Am vierten Jahresfest im April, wenn der
Mais, das hauptsächlichste Nahrungsmittel, aufge-
gangen war, holten die Mexikaner von jedem Acker
je eine Maisstaude und begrüßten sie zu Hause als
Maisgottheit. In den Gemeindehäusern wurden
sie aufgepflanzt, mit Kleidern behängt und mit
Lebensmitteln aller Art bewirtet. Der Maisgott
oder die Maisgöttin „war mit allem, was man aß
und trank, identisch und brachte alle Maissorten,
die Bohnen, Kräuter und alles übrige hervor."
Augenblicksgötter nennt Usener trefi'end solche
Dämonen, die sich in der Lebens- und Kraft-
äußerung eines Dinges dem Menschen plötz-
lich oftenbaren. Nichts anderes war ursprünglich
die mexikanische Maisgottheit. Später aber stellte
man sich den in der l'flanze lebenden Geist auch
in menschlicher Gestalt vor. Wir wissen, daß
die junge Xilonen (von xilotl, junger Maiskolben)
als halb erwachsenes Mädchen von 12 Jahren auf-
logie 1902. Verh. S. (445)— (467). 3) Die Sünde in der
mexikanischen Religion. Globus LX.XXIII (1903) S. 253 bis
257; 268 — 273. 4) Phänische Fruchtbarkeitsdämonen als Träger
des altmexikanischen Dramas im Archiv für Anthropol. 1903
N. F. I, S. 129- 1 88.
258
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 17
gefaßt wurde. Je reifer die Ernte, desto älter
wurde die Göttin, und beim Erntefest hatte sie
ein Alter \on 40 — 45 Jahren. Aus der jung-
fräulichen Göttin waren die anderen Formen Chi-
come coatl (Sieben-Schlange, ihr Kalendername)
und Cinteotl (Maisgott, von cintli, Mais) entstanden,
die sich im Alter nicht unterscheiden, und schließ-
lich die Erntemutter Teteoinnan (,, Göttermutter").
Nun war der Hauptzweck des Erntefestes, auch
für das nächste Jahr reiche Fülle zu erlangen. Die
Göttin war alt geworden und mußte sich durch
Wiedergeburt erneuen, sollte nicht die Vegetation,
die in ihr verkörpert war, zugrunde gehen. Des-
halb wurde die Vermählung der „Maismutter"
Teteoinnan mit dem Sonnengott und zugleich die
Geburt der Tochter am Erntefest in Mexiko dar-
gestellt: Das war aber keine bloße Szene, sondern
man meinte, in den betreffenden Personen seien
die Dämonen verkörpert, und mit ihnen verjünge
sich die Natur.
Aus dieser Auffassung sind auch die blutigen
Menschenopfer jenes Volkes zu erklären, die furcht-
baren Metzeleien, die das Entsetzen der .Spanier her-
vorriefen. Eine Göttin von 40 — 45 Jahren kam den
Mexikanern zu alt vor, um mit Sicherheit ein kräftiges
Kind zu bekommen. Einer solchen dürfe man
das Schicksal der Pflanzenwelt nicht anvertrauen.
Nur eine jugendlich kräftige Göttin könne Gewähr
für eine reiche Ernte bieten. Sie taten daher das,
was an einer Menge von Beispielen J. G. Frazer
in seinem vortrefflichen Buche „the golden bough"
als Sitte auf der ganzen Erde nachgewiesen hat:
der Mensch, der Priester, der König, in dem der
Dämon des Wachstums verkörpert ist, muß sein
Leben lassen und einem Jüngern Nachfolger den
Platz räumen, auf daß der Naturprozeß in der
Pflanzenwelt, die mit dem Dämon identisch ist,
nicht stille stehe.
Sahagun und Duran berichten in ihren Historien
über den Vorgang in Mexiko. Eine Frau in dem
erwähnten Alter wurde 40 Tage vorher ausge-
wählt, um die Göttin Teteoinnan oder Toci
(,, unsere Ahne") am Erntefest zu repräsentieren.
Man kleidete sie in die vorschriftsmäßige Tracht
der Teteoinnan, betete sie an und verehrte sie,
als wenn sie die Göttin selbst wäre. In dem Augen-
blick, wo sie geopfert werden sollte, nahm sie ein
Priester auf den Rücken, derart, daß das Gesicht
nach oben gewandt war, und hielt sie an den
Armen fest. Dann packte sie der Opfernde bei
den Haaren und schnitt ihr den Kopf ab: „Der
sie hielt, badete sich auf diese Weise ganz im
Blute der Geopferten." Den noch warmen Körper
häutete man sofort ab und bekleidete mit der
Haut einen „großen und besonders kräftigen Priester",
der nun die Rolle der Göttin übernahm.
Man wird gut tun, den Priester, auf dessen
Rücken die alte Göttin enthauptet wurde, mit dem
,, großen und besonders kräftigen Priester", der mit
dem Überziehen der Haut der Teteoinnan zur
jungen „Maisbraut" wurde, zu identifizieren. Dann
erklärt sich der Verlauf von selbst. Durch das
Blut und durch die Haut wird die Kraft der alten
Göttin auf die neue, deren Vertreter zu dem be-
vorstehenden Zweck des Gebarens möglichst kräftig
ausgesucht ist, übertragen.
Was soll nun aber ein Maiskind bei der Ernte?
Unserem Empfinden nach müßte die Aussaat als
Coitus und der sichtbar werdende Keim als Ge-
burt aufgefaßt werden. Es wurden ja auch die
jungen Maisstauden als jugendliche Maisgöttinnen
angesehen. Die Lösung ist folgende. Der Mais-
gott, der am Erntefest geboren wird, heißt Cin-
teotl „Itztlacoliuhqui („das gekrümmte Obsidian-
messer") und wird als Gott der Kälte bezeichnet.
Er ist mit Todesemblemen ausgestattet. Der Vege-
tationsdämon, der am Erntefest seine Wieder-
geburt feiert, ist also bestimmt, im Winter zur
Zeit der Fröste zu existieren. Er ist zum Geist
der Witterung geworden, weil die Pflanzenwelt
vom Wetter abhängt, und ist ein Gott des Todes,
da auch in Mexiko zu jener Zeit fast alles Grün
verschwindet. Gleich Persephone weilt er bei den
Toten, aber er ist nicht dahin, ebensowenig wie
die griechische Göttin, er existiert und hat ebenso
wie sie die Pflicht, die Vegetation unversehrt durch
den Winter zu führen, damit sie im Frühling zu
neuem Leben erwachen kann. Daß er sich aber
gerade im Herbst verjüngt, das liegt nicht an
seinem Wesen und an der ihm zugefallenen Auf-
gabe, dazu gab nur die Ernte Anlaß, die den Ge-
danken an das Alter der Vegetation und die not-
wendige Erneuerung mit zwingender Gewalt er-
weckte.
Im Frühjahr ist dann auch der Dämon des
Winters alt geworden und muß sein Leben lassen,
wenn die ersten Kinder der Wärme und F'euchtig-
keit das Haupt erheben. Umgekehrt wie bei der
Ernte ist hier augenscheinlich nicht der winter-
liche Dämon an sich alt, sondern der junge Frühling
macht ihn alt und gibt den Gedanken an Ver-
jüngung ein. Zu jener Zeit, Ende Februar, hob
in Mexiko das furchtbare Menschenschinden an,
nach dem das Jahresfest tlacaxipeualitzli genannt
ist. Davon hat auch der PVühlingsdämon seinen
Namen Xipe „der Geschundene". Wie man die
enthauptete Maismutter sogar durch ein Kolossal-
monument darstellte, weil ihre Eigenschaft als
Göttin, die durch Abschlagen des Kopfes erneut
wird, so wichtig an ihr war, so hieß der Vege-
tationsdämon des Frühlings wegen dieser wich-
tigen Eigenschaft des Erneuens der Geschundene
(Xipe). Der Gott erneut sich, indem er getötet
und abgehäutet wird. Deshalb wurden sowohl
die Gefangenen, die geopfert wurden, xipeme ge-
nannt, wie die Leute, die nachher in der abge-
zogenen Haut einhergingen. Dargestellt aber wird
er ähnlich der mit der Haut der alten Erntegöttin
bekleideten Teteoinnan als verjüngter Gott mit
überzogener Haut.
Teteoinnan und Xipe, die Erntemutter und der
Frühlingsgott, sind aus der großen Anzahl der
Dämonen, die natürlich ursprünglich existierten,
ausgewählt und zu Repräsentanten der ganzen
N. F. III. Nr. I-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
259
Schar geworden. Getötet wurden aber viele Men-
schen. Von ihnen sagte man, sie würden den
beiden Gottheiten und anderen zum Opfer ge-
bracht. Man erkennt aber an dem Überziehen
der Haut der Geopferten, daß hier ebenfalls nur
die Erneuung von Dämonen vorliegt und die
andere Deutung des Vorganges der Entwicklung
ihren Ursprung verdankt. Nach dieser Erneuung
konnte, wie wir das schon an der Teteoinnan
des Erntefestes gesehen haben, die Verjüngung
vorgenommen werden. Das geschah durch ob-
scöne Gebärden, indem z. B. — nach den Bilder-
schriften zu urteilen — , die mit langen Phallen
versehenen Repräsentanten der Dämonen , ihre
Instrumente wie zur Aktion erhoben , in langen
Reihen einherzogen.
Sehen wir uns jetzt die Zeremonien der Tötung und
Erneuung dieses Gottes Xipe näher an. Am Feste
wurde der größte Teil der zahlreichen (3pfer durch
Herausreißen des Herzens getötet, einige aber,
die kräftigsten und mutigsten Leute, waren aus-
gesucht worden , mit ungleichen Waffen gegen
4 Krieger auf dem temalacatl, dem „steinernen
Spinnwirtel" zum kämpfen, in dessen Mitte je einer
durch ein Seil, das sogenannte Lebensmittelseil
(tonacamecatl) derart festgebunden war, daß er
sich frei auf dem Steine bewegen konnte. Wenn
er besiegt war, wurde er gleich auf dem Rande
dieses Kampfsteins auf die gewöhnliche Weise
durch Herausreißen des Herzens geopfert.
Man wird nicht fehlgehen in der Deutung, daß
das ,, Lebensmittelseil" und der merkwürdige
Kampfplatz des Gottes, der Spinnwirtel, der den
Erdgöttinnen (Teteoinnan u. a.) als Patroninnen
des Spinnens und Webens heilig war, sich aut
das bezog, was man von dem Tod Xipes erwar-
tete, die Fruchtbarkeit der Erde. Das ganze
Sacrificio gladiatorio aber soll den Kampf zwischen
dem alten und neuen Vegetationsdämon vorstellen.
Natürlich mußte bei dem Kampfe — dafür hatten
die Mexikaner schon gesorgt — der alte Dämon
erliegen. Aber es war mit Absicht ein hartes
Ringen zwischen den besonders dazu ausgewählten
Gefangenen und ihren Gegnern, denen trotz ihrer
überlegenen Waffen mitunter noch ein fünfter zu
Hilfe kommen mußte. Je kräftiger der alte Dämon
war, mit desto größerer Gewißheit durfte man
auf einen leistungsfähigen , gesunden Nachfolger
rechnen, auf den die Eigenschaften des Vorgängers
zugleich mit der Haut übergehen, und damit auf
reiches Wachstum und ergiebige Ernte. Dieselbe
Idee liegt der folgenden Zeremonie zugrunde. Die
mit der Haut bekleideten Xipeme, die neuen
Vegetationsdämonen, stellen sich , wenn sie zum
erstenmal mit der Haut erscheinen, in Reihen
auf. Ihnen gegenüber nehmen unerschrockene,
ausgezeichnete Krieger Stellung, versetzen sie durch
Neckereien in Zorn und Wut , und fliehen , ver-
folgt von der Schar der Xipeme. Das Gefecht
zieht sich schnell in bestimmter Richtung nach
dem Tempel Xipes, nach Yopico hin. ,,Wer er-
griffen wird, den schlagen sie, treten ilni mit
Füßen und lassen sonst ihren Zorn an ihm
aus."
Noch deutlicher wird uns der Sinn dieser
Zeremonie werden, wenn wir sie mit den ähn-
lichen Gefechten am Erntefest vergleichen, wo
die alte Maismutter mit der jungen kämpft, und
entsprechend ganze Scharen daran teilnehmen.
Bevor die Verkörperung der Göttin zum Tode
geführt wurde, fanden 4 Tage lang heftige Kämpfe
zwischen den alten und jungen Medizinfrauen statt,
deren Patronin die Göttin war. In zwei gleiche
Parteien geteilt bewarfen sie sich mit Ballen be-
stimmter Blätter und Stengeln gelber Blumen,
wobei Teteoinnan unter der Gruppe der Alten
den ersten Angriff auf die der Jungen machte.
Nach dem Siege dieser letzteren wurde die alte
Göttin in der Nacht darauf getötet.
So dezent auch die mexikanischen Bilder-
schriften im allgemeinen sind, so läßt sich doch
an sehr vielen Gottheiten des mexikanischen
Pantheons mit Sicherheit feststellen, daß sie wie
Teteoinnan und Xipe Fruchtbarkeitsdämonen sind,
daß sie wie diese mit der Pflanzenwelt identisch
sind, und, da sie in menschlicher Form gedacht
werden, auf menschliche Art für die Fortpflanzung
der Vegetation Sorge tragen. Nach dieser ihrer
Haupttätigkeit hat die Maismutter Teteoinnan den
Beinamen Tlagolteotl , „Göttin des Unrats" d. h.
der geschlechtlichen Ausschweifungen, ebenso wie
im Germanischen die ihr entsprechende Korn-
mutter ,,die große Hure" genannt wird. Da ferner
der Sonnengott besonders als Vater zur Befruch-
tung der Erde anerkannt wurde, so hatten die
Mexikaner es in dem gleichen Gedankengange
für richtig befunden, einen mit Syphilis behafteten
Gott Nanauatzin, ,,den armen Syphiliskranken",
zum Sonnengott zu machen. Wegen seiner ge-
waltigen geschlechtlichen Tätigkeit mußte er an
der Krankheit leiden, die man an ausschweifenden
Menschen zu sehen gewohnt war. In den Bilder-
schriften ist diese Idee der geschlechtlichen Tätig-
keit der Gottheiten häufig dadurch zum Ausdruck
gebracht, daß eine Eidechse, das Symbol der
Fruchtbarkeit und des Wasserreichtums, oder eine
Blume an den Penis oder die Vulva gesetzt ist.
Da aber die Dämonen , als sie zu Göttern und
sittlichen Mächten erhoben wurden, anfingen
Kleider zu tragen wie die Mexikaner selbst, denen
es als eine Schande galt, ohne Schambinde zu
erscheinen — so ist eine Verbindungslinie von
der Eidechse zu der Gegend zwischen den Beinen
gezogen. Nur die ärgsten PVuchtbarkeitsgottheiten
gehen bezeichnenderweise trotz ihrer staatlichen
Würde noch zuweilen nackt. Dahin gehören
Teteoinnan, Xochiquetzal, ihrem Namen und Wesen
nach die mexikanische Flora, ,,die die Erde mit
Blumen bedeckt", Xochipilli (der „Blumenprinz"),
der Gott des Spiels und Tanzes, und Tlaloc, der
Regengott.
Zu diesen Vegetationsdämonen gehört auch
eine der mexikanischen Hauptgottheiten, Tezcatli-
poca {Spiegelrauch), dessen eigentümlicher Kultus
200
Naturwissenschaftliche Wochcnsclirifi.
N. F. III. Nr. 17
weiter das Wesen dieser Waclistumsdämonen er-
l<lärt und die Entwicklung der mexil<anisclien
Götterwelt verstehen lehrt. An seinem verhüllten
Penis steht einmal das Zeichen Rohr, das als
Sinnbild der Feuerbohrung und der Zeugung galt,
und dann auch die uns bekannte Eidechse. Wenn
die Sonne auf ihrem Wege nach Norden über der
Stadt Mexiko im Zenith stand im Monat Toxcatl
(Mai), wurde alljährlich der Gott in Gestalt eines
körperlich tadellosen Gefangenen getötet. Am
vorigen Toxcatl- Fest war er sofort nach dem Tode
seines Vorgängers ,, geboren" (tlacatia) und für
den Gott erklärt worden , nachdem er bereits
lange vorher aus allen Gefangenen ausgewählt
und sorgfältig erzogen worden war, damit er den
Gott während des einen Jahres auch in Rede und
Benehmen vollkommen repräsentieren könne.
Ohne Fehl mußte in dieser ganzen Zeit sein
Körper bleiben. Wurde er etwas dick, so gab
man ihm Salzwasser zu schlucken, um ihm seine
schlanke Gestalt wieder zu verschaffen. Dafür
wurde er allenthalben, wo er sich sehen Iiei3, als
Gott verehrt und angebetet. Das Volk warf sich
vor ihm in den Staub, und fühlte als Zeichen der
Zerknirschung über seine Sünden Erde zum
Munde.
20 Tage vor dem Tode wurde er mannbar
und erhielt vier Weiber, die ebenfalls ein Jahr
lang im Magazin in Verwahrung gehalten worden
waren. Sie hießen (d. h. es waren die Göttinnen)
Xochiquetzal, Xilonen, Atlatonan und Uixtociuatl,
von denen uns die ersten als „Flora" und junge
Maisgöuin bereits bekannt sind. Die andern sind
ebenfalls Erdgöttinnen. Bei diesen schläft er die
20 Tage bis zum Tode.
Der Zweck des ganzen Brauches ist also der,
daß der Dämon auf dem Höhepunkt seiner körper-
lichen Entwicklung kräftige Kinder, d. h. reiches
Wachstum erzeuge. Hier ist es also anders wie
bei den bisher betrachteten Opfern, wo der Dämon
alt geworden war und seine Tötung die Verjüngung
und unmittelbar darauf den Zweck der Tötung,
den Coitus, brachte. Hier reift der junge Gott,
der am Toxcatl - Fest geboren ist , langsam zum
Moment seiner besten Zeugungsfähigkeit heran
und wird dann getötet. Deshalb findet hier auch
keine Schindung und kein Überziehen der Haut
statt.
Ganz merkwürdig entspricht dieser Vorgang
den mitteleuropäischen Gebräuchen. In den
Feuern, die im Frühling zu verschiedenen Zeiten
und zur Sommersonnenwende angezündet werden,
verbrennt man oftmals eine Puppe, die Mannhardt
in seinem berühmten Buche „VVald- und F"eldkulte
der Germanen" (I, S. 523 f.) als „die Vergegen-
wärtigung des das Sonnenfeuer passierenden
Vegetationsdämons" ansieht. Die Beziehung des
Feuers auf die Sonnenwärme und auf das Ge-
deihen der Pflanzenwelt ist daneben durch un-
zweideutige Zeugnisse gesichert.
Nun hat Mannhardt unzweifelhaft Recht, daß
es sich dabei um einen Wachstumsgeist handelt.
Er hätte die Zeremonie aber weniger symbolisch
deuten können. Die neu heraufkommende Früh-
lings- und Sommersonne mit ihrer Wärme wird
offenbar in dem Vegetationsdämon ebenso ver-
körpert gedacht, wie wir die Kälte als notwendigen
Bestandteil des Maisgottes Itztlacoliuhqui kennen
gelernt haben, und der Frühlingsgott Xipe, nach
einem ihm geweihten Liede zu urteilen, auch den
Regen bringt. Nun, da nach Erreichung des
höchsten Standpunktes eine neue Sonne erscheint,
wird der alte Dämon getötet, um einem neuen
Platz zu machen.
Genau so muß man Tezcatlipoca auffassen.
Der ihn verkörpernde Gefangene ist in der F"orm
einer Schärpe mit Blumen über Schulter und
Hüfte bekränzt und hat einen Kranz von Blüten,
die geplatzte Maiskörner imitieren sollen, auf dem
Kopf. Von ihm heißt es, er sei in einem Jahre
gekommen, das Feuer zu entzünden und habe in
einem Jahre den Feuerbohrer in Tätigkeit gesetzt.
D. h. er als Dämon des Wachstums habe in dem
einen Jahre die zum Gedeihen notwendige Wärme
hervorgerufen. Denn Tezcatlipoca ist ursprünglich
sicher nicht ein Sonnengott gewesen. Man sieht
aber, wie leicht er auf diesem Wege dazu werden
kann.
Wachstumsdämonen bringen das Wachstum
hervor und sind zugleich mit der Pflanzenwelt
identisch. Deshalb müssen sie der Erde ange-
hören. Da aber die Mexikaner wahrnahmen, daß
auch der Regen, der Wind, die Temperatur, der
Sonnenschein für die Vegetation von ausschlag-
gebender Wichtigkeit sind, so müssen auch diese
Kräfte in den Dämonen verkörpert sein. Sie
rücken dadurch in den Luftraum empor und
identifizieren sich sogar mit der Sonne. Des-
halb finden wir den erstaunlichen Ausspruch „tlalte-
cutli („der Herr der Erde", der Erdgott im all-
gemeinen) ist die Erde und die Sonne". Sonne
und Erde sind also infolge dieser Entwicklungs-
ideen als eine Einheit gefaßt. Und geht man die
einzelnen VVachstumsdämonen durch, so sieht man,
daß sie in der Tat sämtlich bei dieser oder jener
Gelegenheit als Sonnengötter aufgefaßt werden,
gerade so wie Tezcatlipoca. Und da die Gewalt
der Sonne immer siegreicher die Ideen der Mexi-
kaner unterjochte, so galt der Sonnengott katexo-
chen schließlich als der oberste und mächtigste
Gott. Deshalb ist der Nationalgott der Stadt
Mexiko, Uitzilopochtli, im wesentlichen zu einem
Sonnengott geworden.
Es heißt nun zur Zeit der Conquista in Mexiko,
der Sonne kämen alle Menschenopfer zugute, um
ihretwillen hätten die Götter den Krieg erschaffen,
damit man immer Gefangene habe, mit deren
Herzen man die Sonne, das weltbewegende Prinzip,
nähren könne. Denn fehlten ihr die Opfer, so
müsse sie still stehen. Also so sehr hatte man
das Bewußtsein für die ursprüngliche Bedeutung
der Opfer als Erneuung der Dämonen verloren,
daß man den Brauch zu opfern mit der Entstehung
der Sonne in Zusammenhang brachte. Aber in
N. F. III. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
261
einer Sage ist noch deutUch die Zwischenstufe
zwischen der wirklichen Bedeutung der Opfer und
diesem Endresultat der Entwicklung zum Aus-
druck gebracht. Als die Sonne von den Göttern
geschaffen war, stand sie still und die Götter
opferten sich sämtlich durch Aufschneiden der
Brust und Herausreißen des Herzens, um ihr Leben
und Bewegung zu verleihen. Es liegt also noch
der alte Gedanke der Verjüngung der Dämonen
durch ihren Tod in dem Vorgang, nur daß die
Gesamtheit der Götter durch die eine Sonne
ersetzt ist , die durch den Tod der Dä-
monen gewissermaßen erneut und gekräftigt
wird. Dementsprechend fungiert am Xipe-F'est
im Frühling, obwohl die Opfer die Erneuung
Xipes zum Ausdruck bringen sollen, Xipe selbst
als Opferpriester der Sonne, d. h. er ist zu einem
Diener der Sonne degradiert, in der alle Begriffe
göttlicher Macht vereint sind. Andererseits ist es
für die historische Entwicklung sehr bezeichnend,
daß die Sonne nicht im Anfang der Dinge stehend
gedacht, sondern erst von den anderen Göttern
crschafifen wird.
Da alle Götter mit Ausnahme der Sonne dem
Erdschoße entsprossen sind und von der letzteren,
der glänzenden, strahlenden alles Leben ausgeht,
so hat sich allmählich ein Gegensatz zwischen
der Sonne und den übrigen Göttern herausgebildet.
Diese nämlich sind die Verkörperung der Nacht,
die am Abend aus der Erde emporsteigt und den
Himmel in Besitz nimmt. Die Sterne sind die
nächtlichen Götter, die mit der .Sonne in täg-
lichem Kampf liegen. Man benennt geradezu ge-
wisse Sternbilder mit den Namen bestimmter Gott-
heiten. Der Morgenstern z. B. ist der Windgott
Quetzalcoatl, das Sternbild des großen Bären ist
Tezcatlipoca. Werden bei einer Sonnenfinsternis
die Sterne plötzlich sichtbar, so liegt die Gefahr
nahe, daß die Sonne von ihnen für immer ver-
schlungen wird und der Weltuntergang herannaht.
Denn auf diese Weise wird die gegenwärtige Welt
zugrunde gehen.
Schon viermal — in den vier prähistorischen
Zeitaltern — ist die Sonne, die jedesmal in einer
anderen Gottheit verkörpert war, und mit ihr die
Welt vernichtet worden, und zwar durch die vier
Elemente, durch einen Feuerregen, eine Wasser-
flut, durch einen Orkan und durch die irdischen
Giganten. Immer wieder ist sie neu erstanden.
Aber zum fünftenmal kommt die Vernichtung
an sich. Dann wird das Feuer der Sonne für
immer verlöschen, indem die unterirdische Nacht
in furchtbarem Erdbeben alles verschlingt. Be-
sonders am Ende jeder 52 jährigen Periode fürchtete
man den Eintritt dieses Ereignisses. Dann wurden
alle Feuer auf dem Herde gelöscht, aller Hausrat
vernichtet, und in feierlichem Zuge zogen die
Priester auf den heiligen Vulkanberg Uixachtepec,
wo der Tempel des alten F"euergottes stand, um
das Feuer von neuem vermittelst zweier Hölzer
zu erbohren. Man tat das auf der Brust eines
Gefangenen, der als der Feuergott selbst galt und
nachher ähnlich wie die Vegetationsdämonen zu
seiner Erneuung geopfert und in das neue Feuer
geworfen wurde. Sprang das Feuer auf, so war
das das Zeichen, die Welt werde noch einmal
52 Jahre bestehen bleiben. Eilends fachte man
es zu ungeheurer Flamme an, die den unten ängst-
lich harrenden I^ewohnern des ganzen Reiches die
willkommene Botschaft brachte, und trug es schleu-
nigst hinab nach dem Tempel Uitzilopochtlis in
Mexiko.
Es scheint also, daß die Existenz der Sonne
vom Feuer abhängt. Das wird durch die Sage
bestätigt, daß sich der Gott Nanauatzin ins Feuer
stürzte, um zur Sonne zu werden. Auch wird der
alte Feuergott, der im Erdinnern und auf der
Spitze der hohen Vulkanberge wohnt, an den
Anfang der Dinge gesetzt und zum Vater der
Götter und Menschen gemacht. In ihm ist das
F"euer verkörpert, wie in den Wachstumsgeistern
die Pflanzenwelt, und er heißt geradezu „das Feuer"
oder die ,, Flamme". Da auch er als der Grund
alles Gedeihens angesehen wird, so scheint sich in
ihm die Idee eines Wachstumsdämons mit der
sich dem Menschen allgewaltig aufdringenden
Macht des unterirdischen Feuers frühzeitig ver-
einigt zu haben, um ihm diese überragende Stellung
in der mexikanischen Götterwelt zu verschaffen.
Leichter ist es, den Ursprung der „Götter-
mutter" Teteoinnan zu erklären. Sie ist die sich
Verjüngende katexochen. Ihrem Schoß entspringen
die verschiedenen Formen der Maisgöttin bzw. des
Maisgottes. Das sind aber nichts anderes als die
übrigen Vegetationsdämonen, mögen sie nun ihrer
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem mexikanischen
Städtchen nach so oder so heil3en. D. h. es sind
alles die Kinder der Allgebärerin. Neben dem
Feuergott und der Teteoinnan gibt es noch einen
späten obersten Gott und seine Gemahlin, die
offenbar nicht aus dem lebendigen Glauben heraus
entstanden sind. Sie genießen deshalb auch keine
Verehrung, haben keine Feste und empfangen
keine Opfer. Man begegnet ihnen aber überall
als Elternpaar der übrigen Götter. Sie heißen
Tonacatecutli, „der Herr unseres Fleisches" und
Tonacaciuatl, „die Herrin unseres Fleisches" auch
Ometecutli, ,,Herr der Zeugung" und Omeciuatl
genannt.
Daß diese ganze Götterwelt den Ideen von
den Geistern des Wachstums und der F'ruchtbar-
keit ihren Ursprung verdankt, zeigt sich auch be-
sonders in ihren Waffen, dem Wasser und dem
Feuer, die in den Bilderschriften durch einen
Wasser- und P'euerstrom zum Ausdruck gebracht
sind. Das ist nämlich nichts anderes als Regen
und Sonnenschein, die für den Ackerbau absolut
notwendigen himmlischen Gewalten. Damit rufen
die Götter aber nicht nur Gedeihen und Miß-
wachs der Felder hervor, sondern alle möglichen
Übel, die die Menschen treffen können, Tod, Krank-
heit, Hungersnot, Sklaverei und besonders das
Schicksal, im Kriege gefangen genommen und den
Göttern geopfert zu werden. Im Kriege war man
262
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 17
nur darauf bedacht, zu diesem Zwecke Gefangene
zu machen. Davon hingen Rang und Würden ab.
Denn der Bedarf an Opfern überstieg allmähhch
alle Grenzen, und es ist durchaus glaublich, daß
manche Kriege nur aus dem einen Grunde, die
nötigen Opfer herbeizuschaffen, geführt worden
sind. Die Möglichkeit, geopfert zu werden, trat
daher bei den zahllosen Kriegen dem größten Teil
der männlichen Bewohner nahe, oder man hatte
irgend einen nahen Verwandten, dem ein solches
Schicksal blühen konnte. Kurz, das Erzunglück,
das aller Gedanken vorzugsweise gefangen nahm,
war der Opfertod, d. h. der Krieg, insofern er
dazu führte. Er galt natürlich besonders als ein
Verhängnis der Götter und deshalb wurde der
Ausdruck für die Waffen der Götter „Wasser und
Feuer" (atl tiachinolli) direkt zur Bezeichnung und
zum Sinnbild des Krieges. Dementsprechend
werden alle Vegetationsdämonen ohne weiteres
als Kriegsgötter bezeichnet, und in dem Liede
an den Frühlingsgott Xipe heißt es „Geboren wurde
(im Frühling) der Kriegshäuptling".
Wenn von den Göttern Glück und Unglück
kommen soll, so müssen sie zu den Handlungen
der Menschen in ein bestimmtes Verhältnis ge-
treten sein. Das ist unvermeidlich und sehr natür-
lich. Schon in ihrer physischen Natur als Vege-
tationsdämonen brachten sie den Menschen die
Feldfrucht. Zeigten sich diese ihnen entgegen-
kommend durch Gaben und gute Behandlung, so
war eine Beeinflussung der Dämonen sehr wahr-
scheinlich. So hatte man nicht nur durch die be-
schriebenen Zauberzeremonien mit den in Menschen
eingekörperten Dämonen Gedeihen der Feldfrucht
zu erwarten, sondern auch durch persönliches ent-
gegenkommendes Verhalten. Nun ist in primi-
tiven Religionen Fasten und geschlechtliche Ent-
haltsamkeit neben dem Darbringen von Gaben das
erste Mittel,, die Geister zu gewinnen. Weshalb
— wollen wir hier nicht untersuchen. So war es
auch in Mexiko, es heißt z. B. von Tezcatlipoca:
,, Dieser Gott gab den Menschen Armut, Elend und
unheilbare ansteckende Krankheiten, Aussatz, Ge-
schlechtskrankheiten, Gicht, Hautkrankheit und
Wassersucht. Die sandte er, wenn er auf die-
jenigen erzürnt war, die nicht Gelübte und Bußen
einhielten, zu denen sie sich zu den Fasten ver-
pflichteten, oder wenn sie zur Zeit der P'asten mit
ihren Frauen schliefen . . ."
Das ist jedoch ein ganz äußerliches Verhältnis
zwischen Göttern und Menschen, in denen keine
Spur von Sittlichkeit steckt. Es wird aber mit
einem Schlage anders, sobald man sich wie in
Mexiko von den Göttern so abhängig fühlt und
ihnen eine solche Machtsphäre zuweist, daß sie
an den Anfang der Dinge gesetzt und damit auch
als Gründer der sozialen Gemeinschaft und als
Herren alles Bestehenden betrachtet werden. Dann
wachen sie darüber, daß die Gesetze und Sitten
des Staates eingehalten werden und bestrafen Zu-
widerhandlungen. „Und wenn du", sagte der neu-
gewählte König, „deine Dienste dem Gemeinwohl
entziehen wolltest, ob du auch Gemüsekrämer und
Holzhauer wärst, der nach den Wäldern geht, um
das Holz herbeizuschaffen, der Gott wird dich von
dort herausholen, er wird dich an einen erhöhten
Ort stellen und dir Auftrag geben, die Stadt oder
das Reich zu leiten. Er wird dich dazu bringen,
auf den Schultern oder in den Armen irgend ein
Amt des Staates oder die königliche Würde zu
tragen . . . Gott, unser Herr, der überall gegen-
wärtig ist, wird dich zu seinen Augen, zu seinen
Ohren und zu seiner Sprache machen. Du wirst
seine Worte sprechen."
Bei einem solchen Entwicklungsprozeß muß
man sich jedoch gegenwärtig halten, daß die Ge-
setze und Einrichtungen nicht als religiöse aufzu-
fassen oder zu erklären sind, wenn wir, wie in
unserem Falle, Götter an der Spitze des Staates
finden. Denn die Götter sind später als die Ge-
setze. Vor dem Bilde Itztlacoliuhquis, des Vege-
tationsdämons im Winter, werden z. B. die Ehe-
brecher gesteinigt. In der Tat ist ihm gewisser-
maßen die Strafvollstreckung unterstellt. Aber die
Gerichte würden genau ebenso entscheiden, wenn
er nicht da wäre. Nur in einem Fall hat man
den Göttern eine persönliche Konzession gemacht.
Einmal im Leben durften die Mexikaner bei den
Priestern Verbrechen beichten gehen und waren
dann nach Verbüßen einer Kirchenstrafe auch frei
von der weltlichen Gerichtsbarkeit. Da das nur
einmal möglich war, so beichtete man erst im Alter.
Wie neu noch dieser Prozeß war, durch den
die Dämonen an die Spitze aller menschlichen
Verhältnisse gestellt wurden, geht besonders daraus
hervor, daß sie dadurch keineswegs zu ethischen
Gestalten umgeschaffen wurden. Tlagolteotl-
Teteoinnan bleibt die unzüchtige Göttin, die sie
als Erntemutter gewesen. Sie wird selbst direkt
als Sünderin (tlaelquani = Kotfresserin) bezeichnet.
Sie verzeiht nicht nur geschlechtliche Sünden,
wenn man ihren Priestern beichtet und kirchliche
Buße tut, sondern reizt auch dazu an. Die Götter
des berauschenden Pulque bestrafen nicht nur den
Säufer, sondern sie sind es auch, die den Menschen
dazu verführen und sind selbst berauscht. Der
Windgott Quetzalcoatl ist zugleich ein Gott der
Diebe. Dabei ist zu bemerken , daß geschlecht-
liche Vergehen und unerlaubtes Pulquetrinken vom
Staat strenge bestraft wurden. So sind die Götter
nur zu allseitigen Vertretern dessen geworden,
was zur Tätigkeit , zum Glück und Unglück des
Menschen gehört. Indessen scheint sich mitunter
bereits eine Teilung des guten und bösen Prinzips
in einer Gottheit vorzubereiten. So werden am
Jahresfest tepeilhuitl im Herbst die beiden Ploren
Xochiquetzal und Xochitecatl als Göttinnen der
züchtigen und unzüchtigen Liebe gefeiert, obwohl
das Wesen einer jeden nicht verschieden von dem
weiblichen Vegetationsdämon Teteoinnan war.
Wenn wir daher die mexikanische Religion
recht verstehen wollen, so müssen wir als Grund-
lage den überwältigenden Eindruck anerkeimen,
den die Macht der Götter ausübte, ohne daß ihr
N. F. III. Nr. i;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
263
ein sittlicher Gehalt zur Seite steht. Daraus ist
aber noch nicht die Tatsache zu erklären , daß
alles Unglück des Menschen, sogar der Tod, als
Ergebnis einer Sünde galt. Die Vergehungen
gegen die Götter, die in der Entziehung von
Opfergaben, Nichteinhaltung der Bußen, des Fastens,
der geschlechtlichen Enthaltsamkeit an den Festen
und in ähnlichem bestanden, ferner die mit irdi-
schen Strafen belegten Verfehlungen gegen die
Gesetze des Staats, die ebenfalls von den Göttern
ausgehend gedacht wurden , reichten nicht aus,
um alles Unheil zu erklären. Man nahm dazu
den Begriff des Schicksals zu Hilfe. Jeder „Mensch
brachte sein Geschick, das ihm vor Beginn der
Welt gegeben war, bei der Geburt mit sich", und
seine Bestimmung zu Glück oder Unglück war
durch den Tag seiner Geburt offenbart. Einige
Tage waren indifferent, und in diesem Fall konnte
man durch Frömmigkeit, d. h. durch kirchliches,
demütiges Verhalten gegen den Gott, der gerade
am Tage der Geburt von Einfluß war, sein Ge-
schick zum Guten wenden. Gegen das ausschließ-
lich ungünstige Schicksal half dagegen nichts. Man
stellte sich dann vor, daß in dem Menschen eine
unveränderliche Anlage zum Bösen stecke, die das
Unglück folgerichtig herbeiführe. Dieses war also
nicht nur das Ergebnis des Zufalls, wie aus
folgender Beschreibung eines solchen Unglücks-
menschen hervorgeht. „Und wenn ihnen (den
am Unglückstage ce calli Geborenen) auch nichts
von diesen Dingen (Tod, Opfertod und Sklaverei)
zustoßen sollte, so würden sie doch kläglich und
unzufrieden dahinleben und würden Spitzbuben,
Diebe, Räuber, Straßenräuber oder große Spieler
sein. Sie würden Betrüger und Bauernfänger beim
Spiel sein und alles, was sie haben, dabei ver-
lieren. Sie würden dazu noch Vater und Mutter
alles stehlen, um es zu verspielen, und nichts
haben, womit sie ihre Blöße bedecken können. . . ."
Daher spricht auch der Priester in der Beichte
zum Gott: ,, Nicht mit voller Willensfreiheit sün-
digte er, denn er wurde unterstützt und geleitet
von der natürlichen Beschaffenheit des Tages, an
dem er geboren wurde."
Böse sein wird also in gewisser Weise einfach
als ein Unglück betrachtet, weil das Unglück ihm
auf dem Fuße folgt. Aber umgekehrt muß, wie
gesagt, der Unglückliche auch etwas verfehlt
haben. Daher kann der Mexikaner ohne Spur
moralischer Entrüstung an das Böse denken. Es
gibt für ihn keine Höllenstrafen. In der schreck-
lichsten Weise malt er sich den Tod — der immer
der Tod des Sünders ist — aus. Kopfüber sehen
wir ihn in den Bilderschriften in den Erdrachen,
in die Mitte der Erde, wo der F~euergott residiert,
herabstürzen. Dort in Tamoanchan hausen aber
auch die Götter und dort ist die mythische Ur-
heimat der X'orfahrcn. Wie der Feuergott bewegen
sich auch die anderen Götter sowohl in der Tiefe
wie in der Höhe in der Mitte der Welt, der
Heimat des Feuers. Dort geht es auch den
Menschen gut. Ebenso fühlen sich auch die ins
„irdische Paradies" des Regengottes gekommenen
Verstorbenen wohl, die ertrunken, vom Blitz er-
schlagen oder ihm durch eine der von dem Gott
gesandten Krankheiten verfallen sind. Aber sie
gehen ebenso ungern in diesen Tod wie in den
andern und beten zum Gott, er möchte die
Hungersnot durch seinen Regen lindern, aber ja
nur wenige, wenn es denn nicht anders sein kann,
durch seinen Blitzstrahl in sein irdisches Paradies
befördern. Die den Opfertod Gestorbenen, d. h.
im Kriege Gebliebenen, kommen zur Sonne und
begleiten sie auf ihrer Wanderung: Das ist nur
die Konsequenz der Anschauung, daß die Opfer
vorzugsweise für das Gedeihen der Sonne be-
stimmt sind. Es ist eben die von ihr gesandte
Todesart.
Wir können noch weiter das Schicksal der
Toten verfolgen. An den F'esten der Berg- und
Regengötter wird auch den ins „irdische Paradies
des Regengottes gekommenen Menschen geopfert,
indem man ihre Bilder neben die Figuren der
Götter setzt. Die Menschen werden also eine
Art untergeordneter Götter. Ja, verdiente Personen,
besonders Krieger, werden direkt zu Göttern er-
klärt, und die im Kindbett verstorbenen Frauen
wurden ciuateteo, „Göttinnen". Alles Uralte ist
das Göttliche, weshalb die alten Städte z. B. die
Vorsilbe teo— „göttlich" erhielten. Umgekehrt
werden manche Götter als die ersten Menschen
bezeichnet und andern der Ursprung von den'
Toten zugewiesen. So wurde Uitzilopochtli als
Skelett geboren. Letzteres stimmt zu der vorher
angeführten Tatsache, daß alle Götter als Ge-
spenster, die der in der Unterwelt weilenden Nacht
angehören , bezeiciinet wurden. So gehen auch
im Mexikanischen, wie es bei manchen Völkern,
wenn auch nicht so klar angedeutet ist, die Götter
aus dem Glauben an das Fortleben der Seele nach
dem Tode verbunden mit den seelisch belebten
Naturerzeu^nissen hervor.
Kleinere Mitteilungen.
Meine Erfahrungen mit Skorpionen. —
Der Artikel des Herrn Prof Dahl über die Skor-
pione in Nr. 7 veranlaßt mich nachstehende Er-
fahrungen mitzuteilen, die ich mit Skorpionen
machte.
Ich selbst wurde im Oktober 1875 in Monte-
negro von einem Skorpion gestochen, der in mein
Bett gekommen war und den ich unabsichtlich
mit der Hand gedrückt hatte. Er stach mich in
die äußere Handfläche nahezu in der Mitte, wo
zwei Hauptadern durch eine kurze Verbindungs-
ader miteinander in Verbindung stehen. Der
Schmerz war ungefähr gleich dem beim Stich einer
Wespe, also im ersten Augenblick so, als ob ein
264
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. m. Nr.
glühendes Eisen in die Haut gebohrt würde. Er
hielt nur den ersten Tag an, doch begann die
Wunde zu eitern und ich erinnere mich, daß ich
wochenlang einen Handschuh tragen mußte und
daß die Narbe ein Jahrzehnt lang gut zu sehen
war.
Hier in Lussinpiccolo haben wir so viele Skor-
pione, daß sich die Zahl der von uns getöteten in
den letzten 10 Jahren sicher auf mehrere Hundert
belauft. Trotz des heftigen Ausrottungskrieges
können wir die Tiere nicht loswerden. Meine
Frau hat ihre fortwährende Plage und sie kann
nicht vorsichtig genug sein, wenn sie in der
Speisekammer oder gar in der Dunkelkammer
Gebrauchsgegenstände zur Hand nimmt. Wieder-
holt bekam sie mit diesen Skorpione in die Hand
und auch ein Besucher unserer Sternwarte war
einmal nicht wenig erschrocken, als ihm ein Skor-
pion über die Manschetten lief Bei alledem ist
es fast unbegreiflich, daß bisher nur ein einziges
Mal ein Stich erfolgte. Es war dies vor 8 Wochen,
also Mitte Oktober. Unsere Magd bekam von
einem Skorpion besonderer Größe (vielleicht 10 cm
lang) auf den Unterarm nahe dem Handgelenk
und in nächster Nähe der Schlagader einen Stich,
der sie laut schreien machte. Da wir schon seit
10 Jahren in Voraussicht eines solchen Zwischen-
falls Skorpionöl angesetzt hatten, lief meine Frau
sofort, dieses holen. Als sie damit zurückkam,
sah sie auf dem Arm einen geschwollenen runden
Fleck von nahezu einem Centimeter Durchmesser
und in seiner Mitte ein Loch. Sie rieb die Stelle
mit dem Skorpionöl ein und legte noch einen in
solches getauchten Lappen darauf. Schon nach
5 Minuten hatte der Schmerz (den die Magd als wie
bei einem Bienenstich schilderte) vollständig nach-
gelassen und nach wenigen Stunden war von der
ganzen Sache nichts als das rotgeränderte Loch
zu sehen, welches der Stachel verursacht hatte.
Andern Tags war auch dieses geschlossen.
Danach ist es also sicher, daß Skorpionöl ein
gutes Heilmittel ist. Wir bereiteten es schon vor
10 Jahren in der Weise, daß wir in reinem Olivenöl
einige große Skorpione zerstampften und auch
zerteilte Gliedmaßen derselben in das Ol warfen.
Nach einiger Zeit war das Ganze geklärt. Jetzt
sieht man noch auf dem Boden der Flasche einen
weißlichen Satz, der vermutlich der Rest der
zerstampften Skorpione ist, sowie die ganz ge-
bliebenen Gliedmaßen. Der obere Teil des Öls ist
klar.
Es scheint jedoch, daß das Öl längere Zeit
braucht, um wirksam zu werden, denn eine andere
Magd, die wir vor 9 Jahren hier hatten, erzählte
uns, daß ihr Bruder von einem Skorpion in die
Wange gestochen worden sei, ohne daß frisch
gemachtes Skorpionöl geholfen hätte. Im Gegen-
teil sei die Wange fürchterlich aufgeschwollen
und habe monatelang geeitert. Doch kann dies
auch daher rühren, daß der Stich im August
erfolgte, zu welcher Zeit das Gift viel gefährlicher
sein soll.
Was unsere Haustiere betrifft , so haben wir
unseren Hund schon wiederholt Skorpione mit
dem Fuß schlagen und töten sehen, ohne daß er
irgendwelche Symptome von Gestochensein zeigte.
Es ist ein Spitz von ungefähr 12 kg Gewicht.
Ebenso sahen wir oft, wie die Hühner lebende
Skorpione fraßen. Die Folge davon war meistens,
daß die Hühner , als sie vom Skorpion in den
Kropf gestochen wurden, die Augen verdrehten
und sozusagen ein dummes Gesicht machten. Dann
wurden sie nachdenklich und blieben einige Tage
traurig. Sonst aber litten sie niemals Schaden.
Übrigens haben wir gefunden , daß die Skor-
pione eigentlich ziemlich harmlos sind, indem sie
niemals den Menschen angreifen und überhaupt
erst dann stechen , wenn man sie drückt oder
festhält. Dann treten einige Tropfen Gift aus
dem Stachel — manchmal sogar ziemlich viele
Tropfen. Wir konnten dies namentlich an einer
Schere kontrollieren, mit welcher wir einen großen
Skorpion festgehalten hatten. Das Gift war immer
so klar wie Wasser.
Wenn ein Skorpion durch Aufheben des ihm
Schutz gewährenden Gegenstands ans Tageslicht
kommt, so ist es sein Erstes, daß er sich so klein
wie möglich macht, indem er die Zangen ganz
an sich anzieht und den Schweif eindreht. Sobald
man sich ihm aber mit einem Gegenstände nähert,
beginnt er so schnell als möglich davon zu laufen,
indem er dabei seine beiden Arme mit geöffneten
Zangen vor sich hinhält und den Schweif gebogen
über seinen Rücken aufgerichtet trägt, den Stachel
nach vorwärts gerichtet. Berührt man ihn nun
mit dem Gegenstand, so wird er wütend und faßt
den Stock oder die Schere mit den Zangen, indem
er gleichzeitig unaufhörlich hineinsticht. Dabei
spritzt manchmal das Gift herum. Zerquetscht
man ihn durch einen Druck auf den Rücken , so
sticht er noch bis zum letzten Augenblick in den
vermeinten Feind.
Sonst ist er eigentlich putzig in seinen Be-
wegungen und in seinem Gebahren ; namentlich,
wenn er auf Beute lauert. Dann versteckt er
sich in einen Schlupfwinkel und läßt nur seine
offenen Zangen heraushängen. Wenn ein kleines
Tier ahnungslos vorbeikommt, — schwupps! fährt
die eine Zange heraus und packt es, dann die
zweite und als Drittes kommt der Stachel und
tötet das Tier. Letzteres wird sodann vom Skor-
pion in sein Versteck gezogen und dort verspeist.
Dies ist manchmal sehr komisch anzusehen, weil
der Skorpion abwechselnd mit der einen und
dann mit der andern Zange in den Leichnam des
Tieres hineingreift und wie mit einen Löffel daraus
herausißt und sich diese Bissen zum Munde führt.
Wir haben auch wiederholt Versuche gemacht
zu ergründen, ob sich der Skorpion wirklich selbst
tötet, wenn er vom Feuer umringt ist. Zweimal
sahen wir wirklich, wie sich der Skorpion, wenn
er von allen Seiten von brennendem Spiritus um-
ringt war (der sich brennend immer mehr aus-
breitet und den Skorpion immer enger umschließt).
N. F. III. Nr. \^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
265
mit dem Stachel selbst traf und zwar am Rücken
nahe beim Kopfe. Aber das könnte vielleicht
doch nur Zufall gewesen sein, denn ein Dutzend
mal machte der Skorpion keinen Versuch sich
selbst zu stechen, indem er lediglich mit geöff-
neten Zangen und über dem Rücken drohend
nach vorn erhobenen Stachel im Kreis herum-
rannte und schließlich , wenn er keine Rettung
sah, den Versuch machte, durch das Feuer durch-
zulaufen. Einmal gelang es einem Skorpion auf
diese Weise den brennenden Spiritus zu passieren,
so daß wir ihn zurückwerfen mußten. Sonst ver-
brannten sie im Spiritus mit Zischen und Gestank.
Einen ganz merkwürdigen und mir unbegreif-
lichen Fall erlebte ich 1875 in Montenegro. Als
ich einmal ein in meiner Tischlade liegendes Buch
aufschlug, fand ich tief im Innern des Buches die
Haut eines kleinen, etwa 3 cm langen Skorpions,
der sich offenbar in dem Buche gehäutet bzw. es
benützt hatte, seine alte Haut atazustreifen. Das
Unbegreifliche liegt darin, daß der Skorpion im-
stande war zwischen die Seiten des Buches
hineinzukriechen, denn dieses hatte eine Stärke
von ungefähr 400 Seiten und das Tier befand
sich so ziemlich in der Mitte. Es muß also etwa
150 — 200 Seiten des Buches und obendrein dessen
Einbanddeckel in die Höhe gehoben haben. Das
Buch war von Wien gekommen und außer mir
konnte niemand in die Lade gehen, folglich ist
es ganz ausgeschlossen, daß jemand die Haut in
das Buch gelegt haben könnte.
In der Dunkelkammer bereiten die Skorpione
meiner P>au sehr oft unliebsame Überraschungen.
Wiederholt ist es vorgekommen , daß einer von
der Decke auf sie fiel, wenn sie gerade entwickelte.
Einmal war sie nicht wenig überrascht auf der
entwickelten Platte das Bild eines Skorpions zu
sehen, das sich bei näherer Besichtigung als der
Skorpion selbst herausstellte , der ganz gemütlich
auf der Platte saß. Ein anderes Mal war die
Platte am folgenden Morgen von den Zangen und
Füßen eines Skorpions beschädigt, d.h. die Gelatine-
schicht stellenweise zerstört; ob aber durch Ab-
nagen oder durch Herummarschieren , ließ sich
nicht feststellen. Meine Frau behauptet, daß die
Schäden deutlich als durch Abnagen mit Zangen
verursacht aussahen. Leo Brenner.
Morphologische und physiologisch-chemi-
sche Untersuchungen über die Pigmente der
Lepidopteren. i. Die gelben und roten Farb-
stoffe der Vanessen betitelt sich ein Artikel der
Gräfin M. v. Linden. ( Arch. ges. Physiol. Bd. 98.
1903. pag. I — 89. Mit 3 Textfig. und i Taf.)
In genannter Arbeit kommt die Verfasserin
zu außerordentlich interessanten und wichtigen
Resultaten über das Wesen der Lepidopteren-
Pigmente, die hier in aller Kürze mitgeteilt werden
mögen.
Die roten und gelben Pigmente der^Vanessen
gehören zu den Eiweißkörpern, wie sich aus den
Versuchen über Wasserlöslichkeit, über ihre F"äll-
barkeit aus ihren wässrigen Lösungen und vor
allem aus dem positiven Ausfall der Millon'schen
und der Xanthoprotein-Reaktion ergibt; sie ent-
halten Eisen und freien Zucker (Berlinerblau-,
Fehling'sche und andere Reaktionen). Ganz
ähnlich wie beim Hämoglobin ist hier ein Eiweiß-
körper an ein Pigment gebunden: salzsaurer Al-
kohol trennt einen alkohollöslichen gefärbten von
einem wenig oder gar nicht gefärbten wasser-
löslichen Bestandteile, der, seiner spezifischen
Reaktion nach zu urteilen, zu den Albumosen ge-
hört und ganz wie die Globuline durch Kohlen-
säure gefällt wird (das gilt aber nur vom Darm-
exkremente-, nicht vom Epidermis Farbstoff). Der
alkohollösliche rotfärbende Bestandteil ist eine
Säure, ihre gelbe Chloroformlösung gibt die
Gmelin'sche Gallenfarbstoffreaktion und steht
kristallographisch sowie optisch^ dem Bilirubin
nahe.
Der rote Vanessenfarbstoff hat mit dem Hämo-
globin wichtige Kristalleigenschaften (Doppel-
brechung und Dichroismus) gemeinsam. Vor
allem aber hat er, wie das Hämoglobin, die
Fähigkeit, den Sauerstoff der Luft locker zu bin-
den, ferner, analog der Entstehung des Methämo-
globins aus dem Oxyhämoglobin, eine bestän-
digere Verbindung mit dem Sauerstoff einzugehen,
wenn er längere Zeit der Luft ausgesetzt wird,
die sich von jener rubinroten, durch sherrygelbe Fär-
bung unterscheidet, ganz wie das Methämoglobin
vom Oxyhämoglobin. Spektroskopisch ist für
den roten Vanessenfarbstoff ein sehr breiter Ab-
sorptionsstreifen zwischen b und F besonders
charakteristisch, ei ist dem Urobilin jedenfalls
sehr nahe verwandt. Nach längerer Einwirkung
von Sonnenlicht oder von Wärme (Wärme gibt
zuerst rotbraune Töne) erhält man einen ähnlichen
F"arbenumschlag, wie bei der Oxydation. Die
verschiedenen Farbenabstufungen , in denen der
P'arbstoff bei Vanessa auftritt, scheinen den Oxy-
dations- und Reduktionsvorgängen im Organismus
ihre Existenz zu verdanken, — die experimentell
(Hitze, Chloroform) erzielte karminrote Farbe
der Raupen (Vanessa urticae) kann durch Oxy-
dation (längere Einwirkung der Luft) in die
braungelbe, gelbe und grüne Farbe zurück-
verwandelt werden entsprechend ihrer ontoge-
netischen Entstehung aus den anderen.
Die Vanessenfarbstoffe entstehen im Darm der
Raupe aus dem mit der pflanzlichen Nahrung auf-
genommenen Chlorophyll. Die Verfasserin zeigt
an der Hand mikroskopischer Präparate den Über-
gang des gelösten' und als Chlorophyllan von den
Darmzellen aufgenommenen Chlorophyllfarbstoffes
während des Raupenlebens in eine grüngelbe
Modifikation, die von den Geweben aufgenommen
und in der Epidermis allmählich in eine rote
Farbe verwandelt wird.
Der Gehalt an Zucker und Eiweiß, seine Bil-
dungsstätte, ferner aber der ausgiebige Konsum
seitens der im Schmetterlingsdarm parasitierenden
Insekten während ihrer Puppenruhe weist darauf
266
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 17
hin, daß der Vanessenfarbstoft' wohl als Reserve-
nahrung während der Metamorphose eine große
Bedeutung besitzen mag.
Nach seinen chemischen Eigenschaften und
seiner Verteilung im Insektenkörper kommt ihm
sicher auch eine respiratorische Funktion zu. So
erklärt es sich aus der besonderen Sauerstoff-
speicherungsfähigkeit der grüngelben Modifikation,
daß die Raupen ganz außerordentlich lange in
sauerstofffreier Luft am Leben bleiben. Aus
dem respiratorischen Pigment der
Pflanze hervorgegangen, zu einem respi-
ratorischen Tierpigment verwandelt
und fast identisch mit dem Blutfarb-
stoffe der Wirbeltiere und dessen Um-
wandlungsprodukten bietet uns der Vanessen-
farbstoff ein in der Tat beispielloses Beispiel einer
Konvergenzerscheinung, auf deren ganz außer-
ordentlich deszendenztheoretische und antivitalisti-
sche Bedeutung Referent zum Schluß wenigstens
hingewiesen haben möchte. Dr. Wolff (Jena).
Die Rückkehr der deutschen Südpolar-
expedition. — Am 26. November 1903 ist die
deutsche Südpolarexpedition nach Kiel zurück-
gekehrt, von wo sie am 11. August 1901 ausge-
laufen war. Sie hat die erste mit reichen Mitteln
ausgestattete Entdeckungsfahrt in fremdes Land
durchgeführt, welche das Deutsche Reich hat
unternehmen lassen. Es ist Eigenart der Deut-
schen, Leistungen anderer Völker milde, die eigenen
oft recht streng zu beurteilen. Daher sind in-
mitten der berechtigten Befriedigung darüber, daß
die Mitglieder der deutschen Expedition auf dem
Schiffe Gauß in der Ferne sehr fleißig gearbeitet
haben und wohlbehalten zurückgekommen sind,
in der wissenschaftlichen und politischen Presse
auch minder wohlwollende Stimmen laut geworden,
z. B. im Globus, in der Flotte, im Hamburger
Korrespondent. Die gleichzeitig auf der Discovery
hinausgezogene englische Expedition ist rund 16
Breitengrade weiter nach Süden gelangt, und die
dritte zur selben Zeit in der Antarktis tätig ge-
wesene Unternehmung, die schwedische Expedition
des Dr. Nordenskiöld, hat tapfer gegen mancherlei
Unglück, wie den Verlust ihres Schiffes, und
gegen Entbehrungen standgehalten und dadurch
persönliche Anteilnahme herausgefordert. Ehe
noch die zur Erholung zunächst in ihre Familien
zurückgegangenen Insassen der Gauß mit zusam-
menfassenden Reiseberichten in die Öffentlichkeit
getreten sind, ist hier und da von Enttäuschungen
gesprochen, welche die örtlich nicht gerade um-
fangreichen Neuentdeckungen der deutschen Expe-
dition hervorrufen müßten. Demgegenüber ist
darauf hinzuweisen, daß wolil noch niemals eine
Expedition schon während ihrer Tätigkeit in der
Fremde so eingehende Veröffentlichungen ihrer
wissenschaftlichen Arbeiten ermöglicht hat. Be-
reits zu Anfang des Dezember 1901 sendete sie
von Kapstadt, Ende Januar und Anfang April 1902
von den Kerguelen-Inseln, um die Mitte des Jahres
1903 wiederum von Kapstadt je ein umfangreiches
Paket von allgemeinen und nautischen Reise-
berichten, von ozeanographischen und geologischen
Untersuchungen, von erdmagnetischen und meteo-
rologischen, chemischen, biologischen und bakte-
riologischen Beobachtungen in die Heimat, wo sie
sofort mit Karten , Photogrammen , Tabellen ab-
gedruckt wurden (Veröftentlichungen des Instituts
für Meereskunde, Heft i, 2, 5. Berlin, Mittler &
Sohn, 1902, 1903). Ein ehrenderes Zeugnis vom
pflichteifrigen, opferfreudigen Fleiße der Expe-
ditionsmitglieder geben diese reichen Ergebnisse
intensiver Einzelforschung als extensive Neuent-
deckungen getan hätten. Die englische Expedition
ist von einem Marineoffizier geleitet, dem die
wissenschaftlichen Teilnehmer unterstellt sind, die
deutsche von einem Gelehrten, und sie hat einem
schwimmenden Laboratorium geglichen. Bei
jener wurden kecker Wagemut und körperliche
Anstrengungen aufgewendet, um wertvolle Leistun-
gen früherer Entdecker zu überbieten. War doch
schon J. A. Roß in derselben Gegend östlich des
Viktoria-Landes bis über den 78. Grad mit seinen
.Schiffen vorgedrungen, und Borchgrevink hatte
hier im Jahre 1900 überwintert und war über
das feste Land gefahren. Die deutsche Expedition
richtete ihren Vorstoß dagegen in einen der un-
bekanntesten Küstenstriche der Antarktis, in die
Lücke, die zwischen dem Wilkes-Land, südlich
von Australien im Westen von Viktoria -Land,
und Kemp- und Enderby-Land, nocii weiter west-
lich, klafft oder doch nur von der Termination-
Insel unterbrochen wird, an deren Vorhandensein
man zweifeln mußte. Diese Küsten liegen sämt-
lich in der Nähe des Polarkreises, und es war
kaum zu erwarten, daß zwischen ihnen das Meer
sich soweit polwärts in die Antarktis einbuchte,
wie im Süden des Atlantischen Ozeans als Weddel-
und südlich des Großen Ozeans als Roß- Meer.
Die ganz allgemein gehaltene Anweisung, welciie
die deutsche Expedition von Kaiser und Reich
erhielt, lautete deshalb im Allerhöchsten Erlaß
vom 18. Juli 1901: „Als Forschungsfeld gilt die
indisch-atlantische Seite des Südpolargebiets. Falls
die Erreichung eines Südpolarlandes gelingt, ist
wenn angängig auf demselben eine wissenschaft-
liche Station zu gründen und tunlichst während
eines Jahres zu unterhalten." Diesem Plane ist
die Expedition genau nachgekommen. Es wurde
ein bisher unbekanntes Land gefunden, und 90 km
vor der Küste im Scholleneise vom 22. Februar
1902 bis zum 8. Februar 1903 eine Station unter-
halten. Trotzdem sind von einigen Seiten zwei
Ausstellungen an der Tätigkeit der Expedition
erhoben: Sie sei zu spät im Südsommer 1902
ins Südpolargebiet eingedrungen und habe des-
halb nicht ausführlich genug die unbekannten
Küsten befahren, nicht zweckmäßig genug eine
i^berwinterungsstelle sich aussuchen können. Fer-
ner habe sie die Zeit, während der sie im Eis
eingefroren war, nicht emsig genug zu Überland-
N. F. m. Nr. i;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
267
fahrten zum Zweck von Neuentdeckungen ver-
wertet.
Eine wesenthche Schwierigkeit südpolarer
Forschungen liegt in der weiten Entfernung der
Antarktis von Europa. Um den langen Weg der
Expedition bis zu ihrer Wirkungsstätte mit nutz-
bringenden Arbeiten zu kürzen, wurden von der
Gauß die wenigst untersuchten Teile des Atlan-
tischen Meeres befahren, und ständig arbeiteten
die Netze, Lote, Thermometer, eifrig wurde Witte-
rung und Magnetismus beobachtet. Darüber ver-
zögerte sich die Ankunft der Gauß in Kapstadt
bis zum 23. November 1902. Um diese Zeit
hätte man schon auf den Kerguelenlnseln sein
können. Aber erst während der Fahrt stellte sich
heraus, daß das für Eisverhältnisse gebaute Schiff
ein langsamer Segler war. Dazu hatte man unter
häufigen Windstillen zu leiden. Aus diesen Mängeln
machte der Expcditionsleiter, Prof v. Drygalski,
einen Vorteil, indem er die Muße benutzte, um
alle wissenschaftlichen Mitglieder sich in die Ar-
beitsweisen ihrer Untersuchungen einleben, mit
ihren Instrumenten und den verfügbaren Räumlich-
keiten sich ganz vertraut machen zu lassen, damit
unter den äußerlich schwierigen Verhältnissen im
Polargebiet ein jeder volle Sicherheit besitze. Zu-
dem hatte er bei andauerndem Studium der Be-
richte von früheren Südpolarfahrern erkannt, daß
es nutzlos sein werde, früher als am 15. Januar
die Kerguelen zu verlassen, da bei dem sommer-
lichen Abtrieb von Eismassen man mit dem
Schifte doch erst spät an das feste Land würde
gelangen können, ein anhaltender Kampf mit Eis-
bergen noch vor der Überwinterung die Mann-
schaft aber nutzlos ermüde. Damit die über
Australien mit Polarhunden und Kohlenvorräten
zu den Kerguelen -Inseln entsendeten Gefährten
dort nicht über das Ausbleiben der Gauß sich
beunruhigten, wurde ihnen mit einem von Kap-
stadt nach Australien gehenden Dampfer Nach-
richt geschickt; doch hat dies Schiff die Kerguelen-
Station nicht gefunden, weil sie nicht am verab-
redeten Drei- Insel-Hafen aufgeschlagen war, son-
dern in der Observatoriumsbucht. Erst am letzten
Dezember traf die Gauß auf den Kerguelen ein,
nachdem sie wieder auf dem Meere so emsig
tätig gewesen war, daß eine wertvolle Bereiche-
rung unserer Kenntnisse erzielt ist. Nun mußte
man einen Monat auf der Kerguelenstation bleiben,
länger als geplant. An Bord des Dampfers näm-
lich, der die Kerguelenstation von Australien ge-
bracht halte, war unter der chinesischen Mann-
schaft die bisher nur aus tropischem Klima bekannte
Beriberi-Krankheit ausgebrochen, so dal5 die Ein-
richtung der Kerguelenstation weit zurück war
und die Gauß-Mannschaft helfen mußte, obwohl
die Kohleneinnahme an sich schon schwierig war.
Trotzdem wird man jetzt von Glück sagen müssen,
daß die Gauß mit der Chinesenmannschaft des
inzwischen abgefahrenen Dampfers nicht mehr in
Berührung kam; denn die Beriberi ist bei den auf
den Kerguelen zurückgelassenen Beobachtern Dr.
Werth und Dr. Enzensperger später ausgebrochen,
offenbar also infolge Ansteckung trotz der rauhen
Witterung in diesen nicht-tropischen Gebieten. So
hat die Verzögerung des Aufbruchs in die Ant-
arktis, der am 31. Januar 1902 erfolgte, die Ex-
pedition wahrscheinlich vor schwerem Unheil be-
wahrt, welches auf den Kerguelen später das
hoffnungsvolle Leben Enzenspergers gefordert hat,
und die Wissenschaft um viele ozeanographische
und andere Ergebnisse aus dem südwestlichen
Indischen und mittleren Atlantischen Ozean be-
reichert.
Nun ging es nach Süden, und wirklich wurde
man vom Eise ziemlich wenig belästigt. Termi-
nation-Land wurde nicht gefunden, wohl aber
weiter westlich eine bisher nirgends verzeichnete
Küste. Prof v. Drjgalski berichtet, daß Eisberge
so häufig die F'orm von Land vorspiegeln , daß
die von Kapitän VVilkes angedeutete Termination-
Insel wahrscheinlich ein Eisberg gewesen ist. Diese
Ansicht ist annehmbarer als eine in der deutschen
Heimat aufgestellte Vermutung, die von der Gauß
neu entdeckte Kaiser Wilhelm II. -Küste sei nur
das alte Termination-Land und Wilkes habe sich
lediglich in der Ost - West - Lage geirrt. Schon
9 Tage, nachdem man mit dem Eise in Berührung
gekommen war, wurde die Gauß eingeschlossen,
ehe sie das Festland erreichen konnte. Die Be-
rechnung, daß man anfangs Februar das eisfreieste
Meer v^orfinden würde, war also richtig gewesen.
Das Land ist vom Fesselballon des Schiffes an
klarem Tage aus Höhen bis zu 500 m beobachtet,
und zu ihm sind auch mehrere Schlittenfahrten
unternommen ; im ganzen sind 7 P'ahrten von zu-
sammen 106 Tagen Dauer ausgeführt. Nur eine
366 m hohe Basaltkuppe, überstreut von erratischen
Blöcken vorwiegend archaischen Gesteins, ragt
aus dem flach ansteigenden Inlandeise auf Sonst
zeigt dies eisbegrabene Land keinerlei hervor-
tretende Leitlinien des Oberflächenbaus, keine aus-
geprägten Formen. Nur sehr weite Überlandreisen
hätten vielleicht eine geographische Neuentdeckung
herbeiführen können ; aber der zweifelhafte Erfolg
war nur unter schwerer Gefährdung der Expedi-
tion zu erreichen; denn das Schiff lag nicht am
Land und konnte mit dem umgebenden Scholleneis
leicht abgetrieben werden. Besser waren die
Kräfte der wissenschaftlichen Teilnehmer und der
Besatzung bei wissenschaftlichen Beobachtungen
zu verwerten. Trotz schwerer Schneestürme, deren
Gewalt die größten Hemmnisse der Arbeiten her-
vorzurufen geeignet war, während die Kälte nur
in Ausnahmen sich bis zu — 40,8" im Tagesmini-
mum, zu — 35,4" im Tagesdurchschnitt gesteigert
hat (August), ist die emsige Tätigkeit nicht ein-
gestellt worden. Über die wissenschaftlichen
Leistungen ausführlich zu sprechen, ist es erst
Zeit, wenn umfänglicher die Expeditionsteilnehmer
sich selbst geäußert haben. Am S.Februar 1903
wurde das Schiff eisfrei und versuchte bis zum
16. März durch die Schollen sich einen Weg west-
wärts an der Küste entlang zu bahnen. Dabei
268
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 17
wurde ständig gefischt, gelotet, geschleppt, ge-
messen, magnetisch beobachtet. Dünung und
Strömung waren in dem umgebenden Eis zu wirk-
sam, als daß man den Versuch hätte wagen können,
sich einen zweiten Südwinter hindurch gefangen
zu geben. Man entschloß sich, die Antarktis zu
verlassen, mit dem Wunsche, im kommenden Süd-
sommer weiter westlich von der bisher besuchten
Stätte die Küste des Südpolarlandes wieder auf-
zufinden. In Kapstadt mußte man vor allem
aucli frische Kohlen einnehmen; denn ein erst
nach der Ausreise des Schiffs von Europa sich
geltend machendes Leck, das später bei der Über-
winterung entdeckt wurde, hatte die Dampfpumpe
und den Kohlcnvorrat über die Berechnung hinaus
in Anspruch genommen. Die gesamte Schiffs-
besatzung war willens, eine zweite Überwinterung
vorzunehmen. Doch in Kapstadt erhielt man den
Befehl, heimzukehren, da etatsrechtliche Schwierig-
keiten der vom Reichstage nicht bewilligten Ver-
längerung der Reise entgegenständen. Dieser
Befehl hat den geographischen Entdeckungen der
deutschen Südpolarexpedition ein Ende geinacht,
nicht aber die Art und Weise, wie der Expeditions-
Iciter oder die Teilnehmer ihre Zeit verwertet .
haben. Diese Zeitausnutzung ist infolge einer
Reihe von Umständen von der Art gewesen, daß
Seitenzweige der geographischen Wissenschaft
mehr Förderung durch die Expedition erfahren
werden als die eigentliche Chorographie der Ant-
arktis. Wer durch diese Tatsache enttäusclit ist,
würde fälschlich die G r ö I.j e der Erfolge bemängeln,
weil die Eigenart der Ergebnisse eine andere
gewesen, als er sich gedacht. Dr. F. Lampe.
Weitere Mitteilungen über die n-Strahlen 'j
hat Blondlot in den Comptes rendus vom
9. Nov. und 7. Dez. 03 veröfil'entlicht. Bei seinen
Versuchen, die zur Konzentration der Strahlen
eine Quarzlinse benutzten, entdeckte B. zu seinem
großen Erstaunen, daß die Strahlung auch dann
nocii fortdauerte, wenn die in eine Laterne ein-
geschlossene, erregende Gasglühlichtflamme aus-
gelöscht und entfernt wurde. Es zeigte sich, daß
die Quarzlinse nunmehr ihrerseits die Fähigkeit
erlangt hatte, n-Strahlen auszusenden. Das gleiche,
der Phosphoreszenz ähnliche Verhalten zeigte Kalk-
spat, Flußspat, der Faden einer Nernstlampe und eine
Anzahl von Metallen, wie Gold, Platin, Silber, Blei,
Zink usw. Dagegen fehlt die Fähigkeit zur Auf-
speicherung von n Strahlen dem Aluminium, dem
Holz, Papier und Paraffin. Da auch im Sonnen-
licht n-Strahlen enthalten sind, so gehen solche
auch von Kieselsteinchen aus, die von derselben
bestrahlt wurden. In die Nähe einer phospho-
reszierenden Schwefelkalziummasse (sog. Baimain-
scher Leuchtfarbe) gebracht, verursachten vorher
besonnte Kieselsteinchen, Kalksteinchen oderZiegel-
stückchen eine Vermehrung der Helligkeit der
Phosphoreszenz. Dagegen bleibt die Wirkung
') Vgl. Bd. II, S. 500.
gänzlich aus, sobald die untersuchten Körper feucht
sind, da ja selbst eine sehr dünne Wasserhaut die
n-Strahlen völlig absorbiert.
Des weiteren bemerkte Blondlot noch, daß
Kompression durch Druck viele Körper zur selb-
ständigen Emission der n-Strahlen veranlaßt, er
erzielte dies z. B. bei Holz, Glas und Kautschuk.
Befindet man sich in einem schwach erhellten
Räume, so daß etwa das Zifferblatt einer Uhr nur
unbestimmt wahrnehmbar ist, so empfindet unser
Auge eine Aufhellung dieser Fläche, wenn man
einen Spazierstock in der Nähe des Auges biegt,
oder ein Stück Glas drückt und dadurch zur Aus-
sendung der n-Strahlen veranlaßt.') Körper, deren
innere Teile dauernd im Spannungszustande sich
befinden, wie Hartglas und gehärteter Stahl, senden
dementsprechend dauernd n-Strahlen aus, während
ungehärteter Stahl wirkungslos ist. Diese Strahlen
sollen 1,5 cm dicke Aluminiumplatten oder 3 cm
dicke eichene Bretter durchdringen und selbst an
einer Messerklinge aus der Merowingerzeit will B.
die bis heute fortbestehende Strahlung beobachtet
haben. Die außerordentlich geringe Energieent-
faltung setzt B. auf Rechnung der bei der Härtung
dem Stahl mitgeteilten potentiellen Energie.
So sehr manche der von B. entdeckten Strah-
lungswirkungen an die Becquerelstrahlen erinnern
mögen, müssen sie doch als eine besondere Art
von Strahlen betrachtet werden, die sicherlich in
die Klasse der Spektralstrahlen gehören, werden sie
doch gebrochen, reflektiert, polarisiert usw. und
lassen eine Messung ihrer Wellenlänge zu.
Kbr.
') Ref. muß allerdings bekennen, daß es ihm bislang
nicht gelungen ist, eine von diesen Erscheinungen durch eigene
Versuche zu bestätigen.
Wetter-Monatsübersicht.
Die trübe, nebelige Witterung, die schon seit Anfang No-
vember fast ununterbrochen geherrscht hatte, setzte sich wäh-
rend des größten Teils des vergangenen Dezember in ganz
Deutschland fort. Weder kam in ihm besonders strenge Kälte
noch auch für die Jahreszeit übermäßig hohe Wärme vor,
vielmehr hielten sich die Temperaturen am häufigsten in der
Nähe des Gefrierpunktes. Die in der beistehenden Zeichnung
wiedergegebenen Temperatur-Minima der einzelnen Dezember-
tage sanken zum erstenmal am 4 und 5. an verschiedenen
Orten Süd- und Mitteldeutschlands auf — 10 Grad C. oder
noch etwas tiefer. Dann trat überall Erwärmung ein, die etwa
bis zum i I. Dezember fortdauerte, worauf die Temperaturen
in den nächsten zwei Wochen sich ganz allmählich wieder
erniedrigten.
Erst seit den Weihnachtsfeiertagen, die sich in vielen
Gegenden durch freundliches, klares Wetter auszeichneten,
führte das Thermometer etwas größere Bewegungen aus.
Königsberg i. Pr. und Mcmel brachten es am 26. Dezember
auf 13 Grad C. Kälte. Bald darauf wurde es dort wieder
gelinde, während bei Jahresschlufs im ganzen Binnenlande
ziemlich strenger Frost herrschte. Die Mittcltemperaturen
des Dezember lagen durchschnittlich etwa einen halben Grad
unter ihren normalen Werten. An den meisten Tagen , be-
sonders um Mitte des Monats , war der Erdboden mit einer
dicken Nebelschicht bedeckt, durch die die Sonne nicht hin-
durchzudringen vermochte. Dabei herrschte im allgemeinen
ziemlich ruhige I^uft, nur am 3. und 4. traten an der Nord-
seeküste stürmische Südwestwinde auf.
N. F. III. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
26g
7ciiipcratur;A\iiiima ciiii^crörlc imjJovcinW'lJüj,
Ebenso wie der Sonnenschein blieben jedoch, wie unsere
zweite Zeichnung erkennen liil3t, auch ergiebigere Niederschläge
im vergangenen Monat meistens aus. Nur in seinen ersten
Tagen fiel beinahe überall Schnee, der kurze Zeit liegen blieb,
dann häufiger etwas Regen. Die Niederschläge wurden aber
Mittlerer Werf füi'
Deutschland.
IG. bisil.Bet.
U
5™
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n.R
1
^
oiiafssummeimPe;
1303. 02. m. 00. 1H9. j».
D
^ J^diinr Welttrbur<iu.
schivächer und schwächer, seit dem 11. Dezember hörten sie
in Norddeutschland fast gänzlich auf, während sie im Süden
noch bis zum 15. fortdauerten. In der zweiten Hälfte des
Monats kamen in manchen Gegenden Deutschlands gar keine,
in den übrigen sehr selten meßbare Niederschläge vor. Der
Wasserstand der meisten Flüsse nahm daher bedeutend ab,
wenn auch der Erdboden und die niedrigeren Luftschichten
ziemlich feucht blieben. Der gesamte Ertrag an Niederschlägen,
der sich für die gleichen Stationen in den früheren Dezember-
monaten durclischnittlich zu 52 Millimetern ergeben hat, bc-
lief sich diesmal nur auf 20,6 Millimeter. Bis zum Jahre
1890 muli man zurückgehen, um einen noch trockeneren De-
zember aufzufinden.
Nachdem zu Beginn des Dezember mehrere ziemlicli tiefe
Barometerminima von Südwest nach Nordost durch Europa
gezogen waren, blieb dann die allgemeine Anordnung des
Luftdruckes bis zum Schlüsse des Jahres fast immer die gleiche.
Das russische Reich wurde von einem hohen barometrischen
Maximum bedeckt, während ausgedehnte Minima auf dem at-
lantischen Ozean, bei den britischen Inseln und auf dem euro-
päischen Nordmeere verweilten. Gleichzeitig lagerte ein
flacheres Depressionsgebiet über dem mittelländischen Meere,
von wo es mehrmals Teilminima nach Norden entsandte. In
der ersten Hälfte des Dezember wurde daher Italien , die
Balkanhalbinsel und ein Teil von Österreich - Ungarn
wiederholentlich von schweren Unwettern heimgesucht,
die zahlreiche Überschwemmungen zur Folge hatten. Bei-
spielsweise fielen vom 6. zum 7. Dezember in Rom 41 , in
Triest 64, in Görz 71 mm Regen.
In Mitteleuropa herrschten anfänglich ziemlich milde,
feuchte Süd- und Südostwinde vor. Jedoch im Laufe des
Monats, während sich das russische Hochdruckgebiet ganz
langsam nach Westen verschob, wurde die Luftströmung all-
mählich etwas trockener und kälter. Strengere Kälte trat
aber erst in seinen letzten Tagen auf, als ein enger begrenztes
Barometermaximum vom weißen Meere nach der skandinavi-
schen Halbinsel vorrückte und sich die Winde daher nach
Nordosten drehten. Am 30. Dezember hatte Czernowitz in
der Bukowina 23 Grad C. Kälte. Dr. E. Leß.
Himmelserscheinungen im Februar 1904.
Stellung der Planeten : Merkur ist bis zum 10., Venus
während des ganzen Monats für kurze Zeit am Morgenhimmel
sichtbar. Mars und Jupiter sind unweit voneinander etwa
I Stunde lang abends am westlichen Himmel sichtbar. Sa-
turn ist unsichtbar, da er sich am 2. mit der Sonne in Kon-
junktion befindet.
Verfinsterungen der Jupitertrabanten: Am 8. um 6 Uhr
47 Min. 37 Sek. ab. Austritt des 111., am 10. um 7 Uhr 28
Min. II Sek. ab. Austritt des II., am 12. um 4 Uhr 44 Min.
59 Sek. ab. Austritt des I., am 19. um 6 Uhr 39 Min. 55 Sek.
ab. .'austritt des 1. Trabanten.
Sternbedeckungen: Am 24. wird .\ldebaran (a Tauri)
für Berlin um 7 Uhr 18,0 Min. ab. M.E.Z. durch den Mond
bedeckt. Der Austritt erfolgt um 8 Uhr 33,0 Min. .Am 29.
wird o Leonis um 10 Uhr 5,2 Min. ab. bedeckt und tritt um
I I Uhr 8,0 Min. wieder aus.
Algol-Minima: Am 4. um 9 Uhr 41 Min. abends, am
7. um 6 Uhr 30 Min. abends , am 24. um 1 1 Uhr 24 Min.
abends und am 27. um 10 Uhr 13 Min. abends.
Das Zodiakallicht ist im Februar nach Eintritt der
Dunkelheit am Wcsthimmel besonders leicht als ein Licht-
schein wahrzunehmen, der sich ungefähr bis in die Gegend
der Plejaden erstreckt.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Am 5. April 1S04 wurde Matthias Jacob Schieiden
in Hamburg geboren. Um die hundertste Wiederkehr dieses
Tages in würdiger Weise zu feiern, haben eine große Anzahl
von Gelehrten in Aussicht genommen, dem glänzenden Refor-
mator der Botanik, der weit über die Grenzen seiner Spezial-
wissenschaft hinaus auf die gesamte Biologie anregend und
befruchtend gewirkt hat, dessen Namen mit der Zellentheorie
unzertrennbar verknüpft, in Jena, der Stätte seiner langjährigen
Wirksamkeit, ein Denkmal, in Gestalt einer Büste, zu errichten,
über dessen Ausführung später Bericht erstattet werden soll. —
Beiträge nimmt bis zum I. Februar Herr Verlagsbuchhändler
Dr. Gustav Fischer in Jena entgegen.
Die Röntgen-Vereinigung zu Berlin plant zur Feier der
zehnjährigen Wiederkehr der Entdeckung der Röntgenstrahlen
für Ostern 1905 einen Röntgen- Kongreß, verbunden mit
einer Röntgen-AussteUung, dessen Ehrenvorsitz Wirkl.
Geh. -Rat Prof. Dr. v. Bergmann übernommen hat und dem
auch der Entdecker als Ehrengast beiwohnen wird.
Mit Friedrich v. Hefner-Altencck, der am 7. Jan.
zu Berlin verstarb, ist wieder einer derjenigen Männer dahin-
gegangen, denen die großartige Entwicklung der Elektrotechnik
im letzten Vierteljahrhundert an erster Stelle zu danken ist.
270
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 17
Am 2=;. .April 1S45 '^^^ Sohn des bekannten, erst kürzlich ver-
storbenen Kunsthistorikers J. H. v. H. A. geboren , kam
V. Hefner nach Absolvicrung seiner Studien 1867 nach Berlin
und trat als Ingenieur bei der P'irma Siemens & Halske ein,
der er bis 1890 angehörte und zu deren Weltruf er neben
Siemens am meisten beitrug. Von seinen zahlreichen Erfin-
dungen seien hier nur erwähnt; der Troramelinduktor, der den
wesentlichsten Teil der meisten von S. & H. gebauten Dynamo-
maschinen ist; die Differential-Bogenlampe, eine der ersten
praktisch brauchbaren Konstruktionen ; die Amylacetatlampc,
noch heute die allgemein gebrauchte Lichteinheit der ,, Hefner-
kerze" definierend, und das \'ariometer, eine höchst einfache
Vorrichtung zur Demonstration der Luftdruckunterschiedc inner-
halb eines Zimmers.
Der Paläczoolog K ar I A. Zittel, Prof an der Universität
in München, ist gestorben. Er ist auch in weiteren Kreisen
bekannt durch seine Kompendien über Paläozoologie und
als Verfasser einer Geschichte der Geologie und Paläontologie,
die die umfassende Belesenhcit und Kenntnis des Verstorbenen
kennzeichnet.
Ferner starb der vielgenannte englische Philosoph Her-
bert Spencer im Alter von 84 Jahren. Sein lobändiges
Werk der synthetischen Philosophie ist durchaus im Geiste
der Entwicklungslehre im Sinne von Lamarck-Darwin gehalten.
Der I. Bd. erschien 1865, der letzte 1893. Über seinen Le-
bensgang — nach der Darstellung Prof. Dr. G. Kunzes in
der Illustrierten Zeitung (Leipzig) — das Folgende :
Geboren am 27. April 1820 als Sohn eines Lehrers zu
Derby, wurde er früh in die e.\akte Forschung eingeführt und
lernte nach der Natur zeichnen, war aber sonst in der Schule
nicht fleißig. Später übertraf er alle in Mathematik und Me-
chanik ; die fremden Sprachen ließen ihn kalt. Die Kirche
wurde ihm dadurch verleidet, daß er den Vater in den Quäker-,
die Mutter in den Methodistenkultus begleiten mußte. Der
Aufenthalt bei einem Oheim erwärmte ihn für Politik ; er hat
zeitlebens den liberalen Prinzipien gehuldigt und noch als
Hochbetagter gegen den Chauvinismus der Burenbekämpfcr
demonstriert. Sein Individualismus (,,the man versus the State")
erschien manchen seiner Landsleute allerdings allzu subjekti-
vistisch. Eine Universität hat er nie besucht : spätere Elirungen
mit akademischen Titeln hat er regelmäßig abgelehnt. Im
achtzehnten Lebensjahre wurde er Eisenbahningenieur ; längere
Zeit war er als Mitarbeiter am ,,Economist" tätig. Daneben
trieb er eingehend Geologie, Biologie, Botanik. Seit 1853
widmete er sich, nachdem er inzwischen nach London über-
gesiedelt war, ganz der Ausarbeitung seines Systems, dessen
Veröffentlichung ihn bald in 1200 Pfd. St. Schulden stürzte,
die er aber in zehn Jahren deckte, nachdem sein Vater ihm
ein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Den Verlag seiner
Werke übernahm er selbst. Die Freuden und Leiden des
Familienlebens sind ihm versagt geblieben.
Bücherbesprechungen.
Meyer's Grofses Konversations- Lexikon. Ein
Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6.,
gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage.
5. Band. Dififerenzgeschäfte bis Ende. Leipzig
und Wien. Bibliographisches Institut, 1903. —
Preis geb. 10 Mk.
In gleichmäßig trefflicher Ausstattung wie die
schon erschienenen Bände liegt nunmehr der 5. Band
von Meyer's Konversations - Lexikon vor. Auch in
diesem sind die naturwissenschaftlichen Fächer hervor-
tretend behandelt und durch reiche Illustrationen er-
läutert worden, so finden sich Tafeln mit diluvialen
Säugetieren, mit Dyas-Fossilien , mit Edelsteinen (in
sehr wohlgelungenem Buntdruck) , mit Fischeiern,
Eidechsen, Vogeleiern (ebenfalls in gutem Farben-
druck), mit den Eingeweiden des Menschen, mit
Einsiedlerkrebsen, elektrischen Entladungsformen (bunt),
mit einer Dars'ellung der menschlichen Embryonen-
entwicklung, mit Entenarten 1 bunt), zur Entwicklungs-
geschichte der Tiere (Bunt- und Schwarzdrucke), mit
pflanzlichen Epiphyten (bunt) usw. Auch Landkarten
und Städtepläne sind wieder ausgiebig gebracht.
Dr. Friedrich Dannemann, Grundriß einer
Geschichte der Naturwissenschaften,
zugleich eine Einführung in das Studium der grund-
legenden naturwissenschaftlichen Literatur. II. Bd.
Die Entwicklung der Naturwissenschaf-
ten. 2., neu bearbeitete Auflage. Mit 87 Ab-
bildungen zum größten Teil in Wiedergabe nach
den Originalwerken, einem Bildnis von Galilei und
einer Spektraltafel. Wilhelm Engelmann in Leipzig,
1903. — Preis 10 Mk.
Von dem hübschen Werk zeigen wir hiermit das
Erscheinen der 2. Aufl. des II. Bandes an. Wir
haben wiederholt auf das prächtige Buch aufmerksam
gemacht — so noch letzthin in Nr. 12 p. 192 im
Briefkasten — und können uns daher hier mit dieser
bloßen Anzeige begnügen. Verf. hat an der 2. Aufl.
vervollständigt und verbessert. Wir wünschen sehr,
daß auch fernere Auflagen erscheinen mögen : diese
wiederum verbessert und noch weiter ausgereift.
Entomologisches Jahrbuch. 13. Jahrgang. Ka-
lender für alle Insektensammler auf das Jahr 1904.
Herausgegeben von Dr. O. K r a n c h e r , Leipzig.
Verlag von Frankenstein & \\'agner, Leipzig. 1 904.
— Preis 1,60 Mk.
Der Kalender bringt (von G. Warnetke verfaßte)
monatliche Saminelanweisungen für Schmetterlings-
sammler. Diesen folgen Artikel aus den verschieden-
sten Insektengebieten. Die Autoren sind; G.Lehmann,
V. Wüst, Dr. Henle, M. Alte, Dr. P. Speiser, Prof.
Dr. Pabst, Geo. C. Krüger, M. Wünscher, H. Gauckler,
J. Stephan, H. Ruhe, G. U'arnecke, A. Voelschow,
J. Hayn, R. Tietzmann, Dr. von Schultheß-Schindler,
Alex. Reichert, W. Kleffner, Sanitätsrat Dr. Alisch,
Prof. Dr. Rudow, A. H. Krause und Dr. L. Melichar.
Im Abschnitte „Literatur" bespricht der Herausgeber
60 teils größere oder kleinere neueste Werke, teils
entomologische Zeitschriften , Jahresberichte oder
Kataloge, während die Totenschau unter Beigabe von
5 Porträts an verstorbene Forscher erinnert. Zwischen
den einzelnen Artikeln eingestreut finden sich noch
kleinere entomologische Notizen und Beiträge. Eine
Bunttiteltafel führt die 36 Varietäten des 2 punktigen
Marienkäferchens Adalia bipunctata L. vor.
i) Dr. Richard R. v. Wettstein, Handbuch der
sy st e^mat isch en Botanik. II. Bd. — i.Teil.
Mit 664 Figuren in 100 Text- Abb. u. i Farben-
tafel.' Franz Deuticke in Leipzig und Wien 1903.
— Preis 6 Mk.
2) Dr. Eduard Strasburger, Prof. a. d. LIniv. Bonn,
Dr. Fritz NoU, Prof a. d. Landw. Akad. Poppels-
dorf etc., Dr. Heinrich Schenck, Prof. a. d. techn.
Hochschule Dannstadt, Dr. George Karsten, Prof.
a. d. Univ. Bonn, Lehrbuch der Botanik f li r
N. F. III. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
271
Hochschulen. Mit 741 zum Teil farbigen Abb.
6. umgearb. Aufl. Gustav Fischer in Jena, 1904.
— Preis 7,50 JMk.
3) Dr. K. Giesenhagen, Prof. d. Bot. a. d. Univ.
München, Lehrbuch der Botanik. 3. Aufl.
Mit 557 Textfig. Fr. Grub in Stuttgart, 1903. —
Preis 7 Mk.
4) Dr. Karl Smalian, A)LehrbuchderPflanzen-
kunde für hühere Lehranstalten. Mit 570 Abb.
und 36 Farbendrucktafeln. 626 S. — Preis geb. 8 Mk.
B) Grundzüge der Pflanzenkunde. I.Teil.
Blüten])flanzen. Mit 331 Abb. und 33 Farbentafcln.
323 S. — Preis geb. 4 Mk.
II. Teil: Blütenlose Pflanzen. Bau der Pflnnzen.
Mit 142 Abbild, und 3 Farbentafeln. 102 S. —
Preis geb. 1,60 Mk.
5) Paul Wossidlo, Leitfaden der Botanik
für höhere Lehranstalten. Mit 556 Abb.,
16 Tafeln in Farbendruck und i Vegetationskarte.
IG. verm. u. verb. Aufl. Berlin (VVeidinann'sche
Buchhandlg.) 1903. — Preis geb. 3,30 Mk.
6) Dr. P. Esser, Vorsteher des botan. Gartens der
Stadt Köln, das Pflanzenmaterial für den
botanischen Unterricht. Seine Anzucht u.
die an demselben anzustellenden Beobachtungen
in biologischer , anatomischer und physiologischer
Hinsicht. I. Die Anzucht, Vermehrung u.
Kultur der Pflanzen. 2. Aufl. Verlag von
J. P. Bachern in Köln, 1903.
i) Das Bedürfnis, ein exaktes, gutes, kleineres
Handbuch der Pflanzensystematik zu haben, ist vor-
handen, und wir zeigen daher mit Freuden das Er-
scheinen der Fortsetzung des Wettstein'schen Werkes
an, das diesem Bedürfnis trefl'lich gerecht wird. Der
vorliegende Teil bringt den Anfang der Cormophyten,
bespricht zunächst ihren entvvicklungsgeschichtlichen
Zusammenhang, die Homologien zwischen den Gruppen
derselben und die Ursachen der Veränderung der
homologen Organe, sodann folgt die systematische
Betrachtung der Archegoniaten und von den Antho-
phyten die Gymnospermen. Da diese großen Gruppen
auf 160 Seiten (dem Umfang des Teiles') ihre Er-
ledigung finden , ist zu ersehen , daß keineswegs ein
umfangreiches Handbuch zu fürchten ist. Der Preis ist
sehr mäßig; das Werk kommt also auch in dieser
Beziehung den Ansprüchen durchaus entgegen. Sehr
zu loben ist, daß W. die fossilen Pflanzen durchaus
gebührend gewürdigt hat. P.
2) Das botanische Viermänner-Buch liegt wiederum
in einer Neu-Auflage vor. Durch den Tod Schimper's
ist die Bearbeitung der Phanerogamen in andere
Hände, in diejenigen Karsten's, übergegangen, der
eine vollständige Umarbeitung vorgenommen hat und
neue Originale für die farbig wiedergegebenen Ab-
bildungen bringt , ebenso wie .TUch sonst das Werk
jetzt mehr Original-Abbildungen enthält als früher.
Das vorliegende Buch ist so recht das Lehrbuch der
heutigen Durcbschnitts-Botanik, d. h. es trifft diejenige
Färbung der Botanik, die allermeist (durchschnittlich)
auf den Hochschulen gelehrt wird. Es ist daher be-
greiflich , daß es bei Lernenden solchen Anklang
findet. P.
3) Auch das Buch von Giesenhagen paßt sich
weitgehend den neuesten herrschenden Richtungen
der Botanik an ; es ist aber vergleichsweise teurer als
das unter 2 (vorausgenannte) Lehrbuch. Giesenhagen
schreibt klar und der Stoft" ist übersichtlich gegliedert.
Das gegenwärtig für wesentlich gehaltene ist geschickt
hervorgekehrt, dabei ist der Text nicht überlastet, so
daß das Buch zur Orientierung über das Gesamt-
gebiet empfehlenswert ist. P.
Waren die vorausgehenden Werke Hochschulbücher
resp. wie das Wettstein'sche ein Werk für die weitere
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Botanik, so
sind die folgenden Schulbücher.
4) Das Smalian'sche Unterrichtswerk ist eine be-
deutsame Erscheinung, die in den Kreisen der natur-
wissenschaftlichen Lehrerwelt sicherlich die gebührende
Beachtung finden wird. Die Anordnung des Stoffes
ist eine systematische , jedoch wird vom Verf mit
Recht auf die ausführliche , lesbare Besprechung der
wichtigsten Pflanzen das Hauptgewicht gelegt. Bei
dieser Darstellung kommen sowohl die cönobiolischen
wie auch auch die ökologischen, teleologischen, prak-
tischen und ästhetischen Gesichtspunkte voll zur
Geltung. Die für gewisse Pflanzen typischen Insekten
und Pilzschädlingc werden mit erwähnt und zum Teil
auch abgebildet, das Verständnis für die Aufgaben
und Mühseligkeiten der Landwirtschaft wird bei den
Kulturpflanzen in besonders erfreulichem Grade ge-
weckt. Die .'Ausstattung des Buches ist eine ganz
hervorragende. Neben den außerordentlich zahl-
reichen Einzelabbildungen von Pflanzenteilen werden
uns viele Gewächse in ihrer natürlichen Umgebung
vorgeführt und von allen wichtigeren Baumfürmcn
treft'liche Habitusbilder geliefert. Von ganz beson-
derem Werte ist aber der farbige Bilderatlas , der
nicht nur dem Zuge der feit folgend das Schüler-
auge durch die Farbenwirkung anreizen soll, sondern
durch die Naturtreue dem Lehrer sowohl bei Mangel
an frischem Material aus der Verlegenheit helfen
kann, als auch bei Wiederholungen zur Einprägung
der Namen unserer heimischen Flora gute Dienste
leibten wird. Außerdem werden die recht geschmak-
vollen Blumenbilder gewiß vielfach gern als Malvor-
lagen benutzt werden. Alles in allem kann der Haupt-
zweck des Verf, den biologischen Unterricht durch
sein Werk zu vertiefen, als durchaus wohlgelungen
bezeichnet werden. Bei künftigen Auflagen könnte
vielleicht die Stellung im natürlichen System durch
Seitenüberschriften noch etwas deutlicher gekenn-
zeichnet werden. F. Kbr.
5) Wossidlo's Leitfaden besitzt ebenfalls schöne
bunte Tafeln mit Habitus-Abbildungen. Das beliebte
Buch haben wir schon öfter angezeigt, so daß wir
uns hier mit einer Anzeige begnügen können.
6) Esser's „Anzucht" ist für den Lehrer, der in
der Lage ist, einen auch noch so kleinen botanischen
tlarten zu halten, sehr zu empfehlen, erst recht für jeden
größeren botanischen Garten, der die Aufgabe hat,
Materialien für viele oder mehrere Schulen zu liefei n :
das Buch dürfte diesbezüglich den weitgehendsicn
Anforderungen genügen.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. i;
Prof. Dr. H. Schubert, Mathematische Muße-
stunden. Kleine Ausgabe. 2. Aufl. Leipzig,
G. J. Göschen. 1904. 306 Seiten. — Preis geb.
5 Mk.
Ein reizendes Buch, das in keiner Schülerbibliothek
fehlen sollte, da es in hoiieni Grade das Interesse an
der Mathematik bei der Jugend anzuregen geeignet
ist. Gerade die vorliegende , kleine Ausgabe wird
gegenüber dem 1900 erschienenen dreibändigen und
gleichnamigen Werke desselben Verfassers sich für
die Benutzung durch Schüler besonders eignen, denn
abgesehen von den Anschaffungskosten schreckt
erfahrungsgem.Tß gerade der Anfänger leicht vor zu
dickleibigen Büchern zurück , deren Studium ihm
mehr als Arbeit , denn als Spiel erscheinen würde.
Die Auswahl des Stoffes scheint uns recht gut ge-
lungen. Die Aufgaben selbst sind zumeist schon
längst in ähnlichen Werken älteren Datums behandelt,
aber eine mathematische Kritik einiger Probleme als
erster gegeben zu haben ist das Verdienst des Verf,
der in den Jahren 1893 — 1895 mit einer ,, mathe-
matische Spielereien" betitelten Artikelserie in der
Naturwissenschaftlichen Wochenschrift seine diesbe-
züglichen Veröffentlichungen begann. Der Stoft"
gliedert sich in Zahlprobleme und Anordnungsprobleme.
Unter den letzleren werden besonders die magischen
Quadrate, Rösselsprünge, das Boss-Puzzle Spiel, sowie
die Euler'schen und Hamilton'schen Wanderungen be-
handelt. Vielleicht würde sich auch die Aufnahme
des Nim-Spieles (vgl. Nat. Woch. N. F. I, S. 258) für
später empfehlen. — Unter der älteren Literatur
hätten auch „Die mathematischen Wunder" von Bleib-
treu (Frankfurt a. M. 1824, Varrentrapp) Erwähnung
verdient. — Die Benutzung der Neunerprobe bei der
Division gestaltet sich weit einfacher, als S. 82 ange-
geben , wenn man nur die Multiplikationsprobe
(Quotient >' Divisor = Dividendus) durch die Neuner-
reste prüft, was doch ebensogut ausreicht. Auch
hätte bei der Behandlung der Neunerprobe darauf
hingewiesen werden sollen, daß das Stimmen derselben
kein Beweis für die Richtigkeit der Rechnung ist, da
namentlich Fehler durch weggelassene Nullen dadurch
nicht entdeckt werden. — In der Anweisung am
Schluß von Seite 96 fehlt die Angabe der oberen
Grenze (128), bis zu welcher die Zahlenreihen fort-
zusetzen sind. F. Kbr.
F. M. Feldhaus, Die Erfindung der elek-
trischen Verstärkungsflasche durch E. J.
V.Kleist. Heidelberg 1903, C.Winter. 29 Seiten.
— Preis 80 Pf
In der kleinen Schrift sind mit Sorgfalt die weni-
gen Daten zusammengetragen, die sich über die Ge-
schichte der Entdeckung der Verstärkungsflasche und
über das Leben des physikalischen Dilettanten E. J.
V. Kleist noch jetzt mit Sicherheit feststellen ließen.
Bei der Bedeutung, welche dieser Ansammlungs-
apparat für die moderne Funkentelegraphie besitzt,
war die verdienstliche Arbeit des Verf. gewiß zeit-
gemäß. Die Absicht des V'erf , den Gebrauch des
Namens ,,Leydener" Flasche zu beseitigen, wird wohl
noch eine Zeitlang mit dem Beharrungsvermögen
des Sprachgebrauchs zu kämpfen haben; in den phy-
sikalischen Lehrbüchern ist wohl fast durchweg den
Prioritätsansprüchen v. Kleist's bereits Gerechtigkeit
widerfahren. F. Kbr.
H. W. J. Thiersch und Aug. Thiersch , Die
Physiognomie des Mondes. Augsburg 1883,
R. Preyß. 42 Seiten mit 4 Tafeln. — Preis 2 Mk.
Obgleich seit dem Erscheinen dieser Schrift bereits
20 Jahre vergangen sind, wollen wir doch, einem
Wunsche der Verlagshandlung entsprechend , nicht
unterlassen, unsere sich für die Materie interessieren-
den Leser auf die seinerzeit wenig bekannt gewordene
Schrift der weil. Baseler und Münchener Professoren
hinzuweisen. ' Dieselben entwickeln nach einem histo-
rischen Überblick über die Versuche, die Entstehung
des Mondantlitzes zu erklären, die sog. Aufsturztheorie,
die wohl zuerst von Gruithuisen (1825) und Althaus
(1839) ausgesprochen wurde und später in Meyden-
bauer, M. Wilh. Meyer, Alsdorf und anderen namhafte
.\nhänger fand. Da die uns zugängliche Literatur
nirgends Hinweise auf die gediegene Schrift der
Gebr. Thiersch aufweist, sei dieselbe nunmehr der
Beachtung derjenigen empfohlen , die in der noch
immer nicht entschiedenen Frage nach der Entstehung
der eigenartigen Ringgebirge des Mondes mitsprechen
wollen. Die beigegebenen Tafeln sind Reproduktionen
aus dem bekannten Werk von Nasmvth und Carpenter.
F. Kbr.
Literatur.
Otto, Frdr. .^ug. : Die Auflösung der Gleichungen mit Be-
rUcksicht. der neuesten Fortschritte. 4. AuH. (63 S.) 8".
Dusseldorf '04, F. A. Otto. — Kart. 3 Mk.
Schlotke, Gewerbesch.-Dir. a. D. J. : Die Kegelschnitte und
ihre wichtigsten Eigenschaften in elementar -geometrischer
Behandlung. (111, 96 S. m. 129 Fig.) gr. 8". Dresden '03,
G. Kühtmann. — 3,20 Mk. ; kart. 3,40 Mk.
Skraup, Prof. Dr. Zd. H. : Die Chemie in der neuesten Zeit.
Rektorats -Rede. (20 S.) gr. 8°. Graz '04, Leuschner &
Lubensky. — 50 Pf
Wettstein, Prof Dr. Rieh. R. v. : Handbuch der systemati-
schen Botanik. II. Ed. i. Tl. Mit 664 Fig. in 100 Ab-
bildgn. und l Farbenlaf (160 S.) gr. 8". Wien '03, F.
Deulicke. — 6 Mk.
Inhalt: K. Th. Preuß: Die Entwicklung der altme.\ikanischen Religion. — Kleinere Mitteilungen: Leo Brenner:
Meine Erfahrungen mit Skorpionen. — Gräfin M. v. Linden: Morphologische und iihysiologisch-chcmische Unter-
suchungen über die Pigmente der Lepidopteren. i. Die gelben und roten Farbstofie der Vanessen. — Dr. F. Lampe:
Die Ruckkehr der deutschen Südpolare.xpedition. — Blondlot: n-Strahlen. — Wetter-Monatsübersicht. — Himniels-
erscheinungcn im Februar 1904. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Meyers Großes
Konversations-Lexikon — Dr. Friedrich Dannemann: Grundriß einer Geschichte der Naturwissenschaften, -r-
Entomologisches Jahrbuch. — v. Wettstein, Strasburger, Giesenhagen etc.: Sammelreferat über botanische
Lehrbücher. — Prof Dr. II. Schubert: Mathematische Mußestunden. — F. M. Feld haus: Die Erfindung der elek-
trischen Verstärkungstiasche. — H. W. J. Thiersch und Aug. Thiersch: Die Physiognomie des Mondes. — Lite-
ratur: Liste.
Vcrantwortliclier Redakteur: Prof. Dr. H. Potouie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sctie Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Dl6 NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902,
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonid und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 31. Januar 1904.
Nr. 18.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Pust
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltcne Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.\ulträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blun:ienstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die geographischen Beziehungen des Meteorphänomens.
[Nachdruck verboten.]
Es ist schon lange sichergestellt, daß die An-
zahl der bei geeignetem Zustande des Himmels
an jedem Orte stündlich sichtbaren Meteore nach
Tages- und Jahreszeit verschieden ist. Der Reich-
tum an scheinbar geräuschlos hinziehenden Stern-
schnuppen ist von Mitternacht bis zur Morgen-
dämmerung stets viel größer als in den Abend-
stunden und überdies, auf der nördlichen Hemi-
sphäre, in der zweiten Jahreshälfte größer als in
der ersten. Dabei bleiben jedoch einzelne, inner-
halb kürzerer Abschnitte besonders reiche Ströme,
z. B. die August-Perseiden u. a. außer Betracht.
Die Erklärung dieser offenbar gesetzmäßigen
Erscheinung ist unter der Annahme, daß sie durch
das Eindringen kosmischer Körperchen in die
irdische Atmosphäre hervorgerufen wird, in all-
gemeinen Umrissen theoretisch begründet. Im
einzelnen bestehen jedoch, zwischen den Ergeb-
nissen der Theorie und den allerdings noch wenig
ausreichenden Erfahrungen , nicht unwesentliche
Gegensätze, deren Aufklärung zu neuen Erkennt-
nissen über die im Sonnensystem und dessen Um-
gebung in kleinen Partikeln verteilte Materie führen
könnte.
Von Prof. G. v. 'Niessl in Briinn.
Zweierlei Voraussetzungen sind es namentlich,
von welchen hier die Synthese ausgehen muß, um
zu einem mit den Beobachtungen vergleichbaren
Ergebnisse zu gelang-en. Die eine betrifft die Ver-
-ITT
t eilung der Bahnen dieser Körper m der Um-
gebung der Erdbahn, die andere die Geschwin-
digkeit, mit der sie sich in gegebener Ent-
fernung von der Sonne bewegen.
Hinsichtlich der Verteilung bleibt vorerst die
einfachste und nützlichste Annahme die, daß be-
züglich der Bewegung im Sonnensj'stem , keine
Richtung bevorzugt ist, daß also zunächst kein
Grund vorliegt, eine gesetzmäßige Abweichung
von der rein zufälligen, d. i. gleichmäßigen Ver-
teilung vorauszusetzen. Diese Annahme ist völlig
geeignet, sobald ausreichende Beobachtungen vor-
ieeen, durch Vergleichung der Ergebnisse die
Wahrscheinlichkeit eines anderen Ver(eilungs-Ge-
setzes sowie auch die unregelmäßigen Abweichungen
zu erkennen.
Die Geschwindigkeit der Meteore ist zweifellos
eine planetarische oder siderische. Es fragt sich
nur, ob sie für alle ungefähr einheitlich zu nehmen
wäre, oder ob sehr erhebliche Abstufungen vor-
274
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. i8
kommen. Als eine für alle Fälle zureichende Nähe-
rung könnte vorläufig die sogenannte parabolische
Geschwindigkeit (der Grenzwert zwischen den Ge-
schwindigkeiten in elliptischen und hyperbolischen
Bahnen) gelten, d. i. in der Nähe der Erdbahn
nahezu 42 km in der Sekunde, wobei man aber
doch mehr an einen Durchschnittswert, als an
völlige Gleichheit zu denken hat. Auch in dieser
Hinsicht bietet die Vergleichung theoretischer Er-
gebnisse mit ausreichenden Erfahrungen Anhalts-
punkte zur Verbesserung der ersten Annahmen.
Auf den Sternhimmel versetzt, müssen unter
sich parallele Bahnen von einem gemeinsamen
Strahlungspunkte perspektivisch auszugehen schei-
nen, welcher zugleich den Richtpunkt für die Be-
wegung der zum selben Strome gehörigen Meteore
darstellt. Unter der früher angeführten Voraus-
setzung müßte man sich diese Strahlungspunkte
(Radiationspunkte oder Radianten) auf dem ganzen
Himmelsgewölbe gleichmäßig verteilt denken,
weil eben keine Richtung bevorzugt sein soll, und
auch die Geschwindigkeiten in diesen Bahnen
müßten, abgesehen von unbedeutenden Beträgen,
als gleichartig angenommen werden. Ungeachtet
der Einfachheit dieser Annahmen, stellt sich doch
die daraus hervorgehende Synthese des Meteor-
phänomens für einen bestimmten Ort der Erde
als recht verwickelt heraus.
Vor allem kommt nun in Betracht, daß sich
die Erde in ihrer jährlichen Bahn mit der nicht
unbedeutenden Geschwindigkeit von rund 30 km
in der Sekunde weiter bewegt. Für die nach-
stehenden Erörterungen kann hinreichend genau
diese Bewegung als im Kreise um die Sonne vor
sich gehend genommen werden, in einer Ebene,
welche durch die Ekliptik am Himmel bestimmt
ist. Darnach muß die Bewegungsrichtung der
Erde immer rechtwinklig gegen die Richtung zur
Sonne gedacht werden, also am Himmel immer
durch jenen Punkt bezeichnet sein, der im Sinne
der astronomischen Länge um 90" gegen die
Sonnenlänge zurückliegt. Wir nennen diesen
jeweiligen Richtpunkt für die Erdbewegung,
ihren Zielpunkt (auch Apex) den diametral
gegenüber liegenden, welcher der Sonne in Länge
um 90^^ vorausgeht, Fluchtpunkt (Antiapex).
Ist also die Sonnenlänge z. B. 100", so ist die
Länge des Zielpunktes 10", jene des Fluchtpunktes
190". Mit der Sonne durchwandern die beiden
Punkte daher im Verlaufe des Jahres die ganze
Ekliptik.
Die gleichzeitigen Bewegungen der Erde und
der Meteore erzeugen eine Resultierende, deren
Richtung, gegen den Zielpunkt hin abgelenkt, die
sogenannte scheinbare Bewegung der Meteore
darstellt. Demgemäß liegen die scheinbaren Strah-
lungspunkte dem Apex näher als die wahren, wo-
durch eine scheinbare Verdichtung der Radianten
entsteht, die in zonaler Anordnung vom Zielpunkt
gegen den Fluchtpunkt hin abnimmt. Die Hemi-
sphäre des Zielpunktes, welche infolge dieser Ver-
dichtung mehr Radianten aufweist, wird deshalb
der Erde auch mehr Meteoren liefern als jene des
Fluchtpunktes.
Haben die Meteore in bezug auf die Sonne
ungefähr gleiche Geschwindigkeit, so gilt dies
nicht hinsichtlich ihres Zusammentreffens mit der
sich ebenfalls rasch weiter bewegenden Erde. Am
schnellsten, nämlich mit der Summe beider Ge-
schwindigkeiten (42 -j- 30 km), werden die vom
Zielpunkt her der Erde entgegenkommenden Körper
in die Atmosphäre eintreten, am langsamsten, weil
mit dem Unterschiede (42 — 30 km, wozu noch
nahe 4'/» krn als Wirkung der Erdschwere kommen),
die aus der Richtung des Fluchtpunktes sie ein-
holenden. Das Verhältnis der Extreme ist un-
gefähr 9:2. Der Einfluß auf die stündliche An-
zahl wird klar, wenn man sich den Meteorstrom
ruhend denkt und dessen Geschwindigkeit im um-
gekehrten Sinne auf die Erde überträgt, welche,
jenen durchdringend , einen Zylinder aushöhlt.
Offenbar ist die Anzahl der von ihr dabei während
I Sekunde aufgefangenen Meteore der Länge des
gleichzeitig ausgehöhlten Zylinders proportional,
also der relativen Geschwindigkeit. Hierin liegt
ein zweiter Grund, weshalb stündlich wesentlich
mehr Meteore von der Seite des Zielpunktes die
Erde treffen, als von der entgegengesetzten Seite.
Endlich ist noch der für den Gang der Er-
scheinung an jedem Orte maßgebende Umstand
hervorzuheben, daß im übrigen die Anzahl der
Meteore, welche, aus einem Radianten in die
Atmosphäre tretend, an irgend einem Orte sicht-
bar werden, mit der Höhe des Radianten über
dem Horizonte sehr wesentlich wächst.
Es ergibt sich demnach , daß die innerhalb
eines Zeitbruchteiles durchschnittlich wahrnehm-
bare Meteormenge, abgesehen von verschiedenen
Nebenumständen, zunimmt: i. mit der Anzahl und
Höhe der gleichzeitig über dem Horizonte be-
findlichen Strahlungspunkte; 2. mit der relativen
Geschwindigkeit ihrer Meteore.
Weil nun in der Umgebung des Zielpunktes
die meisten Radianten gruppiert und überdies in
deren Strömen die größten relativen Geschwindig-
keiten vertreten sind, so wird die im Verlaufe der
täglichen Bewegung des Himmels einem Beob-
achter stündlich wahrnehmbare Anzahl der Stern-
schnuppen mit dem Aufsteigen des Zielpunktes
(Apex) wachsen und ihren größten Wert, absolut
genommen, erreichen, wenn er ins Zenit gelangt,
falls dies nach der geographischen Lage des Ortes
möglich ist, und wenn nicht andere Umstände
(z. B. das Anbrechen des Tages, Mondlicht u. a.)
entgegenwirken. Es muß daher eine gesetz-
m ä ß i g e Veränderlichkeit der an jedem Orte
stündlich sichtbar werdenden Meteormenge ein-
treten, die mit der scheinbaren täglichen und jähr-
lichen Bewegung des Apex, also auch mit der
geographischen Breite in ähnlicher Weise zusammen-
hängt, wie die Einstrahlung von Licht und Wärme
durch die Sonne, wobei jedoch die analogen
Epochen nicht zusammenfallen.
Sehr treffend bezeichnet daher Prof Schiaparelli
N. F. III. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
275
den Zielpunkt gleichsam als den Ort einer „meteo-
rischen Sonne", nur darf man diese Analogie nicht
zu weitgehend auffassen. Der Versuch, die Varia-
tionen des Meteorphänomens in allzugroßer Ver-
einfachung derart von der Lage des Zielpunktes
am Himmel abzuleiten, als ob in demselben alle
Meteore konzentriert wären, wie in der Sonne
Licht und Wärme, hat zu manchen Irrtümern ge-
führt. Die Strahlungspunkte sind ja über den
ganzen Himmel, wenn auch in einer vom Ziel-
punkt gegen den Fluchtpunkt mehr oder minder
rasch abnehmenden Dichtigkeit verteilt. Wenn
also z. B. der Zielpunkt im Nadir steht, so ist
dies keineswegs mit derselben Stellung der Sonne
zu vergleichen. Allerdings befindet sich dann im
Zenit der Fluchtpunkt und über dem Horizonte
die Hemisphäre, welche weniger Strahlungspunkte
und geringere Meteorgeschwindigkeiten darbietet.
Diese, für die Anzahl der stündlich wahrnehm-
baren Meteore ungünstigste Konstellation , ist
jedoch im Verhältnis zur günstigsten, in welcher
der Zielpunkt im Zenit steht, nicht im entfern-
testen einer solaren Mitternacht, mit der Sonne
im Nadir vergleichbar. Gerade diese, an Stern-
schnup[3en arme Zeit ist vielmehr durch das Vor-
kommen einzelner großer, zuweilen mit bedeuten-
den Detonationen verbundenen Meteore ausge-
zeichnet.
Nach der oben angegebenen Stellung des Ziel-
punktes zur Sonne muß er zur Zeit der Nacht-
gleichen und Sonnenwenden der letzteren im
Stundenwinkel um 6 Stunden und auch sonst
wenigstens nahezu um diesen Betrag voraus sein.
Er ist daher überall auf der ganzen Erde (die
Pole selbstverständlich ausgenommen) ungefähr um
18 Uhr oder 6 Uhr morgens wahrer Ortszeit in der
oberen Kulmination, also in relativ günstigster
Lage, soweit die Tageszeit in Betracht kommt.
Wie nahe er dabei an das Zenit gelangt, und
welchen Bogen er über dem Horizont beschreibt,
hängt von seiner Deklination und der geographi-
schen Breite des Beobachtungsortes ab. Das gleiche
gilt hinsichtlich des diametral gegenüber liegenden
Fluchtpunktes für 6 Uhr abends. Wenn diese
Beziehungen allein maßgebend wären, so müßte
überall auf der Erde und zu allen Zeiten des Jahres
die Meteormenge sehr nahe um 6 Uhr morgens
ihr tägl i c h es M ax i m u m erreichen. Man darf
jedoch nicht vergessen, daß während des größeren
Teiles des Jahres in der angegebenen Abend- und
Morgenstunde, des Tageslichtes wegen, Meteore ge-
wöhnlicher Größe nicht beobachtet werden können,
ja daß in unseren Breiten im Hochsommer schon
um 15 Uhr oder 3 Uhr morgens solche Beobachtungen
unmöglich sind. Zur völligen Erprobung des aus
den gegebenen Voraussetzungen fließenden Er-
gebnisses sind also eigentlich nur die langen
Winternächte geeignet. Leider besitzen wir in
bezug auf die sogenannte tägliche Variation der
Meteore nur einigermaßen branchbare Jahresdurch-
schnitte, keine monatlichen Reihen. Wenn es nun
auch nach diesen, auf das ganze Jahr sich be-
ziehenden Zahlen den Anschein hat, als ob die
größte Meteormenge schon ungefähr auf die
zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens in der
Mitte liegende Stunde entfalle, so bleibt es noch
immer etwas zweifelhaft, ob hierin nicht doch im
wesentlichen der Einfluß des Sonnenlichtes sich
geltend macht, oder ob dieser bemerkenswerten
Verschiebung des Maximums andere Ursachen zu-
grunde liegen.
In dieser Hinsicht würden entscheidende Nach-
weise so wichtig sein, daß es ein sehr verdienst-
volles Opfer wäre, Beobachtungen über die stünd-
liche Meteormenge im Winter von Mitternacht bis
zum Morgen anzustellen, welche zahlreich genug
wären, um das Gesetz für jeden einzelnen
Monat ableiten zu können.
Es ist vielleicht noch am Platze daran zu er-
innern, daß nach dem früher Gesagten ungefähr
um 6 Uhr morgens die meisten schnell ziehen-
den Meteore, dagegen um 6 Uhr abends jene
mit durchschnittlich geringster Geschwindigkeit
in die Atmosphäre eindringen.
Wenn es richtig ist — und diese Annahme
liegt, wie ich schon mehrfach gezeigt habe, ziem-
lich nahe ') — daß, unter sonst gleichen Verhält-
nissen, die schnellsten Meteore in der Atmosphäre
zumeist schon in großen Höhen gänzlich aufgelöst
werden, während langsamer ziehende leichter in
den tieferen atmosphärischen Regionen zu großen
detonierenden Erscheinungen und Meteoritenfällen
Veranlassung geben können, so würde sich der
Gegensatz erklären, daß in der zweiten Nachthälfte
die lautlos hinziehenden Sternschnuppen ihr Maxi-
mum erreichen, während zugleich die Zahl der
detonierenden großen Meteore und Meteoriten
um diese Zeit die kleinste ist, dagegen in den
Nachmittagsstunden und abends zu einem Maxi-
mum anwächst.
Indem der Apex die Ekliptik durchläuft, ist er
in der Zeit von der Sommer- bis zur Winter-
Sonnenwende nördlich, während der anderen Jahres-
hälfte südlich vom Äquator. Er wird dann einer-
seits auf der nördlichen, andererseits auf der süd-
lichen irdischen Halbkugel die größten Tagbogen
beschreiben und dem Zenit am nächsten kommen,
womit für jede Halbkugel die größeren nächtlichen
Meteormengen verbunden sind, während diekleinsten
auf jene Epochen treffen, welche auf den anderen
Hemisphären die Maxima darbieten. Hierdurch
entsteht die sogenannte jährliche Variation.
Hinsichtlich der täglichen Variation müssen sich
die Ergebnisse beider Halbkugeln gleichartig,
bezüglich der jährlichen jedoch gegensätz-
lich gestalten.
Die Erfahrungen, welche uns aus der nördlichen
Halbkugel vorliegen , sind ausreichend , um die
schon in den ersten Worten dieses Aufsatzes er-
') Eine ausführliche Darstellung dieser merkwürdigen Be-
ziehungen in gemeinverständlicher Fassung findet man unter
dem Titel „Über die Rolle der Atmosphäre im Meteorphä-
nomen" im 63. Jahrgange (für 1901) des von der Wiener
Sternwarte herausgegebenen „Astronomischen Kalender".
276
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 18
wähnte Tatsache sicherzustellen, daß die Anzahl
der Sternschnuppen in der zweiten Hälfte des
Jahres größer ist als in der ersten, völlig in
Übereinstimmung mit der Theorie. Dagegen sind
Einzelheiten , wie die Eintrittszeiten der Jahres-
extreme etc. teils nicht hinreichend aufgeklärt, teils
wahrscheinlich abweichend, woraus man, was sehr
nahe liegt, scliließen könnte, daß zeitweise die un-
gleiche Verteilung der Meteorströme sich wirk-
samer geltend macht, als jede andere Beziehung.
Die Beobachtungs-Materialien aus der südlichen
Halbkugel sind ganz unzulänglich. Die verdienst-
lichen Beobachtungen Neumayers aus Melbourne
sind für unsere Zwecke zu lückenhaft, und sie
stammen aus einer Zeit, in welcher die Theorie
zu wenig entwickelt war, um derartigen For-
schungen die nötige planmäßige Grundlage zu
liefern. Wenn die Ergebnisse dieser Beobachtungen
aus Australien hinsichtlich der jährlichen Variation
den früher hervorgehobenen Gegensatz zur nörd-
lichen Hemisphäre anscheinend nicht erkennen
lassen, was übrigens ohne genaue Analyse der
Einzelheiten nicht behauptet werden kann, so regt
sich in diesen Zweifeln umso dringender der
Wunsch, daß viel zahlreichere Beobachtungen aus
südlichen Breiten ausreichendes Material zur Ent-
scheidung in dieser Frage liefern möchten.
Leider sind auch die zahlreichen Beobachtungs-
resultate aus der nördlichen Erdhälfte noch immer
nicht derart, daß sie vollkommen geeignet wären,
die Ergebnisse der theoretischen Untersuchungen
mit Sicherheit zu bestätigen oder zu korrigieren.
Die meisten dieser Beobachtungen leiden an dem
Übelstande, daß sie sehr ungleichmäßig verteilt
sind und sich oft nur auf einzelne Termine be-
schränken, welche sich durch ausnahmsweise reich-
haltige Ströme auszeichnen. Gerade deshalb sind
sie aber zur Ableitung des regelmäßigen Verlaufes
unverwendbar. Zahlreiche von den älteren Er-
gebnissen, z. B. jene, zu welchen Heis Veran-
lassung gegeben hat, beschränken sich wieder so
vorwiegend auf die erste Nachthälfte, in welcher
die Erscheinung nur unvollkommen entwickelt ist,
daß ihre Berücksichtigung bei der Ableitung all-
gemeiner Gesetze notwendig Irrtümer herbeiführen
muß, wenn dabei nicht mit äußerster Vorsicht zu
Werke gegangen wird.
Selbst die wertvollsten und am meisten plan-
mäßig angelegten Arbeiten dieser Art, wie zum
Beispiel jene von Z e z i o 1 i in Bergamo und D e n -
ning in Bristol, Früchte einer bewundernswerten
Aufopferung, liefern Ergebnisse, welche durch die
ungleiche Verteilung der Beobachtungszeit teilweise
recht merklich beeinträchtigt werden. Man er-
kennt dies sehr deutlich aus der Anzahl der ab-
geleiteten Radianten, und ich will, um die großen
Schwierigkeiten der Schlußfolgerung anzudeuten,
nur einige Beispiele vorführen.
Bei Zezioli kommen auf die Monate März
und Oktober nicht ganz je 39 Beobachtungsstunden,
dagegen auf den Juli 170. Infolgedessen entfallen,
nach der äußerst sorgfältigen Ableitung Schia-
parellis, auf den Juli 24 Prozent, also fast der
vierte Teil der für das ganze Jahr nachge-
wiesenen Strahlungspunkte, während der Oktober
nur 5 Prozent darbietet. Wer bloß aus dem von
Schiaparelli nach Zezioli's Beobachtungen mitge-
teilten Radianten- Verzeichnisse schließt (zur Aus-
mittlung der Beobachtungsstunden muß man bis
auf die Details bei Zezioli zurückgreifen) wird den
Oktober für einen der meteorärmsten Monate halten
müssen, während gerade das Gegenteil richtig ist.
Bei Denning findet man im Juli 14 Prozent
und im Oktober ebenfalls 14 Prozent aller jähr-
lichen Radianten, was doch ein ganz anderes Ver-
hältnis ist. Es beträgt aber auch die Anzahl seiner
Beobachtungsstunden nach den nur summarischen
Angaben im Juli 157 und im Oktober 175. In diesem
Verzeichnisse kommt dagegen wieder der F"ebruar
mit bloß 28 (unter jährlichen 1298) Beobachtungs-
stunden recht übel vveg, denn er liefert nur i Pro-
zent Radianten. Aus den Materialien von Zezioli
hat Schiaparelli hingegen für denselben Monat
9 Prozent abgeleitet, also fast doppelt so viel als
für Oktober. Die Anzahl der zugehörigen Be-
obachtungsstunden war 70.
Da beide Beobachter den Morgenstunden die
entsprechendeBerücksichtigung zuteil werdenließen,
so ergibt sich wenigstens dann eine gewisse Über-
einstimmung, wenn man in diesem Beispiele die
Anzahl der Radianten mit jener der Beobachtungs-
stunden, beide in Prozenten ausgedrückt, vergleicht.
Man findet nämlich :
Ermittelt
Zugehörige
Strahlungspuc
kte : Beobachtungsstunden
(beides in Prozenten der
ganzjährigen
Anzahl)
nach t Februar . .
Schiaparelli| Juli . .
9% •
• 8%
24 „ ■
• 20 „
(Zezioli) 1 Oktober . .
5 „ ■
• 4 .,
, f Februar
^"^^!^ Juli . .
Dennmg Oktober . .
14 „ •
14 n ■
■ 2 „
• 12 „
• 13 -
Ich wollte an diesem kleinen Beispiele ') nur
zeigen, wie sehr die Ergebnisse, auch die besten
welche wir besitzen, mit der so ungleichen Ver-
teilung der Beobachtungszeit zusammenhängen.
Im März beträgt die Zahl der Beobachtungsstunden
auf je 100 im ganzen Jahre bei Zezioli nur 4 und
bei Denning 3.
Die Herstellung ausreichender Materialien für
eine in jeder Hinsicht befriedigende Begründung
des Meteorphänomens und der hieraus zu ziehen-
den kosmologischen Folgerungen, erinnert an die
Aufgabe, die Blätter sämtlicher Bäume eines
größeren Waldes zu zählen. Sie spottet der Be-
mühungen jedes einzelnen und ist nur durch ein
Heer von Beobachtern, ja auch durch viele nur
im einheitlichen, planmäßigen Vorgehen zu lösen.
Die räumliche Verteilung der Beobachter auf ein
') Der Unterschied der geographischen Breite kommt dabei
noch gar nicht wesentlich in Betracht, und zwar umsowcniger,
als Zezioli's Beobachtungsmethode mehr die Ermittlung nörd-
licher Strahlungspunkte begünstigte.
N. F. III. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
l-jl
weites Ländergebiet kann nur Vorteile bringen,
deren Ausnützung möglichst anzustreben wäre.
Damit sei es begründet, wenn diese Betrach-
tungen sich nun dahin wenden, kurz zu erörtern,
wie der gesetzmäßige Teil der Erscheinung nach
unseren Voraussetzungen in verschiedenen Re-
gionen der Erde ungefähr sich darstellen müßte.
Für einen Beobachter am Äquator geht der
Zielpunkt in den Sonnenwenden (22. Juni und
22. Dezember) um 6 Uhr morgens w. Z. durch das
Zenit, woraus sich das größte jährliche Maxi-
mum vor Anbruch des Tages ergibt. An den-
selben Tagen geht aber um 6 Uhr abends der Mucht-
puiikt durch das Zenit, wodurch das kleinste
jährliche Minimum entsteht. Nur am Äquator
fallen die äußersten Extreme zweimal im Jahre in
dieselbe Nacht, und die tägliche Variation von
6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens muß also hier die
größtmöglichste sein.
Die Kulmination der beiden Hauptpunkte er-
folgt vor und nach den Sonnenwenden immer
weiter vom Zenit, wodurch sich das tägliche
Maximum vermindert, das Minimum erhöht, die
Extreme also abschwächen. Zur Zeit der allge-
meinen Äquinoktien (21. März und 23. September)
erreichen Ziel- und Fluchtpunkt die kleinsten Kul-
minationshöhen südlich und nördlich vom Zenit,
weshalb in diesen Nächten das kleinste jährliche
Morgenmaximum und zugleich die kleinste täg-
liche Amplitude eintritt. Da jedocli auch dann
der Zenitabstand nur 23'.," beträgt und die Ex-
treme durch die Dämmerung noch abgeschwächt
werden, so wird das Phänomen im März und
September, wo es also relativ am schwächsten
auftritt, nicht allzuviel von dem Charakter, den es
in den Sonnenwenden zeigt, verlieren. Hieraus
folgt also, daß im .Vquator die tägliche Varia-
tion i m m e r s e h r ansehnlich, die jährliche
dagegen sehr gering sein wird.
Beobachtungen am Äquator gestatten die völlige
Vergleichung der beiden Hemisphären des Himmels,
wenn man nämlich die Meteore nicht bloß zählt,
sondern ihre Lichtbahnen auch verzeichnet , da-
mit deren Ausstrahlungspunkte bestimmt werden
können. Schon hier könnten durch längere Zeit
planmäßig durchgeführte Beobachtungen zeigen,
wie sich die jährlichen Perioden beider Halbkugeln
vergleichsweise stellen.
Der Umstand, daß hier in den Abendstunden
täglich der weitaus größte Teil des Himmels nur
Meteore von relativ geringer Geschwindigkeit liefert
— welche freilich weit weniger zahlreich als die
Sternschnuppen am Morgen sein werden — könnte
Veranlassung zu verhältnismäßig häufigerem Auf-
treten detonierender Meteore und Meteoritenfälle
geben.
In allen Breiten zwischen dem Äquator
und den Wendekreisen erreicht das IVIorgen-
maximum ebenfalls zweimal im Jahre den
größten Wert, aber nicht in den Sonnwend-
nächten, wie am Äquator, sondern je nach der
Breite in verschiedenen Jahresepochen. Der Ziel-
punkt geht nämlich dann durch das Zenit, wenn
seine nördliche (südliche) Deklination gerade so
groß ist als die nördliche (südliche) Breite des Be-
obachtungsortes. Diesen beiden Epochen größter
Morgenmenge steht nur ein Datum der kleinsten
Morgenmenge gegenüber, wenn sich der Apex im
Wendekreis der jenseitigen Halbkugel befindet,
was für die Nord- | ^T-ir (21. März
Süd- / H'^'f^^ ^'" l 23. September
eintritt. So ist z.B. für 15" nördlicher Breite der
jährliche Gang des Morgenmaximums folgender:
Am 3. — 4. August und 12. — 13. November treten
die größten Morgenmengen in derselben Intensität,
wie die Maxima am Äquator auf. Zwischen beiden
vermindert sich das Morgenmaximum nur v?enig,
weil sich bis zum 23. September der Zielpunkt
in der Kulmination bloß um SV»" (nördlich) vom
Zenit entfernt, um dann, im November, wieder
dahin zurückzukehren. Bei der niedrigsten Morgen-
menge am 21. März kulminiert der Zeitpunkt schon
38''.," .südlich vom Zenit, was wohl bereits recht
bemerklich werden mag. Zur Zeit der beiden
Solstitien kommen Ziel- und Fluchtpunkt im
Himmels- Äquator bis 15" an das Zenit, woraus
ein mittlerer Zustand resultiert.
Man sieht daher, daß in diesen Regionen die
jährliche V^ariation schon deutlicher (wenigstens
theoretisch) hervortritt, indem sich symmetrisch
um das Herbstäquinoktium zwei Maxima grup-
pieren, welchen ein ausgesprochenes (jährliches)
Minimum im Frühlingsäquinoktium gegenüber-
steht. Wegen der Morgendämmerung werden ver-
mutlich die beiden einzelnen absoluten Maxima
zu einer länger andauernden Periode verschmelzen.
Zurzeit, da der Zielpunkt mit 15" Deklination
das größte Maximum hervorruft, muß sich der
Fluchtpunkt in iS** südlicher Deklination be-
finden und bei der Kulmination um 6 Uhr abends
30'^' südlich vom Zenit entfernt sein. Die Stellung
des Himmels ist daher etwas günstiger als am
Äquator, weshalb die Amplitude der täglichen Varia-
tion schon kleiner ausfallen wird. Wenn die
Deklination des Fluchtpunktes 15" nördlich
wird (31. Januar bis i. Februar und 10. bis 1 1. Mai),
so kulminiert er im Zenit und erzeugt dieselbe
ungünstige Stellung wie im Zenit des Äquators.
Da jedoch an denselben Tagen der Zielpunkt (mit
15" südlicher Deklination) 30" südlich vom Zenit
kulminiert, so nähert sich das Morgenmaximum
dann schon stark dem geringsten Wert und es
wird die tägliche Amplitude noch kleiner sein.
Vom Äquator gegen die Wendekreise wächst
also die jährliche und vermindert sich die
tägliche Variation. Dies gilt für beide Halb-
kugeln, doch sind die Eintrittszeiten bei der jähr-
lichen Periode verschieden. Unter 15" südlicher
Breite z. B. sollen die beiden größten Morgen-
mengen auf 31. Januar bis i. Februar und 10. bis
II. Mai fallen, mit einer geringen zwischenliegen-
den Abminderung am 2 1. März. Dieser liegt die
kleinste Moigenmenge am 23. September gegen-
über. Die gegensätzlichen Beziehungen aul beiden
278
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. III. Nr. 18
Halbkugeln sind also theoretisch leicht zu erkennen.
Man darf jedoch nicht vergessen, daß die Dämme-
rung immer dahin wirken wird, die Ausprägung
des Ganges dieser Erscheinungen abzuschwächen,
weshalb er sich wohl nur aus sehr vielen Be-
obachtungen bis ins einzelne würde nachweisen
lassen.
Unter den beiden Wendekreisen gibt es
für die größte Intensität am Morgen nur mehr
ein Jahresmaximum am 23. September und ein
Jahresminimum am 21. März auf der nördlichen
und mit verwechselten Daten auf der südlichen
Halbkugel. In der Maximalepoche geht der' Ziel-
punkt noch durch das Zenit, während der Flucht-
punkt am Abend desselben Tages schon 47" vom
Zenit entfernt bleibt. Am 21. März tritt das Um-
gekehrte ein (auf der Nordhälfte). Aus beiden
Lagen ergibt sich wieder eine Vermehrung der
jährlichen und Verminderung der täglichen Ampli-
tude.
In den sogenannten gemäßigten Zonen,
zwischen Wende- und Polarkreis, bleiben nun durch-
weg die Jahresepochen der beiden Extreme die
gleichen wie an den betreffenden Wendekreisen,
allein der Zielpunkt kann nicht mehr im Zenit
kulminieren und bleibt auch in der günstigten
Lage desto weiter davon, je größer die geo-
graphischen Breiten sind. Dasselbe gilt aber auch
vom Fluchtpunkt, weshalb bei Vermehrung der
jährlichen Variation die tägliche noch weiter ab-
nimmt. Unter der Breite von 50" bleibt z. B. im
Herbstäquinoktium — also in günstigster Lage —
um 6 Uhr morgens der Zielpunkt, kulminierend,
schon 26','.," vom Zenit, im Frühlingsäquinoktium
um dieselbe Stunde gar 73 Vo'' (er ist also dann
nur mehr 16'/.," hoch). Die Stellung der am
dichtesten mit Radianten besetzten Partien des
Himmels ist um diese Zeit bereits sehr ungünstig,
der Tagbogen auch klein und hiernach müßte um
die März Naclitgleiche in den höheren nördlichen
Breiten die stündliche Meteormenge relati\- nur
mehr gering sein, wie dies auch wirklich der
Fall ist.
Betrachten wir nun zum Abschlüsse den Gang
der Erscheinung am Nordpol der Erde, so stellt
sich heraus, daß wieder im Herbstäquinoktium
der Apex, aber hier nur mit 23'/,-," Höhe den
höchsten Stand hat, den er wegen der geringen
Änderung der Deklination, parallel zum Horizont
am Himmel kreisend, tagelang nahezu behält. Allein,
um diese Zeit und noch lange darnach hindert
das Tageslicht jede Beobachtung. Angenommen,
daß diese nicht früher beginnen kann, als bis die
Sonne sich mindestens 15" unter dem Horizonte
befindet, so bleibt am Nordpol die Sichtbarkeit
der Sternschnuppen auf die Zeit vom 4. November
bis 8. Februar, vermutlich aber auf kaum 3 Monate
beschränkt, während am Äquator die Summe aller
Nachtstunden, nach Ausscheidung der Dämmer-
zeiien, etwas weniger als 5 Monate liefert. "''
Für einen Beobachter am Nordpol bewegt sich
der Zielpunkt am 4. November 17V2" hoch, am
22. Dezember im Horizont und am 8. Februar
I7\'ä" unter demselben. Beiläufige Vorstellung
der damit'verbundenen Veränderung der Meteor-
menge gibt eine Vergleichung mit den identischen
Lagen der Apex-Hemisphäre unter 50" geogra-
phischer Breite in einer Sonnwendnacht der Reihe
nach um 2 Uhr morgens, um Mitternacht und um
10 Uhr abends. Nach verschiedenen, freilich noch
wenig sicheren Erfahrungen, wären in den drei
letztbezeichneten Terminen die stündlichen Meteor-
mengen für einen Beobachter etwa 16, 10 und 8,
so daß ein Beobachter am Nordpol, wenn die so-
genannte polare Nacht beginnt, während 24 Stunden
etwas über 380 und zu Anfang Februar, d. h. un-
gefähr gegen Ende derselben, nur mehr die Hälfte,
also etwa 190 Meteore zählen könnte. Dies wären
beiläufig die unter dem Einflüsse der Dämmerung
noch wahrnehmbaren Extreme der jährlichen Varia-
tion, welche vermutlich auch in dieser verminderten
Quantität noch gröfSer als in jeder anderen Breite
ausfällt. Die tägliche Variation ist dagegen nicht
mehr zu erkennen.
Man darf nicht vergessen, daß diese Betrach-
tungen von bestimmten, gleichsam probeweisen
Voraussetzungen ausgehen, und daß es sich eben
darum handelt, Erfahrungen zu sammeln, welche
jene verbessern sollen. Wenn ich dazu hier
wieder neue Anregungen versuche, so denke ich
an Schiaparelli's ') bezeichnende Worte: „Das Phä-
nomen der Sternschnuppen ist von einem solchen
Reichtum und einer solchen Mannigfaltigkeit, daß
man seinen Mechanismus nicht klar darlegen kann,
wenn man sich nicht einer sehr strengen Kritik
befleißigt, welche dazu dient, soviel als möglich
die Gefahr willkürlicher Kombinationen auszu-
schließen."
Die hier erörterten, mit der geographischen
Breite zusammenhängenden Veränderungen des
Phänomens, gleichsam die örtliche Variation,
empirisch völlig aufzudecken, könnte nur durch
zahlreiche, insbesondere auf die zweite Nachthälfte
ausgedehnte Beobachtungen unter möglichst
verschiedenen Breiten gelingen, wobei wenig-
stens einigermaßen auch die südfiche Erdhälfte
oder mindestens die äquatorealen Regionen ver-
treten sein müßten. Und warum sollte dies, bei
der nun doch rascher vor sich gehenden Er-
schließung der südlichen Erdteile und dem steigen-
den -Seeverkehr nicht doch endlich möglich werden ?
Man kann sich indessen schwer verhehlen, daß
der Kreis der Mitarbeiter wahrscheinlich erweitert
würde, wenn nicht unbedingt die Opferung ganzer
oder halber Nächte verlangt würde. Einige Stunden
verständnisvoller Betrachtung hin und wieder dem
Nachthimmel zu widmen, würden sich wohl weit
mehr freundliche Leser bereit finden. Wie wäre
dies nun planmäßig einzurichten?
Um sehr bescheiden zu sein, möchte ich zu-
nächst auf folgende für alle Punkte der Erde gleich-
') Entwurf einer astronomischen Theorie der Stern-
schnuppen. Deutsche Ausg. 1871, S, 73-
N. F. III. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
mätiig geltende Tatsache aufmerksam machen. Zur
Zeit der Sonnenwenden befindet sich der Zielpunkt
der Erdbewegung, also die „meteorische Sonne"
in den Äquinoktialpunkten und steht gerade
um 12 Uhr wahrer Mitternacht eines jeden Me-
ridians im Horizont — er geht im Osten auf^)
In diesem örtlichen Moment hat also überall auf
der Erde der Apex mit der um ihn bis zum
Fluchtpunkt abnehmenden Verdichtung in bezug
auf den Horizont identische Stellung. Der Orts-
meridian scheidet zugleich die Hemisphären des
Zielpunktes und Fluchtpunktes, im Osten befindet
sich die meteorreiche, im Westen die ärmere. Der
Zustand ist bezüglich der Hauptvoraussetzungen
so gleichmäßig und so vergleichbar, daß er sich
besonders eignet, einen mittleren XormaKvert zu-
nächst für diese wichtige Stunde abzuleiten und
etwaige gesetzmäßige, jedenfalls aber die unregel-
mäßigen Abweichungen zu erkennen.
Abgesehen von der ungleichen Verteilung der
Meteore im Querschnitt und senkrecht darauf,
welche verursachen kann, daß während kurzer Zeit
ein Beobachter zufällig sehr reichlich bedacht, ein
anderer dagegen für seine Geduld kaum entschädigt
wird, gibt es noch so manche modifizierende
Umstände, wie z.B. die größere oder geringere Rein-
heit der Atmosphäre und die Art der Überwachung.
In ersterer Hinsicht und bezüglich des störenden
Mondlichts, wäre zu empfehlen, nur dann zu be-
obachten, wenn wenigstens noch Sterne 3. Größe
gut sichtbar sind. Der schwächste Stern im all-
bekannten Viereck des„Großen Bären" oder „Wagen"
könnte z. B. zur Probe dienen. Ein einzelner Be-
obachter würde am besten tun, seine Aufmerk-
samkeit ungefähr in halbe Himmelshöhe gegen
Osten und die benachbarten Regionen zu richten.
Mehrere Beobachter an demselben Orte könnten
durch Teilung der Arbeit auch den ganzen Himmel
überwachen, hätten jedoch gesonderte Aufschrei-
') Da die Solstitien nicht genau um Milternacht ein-
treten, so können sowohl im Juni wie im Dezember gut genug
die Milternachtszeiten zwischen den Mittagen des 21. und 23.
gewählt werden. Die Zeitgleichung ist dabei so gering, daß
man auch die mittlere Ortszeit nehmen kann.
bungen zu führen. Es ist hier ausdrücklich nur
von der Zählung der Meteore die Rede , doch
wäre eine wenigstens annäherndc^Zeitangabe für
jeden einzelnen Fall nicht unwichtig.
Die Einzeichnung der beobachteten Bahnen in
Sternkarten wäre zwar sehr schätzenswert, aber
es scheint mir besser sie nicht zu verlangen, denn
es würde dadurch vermutlich eine Anzahl williger
Mitarbeiter ausgeschlossen. An den Observatorien
könnte man sich damit allerdings beschäftigen und
zwar regelmäßig stets mehrere Nächte vor und nach
den Solstitien, um hinreichendes Material für die
Ableitung der Radianten zu erhalten.
Selbstverständlich wäre es erfolglos, die Be-
obachtungen ausschließlich auf den Moment des
.Aulganges des Apex zu beschränken. Man kann,
ohne die \'crgleichbarkeit der Resultate zu beein-
trächtigen, mindestens eine Stunde vor und nach
diesem Momente einbeziehen, also von 1 1 Uhr bis
I Uhr beobachten.
Die Lagen in den beiden Solstitien unter-
scheiden sich voneinander so, daß in der Mitter-
nacht der Sommer-Sonnwende, der westliche
Teil des Sternhimmels zwischen i8o" und 360"
Rektaszension, dagegen im Dezember der östliche
in Betracht kommt. Gegenüber den bisherigen
so sehr widersprechenden Angaben, würde man,
bei hinreichend zahlreichen Beobachtern, wenigstens
für diese beiden Epochen mehr Sicherheit dar-
über erhalten, ob die eine oder die andere Hälfte
einen überwiegenden I\Ieteorreichtum liefert, der
auf eine andere Beziehung, als die in beiden Fällen
ganz identische Stellung des Zielpunktes zurück-
geführt werden müßte.
Wer systematischer Arbeit dieser xArt häufiger
einige Nachtstunden widmen wollte, könnte nach
Gefallen noch weiter gehen. Gewicht würde ich
jedoch zunächst darauf legen, daß die Beobachtungen
auch in jeder anderen Nacht symmetrisch
um die Zeit des Zielpunkt- Aufganges gruppiert
würden. Dieser hängt in verschiedenen anderen
Jahresepochen auch noch merklich von der geo-
graphischen Breite ab. Ich glaube jedoch, daß die
nachstehende kleine Tafel, welche die mitt-
Mittlere Ortszeiten für den Aufgang des Ape.v der Erdbewegung um die Mitte der einzelnen Monate.
Geogr.
Breite
Jänner Febr. März .-\pril
Mai
Juli Aug. i Septb. Oktb.
Nov. I Dezb.
Nord 70"
60'
SO'
40"
30"
20"
10"
o"
10'
20"
30"
40"
50"
13" 45"
Süd
3
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17
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54
47
40
32
22
9
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14 19
29
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53
39
24
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12
12
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1 1
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II
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13 55
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1 1
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I
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1 1
15
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N. F. III. Nr. i8
lere Ortszeit für den Aufgang des Apex von
lo" zu lo" geographischer Breite für den mittleren
Tag eines jeden Monats gibt, hinreichen wird, die
einem anderen Bedürfnisse entsprechenden Werte
durch Einschaltung zu finden, da es ja dabei auf
einige Minuten nicht ankommt. Die wohl seltenen
Fälle des Gebrauches zwischen 60" und 70" geo-
graphischer Breite und noch weiter, würden freilich
besondere Bestimmung erfordern. Der leichtern
Übersicht wegen, sind die Stunden nach Mitter-
nacht über 12 Uhr weiter gezählt, so daß 13 Uhr,
14 Ulir etc. mit i Uhr, 2 Uhr etc. morgens gleich-
bedeutend sind.
Es würde sich, wie gesagt, auch hier empfehlen,
womöglich die Zählung der Meteore so einzu-
richten, daß die angegebene Zeit jedesmal unge-
fähr in die Mitte des ganzen Beobachtungsabschnittes
käme.
Der Grundgedanke dieser Vorschläge hat einige
Ahnliclikeit mit der Bestimmung von Terminen
für die meteorologischen Beobachtungen (Ablesung
der Thermometer, Barometer etc.). Kann man
nicht zusammenhängende stündliche Angaben
liefern, was ohne registrierende Instrumente kaum
möglich ist, so erschweren Aufschreibungen zu
ganz unregelmäßigen Terminen sehr die Vergleich-
barkeit, gerade wie in unserem Falle. Es ist ja
richtig, daß man auch das bereits vorliegende
Material in dem Sinne prüfen könnte, daß zu-
nächst die Beobachtungsergebnisse gleicher Apex-
stellung in Vergleichung kämen. Ich habe dies
auch ver.-.ucht, allein die Ausbeute ist nicht sehr
groß. Die Gründe dafür habe ich schon früher
erwähnt, und es kommt auch noch dazu, daß ein
großer Teil der einzelnen Beobachtungen, welche
zu statistischen Angaben führten, gar nicht ver-
öffentlicht vorliegt.
Um in Fachkreisen nicht mißverstanden zu
werden, möchte ich schließlich noch erwähnen,
daß mit dieser, in einer so weit verbreiteten Zeit-
schrift enthaltenen Anregung nur der Anfang und
erste Versuch zu einer mehr planmäßigen Aus-
gestaltung des Beobachtungswesens gemacht werden
sollte. Würden dadurch weitere Kreise (also viele
Beobachter) zur Mitwirkung auch nur in den be-
scheidensten Grenzen ermuntert, so wäre zugleich
die Hoffnung erweckt, daß mit zunehmendem
Interesse allmähliche Erweiterungen des Planes
durchführbar wären.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden,
daß gut angelegte Meteorzählungen in den äquato-
realen und polaren Regionen, dann insbesondere
in allen Teilen der südlichen Erdhälfte, namentlich
für die Stunden nach Mitternacht, ganz besonders
wichtig und entscheidend sein würden. Leider
bekommt man in den Ergebnissen der nicht mehr
so seltenen Expeditionen in derartige Gebiete
kaum solche Beobachtungen zu sehen, vielleicht
nur deshalb, weil ihr Wert zumeist unterschätzt
wird. Erfreulich wäre es daher, wenn diese Zeilen
dazu beitragen könnten, hierüber andere Anschau-
ungen zu verbreiten.
Kleinere Mitteilungen.
Die Sterblichkeit der europäischen und
der Neger-Rasse. — Eine der interessantesten
Erscheinungen im Völkerleben ist die verschie-
dene Widerstandskraft der einzelnen Rassen gegen
auftretende Krankheiten. Zeigen sich diesbezüg-
lich schon bei den europäischen Nationen auf-
fallende Verschiedenheiten, so treten diese um so
deutlicher hervor, wenn wir die Sterblichkeits-
verhältnisse der europäischen (kaukasischen) Rasse
mit jenen anderer Rassen in Vergleich bringen.
Die fragliche Erscheinung läßt sich nur durch
Massenbeobachtungen nachweisen, welche bisher
jedoch sehr wenig angestellt werden konnten.
Soweit die Negerrasse in Betracht kommt, liefert
die Statistik der Vereinigten Staaten von Amerika
wertvolles Material. Obwohl gerade in jenem
Gebiet, für welches zuverlässige Daten zur Ver-
fügung stehen, der weitaus größte Prozentsatz der
Bewohner europäischer Abstammung ist, so er-
streckt sich die Statistik dennoch auf eine ge-
nügende Anzahl von Personen der Negerrasse, um
aus den Ergebnissen derselben Schlüsse ziehen
zu können. Insgesamt stehen Angaben für ein
Gebiet mit 28807269 Bewohnern zur \^erfügung.
(Die Staaten Connecticut, Maine, Massachusetts,
Michigan, New Hampshire, New Yersey, New York,
Rhode Island, Vermont, Distrikt Columbia; ferner
über 700 Städte in anderen Staaten.) Von den
Bewohnern dieses Gebietes waren 27555800 An-
gehörige der europäischen Rasse, i 180546 Neger,
14010 Indianer, der Rest Chinesen und Japaner.
Da die Zahl der den drei letztgenannten Völkern
angehörenden Personen eine relativ sehr geringe
ist, und weiter die asiatische Bevölkerung der
Vereinigten Staaten in ihrer Mehrheit aus er-
wachsenen Männern besteht, sollen dieselben hier
weiter nicht beachtet werden.
Es ergibt sich, daß im Jahre 1900 die Sterb-
lichkeitsrate per 1000 Einwohner bei Angehörigen
der europäischen Rasse 17,3 betrug, hingegen bei
den Negern 30,2, somit fast doppelt so hoch war.
Werden die Ergebnisse der Statistik für die länd-
lichen Teile der genannten zehn Staaten gesondert
betrachtet, so ergibt sich allerdings eine Ab-
schwächung des Gegensatzes; es stellt sich hier
die Sterblichkeitsrate der europäischen Rasse auf
15,3, die der Neger auf 19,1. In den außerhalb der
angeführten nordöstlichen Staaten der Union ge-
legenen Städten Steigthingegen die Sterblichkeits-
rate der Neger wieder bedeutend, nämlich auf
31,8, während sie dort bei der europäischen Rasse
nur 17,5 beträgt. Im Lauf der letzten zehn Jahre
ist die Sterblichkeitsrate der europäischen Rasse
in dem gesamten Registrationsgebiet der Vereinigten
N. F. III. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
281
Staaten von 19,1 auf 17,3 zurückgegangen, da-
gegen jene der „farbigen Rassen" bloß von 29,9
auf 29,6; eine weitere Unterscheidung der
letzteren wurde im Jahre 1890 nicht vor-
genommen , doch waren fast alle jene Per-
sonen, welche als „Farbige" bezeichnet wur-
den, Neger. In den ländlichen Gebietsteilen zeigt
sich von 1890 bis 1900 sogar eine Erhöhung der
Sterblichkeitsrate der ,, Farbigen" von 18,1 auf
19. Es ist zweifellos, daß die Sterbliclikeit der
Neger von den relativ ungünstigen klimatischen
Verhältnissen in den Südstaaten, wo der größte
Teil derselben lebt, beeinflußt wird. Dies geht
schon daraus hervor, daß die Sterblichkeit der
Neger an Malaria verhältnismäßig zehnmal, jene
an Typhus doppelt so groß ist als bei der euro-
päischen Rasse. Aber auch gegen andere Krank-
heiten ist die Negerbevölkerung weniger wider-
standsfähig. Von je 100 000 Personen dieser
Rasse starben an Tuberkulose 485, von den Euro-
päern 174; an Lungenentzündung von den Negern
355, von den Europäern 185; die Sterbefälle in-
folge von Krankheiten der Geschlechts- und Harn-
organe sind bei den Negern gleichfalls weit häufiger;
das Verhältnis stellt sich auf 100 : 157. — Die
größere Sterblichkeit der Neger gegenüber der
Bevölkerung europäischer Abstammung tritt in
allen Gebietsteilen zutage , auch dort , wo die
Lebensbedingungen vollständig gleich sind; dies
läßt die Annahme berechtigt erscheinen, daß
diese größere Sterblichkeit nicht allein in äußeren
Einflüssen, sondern in der geringeren Vitalität der
Negerrasse mit ihre Begründung hat; zumal gerade
die Neger in der Regel weniger in jenen Berufen
tätig sind, welche besondere Gesundheitsgefahren
mit sich bringen. Fehlinger.
Neue Untersuchungen über den Bau der
Zelle. — Jedermann, der tiefer in die Grundfragen
tierischer und pflanzlicher Lebenserscheinungen ein-
dringt, wird mit Erstaunen bemerken, daß in allen
Fragen welche sich auf die Funktion der Lebens-
einheit beziehen, die größte Zahl von Hypothesen
besteht. Dies ist ein deutlicher Fingerzeig, mit
welcher Unsicherheit gerade auf diesem Gebiete
die Forschung zu kämpfen hat. Man könnte nun
meinen, daß dem wegen der Schwierigkeiten, die
sich einer experimentellen „Cellularphysiologie" ent-
gegenstellen, so sein müsse. Dies wäre jedoch
ein Irrtum, da uns das Studium aller elementaren
Lebenserscheinungen dadurch ungemein erleichtert
ist, daß es freilebende, leicht massenhaft zu züch-
tende und zu beobachtende einzelne Zellen, näm-
lich die Protozoen und einzelligen Algen gibt.
Deren physiologisches Studium ist bis in die jüngste
Zeit, in welcher sich zum Glück die Aufmerksam-
keit der Forscher auf sie wendet, bedeutend ver-
nachlässigt worden. Eine andere Ursache der ob-
geschilderten Erscheinung ist jedoch auch darin
zu finden, daß man unbegreiflicherweise noch viel
zu wenig Aufmerksamkeit auf den gröberen und
feineren Bau der Zelle verwendet hat. Seit jener
großen Periode morphologischer P"orschüng, welche
durch Schieiden und Mo hl so glücklich ein-
geleitet wurde, hat man sich nur darauf beschränkt,
den Wabenbau des Protoplasmas festzustellen. Alle
übrigen Ergebnisse der Zellen forsch ung, die Ent-
deckung der feineren, fädigen Kernstrukturen, der
Vorgänge bei der Samenfädenbildung, der Ei-
befruchtung, die Entdeckung der Nebenorgane des
Kerns, sind nur gewissermaßen Nebenresultate
einer auf andere Probleme gerichteten Forschung
gewesen, weshalb man es auch verabsäumt hat,
alle diese Zellorganisationen auf ihre eigentliche
Bedeutung für den Gesamtorganismus und nament-
lich auf ihre physiologische Rolle zu prüfen. Die
.'\rbeiten zahlreicher Forscher machen darauf auf-
merksam, daß die Zelle selbst ein vielfach ge-
gliederter, in verschiedene Organgruppen geson-
derter Organismus ist; trotzdem mangelt noch
immer eine systematische Untersuchung der sich
immer mehr hervordrängenden Frage, ob denn
die Zelle tatsächlich die funktionelle Einheit des
Lebens sei. Wenn unsere Erkenntnis in diesem
Punkte tiefer zu dringen vermag, wird die günstigste
Rückwirkung auf die Grundfragen der Physiologie
nicht ausbleiben.
Bei der geschilderten Sachlage muß es mit
großer Freude begrüßt werden, wenn nun wieder
Forschungen angestellt werden, deren Hauptzweck
es ist, den Bau der Zelle aufzuhellen. Eine sehr
bedeutsame Arbeit dieser Kategorie veröffentlicht
soeben Prof Dr. O. Rohd e (Breslau).') Er bringt
sehr überraschende Angaben über Entwicklung
und Funktion der sogenannten Sphären und Zentro-
somen, wodurch uns diese Gebilde in ganz neuem
Lichte gezeigt werden.
Unter Zentrosomen (Polkörperchen) versteht
man seit 1876 bekanntlich jene stark glänzenden,
kleinen Körnchen, die man in vielen teilungs-
fähigen Zellen in der Nähje des Zellkernes findet
und die bei der mitotischen Kernteilung eine große
Rolle spielen, indem sie gewissermaßen die Pole
der ganzen Erscheinungen darstellen, die Zentren
jener Kräfte, welche die beiden Hälften des Kernes
auscinanderziehen. E. v. Beneden fand zuerst
um die Zentrosomen jene dunkle plasmatische
Hülle, welche man jetzt als Archiplasma oder
Attraktionssphäre (kurz: Sphäre) bezeichnet
und schon er sprach die Vermutung aus, daß
Sphäre und Zentrosoma dauernde und wesentliche
Bestandteile aller vermehrungsfähigen Zellen sind.
Diese Anschauung fand alsbald Bestätigung, ja
man fand Sphären auch bei Zellen, die sich nicht
mitotisch teilen, neuestens sogar bei solchen, die
sich überhaupt nicht teilen, wie z. B. die Nerven-
zellen (Ganglien). Diese allgemeine Verbreitung
der Sphären wies darauf hin, daß dieselben ein
wichtiges Zellenorgan darstellen, andererseits aber
') E. Roh de, Untersuchungen über den Bau der Zelle.
II. Über eigenartige aus der Zelle wandernde ,, Sphären" und
„Zentrosomen", ihre Entstehung und ihren Zerfall. (Zeitschrift
f. wiss. Zoologie. 75. Ud., 2. Heft, 1903, p. 147—220. Mit
Tafel XVn— XlX.l
282
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. i8
wurde es durch diese Erfalirung sehr zweifelhaft,
daß ihre Funktion erst mit der Kernteilung ein-
setze. Neue Untersuchungen waren daher sehr
erwünscht.
Einiges Licht über die Bedeutung der Sphären
brachten im Jahre 1895 die Untersuchungen Len-
hossek's.') Er fand als erster die Sphären in
den Ganglienzellen des Frosches, beschreibt sie
als kugelige, wohl umschriebene Gebilde, die von
einer Art Membran umhüllt sind und im Innern
stets ein kernartiges Zeritralkorn tragen. Es wurde
dadurch deutlich darauf hingewiesen, daß die
Sphären gewissermaßen Zellen en miniature dar-
stellen, andererseits aber glaubte er einen innigen
Zusammenhang zwischen Zelle und Sphäre darin
zu finden, daß die Sphäre stets einen ganz be-
stimmten Platz, nämlich den Mittelpunkt der Zelle
einnahm. Dieser innige Zusammenhang bestätigte
sich durch zahlreiche Befunde über die Bildung
der Samenfäden im Hoden von Wirbeltieren. Man
fand übereinstimmend, daß die Sphäre in den
Mutterzellen, aus welchen sich die Samenfaden
entwickeln, einen wesentlichen Teil zu deren Bil-
sph
Fig. I. Spinalganglienzelle des Frosches mit Zellkern (k) und
Sphäre (sph), in welcher das Zentrosom liegt.
(Nach Lenhossek). Stark vergr.
dung beiträgt, indem sie und das Zentrosom den
vordersten Teil des Samenfadenkopfesbildet, also bei
der Spermatogenese zum mindesten dieselbe wich-
tige Rolle spielt wie der Zellkern. Ahnliches
wurde neuestens auch bei der Entwicklung der
Samenfäden eines Schwimmkäfers (Cybister)-) be-
obachtet, so daß wir allem Anscheine nach an-
nehmen müssen, Zentrosom und Sphäre seien zur
Bildung der Samenfäden unbedingt nötig.
Noch komplizierter gestaltete sich das Problem
durch eine Beobachtung, nach welcher der Sphäre
ein ganz eigenartiges, von der Zelle unabhängiges
Leben und eine Art von Entwicklung zugeschrieben
werden mußte. F' r. M e v e s ") beschrieb im
„Archiv für mikroskopische Anatomie" seltsame
') E. L enhossek, Zentrosom und Sphäre in den Spinal-
ganglienzellen des Frosches. (Archiv für mikroskopische Ana-
tomie. 1895.)
'') D. N. Voinov, La Spermatogenese d'ete chcz le
Cybister Roeselii. (Archives de Zoologie experimcntale IV. ser. 1.
1903, p. 173 — 260.) Mit 5 Tafeln.
') F. Meves, Über eine Metamorphose der Atlraktions-
sphäre in den Spcrmatogonien von Salamandra maculosa.
(.Archiv f. mikr. Anatomie. Bd. XLIV.)
Veränderungen, welche er, so oft der Herbst kain,
in den Hodenzellen des gefleckten Salamanders
beobachtete. Er sagt darüber :
Gegen Ende des Sommers, manchmal schon im
Juli, gehen die Sphären in Körnerhaufen über, die
sich später in der Zellsubstanz zerstreuen und in noch
kleinere Teilstücke, in ganz winzige Körnchen zer-
fallen. Im Frühjahr jedoch ziehen sich diese
Körnermassen, welche Winters über den Kern wie
eine Hohlkugel umgaben, wieder mehr auf eine
Stelle zusammen. Zuletzt bilden sie einen ein-
zigen Haufen, der sich immer mehr zu einem
dunklen homogenen Körper, einer neuen Attrak-
tionssphäre umbildet.
Diese äußerst merkwürdige Beobachtung blieb
lange Zeit ganz ohne Bestätigung und wurde in-
folgedessen von den meisten Forschern ziemlich
unberücksichtigt gelassen. Erst jetzt hat sie durch
die Resultate Prof. Rohde's volle Bestätigung
erfahren.
Rohde's Sphärenstudien beziehen sich so-
wohl auf Bau als auch Entwicklung und morpho-
logische Bedeutung dieser Gebilde. Er stellte vor
allem fest, daß die Sphären tatsächlich zellen-
ähnlichen Bau besitzen. Er faßt seine Über-
zeugungen diesbezüglich in die Worte zusammen :
Die Sphären der Froschganglienzellen sind „ganz
selbständige mit einem spezifischen Protoplasma
versehene Bildungen, die in ihrer Struktur den
Bau der Zelle wiederholen, insofern sie aus einer
dem Protoplasma der Zelle entsprechenden Grund-
substanz bestehen , welche in ihrem peripheren
Abschnitte meist radiär gestellte Körnchen (etwa
im Sinne der Mikrosomen der Zelle) und in ihrem
Zentrum ein oder mehrere Zentralkörner enthält,
welche an den Kern der Zelle erinnern." Diese
Grundsubstanz unterscheidet sich in ihrem Ver-
halten gegen Färbsubstanzen dermaßen von dem
Protoplasma der Zelle, daß die Sphäre als ein
Fremdkörper betrachtet werden muß. Diese Sphären
nehmen in den Ganglien durchaus nicht immer
eine zentrale Lage ein, wie es Lenhossek be-
obachtete, sondern sie finden sich sowohl im Zell-
körper, als auch in dem Zellkern zerstreut. Manch-
mal sind sie nur in der Einzahl, bald aber zu
inehreren, bisweilen sogar in sehr bedeutender
Menge in den Zellen vorhanden. Dies findet seine
Erklärung darin, daß die Sphären sich ganz un-
abiiängig von der Zellteilung teilen können (siehe
Abb. 3). In dem Zelleib und auch außerhalb
desselben zerfallen sie (er beobachtete dies so-
wohl im Sommer wie im Winter) in kleinere
Teilstücke, diese wieder in kleinste Körner. Anderer-
seits beobachtete er, daß diese Körnchen im Zell-
kern sich vergrößern, langsam eine neue Körnchen-
zone ausbilden und schließlich wieder zu normal
gebauten Sphären heranwachsen, die in den Zell-
leib übertreten oder die Zelle ganz verlassen und
außerhalb derselben ein selbständiges Leben führen.
Bezüglich der Zentrosomen beobachtete Rohde
eine auffallende Übereinstimmung derselben mit
dem Zentralkorn der Sphären. So wie dieses be-
N. F. m. Nr. ü
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
283
stehen sie aus zweierlei Substanzen, deren eine
sich ganz so verhält wie die chromatische Sub-
stanz des Zellkernes. Sphärenlose Zentrosomen
kommen überall in der Zelle, im Kern wie im
Zellkörper vor; sie können ebenso wie die Sphären
selbst aus den Zellen heraustreten.
Dies ist der wesentliche Inhalt der R o h d e -
sehen Arbeit. Sie faßt so ziemlich alles zusammen,
was wir jetzt über die Sphären wissen und ver-
einigt die Arbeiten Lenhossek's und Meves'
in erfreulichster Weise. .Aber sie stürzt uns in ein
Gewirr von neuen Fragen und macht die Sphäre
zu einem noch rätselhafteren Problem als sie bis-
her war. In einem besonderen Kapitel versucht
Roh de zwar eine Erklärung seiner Befunde, muß
sich aber doch damit bescheiden, die Frage offen
zu lassen.
Das eine ist jedoch sicher, daß die Sphären
und Zentrosomen mit der Zellteilung
nicht in notwendigem Zusammenhang
/
Fig. 2 — 6. — Fig. 2—4. Spinalganglicnzellcn des Frosches mit Sphären in allen Stadien der Teilung (Fig. 3), .\uswanderung
(Fig. 3) und Entwicklung (Fig. 4) nach R o h d e. — Fig. 5— 6. Zentralkapscln aus den Samenzellen des Grottenolmes (Proteus).
Die Sphäre ist bei Fig. 5 erhalten, bei Fig. 6 verloren gegangen. Nach Heidenhain.
^ «^
Fig. 7. Monas -Art aus Sumpfwasser. a Normales Individuum mit einem Zellparasitcn /. i Ebensolche Zelle mit mehreren
Parasiten, c Die Parasiten im Auswanderungsstadium. */ Parasitische Sphäre, stärker vergr. e Ausgewanderte Sphären , aus
welchen kleine Flagellaten (Bodo saltans r) schlüpfen. / Monaszelle mit einer in zahlreiche kleine Zellen zerfallenen parasiti-
schen Sphäre. ;'■ Monaszellc mit einer Cyste. Mäßig stark vergrößert. Nach der Natur gezeichnet.
284
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. l8
stehen, sondern daß ihre eigentliche Funktion
und Bedeutung wo anders zu suchen ist.
Sie besitzen zweifellos Ähnlichkeit mit den
sogenannten Richtungskörperchen der Eier. Die-
selben lösen sich bekanntlich als sehr kleine Teile
von der Eizelle als besondere Zelle ab und können
ebenfalls einige Zeit außerhalb der Mutterzelle
existieren. Die Richtungskörperchen sind aber
ebenso unverstandene Gebilde wie die Sphären
und wir hätten mit dieser Deutung nichts ge-
wonnen als ein Analogon. Dabei bleibt aber zu
bedenken, daß die Richtungskörper in sehr gesetz-
mäßiger Anzahl entstehen, daß ihr Plasma färbe-
risch genau mit dem der Eizelle übereinstimmt
und daß sie erst nach ihrer Auswanderung sich
auflösen. Ganz anders die Sphären. Sie sind
erstens nicht immer vorhanden, meist aber sehr
zahlreich, sie zerfallen und wachsen wieder inner-
halb der Zelle und sind chemisch als Fremd-
körper zu betrachten.
Gerade dieser letztere Umstand macht es viel
wahrscheinlicher, daß sie überhaupt Fremdkörper
sind, die mit der Zelle nicht in vitalem Zusammen-
hang stehen. Und diese Anschauung ist auch
R o h d e am sympathischesten. Er sagt, die Sphären,
resp. Zentrosomen, sind wahrscheinlich Zellpara-
siten, deren wir ja durch neuere Arbeiten bereits
eine große Anzahl kennen. Zugunsten dieser An-
sicht spricht außer der chemischen Verschieden-
heit auch noch der selbständige Entwicklungs-
zyklus, die so verschieden intensive Infektion der
Nervenzellen und ganz besonders die Beobachtung,
welche vor einigen Jahren der bekannte Histo-
loge Heidenhain ^) veröffentlichte, wonach sich
die Sphären in den Samenzellen des Proteushodens
einkapseln können. Die Sphäre liegt in diesen
Zellen in einer Kapsel, die durchlöchert aussieht,
in Wirklichkeit aber aus dicken, eng verflochtenen
Fasern zusammengesetzt ist. Meistenteils findet
man aber nur die leeren Kapseln (Fig. 6). Golgi
und Ballowitz haben diese Gebilde in Nervenzellen,
und in Zellen des Augenepithels fder Membrana
elastica posterior) ebenfalls gefunden ; man steht
dieser Erscheinung geradezu ratlos gegenüber und
ist zu ihrer Erklärung auf wunderliche Theorien
verfallen. Die Roh de 'sehe Theorie von der
parasitären Natur der Sphären würde sie aber mit
Leichtigkeit erklären, da solche Einkapselungen
von Zellparasiten schon beschrieben wurden. Ver-
fasser dieser Zeilen kann diesbezüglich auf einen
von ihm selbst beobachteten derartigen Organis-
mus hinweisen, dessen Entwicklung und Organi-
sation frappant an die Sphären erinnert.
Es ist dies eine Monasart (wahrscheinlich in
den Formenkreis der Monas guttula gehörig),
welche ich vor I2 Jahren massenhaft in einem
Sphagnumsumpf fand und längere Zeit beobachtete.
Die meisten der Zellen enthielten außer dem
') M. H e i d e n h a i n , Über die Zenlralkapseln und Pseudo-
chromosomen in den Samenzellen von Proteus, sowie über ihr
Verhältnis zu den Idiozomen, Chondromiten und Archoplasma-
scbleifen. (Anatomischer Anzeiger 1900.)
Zellkern , einigen Vakuolen und Nahrungsballen
auch noch ein oder mehrere sphärenartige Gebilde,
welche aus einem sehr stark glänzenden Zentral-
korn und einer durchsichtigen plasmatischen Masse
bestanden, an deren Peripherie feine Körnchen
eingelagert waren. Dieselben erinnerten in ihrer
äußeren Erscheinung stark an die in den Nerven-
zellen gefundenen Sphären. Diese Ähnlichkeit
wurde noch dadurch verstärkt, daß diese Pseudo-
sphären, ebenso aus den Monaszellen auswandern
wie die wirklichen Sphären aus den Ganglien (vgl.
Fig. c). Ebenso konnte ich ein Anschwellen der
fraglichen Gebilde und ihren Zerfall in zahlreiche
kleine Körnchen (Fig. f) beobachten. Der Unter-
schied macht sich erst in der Entwicklung der
ausgewanderten Kügelchen geltend, denn die von
mir beobachteten Pseudosphären platzten alsbald
und aus ihnen schlüpften kleine, zweigeißelige
Zellen, die das frühere Zentralkorn an ihrer
schwächeren Spitze trugen und rasch davonschwam-
men (Plg. e). Diese kleinen Zellen hatten alle
Charaktere der unter dem Namen Bodo saltans
S t. beschriebenen Flagellatenart , welche durch
diese Beobachtung als Parasit der Monasarten ent-
larvt wurde, und sich auch als unzweifelhafter
Parasit darstellte, da durch das Auswandern des
Sphärenstadiums die Wirtszelle zerstört wurde.
Unter diesen Monaszellen befanden sich jedoch
auch welche, die eine rundliche hyaline Kapsel
enthielten, über deren weiteres Schicksal ich nichts
eruieren konnte.
Ebensolche Übereinstimmungen mit deni von
den Sphären Bekannten zeigte sich in Bau und
Entwicklung gewisser parasitischer Pilze, nament-
lich bei dem in den Euglenen schmarotzenden
P o 1 y p h a g u s E u g 1 e n a e. So wie bei dem
Schmarotzer der Monas , zeigen sich auch bei
ihnen Ruhekapseln, Zerfall in kleine Sporen und
Auswandern derselben. Ein wesentlicher Unter-
schied liegt nur darin, daß, während die Mona-
dinen und Euglenen durch ihre Gäste zugrunde
gerichtet werden, wir von den Sphären nichts
wissen, was auf deren Parasitismus deuten würde.
Wir werden daher, falls sie als Fremdkörper zu
betrachten sind, in ihnen wohl mehr Symbion-
t e n denn Schmarotzer sehen müssen.
Damit hat es jedoch vorläufig noch gute Weile.
Ebenso viele Gründe wie für die symbiotische
Natur der Sphären lassen sich auch gegen die-
selbe anführen. Da wäre vor allem der unzweifel-
hafte, enge Zusammenhang mit den Vorgängen
der Kern- und Zellteilung, nicht minder die von
vielen Forschern beobachtete Tatsache , daß von
den Sphären zahlreiche feine Strahlen weit in das
Zellprotoplasma hineinreichen und sich dort schein-
bar verlieren. Ganz besonders beweiskräftig für
die innige Zusammengehörigkeit von Zelle und
.Sphäre sind schließlich die oben mitgeteilten \'or-
gänge bei der Samenfadenbildung.
Man könnte zwar dagegen einwenden , daß
auch hierfür Analoga in dem Zusammenleben von
Wirtszellen und deren Parasiten bekannt sind. Es
N. F. m. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
285
wäre dies Erikssons Mycoplasma, jene
eigentümliche Infektion des Protoplasmas der
Grasarten durch die Rostpilze, welche sich nach
dem Genannten durch Einlagerung mikroskopi.scher
Hyphenteilchen in das Protoplasma sämtlicher
Zellen der Wirtspflanze kundgibt. Nach Eriks-
sons neueren Untersuchungen nimmt diese Pilz-
substanz an den Zellteilungen Anteil und weiß
sich selbst in den Befruchtungsvorgang einzu-
drängen, wodurch es ermöglicht ist, daß schon
der Keim der rostkranken Pflanze neuerdings den
Parasiten in sich schließt.
Erikssons Untersuchungen wurden aber
stark angefochten und stehen noch mitten in dem
Kampfe der Meinungen, so daß sie in der Sphären-
frage durchaus keine zuverlässige Stütze bilden.
Es ist jedoch auch nicht ausgeschlossen , daß
beide Anschauungen zu Recht bestehen und daß
man vorläufig noch nicht imstande ist, zwei sich
zum Verwechseln ähnliche Gebilde von sehr ver-
schiedener Bedeutung, nämlich Symbionten und
Zellorgane, auseinanderzuhalten, sowie man seiner-
zeit die in mikroskopische Wassertiere (Infusorien,
Hydra, Schwämme) einwandernden grünen Algen
auch nicht von Chlorophyllkörnern zu unter-
scheiden vermochte. Prof. Rohde schließt seine
Studie mit der Erörterung dieser Möglichkeit,
welche entschieden viel Einnehmendes für sich
hat. Die Entscheidung wird wohl bald durch
fortgesetzte Untersuchungen gebracht werden.
Und daß es an solchen nicht mangeln wird, dafür
sorgt schon die große Bedeutung, welche nach
dieser so glücklich begonnenen Enträtselung dem
Problem der „Sphäre" zukommt. R. France.
Über Elektrizitätszerstreuung in Luft infolge
radioaktiver Emanationen sind im letzten Jahre an
mehreren Orten Beobachtungen angestellt worden,
die zu interessanten Ergebnissen geführt haben.
Die Leitfähigkeit der Luft hat sich nämlich in
Kellern und Höhlen vielfach als erheblich größer
herausgestellt wie in der freien Atmosphäre, doch
verhalten sich, wie es scheint, verschiedene Boden-
arten in dieser Beziehung sehr verschieden. Es
liegen Beobachtungen hierüber vor von Elster
und G eitel aus Wolfenbüttel, Claustal, Baumanns-
und Iberghöhle, Kalisalzbergwerk bei Vienenburg,
Zinnowitz, von Ebert und Evers aus München,
von Börnstein aus Berlin und Wilmersdorf, von
Gockel aus Freiburg (Schweiz), Hirns tedt aus
Freiburg i. B. , von Cuomo aus Capri und von
Rizzo aus der Caverna di Bossea in den Seealpen.
Während in Kellern in Wolfenbüttel und Frei-
burg i. B. und in den Höhlen des Harzes, der
Seealpen und der Insel Capri die Ionisierung der
Luft sich abnorm hoch erwies, war sie in Claustal,
Zinnowitz, Freiburg (Schweiz), Wilmersdorf und
Berlin nur unbedeutend gesteigert, im Kalisalz-
bergwerk sogar vermindert. Daß es sich um eine
radioaktive, dem Boden entstammende Emanation
handelt, geht daraus hervor, daß die Ionisierung
von Luft, die aus dem Boden gesaugt wurde, eine
Zeitlang zunahm und erst allmählich ihr Maximum
erreichte. Elster und Geitel schreiben auf Grund
ihrer Versuche dem Erdreich selber eine gewisse
Radioaktivität zu, die bei Behandlung mit Säuren
an den tonigen Bestandteilen haftet, was mit der
vonCooke an Ziegelsteinen beobachteten Becquerel-
strahlung gut stimmt. Auch der Erde entstam-
mende, verflüssigte Kohlensäure erwies sich nach
ihrer Vergasung trotz mehrtägigen, voraufgegange-
nen Transportes als aktiv. Durch die Aktivität
der Bodenluft erklärt sich auch der von Elster
und Geitel festgestellte Einfluß des Barometer-
standes auf die Leitungsfähigkeit der freien atmo-
sphärischen Luft. Eine Verminderung des Luft-
druckes muß ja den Austritt von Luft aus den
Kapillaren des Erdbodens und damit eine Steige-
rung der Aktivität zur Folge haben. Freilich wird
diese Steigerung nicht immer eintreten, da z. B.
reiche Niederschläge eine Verstopfung der Boden-
kapillaren bewirken können. Nach Börnstein's
Versuchen scheint die der Luft Akti\'ität ver-
leihende Emanation in sehr geringer Menge im
Bodenwasser enthalten zu sein, aus dem sie an die
Luft übergeht, wenn diese mit einer großen
Wassermenge in Berührung gebracht wird.
In neuester Zeit fanden Elster und Geitel in
dem sogenannten „Fango", einem aus einer Sprudel-
therme bei Battaglia in Oberitalien gewonnenen,
bei uns zur Herstellung von Umschlägen und
Bädern importierten feinen Schlamme, ein Material,
dessen Aktivität die der in Deutschland vorkom-
menden Tone um das Drei- bis Vierfache über-
trifft. Allerdings ist auch die im Fango anzu-
nehmende Radiummenge so gering, daß eine
Radiumdarstellung aus ihm unlohnend erscheint.
Die Joachimstaler Pechblende enthält 11 80 mal so
viel Radium. Die genannten Forscher fassen ihre
Ergebnisse in der neuesten Publikation (Phys.
Ztschr. V, S. 11) folgendermaßen zusammen:
„Die feste Erdrinde ist die Quelle einer radio-
aktiven Emanation, die in gewisser, nicht überall
gleicher Dichtigkeit allgemein in der Bodenluft
enthalten zu sein scheint. Von hier aus dringt
sie einerseits durch Diffusion in die Atmosphäre
besonders bei sinkendem Luftdruck ein und ist
daher über dem Lande in größerer Konzentration
als über dem Meere vorhanden , andererseits löst
sie sich in dem Wasser der Quellen und Brunnen
und kann diesem vermittels Durchlüftung wieder
entzogen werden. Der Ursprung dieser Emanation
ist in einem verschwindend kleinen Gehalte an
Radium in den verschiedenen Erdarten zu suchen,
seine Gegenwart tritt verhältnismäßig deutlich in
tonhaltigen Erden hervor. Gewisse Tatsachen,
wie das Vorhandensein starker Emanation in
Kohlensäureexhalationen und Thermalquellen und
die vergleichweise starke primäre Aktivität des
aus einer solchen stammenden Fangoschlammes
scheinen darauf hinzudeuten, daß der Gehalt an
Radium mit der Tiefe zunimmt oder vielleicht in
vulkanischen Produkten besonders hoch ist."
F. Kbr.
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. i8
„Über die Oxydierbarkeit des Platins' durch
elementaren Sauerstoff" hat I.othar Wohl er
in den „Berichten der Deutschen Chemischen Ge-
sellschaft", XXXYI. Jahrcr., pag. 3475 ff., eine wert-
volle Abhandlung veröffentlicht, deren Resultate
wir hier kurz zusammenfassen.
Das Platin, jenes in Wissenschaft und Technik
viel verwendete, unersetzbare Edelmetall, unter-
scheidet sich — so meinte man wenigstens bis-
her — von allen anderen Metallen durch seine
NichtOxydierbarkeit durch molekularen Sauerstoff.
Das mußte um so merkwürdiger erscheinen, als
sämtliche anderen Glieder der Platinreihe, das
Palladium, das Rhodium, das Ruthenium, das Os-
mium und das Iridium , \-erhältnismäßig leicht
oxNxliert werden, und auch die — berechnete —
Bildungswärme des Platinoxyduls PtO ziemlich
hoch, -|- 75 J, ist. Wöhler zeigt nun, daß die
bisherige Annahme falsch ist und daß sich das
Platin sowohl an der Luft wie in Sauerstoffatmo-
sphäre ox^'diert.
Bekanntlich oxydiert sich ein Metall um so
leichter, je feiner es verteilt ist, und daher unter-
suchte Wöhler zunächst das am feinsten verteilte
Platin, den durch besondere Verfahren hergestellten
Platinmohr. Daß der Mohr überhaupt Sauerstoff
enthielt, ergab sich aus der Tatsache, daß Jod-
stärke, dies empfindliche Reagens auf Oxydations-
mittel, durch Platinmohr gebläut wird, und zwar
ist ..diese oxydierende Wirkung . . . um so stärker,
je länger der Mohr der Luft ausgesetzt war, und
besonders stark, wenn er lange Zeit bei Wasser-
badtemperatur im Sauerstoff getrocknet war." —
„Im engen Zusammenhange damit steht die Menge
des vom Platinmoiir aufgenommenen Sauerstoffs."
Der Mohr wurde durch Erhitzen in Sauerstoff
immer schwerer und hatte schließlich nach sechs-
wöchentlichem Erhitzen bei einer allmählich bis
auf 280" (Diphcnylaminbad) gesteigerten Tempe-
ratur 2,3% Sauerstoff aufgenommen. Die so ent-
standene Verbindung unterschied sich von metal-
lischem Platin durch ihre Löslichkeit in Säuren,
besonders in Salzsäure; von ganz sauerstofffreiem
Platinmohr löste sich nämlich in konzentrierter
Salzsäure nach 24 stündigem Erhitzen auf 20j" im
geschlossenen Rohre nur tj^a^/o, während dem z. T.
oxydierten Mohr durch Salzsäure schon bei
schwachem Erwärmen 10 — 16"/,, metalhschen Platins
entzogen wurde.
Nachdem Wöhler gefunden hatte, daß sich bei
Erhitzen des Platinmohrs in Sauerstoff oder Luft
tatsächlich eine Sauerstoffverbindung bildete, legte
er sich die Frage vor, welche Sauerstoft'-Platin-
Verbindung vorlag. Außerordentlich diffizile und
mühsame LJntersuchungen ergaben , daß der in
Salzsäure lösliche Platinmohr 6,05, 7,43, 7,36, 7,1
und 7,8"/,, Sauerstoff enthielt, d. h. daß es sich
um Platinoxydul PtO mit einem theoretischen
Sauerstoffgehalt von 7,6"/,, handelte. Das Platin-
oxydul war als Chiorür PtCl., in Lösung gegangen
und konnte durch Kochen mit Soda als das tief-
schwarze Oxydulhj-drat gefällt werden.
Wie leicht begreiflich, geben das Oxydulhydrat
wie der (oxydierte) Mohr ihren Sauerstoff leicht
wieder ab; sie sind starke Oxydationsmittel: „So
lassen sich Oxalsäure, Harnstoff, Zucker und Stärke
durch Platinmohr (d. h. durch das in ihm ent-
haltene Oxydul) oxydieren, auch neutrales Natrium-
formiat und Kaliumoxalat, und selbst Essigsäure
wird beim Erwärmen damit zu Kohlensäure und
Wasser verbrannt." „Diese Versuche bestätigen
durch das gleiche Verhalten von Mohr und Oxydul-
hydrat noch weiter, daß Oxydulhydrat im Mohr
vorhanden ist, d. h. daß das fein verteilte Platin
des Mohrs durch Sauerstoff zu Oxjxlul sich oxy-
diert."
Da der Mohr, auch wenn er sauerstofffrei ist,
ebenso wie das Oxydul schwarz ist, so ist die
partielle Verbrennung des Mohrs für das Auge
nicht wahrnehmbar. Daher versuchte Wöhler, und
zwar mit Erfolg, den hellgrauen Platinschwamm,
ein ebenfalls fein, aber weniger fein als der Mohr
verteiltes Platin, und schließlich die Platinfolie
selbst zu oxydieren. Zu diesem Zwecke erhitzte
er Platinschwamm 34 Tage lang in Sauerstoff-
atmosphäre auf etwas über 400" (bei noch höherer
Temperatur zerfällt das Platinoxydul, wie er festge-
stellt hatte, wieder in seine Komponenten) : der hell-
graue Schwamm wurde tiefschwarz, ,, nahezu die
Hälfte (44,4"/^) war in Platinoxydul verwandelt."
Bei der viel dichteren Platinfolie geht die Oxy-
dation noch langsamer vor sich, aber nach 37 Tagen
hatte auch diese 1,9% Sauerstoff aufgenommen.
,, Damit ist ... die Oxydierbarkeit des letzten,
bis jetzt für unoxydierbar geltenden Metalles durch
molekularen Sauerstoff nachgewiesen."
Von besonderer Wichtigkeit ist die Wöhler-
sche Arbeit für das Verständnis der katalytischen
Wirkung des Platins. Bekanntlich versteht man
unter „Katalyse" die Beschleunigung einer zwar
an sich freiwillig, aber sehr langsam verlaufenden
chemischen Reaktion bei Anwesenheit einer kleinen
Menge einer gewissen anderen Substanz, des so-
genannten Katalysators. Nun ist einer der am
meisten gebrauchten Katalysatoren eben das fein
verteilte Platin, durch das besonders Oxydations-
prozesse beschleunigt werden (Doebereiners Zünd-
maschine, Oxydatior. des Schwefeldiox)-ds SO., zu
Schwefelsäureanhydrid SO.j usw.). Worauf aber
diese Beschleunigung beruhte, das war bisher recht
unsicher. Zwar nahmen viele Forscher die Bildung
von Sauerstoff-Platin-Verbindungen als Zwischen-
produkten an, aber dieser Ansicht fehlte bishef
die wichtigste Stütze, nämlich der Nachweis, daß
solche Sauerstoff-Platin-Verbindungen tatsächlich
aus feinverteiltem Platin und Luftsauerstoff ent-
stehen. Diesen Nachweis hat Wöhler geliefert und
dadurch eine der wichtigsten katalytischen Reak-
tionen dem Verständnis eröffnet. Mg.
Bücherbesprechungen.
W e 1 1 a 1 1 und Menschheit. Herausgegeben von
Hans Kraemer. II. Band. Berlin, Bong &; Co.
N. F. III. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
287
Ohne Jahreszahl. 518 Seiten mit zahlreichen Ab-
bildungen und Beilagen. — Preis geb. 15 Mk.
Auch der zweite Band des von uns bereits früher
angezeigten Werkes bietet einen Schatz hervorragend
gut ausgeführter und wissenschaftUch wertvoller Illu-
strationen und kulturgeschichtlich interessanter, sowie
auch künstlerisch wirkender Beilagen. Der Text, der
diesmal von Prof. Klaatsch (Entstehung und Ent-
wicklung des Menschengeschlechts!, Prof. Beushausen
(Entwicklung der Tierwelt) und Prof. Potonie (Ent-
wicklung der Pflanzenwelt) stammt, steht durchweg
auf der Hohe wissenschaftlichen Ernstes und gründ-
lichster Sachkenntnis. Es werden dem Leser hier
nicht blendende Hypothesen mit mehr oder weniger
schwanigvollen Phrasen mundgerecht gemacht, sondern
derselbe wird mitten in die wissenschaftlichen Probleme
der Gegenwart hineingeführt, er erfährt das Für und
Wider verschiedener Auffassungen in der im ganzen
allerdings als unumstößlich erwiesen dargetanen Ent-
wicklungslehre und wo die Verf. namentlich bei
anthropologischen und paläobotanischen Fragen die
Ergebnisse ihrer eigenen Forschungen und Mut-
nial3ungen aussprechen , geschieht es mit einer bei
aller Zuversicht in die eigene Meinung wohltuenden
Zurückhaltung und unter Vorlegung so reicher Belege,
daß der aufmerksame Leser sehr wohl in der Lage ist,
sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Eine kritische
Beleuchtung der Ansichten von Prof Klaatsch über die
Entwicklung des Menschengeschlechts hat Dr. Wilser im
II. Bande dieser Zeitschrift (S. 505 f.) gegeben. — Leider
können wir gleichwohl auch bei diesem zweiten Bande
die Bemerkung nicht unterdrücken, daß eine erhöhte
redaktionelle Sorgfalt die Benutzung des Werkes ganz
erheblich hätte erleichtern und fördern können. Schon
die Reihenfolge der Hauptabschnitte: „Mensch, Pflan-
zen, Tiere" ist durchaus wider den Entwicklungs-
gedanken und bedingt außerdem im dritten Abschnitt
Wiederholungen aus dem ersten, resp. im ersten die
Vorwegnahme von Tatsachen, die in den dritten ge-
hören. Zudem sind alle Verweisungen auf frühere
Stellen des Textes so allgemein gehalten , daß man
dieselben nicht so leicht auflinden kann , zumal ein
ausführliches Inhahsverzeichnis und Register, sowie
speziellere Seitenüberschriften vermißt werden. Ebenso
fehlt den Illustrationen durchgehende Numerierung
und direkte Bezugnahme auf dieselben im Text, so
daß es z. B. namentlich bei den Feuersteinwerkzeugen
außerordentlich schwer ist, die Belege für das im
Text Gesagte unter den weit zerstreuten Abbildungen
herauszufinden. Merkwürdig ist bei dem sonstigen
Reichtum an Abbildungen das Fehlen einer zur Er-
kennung der Rassenmerkmale ausreichenden Zahl von
ethnologischen Bildern. — Diese Ausstellungen sollen
indes nur die Punkte bezeichnen, an denen die Hebel
zur weiteren Vervollkommnung des prächtigen Werkes
ansetzen könnten. Wir zweifeln nicht, daß auch heute
schon die Anschaftung des im Vergleich mit dem
Gebotenen wohlfeilen Werkes jedermann befriedigen
wird. F. Kbr.
732 -\- 117 pages. Paris, Gauthier-Villars. —
Prix 1,50 fr.
2) Annuaire pour l'an 1904, publie par la socidte
Beige d'astronomie. Illustre de cartes, figures et
planches. Bruxelles, Veuve Ferd. Larcier. 192 p.
i) Mit dem vorliegenden Jahrgang des rühmlichst
bekannten Pariser Annuaire ist die Teilung der die
kalendarischen Angaben begleitenden tabellarischen
Zusammenstellungen zur Durchführung gelangt. Neben
einer Reihe von astronomischen Tabellen bleiben alle
geographischen und statistischen Angaben für den
nächsten Jahrgang aufgespart, wogegen die physikali-
schen und chemischen Tafeln im jetzigen Jahrgang
wesentlich erweitert worden sind. Unter den Hinzu-
fügungen seien hervorgehoben : Kalenderwesen ver-
schiedener Völker, Elemente aller kleinen Planeten,
Dichtigkeiten , Ausdehnungskoeffizienten , Kompressi-
bilität und Viskosität zahlreicher Flüssigkeiten, Wellen-
längen der verschiedensten Spektra , Löslichkeits-
tabellen , Tafeln über die Drehung der Polarisations-
ebenc, sowie über Legierungen und namentlich die
thermochemischen Daten nach Berthelot's neuester
Revision. — Die wissenschaftlichen Beigaben ent-
halten einen Bericht über den internationalen Geo-
dätenkongreß von 1903 in Kopenhagen von Bouquet
de la Grye , sowie eine recht klare und elementare
Erklärung der Giundtatsachen des Gezeitenphänoraens
von Hatt.
2) Das belgische Annuaire ist im Gegensatz zum
vorigen ausschließlich astronomisch - meteorologischen
Inhalts. Zahlreiche Abbildungen und Kärtchen ver-
anschaulichen die Stellungen und den Lauf der Ge-
stirne. Die wissenschaftliche Beilage von J. Vincent
behandelt diesmal die Messung der atmosphärischen
Niederschläge in recht erschöpfender Weise, allerdings
ohne Berücksichtigung der registrierenden Apparate.
F. Kbr.
Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Na-
turwissenschaft. Herausgeg. von E. Poske, A. Höfler
und F.. Grimsehl.
Heft i: Prof. E. Grimsehl, Die elektrische
Glühlampe im Dienste des physikali-
schen Unterrichts. Berlin, J.Springer. 1904.
60 Seiten mit 40 Abb. — Preis 2 Mk.
Die überall leicht und billig zu beschaffende Glüh-
lampe stellt ein ausgezeichnetes Hilfsmittel dar, um
die verschiedenartigsten physikalischen Tatsachen in
einfacher Weise zu demonstrieren , namentlich wenn
Anschluß an eine Starkstromleitung vorhanden ist.
Der Verf, der eine große Anzahl hierher gehöriger
Versuchsanordnungen selbst ersonnen hat, hat in der
vorliegenden Abhandlung alle derartigen , zumeist in
der Poske'schen Zeitschrift beschriebenen Anwen-
dungen systematisch zusammengestellt und so aus-
führlich behandelt , daß die Versuche ohne weiteres
danach mit Erfolg angestellt werden können. Jedem
Physik Unterrichtenden kann die Schrift demnach
aufs beste empfohlen werden. F. Kbr.
i) Annuaire pour l'an 1904, publie par le bureau Ernst Abbe, Gesammelte Abhandlungen,
des longitudes. Avec des notices scientifiques. I. Band. Abhandlungen über die Theorie des
288
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. i8
Mikroskops. Mit 2 Tafeln und 29 Figuren im
Text und einem Porträt des Verf. Jena, Gustav
Fischer, 1904, 486 Seiten. — Preis geb. 10 Mk.
So epochemachend und gegenwärtig von allen
Seiten anerkannt die theoretischen Leistungen Abbe's
auf dem Gebiete der Mikroskopie sind, existiert doch
bisher noch keine von ihm selbst verfaßte , ausführ-
liche Darstellung seiner Forschungen, und auch die
vorhandenen, kleineren Publikationen waren in ver-
schiedenen, zum Teil schwer zugänglichen , ausländi-
schen Zeitschriften zerstreut. Es ist daher ein sehr
dankenswertes Unternehmen , daß eine Anzahl von
Abbe's Schülern unter der Leitung von Dr. Czapski
sich der Mühe unterzogen hat, die Veröftentlichungen
ihres Meisters zu sammeln und , soweit erforderlich,
ins Deutsche zu übertragen. Der erste Band dieser
ohne Wissen des Verfassers unternomiuenen Samm-
lung, dem noch zwei bis drei weitere folgen sollen,
liegt nunmehr vollendet vor. Besonders wichtig als
erste Einführung in die durch Abbe gegebenen neuen
Grundlagen sind die unter Nr. III in diesem Band
enthaltenen „Beiträge zur Theorie des Mikroskops
und der mikroskopischen Wahrnehmung", die 1873
in Schulze's Archiv für mikroskopische Anatomie er-
schienen sind und ohne mathematische Formeln in
klarer Weise die Bedingungen für die Abbildung
feinster Strukturen auseinandersetzen. Von den 21
übrigen, durchweg leicht lesbaren Abhandlungen dieses
Bandes seien hervorgehoben diejenigen „über die
optischen Hilfsmittel der Mikroskopie" (1876), „über
das System der homogenen Immersion" (1879), „über
die Grenzen der geometrischen Optik" (1880), „über
die Bemessung der Apertur" (1881) und über „die
Beziehungen zwischen Apertur und Vergrößerung"
(1882). Auf die weiteren Bände darf man besonders
gespannt sein, da der dritte die bisher noch gar
nicht veröffentlichten Arbeiten enthalten soll und ein
letztes Bändchen die Ansprachen und Reden bringen
wird, in denen Abbe seinen Achtung gebietenden
sozialpolitischen Standpunkt entwickelt hat. F. Kbr.
Leserkreis irgend ein Interesse bieten könnte. Bei einem an-
deren Verhalten würde der Raum der Naturwiss. Wochenschr.
durch den Briefkasten übermäßig belastet werden. Red.
Literatur.
Pilger, R.: Taxaccae, m. 210 Einzelbildern in 24 Fig. {124S.)
Leipzig '03, W. Engelniann. — 6,20 Mk.
Redlich, Doz. Dr. Karl A.: Anleitung zur Lötrohranalyse. 2.,
umgearb. Aufl. (IV, 32 S. m. 8 Abbildgn.) 12". Leoben
'03, L. Nüssler. — I Mk.
Briefkasten.
Zur Nachricht (zugleich als Antwort auf mehrere An-
fragen): Anfragen, die den Verkauf von Objekten oder die
einen Anlcauf z. B. eines alten Mikroskopes u. dgl. betreft'en,
können im Briefkasten keine Erledigung finden. Für solche
Zwecke stehen die Inserate zur Verfügung, wegen derer man
sich an die Vcrlagsbuchliandlung in Jena wenden wolle. Der
Briefkasten soll auch von den sonstigen Fragen nur diejenigen
berücksichtigen , deren Beantwortung auch für den übrigen
Herrn K. K in Poggendorf. — Eine treffliche Mono-
graphie der Kompositen (bis zu sämtlichen Gattungen und
den wichtigsten und wichtigeren Arten hinab) finden Sie in
Teil IV Abteilung 5 der Natürlichen Pflanzenfamilien von
Engler und Prantl (Wilhelm Engelmann in Leipzig). In der
Arbeit wird auch die wichtigste Literatur angegeben.
Herrn W. W. in Halle a. S. — l) Vgl. Sie zur Frage
nach der .-\ufnahme von elementarem Stickstoff durch Bakterien
und Pflanzen überhaupt z. B. p. 284 ff. in den Vorlesungen
über Pflanzenphysiologie von L. Jost (Gustav Fischer in Jena
1904). 2) Wegen 2 und 3 finden Sie Auskunft in Dörfler's
botanischem Adreßbuch.
Herrn S. E. in Magdeburg. — Wir empfehlen Ihnen
Klaatsch „Die Entstehung und Entwicklung des Menschen-
geschlechts" in Bd. II von „Weltall und Menschheit" (Bong
\' Co. in Berlin).
Herrn V. in G. — Das beste Buch über die Natur-
geschichte der Sprache ist das Werk von Ma.x Müller „Vor-
lesungen über die Wissenschaft der Sprache", übersetzt von
C. Bötiger (Julius Klinkhardt in Leipzig). Gleich in der
I. Vorlesung begründet M. , daß ,,die Sprachwissenschaft zu
den Naturwissenschaften gehört". Daß die Neigung, die
grammatischen Regeln als so eine Art von Absolutem anzu-
sehen noch immer nicht auszurotten ist, scheint Ihnen bei der
Tatsache, daß die Gymnasien (die doch früher fast ganz
herrschten) den Sprachunterricht so gewaltig in den Vorder-
grund rücken, , .höchst wunderbar". Wir bitten aber zu be-
denken, daß auf den Schulen ja gar kein Wissenschaft-
liclicr Sprachunterricht erteilt wird, sondern daß alles Be-
mühen nur daraufgerichtet ist, die Schüler möglichst die alten
Sprachen (griechisch und lateinisch) verstehen zu lehren. Der
Unterricht hat also in Wirklichkeit (wenn auch gewünscht
wird, daß dabei ,,der Geist der alten Völker" erfaßt werde)
ein rein praktisches Ziel. Bei dieser Sachlage ist es nicht
auffallend, daß so viele „Gebildete" keine rechte Vorstellung
davon haben, daß die Sprache ein Entwicklungsprodukt ist
und daß infolgedessen so schiefe Urteile möglich sind, wenn
es sich um die Frage handelt, ob etwas sprachlich ,, richtig"
oder ,, falsch" sei. Es gibt natürlich keinen absoluten Maßstab
für das Richtige und Falsche in einer Sprache, sondern es
kann heute etwas „richtig", nach hundert Jahren aber dasselbe
,, falsch" sein, je nachdem der Gebrauch sich ändert.
Herrn Dr. A. in F. — Um die wichtigsten nutzbaren
Pflanzen der Erde kennen zu lernen nicht nur hinsichtlich
ihres Aussehens, sondern auch ihrer Verwendung, empfehlen
wir Ihnen Dr. Karl Müller's „Praktische Pflanzenkunde für
Handel, Gewerbe und Hauswirtschaft". Mit 140 Abbildungen
auf 24 kolorierten Tafeln (E. Stahl's Verlag Nachf. in Breslau).
Preis geb. 9 Mk.
Herrn J. in Königsberg a. Eger. — Eine botanische Zeit-
schrift, wie Sie sie verlangen, gibt es nicht. Die Original-
milteilungen, die das botanische Zentralblatt früher brachte,
finden Sie jetzt in einer besonderen Zeitschrift: ,, Beihefte zum
Botanischen Zentralblatt" (Gustav Fischer in Jena) vcröflent-
licht, während das Botanische Zentralblatt selbst (Brill in
Leiden) ein ausschließlich referierendes Organ geworden ist.
Beide Zeitschriften sind vollständig selbständige Unternehmungen
geworden, die nur im Ti'cl Gemeinsames aufweisen.
Inhalt: Prof. G. v. 'Niessl: Die geographischen Beziehungen des Meteorphänomens. — Kleinere Mitteilungen: F"eh-
linger; Die Sterblichkeit der europäischen und der Neger-Rasse. — France: Neue Untersuchungen über den Bau
der Zelle. — Elster und G eitel: Elektrizitätszerstreuung in Luft infolge radioaktiver Emanationen. — Lothar
Wohl er: Über die 0.\ydierbarkeit des Plaüns durch elementaren Sauerstoff. — Bücherbesprechungen: Hans
Kraemer: Weltall und Menschheit. — Annuairc pour I'an 1904. — Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der
Naturwissenschaft. — Grimsehl: Die elektrische Glühlampe. — Ernst Abbe: Gesammelte Abhandlungen. —
Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Licliterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „Dl6 NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Heue Folge HI. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 7. Februar 1904.
Nr. 19.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Posl
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 544Ö-
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Lebensdauer der Insekten.
[Nachdruck verboten.] Von Franz Neureuter, cand
Über die Le.bensdauer der Insekten herrschen
im allgemeinen recht einseitige Vorstellungen. Dies
hat darin seinen Grund, daß man unter „hisekt"
gewöhnlich das vollkommen entwickelte Tier ver-
steht und dabei die vorhergehenden Lebens- und
Entwicklungsstadien desselben ganz außer acht
läßt. Das Leben eines Tieres aber beginnt keines-
wegs erst in jenem Augenblicke, in welchem es
in seiner fertigen Gestalt und definitiven Form
uns entgegentritt. Dieser höchsten Lebensstufe
geht die allmähliche Entwicklung voraus. Letztere
vollzieht sich meist unzugänglich für unsere direkte
Beobachtung innerhalb der EihüUe, aus welcher
am Ende der Entwicklung ein Tier hervorgeht,
das bereits mit allen wesentlichen Organen aus-
gerüstet ist.
In den Insekten jedoch tritt uns eine Tier-
klasse entgegen, die auch außerhalb des Eies eine
Entwicklung durchmacht, welche wir direkt be-
obachten können. Darum ist es gerechtfertigt,
auch die dem vollkommen entwickelten Insekt vor-
aufgehenden Entwicklungsstufen als „Leben" im
herkömmlichen Sinne zu bezeichnen. Bei dieser
Art der Auffassung aber kommt dem Leben der
prob., Heiligenstadl in Thüringen.
Insekten eine viel größere, ja verhältnismäßig sehr
große Dauer zu. Das Merkwürdige dabei ist, daß
in vielen Fällen die Entwicklung eines Insektes
eine bei weitem längere Zeit in Anspruch nimmt,
als das vollkommene Insekt selbst lebt. Es hat
dieses seinen Grund in den Lebensfunktionen der
einzelnen Entwicklungsstadien.
Jedes Tier hat in bezug auf die Natur, in
welcher es erzeugt wird, lebt und vergeht, einen
zweifachen Zweck oder eine doppelte Aufgabe,
einmal sich selbst und sodann seine Art zu er-
halten, sich fortzupflanzen. Bei vielen Tieren geht
die Erfüllung diesei' beiden Aufgaben im allge-
meinen gleichzeitig nebeneinander her, wenngleich
z. B. bei den höheren Tieren die letztere Aufgabe
in ein höheres Alter verschoben ist, während der
jüngeren Lebenszeit die Ausbildung und Festigung
der körperlichen Organe anheimfällt. Bei den In-
sekten jedoch ist jede der beiden Aufgaben einer
ganz verschiedenen Lebensstufe zugewiesen. Im
Larvenstadium des Insektes fällt dem Tiere einzig
und allein mit sehr wenigen Ausnahmen die Auf-
gabe zu, sich zu ernähren, zu wachsen. Das voll-
kommene Insekt jedoch wächst nicht mehr. Seine
290
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 19
Größe ist bestimmt und abhängig von der Größe
der Larve. Es hat nur noch den zweiten Lebens-
zweck zu erfüllen, welcher darin besteht, dal.i es
seine Art fortpflanzt, wozu die Larve bei den
weitaus meisten Insekten nicht befähigt ist.
Da es nun klar ist, daß das Wachstum eines
Tieres abhängig ist von der Nahrungsaufnahme,
von Witterungsverhältnissen und noch anderen Be-
dingungen , die Fortpflanzung jedoch in kurzer
Zeit geschehen kann, so leuchtet ein, daß auch
das erstere Stadium, nämlich das der Larve, eine
viel längere Zeit erfordert, als das letztere Stadium,
das der Fortpflanzung. Es läßt sich also schon
von vornherein vermuten, daß wir unter den In-
sekten solche treffen, die zu ihrer Entwicklung
eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen. Im
allgemeinen läßt sich wohl sagen , daß ein ge-
wisses Verhältnis besteht zwischen Körpergröße
und Lebensdauer. Es soll damit jedoch nicht etwa
gesagt sein, daß ein größeres Insekt auch als voll-
kommenes Tier eine entsprechend längere Lebens-
dauer besitzt, daß also die größten unter ihnen
auch immer am längsten lebten, wenngleich es
oft so sein wird. Vielmehr hat die Länge der
„Lebens"zeit eines größeren Insektes in der längeren
Zeit, die seine Entwicklung beansprucht, ihren
natürlichen Grund.
Ein allbekanntes Beispiel ist der Maikäfer (Me-
lolontha vulgaris). Erst im vierten Jahre seines
Lebens \'erläßt dieser seinen unterirdischen Aufent-
haltsort. Drei Jahre hindurch hat derselbe als
Larve ein lichtscheues Dasein geführt. Das Ei,
aus welchem die Larve hervorging, war nicht
größer als ein Stecknadelknopf Allmählich jedoch
wuchs die Larve bei reichlicher Nahrungsaufnahme.
Ihr Körperumfang schwoll immer mehr und mehr
an, bis sie unter mehrmaliger Häutung endlich im
vierten Jahre ihre volle Größe erreichte und zur
Puppe wurde. Das vollkommene Insekt, das bald
darauf aus der Puppe hervorgeht, verbleibt bis
zum folgenden Frühlinge in der Erde. Nach dem
Verlassen derselben sorgt es für die Fortpflanzung
und stirbt umso schneller ab, als jene geschieht.
An klimatisch günstigeren Orten kürzt sich die
Lebensdauer dieses Käfers ab, d. h. seine Ent-
wicklung vollzieht sich schneller. Die Larve eines
anderen bekannten Käfers, des Hirschkäfers (Luca-
nus cervus), lebt gleichfalls fünf, nach einigen sechs
Jahre lang im faulenden Holze alter Eichen. Ebenso
bringt die Larve unseres größten deutschen Bock-
käfers, des Cerambyx heros, mehrere Jahre im
Stamme der Eichen zu. Hier bohrt sie lange
Gänge und nährt sich von den losgenagten Holz-
teilchen, bis sie ausgewachsen ist. Alsdann hat
sie die Länge und Dicke eines Fingers erreicht
und verpuppt sich im Mulme. Die Käfer selbst
erfreuen sich nur eines kurzen Daseins von einigen
Wochen.
Unter den Schmetterlingen ist hier als einer
der bekanntesten besonders der Weidenbohrer
(Cossus ligniperda) zu nennen, dessen Raupe zwei
bis drei Jahre im Stamme der Weiden, Pappeln
und anderer Bäume lebt, bis sie den Falter ergibt.
Die Raupe des sog. Augsburger Bären (Pleretes
matronula) überv^üntert dagegen zweimal unter
Laub und Moos und verwandelt sich erst im dritten
Jahre in die Puppe und den Schmetterling.
Die Larven der Eintagsfliegen leben mehrere
Jahre hindurch im Wasser, wo sie ein räuberisches
Leben füiiren, während das vollkommene Insekt
kaum einige Stunden sein Dasein genießt. Leiclit-
beschwingt steigt es aus dem Wasser empor, um
nach kurzer Zeit tot in dasselbe zurückzusinken,
nachdem es seine Brut dort untergebracht hat.
Von einer Zikade (Cicada septendecim) wird
erzählt, sie brauche zu ilirer vollen Entwicklang
nicht weniger als 17 Jahre, weshalb sie auch den
Namen einer siebzehnjährigen Zikade erhalten
haben soll. Im allgemeinen scheint jedoch die
Dauer von fünf Jahren die längste für die Ent-
wicklung eines Insekts und somit für dessen Leben
zu sein.
Bei der Mehrzahl der Insekten vollzieht sich
der Kreislauf der Entwicklung vom Ei durch
Larve, Puppe, Imago bis wiederum zum Ei in der
Zeit eines Jahres. Man bezeichnet diesen Kreis-
lauf als Generation und sagt, die Insekten haben
in einem Jahre gewöhnlich eine Generation. Doch
gibt es viele Arten, die deren zwei haben. Man
unterscheidet alsdann Frühjahrs- und Sommer-
generation. Dazu kann sich in solchen Jahren,
welche infolge ihrer klimatischen Verhältnisse der
Entwicklung der Insekten besonders günstig sind,
sogar noch eine dritte Generation gesellen, wie in
diesem F"alle auch Insekten, die sonst alljährlich
nur in einer Generation auftreten, zwei solcher
hervorbringen können. Selbstverständlich ist als-
dann das Leben des einzelnen Tieres durch alle
Entwicklungsstufen hindurch entsprechend gekürzt,
je schneller die Generationen einander folgen. So
kann z. B. in günstigen Jahren der gemeine Kohl-
weißling (Pieris brassicae) u. a. drei Generationen
mit vielen Tausenden von Individuen liefern. Die
Raupen bedürfen alsdann nur einer Zeit von etwa
zwanzig Tagen, bis sie erwachsen sind. Die Puppe
schlüpft gleichfalls nach etwa zwei Wochen, so
daß in ungefähr sechs Wochen eine vollständig
neue Generation auf dem Plane erscheint, die
ebenso schnell verschwinden würde, wenn die be-
dingenden Faktoren die gleichen blichen. Ahn-
liche Verhältnisse bestehen bei anderen Faltern
z. B. beim kleinen Fuchs (Vanessa urticae), beim
Tagpfauenauge (Vanessa io) und vielen anderen.
Manche Falter, die unter gewöhnlichen Verhält-
nissen jährlich nur eine Generation liefern, er-
scheinen, wie eben gesagt, unter günstigeren Be-
dingungen in zweien z. B. der Wolfsmilchschwärmer
o o
(Deilephila euphorbiae).
Der Falter selbst oder allgemeiner das voll-
kommene, entwickelte Insekt hat nach dem Ge-
sagten die kürzeste Lebensdauer. Unter Umständen
kann sich dies Verhältnis jedoch ändern. Dieses
ist der I'all bei allen überwinternden Schmetter-
lingen und sonstigen Insekten. Manche Schmetter-
N. F. III. Nr. 19
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
291
lingsarten bringen nämüch den Winter als voll-
kommene Insekten zu, nicht wie gewöhnlich als
Puppe oder Ei oder auch Raupe, wie letzteres bei
einigen Arten (Gastropacha rubi) geschieht. Die über-
winternden Tiere sind nach allgemeiner Annahme
befruchtete weibliche Individuen, die im folgenden
Frühjahr ihre Art fortzupflanzen haben. Ihrer Auf-
gabe entspricht die lange Lebensdauer. Das nähere
hierüber hat der Verfasser im zweiten Hefte des
vorigen Jahrganges von „Natur und Offenbarung"
auseinandergesetzt. Das gleiche, was dort von
den Schmetterlingen gesagt ist, gilt auch von
anderen Insekten. Es hat sich also durch die
Fähigkeit überwintern zu können die Lebensdauer
des Imagos, d. h. des entwickelten Tieres, um ein
bedeutendes verlängert. Viele entwickelte Insekten
erfreuen sich wohl nur eines kurzen Lebens, sie
sterben um so früher ab, als sie ihrer Aufgabe,
nämlich der Fortpflanzung, sich entledigt haben.
Die Eintagsfliege, von der oben schon die Rede
war, wird mit Recht so genannt, bei vielen anderen
wird es nicht anders sein. Eine längere Lebens-
dauer besitzen voi allem die Schmarotzer unter
den Insekten. Sie können oft sehr lange jede
Nahrung entbehren und doch am Leben bleiben.
Unsere gewöhnliche Bettwanze (Cimex lectularius)
kann, wie Leunis feststellte, ein halbes Jahr lang
ausdauern, ohne irgend welche Nahrung zu sich
zu nehmen. Sie wartet, bis sich dazu geeignete
Gelegenheit bietet, um sich dann mit um so größerer
Gier über ihr Opfer herzustürzen.
Ein besonders lehrreiches Beispiel in der Frage
nach der Lebensdauer der Insekten ist die ge-
meine Honigbiene (Apis mellifica). Die Arbeiterin
kann verschieden lange leben. Ihre Lebenszeit
ist um so länger, je weniger ihre .■\rbeitskraft in
Anspruch genommen wird. Zur Zeit der größten
Tracht im Hochsommer, wo die Bienen mit an-
gestrengtem Fleiße arbeiten, währt die Dauer des
Lebens der einzelnen Arbeitsbiene nur etwa sechs
Wochen. Andere dagegen überwintern. Den
Drohnen kommt gleichfalls eine nur beschränkte
Lebensdauer zu. Ganz im Gegensatz dazu lebt
die Königin nicht mehrere Wochen oder Monate,
sondern mehrere Jahre. Sie kann bis fünf Jahre
erreichen. Diese. auf den ersten Blick seltsam er-
scheinenden Verhältnisse haben ihren Grund in
den Lebensgewohnheiten der Honigbiene. Die
Honigbiene lebt in einem Staate. Im Bienenstaate
aber herrscht Arbeitsteilung. Die Arbeitsbienen
sorgen allein für die Aufzucht und Pflege der
Jungen und werden durch dieselbe vollständig in
Anspruch genommen und in kurzer Zeit aufge-
rieben. Die Fortpflanzung selbst aber besorgt
unter normalen Verhältnissen allein die Königin,
welche jahrelang befruchtet bleibt, nachdem sie
von den hinfälligen Drohnen einmal befruchtet ist.
Sie vermehrt und bevölkert den Stock immerfort
wieder von neuem und schafft Ersatz für die ab-
sterbenden Glieder desselben. Im Bienenstaate
ist es also gerade das für die Fortpflanzung sor-
gende Individuum, das sich der längsten Lebens-
zeit erfreut. Das aber hat seinen Grund in der
Bedeutung der Königin für den ganzen Staat, in
welchem sie der iVlittelpunkt alles Lebens und
aller Tätigkeit ist.
Eine Erscheinung im Leben der Insekten bedarf
hier noch der Erwähnung. Zwischen dem Stadium
der Larve und dem des vollkommenen Insektes
schiebt sich bekanntlich bei allein Insekten mit
vollkommener, holometaboler Verwandlung ein
Zustand der Ruhe ein, welchen man gewöhnlich
als Puppe bezeichnet. Dieses Puppenstadium nun
kann gleichfalls von sehr verschiedener Dauer sein.
Eine Puppe des Mauerfuchses (Pararge Megaera)
gibt zur Zeit des Hochsommers in etwa vierzehn
Tagen den Falter, andere Puppen dagegen ruhen
den ganzen Winter über und ergeben den Falter
erst im folgenden Jahie oft sehr spät. So ruht
die Puppe vom Eichenspinner (Gastropacha quer-
cus) in höheren Gebirgsgegenden ein volles Jahr,
während sie in der Ebene den Falter noch in
demselben Sommer ergibt. Alles dieses läßt aber
noch eine gewisse Regel erkennen. _ Gegen diese
Regel geht jedoch das sogenannte Überliegen der
Puppe. Man versteht darunter die Erscheinung,
daß eine Puppe zu einer gewissen normalen Zeit
den zu erwartenden Falter nicht liefert, sondern
ganz gegen die Regel im Zustande der Ruhe ver-
bleibt und der Falter erst später erscheint, ja
sogar jahrelang auf sich warten läßt. Man hat
diese Erscheinung besonders bei Schmetterlingen
aus der Klasse der Spinner beobachtet. In der
„Illustrierten Wochenschrift für Entomologie" 1896,
Nr. 25, findet sich folgendes Beispiel dafür ange-
geben. Dr. R. V. Stein erhielt einen schönen männ-
lichen Falter von Bombyx quercus am 2. Juli 1879
aus einer Puppe, die seit dem Sommer 1876
bereits eingesponnen war, also drei Jahre geruht
hat. Dem kann der Verfasser einen anderen, noch
deutlicheren Fall hinzufügen. Derselbe erhielt ein
etwas kleineres sonst aber völlig normales Männchen
von Saturnia pavonia, dem kleinen Nachtpfauen-
auge, aus einer Puppe, die von Ende Sommer des
Jahres 1898 bis zum März des Jahres 1903, also
vier und ein halbes Jahr im Zustande der Ruhe
zugebracht hatte. Man sagt, die aus solchen über-
liegenden Puppen hervorgehenden Individuen hätten
die Aufgabe, die Existenz der Art auch für den
Fall zu sichern und in spätere Zeiten hinüberzuretten,
daß alle anderen Individuen derselben Generation,
die sich normal entwickelten, inzwischen unter-
gegangen seien, ohne in genügender Anzahl zur
Fortpflanzung zu kommen.
Die Lebensdauer der Insekten ist also recht
verschieden, wenn wir ein einzelnes Entwicklungs-
stadium für sich ins Auge fassen. Das vollkommene
Insekt, das Produkt der ganzen Entwicklung, re-
präsentiert zwar die vollkommenste Stufe, zugleich
aber auch die hinfälligste und hinsichtlich der
Lebensdauer im allgemeinen die kürzeste. Die
gefräßige Larve ist nur auf Nahrungsaufnahme be-
dacht. Ihr Körperumfang vergrößert sich fort und
fort oft lange Zeit hindurch. Das eigentliche In-
292
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 19
sekt dagegen besitzt eine durch die Lebensverhält-
nisse der Larve gegebene, unveränderliche Größe,
ist mit anderen Organen ausgestattet, oft geradezu
unfähig zur Nahrungsaufnahme infolge des Mangels
von entsprechenden Mundvverkzeugen und kennt
nur eine Aufgabe, nicht selbst zu wachsen und
sich zu vergrößern wie das Blatt eines Baumes,
sondern den Stamm zu erhalten.')
') cf. Kolbc's Art. über altersschwaclie Käfer
Wochenschr. Bd. XV, 1900, p. 404.
.Vaturw.
Wie entstand das rheinische Schiefergebirge?')
Vortrag, gehalten auf der Generalversammlung des Vereins „Berggeist'' zu Siegen 1902.
Fr.
[Nachdruck verboten.] Von Dr,
Im nordwestlichen Deutschland liegt ein ge-
waltiger paläozoischer Gebirgskomplex, der sich
jenseits der politischen Grenze des Reiches durch
Belgien und Nordfrankreich bis an den Kanal hin
ausdehnt. Diese große, auf allen Karten scharf
hervortretende Masse besteht im wesentlichen aus
devonischen Gesteinen, die am Nord- und Ost-
rand, wie auch gelegentlich im Innern durch kar-
bonische und jüngere Schichten bedeckt werden.
Langgezogene , flache Bergrücken , von mulden-
förmigen Tälern durchschnitten, bilden den Charakter
des inneren, besonders aus sandig-schiefrigen Ge-
steinen bestehenden Teiles des rechtsrheinischen
Schiefergebirges. Dagegen verleihen kegelförmige
Kuppen und abwechslungsreiche Bergformen, die
durch die verschiedene Widerstandsfähigkeit der
einzelnen Gesteine gegenüber den Witterungs-
einflüssen hervorgerufen werden , besonders den
randlichen und südlichen Teilen ihren hohen land-
schaftlichen Reiz. Das ganze Gebirge besteht aus
einem System von mehr oder weniger stark zu-
sammengepreßten Falten, die namentlich im süd-
lichen Teil des Gebirges häufig überkippt sind und
gerade hier meist südöstlich einfallen. Nach Norden
werden diese Falten immer schwächer, so daß
die Annahme, daß sie einem von Südosten kommen-
den Druck ihre Entstehung verdanken, dadurch
berechtigt erscheint. Alle Gesteine besitzen wesent-
lich dieselbe Streichrichtung von ONO nach WSW,
von Buch im
die man seit Leopold
zu dem häufig anders gerichteten Streichen der
übrigen deutschen Gebirge als die niederländische
bezeichnet. Zahllose Störungen erschweren die
Erkennung des Aufbaues ganz außerordentlich.
Verwerfungen und Überschiebungen sind in überaus
großer Zahl vorhanden; außerdem wurde das ganze
derartig zerhackte Gebirge von der Erosion und
Abrasion bearbeitet und so entstand der Rest
eines ehemals gewaltigen Gebirgssystems, den wir
heute vor uns sehen.
Während unser rheinisch-westfälisches Gebirge
im Norden allmählich unter viel jüngeren Ge-
steinen verschwindet, die es diskordant überlagern,
ist der Ostrand nach der hessischen Senke un-
regelmäßig stafTelförmig abgesunken. Im Süden
') Der Vortrag berücksichtigt im wesentlichen die geo-
logischen Verhältnisse des rechtsrheinisch belegenen Teiles
unseres Schiefergebirges,
Drevermann, Marburg a. Lahn.
ruht das Devon auf den älteren Taunusgesteinen.
Aus der etwa nord-südlich verlaufenden Ostgrenze
springt der Kellerwald über den Rand hinaus weit
vor; er stellt ein selbständiges halbinselförmiges
Horstgebirge dar, das nach allen Seiten von ge-
waltigen Bruchlinien begrenzt wird. Gerade von
der genauen Untersuchung dieses Teiles unseres
Gebirges ist in neuerer Zeit viele Anregung aus-
gegangen und interessante Fragen, die lange zweifel-
haft geblieben waren, sind im Anschluß daran
gelöst worden.
Wenn wir nun die Geschichte des rheinischen
Schiefergebirges ins Auge fassen, so teilen wir
den unermeßlichen Zeitraum am besten in drei
große Epochen, deren jede wohl nach Millionen
von Jahren zählt. Die erste, für unser Gebiet un-
wichtigste, umfaßt die Zeit bis zur Ablagerung
des Devons, die zweite und bedeutsamste bringt
die Ablagerung und Aufrichtung der Gesteine
dieser Formation und des Karbons und im dritten
vernichtet die zerstörende Kraft des Wassers wieder,
was in der früheren Zeit geschaffen war und
modelliert den riesigen Rumpf heraus, der sich
von der Diemel und Eder bis zur Maas erstreckt.
Wie unser Gebirge in archäischen Zeiten aus-
sah, davon ist uns nichts bekannt. Vielleicht sind
die ältesten Ablagerungen da zu suchen, wo am
Südhang des Taunus unter den ältesten devonischen
Schichten ein schmaler Zug halbkristalliner Ge-
steine liegt, deren Alter noch zweifelhaft bleiben
muß, trotzdem es vor kurzem gelungen ist, hier
Spuren von Versteinerungen aufzufinden. Links-
rheinisch ragen aus dem umgebenden Devon einige
uralte Gebirgskerne heraus, auf deutschem Boden
das hohe \'enn, in Belgien das Massiv von Rocroi,
deren Alter sich durch glückliche Funde von
Fossilresten als kambrisch feststellen ließ. Be-
merkenswert ist, daß das unterste Devon dis-
kordant auf diesen besonders aus Schiefern und
Ouarziten zusammengesetzten Inseln aufruht. Sie
waren schon gefaltet, ehe das Meer zu devonischer
Zeit von Westdeutschland und Belgien Besitz er-
griff und in seiner Brandungswoge an vielen Orten
konglomeratische Gesteine entstehen ließ, deren
Bestandteile diesen alten Gebirgen entnommen
sind. — Weiter kannte man bis vor wenigen
Jahren keine älteren als devonische Gesteine im
rheinischen Schiefergebiree. Da gelang es im
Gegensatz
Kellerwalde durch überaus mühsame und
N. F. III. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
293
Arbeiten , in einer aus selu- mannigfaltigen (je-
steinen zusammengesetzten Schichtenfolge silu-
rische Versteinerungen aufzufinden. In der weiteren
Verfolgung dieser Entdeckungen wurde festge-
stellt, daß sich das Silur in einem mehrere Kilo-
meter breiten Zuge südwestlich bei Marburg vor-
bei bis an den Basalt des Westerwaldes fortsetzt,
wo es unter dem Tertiär verschwindet. Wir hätten
in diesem Zuge, der seine ganz übereinstimmend
aufgebaute nordöstliche Fortsetzung im Westharz
findet, auf der rechten Rheinseite das älteste sicher
bekannte Niveau vor uns.
Mit dem untersten Devon, das von den Bel-
giern als Gedinnien bezeichnet wird, beginnt der
wichtigste Zeitabschnitt in der Geschichte unseres
Gebirges. Außer den schon erwähnten Konglome-
raten wurden damals noch bunte Schiefer und Ar-
kosen abgelagert, die nur eine ärmliche Fauna ent-
halten. Das eigentliche Unterdevon ist im rheinischen
Gebirge in ziemlich gleichbleibender Facies ent-
wickelt. Ein flaches Meer mit sandigem Boden
bedeckte unsere Gegend, in welchem zahllose
Brachiopoden und Zweischaler, daneben Gastro-
poden, Trilobiten, Crinoiden usw. lebten. Das
älteste Glied besteht im Taunus und an anderen
Orten aus weißen Quarziten, dem sog. Taunus-
quarzit, im Siegerland und im Rheintal aus Grau-
wacken und Tonschiefern, deren besondere Eigen-
tümlichkeit darin besteht, daß die Tierwelt sich
durch ihre außerordentliche Größe auszeichnet, die
sie zur Devonzeit nie wieder erreicht. Der (irund
ist vielleicht darin zu suchen, daß damals die ge-
samte Fauna von anderen Gegenden einwanderte
und w^ährend der Unter- und Mitteldevonzeit lang-
sam degenerierte; denn die Größenabnahme ist
ganz allmählich und läßt sich oft Glied für Glied
verfolgen. — Über diesen Gesteinen folgt ein
schiefriger Horizont, der sich durch zahlreiche Dach-
schieferlager auszeichnet, der rechts- und links-
rheinisch weit verbreitete Hunsrückschiefer. Seine
Fauna weicht von der des ganzen übrigen Unter-
devons insofern ab, als die gewöhnlichen Brachio-
poden fast gänzlich fehlen. Dafür treten zahlreiche
Asterien, Crinoiden, Trilobiten, Cephalopoden und
ähnliche, in tieferem Meere lebende Tiere auf, von
denen besonders die Echinodermen oft durch ihre
ausgezeichnete Erhaltung hervorragen. Die sog.
Koblenzschichten , welche die obere Hälfte des
Unterdevons bilden, bestehen aus Grauwacken und
ähnlichen Gesteinen, die wegen ihres Reichtums
an derBrachiopodengattungSpirifer auch Spiriferen-
sandstein genannt werden. Sie schliel3en einen
Qnarzitzug ein, den sog. Koblenzquarzit, der die
unteren und oberen Koblenzschichten trennt und
so außer den oft nur minimalen paläontologischen
Unterschieden eine petrographische Grenze schafft.
Wegen seiner Härte bildet der Koblenzquarzit oft
die höchsten Erhebungen und Wasserscheiden.
Außer dieser sandigen Facies des Unterdevons ist
im Kellerwald und bei Marburg noch die kalkige,
sog. herzynische Entwicklung mit reicher, etwas
abweichender Fauna aufgefunden worden, die sich
besonders in Böhmen durch eine große Fülle von
Versteinerungen auszeichnet.
Tritt im Unterdevon eine außerordentlich gleich-
mäl.3ige Gesteinsentwicklung hervor, so wird es
sofort anders, wenn wir in die unteren Schichten
des Mitteldevons gelangen. Linksrheinisch zeichnen
sich die Kalzeolaschichten der Eifel durch ihre
ausgezeichneten Versteinerungen aus, die sie in
unerschöpflicher Menge enthalten. In der Aachener
Gegend lag offenbar die Küste jenes Mitteldevon-
meeres, denn grobe konglomeratische Gesteine
deuten darauf hin, daß kräftige Brandungswellen
hier eine alte Küste zernagten und mit ihrem
Material das neue Gestein schufen. Rechtsrheinisch
herrscht in den nördlichen Teilen des Gebirges
die Flachmeerfacies des Unterdevons noch fort;
sandie-toni^e Gesteine, die Lenneschiefer, die be-
sonders zahlreiche Brachiopoden enthalten, lassen
auf die Nähe einer Küste schließen. Hochinter-
essant ist es, daß in den letzten Jahren eigenartige,
anodontaartige Zweischaler gefunden wurden, die
sogar auf Brack- oder Süf3wasserschichten hin-
zuweisen scheinen, deren genaues Alter allerdings
noch nicht völlig sicher ist. Ein offenes Meer
nahm dagegen den südlichen Teil des Schiefer-
CTebirg-es ein. Die zarten Ton- und Dachschiefer
mit ihren zahllosen winzigen Pteropodenschälchen
(Styliolina, Tentakulites) können nur in weiter Ent-
fernung von der Küste abgelagert worden sein.
Aus diesen Schichten stammen auch die wunder-
vollen Schwefelkiesgoniatiten und Orthoceren von
Wissenbach und aus dem Rupbachtale, die in
vielen Sammlungen verbreitet sind. An vielen
Orten enthalten die Tentakulitenschiefer größere
und kleinere Kalkknollen, die oft von wohlerhaltenen
Versteinerungen erfüllt sind und in neuerer Zeit
eine ins einzelne gehende Gliederung ermöglicht
haben.
Im oberen Mitteldevon ragten in den meisten
Gegenden mächtige Korallenriffe aus den Wogen
empor, an denen ein reiches Tierleben sich ent-
faltete. Dickschalige Mollusken und Brachiopoden
fanden hier reiche Nahrung, aber auch Trilobiten
und andere Tiere lebten zwischen den Korallen-
rasen. Fast allenthalben, wo das obere Mittel-
devon entwickelt ist, findet sich der meist schich-
tungslose hellgraue Massenkalk, der nach außen
hin besonders an angewitterten Stücken oft noch
prachtvoll die ganze innere Struktur der Einzel-
korollen erkennen läßt. Wiederum weicht der
südliche Teil unseres Gebirges von der übrigen
Entwicklung ab. Hier setzt sich die pelagische
Facies der Tentakulitenschiefer auch ins jüngere
Mitteldevon fort, obwohl auch hier Riffkalke eine
große Rolle spielen. In der Lahn- und Dillgegend
fanden gewaltige untermeerische Eruptionen von
Diabasen statt, wobei große Massen von Tuffen
ausgeschleudert wurden, die heute als Schalsteine
weit verbreitet sind. Den Beschluß des Mittel-
devons bildet fast allenthalben ein Eisenstein-
horizont.
Noch mehr als im Mitteldevon machten sich
294
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 19
Faciesverschiedenheiten aber im Oberdevon geltend.
Cephalopodenkalke, die allgemein als Tiefseeabsätze
gelten, sind weit verbreitet und haben schon früh
eine Zweiteilung des Oberdevons ermöglicht. Zur
unteren Hälfte, die nach dem Hauptleitfossil als
Intumeszensstufe bezeichnet wird, rechnet man
außer echten Tiefseekalken Brachiopodenmergel,
Goniatitenschiefer und echte Riffkalke, also Ge-
steine, die in den verschiedensten Meerestiefen ab-
gelagert wurden. Sie alle sind durch das gemein-
same Leitfossil Manticoceras intumescens mitein-
ander verbunden. Auch ein Teil des westfälischen
Flinz dürfte hierher gehören. Ebenso enthält das
jüngere Oberdevon die verschiedenartigsten Ge-
steine. Tiefseekalke haben auch hier die Haupt-
leitfossilien, der Gattung Clymenia angehörige
Cephalopoden, geliefert, die wenigstens in Europa
auf diesen Horizont beschränkt, hier aber in außer-
ordentlicher Verbreitung bekannt sind. Außerdem
aber gehören hierher die grünen und roten Cypri-
dinenschiefer, Sandsteine, ßrachiopodenschiefer,
Schalsteine und Diabase, von denen namentlich
das erstgenannte Gestein durch seine weite Ver-
breitung wichtig ist. Eine gewaltige, von großen
Tuffmassen begleitete untermeerische Diabaserup-
tion bezeichnet im Süden unseres Gebirges den
Schluß der devonischen Zeit.)
Die äußerste Nordwestecke des rechtsrheinischen
Gebirges, die Gegend von Düsseldorf und Velbert,
scheint sich in Beziehung auf die Ausbildung des
jüngeren Oberdevons eng an die belgische Ent-
wicklung anzuschließen, wo Hochseebildungen, also
Clymenienkalke fehlen , dagegen Sandsteine und
Schiefer weit verbreitet sind, die durch ihren Reich-
tum an Brachiopoden und Zweischalern sich als
Absätze aus flacher See kennzeichnen. In den
oberen Horizonten stellen sich in Belgien sogar
Landpflanzen und Fische ein, die Beziehungen zu
der Binnenentwicklung des Devons, dem Old-red-
sandstone, recht wahrscheinlich machen.
Werfen wir einen Blick auf die Entwicklungf
des Devons zurück, so sehen wir, daß zur Unter-
devonzeit ein flaches Meer mit ziemlich einheit-
licher Fauna allgemein verbreitet war; nur im
Osten und Südosten treten hercynische Formen
zahlreicher auf die jedoch auch an den übrigen
Fundorten nicht gänzlich fehlen. Im Mitteldevon
dauerte im Norden die Flachmeerentwicklung fort ;
im Süden machte sich dagegen eine wesentliche
Vertiefung geltend und hier breitete sich ein
offenes Meer aus, in dem besonders Cephalopoden
und Pteropoden lebten. Das Oberdevon bringt
dagegen wieder eine Ausgleichung der Gegensätze,
die sich schon im jüngeren Mitteldevon angebahnt
hatte. Cephalopodenkalke in Nord und Süd, da-
neben sandige Gesteine lassen auf mehrfache
Schwankungen in der Tiefe des Meeres schließen,
zu denen auch die häufigen Eruptionen von Diabas
ihr Teil beigetragen haben dürften.
Das Karbon beginnt ziemlich allgemein im
ganzen rechtsrheinischen Teil des Gebirges mit
einer Zone bunter fester Kieselschiefer, die offen-
bar aus sehr tiefem Meere abgelagert wurden, da
ihre bisher bekannte Fauna im wesentlichen aus
Radiolarien und Cephalopoden, also Bewohnern
der offenen See besteht. Nur lokal kommen
darin Kalksteineinlagerungen vor, die aber durch
ihren Versteinerungsreichtum außerordentlich wich-
tig sind. Darüber liegen Schiefer mit Posidonia
Becheri, einem durch seine Massenhaftigkeit wich-
tigen Leitfossil, die auch noch im offenen Meere
entstanden. Den Beschluß des Unterkarbons bilden
mächtige schiefrig- sandige Gesteine, in denen erst
vor kurzem eine zwar ärmliche, aber außerordent-
lich wichtige Fauna entdeckt wurde, die am Ost-
und Südrand des Gebirges eine ziemlich weite
Verbreitung zu haben scheint.
Ganz anders ist das Unterkarbon in Belgien
und in der Nordwestecke des rechtsrheinischen
Gebirges entwickelt. Hier stellt sich über den
sandigen Oberdevonschichten zunächst eineBrachio-
podenfauna ein, die eine, wenn auch kleine Ver-
tiefung des Meeres anzeigt und eine Mischung
devonischer und karbonischer Typen enthält. Über
dieser Etroeungtstufe folgen sehr mächtige Kalke,
die lokal von Korallen, Brachiopoden, Zweischalern
und Gastropoden geradezu wimmeln. Man teilt
sie in eine untere Tournay- und eine obere Vise-
stufe ein, die sich durch ihre Fauna gut unter-
scheiden lassen. Wenn man beide geschilderten
Entwicklungen des Unterkarbons vergleicht , so
könnten vielleicht die Kieselschiefer der Etroeungt-
stufe, die Posidonienschiefer der Tournay- und die
erwähnte höher liegende Fauna der Visestufe ent-
sprechen.
Über die genaue Grenze zwischen dem Kuhn
und dem untersten Gliede des Oberkarbons, dem
flötzleeren Sandstein, ist noch wenig Sicheres be-
kannt. Im Norden wird wohl ein Alaunschiefer-
horizont eine Grenze darbieten; im Osten und
Süden jedoch dürfte zu erwägen sein, ob nicht
der obere Teil der gfewöhnlich zum Kulm ee-
rechneten Grauwacken zum Flötzleeren zu rechnen
sind. Während dieser Zeit fand eine vollständige
Hebung des Meeresbodens statt, die schon vorher
angebahnt wurde und so den Kontinent lieferte,
der von der jüngeren Karbonzeit an in unserer
Gegend sich befand. Die sumpfigen Küsten und
Niederungen waren von riesigen Waldungen be-
deckt, die sich aus mächtigen Schachtelhahnen,
Bärlappgewächsen und baumartigen Farnen zu-
sammensetzten. Dazu herrschte ein warmes feuchtes
Klima und so entstanden zu damaliger Zeit die
mächtigen Steinkohlenlager, die heute den Reich-
tum dieser Gegenden bedingen. Manchmal brach
das Meer wieder in die Sümpfe ein und spülte
allerhand Seetiere mit sich, die heute in verschie-
denen Horizonten zwischen den Flötzen vorkommen.
In den zwischengelagerten weichen Schiefertonen
finden sich die Farne und sonstige Gewächse bis
in die zartesten Einzelheiten erhalten, daneben aber
auch Insekten, Spinnen, Tausendfüße und andere
Landbewohner neben Süßwassermuscheln, welche
N. F. III. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wocliensclirift.
295
zum ersten Male in der Erdgeschichte uns Kunde
von einer reicheren Festlandfauna bringen.
Die karbonische Zeit gewinnt aber ihre gröüte
Wichtigkeit durch die tektonischen Vorgänge, die
unser Gebiet zum ersten Male seit dem Kambrium
wieder in ausgedehntem Maße betrafen und die
Entstehung des rheinischen Schiefergebirges (und
zahlreicher anderer Gebirge Europas) zur Folge
hatten. Ein riesiges Gebirge von alpinem Charakter,
die sog. paläozoischen Alpen, erhob sich damals
und ein hervorragender Teil davon war unser
rheinisches Massiv, das zu Sueß' armorikanischem
Gebirge gehört. Diese Faltungen setzten am Ende
der Kulmzeit mit größter Stärke ein und dauerten
unter allmählicher Abnahme während der ganzen
jüngeren Steinkohlenzeit fort, um im Perm lang-
sam zu erlöschen. Die bedeutenden Störungen,
die ausgedehnten, oft ganz flachen Überschiebungen,
die im Norden wie im Süden unseres Gebirges
nachgewiesen sind, die bis ins Kleinste gehende
Fältelung mancher Schiefer legen ein beredtes
Zeugnis ab für die gewaltigen Kräfte der damaligen
tektonischen Vorgänge. Sie schufen aus einem
Kontinent, der sich aus wesentlich horizontal ge-
lagerten Schichten aufbaute, und in dem nur die
ältesten , schon früher gefalteten Gesteine be-
deutendere Erhebungen bildeten, ein Gebirge mit
schroffen, zerrissenen Gipfeln und alpinen land-
schaftlichen Formen, welche an Schönheit und
Großartigkeit den steilsten und wildesten I'elsen-
gipfeln der Jetztzeit kaum nachgestanden haben
dürften. Mit der Aufrichtung des Gebirges setzt
aber auch sofort die ausgleichende Wirkung der
Erosion ein und damit beginnt der dritte Abschnitt
in der Geschichte unseres Massivs.
Schon die permische Zeit berührt das ganze
Gebiet fast nur noch an den Rändern und greift
nur an wenigen Stellen in das Innere hinein.
Während dieser und der darauf folgenden Trias-
zeit herrschte ein heißes Wüstenklima im Norden,
Osten und Süden der rheinischen Alpen. Über-
aus mächtige, meist rote Sandsteine und Kon-
glomerate mit Kreuzschichtung, Wellenfurchen,
Trocknungsrissen, Steinsalzkristalloiden und anderen
Merkmalen können nur unter Bedingungen ent-
standen sein, wie sie heute etwa in der aralo-
kaspischen Senke und anderen Wüstengebieten
herrschen. Im Süden finden im Beginne dieser
langen Zeit noch gewaltige Eruptionen statt, welchen
die großen Melaphyrlager des Saar-Nahegebietes
ihre Entstehung verdanken. Häufige Meeresein-
brüche in die große germanische Perm-Trias- Wüste
lieferten uns während der Zeit des Zechsteins, des
Röt und des Muschelkalks artenarme , aber in-
dividuenreiche Faunen, die dem Geologen jetzt
die einzigen Anhaltepunkte zurVergleichung unserer
Schichten mit den gleichzeitigen Ablagerungen des
offenen Meeres darbieten. Zugleich aber gaben perio-
dische Wasseransammlungen undBinnenseen den An-
stoß zum Absätze jener enormen Steinsalzlager, an
denen Deutschland so überaus reich ist, und die uns vor
allem durch ihre Kalisalze einen einzig dastehenden
nationalen Reichtum überliefert haben. Unser Ge-
birge hat uns, wie ich schon sagte, nur an den
Rändern Ablagerungen dieser Zeit hinterlassen.
Trotzdem aber haben wohl die Sandstürme um
seine Gipfel getost und sie zernagt; gewaltige
Wolkenbrüche rissen tiefe Talschluchten in seine
Gehänge ein und lagerten ungeheure Massen groben
Schuttes in den weiten Ebenen der Wüste ab.
Und das Werk der Zerstörung setzte sich
während der Jura- und der älteren Kreidezeit fort,
die ebenso wie die früheren Perioden das eigent-
liche Gebiet unseres Gebirges unberührt ließen.
Trotzdem arbeitete auch damals die niemals stille
stehende Erosion langsam weiter und ebnete die
wilden Schroffen immer mehr ein. .allmählich
wurde der alpine Charakter schwächer und un-
deutlicher, die Berggipfel rundeten sich und die
steilen P'elshänge wurden flacher. Zu Beginn der
jüngeren Kreidezeit verließ im Norden das Ceno-
man-Meer seine Ufer; es brach weithin über das
Land hinein und seine Brandungswoge ebnete das
hier ohnehin flachere Gebirge vollständig ein.
Kreideablagerungen, die meist mit Konglomeraten
beginnen, liegen in der großen westfälischen Bucht
direkt und diskordant auf karbonischen oder per-
mischen Schichten. Eine reiche marine Fauna
zog zum ersten Male wieder in das Gebiet ein ;
die gewaltigsten Riesen unter den Ammoniten,
zahllose Muscheln, Schnecken, Seeigel, Krebse und
Fische und viele niedere Tiere bevölkerten die
Wogen des Meeres, welches besonders mergelige
und kalkige Gesteine ablagerte. Im ältesten Tertiär
hatte sich das Meer ganz aus Norddeutschland
zurückgezogen. Zur Oligocänzeit aber trat es
wieder aus seinen Ufern und lagerte im Norden,
wie im Osten und Süden unseres Gebirges Sande
und Tone mit reichen Faunen ab. Kurz nach dem
Schluß der Oligocänzeit zog es sich zum letzten
Male aus diesem Gebiet zurück und löste sich in
eine Reilie von brackisch werdenden und allmäh-
lich sich immer mehr aussüßenden kleineren Becken
auf. Zur Miocänzeit, in der die Alpen und die
übrigen großen Gebirge Südeuropas entstanden,
brachen im östlichen, südlichen und zentralen Ge-
biete des rheinischen Gebirges gewaltige zusammen-
hängende Massen und zahlreiche kleine Einzel-
ergüsse von Basalt hervor. Der Westerwald, die
Rhön, der Vogelsberg, der Habichtswald und viele
andere Berge legen ein Zeugnis ab von der da-
maligen extremen Steigerung der vulkanischen
Tätigkeit. .^uch das größtenteils trachytische
Siebengebirge ist hier zu nennen. Zum Teile hängen
die oft ganz ungeheuren Ergüsse wohl mit dem
Aufreißen der zahlreichen Spalten, z. T. auch mit
dem Einbruch der hessischen Senke zusammen,
jenes breiten Grabens, der als nördliche P'ortsetzung
der Rheintalspalte sich bis über Kassel hinaus fort-
setzt. Zur selben Zeit entstanden die zahlreichen
Braunkohlenlager, die meist in ihrer Verbreitung
etwa an die der Basalte gebunden sind. Ebenso
wurden die wertv^ollen Tonlager vieler Gegenden
damals abgelagert. Viele Täler begannen schon
296
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 19
sich in ihren Grundzügen anzulegen und ver-
schärften sich im Pliocän noch stark. Meeres-
ablagerungen aus dieser Zeit fehlen uns gänzlich;
nur Schottermassen sind weit verbreitet und in
ihnen finden sich an vielen Punkten die Reste des
gewaltigen Dinotheriums und des Mastodon, die
damals in Deutschland lebten.
Der Übergang zum Diluvium ist ganz un-
merklich ; es zeichnet sich allenthalben dadurch
aus, daß seine Ablagerungen im wesentlichen an die
Flußläufe geknüpft und fluviatiler Entstehung sind.
Das Klima, welches schon zur jüngeren Tertiärzeit
sich merklich abgekühlt hatte, wurde immer kälter.
Und dann rückten von Norden her, besonders von
Skandinavien, ungeheure Gletschermassen vor, die
ganz Norddeutschland unter sich begruben und
iliren Eisrand bis an den Fuß des rheinischen
Schiefergebirges vorschoben. Der Kern des Massivs
selbst blieb frei von der allgemeinen Vereisung,
obwohl kleine lokale Vergletscherungen vielleicht
auch hier vorgekommen sein mögen. Ein mehr-
faches Zurückweichen und Wiedervorrücken des
Eises brachte natürlich wesentliche Temperatur-
schwankungen mit sich. Während der Interglazial-
zeiten herrschte ein verhältnismäßig warmes Klima
und es gedieh daher eine ähnliche Flora, wie wir
sie jetzt besitzen ; dagegen rückten in den eigent-
lichen Eiszeiten nordische Pflanzen bis weit nach
dem Süden vor. Außer den Blocklehmen und
Anhäufungen fremder Gesteine, welche die Gletscher
uns aus ihrer nordischen Heimat zuführten, brachten
damals die Flüsse gewaltige Schottermassen aus
den Gebirgen in die Täler. Sodann fällt in das
Diluvium im wesentlichen auch die Entstehung des
Löß, eines kalkreichen, schichtungslosen Lehmes,
der nach der Ansicht der meisten Geologen un-
geheuren Staubstürmen seine Entstehung verdankt
und zu einer Zeit abgelagert wurde, als das nörd-
liche Deutschland in Klima und Bodenbeschaffen-
heit ein typisches Steppenland war.
Zur Diluvialzeit lebten bei uns Mammut, Rhino-
zeros, Renntier, Riesenhirsch, Auerochs und Wisent,
von Raubtieren Löwe, Höhlenbär und Hyäne, deren
Reste wir besonders in den Höhlen finden, die in
unseren Kalkgebirgen oft so zahlreich vorhanden
sind. Mit dem Zurückweichen der gewaltigen
Eismassen entwickelt sich in ganz Norddeutschland
ein Tundren- und Steppengebiet. Lemming, Ziesel,
Steppenantilope und andere Tiere, die jetzt in den
sibirischen Tundren leben, waren damals neben
den schon genannten größeren Säugetieren bei
uns heimisch. Allmählich wurde das Klima wieder
wärmer; große Grasweiden und LVwälder be-
deckten unser Vaterland. Und in diese Diluvial-
zeit fällt auch das erste sichere Auftreten des
Menschen, von denen ja unser Gebirge im Neander-
talmenschen einen der ältesten bekannten Vertreter
beherbergt hat. Wahrscheinlich haben unsere Vor-
fahren noch die Vulkane der Eifel ihren Bimstein-
regen speien sehen , sicher wohl haben sie mit
Mammut und Höhlenbär gekämpft.
Und damit treten wir in das Alluvium ein,
unter welchem Namen wir die Zeit verstehen, die
uns keine wesentlichen Änderungen im Klima, in
der Meeresverbreitung, in Fauna und Flora mehr
gebracht hat und die uns in die Gegenwart
hinüberleitet.
Kleinere Mitteilungen.
Calor, dolor, ruber, tumor. — Vor ungefähr
40 Jahren fand in einer größeren Stadt Italiens
ein Prozeß statt, der unerwarteterweise eine sen-
sationelle Wendung nahm. Ein Bedienter war
angeklagt, seinen Herrn vergiftet zu haben, und
das Gift, welches, wenn auch in ganz geringfügiger
Menge, in der Leiche nachgewiesen werden konnte,
entsprach in seinen Wirkungen, wie es schien,
vollständig der Gruppe der Alkaloide. Das
gerichtsärztliche Gutachten wurde jedoch , da der
sonstige Indizienbeweis zu schwach war, an die
Fakultät geleitet und zum größten Erstaunen der
ärztlichen Welt entschied der Chemiker Selmi,
daß das vorliegende Alkaloid kein künstlich in den
Körper gebrachtes Gift, sondern ein Zersetzungs-
produkt der Leiche sei. Der Angeklagte wurde
daraufhin freigesprochen.
Dieser Prozeß war berufen, eine denkwürdige
Rolle in der Geschichte der Medizin zu spielen.
Durch Selmi war hiermit zum ersten Male fest-
gestellt worden, daß Alkaloide nicht bloß als Pro-
dukte des pflanzlichen, sondern auch des tierischen
und des menschlichen Oreanismus auftreten können.
Unter besonderen , wenn auch allerdings höchst
seltenen Umständen, so z. B. bei tiefgreifenden
Ernährungsstörungen, können sogar, wie Selmi
zeigte, ohne das Eindringen von Bakterien die von
ihm sogenannten Ptomaine im lebenden Organis-
mus sich bilden und auf diese Weise X'^ergiftung
durch Erzeugnisse des eigenen Stoffwechsels ver-
anlassen. Diese Tatsache wirft ein überraschendes
Licht auf den Stoffwechsel des Lebens. Ptomaine
sind nämlich Stoffe, welche aus dem EiweilB nur
durch tiefgreifende Sauerstoffentziehung hervor-
gehen können, während der ph3'siologische Stoff-
wechsel der Tiere hauptsächlich eine Sauerstoff-
aufnahme ist. Liegt da nicht die Vermutung nahe,
daß jene erschöpfenden Ernährungskrankheiten
dadurch ihre vernichtende Wirkung ausüben, daß
sie den Organismus sauerstoffarm machen, etwa
die Zellen der Fähigkeit berauben , die nötige
Menge Sauerstoff an sich zu reißen?
In der Regel erfolgt jedoch die Bildung von
Ptomaiiien unter der Einwirkung von Bakterien.
Brieger gelang es in einer ganzen Reihe von
Fällen, aus den Kulturen der Bazillen die Ptomaine
in chemisch reinem, kristallisiertem Zustande dar-
zustellen. Die Giftigkeit mancher von diesen
N. F. m. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
297
Körpern ist eine geradezu phantastische ; in tausend-
facher Verdünnung ist eine ganz geringfügige
Menge davon im stände, ein Tier zu töten. Bei
gewissen Infektionskrankheiten , wie z. B. dem
Starrkrampf, kann es wohl auch keinem Zweifel
unterliegen, daß durch die Ptomainvergiftung der
Charakter der Krankheit bestimmt wird. Durch
ihre Stoffwechselprodukte greifen die Bakterien
den Organismus an, der sich nun mit größerem
oder geringerem Erfolg zur Wehr setzen kann.
Aber soviel steht jedenfalls als Ergebnis dieser
Forschung fest: dieser Kampf ist ein Kampf mit
chemischen Waffen.
Haben wir es nun wirklich mit einem Kampf
zu tun? Oder ist dieser Ausdruck nur eine (in
wissenschaftlichen Dingen fast immer unglücklich
gewählte) Metapher, welche uns den in seinem
Wesen rätselhaften Vorgang versinnbildlichen soll :
Was ist jene „Naturheilkraft", die so lange Zeit'
allmächtig unsere medizinischen Systeme be-
herrschte und später ebenso allgemein als ein
mystischer und inhaltsleerer Begriff verschrien und
geächtet wurde r Ist sie nichts anderes als in
jedem Fall gleichsam das zufällige Ergebnis aller
der Erhaltung des Organismus günstigen Momente ?
Aber worauf beruht dann die Beständigkeit, mit
der sie jedesmal in Wirkung tritt ? Wenn eine
Bakterieninvasion einmal stattgefunden hat —
und wir wissen, daß sie tatsächlich fast jederzeit
bei jedermann stattfindet — wodurch wird dann
in vielen Fällen ihre x\usbreitung gehindert, ihre
verderblichen Folgen im Keime erstickt oder
ihnen doch frühzeitig ein Ziel gesetzt ?
Auf diese Frage, gewissermaßen die Grund-
frage der Medizin , lautete die Antwort zu ver-
schiedenen Zeiten höchst verschieden. Man suchte
lange Zeit (es war dies das letzte Opfer, das den
Manen der Humoralpathologie gebracht wurde)
die Ursache für dieses Verhalten in der chemi-
schen Beschaflenheit des Blutes und der Gewebe-
säfte. Der eingedrungene Bazillus nährt sich ja
als Parasit vom Organismus; trifft er auf einen
chemisch günstigen Nährboden, so sollte seine
Entwicklung eine üppige, also für den Wirt ver-
derbliche sein. Ist dem nicht so, so wird er aus
dem Organismus wie jeder andere Fremdkörper
entfernt. Er verursacht dann etwa nur eine Ent-
zündung, aber nicht eine eigentliche Infektion. Die
Sache schien höchst einfach zu sein , und in der
Tat läßt sich eine Menge bekannter Tatsachen
unter diese Hypothese einreihen. Es ließ sich in
einer ganzen Reihe von Fällen der Nachweis
führen, daß das Blut von Tieren, die gegen eine
bestimmte Krankheit immun sind , Stoffe enthält,
die den betreffenden Krankheitserregern verderb-
lich sind. Diese Beobachtung wurde zum Aus-
gangspunkt der Arbeiten über künstliche Immuni-
sation; und die moderne Serumtherapie, unter
deren Zeichen jetzt die Medizin steht, ist die
Frucht dieser Forschungen.
Nichtsdestoweniger unterliegt es keinem Zweifel
mehr, daß diese Theorie nicht der Wahrheit ent-
spricht, d. h. , daß sie jedenfalls nicht die ganze
Wahrheit ist. Analoge Erscheinungen aus dem
Gebiete der normalen Physiologie haben zuerst
die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß das Rätsel
viel tiefer zu suchen ist.
Untersuchungen von Heiden hain zeigten, daß
die Ausscheidungen weder aus physikalischen noch
aus chemischen Momenten genügend erklärt wer-
den können , daß sie eine Lebensfunktion der be-
treffenden Zellen seien. Runeberg wies durch
seine Experimente nach, daß selbst die Durch-
seihung von Eiweiß durch die Blutwandungen
nicht einem gewöhnlichen physikalischen Filtrations-
prozeß vergleichbar sei , während ähnliche Tat-
sachen für die Aufsaugung der Nährstoffe schon
früher durch Neumeister bekannt geworden waren.
.^11 dies deutete darauf hin, daß auch bei den
pathologischen Prozessen die Dinge wohl nicht
so einfach liegen dürften , zumal zahlreiche Aus-
nahmen sehr bald in die ursprünglich gefundenen
„Gesetze" eine Bresche legten.
Da trat der russische Forscher E. Metschnikoff
mit einer neuen Theorie auf Jeder infektiöse
Krankheitsprozeß soll nach ihm ein wirklicher
Kampf des Organismus mit seinen unsichtbaren
P'einden sein. Eine bestimmte Gruppe von Kör-
perzellen, die von ihm sogenannten ,,Phagocyten",
zu welchen besonders die weißen Blutkörperchen
und gewisse Bindegewebszellen gehören, soll nach
Metschnikoff bestimmt sein, diesen Kampf zu füh-
ren. Die Phagocyten greifen die Bakterien an,
verschlingen und töten sie. An mikroskopischen
Präparaten aus frisch erkrankten Geweben sieht
man zahlreiche solche Zellen mit halb oder ganz
verschlungenen Bakterienleibern und die verschie-
dene Färbbarkeit der letzteren mit Anilinfarbstoffen
beweist uns, daß sie nicht mehr in lebendem Zu-
stande sind. Auf den charakteristischen Anblick
solcher Präparate hin konnte Metschnikoff sogar
Prognosen begründen. Es gelang ihm fernerhin
zu zeigen, daß alle Umstände, welche die Tätig-
keit und Beweglichkeit der weißen Blutkörperchen
herabsetzen, auch die Widerstandskraft des Orga-
nismus infektionären Einflüssen gegenüber ver-
mindern.
Der Kampf ist also , wie bereits oben ange-
deutet wurde, ein Kampf mit chemischen Waffen.
Diese Waffen selbst sind in neuester Zeit allem
Anscheine nach gefunden worden. Sowohl die
weißen Blutkörperchen, wie auch die anderen
Phagocyten sind äußerst zellkernreiche Gebilde
und in dem Zellkern hat A. Kos sei eine Substanz,
die Nukleinsäure, gefunden, die eminent bakterien-
tötende Eigenschaften besitzt. Nukleinsäure und
Bakteriengifte — an der Erforschung des Auf-
baues und der Eigenschaften dieser Körper hängt
die Zukunft der pathologischen Chemie !
Aber schon durch die gegenwärtigen Errungen-
schaften der Forschung sind unsere pathologischen
Kenntnisse und Anschauungen gewaltig revolutio-
niert worden. Die von Cohnheim entdeckte Tat-
sache, daß bei der Entzündung massenhafter Aus-
298
Naturwisseiischaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 19
tritt der weißen Blutkörperchen aus den Gefäßen
stattfindet, gewinnt durch die Metschnikoff'sche
Theorie eine neue Beleuchtung. Und abermals
sind es scheinbar fernabliegende Beobachtungen,
durch welche unsere Einsicht auf diesem Gebiete
am meisten gefördert wurde. Dem Botaniker
Pfeffer fiel zuerst die Tatsache auf, daß manche
chemischen Stoffe, wie z. B. Äpfelsäure auf pflanz-
liche oder tierische Zellen direkt als Bewegungs-
reiz wirken , dieselben anziehen oder abstoßen
können. Wir nehmen gegenwärtig nach den grund-
legenden Forschungen von Leber über die Ent-
zündung an, daß ähnliche Reize auch bei dieser
wirken und daß eben die Bakterienprodukte es
sind, welche die Leukocyten zum Austritt aus den
Blutgefäßen und zum Kampfe rufen. Zwischen
der Fülle von biologischen, chemischen und an-
deren Problemen, die das Wort „Entzündung" bei
uns wachruft und dem klassischen Schema des
römischen Arztes: „Calor, dolor, ruber, tumor"
liegt eben eine Welt naturwissenschaftlicher Er-
kenntnis und Gedankenarbeit. Sokal.
Über die Rechtshändigkeit des Menschen
hielt Prof. D. G. Cunningham vor dem Anthro-
pological Institute of Great Britain and Ireland
einen Vortragt), der manche interessante Mit-
teilungen enthält. Es handelt sich besonders
darum, festzustellen, ob bei den ältesten Angehö-
rigen des Menschengeschlechts diese Eigenschaft
bereits in dem Maße entwickelt war, wie in der
Gegenwart. Schon im Jahre 1890 hat Prof E.
V. Martens-) daraufhingewiesen, daß der durch
die schiefe Lage des Herzens bedingte, ein wenig
raschere Blutzufluß zum rechten Arm eine der
Ursachen sein dürfte, welche den Menschen be-
wogen haben, lieber diesen zu gebrauchen als den
linken. Der raschere Blutznfluß zum rechten Arm
ist bedingt: i. dadurch, daß aus dem Bogen der
Aorta zuerst die rechte Armschlagader und die
rechte Kopfschlagader, dann die Hauptader für
die linke Kopfhälfte und zuletzt jene für den linken
Arm kommt; die Schnelligkeit des Blutlaufs nimmt
aber vom Herzen nach den entfernteren Körper-
teilen zu stetig ab; 2. durch den Umstand, daß
die rechte Armschlagader in der Regel eine Strecke
weit, durchschnittlich 27.3 cm, mit der rechten
Kopfschlagader zu einem gemeinschaftlichen Stamm
verbunden ist (Arteria anonyma); das Blut strömt
also zum rechten Arm durch diese Strecke in
einem weiteren Kanal (12 — 15 nirn Durchmesser)
als zum linken Arm durch die gleiche Länge der
linken Armschlagader, die getrennt aus dem Aorta-
bogen mit einem Durchmesser von etwa 10 mm
kommt; je weiter aber der Durchschnitt der
Arterie ist, ein desto geringerer Teil des Blutes
wird durch den Widerstand der elastischen .'\rterien-
wände und den Druck der umgebenden Teile
aufgehahen; 3. durch die oft größere Weite der
rechten Armschlagader. Nun ist aber zum min-
desten nicht gewiß, ob in früheren Jahrtausenden
die rechte Armschlagader ebenso oft wie jetzt etwas
weiter war als die linke, und die vielfach beobachtete
Unbeständigkeit des Unterschiedes deutet darauf
hin, daß derselbe, wo er vorkommt, erst später er-
worben, nicht alt angestammt ist. Aber auch der
Ursprung der Arm- und Kopfarterien aus dem
Bogen der Aorta, die beiden rechten gemeinsam,
die beiden linken getrennt, ist ziemlich unbestän-
dig; die Anatomen geben an, daß unter je 8 Fällen
es in einem sich anders verhält, und so könnte
man mit einiger Kühnheit annehmen, daß auch
die zweite Ursache der rascheren Blutzufuhr zum
rechten Arm, die größere Weite im Anfangsstück,
die auf diesem Gefäßursprung beruht, beim Men-
schen nicht uralt, sondern später erworben sei.
Dann bliebe nur der weitere Weg für das Blut
vom Herzen zum linken Arm, als mechanische
Ursache der Rechtshändigkeit.
Einen Grund dafür, daß die rechte Hand bei
allen aktiven Verrichtungen den Vorzug erlangte,
sieht Prof v. Martens auch darin, daß seit der älte-
sten Zeit bei den Kämpfen der Menschen, sei es
gegen feindliche Stämme oder Tiere, die linke
Hand als Schutzwehr für das Herz gedient hat.
Zahlreiche Beweise sind, wie Prof Cunningham
ausführte, erbracht worden, daß auch in vorge-
schichtlicher Zeit der Verwendung der rechten
Hand eine größere Rolle zukam , als jener der
linken. Es ist anzunehmen, daß die Rechts-
händigkeit in einer sehr frühen Periode der Evo-
lution des Menschengeschlechtes zu einer Charakter-
eigenschaft desselben wurde, wahrscheinlich noch
vor der Entstehung der artikulierten Sprache.
Je tiefer wir jedoch in das Dunkel der prä-
historischen Zeit vordringen, desto mehr finden
wir Belege dafür, daß die in Rede stehende
Eigenschaft damals durchaus nicht so sehr All-
gemeingut der Menschen gewesen war wie
jetzt. Auf Grund des eingehenden Studiums von
Gerätschaften und Waffen aus der neolithischen
Epoche konnten verschiedene Forscher den Be-
weis erbringen, daß in jener Zeit der Prozentsatz
der Hnkshändigen Personen ein ganz bedeutender
war; diese Tatsache hatten u. a. Cannon Green-
well in England, Dr. Mortillet in Frankreich und
Dr. Brinton in Nordamerika festgestellt. ') Es
sind Gründe vorhanden, die zu der Annahme be-
rechtigen, daß in jener Epoche, bevor die mani-
pulative Geschicklichkeit bedeutend entwickelt
war, die Differenz zwischen den beiden Gliedern
nicht annähernd eine so ausgesprochene war als
gegenwärtig.
Weiters wird die Frage aufgeworfen, ob die
Rechtshändigkeit ein spezielles Attribut des Men-
') Journal of the .^nüiropological Institute. Vol. XXXII,
pag. 273—296.
■^) Naturwissenschaft!. Wochenschrift, V. Band, Nr. 47.
') Greenwell : Journal of the Ethnological Society. Neue
Serie,", II, pag. 419—439. — G. de Mortillet: Bull, de la
Societe d'Anthropologic de Paris, tome prem., IV« series, 3°
fasc. — Brinton: American Anthropologist, vol. IX, p. 175.
N. ¥. III. Nr. 10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
299
sehen ist, oder ob er diese Eigenschaft mit den
anthropoiden Affen gemein habe. Die Hand der
letzteren dient nicht nur der Fortbewegung des
Körpers, sondern ihr sind viele von den Fähig-
keiten eigen, welche die menschliche Hand aus-
zeichnen ; es würde daher nicht unberechtigt er-
scheinen, in einem bestimmten Maße die Bevor-
zugung des Gebrauches des rechten Armes bei
diesen Tieren zu erwarten. Die Meinungen hier-
über sind geteilt. Bereits im Jahre 1871 berichtete
Dr. Ogle, daß er unter 23 Affen 20 fand, bei
denen die Rechtshändigkeit ausgebildet war; auch
in letzter Zeit sind mehrere Forscher zu ähnlichen
Resultaten gekommen. Cunningham kann sich
diesen Anschauungen auf Grund seiner langjährigen
Beobachtungen jedoch nicht anschließen; er
konnte bei Affen keinerlei Bevorzugung des einen
oder des anderen Armes bemerken. Auch fand
er, daß die Oberarmknochen von Schimpansen
fast vollkommen gleich ausgebildet waren; ein
auftretender Unterschied sprach sogar zugunsten
des linken Gliedes. Nach diesen Beobachtungen
Cunningham's ist sein Schluß berechtigt, daß in
der Evolution des Menschen die Rechtshändigkeit
nicht früher zur Geltung kam , als die Arme ab-
solut frei von der Benützung zur Fortbewegung
des Körpers und ausschließlich zu Verrichtungen
jener Art verwendet wurden, die ihnen gegen-
wärtig zukommen. Es ist anzunehmen , daß bei
zivilisierten Rassen , die sich mit den höchsten
Formen der manuellen Arbeit betätigen, auch die
Rechtshändigkeit in bedeutenderem Maße ent-
wickelt ist.
Besonders bemerkenswert ist noch eine andere
Beobachtung, welche Cunningham in seinem Vor-
trage erwähnte; englische Arzte fanden nämlich,
daß ein großer Prozentsatz mikrocephaler Idioten
linkshändig ist und noch weit mehr beide Hände
in gleichem Maße gebraucht. Obwohl der Vor-
tragende anerkennt, daß die diesbezüglich gegen-
wärtig zur Verfügung stehende Statistik nicht ge-
nügend erscheint zu weitreichenden F'olgerungen,
so ist er doch geneigt, anzunehmen, daß hier eine
bestimmte atavistische Tendenz hervortritt, zu dem
ambidexteren Zustand zurückzukehren , welcher
der Wahrscheinlichkeit nach dem Urmenschen
eigen war. Fehlinger.
Die Lebensweise der Hummeln. — Der
Artikel über ,,Das Leben der Hummeln" Naturw.
Wochenschr. Nr. 39, 1903 gibt mir Veranlassung
zu einer kurzen Berichtigung. Durch besondere
Umstände wurde dieselbe verzögert. Der Schreiber
jenes Artikels, Herr Forstmeister a. D. R o t h e ,
bemüht sich ,, einige Irrtümer zu heben, die Ein-
gang in die Wissenschaft gefunden haben". Es
werden jedoch keine Irrtümer berichtigt, sondern
eine ganze Anzahl von irrtümlichen Ansichten in
Kurs gesetzt. Die Arbeiten unserer besten Hummel-
forscher Hoffer und Schmiedeknecht schei-
nen Rothe unbekannt geblieben zu sein und
R o t h e bringt daher manches als neu , was dort
längst richtiger und klarer beschrieben ist. Ich
gehe kurz auf einige Hauptirrtümer ein und lasse
zahlreiche Ungenauigkeiten beiseite, wie z. B.
die Angabe, daß die ., Mooshummel" ,, gleichmäßig
rötlichbraun" sei. Rothe meint zweifellos die
Bombus muscorum F., die aber anders gefärbt ist.
Eine ,, gleichmäßig rötlichbraune" Hummel be-
sitzen wir überhaupt nicht in Deutschland. Auch
verlohnt es sich nicht z. B. folgende ganz willkür-
liche Angaben richtig zu stellen. Rothe will
„noch im Juli junge Königinnen der Erdhummel
(Bombus terrestris L.) nach einem Wohnplatz
suchend gesehen haben und behauptet demgemäß,
daß die Erdhummel „viele Wochen vergeblich"
— in diesem Falle also, — da die Terrestris be-
reits im April und Anfang Mai erscheint und auch
in rauheren Gegenden Norddeutschlands (um dieses
Gebiet handelt es sich) jedenfalls Ende Mai da
ist — , zwei bis drei Monate auf der Suche
nach einem passenden Nistplatz sei. Dieser Irr-
tum ist aus einem weiteren entstanden, daß ,, näm-
lich die Mutter selber nur so lange Honig und
Blumenstaub einsammelt, als Junge im Nest noch
nicht vorhanden sind". Die „Mutter" sammelt
auch nocli und zwar stets noch ein, wenn auch
schon flugfähige „Junge" vorhanden sind. Sie
gibt ihre eigene Außentätigkeit meist erst bei
verhältnismäßig kräftiger Entwicklung des Volkes
auf.
„Hier muß ich dringend darauf hinweisen", so
sagt Rothe, „daß die Hummeln kein Wachs er-
zeugen und daher auch keine Zellen bauen. Es
ist ein starker Irrtum, wenn in naturwissenschaft-
lichen Schriften noch jetzt die Behauptung auf-
gestellt wird, daß die Hummeln Wachs zwischen
den Hinterleibsringen ausschwitzten und daraus
Zellen bauten , solche Annahmen sind von dem
Wesen der Hausbienen entlehnt". Was wird der
Herr Forstmeister sagen, daß man herausgefunden
hat, daß die Hummeln nicht allein das Wachs
zwischen den Unterleibsringen herausschwitzen
wie die Bienen, — eine Tatsache die seit langen
Jahren bekannt ist — , sondern jetzt sogar die
Beobachtung gemacht hat, daß das Wachs auch
zwischen den oberen Segmenten des Abdo-
mens ausgeschieden wird. Auf dem Zoologen-
Kongreß in Gießen (1902) ließ Referent „einige
Hummeln kursieren, bei denen die Wachslamellen
auf dem Rücken und am Bauche mit großer
Deutlichkeit zu sehen waren."') Die Hummeln
bauen auch richtige Wachszellen , tragen sie
aber frühzeitig wieder ab, so daß oberflächliche
Einblicke in ein Hummelvolk das Vorhandensein
solcher Zellen nicht leicht ermittelt. Das, was
man gewöhnlich in den Hummelnestern sieht, sind
nicht die ,, Zellen" wie Rothe meint, sondern die
Larvenkokons. Man vergleiche die Abbildung des
') V. Buttel-Rccpen, Die stammcsgeschichtliche Ent-
stehung des Bienenstaates sowie Beiträge zur Lebensweise der
solitären und sozialen Bienen (Hummeln , Meliponincn etc.).
Leipzig, 1903 Enthält auch Verzeichnis der Hummelliteratur.
;oo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 19
Hummelnestes auf Seite 5 1 1 dieser Zeitschrift
Nr. 43, 1903. Rot he hat die richtigen Zellen
auch gesehen, er nennt sie aber „harzige Hüllen"
und erklärt sie nicht weiter.
Der Orientierungsausflug ist gut und richtig
geschildert, weniger richtig ist die biologische
Ursache des „Haarschwundes" bei alten Köni-
ginnen erkannt. „Die alte Mutter des Stockes be-
kommt um diese Zeit auf der Mitte des Rückens
einen runden , kahlen Fleck durch den Schwund
der Behaarung." Rot he scheint nun zu glauben,
daß hier ein Ausfallen der Haare durch das Alter
bewirkt wird, denn er sagt : „diese Stelle, auf
welcher die glänzend schwarze Farbe des Körpers
nun hervortritt, erinnert lebhaft an die Kahlköpfig-
keit unserer Männerwelt". Wir haben es hier
natürlich nur mit einem Abbrechen , Abscheuern
der Haare an der am meisten exponierten Körper-
stelle zu tun, hervorgerufen durch das andauernde
Kriechen in den engen Zwischenräumen im
Neste usw.
„Ausscheidungen lassen die Hummeln niemals
im Neste, sondern stets anderwärts fallen." Diese
Ansicht Rothe's ist ebenfalls unrichtig, dem
widersprechen die Beobachtungen unserer besten
Hummelforscher und auch die des Referenten.
Die größte Konfusion entwickelt Rot he in
dem Bemühen, die Wissenschaft über die Fort-
pflanzungserscheinungen im Hummelstaate zu be-
lehren. Nach ihm entstehen die Männchen nicht
aus unbefruchteten Eiern, es „besteht bei den
Bienen und Hummeln keine Parthenogenesis." Bei
den Bienen hätte das neuerdings ein ,, echter Bienen-
vater" festgestellt: „das Ei geht nämlich so eng
an den Samenbehältern vorüber, daß es von dem
befruchtenden Lüftchen getroffen werden
muß. Ein befruchtender Hauch, den die Bienen-
mutter nicht abzuschließen vermag, trifft das Ei.
Die Samentaschen haben keine Verschlußklappen"
usw. usw. Hier offenbart sich eine so hoffnungs-
lose Unkenntnis der Befruchtungsvorgänge , der
anatomischen, morphologischen und physiologischen
\'erhältnisse, der befruchtende Hauch entführt uns
so in vormittelalterliche Zeiten, daß man
kaum auf irgend ein Lehrbuch der Zoologie oder
Physiologie hinzuweisen wagt. Trotz der Un-
kenntnis aller einschlägigen Verhältnisse behauptet
Rot he, daß er „mit Sicherheit feststellen" konnte,
die Männchen der Hummeln entstünden nicht aus
unbefruchteten Eiern. „Die Exemplare des In-
sekts, denen das Legen unbefruchteter Eier zuge-
schrieben wird", (Rothe meint die Hummel-
arbeiter) „legen überhaupt keine Eier; eine genaue
mikroskopische Untersuchung der inneren Körper-
teile bestätigt, daß diese Individuen durchaus ver-
kümmerte \\'eibchen, geschlechtslose Arbeiter-
hummeln sind". Dabei hat u. a. L e u c k a r t
Hunderte von eierlegenden Arbeiterhummeln
untersucht und gefunden, daß sich keine Spur von
Verkümmerung nachweisen läßt; sie sind voll-
kommene Weibchen in jeder Beziehung, nur in
der Körpergröße in den meisten Fällen der
Königin nachstehend. Aus diesem Grunde schlug
Referent in der angezogenen Arbeit vor, da in
dieser Hinsicht ein großer Unterschied mit den
Arbeitern im Bienenstaat vorwaltet , die sogen.
Hummelarbeiter lieber „Hilfsweibchen" zu nennen.
Auch die Schilderung der Paarungsvorgänge
widerspricht allen bisherigen sorgfältigen und ge-
wissenhaften Beobachtungen. Jedenfalls ist die
geschilderte Ausführung nicht die normale, als
solche aber wird sie hingestellt.
Es gäbe da noch viel zu berichtigen. Referent
schließt aber mit dem Rothe'schen Ausspruch,
dem man durchaus beistimmen kann: ,,Wie leicht
und wie oft tritt bei der Beobachtung der honig-
trageriden Insekten die Phantasie an die Stelle der
Forschung." Dr. v. Büttel.
Über Stelzenpflanzen in unserer einheimi-
schen Flora. — Es ist bekannt, daß einige Ge-
wächse der Tropenzone mit besonderen stelzen-
artigen Organen ausgerüstet sind, deren Aufgabe
ist, den Stamm im Tragen des oft gewaltigen
Gewichtes der Biätterkrone zu unterstützen. Wir
finden diese Einrichtungen besonders bei den
Schraubenpalmen (Pandanusarten), ferner bei
den den weichen Schlamm der Meeresküste be-
wohnenden Mangroven (Rhizo phora), sowie
bei einigen anderen Vertretern tropischer Pflanzen-
familien, bes. Palmen , Clusiaceen und Ficusarten.
Diese Beispiele werden in den botanischen Werken
in der Regel auch angeführt, um die Erscheinung
der Stelzenbildung im Pflanzenreich zu illustrieren.
Daß wir in der europäischen Flora eine Reihe
von Pflanzen haben, welche — wenn auch weniger
auffallend — gleichfalls die Einrichtung von stelzen-
ähnlichen Organen besitzen, scheint wenig bekannt
zu sein.
Die oben erwähnten Stelzen der Schrauben-
palmen und Mangrovebäume sind ihrer morpho-
logischen Natur nach Wurzeln, unterscheiden sich
aber von eigentlichen Wurzeln durch ihren inneren,
dem speziellen Zweck des Stutzens besser ange-
paßten Bau. Während nämlich sonst die Mitte
einer Wurzel in der Regel von einem soliden
Leitbündelcylinder eingenommen wird, finden wir
bei Stützwurzeln eine weite Markhöhlung, um
welche herum die Leitstränge, einen Hohlc}-linder
bildend, angeordnet sind. Dadurch stimmen die
Stützwurzeln mit dem Bau des Stammes überein,
und in der Tat kommt ihnen auch weniger die
mechanische Aufgabe der Zugfestigkeit — wie
den eigentlichen Wurzeln — als vielmehr die-
jenige der Säulenfestigkeit — ähnlich wie der
Hauptachse — zu.
Unter unseren einheimischen Pflanzen kommen
nun Wurzeln von dem oben angegebenen Bau
und entsprechender Funktion bei hohen stark
gebauten Gräsern wie besonders bei Zea Mays
vor, für die genauere Angaben von Haberlandt^)
vorliegen. Eine Pflanze mit ganz vorzüglich ent-
Physiologische Pflanzenanatomie. I. Aufl. p. 129.
N. F. III. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^01
wickelten Stützwurzeln ist ferner Impatiens
noli t an gere (sowie andere Arten der gleichen
Gattung). Die Entwicklung der Stützorgane steht
hier in Beziehung zu dem Substrat, welches von
der Pflanze bewohnt wird; ist dasselbe weich (z. B.
lockerer Sandboden oder VValdhumus), so sind die
Stützwurzeln oft auffallend mächtig entwickelt und
entspringen in mehreren Kreisen am untersten
Knoten, um sich bogenförmig in das Erdreich zu
versenken.
Wo hingegen die Bedingungen für die Bildung
derartiger Stützwurzeln nicht gegeben sind, bleibt
ihre Entwicklung mehr oder weniger aus.
Erwähnt sei noch, daß dieselben auch an einem
der nächstoberen Knoten entstehen können, wenn
eine Impatiens pflanze horizontal gelegt wird.
Schon nach wenigen Tagen erheben sich dann
aus der dem Boden zugewendeten Seite hacken-
Fig. I. Impatiens noli längere; a. Stützwurzeln, welche aus
dem untersten Knoten entspringen ; b. Knickung an einem der
oberen Knoten, daran einige Stützwurzeln (s. Text).
artige Gebilde, welche zu Stützwurzeln auswachsen
und zwar geschieht dies an demjenigen Knoten,
an welchem durch hyponastisches Wachstum
(stärkeres Wachstum der Unterseite) die Vertikal-
stellung des Blütensprosses bewerkstelligt wurde.
Es besteht also offenbar eine Korrelationswirkung
zwischen der durch Geotropismus induzierten Auf-
richtung der Achse und der Stützwurzelbildung (s.
Fig. ib).
Eine Stelzenbildung, welche vollkommen ein-
zig dasteht und für welche auch in der tropischen
Pflanzenwelt bis jetzt kein Beispiel bekannt ge-
worden ist, kommt dadurch zustande, daß nicht
die Wurzel, sondern das Blatt, bezw. der Blattstiel
die Funktion des Stützorgans übernommen haben.
In ausgezeichneter Weise finden wir die Er-
scheinung bei Geranium robertianum (so-
wie auch bei G. lucidum). Hier kommt die
Fähigkeit als Stützorgan zu funktionieren schon
den Keimblättern zu (Fig. 2). Nachdem diese
verwelkt sind, treten die untersten Blätter des
grundständigen Blattquirls an ihre Stelle und,
werden diese gewaltsam (oder indem sie allmählich
verwelken) entfernt , so werden sie wieder durch
die nächst überstehenden Blätter des gleichen
Knotens, welche sich durch epinastisches Wachs-
tum ihrer Ansatzstelle nach unten biegen, abgelöst
(Fig. 3)-
Fig. 2. Junge Pllanze von Ger. robertianum.
Cotyledonen, als Stützorgan funktionierend, h hypocotyles
Glied. 1 erstes Laubblatt.
Fig. 3 stellt eine Pflanze von Geranium robertianum vor,
welcbe als Keimpflanze in einen Topf gesetzt wurde. Zuerst
dienten die Keimblätter als Stützorgane , später die untersten
Grundblätter ; nach dem Verwelken dieser traten die nächst-
oberen Grundblätter an ihre Stelle. Die Blattstiele bleiben
viel länger erhalten als die Spreiten und bilden schließlich ein
Stelzengerüst, welches zusammen mit dem hypocotylen Glied
und den noch tätigen Stützblättern die Pflanze trägt.
Aber auch hier können (ähnlich wie bei Im-
patiens) an einem der darüberstehenden Knoten
Stützorgane zur Ausbildung kommen.
Dieser Fall tritt ein, wenn die Achse einer
Storchschnabelpflanze horizontal gestellt wird.
Dann erfolgt durch hyponastisches Wachstum des
betreffenden Knotens Aufwärtsbiegung des Blüten-
sprosses , zugleich durch epinastisches Wachstum
der Blattstielbasis Senkung des Blattstiels der dem
Boden zugewendeten Blüte. Nur das Blatt selbst
läßt sich in seiner Stellung durch das Licht be-
einflussen, d. h. es nimmt die ihm am meisten
zusagende Lage zur Ausnutzung des diffusen
302
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
19
Lichtes an , was dadurch erreicht wird , daß der
obere Teil des Blattstiels sich bogenförmig krümmt.')
Die korrelative Beziehung, welche zwischen
den sich senkenden Blättern und der sich auf-
richtenden Blütenachse besteht, erinnert lebhaft
an die oben erwähnte Beziehung zwischen Ent-
stehung der Stützwurzeln und Aufrichtung der
Achse bei Impatiens.
Geranium robertianum ist indessen nicht
die einzige Pflanze unserer einheimischen Flora
bei welcher Blätter als Stützorgane dienen. Wir
finden die Erscheinung in ganz ähnlicher Aus-
bildung bei Stella ria nemorum besonders
dann, wenn diese Pflanze an senkrechten Fels-
wänden wächst. Hier dient dann das ganze Blatt
als Stützorgan; es läßt sich in seiner Lage im
Raum durch das Licht nicht beeinflussen, sondern
stellt sich genau in die untere senkrechte Ver-
längerung der Achse, während die anderen Blätter
sehr deutlich auf das Licht reagieren, und eine
für die Ausnutzung des diffusen Lichtes möglichst
vorteilhafte Lage annehmen.
Die Fälle, in welchen endlich nur die Basis
des mehr oder weniger langen Blattstiels als
Stützorgan dient , sind in unserer einheimischen
Flora durchaus nicht selten ; ich beobachtete die
Erscheinung bei den grundständigen Blättern von
Ranunculusrepens, Chelidonium majus,
und verschiedenen anderen. Die Stützwirkung be-
ruht hier im Wesen darauf, daß die ziemlich
starre und mit der Achse fest verbundene (zu-
weilen auch beträchtlich verbreiterte) Blattstiel-
basis dem Boden auffallend fest angepreßt ist.
Prof Dr. F. W. Neger in Eisenach.
') Näheres hierüber siehe Neger, Über Blätter mit der
Funktion von Stützorganen (Flora 1903. p. 371 — 379)'
Die Cisternen der Flechten.') — Die Wich-
tigkeit des Wassers für den Flechtenorganismus
ist von Lichenologen teils auf Grund der geogra-
phischen Verbreitung der Flechten -) erkannt, teils
bei anatomischen Untersuchungen und die Assi-
milation betreffenden Betrachtungen ^) bemerkt, in
letzter Zeit aber auch hinsichtlich der der Fort-
pflanzung dienenden Soredienbildung'') mehr als
vorher hervorgehoben worden. In den Abhandlungen
von Zukal (Morphologische und biologische Unter-
suchungen über Flechten (1895)) ist ein Kapitel
der Aufnahme und Leitung des Wassers durch
die Flechten gewidmet. Es sind jedoch die dort
auf Grund weniger Untersuchungen aufgestellten
Regeln für große Abteilungen der Flechten nicht
allgemein zutreffend.
') Obige ,, Mitteilung" gibt in Kürze die Ergebnisse ein-
gehender Untersuchungen, die im botanischen Institut zu Jena
ausgeführt sind, bekannt. Ein ausführlicher Bericht wird später
an anderer Stelle folgen.
-) Warming, Ökolog. Pflanzengeographic.
') Reinke, Abhandlungen über Flechten. 111, p. 112.
*) Bitter, „Über Variabilität einiger Laiibflechtcn und
über den Einfluß äußerer Bedingungen auf ihr Wachstum."
So nimmt zwar eine Anzahl der Krusten-
flechten das Wasser an der Oberseite auf, je-
doch hat eine Reihe von Untersuchungen bei
Aspicilia, Lecanora, Amphiloma, Calycium etc.
ergeben, daß auch durch den Flechten rand,
besonders wenn das Substrat, auf dem die I'lechte
wächst, Feuchtigkeit unterhalb des F"lechtenthallus
aufsaugt und längere Zeit anhält, das Wasser von
untenher aus dem Substrat aufgenommen wird.
Dieses erscheint als Notwendigkeit, wenn der
Krtistenflechtenthallus, wie z. B. bei Calycium, an
der Oberseite unbenetzbar ist.
Beiden Laubflechten spricht Zukal betreffs
der Wasseraufnahme von einer Art Arbeitsteilung
zwischen Unter- und Oberrinde; jedoch bedürfen
diese Behauptungen noch im einzelnen der weite-
ren Begründung durch Beispiele. In der Gruppe
der Parmelien hält er die Unterrinde vorzugsweise
zur Wasseraufnahme befähigt, während eine An-
zahl von Beobachtungen lehrt, daß die Ober-
rinde und besonders der Rand des Flechtenthallus
die Wasseraufnahme besorgt und die in dieser
Flechtenabteilung besonders häufig braun bis
schwarz gefärbte Unterrindefür Wasser undurchlässig
erscheint. Die Leitung des Wassers im Flechtenthallus
soll nach Zukal „einzig und allein" zwischen den
Hyphen durch Kapillarität stattfinden, und doch
haben Untersuchungen auch hier gezeigt, daß
(z. B. bei Peltigera canina L.) ebensowohl die
Membranen als auch die L.umina der Hyphen bei
der Wasserversorgung mitbetätigt sind.
Die Gattung Gyrophora hat eine interessante
Wasserversorgung, die dem Standorte derselben
besonders angepaßt ist. Diese Flechten nehmen
die Feuchtigkeit vornehmlich durch die Unterseite
auf und halten diese dort, da der Thallus dicht
an das Substrat gedrückt gewachsen und die Ober-
seite zur Verhütung der Verdunstung inkrustiert
ist, auch länger fest. Die Fähigkeit des Fest-
haltens des W'assers ist bei Gyrophora Dilenii und
G. vellea L. noch besonders durch ein dichtes
Rhizinengeflecht unterstützt. So bildet die Unter-
seite der Flechte gewissermaßen eine Cisterne, die
zur Verhinderung der Verdunstung durch die stark
inkrustierte Oberrinde gedeckt wird.
Die S t r a u c h f 1 e c h t e n zeigen wie die übrigen
betreffs der Wasserökonomie große Verschieden-
heit. Allgemein ist bei dieser Flechtengruppe die
Hygroskopizität wirksam. Besondere Vorrichtun-
gen zur Aufnahme einer verhältnismäßig großen
Menge Wasser weisen die Cladonien auf. Sie
haben sich in den Podetien Wasserreservoire ge-
schahen , die durch ihre Durchlöcherung einen
Wasservorrat aufnehmen und für eine Zeit den
Bedarf der ganzen Flechte davon decken.
Die Gallert flechten, von denen hier
Mallotium tomentosum (Hofifm.) und Synechobla-
stus flaccidus (Ach.) erwähnt seien, lassen durch
die besonders auffallende Ouellung eine starke-
Wasseraufnahme erkennen , die nicht durch die
Zwischenräume der Hyphen geschehen kann, da
der Thallus der Gallertflechten interstitienlos ist,
N. F. III. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
303
sondern vermittelst großer Imbibitionsfähigkeit der
ganzen Flechte bewirkt wird. Wie bei den Gyro-
phoreen die Ünterrinde mit dem Rhizinengeflecht,
bei den Cladonien die Podetien, so bildet bei den
Gallertflechten der äußerst quellungsfähige Thallus
im gewissen Sinne eine Cisterne für den ganzen
Flechtenorganismus.
So ist in dem Konsortium der Flechte nicht
nur der Pilz als Einzelindividuum der Wasser-
zuträger und Wasserbehälter für die Alge, sondern
auch der gesamte Flechtenorganismus hat bei
einem Teil der Flechten sich Vorrichtungen für
Wasseraufnahme und Wasserspeicherung geschaffen,
die den Pilz in den Stand setzen, Wasser zu
schöpfen und der Alge zuzuführen und ihn so zu
seiner zur Erhaltung der Alge und des ganzen
Konsortiums notwendigen Funktion zu befähigen.
Fr. Sievers.
Über die atlantische Form des Palolowurms
berichtet Alfred Goldsborough Mayer in
den Berichten des „Brooklyn Institute of Arts and
Sciences" (Vol. I, No. 3). Der Wurm, der dem
pacifischen Palolowurm 'Eunice viridis) von Samoa
und den P'idji-Inseln in vielen Beziehungen ähnelt,
ist Eunice fucata, 1887 von Ehlers beschrieben.
Er kommt hauptsächlich an den Dry Tortugas,
bei Florida, an den Riffen von Porto Rico und
an den Bahama Riffen vor; und zwar lebt er in
langen , gewundenen Röhren auf abgestorbenen
Korallenriffen etc. Das Interessanteste bei dem
Palolowurm ist bekanntlich das Auftreten von
großen Massen desselben zur Zeit der Fortpflanzung.
Die Schwärmzeit des atlantischen Palolowurms
ist nun nach Beobachtungen des Verfassers an eine
ganz bestimmte Zeit gebunden, und zwar wurde
der Fortpflanzungsschwarm während dreier Tage
des letzten Mondviertels zwischen dem 2g. Juni
und dem 28. Juli beobachtet. Die genaueren Be-
obachtungsdaten kann man aus der Tabelle er-
sehen. Im Jahre 1901 bekam man leider den
Hauptschwarm nicht zu Gesicht.
Jahr
Taa: d. Schwarms Zeitd.letztenMondviertels
1898
9., 10. Juli
1899
I., 2. Juli
1900
19. Juh
I90I
? . . .
1902
24., 25., 2!
nun die Schwärmzeit herangekommen ist, kriecht
der hintere Teil des Wurmes rückwärts aus der
Wohnröhre heraus und sucht sich durch Schwimm-
bewegungen von dem Vorderteil, der keine Ge-
schlechtsorgane enthält, loszulösen. Bald bricht er
auch an einer eingeschnürten Stelle ab und schwimmt
in raschen Stößen zur Oberfläche des Meeres
empor. Dies alles geschieht mindestens zwei
Stunden vor Sonnenaufgang, und bald ist das
Meer in der Gegend des Schwarmes milchig ge-
trübt von den Spermatozoen und den Eiern, die
in großer Menge von den Tieren in das Wasser
entleert werden. Damit ist der Lebenszweck des
Tieres erfüllt; nach und nach sinken die Körper
zu Boden, und 2 oder 3 Stunden nach Sonnen-
aufgang ist kein einziges Tier mehr an der Ober-
fläche des Meeres zu sehen. Bei diesem massen-
haften Auftreten ist der Wurm natürlich auch für
viele andere Meeresbewohner, besonders Fische,
eine willkommene Nahrung, wiewohl die äußerst
schnellen Schwimmbewegungen des losgelösten
Hinterendes das Ergreifen nicht leicht machen. Und
selbst wenn ein solches Fortpflanzungsstück an
einem Ende von einem Fisch gepackt wird, so
bricht es an einer beliebigen Stelle durch und
setzt sein Laichgeschäft ungestört fort.
Die in dieser Weise in großen Massen abge-
legten und befruchteten Eier schwimmen an der
Oberfläche des Meeres umher und beginnen schon
nach kurzer Zeit sich zu furchen. Die Furchung
ist eine totale, inäquale. Die Larve, die schon
mit zwei Augen versehen ist, schwimmt eine Zeit-
lang an der Oberfläche umher und sinkt dann
auf den Meeresboden hinab, wo sie sich zum
fertigen Tier ausbildet. Es hat sich gezeigt, daß
sich bei geschlechtsreifen Tieren der hintere Teil
auch bei gewaltsamen Störungen, z. B. Aufbrechen
der Wohnröhre etc. von dem Vorderteil loslöst;
eine Regeneration des die Geschlechtsorgane ent-
haltenden hinteren Teiles des Wurmes ist zwar
noch nicht sicher beobachtet, scheint aber in nor-
malen Fällen stattzufinden. Ernst Röhler.
I 10. Juli
29. Juli
18. Juli
8. Juli
8. Juli 1 27. Juü
Die Tageszeit für den Hauptschwarm waren
in den meisten Fällen die frühen Morgenstunden.
Der .'\nlaß zur Bildung dieser gewaltig großen
Schwärme ist, wie auch in den meisten anderen
Tierklassen, der Fortpflanzungstrieb. Das merk-
würdigste bei diesem Palolowurm ist nun aber
die Tatsache, daß die Schwärme nicht von den
ganzen Tieren gebildet werden, sondern nur von
Bruchstücken derselben. Die Geschlechtsorgane
befinden sich nämlich nur im hinteren Teil des
Wurmes und zwar in den letzten 155 Segmenten.
Die Tiere sind getrennten Geschlechts. Wenn
Bücherbesprechungen.
S. Zaborowski, „L'Homme pr ehis torique",
7 ■"« edition entierement refondue, avec gravures
dans le texte. Paris, Felix Alcan. 187 S. kl. 8".
Der Archivbeamte der Societe d'anthropologie und
Professor an der Ecole d'anthropologie bietet hier
eine gedrängte Übersicht der vorgeschichtlichen Spuren
des Menschen, woran gerade Frankreich so Bedeutendes
aufzuweisen hat. Die Charakterisierung und Unter-
scheidung der einzelnen Zeitabschnitte ist ungemein
anschaulich, so daß die Schrift allen denen warm
empfohlen werden kann, die sich mit geringster Muhe
über den Gegenstand orientieren wollen. Am Schlüsse
bringt der Verfasser seine Ansichten über die Ver-
wandtschaftsverhältnisse der vorgeschichtlichen Rassen
und ihre Ausbreitung durch Wanderungen zum Vor-
trag. Daß man hier mit allem einverstanden sein soll,
ist nicht gerade nötig. Der Wert des Schriftchens
304
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. IQ
liegt in den Tatsachen, die es mitteilt, und in dieser wiedergegeben. Nach kurzer Behandlung des kriti-
Hinsicht ist seine Vollständigkeit und Übersichtlich- sehen Punktes werden dann die verschiedenen Modi-
keit nur zu loben. Otto Ammon-Karlsruhe. fikationen des Mariotte'schen Gesetzes (van der Waals,
Clausius usw.) zusammengestellt. Es folgt die Theorie
Robert Lauterborn, Dr. phil. u. Privatdoz. a. d. der korrespondierenden Zustände und im Schlußkapitel
Univ. Heidelberg, Das Vogel-, Fisch- und
Tie r buch des Straßburger Fisch ersLeon-
hard Baldner aus dem Jahre 1666. Lud-
wigshafen am Rhein (August Lauterborn) 1 903.
Die Einleitung und die erläuternden Anmerkungen,
die Lauterborn zu der Neu - Herausgabe des Bald-
ner'schen Buches bringt, setzen den Text ins richtige
Licht. Baldner, ein Fischer Straßburgs, schrieb seine
Tierbeobachtungen nieder, die für denjenigen , der
historisches Verständnis hat, vielfältiges Interesse bieten.
Eine ausführliche Darstellung über das Baldner'sche
Buch nach einem Vortrage Lauterborn's findet sich
in der Naturw. Wochenschrift vom 15. Sept. 1901.
wird die Kompressibilität der Gasgemische kurz be-
handelt. Der Stoff ist durch Teilüberschriften im
ganzen recht übersichtlich angeordnet. F. Kbr.
i) Prof. E. Mathias, Le point criticjue des
Corps purs. Paris, C. Naud. 1904. 255 pag.
avec 44 fig. — Prix 7 fr.
2) Dr. L. Decombe, La compressibilite des
gaz reels. — Scientia Nr. 21. Paris, C. Naud.
1903. 99 p. — Prix 2 fr.
i) Das Buch ist hervorgegangen aus einem vom
Verf. dem internationalen Kongreß der Physik 1900
erstatteten Bericht. Seit der 1863 erfolgten Ent-
deckung der kritischen Temperatur durch Andrews
sind auf diesem Gebiete zahlreiche Erfahrungen ge-
sammelt worden, die in vielen Punkten eine Abände-
rung der „klassischen" Theorie von Andrews notwen-
Literatur.
Auwers, Artli. : Neue Reduktion der Bradlcy'sclien Bcobacli-
lungen aus den J. 1750 — 1762. i. Bd. Die Begründung d.
Sternkatalogs, die Redulslion der Sonnen- und Planeten-
bcobaclitgn. u. die Bearbeitung der Sektorbeobaclitungen v.
Wanstead und Greenwicli enth. (XII, 634 S.) Imp. 4".
St. Petersburg '03. Leipzig, Voss' Sort. in Komm. — 27 Mk.
Berzelius , Jakob : Selbstbiographische Aufzeichngn. Hrsg.
im /Vuftrage der königl. schwed. Akademie der Wissen-
schaften V. H. G. Söderbaum. Nach der wörtl. Übersetzg.
V. Emilie Wöhler bearb. v. Geo. W. A. Kahlbaum. Amedco
.\vogadro u. die Molekulartheorie. Von Icilio Guar eschi.
Deutseh v. Dr. Otto Merckens. (XIV, 194 S. m. Bildnis.)
Leipzig '03, J. A. Barth. — 5 Mk. ; geb. in Leinw. 6,30 Mk.
Zehnder, Prof. Dr. Ludw. : Das Leben im Weltall. (Ill, 125
S. m. I Taf.) gr. 8". Tübingen '04, J. C. B. Mohr. —
2,50 Mk.
Briefkasten.
Herrn H. W. in Kopenhagen. — Herr Prof. Zuntz in
Berlin wird in der Naturw. Wochenschr. einen Artikel über
,, innere Sekretion" veröffentlichen.
Herrn E. K. in Reibcrsdorf b. ZiUau. — I. .'\ngaben
über Ameisenzucht finden Sic in der Naturw. \\'ochcnschr. in
der Nr. vom i6. April 189g. — 2. Der Algenanflug an den
dig machten. Es knüpfen sich diese im vorliegenden Aquarienwänden wird von Wasser.schnccken abgeweidet, die
Buche ausführlich behandelten Fortentwicklungen an man in das Aquarium tut.
die Natnen Cailletet, Mathias, Colardeau, Avenarius,
Sajotschewsky, Gouy, Galitzin, Nadeschdine, de Heen
u. a. Besonders den neueren Methoden der Bestim-
mung der kritischen Konstanten wird eine sorgfältige
Behandlung zuteil und im VII. Kapitel wird eine voll-
ständige Zusammenstellung der kritischen Daten (Tem-
peratur, Druck, Dichte) für i6'5 Stoffe (darunter 135
organische Verbindungen) gegeben. Den Schluß
bildet eine kritische Besprechung der liquidogenen
Theorien des flüssigen Aggregatzustandes. Es wird
sicherlich dem Physiker hochwillkommen sein, dieses
interessante , aber in den Lehrbüchern meist recht
kurz behandelte Gebiet von einem mitten in der
Spezi alforschung stehenden Fachmann dargestellt zu
finden.
2) Dieses Büchlein behandelt ein verwandtes Gebiet
wie das vorige und dürfte namentlich den Bedürf-
nissen der Studierenden gerecht werden. Ausgehend
vom Mariotte'schen Gesetz werden die Abweichungen
von demselben ausführlich besprochen und die graphi-
schen Darstellungen Amagat's nach seinen bei ver-
schiedenen Temperaturen angestellten Versuchen
Herrn R. Hartmann, Bautzen. — ,,Ein Buch über die
Mineralien des Erzgebirges und Vogtlandes", das Ihren Be-
dürfnissen entsprechen dürfte, ist: August Frenzel, Mineralogi-
sches Lexikon für das Königreich Sachsen. Leipzig, Wilh.
Engelmann, 1874, 380 Seiten, 6 Mk. (Mit Orts- und Sach-
register.) — Max Weg in Leipzig bietet es für 4 Mk., Fried-
laender & Sohn mit 5,50 Mk. an. — Ein neueies Werkchen
dieser Art existiert nicht. Prof. Dr. Sterzel.
Herrn K. K. in Poggendorf. — Ein zusammenfassendes
Werkchen über die fossilen Hautflügler gibt es nicht; man
muß sich schon an die Übersichten in den Lehrbüchern, z. B.
ZiUel's Grundzüge der Paläontologie 2. .\ufl. 1903, halten,
die auch die wichtigere Spezialliteratur angeben. (Übrigens
habe ich in Weltall und Menschheit nicht gesagt, wir seien
„sehr genau" über die fossilen Hautflügler unterrichtet,
sondern nur, daß es um ihre Kenntnis etwas besser bestellt
sei als um die anderer Insekten.) Beushausen.
Herrn U. — Artikel, die gegnerische Ansichten mit Aus-
drücken bekämpfen, die man allerdings oft in philologischen
Schriften findet, so „Unsinn", „schauderhaft", „albern",
„Dummheil" („Sprachdummheit") etc. etc., sind für ein natur-
wissenschaftliches Blatt nicht zu gebrauchen. In der Natur-
wissenschaft werden abweichende .'Ansichten nicht durch Schlag-
und Schimpfworte bekämpft, sondern durch sachliche Gründe.
Inhalt: Franz Neureuter: Die Lebensdauer der Insekten. — Dr. Fr. Drevermann: Wie entstand das rlieinische
Schiefergebirge? — Kleinere Mitteilungen: Sokal: Calor, dolor, rubor, tumor. — Prof. D. G. Cunningham:
Über die Rechtshändigkeit des Menschen. — Dr.v.Butlel: Die Lebensweise der Hummeln. — Prof. Dr. F. W. Ne g e r :
Über Stelzenpflanzen in unserer einheimischen Flora. — Fr. Sievers: Die Cisternen der Flechten. — Alfred Golds-
bor ough May er ; Über die atlantische Form des Pololowurms. — Bücherbesprechungen: S. Zab or o ws ki :
„L'Homme prehistorique". — Robert Lauterborn: Das Vogel-, Fisch- und Tierbuch des Strafiburger Fischers
Leonhard Baldner aus dem Jahre 1666. — I) Prof. E. Mathias: Le point criüque des Corps purs. 2) Dr. L. De-
combe: La compressibilite des gaz reels. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redaliteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Licliterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift vt/lC NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-'West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 14. Februar 1904.
Nr. 20.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 I'fg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inscratenannahmc durcli Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Hlutncnstraiäe 46, Buchhändlcrinseratc durch die
Verlagshandlung erbeten.
Zur Biologie unserer Leuchtkäfer,
[Nachdruck verboten.] \'on Hr. J. Bon
Obschon man den Phosphoreszenzerscheinungen
der Pflanzen und Tiere seit langer Zeit ein leb-
liaftes Interesse entgegenbrachte, weiß man über
die Lebenswelse einheimischer Leuchtkäfer noch
sehr 'wenig. Dies mag zum Teil darin begründet
sein, daß die Flugzeit der Lampyriden äußerst
kurz ist, zum Teil darin, daß die Geschlechtstiere
in der Gefangenschaft leicht sterben. Ich habe
mich nun mehrere Sommer hindurch mit dem
Studium einheimischer Leuchtkäfer befaßt und
habe dabei nianciie interessante biologische Be-
obaclitung machen können.
Unsere Fauna weist an Leuchtkäfern Lampyris
splendidula, Lampyris noctiluca und Phosphaenus
hemipterus auf Am bekanntesten ist jedermann
das Männchen von Lampyris splendidula, das am
Niederrhein unter dem Namen Fürfönksken (Feuer-
funken), in Schwaben unter dem Namen Hans-
vögele (Johannisvögelchen) durch die Lüfte fliegt.
Ich möchte hier gleich erwähnen, daß den meisten
Naturfreunden nur dieses Männchen bekannt ist
aus Gründen, die ich weiter unten aufdecken werde.
Fs ähnelt dem Saatschnellkäfer — Agriotes linea-
tus — unterscheidet sich aber von ihin wesentlich
gardt, .Aachen.
durch 2 pigmentlose Stellen an der X'entralseitc
des vor und drittletzten Abdominalsegments. LJnter,
resp. über denselben liegen die beiden Leucht-
organe, also der Hypodermis unmittelbar an. Sic
nehmen fast die ganze Ventralseite der betreffen-
den Segmente ein und stellen dünne Plättchen dar,
welche bei der Präparation sehr leicht zerreißen.
Sie sind als 2 weiße Flecken auch am lebenden
Tier leicht zu erkennen. Die Leuchtorgane der
Männchen von Lampyris noctiluca liegen als 2 ovale
Gebilde im letzten Abdominalsegment. Da die
anliegende Hypodermis hier nicht ganz vom Pig-
ment befreit ist, so werden die vom Leuchtorgan
ausgesandten Lichtstrahlen im Pigment wesentlich
geschwächt. Damit hängt dann weiter zusammen,
daß diese Käfer durch ihr Licht viel weniger auf-
fallen. Dazu kommt noch, daß die Männchen
dieser Spezies sehr wenig fliegen. Wenigstens
gibt die Tatsache, daß ich diese Käfer nie im
Spinngewebe fand, Grund zu obiger Behauptung.
Daraus ist dann weiter der Umstand zu erklären,
daß ich unter den Tausenden von gefangenen,
fliegenden Geschlechtstieren kein Männchen von
Lampyris noctiluca fand. Man findet sie ausschließ-
3o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
lieh im Grase, oft 4 — 8 bei einem Weibchen, das
durch sein helles Licht den Aufenthaltsort den
Männchen verrät. Die Männchen von Lampj'ris
noctiluca sind größer als die von Lampyris splen-
didula. Bei einiger Vorsiciit kann man sie 6 bis
8 Tage in der Gefangenschaft halten, während die
Männchen der anderen Spezies gewöhnlich inner-
halb 3 Tagen sterben.
Die Weibchen von Lampyris splenüidula sind
breite, dorsiventral abgeplattete Tiere, die weiß-
lich-gelb gefärbt sind; daher ist es auch schwieriger,
ihre weißen Leuchtorgane im nichtleuchtenden
Zustande zu erkennen. Sie haben deren 14 (Fig. l\
Fig. I. L. spl. 9 Ventral. Leuclitorgane gelb. Vergr. lo .Mal.
ein großes an der Ventralseite des 6. Abdominal-
segments, ferner 2, selten 3 Organe an derselben
Seite des 5. Segments, außerdem ein kleines Or-
gan in der Medianlinie des 3. Abdominalsegments
und endlich in den 5 ersten Segmenten je 2
knollenförmige Organe an der lateralen Seite. Diese
letzteren liegen an der dorsalen Seite der Seiten-
zipfel der Pleuren. Sie sind nicht leicht heraus-
zupräparieren, da sie sich in Größe und Farbe
nur wenig von den sie umgebenden Fettkörpern
unterscheiden. Selten leuchten alle knollenförmigen
Organe gleichzeitig. Die Organe des ersten und
drittletzten Segments sind größer und leuchten
viel häufiger als die anderen. Selten leuchtet das
Organ des 2. Segments. Es verdunkelt sich auch
zuerst, wenn dem Tiere die Luft entzogen wird.
Die Käfer trocknen in der Gefangenschaft sehr
leicht aus. Vielleicht ist das eine Ursache ihres
frühen Absterbens in der Gefangenschaft. Die
Weibchen kommen stellenweise in ganz enormen
Mengen vor. So fand ich z. B. in der Nähe des
Philosophenweges zu Heidelberg eine hochgelegene
Waldwiese von etwa '/,, ha Größe dicht mit diesen
Käfern besät. Ich fand auf i qm dieser Wiesen-
fläche 18 Käfer. Sie kehren im Gegensatz zu den
Weibchen der anderen Spezies, dem die dorsal
gelegenen Leuchtorgane fehlen, stets die dorsale
Seite nach oben. Auffällig ist e.s, daß man sehr
.selten 2 Käfer in Copula findet. xAuch findet man
selbst in vorgerückter Stunde die Weibchen ge-
wöhnlich allein. Sie sind leicht zu erkennen an
den Flügelrudimenten, die sie jedoch zum Fluge
nicht mehr befähigen. Diese Rudimente fehlen
Fig. 2. L. noct. ij' Ventral. L = Leuclitorgane, M = Muskeln.
den dunkler gefärbten Weibchen der anderen .Art
vollständig. Auch sind diese viel größer und
plumper als jene, besonders in den letzten Wochen
vor der Eiablage. Die Eier sind sowohl vor als
auch nach ihrer Ablage leuchtend. Die Weibchen
von Lampyris noctiluca haben an der Ventralseite
des 4. und 7. Abdominalsegments je 2 Leucht-
organe (Fig. 2), außerdem je eins an der \'entral-
seite des 5. und 6. Segments. Da letztere sehr
groß sind und ein sehr intensives Licht ausstrahlen
— ich sah das Licht dieser Käfer auf eine Ent-
fernung von 1200 m im Grase eines Abhangs —
eignen sie sich ganz besonders zu physiolcgischen
Experimenten. IDazu kommt noch, daß sie in der
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
307
Gefangenschaft länger leben als alle anderen Leucht-
käfer, falls man für eine möglichst feuchte Atmo-
sphäre sorgt. Sie bewohnen mit Vorliebe Ab-
hänge, die teils fast kahl sind. Sind dieselben
mit Gras bewachsen, so findet man die Tiere oft
hängend an hohen Grashalmen. Auch in der Ge-
fangenschaft versuchen sie möglichst hohe Gegen-
stände zu erklettern. Nimmt man die unbeholfenen
Tiere in die Hand, so leuchten sie ruhig weiter.
Dem VVeibclien von Lampyris spendidula sehr
ähnlich sind die Larven dieser Spezies; diese
Ähnlichkeit kommt auch in der Anordnung ihrer
Leuchtorgane zur Geltung. Die Tiere erinnern
wesentlich an eine Assel, vermögen sich auch wie
diese zusammenzurollen, wenn ihnen Gefahr
droht. Es sind träge Tiere, die in der Gefangen-
schaft verhältnismäßig selten leuchten. Weit reger
dagegen sind die Larven von Lampyris noctiluca
(Fig. 3) und besonders von Phosphaenus hemi-
])terus. Erstere sind schwarz gefärbt und haben an
der dorsalen Seite in jedem Segment jederseits
einen gelben Fleck, der sie leicht erkennbar macht.
Das letzte Segment endigt mit einem Pinsel, den
sie einziehen und ausstrecken können. Sie reinigen
Epti
M
^»imrt»^"''''
^^•%ti
L Tr Xi-:-
l.pd
Fig. 3. L. noct. Larve, quer, um die Anordnung der Leucht-
organc zeigen. L = Leuclitorgane, f'k = Fettkörper, M = Mus-
keln, I'^pd ^^ Epidermis, D ^= Darm, B =r Hauchmark, Th ^=
Tasthaare, Tr = Tracheenslämmchen. Vergr. 20.
mittels desselben ihren Körper vom Schleim der
Schnecken, die sie mit Vorliebe fressen. Findet
man an dunkeln Frühlings-, Herbst- oder Winter-
abenden — wenn also die Geschlechtstiere nicht
vorhanden sind — im Grase ein „Glühwürmchen",
so kann man fast sicher damit rechnen, daß es
die Larve von Lampyris noctiluca ist. Von ihr
unterscheidet sich die Larve von Phosphaenus
hemipterus durch ihre schlanke Gestalt und hellere
Färbung, ferner durch eine tiefbraune bis schwarze
Chitinplattc, die dorsal in jedem Segment liegt.
Auch kann man sie leicht an dem rosa gefärbten
Fettkörper erkennen, der zwischen diesen Platten
durchschimmert imd bei den übrigen Leuchtkäfern
weiß gefärbt ist. Die beiden Leuclitorgane liegen
— gerade wie bei der Larve von Lampyris nocti-
luca — als ovale Knollen von der Größe eines
Stecknadelkopfes im vorletzten Abdominalsegment.
Über die Flugzeit der einheimischen Leucht-
käfer sind die Meinungen noch sehr verschieden.
Die ersten Männchen von Lampyris splcndidula
fand ich 1901 am 3. Juni, 1902 am 22. Juni, 1903
am 19. Juni, allerdings nur sporadisch, die letzten
Exemplare am 18., 17. und 14. Juli. Die Haupt-
flugzeit ist Ende Juni. Man findet die Käfer als-
dann besonders häufig in lichtem Gebüsch, stellen-
weise in ganz enormen Mengen, oft 20 — 30 zu
gleicher Zeit, besonders an ruhigen, schwülen
Abenden. Sie fliegen einige Minuten ruhig durch
die Luft, lassen sich dann im Grase oder auf einem
Raumblatt nieder, um nach kurzer Rast weiter
zu fliegen Dieses Spiel beginnt gegen 9'., Uhr
und dauert bis II, höchstens 1 1 '/._, Uhr. Nach
dieser Zeit findet man die Käfer höchstens ein-
zeln. Die Weibchen dieser Spezies habe ich selten
vor zehn Uhr leuchtend gefunden. Sie leuchten
jedoch fort bis zum nächsten Morgen, besonders
intensiv, wenn sich ihnen die Männchen nähern.
Doch findet man verhältnismäßig selten Männchen
bei den im Grase lebenden Tieren. Ganz anders
bei Lampyris noctiluca. Die Weibchen dieser Art,
die schon mit Anbruch der Dunkelheit ihr helles
Licht ausstrahlen, findet man in vorgerückter Stunde
selten allein. Gewöhnlich haben sich ihnen mehrere
Männchen, oft bis zu 8, zugesellt, stets eins in
Copula mit dem Weibchen. Sobald das Weibchen
Gesellschaft gefunden hat, gibt es seine Rücken-
lage auf Bis dahin lag es nämlich auf dem Rücken,
das .Abdomen mit den Leuchtorganenen empor-
streckend.
Die Männchen und Weibchen von Lampyris
noctiluca findet man bereits mehrere Wochen vor
den übrigen Geschlechtstieren leuchtend, in manchen
Jahren schon Mitte Mai. Daß sie aber um diese
Zeit selten leuchtend gefunden werden, ist wohl
darin begründet, daß man die Männchen dieser
Gattung aus bereits erwähnten Gründen überhaupt
selten sieht. Am meisten aufmerksam auf die
Flugzeit der Lampyriden wird man aber bekannt-
lich durch die fliegenden Männchen von Lampyris
splendidula. Wenn die aber fliegen, so ist die
Haujjtflugzeit von Lampyris noctiluca bereits vor-
über. Daher war man bislang der Ansicht, Lam-
pyris noctiluca sei in Deutschland viel schwächei'
vertreten als Lampyris splendidula. Wie zahlreicli
sie jedoch vorhanden sind, davon legt die oft in
großen Mengen auftretende Larve dieser Art be-
redtes Zeugnis ab. So fand ich z. B. in der Nähe
von Bruchsal an den Böschungen eines Hohlwegs,
die sich etwa 10 Minuten weit erstrecken, ein Licht
neben dem anderen, so daß ich von einem Stand-
punkte aus über 50 Lichter zählen konnte. Auch
an den Ufern des Lohgrabens zu Bornheim am
Niederrhein kann man die Larven zu Tausenden
fangen. Vor ihrer Verpuppung scheinen sie größere
Wanderungen anzutreten. Ich fand wenigstens zu
dieser Zeit viele Tiere an den Mauern, unter Stein-
haufen, Holzhaufen etc. eines in der Nähe des
Grabens befindlichen Guts, wo ich sie zu anderen
Zeiten nie sah. Auch die Wege, welche zu dem-
selben führen, waren mit vielen Larven bedeckt.
Wie häufig nun die Larven an gewissen Ortlich-
keiteii auftreten, so kann man oft doch selbst bei
3o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
der günstigsten Witterung viele Stunden die schein-
bar geeignetsten Gebiete durchwandern, ohne ein
Exemplar zu finden. Dieses lokale Auftreten findet
man in noch höherem Grade bei den Larven von
Phosphaenus hemipterus. Der Käfer soll bei uns
selten vorkommen; trotz vielen Suchens habe ich
auch nur ein Männchen gefunden, und zwar auf
der Terasse des Heidelberger Schlosses sehr ver-
steckt. Wenn ich aber bedenke, in welchen
Scharen die Larven dieser Spezies in der Koniferen-
anlage des Heidelberger Schlosses und auf dem
Heidelberger Friedhof auftreten, so möchte ich
das seltene Vorkommen des Käfers doch sehr
bezweifeln. Man wird ihn wahrscheinlich deshalb
so sehr selten finden, weil er eine sehr versteckte
Lebensweise führt. Auch in der Gefangenschaft
läuft er unruhig hin und her, gerade wie die
Larve. Die Larven unserer Leuchtkäfer leuchten
das ganze Jahr hindurch. Nach Wielowiejski er-
schien das für die Larve von Lampyris splendidula
noch zweifelhaft. Ich habe dieselben jedoch im
Februar, März, April, Juni und November leuchtend
gefunden. Außerdem brachte mir Herr Professor
Dr. Lauterborn 14 Exemplare, die er am Sylvester-
abend in Johanniskreuz (bayrische Pfalz) fand.
Außerdem schickte mir ein Freund Mitte Oktober
3 leuchtende Larven aus dem Harz.
Bislang hielt man die Lichtproduktion der
Leuchtkäfer für eine Oxydation. Wenn man näm-
lich lebende Männchen von Lampyris splendidula
in eine wässerige Lösung von Osmiumsäure (OsOj)
legt, so erkennt man schon nach einer 3 stündigen
Einwirkung dieser Säure bei schwacher Vergröße-
rung viele kleine schwarze Punkte in den Leucht-
organen. Bei stärkerer Vergrößerung stellen sie
sich uns als sternförmige Gebilde (Fig. 4) mit
vielen Ausläufern dar, die als eine Erweiterung
der Tracheenmatrix aufzufassen sind. M. Schnitze
nannte sie Tracheenendzellen. Da sich nun diese
Zellen schon schwärzen, bevor das übrige Plasma
von der farblosen Säure überhaupt beeinflußt wird,
sie also in der Tat ein großes Reduktionsvermögen
verraten, so nahm man an, daß hier auch die
Verbrennung besonders intensiv sei. An diesen
Endzellen soll daher die Lichtentwicklung zuerst
auftreten und sich von ihnen auf die übrigen
Leuchtzellen verbreiten. Bestärkt wurde man in
dieser Ansicht noch dadurch, daß die Leuchtkäfer
das Leuchten einstellen sollen, sobald man ihnen
die Luft entzieht oder aber sie in indifferente
Gase bringt. Nun ist es zum mindesten auffällig,
daß nur in den Leuchtorganen der Männchen von
Lampyris splendidula eine solch starke Osmium-
reduktion eintritt, obschon doch z. B. das Weib-
chen von Lampyris noctiluca viel intensiver leuchtet.
Auch ist es sonderbar, daß die Tracheenendzeilen
anderer Organe auch ein großes Reduktionsver-
mögen aufweisen, ohne daß die betreffenden Or-
gane leuchten. Dahin gehören z. B. die Tracheen-
endzeilen in den Sericterien der Raupen, ferner
diejenigen in den Samenschläuchen der Lampy-
riden und dem Fettkörper derselben. Es ist mir
nun experimentell der Nachweis gelungen, daß die
Lichtentwicklung nicht als eine einfache Oxyda-
tion aufgefaßt werden kann. Zu dem Zweck
brachte ich Weibchen von Lampyris noctiluca in
eine Glasröhre, durch die ich Kohlenoxydgas leitete.
Obschon das Licht sämtlicher Käfer in 5 — 15
Minuten verschwand, kehrte es doch stets wieder,
wenn ich den Strom unterbrach und das Röhr-
chen verschloß. Ja, selbst Tiere, die 5 Tage lang
im Kohlenoxydgas sich aufgehalten hatten, leuch-
teten noch. Sobald ich aber von neuem das
giftige Gas durch die Röhre leitete, so daß ein
Gasstrom die Röhre passierte, erlosch auch das
letzte Licht. Es stellte sich aber wieder ein, wenn
ich den Strom unterbrach und das Röhrchen ver-
Trp
J
Fig. 4. L. spl. c^. Horizontalschnitt, Tracheenendzellen mit
Fortsätzen. Tre = Tracheenendzclle, f= Fortsätze derselben,
Kp = Kapillaren, von Fortsätzen umgeben, Zg = Zellgrcnze,
K = Kern, Tr = Tracheenstamm. Vergr. 940.
schloß. Ähnlich wie in Kohlenoxydgas verhielten
sich die Käfer in der Kohlensäure und im Wasser-
stoff. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß die
Käfer, welche 5 Tage lang dem giftigen Kohlen-
oxydgas ausgesetzt waren und während dieser Zeit
regungslos auf dem Rücken lagen , sich wieder
erholten, nachdem ich sie auf feuchtes F"iltrier-
papier legte. Auch die Tiere, welche 4 Tage in
einer Atmosphäre von Kohlensäure lebten, ohne
ein Lebenszeichen von sich zu geben, liefen wieder
munter umher, nachdem sie 18 Stunden auf feuchtem
Fließpapier gelegen hatten, .\hnlich wie in den
indifferenten Gasen verhielten sich die Käfer, wenn
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
309
ich Sauerstoff oder Stickstofifoxydul durch das
Röhrchen leitete. Da sich nun die Käfer in den
in ihren Eigenschaften und Wirkungen so sehr
verschiedenen Gasen so wenig verschieden ver-
hielten, so lag die Annahme nahe, daß nicht der
WasserstofifoderdieKohlensäure, also das indifferente
Gas selbst es ist, welches das Leuchten vernichtet,
sondern der Gasstrom. Die Richtigkeit dieser
Vermutung wurde durch das Experiment bestätigt.
Leitete ich nämlich einen Luftstrom durch ein
Röhrchen, in dem sich Leuchtkäfer befanden, so
stellten dieselben das Leuchten ein. Wurde aber
der Luftstrom unterbrochen, so begannen die Kater
nach wenigen Minuten wieder zu leuchten. Nach
diesen Experimenten kann das Leuchten unmög-
lich als einfache Oxydationserscheinung erklärt
werden.
Legt man ein Leuchtorgan auf ein Stück Lösch-
papier, um es nach einigen Minuten wieder zu
entfernen, so leuchtet das Papier — falls man das
Organ vorher andrückte — noch nach 8 Tagen.
Auch die Finger, zwischen denen man ein Leucht-
organ zerdrückt, leuchten weiter. Ich habe sogar
12 Tage nach ihrem Tode Leuchtkäfer noch
leuchten sehen. Dann aber scheint ein allmäh-
licher Zerfall einzutreten, der ein Fortleuchten un-
möglich macht. Ganz anders aber verhalten sich
Leuchtorgane, die sorgfältig getrocknet und dann
in einem möglichst luftverdünnten Räume auf-
bewahrt werden. Nahm ich nämlich die also be-
handelten Organe aus dem Vakuum, so leuchteten
sie nicht. Benetzte ich sie aber mit einem Tropfen
destillierten Wassers, so kam das Licht nach einigen
Minuten wieder zum Vorschein. Selbst solche
Organe strahlten alsdann ein ziemlich intensives
Licht aus, die ein Jahr lang im evakuierten Glas-
röhrchen aufbewahrt worden waren. Merkwürdig
verhalten sich die Leuchtorgane auch in verschie-
denen Temperaturen. In ein Kochfläschchen mit
Wasser gelegt, leuchtete das Weibchen von l^am-
pyris noctiluca unter 23" C niclit. Bei allmäh-
licher Steigerung der Temperatur leuchtete es
anfangs schwach, allmählich stärker, bis das Thermo-
meter 48" C zeigte. Erst bei 59° C hörte das
Leuchten des bereits toten Tieres ganz auf und
war nicht mehr zum Vorschein zu bringen. In
einer Kältemischung von — 21*' C leuchtete der
Käfer nicht. Nahm ich aber das Röhrchen mit
den erstarrten Käfern in die hohle Hand, so
leuchteten sie nach kurzer Zeit wieder. Ja, Dubois
konstatierte, daß die Pyrophoren in einer Tempe-
ratur von — iCo" C noch deutlich leuchteten.
Ferner wies dieser Forscher nacli, daß getrocknete
Leuchtorgane, welche einem Druck von 6oo Atmo-
sphären ausgesetzt wurden, noch intensiv leuchteten.
Es ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob
der Leuchtprozeß der Willkür der Käfer unter-
worfen sei. Lange Zeit glaubte man diese Frage
verneinen zu müssen, da man keine Nerven auf-
zufinden vermochte, die mit den Tracheenend-
zellen in Verbindung stehen. Viele Beobachtungen
an lebenden Käfern sprechen jedoch für die .An-
nahme, daß die Tiere das Leuchten nach Belieben
einstellen können. So ist z. B. an windigen
Abenden leicht zu beobachten, wie das Licht der
fliegenden Lampyridenmännchen plötzlich ver-
schwindet, um dann ebenso plötzlich wieder auf-
zutauchen. Beobachtet man den Käfer — der an
solchen Abenden sehr unruhig in Zickzacklinie
fliegt — jedoch sorgfältig, so gewahrt man, daß
das Leuchten keineswegs eingestellt wird, daß der
Käfer vielmehr das Abdomen fortwährend unter
den Thorax schlägt, so daß die ventrale Seite mit
den Leuchtorganen nicht zu sehen ist.
Auch die Larven von Lampyris noctiluca
scheinen die Fähigkeit zu besitzen, ihr Licht plötz-
lich verschwinden zu lassen. Wenigstens ent
schwindet das Licht dann plötzlich unseren Blicken,
wenn man den Käfern nahe kommt, so daß sie
ohne Laterne nur mit Mühe zu fangen sind. Die
Tiere sitzen nämlich mit \'orliebe auf Grashalmen.
Sobald sie aber ein Geräusch merken, lassen sie
sich auf die Erde fallen, wo ihre ventral gelegenen
Organe natürlich den Blicken des Verfolgers ent-
rückt sind. Aber das Leuchten stellen sie damit
nicht ein. Wären die Tiere imstande, das Leuchten
durch den Einfluß des Nervensystems zu unter-
drücken, so müßte man sich ja immerhin darüber
wundern, daß z. B. die Weibchen von Lampyris
noctiluca ruhig w^eiter leuchten, wenn man sie aus
dem Grase holt und auf die Hand legt, oder daß
sie das Leuchten nicht einstellen, wenn man sie
aus der Dunkelheit plötzlich einem grellen Lichte
aussetzt. Auch die Tatsache spricht gegen den
Einfluß des Nervensystems auf den Leuchtprozeß,
daß die Tiere post mortem weiter leuchten. Wohl
ist anzunehmen, daß die Absonderung eines Leucht-
stoffes der Willkür des Tieres bis zu einem gewissen
Grade unterworfen ist. Ist der Stoff aber ausge-
schieden, so leuchtet er, mag der Käfer es wollen
oder nicht. Daß diese Substanz in kurzer Zeit in
relativ großen Mengen ausgeschieden werden kann,
beweist eben die Tatsache, daß manche Lam-
pyriden noch 12 Tage nach ihrem Tode leuchten.
In Zusammenhang mit obiger Frage steht die
Frage nach dem Zweck der Leuchtorgane, die oft
zur Diskussion gestellt wurde. Von verschiedenen
Seiten werden sie als Abschreckungsmittel gegen
Feinde gedeutet. Leben nämlich viele Lampyriden
mehrere Stunden in einem kleinen Gefäß, so be-
merkt man einen sonderbaren Geruch, der ge-
nügen soll, die Lampyriden ungenießbar zu machen.
Die Wirkung dieses Geruchs wird jedoch ent-
schieden überschätzt. Unsere Spinnen beweisen
wenigstens, daß die Leuchtkäfer trotz desselben
recht genießbar sind. So findet man z. B. an den
Mauern der Heidelberger Schloßruine oft Hunderte
von Männchen der Lampyris splendidula, welche tot
und ihrer Säfte beraubt sind. Die Käfer scheinen
sich nämlich am Tage mit Vorliebe in den Mauer-
ritzen aufzuhalten. Die Spinne spinnt alsdann vor
diese Ritzen ihre Netze, so daß die Käfer, sobald
sie ausfliegen, sich gefangen sehen. Auch am
Waldesrande habe ich oft Spinngewebe gefunden,
3IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
in dem sich bis zu 12 Käfer befanden, die aus-
gesogen waren, aber noch lange leuchteten. Auch
unsere Eidechsen fressen in der Gefangenschaft
die einheimischen Leuchtkäfer. Für die Möglich-
keit, daß die Leuchtorgane ihren Trägern als Ab-
schreckungsmittel dienen, suchte man die Tat-
sache ins Feld zu führen, daß sich die Indianer
der Cucujos bedienen sollen, um ihre Hütten von
dem nächtlichen Besuch der Moskitos zu befreien.
Das klingt jedoch zum mindesten sonderbar, wenn
man bedenkt, daß die meisten Insekten dem Lichte
zustreben.
Für ein Schreckmittel gegen die Feinde halte
ich demnach die Leuchtorgane nicht, wohl aber
für sekundäre Geschlechtscharaktere. Für diese
Behauptung spricht zunächst die leicht zu kon-
statierende Tatsache, daß die Weibchen von Lam-
pyris noctiluca abends stets auf dem Rücken liegen.
Sobald sich ihnen Männchen derselben Spezies
nähern, sind sie nach Kräften bemüht, das Ab-
domen mit den ventral gelegenen Leuchtorganen
emporzustrecken, weil dadurch das Licht selbst
aus weiter Ferne wahrzunehmen ist. Nach der
Flugzeit der Männchen aber fand ich die Weibchen
von Lampyris noctiluca stets in natürlicher Lage,
also die ventrale Seite nach unten. Auch fliegen
die Männchen stets von außen gegen die Flasche,
wenn man leuchtende Weibchen in ihr trägt. Es
ist dies fast das einzige Mittel, die Männchen dieser
Art zu fangen, da sie während des Fluges infolge
ihrer schwachen Leuchtfähigkeit den Blicken des
Menschen entgehen. Auch das Verhalten der
Weibchen von Lampyris splendidula spricht für
die Richtigkeit obiger Behauptung. Sie leben mit
Vorliebe an Abhängen in der Nähe des Wald-
randes. Sobald aber die Flugzeit der Männchen
vorüber ist, kriechen sie in den Wald hinein, täg-
lich um etwa 3 — 4 m weiter, wo sie natürlich
nicht so leicht entdeckt werden. Wollen wir
jedoch die Leuchtorgane nur als sekundäre Ge-
schlechtscharaktere auffassen, so bleibt es ja aller-
dings sonderbar, daß die Weibchen nach der Flug-
zeit der Männchen überhaupt noch mehrere Wochen
leuchten. Auch müßten die Weibchen von Lam-
pyris noctiluca, nachdem sich ihnen mehrere
Männchen zugesellt haben, das Leuchten einstellen,
da es alsdann seinen Zweck erfüllt hätte. Sie
leuchten jedoch auch unter diesen Umständen die
ganze Nacht. Endlich wäre auch das Leuchten
der Eier und Larven vollständig überflüssig, wenn
die Leuchtorgane nur dazu dienten, die Männchen
anzulocken.
Zur Geschichte des Sandflohs (Sarcopsylla penetrans L.) in Afrika.
[Nachdruck verboten.
In dem Reisewerke „Die Loangoexpedition" be-
richten die Forscher Güßfeldt , Falkenstein und
Pechuel-Loesche von dem Auftauchen der Sand-
flohplage in Afrika. Im September des Jahres 1872
brachte ein englisches Schiff das Ungeziefer von
Brasilien mit nach Ambriz. Bald hatten sich die
Tiere an der ganzen Küste Westafrikas verbreitet.
„Ihre erste rasche und sprungweise Verbreitung
fanden sie vorzugsweise durch Küstenfahrer, deren
Bemannung mit ihnen behaftet war. Landeinwärts
waren sie am schnellsten in jenen Gebieten ver-
schleppt worden, in welchen die alten vielbegange-
nen Karawanenstraßen nach dem Innern führten,
vornehmlich also im Süden vom Kongo. Von der
Loangoküste hatten sie im September 1875 das
allen Verkehr hemmende Gebirge noch nicht über-
schritten." (L.-E. III, 298 ff.) Hesse stellte dann
in seiner Arbeit „Die Ausbreitung des Sandflohs"
(Geogr. Ztschr. V, o) das allmähliche Vordringen
des lästigen Eindringlings dar. Alle diese Tat-
sachen stehen fest.
Nun findet sich aber in den ,, Schiffahrten" des
Baseler Wundarztes Samuel Braun, Basel 1624, fol-
gende Stelle: ,,Es (das Land Congo) ist aber das
ungesundeste Land / als man weit und breit findet/
denn neben allerley bösen Krankheiten / bekommt
man auch eine Plag / welche sie Peysy nennen /
sind kleine Würmlein / wie sie im Käs pflegen zu
wachsen / mit schwarzen Köpfen. Welche Würm-
lein in des Menschen Fundament oder After / wie
Von Dr. Georg Henning.
auch in die Hand und Fuß zwischen den Nägeln
und dem Bette kommen / und dasselbige auffressen/
daß es in 3 oder 4 Tagen ein Loch im After so
groß machet / daß man ein Faust darein stoßen
könnte / davon der Mensch in neun Tagen sterben
muß / wo man nicht beyzeiten hilft. Aber ehe
man die Sachen lernet kennen / kostet es oft viel
Volk. Die einige Hilfe ist / eine Lemonen spalten
oder schälen / und also ganz in das Fundament
stecken. Also werden sie durch die Schärfe der
Lemonen getötet und zerstöret / daß der Mensch
wiederum zu seiner Gesundheit kommt. Allein /
wie angedeutet / muß man nicht zu lang warten /
sonst wäre es nicht möglich zu helfen." Soviel
sagt Braun in dem Bericht über seine erste Reise
nach Westafrika während der Jahre 1611 — 1613.
Er selbst weiß nicht, in welcher Weise er die
Krankheit zu deuten hat. Den Guineawurm meint
er nicht, denn einmal würde die Beschreibung
nicht im mindesten passen, und zweitens finden
wir über diese Plage im Bericht der dritten Reise,
nach der Goldküste 161 7 — 1620, ganz ausführliche
und sachliche .'\ngaben. Es liegt nahe, bei der
Krankheit ,, Peysy" an den Sandfloh zu denken.
Ich will versuchen, eine Übereinstimmung nach-
zuweisen. Halten wir zu diesem Zwecke den Be-
richt Brauns und den der Loangoexpedition ein-
ander gegenüber. Eine Übereinstimmung ist ganz
un7.weifelhaft ; nur daß die Forscher der Loango-
ex[)edition das Übel in seinem Ursprung erkannten
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliclic Wochenschrift.
311
und vom Sandfloh erzählen, während Braun die
Ursache des Leidens aus Unl<enntnis mit Still-
schweigen übergeht und von den Würmern be-
richtet, die er wahrnahm. Unter den „Würmlein"
Brauns können aber nur die Larven zu verstehen
sein, die sich in den „Eiersäcken" (L.-E. I, 150)
bilden. Der Ort des Auftretens, namentlich im
Nagelbett, ist in beiden Berichten derselbe; daß
bei Braun auch noch andere Körperteile in Frage
kommen, widerspricht durchaus nicht der Wirk-
lichkeit, vielmehr erhält diese Bemerkung ihre Be-
stätigung durch die Arbeit von Hesse, in der es
bezüglich des Sandflohs heißt : „Büttner beobachtete
in San Salvador, daß die Zöglinge der englischen
Mission an sehr schlimmen, tieffressenden Ge-
schwüren litten, besonders am Gesäß, infolge ihrer
Gewohnheit, auf der bloßen Erde zu sitzen."
Der Grund, weshalb Braun den Sandfloh selbst
nicht wahrnahm, ist leicht zu finden, ,,die Sand-
flöhe sind kaum sichtbare Tiere, die sich in das
Fleisch des Menschen, namentlich unter die Nägel
der Zehen einbohren, dort ihre Eier legen, und
dann eine schmerzhafte Entzündung hervorrufen."
(L.-E. I, 150.) Der Mensch, dem die Plage neu
ist, kann also erst zum Bewußtsein des Leidens
kommen, wenn die Entzündung eingetreten ist, da
„die Einbohrung des Insekts unter die Haut keiner-
lei abnorme Empfindung an Ort und Stelle her-
vorruft" oder höchstens für einen „Europäerfuß
das Vorhandensein durch ein unerträgliches Jucken
unmittelbar bemerkbar wird, das man sich nicht
erklären kaim". (L.-E. II.) So erging es auch Braun
und seinen Leuten, und „das Übel hatte um so
schlimmere Folgen, je ratloser man ihm anfänglich
gegenüberstand". (L.-E. II, 85.) Bei dem Bemühen
des Ungeübten, also auch Braun's, die Entzündung
zu beseitigen, wurde aber „die zarte Membran des
Eiersacks durchstoßen, und die Wunde bildete
eine neue Brutstätte für Individuen. Es traten
Eiterungen und große Schmerzen ein." (L.-E. I,
150.) Das ist das Stadium der Krankheit, welches
Braun anführt. Er beschreibt nun den Krankheits-
erreger: „es sind kleine Würmlein mit schwarzen
Köpfen", oder mit den Worten Falkenstein's: ,,das
Tier erscheint als ein kleiner dunkler Punkt in
einer weißlichen Perle." Da man anfangs des
Übels nicht Herr zu werden wußte, verlor Braun
„viel Volk"; es sind dies dieselben Folgen, die
Pechuel-Loesche erschöpfender angibt: ,,Bei Un-
achtsamkeit treten bösartige Entzündungen sehr
häufig ein, bei fernerer Vernachlässigung oder
falscher Behandlung können diese Verstümmelung
und selbst Verlust des Gliedes, unter LTmständen
selbst den Tod des Leidenden herbeiführen". (L.-E.
III, 299.) Dies alles paßt ganz auf das der Plage
gegenüber ratlose Schifisvolk. Als Braun dann
begriffen hatte, worauf es bei Behandlung der
Krankheit ankam, suchte er das Leiden nach dem-
selben Prinzip zu heilen , das auch Falkenstein
anwandte: Ausbrennen der Wunde. Nur brachte
dieser Höllenstein und Perubalsam zur Anwendung.
Braun half sich mit dem scharfen Safte der Limonen.
Aus dem Vergleich ergibt sich demnach nichts
Widersprechendes, vielmehr nur Übereinstimmen-
des zwischen beiden Berichten : Krankheitserreger,
Verlauf der Krankheit, Folgen und Behandlung
derselben sind genau dieselben. Wir könnten also
schon aus dem oben Angeführten behaupten, daß
Braun von der Sandflohplage schreibt ; aber auch
der Name „Pej'sy", den Braun der Krankheit gibt,
ist schließlich ein weiterer Beweis. Einer Neger-
sprache entstammt das Wort kaum; lauten doch
auch die Bezeichnungen, die in der „Loango-
expedition" als der .Sprache der Eingeborenen ent-
stammend aufgeführt sind, ganz anders. Ohne
mich auf sprachliche Erörterungen einlassen zu
können, möchte ich nur fragen, ist „Peysy" nicht
eine Verstümmelung des portugiesischen Namens
des Sandflohs ,,bicho" (spr. bischu), den Hesse an-
gibt? Eine solche Verstümmelung wäre nichts
Seltenes, und Braun sowohl als alle anderen Reise-
beschreiber damaliger Zeit leisten sich noch ganz
andere Verdrehungen, die mit dem ursprünglichen
Ausdruck noch viel schwieriger in Einklang zu
bringen sind. Und Portugiesisch war zu Braun's
Zeit am Kongo die maßgebende europäische
Sprache.
Weshalb ist Braun der einzige, der von dem
Sandfloh in Afrika vor der deutschen Loango-
expedition berichtet? Bei keinem anderen Reisen-
den, soweit zu übersehen ist, finden wir eine ähn-
liche Notiz. Die Reisenden, die nach dem Kongo
gingen, waren entweder Kaufleute oder Missionare.
Jeder verfolgte bestimmte Interessen , die des
Handels oder der Kirche. Nun kam ein Arzt in
diese Gegenden, den keine bestimmte Aufgabe,
sondern bloß der allgemeine Wunsch, die Welt
zu sehen, leitete. Der hatte für alles Interesse,
und es ist natürlich, daß er seine Aufmerksamkeit
auch den Krankheiten zuwendet und somit auch
der ihm völlig fremden und unerklärlichen Krank-
heitserscheinung, die der Sandfloh hervorrief, Er-
wähnung tut.
Die einzige Beschreibung von Kongo, die wir
aus der Zeit unmittelbar vor Braun besitzen, ist
die des Lopez, der 1578 nach dem Königreich
Kongo ging. Sein Reisewerk entstand nach seinen
mündlichen Angaben und erschien von Pigafetta
bearbeitet 1591 in Rom unter dem Titel ,,Re-
latione del Reame de Congo etc." Bei einer der-
artigen Übermittelung von Reiseerlebnissen kann
leicht etwas vergessen oder vom .Aufzeichner, in
diesem Falle von Pigafetta, als ihm unverständlich
oder unwesentlich scheinend weggelassen werden.
Die nächste Beschreibung nach Braun ist die des
Missionars Carli, der von 166S bis ca. 1677 in der
Kongogegend weilte. Er berichtet mehr von
Missions- und Heiligengeschichten, von geographi-
schen Fabeln als von länder- oder völkerkundlichen
Tatsachen, sie sind nur etwas Zufälliges. Es würde
geradezu überraschen, wenn er seinem Reisewerke
eine bemerkenswerte Notiz einverleibt hätte. Man
braucht aber gar nicht der Unachtsamkeit der
Reisenden die Schuld zu geben, daß sie nichts
312
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
über das Vorkommen des Sandflohs berichten.
Es ist viel einleuchtender zu sagen, daß zu ihren
Zeiten der Sandfloh in Afrika überhaupt nicht
vorhanden war.
Damit haben wir die Behauptung ausgesprochen,
daß die Sandf^ohplage in Afrika Ende des 16. Jahr-
hunderts aufgetreten und in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts wieder erloschen sei, also
eine Dauer von ungefähr 80 Jahren gehabt
habe.
Wir nehmen an, der .Sandfloh wurde auf die
gleiche Weise wie 1872 in Kongo eingeschleppt.
Das SchifT kam ebenfalls von Brasilien, denn der
bequemste Weg, von Europa nach dem Kongo
oder nach Loango zu segeln, führte ja an der
brasilianischen Küste vorbei. Häufig wurde hier
auch angelegt. Während sich aber nach dem Auf-
treten von 1872 das Insekt mit unheimlicher Ge-
schwindigkeit über den ganzen mittleren Kontinent
verbreitete, blieb die Plage zu Brauns Zeit örtlich
beschränkt. Sie gelangte nicht, nehmen wir noch
die weiteste Möglichkeit an, über das den Portu-
giesen und Spaniern bekannte Gebiet des König-
reichs Kongo hinaus; und das war nicht viel. Der
einzige Faktor, dem der Sandfloh seine Verbreitung
zu danken hat, der Verkehr, fehlte; die Abge-
schlossenheit des Gebiets verhinderte das Vor-
dringen des Insekts. Auf den ersten Blick aller-
dings erscheint die Kongogegend im 17. Jahr-
hundert als der besuchteste Platz Westafrikas nächst
der Küste von Oberguinea. Aber hier wie dort
beschränkte sich der Verkehr lediglich auf die
Küste; nur einige wenige Straßen durchzogen das
Innere des Königreichs Kongo, sie verbanden die
Hauptstadt San Salvador mit den wichtigsten
Plätzen der Küste. Jeder andere Verkehr zu Lande,
etwa mit benachbarten Gebieten im Norden, Osten
und Süden war unmöglich, sowohl wegen Mangels
an Produkten, als auch wegen P'eindseligkeit der
betreffenden Volksstämme. Mögen auch manche
Reisende, z. B. auch Braun, von einem Überland-
weg nach dem Indischen Ozean berichten, mag
auch eine zeitweilige Verbindung zwischen den
portugiesischen Niederlassungen am Kongo und
am Sambesi in der ersten Zeit portugiesischer
Herrschaft bestanden haben, so gehörte doch dieser
Weg der Vergangenheit an, nicht erst zur Zeit
Brauns sondern schon vor der Zeit des Lopez.
Klagt doch schon Lopez, der die Verhältnisse im
Lande ziemlich genau kannte : „Wahrlich dieweil
der König (von Congo) nicht zulassen wollen ;
daß man in seinem Lande die edle Kunst Metall
zu graben und zu gießen / üben und treiben möchte /
die doch in Europa so hoch gehalten wird / hat
auch der große Handel und Gewerb / so allda
zuvor gewesen / aufgehört / denn die Kaufleute
aus Portugal die Schiffahrt in diese Geeend nicht
mehr so hoch achteten , und niemand mehr sich
heraus begeben wollte die Landschaft zu be-
wohnen / derhalben die Priester auch nicht mehr
so hinein wandern wollten." Der Verkehr inner-
halb des Landes war also sehr mäßig.
Auch an der Küste konnte der Sandfloh nicht
verbreitet werden. Der Handel zog sich ausnahms-
los von Norden nach Süden, nie umgekehrt ; wir
hören wohl, daß ein Schiff, das Oberguinea be-
sucht hatte, nach dem Kongo segelte, nie aber,
daß es die Westküste Afrikas von .Süden, also vom
Kongo, nach Norden befahren hat. Somit wäre
kein triftiger Grund vorhanden, zu leugnen, daß
der Sandfloh auf ein verhältnismäßig geringes Ge-
biet beschränkt blieb. Und wenn auch eine Möglich-
keit des Verkehrs von Süd nach Nord vorgelegen
hätte, so wäre doch die Zeit, die der Weg in An-
spruch nahm, so lang gewesen, daß die Plage auf
dem Schiffe unterdrückt werden konnte, ehe man
landete. Ferner haben wir eine solche Zahl un-
unterbrocliener Berichte über Oberguinea (Marees
i6co— 1602, Battel 1589—1607, Braun 161 1 — 20,
Hemmersam 1639 — 45, Bellefond 1666—67, Müller
1661-69, Bosmann 1686 — 1699), und keiner be-
richtet über den Sandfloh, daß eine Verbreitung
an dieser Küste ausgeschlossen ist.
Mit dieser Isolierung des Übels waren auch
der Dauer desselben Schranken gesetzt. Pechuel-
Loesche sagt schon etwa 20 Jahre nach dem Auf-
treten der Plage, daß sich die schlimmsten Merk-
male ihrer Anwesenheit mehr verringern, je ver-
trauter die Eingeborenen mit dem Wesen und der
Behandlung des Insekts werden. (L.-E. III, 299.)
Nach diesem ganz natürlichen Vorgange kann man
auch konsequent weiter folgern, natürlich stets
unter der Voraussetzung, daß die Plage räumlich
beschränkt bleibt, daß einmal der Zeitpunkt
kommen muß, wo man ihrer völlig Herr geworden
ist. Dazu waren zu Braun's Zeiten alle Bedingungen
vorhanden, und somit können wir zusammenfassend
sagen, der Sandfloh war bereits vor 300 Jahren
einmal in einzelnen Teilen des damaligen König-
reichs Kongo verbreitet, blieb aber wegen Mangels
an Verkehr auf einige Striche beschränkt und
konnte deshalb ausgerottet werden.
Noch eine Bemerkung sei angefügt, die kein
Beweis ist, aber doch meine Behauptung zu stützen
scheint. PechuelLoesche spricht von einer ,,an
der Küste gang und gäbe gewordenen Ansicht,
daß sie (die Sandflöhe) eine nur vorübergehende
Heimsuchung bildeten". (L.-E. III, 299.) Wie konnte
sich diese Anschauung herausbilden? Weist sie
nicht auf eine gewisse dunkle Bekanntschaft mit
dem Übel hin, kann man sie nicht als eine Über-
lieferung, die ihren Lirsprung in den Zeiten der
ersten Plage hat und die durch Generationen fort-
ging, auffassen .?
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
313
Kleinere Mitteilungen.
Über die Einwirkung des Alkohols auf die
Entwicklung der Seeigel berichtet Prof. H. E.
Ziegler (Jena) im Biologischen Zentralblatt
(Bd. XXIII, Nr. II und 12, 1903). Der Verfasser
teilt in dieser vorläufigen Mitteilung eine Anzahl
von Versuchen mit, die er anstellte, um den Ein-
fluß des Alkohols in stark verdünnten Lösungen
auf die Entwicklung der Eier verschiedener Seeigel-
arten festzustellen. Die erste Versuchsreihe (1897
in Neapel angestellt) erstreckte sich auf die Eier
von Echinus microtuberculatus. Die künstlich be-
fruchteten Eier wurden bei Beginn der Furchung
(im Zweizellcnstadium) in Seewasser gebracht, dem
verschiedene Raumteile Alkohols von bestimmtem
Prozentgehalt zugesetzt wurden. Nebenbei wurde
ein Teil der Eier unter normalen Bedingungen
weitergezüchtet, um eine Kontrolle dafür zu haben,
daß die Qualität und Befruchtung der Eier eine
günstige war. Die erste Kultur enthielt i "/(, Al-
kohol, die zweite 2",, und die dritte 4"',,. Ab-
gesehen von kleinen Verschiedenheiten in den Er-
gebnissen, die sich aus der verschieden guten
Beschaffenheit der Eier und Spermatozoen er-
klären lassen , ergaben die drei Versuchsreihen
doch im wesentlichen übereinstimmende Resultate.
Die Beimischung von i "/„ Alkohol hatte im all-
gemeinen keinen merklichen Einfluß auf die weitere
Furchung und Entwicklung der Eier. Man be-
merkt nur eine Art Auslese unter sämtlichen In-
dividuen der Kultur, indem nämlich die infolge
ungünstiger Beschaffenheit der Eier oder Sperma-
tozoen schwächeren Individuen \-on dem Alkohol
in ihrer Entwicklung gehemmt und schließlich
ganz abgetötet werden, während die kräftigen,
normalen Objekte den Alkoholgehalt des Wassers
ungestört ertragen. Die Kultur, welche l'^jf, Al-
kohol enthielt, zeigte schon ganz andere Verhält-
nisse. Zunächst ging die Entwicklung überhaupt
langsamer vor sich. Dann sind die Blastulae, die
hohlkugeligen Furchungsstadien , in der Bildung
des Blastocöls verschieden. Auch die Einstülpung
der Furchungskugel zum Becherkeim, die Gastru-
lation, vollzieht sich langsamer als unter normalen
Verhältnissen. Schließlich erfolgt auch die Bil-
dung des Armskelelts nicht in normaler Weise;
entweder wird es zu spät gebildet, oder seine
Form ist anormal. Bei 3",, Alkohol erreichen nur
noch wenige Eier das Blastulastadium ; darüber
hinaus kommen auch diese nicht mehr. Bei 4"/,,
Alkohol unterbleibt die Bildung der Blastulae ganz.
Diese Versuchsreihen zeigen, daß der Alkohol
bei I^/q noch geringe Einwirkung hat. Bei
höherer Konzentration verlangsamt er die Ent-
wicklung, verursacht die Bildung anormaler Fur-
chungsprodukte, die Gerüstbildungen der Larven
werden unregelmäßig etc. Bei noch weitergehender
Konzentration verhindert er die Entwicklung über-
haupt.
Eine zweite Versuchsreihe wurde mit befruch-
teten Eiern eines anderen Seeigels (Strongylo-
centrotus lividus) in Villefranche sur mer ange-
stellt. Die Eier kamen wieder bei beginnender
Furchung in Seewasser, das mit bestimmten Volu-
mina Alkohol gemischt war. Zunächst eine Kon-
trollkultur ohne .Alkoholzusatz, dann Seewasser
+ i"/n Alkohol, Seewasser -(- 1,7% und schließ-
lich Seewasser -j- 2,5"/,, Alkohol. Die Resultate
dieser Versuchsreihe stimmen nun fast genau mit
denen des ersten Versuchs überein. Die in reinem
Seewasser befindlichen Eier hatten sich nach 5— 6
Tagen zu normalen Larven entwickelt, typisch
durch ihre langen Arme. Der Zusatz von i\
Alkohol brachte schon am zweiten Tage gewisse
Störungen hervor, z. B. in bezug auf das Schwimm-
vermögen der Blastulae; die Individuen dieser
Kultur entwickelten sich zwar fast alle zu Larven
mit einem Skelett, doch zeigte letzteres gewisse
Unregelmäßigkeiten. Bei 1,7" „ .Alkoholzusatz unter-
blieb schon bei vielen Gastrulae die Ausbildung
eines Skeletts überhaupt, oder es wurde ganz
anormal. In der dritten resp. vierten Kultur waren
die Störungen noch deutlicher. Die Einstülpung
der Blastula zur Gastrula vollzog sich überhaupt
nicht mehr; das Skelett fehlte ganz oder war sehr
winzig.
Aus beiden Versuchsreihen erkennt man deut-
lich die hemmende und schädigende Wirkung des
Alkohols. Aber auch noch in anderer Beziehung
sind diese Versuche sehr interessant. Vergleicht
man eine normale Larve mit langen Armen und
dementsprechendem Stützskelett mit einer solchen,
die bei Zusatz von 1,7"/,, .Alkoiiol gezüchtet wurde,
so zeigt die letztere eine auffallende Ähnlichkeit
mit den ersten Larvenstadien von Seesternen und
Holothurien. Das starke Auswachsen der Arme
ist bedingt durch die Entwicklung der Stützstäbe,
und da diese erst eine spätere Vervollkommnung
sind, zeigt sich die in entwicklungsmechanischer
und vergleichend embryologischer Hinsicht inter-
essante Tatsache: „In Alkoholmischungen gezogene
Larven der Seeigel zeigen uns eine phylogenetisch
primitivere Larvenform der Echinodermen."
Ernst Röhler.
Die physische Meereskunde in ihren An-
wendungen auf die transozeanische Segel- und
Dampfschiffahrt hat Dr. Gerhard Schott
von der Deutschen Seewarte in Hamburg im
November in drei am Institut für Meereskunde ge-
haltenen Vorträgen behandelt. Aus dem reichen
Inhalt dieser von fachkundigster Seite gegebenen
Belehrungen seien hier einige weniger bekannte
Tatsachen zusammengestellt.
Wenngleich die Blütezeit der Segelschiffahrt
vorüber ist, wäre doch die Annahme falsch, daß
dieselbe gegenwärtig durch die Dampfschiffahrt
völlig verdrängt sei. Vielmehr sind auch heute
noch auf gewissen transozeanischen Linien die
Segelschiffe für Waren, die eine längere Transport-
dauer vertragen, durchaus konkurrenzfähig, zumal
gerade in der neuesten Zeit durch den Bau außer-
ordentlich großer, vier- bis fünfmastiger und durch-
314
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
weg aus Stahl gebauter Schiffe die Geschwindig-
keit der Segler erheblich gesteigert werden konnte.
In hohem Grade ist die Segelschiffahrt natur-
gemäß von den Windveihältnissen abhängig und
es ist das Verdienst der nautischen Amter der
verschiedenen Staaten, auf den von Maury ge-
wiesenen Wegen durch Verarbeitung der an Zentral-
stellen gesammelten Schiffsjournale die mittleren
Windverhältnisse sämtlicher befahrener Meeresteile
in sehr vollkommener Weise bekannt gemacht zu
haben. Für das Segelschiff ist durchaus nicht
immer der kürzeste Weg zugleich auch der
empfehlenswerteste, da auf ihm vielfach widrige
Winde einen so starken Aufenthalt verursachen
würden, daß das Ziel erst viel später zu erreichen
wäre als auf einem mehr oder minder großen
Umwege. Redner schilderte dies an dem kon-
kreten Beispiele der Segelanweisung für die nach
Hinterindien fahrenden Reisschiffe. Da der Weg
durchs rote Meer nicht nur wegen der hohen Suez-
Kanalgebühren , sondern vor allem wegen der
Windverhältnisse des klippenreichen Meerbusens
gar nicht in Betracht kommt, müssen die Segler
stets das Kap der guten Hoffnung umfahren. Sie
tun dies aber auf der Ausreise nicht in der Nähe
der afrikanischen Küste, wie seiner Zeit Vasco
de Gama, sondern umfahren den Südostpassat
jenseits des Äquators in einem so großen Bogen,
daß sie bis nahe an die brasilianische Küste gehen,
ehe sie einen östlichen Kurs einschlagen. Nur
dem Umstände, daß dies schon verhältnismäßig
früh als nötig erkannt wurde, ist die 1500 erfolgte
Entdeckung Brasiliens durch Cabral zu danken.
Man steuert nun heutzutage am Südostpassat ')
so lange südlich, bis man in den Bereich der
„braven Westwinde" gelangt, die dann eine rasche,
wenn auch vielfach recht bewegte, weit südlich
vom Kap der guten Hoffnung bleibende Fahrt
nach dem indischen Ozean ermöglichen. Ganz
anders verläuft die Rückreise, bei der man sobald
als möglich in die Nähe der südafrikanischen Ost-
küste zu gelangen sucht, wo einerseits Schutz vor
den jetzt widrigen Westwinden und andererseits
in der Agulhas-Strömung ein willkommenes Be-
förderungsmittel angetroffen wird. Äußerst schwie-
rig ist dann die Passage des Kaps der guten Hoff-
nung, wo häufig durch langwieriges Kreuzen gegen
widrigen Wind langer Aufenthalt nötig wird. Ist
man dann in den Passatbereich vorgedrungen, so
führt dieser stetige Wind in glatter Fahrt bis in
die Region der Kalmen, wo man die Ausreiseroute
kreuzt. Alsdann zwingt aber, diesmal nördlich
vom Äquator, der Nordostpassat zu einer weit-
ausholenden Umsegelung, bis schließlich wieder
die vorherrschenden Westwinde der nördlicheren
Breiten die Heimat zu erreichen gestatten.
Für die Route nach Australien kommt eine
ähnliche Ausreise zur Anwendung, wie für die
^) ,, Segeln am Wind" nennt der Schiffer das Segeln in einer
Richtung, die etwa 66° von der Richtung abweicht, aus welcher
der Wind kommt. Unter einem noch kleineren Winkel gegen
den Wind zu segeln ist nicht ausführbar.
Ostindienfahrer, jedoch wird der Rückweg von
Australien seit Maury ausschließlich ums Kap Hörn
genommen, da dann die braven Westwinde noch
längere Zeit sich sehr vorteilhaft erweisen, während
sie eine Rückreise um Afrika ungemein erschweren
würden.
Zu den schwierigsten Segelrouten gehört eine
Fahrt von Europa nach Neu-York zur Winterszeit.
Widrige und sehr unbeständige Winde, Nebel, die
Golfströmung und die Stärke des Verkehrs legen
hier den Segelschiffen so große Schwierigkeiten
in den Weg, daß man es vielfach vorzieht, ent-
weder mit dem Nordostpassat stark nach Süden
auszubiegen, oder auch Schottland nördlich zu um-
segeln, sofern man überhaupt die Route mit Segel-
schiffen auszuführen gezwungen ist.
Die Umsegelung des Kap Hörn erfolgt unter
Benutzung der Brasilströmimg ziemlich dicht an
der Ostküste Südamerikas. Nach der Passage von
Kap Hörn gestaltet sich die Weiterreise ähnlich
erschwert, wie die Umsegelung der Südspitze
Afrikas bei der Rückkehr aus Indien. Hier
hat aber die neuere Wissenschaft dadurch einen
wichtigen Fortschritt erzielt, daß man von der
Ermittlung der mittleren Verhältnisse zur Her-
stellung synoptischer Karten überging. Man er-
kannte, daß südlich des Kap Hörn häufig Depres-
sionen auftraten, die bekanntlich auf der Südhalb-
kugel im Sinne des Uhrzeigers vom Winde um-
kreist werden. Es wird deshalb oft nötig, diese
Depression in einem weit nach Süden führenden
Bogen unter Ausnutzung dieser Luftzirkulation zu
umfahren, wobei freilich oft genug das Schiff in
Schnee und Frost gerät, die der Mannschaft Tage
schwerster Arbeit bereiten.
Auch für andere Meeresteile sucht die Deutsche
Seewarte jetzt im Verein mit anderen nautischen Äm-
tern synoptische Wetterkarten des Ozeans auf Grund
der Angaben der Schiffsjournale zu konstruieren
und durch das Studium der Depressionen und ihres
Verlaufes neue Vorteile für die Beschleunigung
und Sicherung der Schiffahrt zu gewinnen. In
vielen Fällen kann ein Kapitän durch sorgfältige
Beobachtung des Barometers sehr zu seinem Vor-
teil zu dem Entschluß geführt werden, von der
regelmäßigen Route abzuweichen. Nicht nur bei
verhängnisvollen Wirbelstürmen ist die Beachtung
des Barometers von Wichtigkeit, sondern auch bei
Depressionen von nicht allzu steilen Gradienten. So
wird die Reise von Kap Lizard nach Süden in
der Regel nahe bei Madeira vorbeiführen , bei
Ostwind und fallendem Barometer in der Biskaya
indes würde man auf diesem Wege leicht in sehr
widrige Südwinde hineingeraten , die eine etwa
bei den Azoren liegende Depression umkreisen ;
ein umsichtiger Kapitän zieht es daher in diesem
F"alle vor, die Depression auf der Nordseite unter
Ausnutzung der dem Uhrzeiger entgegen zirku-
lierenden Luftbewegung zu umfahren.
Die Dampfschiffahrt ist allerdings in ge-
ringerem Grade als die Segelschiffahrt, aber doch
durchaus nicht so wenig von Wind und Wetter
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
315
abhängig, wie man in der Regel vermeint. Aller-
dings kann der Dampfer direkt gegen konträren
Wind andampfen und bei ganz geringen Wind-
stärken ist dies sogar wegen der Erhöhung des
Zuges der Feuerung nützlich , aber sobald der
Gegenwind stärker wird, beeinträchtigt er doch
die Geschwindigkeit erheblich. Die folgende,
kleine Tabelle -zeigt diese Einwirkung für drei
Dampfergattungen :
Stärke des von vorn kommenden
Windes (Beaufort-Skala) O 5 10
Frachtdampfer Bulgaria 47 39 14
Postdampfer Pennsylvania 54 47 23
Schnelldampfer Deutschland
91
8/
7'
(Die Zahlen geben die in einer Wache (4 Stunden)
zurückgelegten Seemeilen (a 1,85 km) an.)
Der Schnelldampfer verliert denmach wegen
seiner großen Maschinenkraft viel weniger Pro-
zente seiner Geschwindigkeit als die schwächeren
Type, aber schließlich wirkt auch auf ihn der
Gegenwind und damit zusammenhängende Seegang
sehr hemmend, denn bei dem Anwachsen der
Windstärke von lO auf 1 1 geht die Geschwindig-
keit der „Deutschland" auf 53 Seemeilen zurück.
Das genauere Studium der Beeinflussung der
Dampfergeschwindigkeiten durch verschiedene
Windstärken und Windrichtungen bildet zurzeit
noch den Gegenstand einer nicht abgeschlossenen
Statistik.
Wichtiger aber als der Wind ist für den
Dampfschiffsverkehr dessen größter Feind , der
Nebel. Die namentlich in der Nähe der Neufund-
landbänke vom Januar bis August sehr zahlreich
auftretenden. Eisberge und Nebel haben die trans-
atlantischen Dampfscliiffalirtsgesellschaften ge-
zwungen, ihre genau vereinbarten Kurse im Jahre
1903 bis nahe an den 40. Breitengrad nach Süden
zu verschieben, während in der nebelarmen Zeit
von August bis Januar der kürzeste Weg nahezu
eingehalten werden kann.') Mitunter aber geraten
die Dampfer gleichwohl in den Nebel, der manch-
mal fast den ganzen Ozean bedeckt; es gilt dann
nach der Praxis der heutigen Kapitäne nicht mehr
das Prinzip der verlangsamten Fahrt, bei der Un-
fälle doch nicht ausgeschlossen sind, sondern man
sucht durch schnelle Fahrt möglichst bald aus
dem Nebel herauszukommen und so die Zeit der
Gefahr und Verantwortung abzukürzen.
Des weiteren sind die Strömungen für die
Dampfschiffahrt von besonderer Wichtigkeit. Die
meisten Strandungen werden durch mangelhafte
Kenntnis der Strömung und dadurch bedingte Schiffs-
versetzung verursacht und künftige Anweisungen
für Dampfer müssen in der systematischen Unter-
suchung der Stromverhältnisse ihre wichtigste
Grundlage suchen. Wir stehen aber hier erst am
Anfange der Meereserforschung, denn die bekannten
Kartendarstellungen der allgemeinen Meeresstiö-
') Um die Kollisionsgefahr zu verringern , liegen die
Kurse nach Europa etwa 50 bis 60 Seemeilen südlich von
denjenigen nacii Amerika.
mung, wie sie jeder Atlas darbietet, sind wohl
didaktisch und für das Verständnis klimatischer
Verhältnisse recht wertvoll, aber nautisch so gut
wie gar nicht zu brauchen. Die berühmte Golf-
strömung z. B. wird von den Dampfern nur zwischen
Cuba und Florida beachtet, weil sie hier so stark
ist, daß man nicht dagegen andampft. Aber auf
der Breite von New-York kümmert sich bis nacli
Europa hin kein Schiffer um den Golfstrom, die
Reisewege werden vielmehr lediglich mit Rück-
sicht auf Eis und Nebel bestimmt. Als durch-
gehende Oberflächenströmung kann der Golfstrom
gar nicht in die Karte eingezeichnet werden, wie
ein Blick auf eine nordatlantische Wetterausschau
der Seevvarte sofort lehrt. Die Agulhas-Strömung
andererseits, die allerdings recht deutlich ist, wird
aus einem anderen Grunde von den Dampfern
nicht beachtet. Das Wetter ist in jener Gegend
oft lange Zeit wolkig, so daß die Kapitäne es
trotz der Gegenströmung vorziehen, bei der Reise
von Capstadt nach Durban in der Nähe des Landes
und seiner leitenden Leuchtfeuer zu bleiben. Da-
gegen ist eine für die Schiffahrt wichtige Strömung
die in den Atlanten meist nicht verzeichnete, durch
den Südwestmonsun erzeugte Somaliströmung.
Klimatisch hat diese Strömung keine Bedeutung,
da sie nicht das ganze Jahr hindurch andauert und
die Wassertemperaturen hier keine großen Unter-
schiede aufweisen. Zur zeit ihrer stärksten Ent-
wicklung ist es aber vielleicht die stärkste Strö-
mung der ganzen Welt, denn es konamen hier
Strom Versetzungen bis zu loo Seemeilen in 24 Stun-
den oft vor, und die aus dem roten Meer kommenden,
nach Ostafrika bestimmten Schiffe müssen diese
Strömung durch einen weiten Bogen nach Osten
umgehen. Auch die vorzugsweise in der Nähe
des Landes sich geltend machenden Wassertrans-
porte, die das Gezeitenphänomen bedingt, sind für
die Dampfschiffahrt von sehr großer Bedeutung,
denn bei Nichtbeachtung einer solchen Flutströmung
kann der Dampfer leicht in gefährliche Nälie des
Strandes geführt werden.
Die Bemühungen, den Dampfschiffsführern Rat-
schläge von selten der nautischen Ämter mit auf
den VVeg zu geben, datieren erst seit kurzer Zeit.
Nach dem Vorgange Nordamerikas entwirft jetzt
die Deutsche Seewarte allmonatlich die ,, Monatskarte
für den Nordatlantischen Ozean", die in Gestalt
einer klaren, in großem Maßstabe hergestellten Karte
dem Kapitän ohne zeitraubendes Studium die-
jenigen Tatsachen zur Kenntnis bringt, die für
seine Reise von Wichtigkeit sind. Demnächst soll
auch für die Nordsee und Ostsee eine solche Karte
als Vierteljahrspublikation ausgegeben werden.
So groß wie bei der Segelschiffahrt wird freilich
die durch wissenschaftliche Arbeit erzielbare Fahr-
zeitabkürzung bei den Dampfern nie werden. Be-
rücksichtigt man aber die hohe Verantwortung
der Führer großer Schiffe und den immensen
Kohlenverbrauch (die Deutschland konsumiertstünd-
lich 440 Zentner, also täglich für loooo Mk.
Kohlen), so wird selbst eine geringe Erhöhung
3i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
der Sicherheit und eine sich nur nach Stunden
berechnende Fahrtbeschleunigung bereits dankbar
begrüßt werden. Kbr.
Das Spektrum der spontanen Lichtstrahlung
des Radiums bei gewöhnlicher Temperatur ist
von W. Huggins und Lady Huggins mit
Hilfe eines Quarzspektrographen fixiert worden
(Astrophys. Journal, Sept. 1903 und Dez. 19031.
Zu den zahlreichen, in dem Aufsatz von Prof
Duden (S. 17 f. dieses Bandes) zusammengestellten
Wirkungen, die von Radium ausgehen, gesellt
sich im Dunkeln ein sehr schwaches Leuchten
des Radiumbromids, das schon durch Betrachtung
mit einem Prisma ohne Spalt (für Anwendung
eines Spaltes ist das Licht zu schwach) ein mit
hellen Linien ausgestattetes Emissionsspektrum
erkennen ließ. Photographische Aufnahmen dieses
Spektrums, deren Expositionsdauer bis auf 216
Stunden gesteigert wurde, zeigen nun merkwürdiger-
weise gar keine Beziehung zu dem bereits von
Demarcay, Exner und Runge untersuchten Funken-
spektrum, sondern stimmen fast völlig mit dem
Bandenspektrum des Stickstoffs, das durch elek-
trische Entladungen hervorgerufen wird, überein.
Demnach scheint durch die an sich unsichtbare
Radiumstrahlung der atmosphärische Stickstoff,
der mit dem Radiumbromid in Berührung ist, zum
schwachen Leuchten angeregt zu werden.
F. Kbr.
Über photographische Wirkungen im
Dunkeln. (Fortsetzung zu Xr. 13 vom 27. Dez.
1903 p. 200). — Anschließend an meine Mitteilung
in dieser Wochenschrift III, Nr. 13, p. 200, teile
ich im folgenden einige neue Beobachtungen mit,
welche für die Praxis von Bedeutung sind.
Vorausschicken möchte ich, daß ich um der
Kürze des Ausdrucks willen, für die in der frühe-
ren Notiz beschriebene Eigenschaft mancher Kör-
per, Lichtschwingungen auch nach dem Aufhören
der Anregung von außen längere Zeit zu erhalten,
die Bezeichnung Photechie {(pCug = Licht,
'ixiiv = halten) gebrauchen will. Derartige
Körper kann man daher auch photechisch
nennen.
Die ersten Versuche mit Papier verschiedener
Qualität und Farbe ergaben verschiedeneWirkungen.
Ich schrieb dies zunächst der Färbung, resp. den,
wenn auch geringen Farbstoffmengen , die dem
Papierstoffe beigemischt werden , zu , und es er-
gaben auch verschieden gefärbte Papiere von
offenkundig sonst gleicher Qualität verschiedene
Wirkungen, wie ich dies in meiner früheren Mit-
teilung bereits bemerkt habe. Auffallend war mir
bald, daß schlechtes Zeitungspapier, Holzdeckel,
Packpapier etc. , weitaus am kräftigsten wirkten.
Dies brachte mich auf den Gedanken, daß
es vielleicht der Holzstoff sei , der die Licht-
schwingungen besonders gut aufnähme und erhalte.
Hiernach mußte Holz besonders gut wirken. In
der Tat ereab schon der erste Versuch mit be-
sonntem Holz einen schönen Erfolg. Durch Be-
decken mit schwarzem Papier während der Be-
sonnung dunkel gehaltene Teile des Holzes waren
wirkungslos, die besonnten Partien zeigten auf
der photographischen Platte sehr deutlich , die
Holzmaser und Astzeichnungen. Das lockere
Frühjahrholz der Jahresringe wirkt kräftiger als
das festere Herbstholz. In Asten wirkt das Kern-
holz trotz seiner dunkleren Färbung kräftiger als
die Randpartien. Übrigens scheint es, als ob ver-
schiedene Holzarten sich ganz verschieden ver-
hielten.
X^ersuchsweise wurden noch andere Körper
besonnt und auf ihre Photechie untersucht. Leinen
ergab kaum eine Wirkung, auch Baumwolle wirkte
nur schwach. Leder wirkte sehr kräftig. Hübsch
kam ein Flügel eines Schmetterlings (Vanessa poly-
chlorus), wobei auffallend war, daß die dunkeln
Teile der Zeichnung viel kräftiger wirkten, ak die
hellen.
Die lebhafte photechisciie Wirksamkeit des
Holzes liefert mir die Erklärung einer Erschei-
nung, die mir bisher viel Verdruß gemacht hatte.
Ich besitze eine Kamera mit Doppelkassetten
aus Holz. Sie sind außen braun poliert, innen
geschwärzt, die Schieber sind umbiegbar, an den
Bugstellen innen mit Leder überzogen. Es war
mir nun schon lange sehr unangenehm aufgefallen,
daß so manche Negative zu -/.; der Fläche ver-
schleiert waren, während der Rest heller blieb,
oder nur einzelne Streifen zeigte. Genaue Ver-
gleiche der verschleierten Platten mit der Holz-
maser der Kassettendeckel ergaben eine auffallende
Übereinstimmung beider. Ich erklärte mir die
Erscheinung damit, daß möglicherweise, die mit
Platten beschickten Kassetten in der Sonne gelegen
und daß die Deckel eben nicht vollkommen licht-
dicht seien. Merkwürdig war nur, daß alle Vor-
sicht, die infolge dieser Voraussetzung beim Ge-
brauch angewendet wurde, das Übel eigentlich
nicht besserte. Immer wieder kamen verschleierte
Negative zum Vorschein.
Die oben beschriebene photechisciie Eigenschaft
des Holzes verschaffte mir die Erkläiung. Die
Kassetten lagen wiederholt längere Zeit leer im
hellen Zimmer auf dem Tisch. Dann wurden sie
mit Platten beschickt und man ging ins Feld, um
Aufnahmen zu machen. Sollten da nicht die
Kassetten Licht mitgenommen haben, mit dem
sie nun während der Reise auf die Platten wirkten?
Ich machte nun folgende Versuche. Eine
Kassette (D) blieb einige Wochen im dunkeln
Raum verschlossen , eine zweite Doppelkassette
wurde besonnt und zwar so, daß die eine Seite der-
selben das Sonnenlicht von außen auf den ge-
schlossenen Schubdeckel erhielt (A), die andere
erhielt das Sonnenlicht auf die Innenseite des ge-
öffneten Schubdeckels (J). Nun wurde in jede
Kassette eine Platte gelegt , auf welcher ein Teil
mit schwarzem Papier bedeckt war, und einen
Tag im Dunkeln, gut verschlossen, liegen gelassen.
Die Entwicklung eigab folgendes: die Platte in D
N. F. ni. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
317
bheb vollständig klar, jene in A und J wurden an
dem vom schwarzen Papier nicht bedeckten Teile
deutlich geschwärzt und zwar jene aus J viel
kräftiger als jene aus A.') Für den praktischen
Photographen geht daraus die wichtige Verhaltungs-
regel hervor; Holzkassetten und Kameras, aucii
leer, nicht im Licht liegen lassen.
Diese Versuche gaben mir auch die Erklärung
einer anderen , gewiß von vielen Kodakbesitzern
beobachteten Erscheinung. Entwickelte Rollfilms
zeigen nicht selten einen Abdruck der Zählnummern,
welche sich mit weißer Farbe aufgedruckt auf dem
schwarzen Schutzpapier der Rollfilms befinden.
Dieselben erscheinen im Negativ dunkel auf
hellem Grund -) von der Gelatineseite aus gesehen
verkehrt, und zwar wechselnd auf verschiedenen
Stellen des Negativs.
Es wurde nun folgender Versuch gemacht :
Ein mit Zahlen und Schrift bedecktes Stück jenes
Sch.utzpapiers wurde zum Teil mit schwarzem
Papier bedeckt, einige Zeit der Sonne ausgesetzt,
dann im Dunkeln in Kontakt mit einer photo-
graphischen Platte gebracht und nach 24 Stunden
entwickelt. Es zeigte sich ein deutlicher Abdruck
der besonnten Schrift, dunkel auf hellem Grund. Es
liegt also vielleiclit auch hier eine photechische Wir-
kung vor. Die auf der Außenseite des schwarzen
Schutzpapiers aufgedrückten, vor der Verwendung
wahrscheinlich dem Lichte längere Zeit ausge-
setzten, weißen Ziffern kommen beim Rollen in
Berührung mit der lichtempfindlichen Gelatine des
Films und wirken auf sie. Beim Entwickeln muß
die Schrift verkehrt, dunkel und an verschiedenen
Stellen der (ielatineschicht des Films erscheinen,
wie tatsächlich die Beobachtung auch ergibt.
Prof. Dr. J. Blaas, Innsbruck.
') Daß die Lichtwirkung durch das Holz durchgeht ist
beachtenswert und regt zu näherer Untersuchung der Strahlen-
art an.
-) Zuweilen heben sie sich auch heller von dunkleren
Partien des Negativs ab, obwohl sie stets dunkler als die glas-
hellen Partien des letzteren sind. Die Erklärung hierfür ist
noch ausständig, wenn die Erscheinung nicht etwa in der
geringeren Lichtempfindlichkeit der von der photechischen
weißen Farbe längere Zeit beeinflußten Filmstellen ihren
Grund hat.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Ein Museum von Meisterwerken der Natur-
wissenschaft und Technik ist in München ins Leben
gerufen worden. Es wurde am 28. Juni unter dem Vorsitze
des Prinzen Ludwig von Bayern unter Beteiligung der Kgl.
Bayer. Staatsregierung und im Beisein einer großen Zahl der
hervorragendsten Vertreter der Wissenschaft und Technik aus
allen deutschen Landen im Festsaale der Kgl. Bayer. Akademie
der Wissenschaft zu München gegründet. Über die der
Gründung vorangegangenen Vorarbeiten berichtete namens des
hierfür gebildeten provisorischen Komitees Baurat Dr.-Ing.
Oskar von Miller. Nach diesem Berichte wurden dem Museum
durch den Prinz-Regenlcn die freien Räume des alten National-
museums als Provisorium für die .Aufstellung der Sammlungen
zur Verfügung gestellt, so daß mit der Einleitung der Samm-
lungen begonnen werden kann , ohne daß die beabsiclitigte
Errichtung eines eigenen Gebäudes abgewartet werden muß.
Die mathematisch-physik.alische Sammlung der Kgl. Bayer.
Akademie der Wissenschaften, deren Errichtung auf den An-
fang des vorigen Jahrhunderts zurückgeht und die neuerdings
durch die Bemühungen Pettenkofers wesentliche Bereicherungen
erfahren hat, ist dem Museum als Grundstock seiner histori-
schen Sammlungen überwiesen und die Überlassung von Gegen-
ständen aus anderen staatlichen Sammlungen sowie die Neu-
anfertigung wichtiger Modelle seitens der Kgl. Bayer. Staats-
ministerien zugesagt worden.
In materieller Hinsicht ist seitens der Keichsregierung ein
Jahreszuscliuß von 50000 Mk. in den diesjährigen Reichsetat
eingesetzt worden, und der gleiche Betrag soll auch von der
Bayer. Regierung den Kammern zur Bewilligung empfohlen
werden ; seitens der beiden Kollegien der Stadt München ist
ein jährlicher Beitrag von 15000 Mk. einstimmig bewilligt
worden und vom Verein deutscher Ingenieure ein solcher von
5000 Mk. zugesichert worden , während von der Bayerischen
Prinz-Regent-Luitpold-Landesstiflung ein Beitrag von 3000 Mk.
zu den Gründungskosten angewiesen worden ist. Zahlreiche
Personen haben erhebliche einmalige Stiftungen in Beträgen
von looooo Mk., 80000 Mk., 25000 .Mk., loooo Mk. usw.
gezeichnet, und mit Behörden , Korporationen und Privaten
schweben nussichtsvoUe Verhandlungen über weitere Stiftungen
und Zuschüsse. .Angesehene Künstler haben sich bereit erklärt,
Büsten und Porträts von hervorragenden, um die Naturwissen-
schaft und Technik besonders verdienten Männern zu stiften.
Bücherbesprechungen.
Max Kassowitz, .'Mlgemeie Biologie, III. Bd. :
Stoff- und Kraft Wechsel des Tierorga-
nismus. M. Pereis, Wien 1904. — Preis loMk.
Das sehr klar und übersichtlich geschriebene
Werk ist außerordentlich reich an eigenen Ideen und
Resultaten. Der Inhalt des vorliegenden Bandes zer-
fällt in drei größere Abschnitte:
i) Der .\ufbau des tierischen Protoplasmas.
2) Der Zerfall des tierischen Protoplasmas
und seine dynamischen Leistungen.
j) Die stofflichen Produkte des Protoplasmas.
Verf. bekennt sich zu der sogenannten „meta-
bolischen" Auffassung der Stoffwechselvorgänge, d. h.
zu der Ansicht, daß eine einfache Stoffumsetzung in
den Säften unter einem nicht näher definierbaren
Einfluß des Protoplasmas nicht stattfinde, daß vielmehr
jeder Stoffwechselumsatz im Protoplasma der lebenden
Zellen als Synthese und Zerfall von Protoplasma-
molekülen sich abspiele.
Auf diese Vorstellung gründet sich vollkommen
einheitlich die Darstellung : überall sucht Verf. zu
zeigen , daß die plausibelsten Erklärungen der z. T.
ja sehr komplizierten Erscheinungen mit der meta-
bolischen Auffassung in Einklang stehen, nicht so
out oder gar nicht dagegen mit den „gangbaren"
katabolischen Vorstellungen.
Das erste Kapitel bringt eine Übersicht der Stoff-
wechselvorgänge :
Die stickstoffhaltige Nahrung dient in erster Linie
dem Aufbau neuer Zellen beim Wachstuin. Zur Re-
konstruktion der bei jedem Reiz, jeder Leistung zer-
fallenden Eiweißmoleküle werden außerdem teils
Reservestoffe verwandt, teils die Zerfallsprodukte von
neuem herangezogen, nachdem sie in die Säfte über-
gegangen und aus diesen wieder durch die Zellen
aufgenommen worden sind, so daß Stickstoffersparnis
eintritt.
Als Reservestoffe dienen niemals unverwandelt
von außen zugeführte Substanzen. Auch das Fett
;i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
jedes Tieres wird stets erst im Organismus neu ge-
bildet, durch Zerfall von Protoplasma; denn jeder
Tierspezies kommen ganz besondere Fettarten zu.
Deshalb gelangen diese Fettsorten sowohl bei fett-
haltiger wie bei fettfreier Nahrung immer in derselben
Weise zur Bildung.
rjie Kohlehydrate zerfallen bei der Aufnahme in
zuckerartige Spaltprodukte , die teils in den Darm-
epithelien selbst zum Protoplasmaaufbau verwandt
werden, teils in den Kreislauf (Blut der Pfortader)
gelangen, aus dem sie aber sehr bald ausscheiden,
so daß der geringe Zuckergehalt des Blutes nahezu
konstant bleibt ; der Überschuß gelangt in einer ver-
wandten Form, als Glykogen, zum Absatz ; und auch
diese Umwandlung des Zuckers in Glykogen geschieht
auf metabolischem Umwege als Aufbau und Zerfall
von Protoplasma in den Leberzellen. Im Bedarfsfalle
wird aus dem Glykogen durch diastatische Fermente
dann wieder Zucker gebildet und dem Blute in einem
bestimmten Verhältnis beigemischt.
Es wird also zunächst immer auf Kosten der
Nahrung Protoplasma gebildet, das dann je nach den
Umständen unter Fett- oder Glykogenabspaltung zer-
fallen kann.
In den normalen Nahrungspausen wird für den
Bedarf der arbeitenden protoplasraatischen Gebilde
der Glykogenbestand der betreffenden Organe (Mus-
keln) , dann der der Leukozyten und der Leber in
Angrift' genommen, in den Hungerperioden auch noch
die P'ettdepots.
Was die Stickstoffreserven betrifft , so sahen wir
bereits, daß durch Wiederverwertung des größten
Teiles der N-haltigen Spaltprodukte des bei der Ar-
beit zerfallenden Eiweißes der Stickstoff gespart wird,
während die N-freien Spaltprodukte sich weiter zer-
setzen, so daß die als Endprodukt auftretende Kohlen-
säure direkt als Arbeitsmaßstab dienen kann. Ein
Teil der stickstoffhaltigen Spaltprodukte zerfällt jedoch
ebenfalls zu Harnstoff, Harnsäure etc.
Außer diesem geringen Abgang erfordert aber
die Umwandlung von Nahrungszucker in Protoplasma
zuweilen ausgiebige plötzliche Stickstoffzufuhr. Diese
Ergänzung kann meist gleichzeitig aus dem Nahrungs-
strome bestritten werden , der den Zucker lieferte,
und zwar wird die Vereinigung schon in den Darm-
zellen , vielleicht auch noch in der Leber vor sich
gehen können. Ein Überschuß muß aber seine Er-
gänzung im Bluteiweiß suchen ; dessen Ersatz wieder
kann aus den im Überschuß gebildeten Blutkörper-
chen bestritten werden („Mauserung der Blutkörper-
chen"). Deshalb gehen auch gerade so viele Blut-
körperchen in der Leber zugrunde und geben ihren
Farbstoff an die Galle ab, die nur ein Nebenprodukt
der Leber darstellt. Bei Hungerzuständen muß
das Blutserum angegriffen werden , es ergänzt
aber seinen Bestand einmal wieder aus den Blut-
körperchen, dann aus den lyniphoiden Geweben und
Organen - — z. B. büßt die Milz 67 — 71% ihrer
Masse bei verhungernden Tieren ein — endlich sogar
aus dem Knochensystem , dessen Kalk und Fibrillen
sich an den Gefäßen auflösen , während das Proto-
plasma dieser Teile als Reservesubstanz benutzt wird.
Nach diesem allgemeinen Überblick über die
Ökonomie der organischen Nahrungs- und Reserve-
stoffe geht Verf. auf die nähere Schilderung des Ver-
haltens der einzelnen Organe und Gewebe ein. Er
beleuchtet zuerst die Nahrungsaufnahme in den Darui-
wänden , die nicht rein osmotisch, sondern in meta-
bolischer Weise durch die Tätigkeit der protoplas-
matischen Darmzellen geschieht — wobei allerdings
Resorption neben der Assimilation und Spaltung als
Begleiterscheinung auftreten kann , er beleuchtet in
hochinteressanter Weise dann die Bedeutung und das
Zusammenwirken der Leber und Milz (und der Pan-
kreas), deren eigentliche Funktion bisher noch ziem-
lich in Dunkel gehüllt war.
Die Milz ist in erster Linie ein blutbereitendes
Organ, die Hauptfunktion der Leber ist die Darstellung
des Glykogens aus dem Nahrungszucker, indem zu-
nächst mit Hilfe des Hämoglobins der in der Leber
zerstörten Blutkörperchen (welche aus der Milz im
Überschuß zuströmen) synthetisch Protoplasma gebildet
wird, das dann die stickstoffreien Produkte Glykogen
und Gallensäuren abspaltet , während die stickstoff-
haltigen Komplexe des Globulins in den Harnstoff
oder die Harnsäure übergehen und von dem Hämatin
die eisenfreien Gruppen den Gallenfarbstoff bilden,
während ein eisenhaltiger Rest etwa in Form eines
Nukleo- Albumins abgespalten wird. Die Wechsel-
beziehungen zwischen Eiweiß und Zucker im Stoff-
wechsel werden nun näher untersucht und insbesondere
das Verhalten bei Zuckerkrankheit zur Aufhellung
der verwickelten Vorgänge benutzt.
Der zweite Abschnitt, über den Zerfall des Proto-
plasmas und seine dynamischen Leistungen, begiimt
mit einer Betrachtung der Formveränderung des ge-
reizten Muskels. Verf. glaubt die Kontraktion auf
ein Moment zurückführen zu müssen, das beiden, so-
w^ohl den quer- wie den längsgestreiften Muskeln, ge-
meinsam ist, und findet dieses Moment morphologisch
ausgedrückt durch die Differenzierung in eine fibrilläre
und eine interfibrilläre Substanz, das „Sarkoplasma".
Auf dieser Differenzierung soll die Fähigkeit des
Muskels beruhen, sich in einer Richtung zu verkürzen,
senkrecht dazu aber auszudehnen. Die Verkürzung
soll durch Protoplasmazerfall vornehmlich in der
Längsrichtung und zwar in den Fibrillen (Zerfall ist
ja die erste Folge jeder „Reizwirkung"), die Ver-
dickung durch gleichzeitige Neubildung von gleichem
Volumen in der Querrichtung und zwar im Sarko-
plasma erfolgen. Der Zerfall soll das Material für
den Aufbau liefern, der unter Mitwirkung des im
frischen Muskel vorhandenen Reserveglykogens augen-
blicklich erfolgt. Die Expansion des Muskels geschieht
dann durch Umkehrung der Vorgänge, ebenfalls aktiv.
Die ,, Hemmungserscheinungen" schreibt Verf. dem-
gemäß einer doppelten Innervation des Muskels zu,
die eine unabhängige Reizung einmal der Fibrillen,
andererseits des Sarkoplasmas ermöglicht, wobei die
Reizung unmittelbar in der innervierten Substanz stets
einen Zerfall, in der anderen mittelbar einen Aufbau
bewirkt. Den Vorgang einer sogenannten „zentralen
Hemmung" durch „Interferenz" im Zentralorgan er-
kennt Verf. nicht als wahrscheinlich an. Gewisse
N. F. III. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
319
Schwierigkeiten, die das Verhalten des Muskels bei
künstlicher Reizung und andere Vorgänge bieten, lösen
sich auf, wenn man annimmt, daß in diesem Falle
beide Substanzen gereizt werden, wodurch ein schnelles
Abwechseln von Kontraktion und Expansion in Er-
scheirung tritt. Die Quelle der Muskelkraft ist in
dem Aufbau der kontraktilen Substanz zu suchen,
die sich „nur durch eine gleichzeitige , synthetische
Verwendung von Eiweiß und Zucker vollziehen kann".
In den folgenden Kapiteln sucht Verf. darzutun, daß
seine Grundanschauung über die Reiz- und Stoff-
wechselvorgänge und deren Beziehungen zur Be-
wegung auch im Einklänge stehe mit den elektrischen
und thermischen Ei scheinungen im Körper.
Es folgt der letzte Teil, der die stoff hohen Pro-
dukte des Piasmazerfalls behandelt und sich in fol-
gende Tiiemata gliedert: „Die Verbrennungsprodukte",
„Sekretion", „Die Nierenfunktion", „Die Quellen der
Stickstoffausscheidung'', „Voit und Pfiüger" (deseisteren
katabolische, des letzleren metabolische Anschauungen),
„Stoffwechselbilanzen'' und „Geänderte Anschauungen".
In diesen Kapiteln sucht Verf ebenso wie in den
früiieren eine konsequente Durchführung seiner Grund-
anschauung als möglich zu erweisen und zu zeigen,
daß sich in dieser Weise die gegebenen Tatsachen
am einfachsten und ungezwungensten deuten lasst-n;
er kennzeichnet seinen Standpunkt gegenüber PHüger,
von dem er wesentlich in zwei Punkten abweicht:
Während Pflüger die Verschiedenheit der lebenden
Substanz vom toten Eiweiß mehr in einer .Metanierie
und Polymerisation der Eiweißmoleküle suchte, glaubt
Verf., daß im lebenden Plasma Eiweiß mit stickstoff-
freien Substmzen der Nahrung und selbst anorgani-
schen Radikalen zu sehr komplizierten, labilen chemi-
schen Einheiten verschmilzt , die sich in der Zelle
zu netzartig verzweigten Strängen anordnen. Auch
hat Verf. weit bestimmtere und konsequentere V'or-
stellungen über die Art und Weise , wie im Stoff-
wechsel die stickstoffhaltigen und stickstoffreien Be-
standteile miteinander in Beziehung treten.
Das letzte Kapitel, „Geänderte .Anschauungen",
bietet eine eingehende, 1 2 Seiten umfassende Zu-
sammenstellung der neuen .Anschauungen, zu denen
Kassowitz auf Grund seiner konsequent und eingehend
durchgefühlten Theorie gelangt, doch will er diese
Thesen „vorläufig nicht als erwiesen hinstellen", son-
dern „nur als logische Deduktionen aus dem meta-
bolischen Grundprinzip, welche den Beweis für ihre
Richtigkeit erst von eingehenden , verifikatorischen
Untersuchungen und Experimenten erwarten, die aber
allerdings schon jetzt das eine für sich haben , daß
sie — in erfreulichem (legensatze zu den bisherigen
Auffassungen — an keiner Stelle mit sicher gestellten
Tatsachen kollidieren''.
Aus den nun noch folgenden Anmerkungen
und Nachträgen greife ich als besonders interessant
in unserer Zeit der Antialkoholbewegung eine Be-
merkung über den „Nährwert des Alkohols" heraus,
in welcher Verf. gegenüber Rosmann feststellt, daß
trotz geringeren Energieverbrauches während der
Narkose keine bessere Erniihrung, sondern umge-
kehrt ein Schwund des Körperbestandes eintritt, den
Verf. als Folge der für den Organismus schädlichen
Verbrennung des Alkohols im Körper deutet, üb-
schon diese Verbrennung Kohlensäure liefert , ist die
Gesamtkohlensäureproduktion des Körpers während
der Alkoholisierung herabgesetzt. Das bedeutet eine
starke Verminderung der sonstigen Umsetzung, die
einem gleichen Leistungsdefizit entsprechen muß. Der
Alkohol ist demnach w-eder als nahrhaft noch als
ein Äquivalent der Nahrung zu betrachten , sondern
wirkt allein schädigend, zumal auch seine Verbrennungs-
wärme unter normalen Verhältnissen dem Körper
nichts nützt. E. Meyer.
Dr. Reinhard Brauns, o. Prof. an der Univ. Gießen,
1) a s M i n e r a 1 r e i c h. Mit vielen Te.xtillustrationen,
73 Farbentafeln, 14 Lichtdrucktafeln und 4 Kunst-
drucktafeln. Verlag von Fritz Lehmann, Stuttgart.
In 30 Lieferungen ä 1,50 Mk. oder in 5 Abtei-
lungen ä 9 Mk. Lief, i— 10 (1903, 1904).
Das vorliegende Werk ist insofern etwas neues in
der mineralogischen Literatur, als es kein Lehrbuch
ist, sondern ein allgemein verständliches Prachtwerk
ersten Ranges für Freunde der Mineralogie und be-
stimmt, derselben Freunde zu erwerben. Es ist dazu
berufen, den bekannten naturwissenschaftlichen Tafel-
werken : Berge, Schmelterlingsbuch ; Galwer, Käferbuch;
Hofmann, Botanischer Bilderatlas und Hofmann, Raupen
und Schmetterlinge Einopas würdig an die Seite zu
treten und die für die Mineralogie in dieser Hinsicht
bestehende Liicke auszufüllen. Während zahlreiche
Texifiguren zur Erläuterung dienen, sind die wichtig-
sten Mineralien auf 73 Farbentaleln , 14 Lichtdruck-
tafeln und 4 Kunstdrucktafeln in natürlicher Form,
Farbe und Größe wiedergegeben, Reproduktionen der
besten Stufen vieler staatlicher und privater Samm-
lungen. Der Te.xt ist klar und für jedermann ver-
ständlich.
Der Beschreibung der Mineralien , dem eigent-
lichen Zweck des \A'erkes, geht ein allgemeiner Teil
voraus, in welchem das Wichtigste über die Krislall-
formen , die Pseudomorphosen , die physikalischen
Eigenschaften und über die chemische Zusammen-
setzung der Mineralien gesagt ist. Drei kolorierte
Tafeln dienen zur Erläuterung der Kristallformen, der
Wachstumsformen und der Pseudomorphosen ; eine
Lichtdrucktafel zeigt die Wachstumsformen und Wachs-
tumsstörungen am Quarz und eine Doppeltafel die
Interferenzfiguren ein- und zweiachsiger Kristalle.
Nach einigen kurzen Bemerkungen über den Begriff
und das Wesen des Kristalles werden die 6 Kristall-
systeme kurz besprochen und durch zahlreiche Text-
figuren erläutert. Daran schließen sich die Wachs-
tumsformen, die Zwillingsbildungen und die Pseudo-
morphosen. Die Besprechung der physikalischen
Eigenschaften enthält Härte, Spaltbarkeit, spezifisches
Gewicht und die optischen Eigenschaften, welch letz-
tere auf 7 Seiten behandelt werden. Bei dem Kapitel
der chemischen Eigenschaften werden die Bestandteile
der Mineralien , die Dimorphie und Isomorphie und
die Entstehung der Mineralien besprochen.
Schon in der dritten Lieferung beginnt der spe-
zielle Teil des Werkes. Hier suid die Mineralien
^20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 20
nicht nach einem der gewühnhchen, in den Lclirljüchern
üblichen Systeme angeordnet , sondern nach ihrer
Verwendung und nach der Rolle, welche sie im Haus-
halte der Natur spielen. Der erste Teil umfaßt die
Erze und ihre Abkömmlinge, die aus ihnen durch
Verwitterung hervorgehen, z. B. Bleiglanz, WeitJbleierz,
Pyromorphit oder Kupfererze, Malachit, Kupferlasur
u. a. Als Anhang werden die Meteoriten behandelt
und abgebildet. — Der zweite Teil umfaßt die Edel-
steine und ihre Verwandten, wobei besonderes Augen-
merk auf die Quarzfamilie gelegt werden wird. —
Der dritte Teil ist den gesteinsbildenden Mineralien
gewidmet, soweit diese nicht schon früher ihren l'latz
gefunden haben. Hierbei werden auch Mineral-
durchschnitte aus Gesteinsschliflfen abgebildet werden.
— Der vierte und letzte Teil zeigt uns die Mineralien,
welche wir im täglichen Leben benutzen, wie das Stein-
salz, oder welche die wichtigsten Nährstoffe der Pflanzen
enthalten, wie den Apatit, und diejenigen, welche als
die Rohstoffe für die chemische Industrie und für das
tägliche Leben uns unentbehrlich geworden sind. —
Am Schluß soll der Bernstein, der eigentlich gar kein
Mineral ist, seinen Platz linden.
Nach den ersten zehn Lieferungen kann man
dem Werke nur wünschen, daß es sich in weite Kreise
verbreiten und der Mineralogie recht viele Freunde
erwerben möge. M. Belowsky.
Literatur.
Klebabn, H. : Die wirtswechsclüden Rotpilze. Versuch e.
Gesamtdarstellg. ihrer biolog. Verhältnisse. (XXXVII, 447
.S.) Le.\. 8". P.erlin '04, Gebr. Borntraeger. — 20 Mk.
Losskij, Priv.-Doz. Nikolaj ; Die Grundlehren der Psychologie
vom Standpunkte des Voluntarismus. Deutsch v. E. Kleuker.
(VIIl, 221 S.) gr. 8^. Leipzig '04, J. A. Barth. — 6 .Mk.
Reinisch, Rhold.: Petrographisches Praktikum. 2. Tl.: Ge-
steine. (VII, 180 S. m. 22 Fig.) gr. S". Berlin '04, G.
Reimer. — Geb. in Leinw. 5,20 Mk.
Wundt, Prof. Wilh. : Grundzüge der physiologischen Psycho-
logie. :;. völlig umgearb. Aufl. Gesamtregister. Bearb.
V. Priv.-boz. Assist. Wilh. Wirth. (III, 134 S.) gr. S".
Leipzig '03, W. Engelmann. — 3 Mk. ; geb. in Halbfranz.
5 Mk.
Briefkasten.
Zur Nachricht. Wir erinnern nochmals an das Fol-
gende: Anfragen, die den Verkauf von Objekten oder die
einen Ankauf z. B. eines alten Mikroskopes u. dgl. betreffen,
können im Briefkasten keine Erledigung finden. Für solche
Zwecke stehen die Inserate zur Verfügung, wegen derer man
sich an die Verlagsbuchhandlung in Jena wenden wolle. Der
Briefkasten soll auch von den sonstigen Fragen nur diejenigen
berücksichtigen, deren Beantwortung auch für den übrigen
Leserkreis irgend ein Interesse bieten könnte. Bei einem an-
deren Verhalten würde der Raum der Naturwiss. Wochenschr.
durch den Briefkasten übermäßig belastet werden. Red.
Herrn E. S. in Montjoie. — i. Die Erhaltung von Pflanzen-
resten als fossiler Humus (,, Kohle") ist abhängig von den
äuläeren Bedingungen. Wo die Zersetzung unter .Abschluß von
Sauerstoff vor sich geht, bleibt viel kohlenstoffhaltiges Material
übrig, wo hingegen sehr viel Sauerstoff vorhanden ist, zersetzt
sich alles (verwest) zu Wasser, Kohlendiuxyd usw. , während
dort wo .Sauerstoff nur spärlich Zugang hat, die ,, Vermoderung"
oder bei noch stärkerem Mangel von .Sauerstoff ,, Vertorfung"
Platz greift. Ein Baumstamm, der der Vertorfung unterliegt,
verkohlt in toto, wenn er der Vermoderung unterliegt, so schwin-
den zuerst die Innenpartien, die durch .Schlamm ersetzt werden
können, und die Rinde bleibt zunächst als Rest zurück. Findet
dann eine totale Bedeckung statt, so daß die Rinde verkohlt,
so erhalten wir einen Steinkern mit kohligcr Rinde.
2. Über die Frage nach der systematischen Stellung von
Sphenophyllum und Annularia sehen Sie am besten in Potonie's
Lehrbuch der Pflanzenpaläontologie (Ferd. Dümmler's Verlag
in Berlin) nach. Dcrt werden die Sphenophyllaceen zwischen
Farn und Equisetales vorgeführt. ,, Annularia" ist nur ein
Beblätterungstypus, der sowohl bei den Sphenophyllaceen als
auch bei den Calamariaceen (den vorweltlichen Equisetales)
vorkommt.
3. Die Lepidodendraceen besitzen sowohl endständige als
auch stammbürtige Blüten.
4. Crossopterygien sind fossile Fische, die man deutsch
als Quastentiosser bezeichnet (Näheres in Zittel's Grundriß der
Paläontologie (Paläozoologie), Verlag von R. Oldenbourg in
München).
5. Über Paläontologische Literatur oben unter 2 und 4.
Ein sehr kurzes Buch, das aber die fossilen Pflanzen ungenügend
vorbringt, ist Haas' Katechismus der Versteinerungskunde (J. J.
Weber in Leipzig).
Herrn W. W. in Styrum. — Ein ganz treffliches Werk
über die ,, Lebensgeschichte der Blutenpflanzen Mitteleuropas",
das die ,, Blütenbiologie" eingehend berücksichtigt, ist gerade
im Erscheinen begriffen (Verlag von Eugen Ulmer in Stuttgart)
und hat zu Verfassern Kirchner, Loew und Schröter. In die-
sem Werk finden Sie ausführliche Lileraturangaben, die weiter
helfen. — Über Blütendiagramme nehmen Sic Eichler's be-
rühmte ,, Blütendiagramme" (W. Engelmann in Leipzig).
Herrn W. Spill. — Zu den in Nr. 16 der Naturw-isscn-
schaftlichen Wochenschrift gestellten Fragen des Herrn W.
Spill bemerke ich, daß eine „Monographie der Thysanopteren"
von Dr. H. Uzel, Königgrätz 1S95 existiert, nach der er die
Art sicher wird bestimmen können oder aber, daß Herr Dr.
H. Uzel in Königgrätz sie ihm gewiß gern bestimmen würde.
— Auch ich habe hier wiederholt im Sommer an Kupfer-
stichen zwischen Bild und Glas Blascnfüße in Menge beobachtet,
die von Dr. R. Coesfeld (Apotheker in Blumenthal a. Weser)
als Limothrips cerealium Halid. bestimmt worden sind. Cf.
Coesfeld: Beiträge zur Verbreitung der Thysanopteren in:
Abh. d. Nat. Ver. Bremen 1898, Bd. XIV, Heft 3. Es würde
interessant sein, zu konstatieren , ob es sich in beiden Fällen
um dieselbe Art handelt, was ja Herr Dr. C. leicht entscheiden
kann, wenn Herr Spill ihm einige Exemplare zusendet.
S. A. Poppe in Vegesack.
Herrn M. in L. und Herrn A. in Hamburg. — Zur
Orientierung über die Pllanzensysteme nehmen Sie das Buch
von Ernst Krause , die botaniscjie Systematik in ihrem Ver-
hältnis zur Morphologie. Kritische Vergleichung der wichtig-
sten älteren Pflanzensysteme (Weimar, Bernhard Friedrich
Voigt, l866). Alci. Braun's System ist veröffentlicht in
Ascherson's Flora der Provinz Brandenburg von 1864, ist
aber bei Krause berücksichtigt. Eichlcr, Syllabus und
Engler, Syllabus der Pflanzenfamilien (beide Hefte er-
schienen bei Gebrüder Borntraeger in Berlin) sind einzusehen.
Über das System von van Tieghem finden Sie Auskunft in
der Naturw. Wochenschr. 1, Nr. 39 vom 29. Juni 1902 oder in van
Tieghem's „Elements de Botanique" (Paris 189S). Eine Über-
sicht über die wichtigsten Systeme bietet v. Wetistein in seinem
,, Handbuch der Systematischen Botanik" 1 (Franz Deuticke in
Leipzig und Wien 1901).
Inhalt: Dr. J. Bongardt: Zur Biologie unserer Leuchtkäfer. — Dr. Georg Henning: Zur (ieschichte des Sandilohs
(Sarcopsylla penetrans L.) in Afrika. — Kleinere Mitteilungen: Prof. H. E. Ziegler: Über die Einwirkung des
Alkohols auf die Entwicklung der Seeigel. — Dr. Gerhard Schott: Die physische Meereskunde in ihren Anwen-
dungen auf die transozeanische Segel- und Dampfschiflahrt. — W. Huggins und Lady Iluggins: Das Spektrum
der spontanen Lichtstrahlung des Radiums. — Prof. Dr. J. Blaas: Über photographische Wirkungen im Dunkeln. —
Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Max Kassowitz: Allgemeine Biologie, III. Bd.:
Stoff- und Kraftwechsel des Tierorganismus. — Dr. Reinhard Brauns: Das Mineralreich. — Literatur: Liste. —
Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von T.ippert & Co. (G. Pätz'sclie Bucttdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DiC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 21. Februar 1904.
Nr. 21.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltcne Petitzeile 50 Pfg. Bei grölJeren
.Aufträgen entspreehender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buclihändlerinserale dureli die
Verlagshandlung erbeten.
Die Bedeutung der ätherischen Öle und Harze im Leben der Pflanze.
[Nachdruck verboten.] \'on Dr. Carl Detto, Assistent a
In diesem Aufsatze sollen die wichtigsten Tat-
sachen über die Aufgabe mitgeteilt werden, welche,
soviel man weiß, den als ätherische Öle und Märze
bekannten Stoften im Pflanzenreiche zufällt. Ks
wird zu diesein Zwecke nötig sein, auch bei dem
Vorkommen und der chemischen Natur dieser
Verbindungen einen Augenblick zu verweilen. Als-
dann wenden wir uns einer Besprechung ihrer
Entstehung im pflanzlichen Organismus zu, um
für die Rolle, welche ihnen für die Existenz des
letzteren zukommt, ein um so leichteres und besseres
Verständnis zu gewinnen.
I. Zusammensetzung und Entstehung der
ätherischen Öle und Harze.
Vorkommen und chemische Natur der
ätherischen ( ) 1 e und d e r H a r z e.
Es braucht nur etwa an Pfefferminz- oder
Lavendelöl erinnert zu werden, um eine Vorstellung
dessen zu erwecken, was man unter einem äthe-
rischen Öle versteht. Es werden unter diesem
Namen Stoffe vereinigt, die sich durch einige
Eigenschaften hervorracrend auszeichnen, besonders
m Botanischen Institut in Jena.
durch ihren starken, oft angenehmen Geruch und
durch ihre Flüchtigkeit, meist auch durch scharfen
Geschmack. Die meisten sind im reinen Zustande
farblose Flüssigkeiten, die leichter sind als Wasser.
Mit den eigentlichen Ölen, oder im weiteren Sinne
I'etten, haben sie keine chemische Verwandtschaft ;
vielmehr sind es Gemenge von verschiedenen Ver-
bindungen, die zum großen Teile der Gruppe der
sog. aromatischen Kohlenstoffverbindungen ange-
hören.
Mit den echten Ölen haben die ätherischen
gemeinsam, daß sie auf Papier einen allerdings
bald sich verflüchtigenden, durchscheinenden Fleck
erzeugen, dessen schnelles Verschwinden eben zu
dem Beinamen der ,, ätherischen" Öle geführt hat.
Die meisten sog. aromatischen und in der
Volksheilkunde und für die Küche wichtigen Pflanzen
verdanken ihr Aroma den ätherischen Ölen. Eine
ganze Reihe von Pflanzenfamilien ist geradezu
durch solche Eigenschaften ausgezeichnet, von ein-
heimischen die Umbelliferen, Labiaten, Compo-
siten, Cruciferen, von exotischen die Verwandten
der Orange, des Lorbeers, der Myrte, der Zimt-
pflanze. Überliaupt entstammen fast alle gut bc-
32;
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 21
kannten ätlierischen Öle dem Pflanzenreiche, und
zwar ist ihre Anzahl sehr beträchtlich ; ätherische
Öle tierischer Abkunft scheinen vorzukommen z. B.
im Ameisen- und Zibetöle.
Die Öle finden sich in den verschiedensten
Teilen der Pflanze, sehr häufig in den Blüten,
denen sie den Duft verleihen , oft in Früchten
(z. B. Apfelsine, Kümmel, Anis) und Samen , in
Haardrüsen (Labiaten) und in inneren Drüsen der
Stengel und Wurzeln (bei den oben genannten
Familien, ausgenommen die Labiaten).
Während gewöhnlich ein bestimmtes Öl für
bestimmte Pflanzen charakteristisch ist, gibt es
Fälle, wo zwei und mehr Ölarten von ein und
derselben Pflanze gebildet werden ; so enthält der
sog. bittere Pomeranzenbaum je ein besonderes Ol
in Blüten, Blättern und Früchten. Kryptogamen
und Palmen scheinen überhaupt keine ätherischen
Ule zu enthalten.
Man gewinnt die ätherischen Öle durch De-
stillation der in Wasser eingetragenen zerkleinerten
Pflanzen. Wenigstens ist dies das einfachste Ver-
fahren. Unter Umständen kommt Dampfdestilla-
tion oder Ausziehung durch Alkohol oder Äther
in Anwendung.
Wie bereits gesagt, sind die ätherischen ( >le
nicht einheitliche Verbindungen, sondern Gemenge
von solchen, und zwar enthalten sie der Mehrzahl
nach entweder Kohlenstoff und Wasserstoff oder
diese beiden Elemente mit Sauerstoff. Einige
zeichnen sich aus durch einen Gehalt von Stick-
stiff oder Schwefel. Die Hauptbestandteile der
Ole sind Kohlenwasserstoffe der Formel C^^Hj^
(Terpene) und in vielen Fällen sauerstoffhaltige
Verbindungen (Alkohole, Aldehyde, Ketone, zu-
sammengesetzte Äther, Phenole). Nach ihrer
Elementarzusammensetzung unterscheidet man
sauerstofffreie, resp. -arme (aber terpenreiche),
sauerstoftVeiche (terpenarme), stickstoffhaltige und
schwefelhaltige ätherische (Jle.
Zu der ersten Gruppe gehören z. B. das Ter-
pentin-, Zitronen-, Pomeranzen-, Lavendel-, Majoran-
und Ingweröl, zu den sauerstoffreichen Anis-,
Fenchel-, Dill-, Kümmel-, Nelken-, Pfefferminz-,
Patchouli-, Rosen-, Baldrianöl. Die Kapuzinerkresse
(Tropaeolum) enthält stickstoftTührendes, die Kruzi-
feren, Zwiebeln und Asa foetida (Ferula, eine LTm-
bellifere) produzieren schwefelhaltiges Öl.
Zwei Eigentümlichkeiten der ätherischen ( )le
müssen noch erwähnt werden. Die sauerstoff-
haltigen nämlich scheiden unter LImständen (bei
starker Abkühlung oder bei längerer Aufbewah-
rung, auch in der Pflanze) feste kristallinische
Stoffe aus, die Stearoptene oder Kampfer, während
der Rest (das Eleopten) flüssig bleibt. Zweitens
erfahren die ätherischen Öle unter Einwirkung
von Luft und Licht mit der Zeit eine merkwürdige
Veränderung durch Aufnahme von Sauerstoff, sie
dicken ein und „verharzen", wie man sagt. Geruch,
Geschmack und andere Eigenschaften ändern sich
dabei gleichfalls.
Die für uns in Betracht konimeiuien Harze
sind solche eingedickten ätherischen ( )le, also z. B.
das Harz der Kiefer. DaCTcs/en ist das so^. Harz
der Kirschbäume ein Stoff anderer Entstehung
und Zusammensetzung.
Über die Bildung und die chemische Natur
der Harze ist wenig bekannt. Sie sind ebenfalls
Gemenge verschiedener Verbindungen, oft mit
einem Gehalte von ätherischen (jleii, Gummi oder
.Schleim. .Sie kommen fast nur im Pflanzenreiche
vor, oft in besonderen Organen und meistens
gemischt mit ätherischen (Jlen, in denen sie ge-
löst sind oder aus denen sie sich an der Luft
bilden. Die echten oder Hartharze (Koniferen-
harze z. B.) entstehen vermutlich in der Regel
aus ätherischen ( )len. Diese Gruppe enthält Kör-
per, die spröde und amorph und im natürlichen
Zustande gelb bis braun sind; sie sind nie kristal-
linisch. Kohlenstoff. Wasserstoff und Sauerstoft'
sind die Hauptbestandteile aller Harze.
Eine andere Klasse \'0n Harzen bilden die
Weichharze oder Balsame, welche ein zähflüssiges,
klebriges Gemenge von Hartharz mit ätherischen
Ölen darstellen, vertreten z. B. durch den Peru-
balsam, der aus der Papilionacee Toluifera Pereirae
gewonnen wird.
Ferner unterscheidet man Gummi- oder Schleim-
harze , die sicli in den Milchsaftgefäi3en vieler
Pflanzen finden (^Weihrauch, Gummigutt) und fossile
Harze (Bernstein).
i'ber die Wirkung der ätherischen Ole auf
Organismen soll noch Einiges bemerkt werden.
In der Pharmakologie spielen diese Stoße bekannt-
lich eine grofie Rolle, hauptsächlich als Korri-
gentien schlechtschmeckender Medikamente. In
größeren Dosen jedoch sind sie fast alle giftig,
sie bewirken Entzündungen (Senföl) und in starken
Gaben tödliche Lähmungen des Atemzentrums. In
gewissen Ölen (Nelken-, Thymianöl) sind scharf
fäulniswidrige Bestandteile enthalten (Thymol).
Auf N'erschiedene Insekten üben sie eine töd-
liche Wirkung aus durch Vermittelung ihrer
Dämpfe, welche auch für Pflanzen ein Gift .sind.
Bespritzt man Schnecken mit dem Öle einer
Apfelsinenschale, so sterben sie schnell ab. Auch
auf den scharfen Geschmack dieser Stoffe sei noch
einmal hingewiesen. Diese Tatsachen werden im
folgenden von Wichtigkeit sein. Im übrigen
wird dieser Überblick für unseren Zweck genügen,
und wir wenden uns jetzt der Besprechung jener
Organe zu, denen in der Pflanze die Erzeugung
der ätherischen Öle und Harze zufällt.
Die Bildungsstätten der ätherischen
Öle und Harze in der Pflanze.
In der Pflanzenphysiologie bezeichnet man die
ätherischen Öle und Harze als Exkrete oder Aus-
scheidungen; sie sind also Produkte von Drüsen-
organen, wie der Speichel ein Produkt der Speichel-
drüsen ist. Wenigstens gilt das für alle uns inter-
essierenden und auch für die Mehrzahl der Fälle.
In der Regel sind es also bestimmte Zellen
und Gewebe, denen die Funktion der Aussehe!-
N. F. III. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochciisciirift.
düng zukommt. Nach der Lage der sezernierenden
Organe kann man zwischen äußeren und inneren
Drüsen unterscheiden; ersterere sind für gewölin-
lich Haarbildungen, sog. Drüsenhaare, letztere ent-
weder einzelne ölführende Zellen oder zusammen-
gesetzte, ölerfüllte Hohlräume bildende Organe.
Wir wollen uns zunächst mit den ätherisches
Öl erzeugenden Drüsen haaren beschäftigen
(Figg. 1—3).
Unter den mannigfachen 1 laarbildungen der
Pflanzen, welche größtenteils aus dem Hautgewebe
(Epidermis) entspringende Zellfäden sind, unter-
scheidet man eine Gruppe, die nach ihrer Form
als Köpfchenhaare bezeichnet werden, da sie an
ihrem Ende ein ein- oder mehrzelliges rundliches
Gebilde tragen.
entstanden sind infolge Teilungen einer Zelle durch
senkrecht zur Oberhaut der Pflanze verlaufende
Wände.
In eigentümlicher Weise lagert sich nun das
von den Drüsenköpfchen abgeschiedene Exkret ab.
Bekanntlich wird die pflanzliche Epidermis von
einem feinen wasserundurchlässigen Häutchen, der
Cuticula, überzogen, welche den Hautzellen fest
anliegend auch sämtliche Anhangsgebilde des Haut-
gewebes, also auch die Haare, bedeckt. So ist
auch das Drüsenköpfchen von einem solchen, oft
kaum sichtbaren Häutchen umgeben. Die Exkrete,
in unserem Falle die ätherischen Ole, werden im
Köpfchen gebildet, durchdringen die Zellwand und
lagern sich außerhalb derselben, aber umschlossen
von der Cuticula ab. Je mehr Exkret abgeschieden
Fig. I. Schema für die Bildung eines Drüsenliacircs.
Fig. 2. Drüscnliaai von:
Blattsliel der Primula sinen-
sis, oben das Sekret. (Nacli
de Bary.) Vergr. 142.
Die meisten dieser Köpfchenhaare sind gleich-
zeitig Drüsenhaare. Sie entstehen wie alle pflanz-
lichen Haarbildungen aus einer sich über die übrigen
P^jidermiszellen erhebenden Hautzelle, welche ent-
weder einzellig bleibt und so ein einzelliges Haar
bildet oder aber durch Querwände in einen mehr-
zelligen Faden zerlegt wird. Schwillt die Endzelle
einer solchen Zellreihe an, dann haben wir ein
Köpfchenhaar vor uns, deren Köpfchen durch
weitere Teilungen mehrzellig werden kann. Die
P'iguren I a — c erläutern die Entstehung eines ein-
fachen Haares, während Figur 2 ein fertiges sezer-
nierendes Köpfchenhaar der Primula sinensis (Chi-
nesische Primel) darstellt, einer beliebten groß-
blütigen, durch weit aufgeblasene kegelförmige
Kelche, krause eingeschnittene Blätter und grollen
Reichtum an solchen Drüsenhaaren ausgezeichneten
Zimmerjiflanze.
Je nach der Länge des Stieles, als welchen
man den zwischen Epidermis und Köpfchen ge-
legenen Zellfaden bezeichnet, und nach der Be-
schaffenheit des Köpfchens kann ein Drüsenhaar
ein sehr verschiedenes Aussehen annehmen. Wir
bilden noch den für die Lippenblütler (Labiaten:
Thymian, Taubnessel etc.) charakteristischen Typus
ab (Fig. 3). Hier steht häufig auf einer breiten,
niedrigen Stielzelle (vgl. Abbildung) eine größere
Anzahl (4 — 12) sezernierender Drüsenzellen, welche
wird, um so stärker wird die Cuticula natürlich
abgehoben und gespannt, was zu einer Zerreißung
derselben führen kann, wobei sich dann das Ol
nach außen ergießt, um seinen später zu be-
sprechenden Zweck zu erfüllen. In unserer .Ab-
bildung 3, welche eine etwas eingesenkte Blatt-
drüse des Pfefferminzkrautes im Längsschnitte
darstellt, ist die Abhebung der Cuticula von den
sezernierenden Zellen sehr gut zu erkennen ; es
Fig. 3. ( )ldrüse vom Blatte der Pfefferminze (.Mentlia pipcrita),
Nacli Tschirch. E Epidermis, t TragzcUe, st Stielzelle,
s Sekretionszcllen, e L^^xkret, c Cuticula.
hat sich eine beträchtliche Menge von ( )1 in dem
so entstandenen Räume angesammelt. Bei dem
Haar der Primel (P'ig. 2) ist die Cuticula bereits
gesprengt und der Exkrettropfen hängt frei daran;
in manchen Fällen wird die Cuticula nach dem
Platzen durch eine neue ergänzt, in anderen zer-
springt sie nicht unregelmäßig, sondern es öffnet
324
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. I--. III. Nr.
sich auf der Kuppe des Köpfchens ein kleiner
kreisförmiger Deckel.
Um die Mannigfaltigkeit der Haardrüsen zu
veranschaulichen, bringen wir noch Abbildungen
von solchen der echten Kamille und des Hopfens
(Figg. 4 u. 5). Wie Figur 4 zeigt, sind die Drüsen-
haare, welche sich an dem Fruchtknoten der
Kamille (Matricaria chamomilla) finden, keine ein-
fachen gestielten Köpfchen, sondern sie bestehen
aus einer (mehr oder weniger langen) Doppelreihe
von Zellen, von denen die oberen die Sekretion
übernehmen ohne ein besonders abgesetztes Köpf-
chen zu bilden. Die Cuticula verhält sich aber
hier wie in den oben crenannten Fällen.
Fig. 4. Öldrüsen vom Fruchtknoten der Kamille (Matricaria
cliamomilla). Nach Tschirch. Die Cuticula (c) der oberen
Zellen durch Exkret (e) abgehoben.
Wieder anders gestaltet sind die Öldrüsen des
Hopfens (Humulus lupulus), deren Gehalt an dem
bitteren Lupulin die Pflanze ihre Bedeutung in der
Bierbrauerei verdankt. Diese Drüsen finden sich
an den Deckschuppen der weiblichen Blütenstände
und den von ihnen eingeschlossenen Früchten.
Die Sekretionszellen sind
Scheiben- bis schalen-
förmig angeordnet, stehen
wie ein Hutpilz auf einem
mehrzelligen Stielchen
und sondern auf ihrer
( )berseite unter der Cuti-
cula das Exkret ab.
Auch diese Gebilde gehen
aus einer einzigen Haut-
zelle hervor. —
Wir wenden uns jetzt
den inneren Drüsen
zu. Es genügt hier, drei
Formen derselben zu
unterscheiden , nämlich
einzeln vorkommende Ex-
kretzellen , mehr oder
Fig. 5. Drüsenschtippen von
den weiblichen BUitenstUn-
den des Mopfens (Humulus
Lupulus) im senkrechten
Durchschnitt. A vor Beginn
der Sekretbildung , B die
Cuticula durch das Sekret
emporgehoben, das Sekret
durch Alkohol entfernt.
(Nach de Bary.) Vergr. 142.
weniger rundliche Exkret-
behälter und in langgestreckten Bahnen verlaufende
Exkretgänge. Alle drei Bildungen Können in einer
Pflanze vertreten sein; zwischen rundlichen Be-
hältern und (jängen oder Kanälen sind natürlich
die verschiedensten Übergänge möglich.
Wir besprechen zunächst den einfachsten F'all,
die Exkret Zeilen. Es sind gewöhnlich ver-
einzelt im Gewebe besonders unterirdischer Or-
gane (Wurzelstöcke) auftretende, das ätherische
Ol oder Harz enthaltende, mehr oder weniger auf-
getriebene Zellen, deren Wandung sehr häufig ver-
korkt ist, so daß ein Übertritt des Inhaltes in das
angrenzende Gewebe unmöglich gemacht ist.
Als Drüsenzeilen im strengsten Sinne des
Wortes kann man diese Bildungen allerdings eigent-
lich nicht bezeichnen, ebensowenig wie verschie-
dene der folgenden Behälter und Gänge. Im
Tierreiche sind einzellige Drüsen, z. B. die schleim-
p
Fig. 6. Teil eines Querschnittes durch das Rhizom von Acorus
calamus. Nach Tschirch. Vergr. 110. ö ülzcUen , i Inter-
cellularen, p Parenchym, g Gefäßbündel (schraffiert).
absondernden sog. Becherzellen im Darme, sehr
häufig und führen mit Recht den Namen einzelliger
Drüsen, da sie ihr Sekret, was für Drüsen eben
charakteristisch ist, sezernieren, nach außen ab-
scheiden. Im Vergleiche dazu sind unsere Ex-
kretzellen nur tLxkretbehälter ; um aber verschie-
dene histologische Einzelheiten unberücksichtigt
D
O
Fig. 7. Hypericum perforatum. Nach Habcrhuult. Blatt-
querschnitt: Eo obere, Eu untere Epidermis, M Mcsophyll-
zellen , O Sekretzellen, Ex Exkrettropfen , H Drüsenhülle,
D Deckelzelle.
lassen zu dürfen, wollen wir uns der obigen Aus-
drucksweise bedienen und allgemein von inneren
Drüsen sprechen.
Als Beispiele des Vorkommens vereinzelter
Exkretzellen mit ätherischen Ölen oder verwandtem
Inhalte seien der Wurzelstock des Kalmus (Aco-
rus calamus), des Friedlos (Lysimachia) , des
Ingwers (Zingiber) und Holz und Rinde des
Kampferbaumes (Laurus camphora) genannt. Zur
besseren Veranschaulichung dieser Verhältnisse
N. F. ni. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
J-^3
bringen wir einen Querschnitt aus dem VVur/.el-
stocke unseres Kalmus zur Darstelhing (Fig. 6).
Exkretbehälter und -gänge sind mehrzellige
Organe. Die P^xkretbehälter sind gewöhn-
lich rundliche, öl- oder harzerfüllte Hohlräume,
deren Wandung von den sezernierenden Zellen
gebildet werden, die sich fast immer deutlich von
dem umgebenden Gewebe abheben und oft nahe
der Epidermis liegen. Sie kommen besonders
häufig in Blättern vor, wo sie durchsichtige Punkte
erzeugen, z. B. beim „durchlöcherten" Johannis-
kraut (Hypericum perforatumj. .'\uch in F'rüchten
finden sie sich, sehr reichlich z. B. in der gelben
Schale der Orange und Zitrone, aus der man ihren
Inhalt bekanntlich durch Druck auspressen kann.
Fig. 7 ist nach einem Querschnitt durch das
Blatt von Hypericum perforatum , welcher eine
Drüse durchschneidet, gezeichnet. Oben und unten
sehen wir die einschichtige Epidermi.s, dazwischen
das chlorophyllhaltige Blattgewebe mit der großen
Drüse, welche beiderseits an die Epidermis an-
stößt. Die Drüse selbst besteht aus einer ein-
fachen Grenzschicht und den innen anliegenden
Sekretionszellen, die einen großen Tropfen Öl ab-
geschieden haben, welcher die Drüse durchschei-
nend macht. Da dieselben sehr zahlreich im Blatte
vorhanden sind, so erhält es bei durchfallendem
Lichte den Anschein , als ob das Blatt durch-
löchert sei.
Die soeben behandelten Drüsenorgane weisen
eine interessante Eigentümlichkeit auf, die von
G. Haberlandt entdeckt worden ist. Sie be-
sitzen nämlich besondere Entleerungseinrichtungen,
die als Deckel bezeichnet wurden, und welche es
bewirken, daß bei Krümmungen der Blattfläche
oder irgend welchen Zerrungen oder Deforma-
tionen der sie tragenden Flächen ein Ausspritzen
des Exkretes erfolgt.
Haberlandt hat seine Untersuchungen bei
Rutaceen angestellt, zu denen als bekanntere \'er-
treter die Raute, der Diptam und die Orangen
gehören. Die Drüsen dieser Familie sind ganz
ähnlich der in Fig. 7 abgebildeten, und wir können
der Erklärung des Entleerungsapparates diese Zeich-
nung zugrunde legen. Wie man sieht ist die
Epidermiszcllengruppe, welche gerade über der
Drüse liegt, etwas niedriger als die angrenzenden
Hautzellen. Diese flacheren Zellen, welche auf
der Oberseite des Blattes liegen, würden den Deckel
der Drüse darstellen. An ihm findet sich nun die
erwähnte Entleerungseinrichtung. Es sind näm-
lich die senkrechten Querwände dieser Deckel-
zellen von einem Stoffe imprägniert, welcher diese
Wände untereinander weniger fest haften läßt, als
es sonst zwischen Epidermiszellen der Fall ist, die
ihrer Natur nach die Oberfläche der Pflanze zu
schützen haben und demgemäß innig miteinander
verbunden sind. Entsprechend aber der unten zu
beschreibenden ökologischen Bedeutung der Drüsen
ist es von Wichtigkeit, daß sich die Deckel mög-
lichst leicht öftnen, um das F^xkret austreten zu
lassen, und das wird durch die Einlagerung eines
Pektin genannten Stoffes bewirkt.
Außerdem aber zeigte Haberlandt, daß
auch der Austritt des Drüseninhaltes noch durch
eine besondere Eigenschaft der Drüsenwandzellen
beschleunigt wird; denn diese Wandzellen ent-
wickeln vermöge ihrer hohen Turgeszenz, d. h.
vermöge der durch den Inhalt auf ihre Wände
ausgeübten Spannung, einen hohen Druck, infolge-
dessen beim Aufspringen der Deckelspalten bei
Krümmung des Blattes der flüssige Inhalt der
Drüse schnell ausgetrieben wird.
Am Schlüsse dieses anatomischen Abschnittes
haben wir noch kurz der Exkretgänge oder
-kanäle zu gedenken, welche den Stamm der
Johanniskräuter, der Umbelliferen, vieler Kompo-
siten und als Harzgänge Holz, Rinde und Blätter
der meisten Nadelhölzer durchziehen. Sie bilden
in diesen Pflanzen häufig ein kompliziertes Kanal-
Kig. 8. Partie eines Querschnittes durcli das Kiefcrnliolz nn
einer Jahresgrenze. f Frühholz, s Spätholz, t Hoftüpicl,
a eine sich nach aul3en verdoppelnde Tracheidenreihe,
h Harzgang, m Markstrahlen. Vergr. 240.
System, welches den .i^usfluß einer großen Menge
von Öl oder Harz an einer verhältnismäßig kleinen
Wunde veranlassen kann.
Wir können uns leicht eine Vorstellung von
dem Aussehen eines Exkretganges bilden, wcim
wir uns einen der eben geschilderten Behälter ins
Innere der Pflanze verlagert und anstatt rundlich
sehr in die Länge gezogen denken. Wir erhalten
dann einen mit Exkret erfüllten und mit sezer-
nierenden Zellen ausgekleideten Kanal. Diese
Kanäle können bei manchen Pflanzen eine be-
deutende Länge erreichen. Bei unserer gewöhn-
lichen Kiefer (Pinus silvestris) durchlaufen z. B.
vier solcher Harzkanäle die Nadeln in ganzer
Länge. Sie zeichnen sich hier noch durch einen
Belag fester, dickwandiger Faserzellen aus, welche
das Zusammendrücken der Gänge bei Biegungen
der langen Nadeln erfolgreich verhindern. In
326
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 21
Fig. 8 ist ein Stückchen aus einem Querschnitte
durch Kiefernholz abgebildet, in dem sich ein
Marzgang befindet.
IL Die ökologische Bedeutung der
ätherischen Öle.
D a s V c r h ä 1 1 n i s d e r ä t h e r i s c h e n l > 1 e zum
Stoffwechsel.
Nach einer kurzen Orientierung über die Chemie
und Bildung der ätherischen Öle wollen wir jetzt
ihre ökologische Bedeutung, d. h. ihren Wert für
das Leben der Pflanze behandeln, nachdem wir
zunäclist die Frage nach der physiologischen Rolle
dieser Stoffe im pflanzlichen Stoffwechsel erörtert
haben.
Da die ätlierischen ()le einen hohen Kohlen-
stoffgehalt aufweisen, also sehr reich an chemischer
Energie sind, so liegt es nahe, in ihnen wichtige
Nährstoffe zu vermuten, die in bestimmten Be-
hältern, ähnlich wie die Stärke, für künftigen Ge-
brauch als sog. Reservestofte gespeichert werden.
Wir stehen hier vor einer sehr interessanten
physiologischen Frage. In der Tat nämlich ist
das Terpentinöl der Nadelhölzer die kohlenstoff-
reichste Substanz der Bäume und zu ihrer Bildung
werden grosse Massen vermutlich von Kohlen-
hydraten (Stärke und Zucker) verbraucht und zwar
in solcher Menge, daß auf einen Gewichtsteil des
durch Oxydation aus dem Terpentinöl entstehen-
den Harzes mehrere Gewichtsteile des Bildungs-
materials kommen (Frank).
Unter diesen Umständen muß es sehr merk-
würdig erscheinen, daß die Physiologie in den
ätherischen Ölen „Nebenprodukte" desStoft'wechsels
erblickt, denen innerhalb des letzteren keine Be-
deutung zukommt. Darüber sind sich alle Physio-
logen einig: die Öle sind atrophische, nicht als
Nährstoffe fungierende Verbindungen. Und doch
werden sie in auffallend großen Mengen ge-
bildet, ihre allzu energische Entfernung aus den
Nadelbäumen bei der Harzgewinnung schädigt
diese Pflanzen derartig, daß nian unbedingt an
der so oft hervorgehobenen Ökonomie im Haus-
halte der Organismen zweifeln müßte, wenn es
nicht gelänge, die Bestimmung dieser wertvollen
Produkte zu erkennen.
Beweisend für die atrophische Natur der äthe-
rischen ( )le ist vor allem die Tatsache, daß sie
niemals, wenn sie einmal ausgeschieden und
in den Behältern angesammelt sind, auch nicht
bei Nahrungsmangel, resorbiert, in den Stoffwechsel
wieder aufgenommen werden.
Da in sehr vielen Fällen die Ölbehälter noch
dazu von einer undurchlässigen Korkmembran
umgeben sind, so wäre schon aus diesem Grunde
ihr Verbrauch ausgeschlossen, während anderer-
seits in der Verkorkung ein Hinweis darauf er-
blickt werden muß, daß es auf eine Einbeziehung
in den Stoffwechsel auch gar niclTt abgesehen ist.
Wir werden später sehen, worin dieser Abschluß
der Öle seine Erklärung findet.
Ein anderer Beweis für die Bedeutungslosigkeit
der Ole im Betriebstoffwechsel der Pflanze liegt,
wie schon angedeutet, darin, daß sie selbst bei
Nahrungsmangel nicht resorbiert werden, vielmehr
findet man sie in Pflanzenteilen, die halb verwest
sind, noch unberührt vor. Auch die Ausbildung
der Drüsenorgane samt Inhalt in sehr frühen
Stadien der mit ihnen versehenen Pflanzen zeigt
an, daß ihre Bestimmung keine physiologische sein
kann.
Die älteren Pflanzenphysiologen , denen die
ätherischen ( )le und andere sog. Nebenprodukte
des Stoffwechsels wohl bekannt waren, hatten auf
alle mögliche Weise versucht, die Regel der Stoft"-
wechselökonomie auch an diesen Produkten durch-
zuführen und waren dabei zu ganz merkwürdigen,
erzwungenen Hypothesen gekommen. Es war ja auch
mißlich, z. B. die reichlichen, zum größten Teile
aus wertvollem Zucker bestehenden .Ausscheidungen
der sog. Nektarien der Blüten und Blütenstände
einfach als nutzlos anzusprechen. Solche Erschei-
nungen legten eine physiologische Deutung doch
sehr nahe.
Als man jedoch auf diesem Wege in keiner
Weise zu einem befriedigenden Ergebnisse ge-
langen konnte, entschloß man sich, alle derartigen
Bildungen als nutzlose Nebenprodukte des Stoff-
wechsels beiseite zu schieben.
Bei dieser erzwungenen Stellung verblieb man
im allgemeinen, bis durch Darwin 's Begründung
der Prinzipien der modernen Biologie die Mög-
lichkeit gegeben wurde, auch diesen Tatsachen
gerecht zu werden. Die ätherischen Öle und
andere gleichbewertete Stoffe behielten zwar ihren
Charakter als Nebenprodukte des Stoffwechsels,
insofern sie eben mit letzterem als aufbauende,
plastische Verbindungen nichts zu schaffen haben,
ihre atrophische, aplastische Natur ist anerkannt;
aber es eröffnete sich ein anderes Feld der Er-
klärung, das Gebiet der Ökologie (Biologie im
engeren Sinne), der Lehre von den Hills- und
Schutzmitteln der Organismen im Existenzkampfe,
im Kampfe gegen Feinde und L^ngunst der an-
organischen Lebensbedingungen.
Welche bedeutsame Rolle den ätherischen ( )len
und Harzen in dieser Beziehung zukommt, wollen
wir im folgenden kennen zu lernen versuchen.
Die Bedeutung des Ko nifere n h a rzes.
P^ür das Verständnis dieser Frage ist es von
Wichtigkeit, auf die Eigenschaften und die Ver-
teilung der Harzorgane noch etwas genauer, als
es oben geschah, einzugehen.
Das Harz bildet sich nur im Innern lebender
Zellen und tritt in Form kleiner Tropfen in den
weichzelligen Elementen (Parenchymgeweben) des
Holzes, der Rinde und der Blätter auf So ent-
steht es auch in den jungen Wandzellen der Harz-
gänge und gelangt in deren Hohlraum, indem es
die Membranen dieser sog. Epithelzellen durch-
dringt.
Der Harzeehalt verschiedener Koniferen ist ab-
N. F. III. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
hängig- von der Zahl und Größe der den be-
treft'enden Arten eigentümlichen Kanäle. Mayr
stellte fest, dal-3 ein Kubikmeter Splintholz bei der
Kiefer (Pinus silvestris) 22, bei der Lärche (Larix
europaea) i8, bei der Fichte (Picea excelsa) 9 und
bei der Tanne (Abies alba) etwa 3 Liter enthält.
Bei der Harzgewinnung aus lebenden Bäumen
können solche Massen natürlich niclnt in Frage
kommen, da eine derartige Ausbeutung in kurzer
Zeit zur Erscliöpfung führen würde. Ein starker
Stamm, der für die Harznutzung in Europa er-
giebigsten Konifere, der Schwarzkiefer (Pinus la-
ricio), liefert z. B. im Jahre nur etwa 4 Liter,
Fichten nur ungefähr den vierten Teil. In 4 - 5
Jahren würde ein Baum zugrunde gehen, wenn
man ihm schonungslos das Harz abzapfte; dagegen
kann man bei sachgemäßer Behandlung auf eine
Nutzungszeit von 60— 80 Jahren rechnen. Jüngere
Bäume vertragen die Harzentziehung schlecht, erst
vom 20. — 25. Jahre an kann sie bei sorgfältiger
Ausführung ohne Schaden begonnen werden.
Wenn man sich bei diesen Angaben der Tat-
sache erinnert, daß die Harze als Nähr- oder
Speicherstoffe des Stoffwechsels in keiner Weise
fungieren und zu ihrer Bildung eine, wie oben
schon hervorgehoben, recht beträchtliche Menge
wertvoller Produkte verwendet wird, so muß es
einigermaßen befremden, daß die Entziehung
solcher Ablagerungsstoft'e irgend einen Schaden
hervorzurufen imstande ist.
Es muß also diesen Produkten irgend eine nicht
zu unterschätzende Bedeutung zukommen, wenn
die Entfernung derselben die Pflanze dermaßen zur
Neubildung reizt, daß sie mehr Material dazu her-
gibt als ihrem Allgemeinbestande zuträglich ist.
Wir werden im folgenden sehen , daß zwei
Leistungen diese Verhältnisse verständlich machen,
W u n d V e r s c h 1 u ß und Schutz vor Tieren,
oder mit anderen Worten, daß in der Ausbildung
harzliefernder Drüsenorgane eine Anpassung der
Pflanzen an gewisse für das Bestehen wichtige
Faktoren der Umgebung zu erkennen ist.
Wir beschäftigen uns zunächst mit der Funk-
tion des Harzes als Wund verschl u ßm i 1 1 el.
Für diese F"rage ist die Verteilung der Harzkanäle
natürlich nicht ohne Interesse.
Man kann erstens ein vertikales und ein hori-
zontales Kanalsystem, zweitens ein äußeres und
ein inneres unterscheiden. Vertikale Gänge ver-
laufen sowohl in der Kinde wie im Holze und
zwar in der Weise, daß die der Rinde mit denen
des Holzes nicht in direkter Verbindung stehen,
ebensowenig aber die des Holzes, wo sie jedem
Jahresringe für sich angehören. Die Zahl solcher
Kanäle ist recht bedeutend, nach Mayr wies der
Querschnitt einer zehnjährigen Fichte 804 Vertikal-
gänge auf, der einer ausgewachsenen in mittlerer
Stammhöhe an 44000.
Die Kanäle desselben Jahresringes sind öfter
untereinander verbunden. Sie entsenden aber außer-
dem das horizontale Kanalsystem, indem dort, wo
einer von den ersteren einen Markstrahl durch-
schneidet, sich ein Horizontalgang abzweigt, welcher,
innerhalb des Markstrahles verlaufend, tlas Holz
radial durchsetzt und in die Rinde austritt, ohne
jedoch in Kommunikation mit dem Vertikalsystem
der Rinde zu treten. In der Außenfläche des
äußersten Jahresringes münden bei Fichte, Kiefer
und Lärche auf einem Ouadratzentimeter mehr
als 60 solcher Radialkanäle I
Nebenbei sei bemerkt, daß im Holze unserer
Tanne (Edel- oder Weißtanne, Abies alba), der
kanadischen Tanne (Tsuga s. Abies canadensis), der
Lebensbäume, des Wacholders und der auf Fried-
höfen jetzt vielgepflanzten kalifornischen Cypresse
(Chamaecyparis Lawsoniana) die Harzkanäle fehlen.
Bei den beiden zuerst genannten Baumarten bildet
sich .das Harz in den Parenthymzellen und in
Markstrahlkanälen.
Bei der Balsam- und Douglastanne (.Abies bal-
samea und Pseudotsuga Douglasii, beide Nord-
amerika), von denen die erstgenannte den ,, Kanada-
balsam" liefert, kommen sog. Harzbeulen vor, die
in der Rinde durch Erweiterung und Wucherung
harzbildenden Gewebes entstehen.
Die Verteilung der Harzmassen im ganzen
Baume ist gewöhnlich eine derartige, daß das
Wurzelholz den harzreichsten, der astlose Stamm
oder Schaft den harzärmsten Teil vorstellt. Mit
zunehmendem Alter steigt die im Holze gebildete
Harzmenge, so daß die jüngsten Jahresringe das
meiste Harz führen. An festem Harze dagegen
ist der Kern reicher. Es wird außerdem ange-
geben, daß die Südseite der Stämme mehr Harz
enthalte als die entgegengesetzte, an Asten und
Wurzeln soll die Oberseite mehr Harz produzieren ;
letzteres gilt auch für die wärmeren Standorte
gegenüber kalten.
Jedermann weiß, daß, wenn man ein Nadel-
holz verwundet, eine nicht unbeträchtliche Menge
flüssigen Harzes ausfließt, welches die Wundfläche
überzieht und allmählich erhärtet. Untersucht
man eine solche Wunde genauer, so stellt sich
heraus, dafi dieser Verschluß nicht nur auf der
Oberfläche erfolgt, sondern daß das Harz auch
sämtliche Zellumina und -Wandungen durchdringt
und imprägniert, welche an die Wunde angrenzen.
In älteren Stämmen findet man das Kernholz
und die Basis der großen Aste häufig von Llarz
infiltriert, selbst bei solchen Koniferen, die im
Holze keine Kanäle besitzen.
.Alle vorgebrachten Erscheinungen führen uns
zu dem Schlüsse, daß wir in den Harzorganen
der Koniferen eine Einrichtung zu erkennen haben,
deren Wirkung eine ökologische, und zwar eine
Schutzfunktion ist.
Diese E'unktion äußert sich in zwei Richtungen
ganz besonders, insofern nämlich infolge des Wund-
verschlusses durch Harz die Infektion der verletzten
Gewebe durch parasitäre Organismen verhindert
wird und ferner dadurch, daß der Harzgehalt der
Blätter und jungen Zweige pflanzenfressende Tiere
abhält die Pflanzen allzu sehr zu schädigen.
Die Ansicht, daß den Harzen eine hohe Be-
328
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 21
deutung für den Verschluß von Wunden zukomme,
hat besonders Hugo de Vries^) schon vor
längerer Zeit vertreten.
Es sprechen dafür vor allem folgende Punkte.
Zunächst die Beschaffenheit des Harzes selbst. In
den Kanälen der Rinde, des jüngeren Holzes und
der Nadeln befindet es sich, in flüssigem Zustande,
als Terpentinöl resp. gelöst in diesem. Außerdem
steht dieser flüssige Inhalt der Kanäle unter einem
nicht unbedeutenden Drucke, der erzeugt wird
von besonderen nicht oder wenig verholzten, das
sezernierende Epithel der Gänge umscheidenden
Zellelementen und welcher bewirkt, daß selbst bei
kleinen Verletzungen eine zu vollständigem Schlüsse
ausreichende Menge Harz ausgepreßt wird. Diesem
letzteren Erfordernisse wird noch durch eine andere
bereits besprochene Einrichtung des Kanalsystems
genügt. Wie wir gesehen haben, stehen nämlich
die Kanäle eines Jahresringes unter sich vielfach
in Verbindung. z\ndererseits haben wir sowohl
horizontale als vertikale Gänge, welche wiederum,
wie oben gezeigt wurde, sich in einer bestimmten
Beziehung zueinander befinden.
Diese Eigenschaften setzen die Pflanze instand,
selbst große Wundflächen hinreichend gut abzu-
schließen, was nicht möglich wäre, wenn jedes-
mal nur die in dem entsprechenden Bezirke be-
findliche Harzmasse im Falle der Not herangezogen
werden könnte. So aber kann dorthin, wo Ge-
fahr droht, eine große Reserve geleitet werden.
Die Gefahren nun, denen ein Baum ausgesetzt
ist, dessen natürlicher Schutz, Korkschicht, Borke
oder Rinde, verletzt worden ist, sind nicht un-
erheblich. Tier- und Pflanzenreich liefern" die
Feinde.
Hirsch- und Rehwild beschädigt die Stämme,
besonders der Fichten, durch Schälen und Fegen
und erzeugt dadurch große Verwundungen, die
unverschlossen vertrocknen, Infektion durch Pilze
und Einwanderung von Insekten zur Folge haben.
Vor allem sind die Pilze jene Feinde, welche
diese Gelegenheit benutzen, um den Baum zu be-
fallen. In bezug darauf ist es von Interesse, daß
die Stümpfe ausbrechender Aste, resp. die von
ihnen hinterlassenen Astlöcher durch Harzinfiltra-
tion gegen Infektion geschützt werden, z. B. gegen
den solche Stellen mit Vorliebe befallenden Tra-
mctes pini, einen Löcherschwamm (Polyporacee),
der deshalb nur frische Bruchflächen infiziert.
Ferner ist wichtig, daß bei Verwundungen
auch Neubildung von Harz beobachtet worden ist,
was bei großen Wundflächen und beim Eindringen
und Frai3 von Insekten Bedeutung hat, selbst Harz-
kanäle bilden sich bei solcher Gelegenheit neu.
Das geschieht z. B. nach dem Fräße des Fichten-
rindenwicklers (Tortrix dorsana), wo alsdann nicht
nur in dem Überwallungsgewebe, sondern sogar
in dem älteren Holze der angrenzenden Partien
neue Kanäle entstehen. Außerdem sollen die
nach Verwundungen sich bildenden Jahresringe
ganz allgemein mehr Kanäle enthalten, als für ge-
wöhnlich in unverletztem Holze vorkommen (Ratze -
bürg, de Vries). Dieselbe Erscheinung zeigt
sich nach Ratzeburg an vom Wilde verbissenen
Lärchen, an den durch Nonnenfraß beschädigten
Zweigen von Fichten und an Kiefern, an denen
die Forleule sich findet. Selbst bei der Tanne
entstehen in solchen Fällen echte Harzkanäle im
Holze.
Diese Hinweise werden genügen, um die Be-
deutung des Harzes für die Koniferen klarzulegen.
Eingehenderes über die in Betracht kommenden
Schädigungen findet man z. B. in Frank's Lehr-
buch der Pflanzenkrankheiten. ^)
Der italienische Botaniker D e 1 p i n o hebt die
Schutzwirkung der Koniferenharze gegen größere
Pflanzenfresser besonders hervor. Wer jene eigen-
tümlich gewachsenen, niedrig strauchigen, fast wie
künstlich geschnittenen Fichten kennt, die auf
Alpenmatten oder in wildreichen Waldungen des
Hügellandes zu finden sind und weiß, daß weidende
Haustiere dort, hier Rot- und Rehwild den Schaden
bewirken, der wird D e 1 p i n o ' s Meinung vielleicht
für unhaltbar erklären, besonders wenn er sich
jenes bekannten Beispieles aus Darwin 's „Ent-
stehung der Arten" (Kap. 3) erinnert, wo auf
einem gelegentlich abgesperrten Bezirke eines
großen Weidelandes sich plötzlich junge Kiefern
entwickelten, während sie ringsherum bisher zu
fehlen schienen, obwohl sie in Wirklichkeit trotz
eines beträchtlichen Alters (Darwin zählte bei
einer 26 Jahresringe) vom weidenden Vieh so
niedrig gehalten wurden, daß man sie nicht be-
merkte.
Aber solche Einwürfe kann man jeder Schutz-
einrichtung gegenüber machen; denn nirgends gibt
es einen absoluten, gegen jeden Feind zu allen
Zeiten und unter allen Bedingungen zureichenden
Schutz der Pflanzen gegen Tiere und umgekehrt.
Sollten wir z. B. den Wimpern und Lidern des
Auges ihren Wert absprechen, weil sie gelegent-
lich das Eindringen von Fremdkörpern in das
Auge nicht zu hindern vermögen.' Wenn dem
Ziegenbock „eine Zigarre oder ein Stück Kau-
tabak ein Leckerbissen ist", wie Lagerheim
sagt, so folgt daraus nicht, daß er von diesem
,, Leckerbissen" sein Leben fristen könne, eben-
sowenig wie der Umsatz des Tabaksmarktes und
der anderer Reizmittel zu dem Schlüsse führen
kann, daß man es mit wichtigen Nährmitteln zu
tun habe. Wenn also Rinder und Ziegen ge-
legentlich ein Bedürfnis nach scharfen Zutaten zur
Speise haben, so dürfen wir deshalb noch nicht
glauben, daß die genannten merkwürdigen Fichten
und Kiefern diesen Tieren mehr als gewissermaßen
Gewürzsträucher wären, es sind sozusagen die
Pfeffernäpfchen ihres sonst nur mit Gras besetzten,
reizlosen Tisches.
') H. de Vries, Über einige Nebenprodukte des pflanz-
liclicn Stoffwechsels. Thiel's Landw. Jahrbücher X, 1881.
') Frank, Die Kranldiciten der Pflanzen. Breslau 187^,
2. Aufl. I— III.
N. 1-'. III. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
329
Wäre es in VVirkUclikeit anders, so würde das
Gras der Matten fröhlich sprielien, nirgends aber
ein Nadelwald zu sehen sein. Und selbst, wenn
das Gras die Hauptnahrung der Weidetiere bliebe,
wir nähmen den genannten Pflanzen aber ihre
Schutzstofife, so würden sie unvergleichlich mehr
leiden, wie eben die Gräser beweisen, die ihrer-
seits aber vor dem Untergange bewahrt sind durch
eine außerordentlich ausgebildete Fähigkeit schneller
und kräftiger Regeneration, worauf ihre Bedeutung
für die Viehzucht gerade beruht.
Nun könnte man einwenden, daß es aber doch
zahlreiche Laubbäume gibt, denen jede Spur von
ätherischen Ölen und Harzen fehle und die dennoch
nicht untergegangen seien, sondern in großer Menge
üppig gedeihen.
Darauf wäre zu erwidern, daß diese Bäume
der Schutzmittel keineswegs entbehren. Da diese
Frage in ihrem ganzen Umfange nicht in unser
Thema gehört, so genüge ein Beispiel. Auf einer
thüringischen Weide, die an einem trockenen
Bergeshange sich hinstreckte und welche ich im
Interesse des Pflanzenschutzproblemes untersuchte,
waren alle Gräser, Klee und andere F'utterpflanzen
bis tief herunter abgefressen. Zwischen diesen
geschorenen Arten aber fanden sich viele frisch-
grüne Kirschpflänzchen, die von älteren Bäumen
stammten, mit denen der Hang bepflanzt war.
Sie standen ebenso unberührt da wie verschiedene
Distelarten und andere stachlige Formen und wie
der an ätherischem Öle reiche Quendel (Thymus
serpyllum). Der Grund für diese Erscheinung ist
der, daß die Blätter der Kirsche von einem bitteren
Exkrete überzogen sind, welches von den Drüsen
ihrer Zähne abgesondert wird.
Als indirekter Beweis für das Vorhandensein
ökologischer Wirkungen gilt das Vikariieren der
Mittel. Ist z. B. irgend eine Pflanzengruppe
mit einer für sie charakteristischen Schutzeinrich-
tung ausgestattet, fehlt dieselbe aber einer oder
wenigen Arten der Abteilung und ist bei diesen
durch eine andere ersetzt, so darf man daraus auf
die Notwendigkeit eines Schutzes überhaupt
schließen. Einen solchen Fall liefert innerhalb
der Nadelhölzer die Eibe (Taxus baccata).
Vor den Laubhölzern zeichnen sich die Nadel-
bäume aus durch langsames Wachstum, das einen
vermehrten Schutz nötig macht , weil langsam
wachsende Pflanzen, die sich außerdem schwer
regenerieren, natürlich mehr gefährdet sind als
schnellwüchsige. Auch sind die Laubhölzer in-
folge ihres Blattwurfes vor den Schädigungen der
Herbst- und Frühlingsstürme besser geschützt als
die schwerbelaubten, immergrünen Koniferen.
Diese Nachteile werden kompensiert durch
den Harzgehalt, indem das Harz Wunden schließt,
welche durch Tierfraß und Windbruch verursacht
werden, und die Nadeln ungenießbar macht.
Unter den Nadelhölzern fehlt nun allein der Eibe
die Fähigkeit der Harzbildung. Besäße sie kein
vikariierendes, diesen Mangel ausgleichendes Mittel,
so dürfte man vielleicht einwenden, daß also auch
die übrigen Nadelhölzer eines Schutzes nicht be-
nötigen. In Wirklichkeit ist es bekanntlich anders,
da die Eibe das Harz durch ein sehr giftiges
Alkaloid ersetzt, daß sich in allen ihren Teilen
mit Ausnahme der roten, süßen Samenmäntel
(„Beeren") findet. Vergiftungen von Kindern durch
Eibennadeln sind nicht selten, die Tiere meiden
die Pflanze. Die Ungiftigkeit der Samenhülle liefert
wiederum einen Beweis für die Theorie der Samen-
verbreitung durch Vögel, welche die Früchte ge-
nießen, während der ebenfalls giftige Same un-
verdaut den Körper verläßt.
Die Eibe bildet einen jener wertvollen h'älle,
welche uns einen Einblick gestatten in die feine
und harmonische Abstimmung der Organismen
gegeneinander. (Schluß fulgt.)
Kleinere Mitteilungen.
Wie grofs mufs die Ventilation eines von
Menschen bewohnten Raumes sein? — Die
P'rage läßt sich nicht mit wenig Worten allgemein
gültig beantworten. Wir wissen genau, wie viel
Sauerstoff ein Mensch in Ruhe und bei den ge-
wöhnlichen Arbeitsleistungen braucht, wir wissen
auch wie weit die Luft an Sauerstoff verarmen
darf, ohne die Deckung dieses Bedarfs in Frage
zu stellen. Damit ist aber das Luftbedürfnis
keineswegs bestimmt. Die ausgeatmete Kohlen-
säure wirkt bereits giftig, wenn auch nicht akut
tötend, längst ehe die Verminderung des Sauer-
stofifgehalts bedrohlich geworden ist. Das ist aber
noch nicht alles. In einem Stadium der Luftver-
schlechterung, in welchem die Kohlensäure an
sich noch keine Schädigung bedingt, wirken die
ihrer Natur nach niclit genauer bekannten Ab-
dunstungen des men.schlichen Kör])crs, welche
sich in jedem von Menschen erfüllten, schlecht
ventilierten Räume ansammeln, bereits in unver-
kennbarer Weise schädigend. — Endlich kommt
der Wassergehalt der Luft, besonders bei arbeiten-
den Menschen für die Beurteilung des Ventilations-
bedürfnisses in Frage. — Sobald die Luft mit
Wasserdampf gesättigt ist , wird die Verdunstung
des Schweißes und damit die bei Arbeit unent-
behrliche Abgabe der übermäßig produzierten
Wäi'me unmöglich gemacht. Es tritt das Gefühl
lähmender Schwüle auf und wenn dies^ mit
Willensenergie überwunden wird, droht Über-
hitzung des Körpers, die sich bis zum tödlichen
Hitzschlag steigern kann. Dies dürfte zeigen, wie
kompliziert die Beantwortung der aufgeworfenen
F"rage ist, und daß man kein einheitliches Schema
für Menschen bei verschiedener Tätigkeit, für die
verschiedenen Jahreszeiten usw. aufstellen kann.
Unsere Kenntnisse haben nun insofern einen
wesentlichen L'ortschritt gemacht , als in jüngster
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 21
Zeit Wolpert (Arch. f. Hygiene Bd. 37) Ver-
suche mitgeteilt hat, welche die Schädigung durch
die Ausdünstungen des Menschen und durch die
Produkte brennender Lampen auch objektiv demon-
strieren. Er zeigte, daß die Sauerstoffaufnahme
und Kohlensäureausscheidung eines Menschen in
einer derart verdorbenen Luft eine erhebliche .Ab-
minderung erfahren. Da nun dieselben ein direktes
Maß des Stoffumsatzes und damit der Kraftleistungen
sind, ist erwiesen, daß diese durch die ,, verdorbene"
Zimmerluft geschädigt werden. Die Außenluft
enthält 0,3 Vol. Kohlensäure aufs Tausend, steigt
dieser Gehalt aufs dreifache, so wird die Schädi-
gung merkbar. Nun liefert ein ordentlich arbei-
tender erwachsener Mann in der Stunde etwa
30 1 Kohlensäure; ein Kubikmeter frische Luft
nimmt 0,9—0,3 ^ 0,6 1 Kohlensäure auf, indem
der Gehalt auf die zulässige Grenze von 0,9 aufs
Tausend steigt; es ist daher eine Ventilation von
50 Kubikmetern pro Stunde erforderlich
30
0,6
Eine solche Luftmenge würde auch bei ziemlich
starkem Schwitzen noch zur Aufnahme des Wasser-
dampfes ausreichen. Die Verdunstung eines bei
Arbeit im Zimmer schwitzenden Mannes dürfte,
weim die Zimmertemperatur 20'^' wäre, nicht
leicht 150 g Wasserdampf pro Stunde übersteigen.
Die Ventilationsluft hätte also höchstens 3 g
Wasserdampf pro Kubikmeter aufzunehmen. Da
gesättigte Luft aber bei 20 " C. 17 g Wasserdampf
enthält, würde die angenommene Ventilationsgröße
noch ausreichen, selbst wenn die Außenluft schon
mit 70";'o Feuchtigkeit ins Zimmer gelangte. —
Bei höheren Temperaturen nimmt die Schweiß-
bildung zu , es steigt aber auch die Aufnahme-
fähigkeit der Luft für Wasserdampf
Erheblich größere Anforderungen müssen wir
an die Ventilation in künstlich beleuchteten
Räumen stellen. Eine Petroleumlampe von 5
Kerzen Helligkeit liefert noch etwas mehr Kohlen-
säure als der arbeitende Mann und wenn auch
die Luftverderbnis bei gleicher Kohlensäureproduk-
tion durch die Lampe nicht ganz so groß sein
dürfte als durch den Menschen, so ist doch auch
die Schädlichkeit der mit Verbrennungsgasen ge-
schwängerten Luft durch Wolpert objektiv nach-
gewiesen worden. Daher müssen wir für die Zeit,
in welcher bei Lampenlicht gearbeitet wird, an-
nähernd die doppelte Ventilation verlangen, wäh-
rend man für die nächtliche Ruhezeit, in welcher
die Kohlensäureproduktion auf fast die Hälfte
sinkt, mit etwa 30 Kubikmeter zufrieden sein
kann. — Bei kürzerem Aufenthalte von Menschen
in einem Räume, also etwa bei Vorträgen u. dgl.
darf die Ventilation etwas unter der Norm bleiben,
weil ja die Luft erst allmählich mit den schäd-
lichen Substanzen aagereicliert wird.
Wichtig ist auch , daß der Luftraum nicht zu
klein sei, denn wenn die Luft eines Raumes mehr
als dreimal in der Stunde erneuert wird, empfindet
man die Ventilation schon unangenehm als Zug-
luft. Man muß also für einen arbeitenden Men-
schen 18 — 20 Kubikmeter Zimmerraum verlangen.
Die Ventilation kleinerer Räume, welche den
erwähnten Luftkubus bieten, erfolgt im Winter
infolge der Temperaturdifferenz zwischen innen
und außen und infolge der Druckwirkung des
Windes in ausreichendem Maße durch die Porosität
der Wände und Decken. Nur wenn diese Mauer-
ventilation durch Nässe der Mauern oder
durch undurchlässigen Ölanstrich stark
beschränkt ist, wird sie unzureichend, ebenso bei
größeren Arbeitsräumen, weil bei ihnen die Wand-
flächen nicht in gleichem Maße wie der Inhalt
und die Besetzung mit Menschen zunehmen. Hier
wird künstliche Ventilation unentbehrlich,
auf deren technische Ausführung an dieser Stelle
nicht eingegangen werden kann.
Prof. N. Zuntz (Berlin).
Das Gefrierenlassen lebender Fische. —
.Amerikanische Blätter haben berichtet, daß man
in Tacoma angefangen hat, Fische künstlich ein-
frieren zu lassen , sie in diesem Zustande nach
ostamerikanischen Märkten zu bringen und dort
durch langsames Auftauen wieder ins Leben zurück-
zurufen. J. Parkes Whitney hebt in einem
amtlichen, im Auftrage der Regierung des Staates
Oregon gelieferten Bericht hervor, daß es ihm
gelungen sei, Fische steif gefrieren zu lassen und
einer Kälte bis zu 12 Grad auszusetzen, ohne daß
sie zugrunde gegangen wären. PIr betont aber
ausdrücklicli, daß Sonnenschein für den gefrorenen
Plsch tödlich wirke. Zu diesen amerikanischen
Mitteilungen macht W. Riegler in der ersten
Nummer der neugegründeten „Österreichischen
Plscherei Zeitung", dem Blatt des „Österreichisclien
Fischerei- Vereins", folgende bestätigende .Angaben
aus eigener Erfahrung. Es sind mir, schreibt er,
in meiner Knabenzeit so häufig Goldfische in
Bottichen und anderen Behältern eingefroren, daß
ich eine ganze Reihe unfreiwilliger Versuche zu
machen Gelegenheit hatte. In manchen Fällen
waren die lösche, auch wenn sie nur eine Nacht
im Kerneis eingefroren waren, nicht ins Lelicn
zurückzurufen. Oft aber habe ich darüber gestaunt,
daß sie wochenlang festgefroren im Eisblock staken
und bei langsamem Auftauen wieder zu Leben
kamen. .Auffallend dabei war es, daß viele der
„Geretteten", ich glaube die meisten, dauernde
Rückgratverkrümmungen davontrugen. Alle P'ische,
die ich durch rasches Auftauen oder gewaltsame,
wenn auch noch so vorsichtige Zertrünunerung
des Eises retten zu können meinte, erwachten
nicht wieder oder gingen zugrunde, selbst wenn
sie Zeichen von Leben gezeigt hatten. Durch
diese Tatsache angeregt, habe ich später so n.anche
Ellritze mit Schnee umballt und in dieser Packung
bei Winterkälte liegen lassen. Ich habe darüber
staunen müssen, daß diese zarten Pischchen die
Schneeeinpackung oft mehrere Tage ohne allen
Schaden an ihrer Gesundheit vertrugen und ins
Wasser gebracht, zuweilen so davonschwammen,
N. F. III. Nr. 2 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
331
als ob sie es auch nicht eine Minute entbehrt
hätten. Die Schneeumhüllung, die reichlich Luft
durchläßt, scheint dem Fische bedeutend weniger
gefährlich zu sein als das starre Eis, das sich, ihn
luftdicht einschließend, um seinen Körper legt.
Sollten darum zeitgemäße Versuche über das
Gefrierenlassen lebender Fische zum Zwecke ihres
Lebend\ersandes gemacht werden, so wäre es
mein Wunsch , daß der Schnee als Einbettungs-
mittel beim Gefrierenlasseii und Umhüllungs-
mittel beim Verfrachten ganz besonders erprobt
werde. Die Sache ist nicht ohne praktische Be-
deutung, sie könnte möglicherweise ein neues und
zweckmäßiges Verfahren des Lebendverschickens
der Fische schaffen. Was ein solches für die
Leichtigkeit des Versandes für den Fischverbrauch
bedeuten würde, braucht nicht erst gesagt zu
werden. Heute, wo sich schon überall Eisfabriken
befinden, die Schnee gerade so gut wie Blockeis
erzeugen können, ist diese F"rage einer ernsteren
Prüfung wert.^)
') Obiges aus der ,, Fischerei-Zeitung" (Xcudamm) vom
24. Oktober 1903.
Die Höhe des Vogelfluges. — Bisher galt,
entsprechend den dahingehenden Angaben , die
Annahme, daß der Wanderzug der Vögel in ganz
beträchtlichen Höhen (5000 m und darüber) statt-
finde. F.ine positive Grundlage für diese Zahlen-
angabe hat wohl zuerst kein Geringerer als A 1 e x.
von Humboldt gegeben, der in den Anden
durch Beoliachtung und Berechnung die Höhe
erschloß, in der der Kondor, „der Riese unter den
Geiern", schwebte. Kr erzählt darüber in den ,, An-
sichten der Natur" (Ausgabe Meyer's Volksb. Nr.
834 — 39 p. 239): „Die Region, welche man als
den gewöhnlichen Aufenthalt des Kondor betrachten
kann, fängt in der Höhe des Ätna an. Sie be-
greift Luftschichten, die zwischen 3240 — 5850 m
über dem Meeresspiegel erhaben sind. . . . Unter
den Kondoren maßen die größten Individuen,
welche man in der Andenkette von Quito findet,
mit ausgespannten Flügeln 4,5 m , die kleineren
2,G m. Aus dieser Größe und der des Winkels,
unter welchem der \'ogel oft senkrecht über
unserem Kopfe erschien, kann man auf die un-
geheure Höhe schließen, zu der sich der Kondor
bei heiterem Himmel erhebt. Ein Sehwinkel von
4 Min. z. B. gibt schon die senkrechte Entfernung
von 2230 m. . . . Demnach war die absolute
Höhe, die der Kondor erreichte, 7092 m (gemessen
in einer Höhe von 4859 m), eine Höhe, in welcher
das Barometer kaum noch 0,32 m hoch steht. . . ."
— Nach Gätke's Beobachtungen auf Helgoland
sollen die Brachvögel, die relativ niedrig fliegen,
auf ihren Wanderungen meist in Höhen von 3000
bis 5000 m ziehen, während er für andere Zug-
vögel weit bedeutendere Höhen als sehr wahr-
scheinlich angibt.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts haben eingehende Arbeiten über die
Anatomie und Ph}-siologie der Atmungsorgane
der Vögel dargetan , wie durch den Bau der Re-
spirationsorgane (Lungen und Luftsäcke), sowie
durch einen eigenartigen Mechanismus bei dem
Atmungsprozesse im Fluge, der Vogel befähigt
wird, in so hohen Regionen, wo die Luft ganz
beträchtlich dünner ist, zu atmen. Ja noch mehr :
es wurde gezeigt, wie der Vogel in Anbetracht
der gewaltigen Muskelarbeit beim Fliegen und
dem dadurch ungemein gesteigerten Sauerstofl'-
bedürfnis doch durchaus befähigt ist, beim Fluge
in so luftdünnen Regionen mit Leichtigkeit und
auch genügend atmen zu können (Max Baer
in Zeitschr. f wissensch. Zool. 1896). Die Stellung
der Nasenlöcher sowie die Schnelligkeit des Fluges
ermöglichen es, daß die Luft ganz ohne Zutun
des Vogels in die Luftröhre eintritt, teils die
Lunge durchstreicht, teils die Luftsäcke füllt.
Letztere dienen nicht etwa als Luftreservoire, son-
dern besorgen den Wechsel der Atemluft, da
bei der Flügelbewegung die den Flügeln zunächst
liegenden Luftsäcke abwechselnd erweitert und
verengt werden und so eine Luftzirkulation in den
Luftsäcken , die alle miteinander in Verbindung
stehen , erzeugen , während den Lungen nur der
chemische Teil des Atmungsprozesses, der Gas-
austausch, obliegt.
So scheint also nach dem bisherigen Stande
unserer Kenntnisse die Frage nach der Möglich-
keit des Vogelfluges in so gewaltigen Höhen, wie
sie durch die bisherigen Beobachter angegeben
waren, völlig klar und einleuchtend dargelegt zu
sein; doch wurde in neuester Zeit auf Grund
aeronautischer Beobachtungen diese Frage gegen-
teilig beantwortet: Auf dem V. internationalen
Zoologenkongresse zu Berlin 1901 teilte v. Lu-
canus mit, daß bei den Fahrten der Luftschifi'er
Vögel selten in Höhen von mehr als 400 m über
dem Boden angetroffen worden seien. Die weitere
Mitteilung, daf3 Brieftauben, die in 1600 m Höhe
ausgesetzt wurden, gar nicht zu fliegen vermochten,
sondern einfach herabfielen, machten es dann über-
haupt unwahrscheinlich , daß Vögel in solchen
Höhen fliegen können.
Es erscheint mir aber doch recht fraglich, ob
auf Grund dieser bisher noch wenig zahlreichen
Beobachtungen und Abflugversuche , die Frage
nach der Möglichkeit des Vogelfluges in den oben
angegebenen Höhen verneint werden muß. Erst-
lich ist es gar nicht erstaunlich, daß so wenig
Vögel in Höhen von über 400 m angetroffen werden :
ihr Nahrungsgebiet ist doch am Erdboden und
deshalb haben sie wohl nur in Ausnahmefällen —
abgesehen von Raubvögeln — Veranlassung, sich
in größere Höhen aufzuschwingen. Lind auch in
den wenigen Tagen des Wanderzuges wird es
sich selten treffen, daß Luftschiffer gerade in den
Höhen kreuzen, die die einzelnen Vögel, die noch
dazu oft die Nacht zu den Zügen benützen, bev-or-
zugen, bezw. auch durch gerade wehende Winde
gezwungen sind einzunehmen. Weiterhin kann
auch nicht ohne weiteres das Herunterfallen von
332
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 21
Brieftauben aus Höhen von 1600 m jene Möglich-
keit verneinen ; denn gewöhnlich steigt doch der
Vogel allmählich aus dichteren Schichten in
luftdünnere empor. Dort kann er dann einesteils
wegen des verminderten Luftwiderstandes schneller
fliegen, und muß andererseits schneller fliegen,
um seinem gewaltigen Atembedürfnis, gemäß des
Mechanismus der Atmung im Fluge (cf. oben!),
genügen zu können. Ein Vogel dagegen, der
passiv im Korbe emporgeführt wird, muß sich
doch anders verhalten, da der Vogel in der Ruhe
genau so atmet wie jedes Säugetier, d. h. selbst
dabei tätig ist. Er ist noch wenig an so dünne
Luft gewöhnt, seine Luftsäcke sind vielleicht auch
noch nicht so prall gefüllt, wie es beim schnellen
Fluge geschieht, kurz, es ist ein ganz anderer
Fall, als wenn er in diese Höhen aufgeflogen wäre,
und es erscheint dann auch nicht sonderbar, daß
ein solcher Vogel, plötzlich ausgesetzt, zunächst
ein ganz beträchtliches Stück fällt, ja, ich meine:
fallen muf5. — Wie wichtig der Mechanismus der
Atmung während des Fluges für den Vogel ist,
davon kann sich jeder überzeugen , der einmal
einen Vogel im Zimmer jagt: W^ohl fliegt derselbe
anfangs lebhaft von einer Seite nach der andern,
ermattet aber sehr bald und fällt schließlich ganz
erschöpft und krampfhaft atmend an der Wand
herunter. Bei der Kürze des Fluges füllen sich
seine Luftsäcke nicht passiv mit Luft , er muß
selbst atmen, und es ergeht ihm dann wie jedem
Menschen, der längere Zeit schnell gelaufen ist;
er wird matt, muß ruhen und Atem schöpfen.
Ich meine daher, daß diese bisher noch wenigen
Beobachtungen uns noch nicht zwingen können,
gleich die bisherige alte Auffassung der Höhe des
Vogelfluges über Bord zu werfen ; denn die An-
nahme bedeutender Höhen für den Wanderzug
der Vögel läßt ja tatsächlich Vorteile für den
Vogel annehmen, z. B. schon Unabhängigkeit von
der Windrichtung.
Nichtsdestoweniger ist die mitgeteilte Beobach-
tung der Luftschiffer nach mehr als einer Seite
hin interessant und hat s. Zt. berechtigtes Auf-
sehen erregt. Die Wichtigkeit der Frage wurde
auch auf dem Zoologenkongresse selbst sofort
anerkannt und daraufhin beschlossen, sämtliche
Staaten aufzufordern „zur Erforschuug der Höhe
des Vogel- und Insektenfluges ihren LuftschifFer-
Abteilungen Beobachtungen der durchziehenden
Vögel und Insekten in verschiedener Höhe anzu-
empfehlen und anläßlich der Ballonfahrten Abflug-
versuche anzustellen." Bis jetzt aber ist mir noch
keine dahingehende Notiz wieder zu Gesicht ge-
kommen.
Zum Schlüsse will ich aber noch ausdrücklich
bemerken, daß vorstehende Ausführungen nicht
dahin sollen gedeutet werden, daß ich unbedingt
bei der alten Anschauung stehen bleiben wolle.
Dieses ist nicht der Fall; denn Angaben, denen
gemäß der Wanderzug mancher Vögel in Höhen
von 10 000 m oder gar noch darüber stattfinde,
können wohl Zweifel an ihrer Richtigkeit heraus-
fordern. Doch darf man auf Grund nicht ganz
einwandfreier Versuche nicht gleich in das andere
Extrem verfallen und die Höhen zu niedrig an-
nehmen wollen. Hoffentlich bringen erneute Ver-
suche und Beobachtungen bald mehr Klarheit in
diese interessante Frage. Dr. Rabes-Zerbst.
n - Strahlung lebender Organe. — In den
Dezember- und Januar- Nummern der ,,Comptes
rendus" machen Charpentier und E. Meyer
bekannt, daß sie mit Hilfe der phosphoreszieren-
den Schichten entdeckt haben, daß der mensch-
liche, tierische und pflanzliche Körper im normalen
Lebenszustande Strahlen aussende, die den von
Blondlot entdeckten n - Strahlen jedenfalls nahe
verwandt sind. In der Nähe der lebenden Organe
leuchtet ein dünne Schicht phosphoreszierenden
Schwefelkalziums stärker und gibt so das Vor-
handensein jener Strahlung zu erkennen. Im
menschlichen und tierischen Körper sind es
namentlich die Muskeln und Nerven, welche, be-
sonders im Zustande der Erregung, deutlich strahlen.
Da die Versuche auch mit dem Frosch gut ge-
lingen , selbst wenn die phosphoreszierende Sub-
stanz eine höhere Temperatur hat als das Tier,
hält Charpentier es für ausgeschlossen , daß es
sich hier nur um eine Wirkung von Wärmestrahlen
handeln könnte. Besonders intensiv wird die von
den Nerven ausgehende Strahlung bei einer Kom-
pression derselben. Das Zentralorgan erwies sich
als die stärkste Quelle dieser physiologischen
Strahlen. Ch. glaubt sogar, daß auch der nicht
ausgesprochene Gedanke sich nach außen durch
die vermehrte Strahlung des Gehirns zu erkennen
gibt, so daß von dieser Seite her bis zu einem
gewissen Grade eine Art von „Gedankenlesen"
sich entwickeln könnte. Diese von nervösen Ele-
menten ausgehenden Strahlen sind übrigens von
den n-Strahlen dadurch unterschieden, daß sie
vom reinen Wasser und Blei nicht völlig absor-
biert werden, wohl aber von einem Aluminium-
blech von 0,5 mm Dicke. Dagegen gehen die
von den Muskeln , namentlich dem Herzen aus-
gesandten Strahlen ungehindert durch das Alu-
miniumblech hindurch und verhalten sich wie
n-Strahlen. Die Muskelstrahlung wird im Gegen-
satz zur Nervenstrahlung durch Kompression des
Muskels nur wenig verstärkt.
E. Me_\'er konstatierte die gleiche Strahlung
bei Pflanzen, und zwar vorzugsweise in der Nähe
der Blätter und Wurzeln. Die Pflanzenstrahlung
wird durch Druck erheblich gesteigert, durchdringt
das Aluminium und wird vom Blei zurückgehaltn.
kbr.
Wetter-Monatsübersicht.
Am Anfang und gegen Ende des vergangenen Januar
herrschte in ganz Deutschland trockenes, teilweise heiteres
Frostwetter, wogegen um Mitte des Monats das Wetter sehr
mild , aber windig und reich an Niederschlägen war. Die
tiefsten Temperaturen kamen in Norddeutschland, wie die hei-
stehende Zeichnung ersehen läßt, um den 6. Januar vor, an
N. F. III. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
dem Neufahrwasser —12 Grad C. hatte. In der Provinz Ost-
preußen brachte es Königsberg auf 14, Marggrabowa auf 19,
Gumbinnen sogar auf 20 Grad C. Kälte. Dann fand über-
Tcmpera/uryWiBJtiia einiger Ot'U Jtn3ati«ar }20^.
Berliner Wetterburiau.
all eine ziemlich rasche Erwärmung statt, die in Süddcutsch-
land schon etwas früher begonnen hatte und sich fast bis zur
Mitte des Januar fortsetzte, .«^m 13. und 14. wurden mittags
in einem großen Teil des westdeutschen Binnenlandes 10 Grad
C. überschritten, in der Nacht zum 14. ging dort das Thermo-
meter an den meisten Orten nicht unter 5 Grad C. herab.
Die zweite Frostzeit, die etwa am 18. ihren Anfang nahm,
verlief im Norden etwas gelinder, im Süden zum Teil noch
strenger als die zu Beginn des Jahres. Doch trat noch vor
Schluß des Januar allgemein wieder Tauwetter ein. Im ganzen
Monat war es durchschnittlich in Norddeutschland ein wenig
zu warm, in Süddeutschland zu kalt. Bedeutend war der
Mangel an Sonnenschein, den der Januar, ebenso wie die
beiden ihm vorangegangenen Monate aufwies. Beispielsweise
hat zu Berlin im letzten Januar nur an 26 Stunden die Sonne
geschienen, gegen 42 Stunden im Durchschnitt der früheren
Januarmonate.
Wie das Jahr 1903 in Deutschland geendigt hatte, so
ging auch die erste Woche des neuen Jahres, der nebenstehen-
15 i 2 äzrsij'^ a ossI^öTje n
'1 -^ s ° s
= C S i a.
aJ3:x^3:£5 S:£xUcDofl SxLru.ai<
im 3anuar 190'^.
Milerer Wert für
Deutschland.
Monaksumme im Jan.
I90ii 03, 02, 01. 00, WS,
mtn
20. bis31. Januar
— mji 1 1 1 1 1 IM LM
•** B(rlirerWeft*rburcau.
den Zeichnung zufolge, fast ohne alle Niederschläge vorüber.
Erst in der Nacht zum 8. Januar traten an der Nordseeküstc
Schneefälle ein , die sich , mit Regen abwechselnd, allmählich
über das ganze Land verbreiteten.
Vom 13. bis 15. Januar wurden die deutsche Küste und
das westliche Binnenland von heftigen \A^eststürmen durch-
zogen, die von schweren Regenfällen, vielfachen Gewittern
und Hagelschauern begleitet waren. Die Niederschlage
setzten sich bis zum 19. in Schneefällen fort und brachten
dem größten Teile des Landes mit Ausnahme des Ostsee-
gebietes endlich die schützende Schneedecke , die die
Saaten während des Frostwetters zu Beginn des Jahres
hatten entbehren müssen. Im letzten Drittel des Monats
traten meist vereinzelte und erst in seinen allerletzten Tagen
wieder zalilreichere und etwas ergiebigere Niederschläge auf.
Ihr gesamter Betrag im Monat, der sich für den Durchschnitt
der berichtenden Stationen auf 31.7 Millimeter belicf, war um
14 Millimeter kleiner, als ihn die gleichen Stationen seit Be-
ginn des vorigen Jahrzehntes im Januar durchschnittlich er-
geben haben.
In der allgemeinen Anordnung des Luftdruckes gingen
die .\nderungen von einem Tage zum andern gewöhnlich nur
langsam vor sich. Ein barometrisches Ma.ximum, das am
Schlüsse des vergangenen Jahres auf der skandinavischen
Halbinsel gelegen hatte, begab sich mit kalten östlichen Win-
den über Ostdeutschland allmählich nach Westrußland hin und
dehnte dabei sein Gebiet über den größten Teil des euro-
päischen Festlandes aus. Erst am 8. Januar vermochte eine
umfangreiche ozeanische Depression mit ihrem südlichen Teile
hier einzudringen , worauf sich die Winde nach Südwesten
drehten und verschiedene neue Minima bald nachfolgen konnten.
Das tiefste unter ihnen, das am 13. Januar bei Irland erschien,
brachte den britischen Inseln, Frankreich und Deutschland
schwere Stürme, zerfiel aber, nordostwärts fortschreitend, in
mehrere Tcildepressionen, die allmählich tlacher und flacher
wurden.
Bald nach Mitte des Monats rückte vom biskayischen Meere
ein neues Barometerma.ximum ostwärts vor und bedeckte vom
20. bis 25. Januar ganz West- und .Mitteleuropa. Hier stellte
sich daher "ruhiges, trockenes, ziemlich kaltes Wetter ein,
während auf der skandinavischen Halbinsel, später auch in
Nordrußland, beim Vorübergange tiefer Depressionen, oftmals
stürmische, aber für die Jahreszeit recht warme Westwinde
herrschten. Als sich dann am 26. wieder ein Minimum vom
atlantischen Ozean den britischen Inseln näherte , wurde das
Hochdruckgebiet mehr nach Osten verschoben. In Mittel-
europa fand dabei zunächst eine Drehung der Winde nach
Südosten mit .Aufheiterung des Himiriels und Zunahme des
Frostes statt, während gegen Ende des Monats eine mildere,
feuchte Südwestströmung eintrat. Dr. E. Less.
Ostsee.
Bücherbesprechungen.
Publikationen der Deutschen Seewarte :
Vierteljahrskarte für die Nordsee und
I. Jahrgang. Winter 1903/04.
Monatskarte für den nordatlantischen Ozean.
III. Jahrgang. 1904.
Zu beziehen durch Eckardt & Meßtorff in Ham-
burg. — Preis pro Blatt 75 Pf.
Diese in großem Formate (80X50 cm und 84X
58 cm) ausgegebenen Karten sind zwar zunächst nur
für den praktischen Seemann bestimmt, dem sie an
Bord eine Anzahl für ihn wissenswerter Mhteilungen
in möglichst übersichtlicher Form darbieten sollen,
indessen wird die große Fülle von geophysikalischen,
klimatolügischen und nautischen Angaben, die hier
kartographisch niedergelegt sind, sicherlich auch eine
ausgedehnte Verwendung derselben als Lehrmittel zur
Folge haben, zumal der Preis ein außerordentlich
334
Naturwisseiiscliaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 21
niedriger ist. Um eine Vorstellung von dem reichen,
didaktisch verwertharen Inhalte der Karten zu geben,
greifen wir nur das Folgende heraus :
Die Monatskarte für den nordadantischen Ozean
zeigt uns den Verlauf der Isogonen , die Dampfer-
und Seglerwege nebst Entfernungsangaben, die Passat-
grenzen und Gebiete des Passatstaubfalles, die Lage
der tropischen Regenzone, die Gebiete größter
Nebelhäufigkeit und die Grenze des Treibeises,
Strömungspfeile, Windrosetten mit Angabe der
prozentischen Häufigkeit und Stärke der verschie-
denen Winde, Sturmbahnen und Sturmwarnungs-
signale. Ein Nebenkärtchen bringt das Mittelländische
Meer zur Darstellung und die Rückseite ist; zur Be-
kanntmachung meteorologischer Dekadenberichte und
anderer Mitteilungen in Kartenform ausgenutzt.
Die Vierteljahrskarte für die Nordsee und Ostsee,
von welcher erst die erste Nummer zur Ausgabe ge-
langte, enthält für diese Meeresteile in größerem
Ma(3stabe zum Teil dieselben Angaben wie die
Monatskarte, außerdem jedoch Tiefenlinien, Isorhachien,
und die Orte der Sturmwarnungssignale. Nebenkärt-
chen belehren über die mittleren Luftdruck-, Tempe-
ratur- und Nebelverhältnisse. Außerordentlich lehr-
reich ist die auf der Rückseite in 12 Einzel-
kärtchen für jede Stunde gegebene Darstellung des
Gezeitenphänomens in der irischen See, dem Kanal
und der Nordsee. — Die meteorologischen Angaben
haben bei dieser Karte besondere Schwierigkeiten
bereitet, da in den heimischen Gewässern bis jetzt
in der Regel keine regelmäßigen Schiftsjournale ge-
führt wurden, so daß dieselben in meteorologischer
Hinsicht vergleichsweise am wenigsten bekannt sind.
F. Kbr.
Sammlung Göschen.
1 ) Möbius, Astronomie. 10. Aufl. Neubearb. v.
Prof W. F. Wislicenus. Mit 36 Abb. u. Sternkarte.
170 S. 1903.
2) Hauber, Statik. I. Die Grundlehren der Statik
starrer Körper. Mit 82 Fig. 148 S. 1903. —
Preis pro Bändchen 80 Pf
i) Nachdem erst die 9. Auflage durch den jetzigen
Herausgeber eine durchgreifende Neubearbeitung er-
fahren hatte, konnte sich derselbe bei der vorliegen-
den Ausgabe auf die Nachtragung der inzwischen er-
folgten Entdeckungen und auf eine Revision der
Zahlenwerte beschränken. Das Büchlein stellt eine
treuliche, erste Einführung in das astronomische
Wissen dar. Vielleicht könnte die beigegebene, kleine
Sternkarte in Zukunft durch deutüchere Hervorhebung
der helleren Sterne und schwächere Markierung der
Sternbildgrenzen und Gradeinteilung etwas brauch-
barer gemacht werden.
2) War die vorige eine populäre Schrift, so ist
die Hauber'sche Statik wohl mehr als ein Taschen-
buch für den Hochschulstudenten gedacht, dem sie
sicherlich als ein nützliches Repetitorium dienen
kann. Neben den analytischen Methoden werden
besonders die graphischen Verfahren (Kräftepolygon
und Seilpolygon) erläutert. Ein umfangreiches Ka])itel
ist der Lehre vom Schwerpunkt gewidmet. Zalil-
reiche durchgerechnete Beispiele werden die Anwen-
dung der theoretischen Lehren wesentlich erleichtern.
F. Kbr.
E. Sorel, Ancien Ingenieur des Manifactures de l'Etat :
La Grande Industrie c h i m i q u e m i n e r a 1 e.
Potasse — Soude — Chlore — Jode — Brome. Paris.
C. Naud Editeur. 1904.
Dem ersten, im Jahre 1902 erschienenen (in der
„Naturwiss. Wochenschr." des vorigen Jahrgangs pag.
263 besprochenen) Bande der „la grande Industrie
chimique minerale" ist jetzt ein zweiter gefolgt. Der-
selbe stellt ein in sich geschlossenes Ganzes dar, und
behandelt in eingehender Weise die technische Chemie
der Soda , Pottasche , des Chlors , Broms und Jods.
Der Industrie der drei Halogene sind nur wenige
Kapitel gewidmet, während der übrige Stoff eine
reiche Quelle der Belehrung bietet. Der 671 Seiten
füllende Text zerfällt in 21 Kapitel, von denen jedes
in verschiedene Abschnitte zerfällt. Der Verfasser
behandelt zunächst im i. Kapitel die Salinenindustrie,
und bespricht in Unterabteilungen das Seesalz,
dessen spezifisches Gewicht und seine Siedetemperatur,
die spezifische Wärme der Lösungen, den natürlichen
Zustand des Seesalzes; er erinnert an die Salzteiche
im Westen Frankreichs, und an die Salinen im Süden ;
erwähnt auch den Salzauszug im Süden \'on Rußland
und gedenkt der Salzsteppen. Darauf widmet er dem
Steinsalz einige -Abschnitte, bespricht die Steinsalz-
lager von Cordova, Transylvanien, Staßfurt, Lothringen,
und schildert die Gewinnung des Salzes aus Salzton,
die Ausbeutung der Salzbänke durch Lösung, gedenkt
des Salzvorkommens in Salzquellen und gibt ein
kurzes Bild von der Konzentration und weiteren Be-
liandlung der Lösungen bis zur Kristallisation des
Kochsalzes. Im 2. Kapitel findet die Industrie der
Staßfurter Abraumsalze weitgehende Berücksichtigung.
Ein weiteres Kapitel behandelt ferner die Darstellung
der Pottasche aus Pflanzen und aus Fett. Schließlich
werden noch in einzelnen Kapiteln besprochen ; die
Jod- und Broraindustrie, die Industrie des schwefel-
sauren Kalis nach ■ verschiedenen Methoden , der
Schwefelsäure und ihrer Salze, die Salzsäure und ihre
Darstellung in der Technik, die Industrie der Soda
nach dem Leblanc- und dem Ammoniak-Soda-Prozeß
und endlich die Technik der Chlorbereitung , sowie
der Verbindungen des Chlors, des Chlorkalium, Chlor-
kalk, Hypochlorit und Chlorat.
Das Werk zeigt von einer gründlichen Kenntnis
der Fabrikationsmethoden und der Einzelheiten im
Betriebe und, wenn auch der Inhalt des Werkes nicht
gänzlich dem Titel entspricht, und die Übersichtlich-
keit wegen der Fülle des Stofts zuweilen etwas leidet,
so kann man auch von dem vorliegenden Bande
sagen, daß es als Handbuch für den industriellen
Chemiker hervorragend geeignet ist. R, Loebe.
Literatur.
Bartsch, Dr. llugü: rii.s der .\rzt kommt. Gruiidzüge der
naturgcmäüen (iesuudhcilspflegc, Krankenpflege u. Kranken-
behandig. Zum Gebrauche in Haus u. Familie gemeinvcr-
N. F. m. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
335
ständlich dargestellt. (X, 301 S. m. 19 Abbildgn.) gr. S".
Heidelberg '04, O. Petters. — 3 Mk. ; geb. in Lcinw. 4 Mk.
Bilderzeugung, die, in optischen Instrumenten vom Stand-
punkte der geometrischen Optik. Bearb. von den wisscn-
schaftl. Mitarbeitern an der opt. Werkstätte v. Carl Zeifi !'.
Culmann, .S. Czapski, .\. König, F. Löwe, M. v. Rohr, H.
Siedentopf, E. Wandersieb. Hrsg. von M. v. Rohr. Mit
133 .'Xbbildungen im Text. (XXII, 587 S.) Berlin '04,
J. Springer. — 18 Mk.
Dölp, weil. Prof. Dr. H. : Aufgaben zur Diftercntial- u. Inte-
gralrechnung nebst den Resultaten u. den zur Lösung nötigen
theoretischen Erläuterungen, neu bearb. v. Prof. Dr. Eug.
Netto. 10. Auflage. (Ul, 216 S.) gr. 8". Gießen '03,
J. Ricker. — Geb. in Leinw. 4 Mk.
Dölp, weil. Prof. Dr. H. : Die Determinanten, nebst .Anwendung
auf die Lösung algebraischer und analytisch-geometrischer
Aufgaben. Elementar behandelt. 6. .»Vull. (IV, 95 S.)
gr. 8". Darmstadt '03, E. Rocther. — 2 Mk.
Ergebnisse, wissenschaftliche, der deutschen Tiefsee-Expedition
auf dem Dampfer „Valdivia" 1898—1899. Hrsg. v. Prof.
Carl Chun. III. Bd. 7. Lfg. Imp. 4". Jena, Gustav
Fischer.
Fauna arctica. Eine Zusammenstellg. der arkt. Tierformen,
m besond. Beriicksicht. des Spitzbergen-Gebietes, auf Grund
der Ergebnisse der deutschen Expedition in das nördl. Eis-
meer im J. 1898. Hrsg. v. DD. Fritz Römer und Fritz
Schaudinn.' III. Bd. 2. Lfg. (S. 91—412 m. 52 Fig., 11
Taf. u. 1 1 Bl. Erklärgn.) Imp. 4". Jena '03, G. Fischer.
— 40 Mk.
Jost, Prof. Dr. Ludw. : Vorlesungen üb. Pflanzenphysiologie.
(XIII, 695 S. m. 172 Abbildungen.) gr. 8". Jena '04, G.
Fischer. — 13 Mk. ; geb. 15 Mk.
Kleiber, Reallehr. Joh., u. Oberlehr. Dr. B. Karsten: Lehr-
buch der Physik. Zum besond. Gebrauche f. techn. Lehr-
anstalten sowie zum Selbststudium. Mit zahlreichen Fig.,
durchgerechneten Musterbeispielen u. Übungsaufgaben samt
Lösungen. 2. Aufl. (VIII, 360 S.) gr. 8". .München '03,
R. Oldenbourg. — Geb. in Leinw. 4 Mk.
Oppenheim, Paul : Zur Kenntnis alttertiärer Faunen in .\gypten.
I. Lfg.: Der Bivalven I. Tl. (Monomyaria, Heteromyaria,
Homomyaria u. Siphonida integripalliataj. (S. I — 164 m.
17 Taf. u. 17 Bl. Erklärgn.) Stuttgart '03, E. Schweizerbart.
— 40 Mk.
Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften. Nr. 140 —
142. 8". Leipzig, W. Engelmann. Kart.
140. Faraday, Mich.: Experimental-Untersuchungen üb.
i:iektrizität. (.-\us den Phil. Trans, f. 1846, 1849 u. 1850.
Hrsg. von A. J. v. C)ettingen. X.\. bis XXIII. Reihe.
Mit II Fig. im Text. (174 S.) '03. 3 Mk. — 141.
Enke, J. F.: Über die Bestimmung e. elliptischen Bahn
aus drei vollständigen Beobachtungen. — Hansen, J. A. :
Über die Bestimmung der Bahn c. Himmelskörpers aus
drei Beobachtungen. Hrsg. v. J. Bausehinger. (162 S.)
'03. 2,50 .Mk. — 142. Weber, Willi., u. Rud. Kohl-
rausch: Fünf Abhandlungen üb. absolute elektrische
Strom- u. Widerstandsmessung. Hrsg. v. Frdr. Kohlrausch.
.Mit 2 Bildnissen u. 2 Fig. im Text. (116S.) '04. 1,80 Mk.
Popig, Dr. Herm. : Die Stellung der Südostlausitz im Gebirgs-
bau Deutschlands und ihre individuelle Ausgestaltung in
Orographie u. Landschaft. Mit i Karte u. 1 Taf. Profile.
(88 S.) Stuttgart '03, J. Engelhorn. — 7 Mk.
Potonie, Landesgeol. Prof. Dr. H. : Abbildungen u. Beschrei-
bungen fossiler Pflanzen-Reste der paläozoischen u. meso-
zoischen Formationen. 1. Lfg. Hrsg. v. der königl. preuü.
geolog. Landesanstalt. (IV, 5 ; 2 m. I Tat'., 2, 3, 2, 5, 2,
.1. 1. 6. 3i 3. 6, 2, 2 m. I Taf., 4, 4, 10, 6, 8 S.) Lex. 8".
Berlin '03, (S. Schropp). — In Mappe 3,50 Mk.
Rabenhorst's, Dr. L. : Kryptogamen-Flora von Deutschland,
Osterreich u. der Schweiz. 2. Aufl. 4. Bd. Laubmoose.
Bearb. v. K. Gust. Limpricht. 41. (Schlurs-)Lfg. (VIII
u. Register S. 33 — 79.) gr. 8". Leipzig '04, l'l. Kummer.
— 2,40 Mk.
Reiniscb, Rhold.: l'etrographisches Praktikum. 2. Tl.; Ge-
steine. (VII, 180 S. m. 22 Fig.) gr. 8". Berlin '04, Gebr.
Borntraeger. — Geb. in Leinw. 5,20 Mk.
Shaler, Prof. N. S , S. D. : Elementarbueh der (Jeologie für
.'\nfanger. Übers, von C. v. Karczewska. (308 S. m. Ab-
Drcsdcn 'o^; , H. Schultze
3 Mk.
liildgn.) gr.
geb. 4 Mk.
Stille, Dr. Hans: Geologisch-hydrologische Verhältnisse im
Ursprungsgebiete der Paderquellen zu Paderborn. Mit Taf.
I — VI u. 3 .Abbildgn. im Text. Hrsg. v. der königl. preuü.
geolog. Landesanstalt u. Bergakademie. (IV, 129S.) Berlin
'03. S. Schropp. — 8 .Mk.
Briefkasten.
Herrn W. Seh. in Pirna. — Auskünfte über geologische,
mineralogische und verwandte Vereine iinden Sie in Böhm's
Kalender für Geologen, Paläontologen und Mineralogen (Gebr.
Borntraeger in Berlin.)
Herrn H. in B. — Eine neuere, reichhaltige arithmetische
Aufgabensammlung mit Ergebnissen ist diejenige von Lieber
und Köhler, Berlin, L. Simeon. — Ein bekanntes Schulbuclier-
antiquariat in Berlin ist dasjenige von Gsellius, W., Moliren-
straße 52.
Anfrage: Von verschiedenen Seiten sind bei der Redak-
tion .\nfragen eingelaufen, die sieh auf .\nleitungen zur eigenen
Herstellung physikalischer Apparate beziehen. Das hierher
gehörige Buch von Lehmann ,, Physikalische Technik" ist ver-
grift'cn und leider noch nicht wieder neu bearbeitet worden.
Frick's ,,Phys. Technik" und Hopkins' ,,Der praktische Experi-
menlalphysiker" lassen den Wunsch nach einer weiteren,
praktischen .\nleitung hoch bestehen. Vielleicht ist einer
unserer Leser in der Lage, ein entsprechendes neueres Werk
empfehlen zu können. Die Redaktion könnte nur auf Ebert's
Anleitung zum Glasblasen, Weinhold's ,, physikalische Demon-
strationen", Weiler, ,,Der praktische Elektriker" (Leipzig,
W. Schäfer) und auf die in Poske's Zeitschrift für den phys.
u. ehem. Unterricht und in den ,, Periodischen Blättern für
Realienunterricht" verstreuten Winke verweisen. Der Bau von
Funkeninduktoren speziell wird in einem kürzlich erschienenen
Werke von Ruhmer (Verlag von Hachmeister und Thal, Leipzig),
ausführlich behandelt.
Herrn K. W. inB. — Über Quarzglas ist bereits in Nr. 46
des zweiten Jahrganges (N. F.) der ,,Naturwissenschaftl. Wochen-
schrift" auf Seite 550 berichtet worden. — ■ W. C. Heraus,
der sich mit der Herstellung dieses neuen ,, Glases" befaßt,
gab gelegentlich des V. Internationalen Kongresses für ange-
wandte Chemie nähere Mitteilungen hierüber. Der Quarz
kann wegen seiner hohen Schmelztemperatur (ca. 1830" C)
nur in Gefäßen aus reinem Iridium geschmolzen werden.
Damit das Iridium aber nicht selbst zum Schmelzen gebracht
wird, darf man über eine Temperatur von 2000" C. nicht
hinausgehen, und muß die Temperatur mit Hilfe eines Thermo-
elementes regulieren, das aus Iridium und einer Legierung
von Iridium und Ruthenium besteht. Ganze Quarzblöcke
kann man nicht für sich erhitzen, da sie infolge einer mole-
kularen .\nderung bei ca. 570" zerspringen.
Bevor man den Quarz erhitzt, muß er sorgfältig gereinigt
werden, da er außer von Metalloxyden besonders auch von
."Mkalien angegriffen wird, selbst von jenen Spuren, die sich
bei der Berührung mit der Haut auf ihn übertragen. Dagegen
ist er gegen reine Metalle unempfindlich, so daß man Metalle
in Gefäßen von Quarzglas leicht destillieren, und so z. B.
silberhaltiges Gold durch fraktionierte Destillation im Quarz-
glaskölbchen bei einer gewissen Temperatur vom anhaftenden
Silber befreien kann.
Die Herstellung von Hohlgefäßen aus Quarzglas bietet
mancherlei Schwierigkeiten, und die große Hitze, die dabei
nötig ist, gestattet den damit beschäftigten .\rbeitern nicht
mehr als fünf Stunden täglich zu arbeiten. .Auch können nur
sehr geschickte Leute mit derartigen Arbeiten betraut werden,
und aus den hiermit verbundenen hohen Arbeitslöhnen und
dem großen Verbrauch an Sauerstoffgas, das zur Gewinnung
der hohen Temperaturen nötig ist, erklärt es sich, daß die
Herstellung des Quarzglases sehr kostspielig und des-
halb sein praktischer Wert momentan noch ziemlich gering
ist. Die Firma W. C. Heraus in Hanau hat aus Quarz-
glas schon die verschiedensten chemischen Hohlgefäße,
336
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 21
wie Bechergläschen , Destillierkolben und Schmelztiegel
hergestellt, von denen sich die letzteren sehr gut an Stelle von
Platintiegeln verwenden lassen. (Ein Quarzglastiegel von der
Größe eines größeren Platintiegels kostet etwa 15 bis 20 Mark.)
Diese Quarzglasgefäße sind auch gegen mechanische An-
griffe weniger leicht empfänglich, als das spröde Glas und das
biegsame Platin. Vor allem ist aber der Quarz gegen plötzliche
Ternperaturschwankungen infolge seines äußerst geringen Aus-
dehnungskoeffizienten sehr unempfindlich. Und man kann
daher ein bis zum Glühen erhitztes Gefäß aus Quarzglas be-
quem in kaltes Wasser tauchen, ohne daß sich irgendwelche
Sprünge zeigen. Zunächst tritt bei diesem Versuche das
bekannte Leidenfrost'sche Phänomen auf, dann erfolgt, durch
plötzliche Verdampfung der umgebenden Wasserteilchen her-
vorgerufen, ein knatterndes Geräusch, und das Gefäß ist er-
kaltet, ohne Schaden genommen zu haben.
Über die Verwendbarkeit des Quarzglases zur Herstellung
von Normalthermometern liegen noch keine positiven Re-
sultate vor, und die mir zu Gesicht gekommenen Thermo-
meterröhren waren noch nicht auf der Höhe der Vollendung
angelangt.
Bezüglich des optischen Verhaltens des Quarzglases,
das in dem gedachten Referate auch bereits erwähnt wurde,
sei noch als besonders interessant in Erinnerung gebracht, daß sich
seine Lichtemplindlichkeit auch auf die ultravioletten Strahlen
erstreckt.
Neuerdings sind wieder weitere Fortschritte in der
Bearbeitung des Quarzglases gemacht worden. Man vermag
ihm schon kompliziertere Formen zu verleihen, und die Firma
Heraus verwendet das Quarzglas jetzt zur Herstellung von
Quecksilberbogenlampen. Durch die Widerstandsfähigkeit
g"egen Temperaturunterschiede ist die Möglichkeit einer be-
deutenden Querschnittverminderung der Lampen gegeben, und
die Lampe^ arbeitet so auch mit einem viel geringeren
Stromverbrauch. Vor allem kommt hierbei auch die Eigen-
schaft des Quarzglases, für ultraviolette Strahlen durchlässig
zu sein, zur Geltung, an denen ja die Quecksilberbogenlampe
reich ist. Da sonach das Licht der neuen Quecksilberbogen-
lampe sehr aktiv ist, — durch Messungen hat sich ergeben, wie
die letzte Nummer der ,, Chemischen Zeitschrift" mitteilt, daß
sie bei gleichem Wattverbrauch der gewöhnlichen P>ogenlampe
um das Hundertfache überlegen ist — so geht daraus hervor,
daß die Quarzglasquecksilberbogenlampe befähigt ist, der bis-
her benutzten Bogenlampe als erfolgreiche Konkurrentin bei
der Lichttherapie zur Seite zu treten.
Übrigens mag an dieser Stelle noch darauf hingewiesen
werden, daß das Glaswerk Schott und Genossen in Jena jetzt
sowohl Krön- als auch Flintgläser nach einem besonderen Ver-
fahren herstellt, die für ultraviolette Strahlen weit durch-
lässiger sind, als die durchlässigsten der bisher bekannten
Glasarten. Die optische Durchlässigkeit geht in dünnen
Schichten etwa bis 2^0 fi(j. Auf dem kürzlich in Kassel statt-
gefundenen Kongreß deutscher Naturforscher und Ärzte be-
richtete Zschimmer-Jena über diese neuen Gläser und teilte mit,
daß sie zwar nicht mit Quarz in Konkurrenz treten können,
daß sie sich aber doch besser als dieses in großen Dimensionen
zu astronomischen Zwecken herstellen lassen. R. Lb.
Herrn O. M. in Weida (Entstehung von Kar-
toff e 1 s o r t e n). — Es geht mit vielen Pflanzen,
die aus dem wilden Zustande in Kultur genommen werden,
so, daß sie während einer Reihe von Generationen unverändert
ihren ursprünglichen Charakter bewahren. Plötzlich treten
Veränderungen an den Sämlingen auf, und es kann nun ein
unaufhaltsames Variieren beginnen, ohne daß Blütenstaub einer
anderen Art, oder auch nur einer anderen Sorte, mitzuwirken
braucht. — Die Ursache, die Art des Anstoßes zu dieser Ver-
änderlichkeit, ist unbekannt. — Bastarde zwischen Solanum
tuberosum, der Kartoffel, und irgend einer anderen Art von
Solanum, sind mir unbekannt. — Die ersten, und eine Menge
Sorten, müssen daher unter Kartoftelaussaaten, — da der
Blütenstaub einer fremden Art oder Sorte nicht mitwirken
konnte — , einfach durch Variation entstanden sein. — Später
ist die Bestäubung der zahlreichen , durch Variation entstan-
denen Sorten untereinander hinzugetreten und es sind .Misch-
linge entstanden. Die heutigen Sorten sind Avahrscheinlich
meist solche Mischlinge, ,,Hybriden". — Ich lese in einem
Buche über Kartoft'elbau von H. Werner ; „Die Anzahl der
Varietäten und Kartoffelsorten ist außerordentlicli groß, da es
durch Aussaat des Kartoffelsamens, der fast immer durch
Kreuzung, sei es durch natürliche oder künstliche Befruchtung
mit anderen Sorten entsteht, leicht gelingt, neue Sorten zu
erzeugen."
Da traten vor etwa 30 Jahren vereinzelte Mitteilungen
über sogenannte K a r t o f f el p fr o p fh y b r i d e n auf. Es
sollten in irgendeiner Weise zwei Knollen, oder die Triebe
zweier Knollen, von zwei verschiedenen Kartoffelsorten ver-
bunden und zum Verwachsen gebracht worden sein und
Knollen ergeben haben, die sich als Mischlinge der beiden
Elternsorten erwiesen. Die Mitteilungen über angebliche
Kartoffelpfropfhybriden häuften sich , kamen meist aus Eng-
land, und fanden vielfach Glauben. Ein Mr. Tayler geht in
der Sicherheit des Erfolges seiner Experimente so weit, zu
behaupten, daß die Pfropfung zweier verschiedener Sorten auf-
einander zu einem weit sichereren Resultate führe, als die Er-
ziehung neuer geschlechtlicher Bastarde. Man hat es beispiels-
weise nach ihm vollkommen in der Hand , Wohlgeschmack
mit Frühzeitigkeit zu verbinden durch Pfropfen (bzw. Kopu-
lieren oder dgl ') einer wohlschmeckenden , wenn auch späten,
auf eine frühe, minder wohlschmeckende Sorte. — Ich nahm
damals die Frage über die Kartoffelpfropf hybriden , um die
viel gestritten wurde, auf und stellte zahlreiche , verschieden-
artige Versuche an. (Meine Resultate habe ich veröftentlicht
in ,,Landwirtsch. Jahrbücher 1878", auch als Broschüre er-
schienen bei Paul Parey, Berlin. Mit 4 Tafeln). Zunächst
wurden Knollenteile verschiedener Sorten gepfropft, entweder
Hälften oder segmentartige Abschnitte aneinandergefügt oder
keil- oder zylinderförmige Ausschnitte eingesetzt. In keinem
einzigen Falle habe ich einen Mischling unter den geernteten
Knollen nachweisen können, wohl aber gezeigt, wie man
durch ungenaue Beobachtung zu vielen Irrungen gekommen ist.
Eine größere Wahrscheinlichkeit eines Erfolges schien
die Pfropfung der Stengel , namentlich die Übertragung des
Farbstoffes, zu versprechen. Ich benutzte im Frühling die zu
dieser Zeit an den Knollen sich findenden, langen Triebe (sog.
Keime), die bei den verschiedenen Sorten durch die Farbe
auffallend voneinander unterschieden sind. Ein dunkelblauer
Keim der Sorte Zebra wurde auf den hellgrünen Keim der
Sorte Kaliko kopuliert. Der Keim von Zebra wurde abge-
brochen und eingepflanzt. Nach kurzer Zeit zeigte sich die
Unterlage schön karminrot. — Ich habe die Frage nicht
weiter verfolgt. Die Aufmerksamkeit wird nun weiter auf
solche gefärbte Achsenteile gerichtet sein müssen; es ist zu
verfolgen, ob die an ihnen entstehenden Ausläufer ebenfalls
gefärbt sind und ob diese Färbung den am Ausläufer sich
bildenden Knollen sich mitteilt. Es wäre in diesem Falle
eine ursprünglich weiße Sorte durch den Einfluß der Pfropfung
blau geworden, aber noch nicht als Pfropf bastard aufzufassen.
— Auch Darwin hat Pfropfversuche in großem Umfange
angestellt, gleichfalls mit negativem Resultate. Das ist noch
der heutige Standpunkt. H. Lindemuth.
Nachtrag. Zu dem Aufsatze; Übersicht über die ver-
schiedenen Refraktionszustände des menschlichen Auges, Nr. 15,
Seite 229, sei, um Mißverständnisse zu vermeiden, folgendes
hinzugefügt: Als ,, Durchmesser", richtiger Meridian, bezeichnet
man größte Kreise, die durch den hinteren und den vorderen
(mit der Hornhautmitte nicht genau zusammenfallenden) Pol
des Auges gehen. Der Ausdruck ,, Durchmesser'
sprachliche Ungenauigkeit. Dr
ist eme
Weinhold.
Inhalt: Dr. Carl Detto: Die Bedeutung der ätherischen Öle und Harze im Leben der Pflanze. — Kleinere Mitteilungen:
Prof N. Zuntz: Wie groß muß die Ventilation eines von Menschen bewohnten Raumes sein? — J. Parkes Whitney:
Das Gefrierenlassen lebender Fische. — Rabes: Die Höhe des Vogelfluges. — Charpentier und
E. Meyer: n-Strahlung lebender Organe. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen; Publikationen der
Deutschen Seewarte. — Sammlung Göschen. i)Möbius: Astronomie. 2)
Industrie chiraique minerale. — Literatur: Liste. — Brieftasten.
Hauber: Statik.
E. Sorel: La Grande
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion:
Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 28. Februar 1904.
Nr. 22.
Abonnement: M.Tn abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
■Aulträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Bedeutung der ätherischen Öle und Harze im Leben der Pflanze.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Carl Detto, Assistent
(S.
Die ätherischen ( ) 1 e als Schutzmittel
gegen Tiere.
Wie oben dargelegt wurde, finden sich die
ätherischen Öle sowohl in inneren Drüsenorganen,
wie atich als Exkrete von Köpfchenhaaren. Man
hat ihnen verschiedene Bedeutung im Haushalte
der Pflanze zugeschrieben, indem man sie einmal
als Schutzexkrete gegen tierische Feinde, sodann
als solche gegen parasitäre Pilze und gegen Fäulnis,
endlich auch auf Grund gewisser physikalischer
Figenscliaften ihrer Dämpfe als Schutzmittel gegen
Austrocknung in klimatisch trockenen Vegetations-
gebieten betrachtete. Ihre Hauptrolle spielen diese
Stoffe aber unzweifelhaft als Abwehrmittel gegen
pflanzenfressende Tiere.
Es sei zunächst, bevor wir diese Fragen näher
erörtern, darauf hingewiesen, daß in einer Rich-
tung die ätherischen ( )le nichts weniger als tier-
feindlich wirken, nämlich in den Blütenblättern,
in denen sie in Form kleiner Tröpfchen in den
Zellen abgeschieden werden und so den Duft der
Blüten, der die bestäubenden Insekten herbeilockt,
am Botanischen Institut in Jena,
hluß.)
bedingen. Das Rosenöl mag als Beispiel genannt
sein. Die allgemeine und große Wichtigkeit der
Blütenstoffe für die Fortpflanzung der Gewächse
ist so bekannt, daf5 dieser Hinweis genügt. Das
Interesse liegt hauptsächlich darin, daß chemisch
nahestehende Stoffe zu so ganz entgegengesetzten
Zwecken Verwendung finden, zur Anlockung und
zur Abwehr von Tieren.
Als Feinde der Vegetation kommen unter den
Tieren vor allem in Betracht gewisse Säugetiere
(Huftiere und Nager), Schnecken und Insekten.
Wenn wir von den Weidetieren (Huftiere)
als Pflanzenfeinden sprechen, so pflegen wir dabei
besonders oder ausschließlich an unsere Haustiere
zu denken, und in der Tat beziehen sich auch
die meisten Beobachtungen aus nahe liegenden
Gründen auf sie, auf Rinder, Ziegen, Schafe, Kanin-
chen etc. Wir dürfen aber nicht übersehen, daß
unter der Verfolgung seitens dieser Tiere die Pflanzen
ihre Schutzmittel nicht erworben haben. Wir
müssen an die ungeheuren Antilopenherden Afrikas,
an die Büftelherden Nordamerikas denken, an die
Hirsche und ihre Verwandten in Nordamerika,
?:^^
Naturvvisscnschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2:
Europa und Asien, an die wilden Kinderarten, die
auch Europa früher beherbergte und an die großen
Pflanzenfresser der Tropen und der tertiären Epoche
der nördlichen Gebiete. Erst bei Berücksichti-
gung dieser allgemeinen und historischen Verhält-
nisse wird man die rechte Würdigung der Not-
wendigkeit von Schutzmitteln finden. Die Wirk-
samkeit der Mittel dagegen vermögen uns auch
die Beobachtungen an unseren Haustieren zu lehren.
Ich will erwähnen, daß die ursprüngliche Vege-
tation von St. Helena seit Einführung der Ziegen
und Schweine daselbst ihrem Untergange verfallen
war. Darwin macht in seinem Reisetagebuche'»
darüber folgende interessante Mitteilung: Die Insel
soll in früheren Zeiten mit Wald bedeckt gewesen
sein. „Noch im Jahre 17 16 standen viele Bäume
dort, aber im Jahre 1724 waren die meisten alten
Bäume abgestorben, und da zu jener Zeit Ziegen
und Schweine frei umherliefen, konnten junge
Bäume nicht aufkommen. Es ergibt sich aus
offiziellen Akten, daß auf die Bäume einige Jahre
später unerwartet ein grobes Gras folgte, das sich
jetzt über die ganze Bodenfläche verbreitet (nach
Beatson, St. Helena). Dann sagt General Beat-
son weiter, daß diese Ebene jetzt mit schönem
Rasen bedeckt und das schönste Weideland auf
der Insel geworden ist. Die Eläche, die in einer
früheren Zeit mit Holz bedeckt war, wird auf
2000 Acres -) geschätzt ; heutigentags findet sich
kaum ein Baum dort. — Die Tatsache, daß die
Ziegen und Schweine alle jungen Bäume zerstörten,
sobald sie aufschössen, und daß die alten im
Laufe der Zeit abstarben, scheint sicher festgestellt
zu sein. Ziegen wurden im Jahre 1 502 eingeführt ;
86 Jahre später waren sie, wie man weiß, aus-
nehmend zahlreich. Mehr als ein Jahrhundert
später, im Jahre 1731, als das Übel vollständig
und unheilbar war, wurde ein Befehl gegeben,
daß alle frei umherlaufenden Tiere getötet werden
sollten."
Auch die Entwaldung der Berge Griechenlands
und Italiens wird den Ziegen zur Last gelegt.'')
In den Alpen steht es ähnlich, wenn auch hier
der Mensch und das Klima die Hauptschuldigen
sind. Tschudi^) schreibt: „Bekanntlich sind die
Ziegenherden durch ihre Naschhaftigkeit die ge-
fährlichsten Feinde Und eine wahre Geißel der
Gebirgswaldungen geworden; aber allmählich wird
diesem schädlichen Unwesen durch bessere Forst-
polizei und Einschränkung des Ziegenstandes ent-
gegengewirkt. In Bondo treibt man, wie in der
oberen Lombardei, die Vorsicht soweit, daß den
Ziegen alljährlich im Oktober auf Gemeindekosten
ein Teil der Schneidezähne abgebrochen oder ab-
') Darwin, Tagebuch naturgcschichtliclier uud geo-
logischer Untersuchungen. Übers, von A. Kirchhofif. Hendel,
Halle. S. SI5. — S. auch Grisebach, Vegetation der Erde.
11, S. 520."
^] Morgen.
') Vgl. V. Hehn, Kulturpflanzen u. Haustiere.
■*) Tschudi, Tierleben der Alpenwelt. 11. Aufl. Leipzig 1890.
S. 558.
gefeilt wird, um ihnen das Benagen der jungen
Bäumchen zu verunmöglichen."
Die Bewohner von Cresta, des höchsten Kirch-
dorfes der Alpen (fast 2000 m) und anderer Dörfer
des Averstales benutzen Ziegen- und Schafmist,
getrocknet und zu torfartigen Stücken zerschnitten,
als Heizmaterial ; außer Lawinen , Waldbränden
usw. sind es ,,die zahllosen Kuh-, Schaf- und be-
sonders die heillosen Ziegenherden, welche überall
das Verderben junger Baumschläge sind" (Tschudi,
I. c. S. 23s).
In unseren Gegenden hat man oft Gelegenheit,
den Einfluß zu beobachten, den besonders Schaf-
herden auf den Bestand der Flora des Weide-
landes haben. Einen solchen Fall habe ich oben
bereits angeführt. Neben Disteln und anderen
Pflanzen mit mechanischen Schutzmitteln wird
man fast stets die reichliche Mengen ätherischen
Öles produzierenden Labiaten unberührt vorfinden,
so den Thymian, Origanum vulgare, Calamintha
acinos, gewisse Mentha- Arten usw.
Gegenüber den Weidetieren, welche die Exi-
stenz der Pflanzenindividuen überhaupt bedrohen,
ist es von untergeordneter oder gar keiner Be-
deutung, ob die ölführenden Organe im Innern
der Gewebe sich finden oder als äußere Haar-
bildungen auftreten, wichtig ist nur, daß vor allem
die Blätter genügend geschützt sind. Den Blüten
gegenüber haben nach Kerner's') Angaben diese
Tiere eine deutlich ausgeprägte Abneigung.
Von einheimischen Pflanzen, die in den äthe-
rischen Ölen einen wirksamen chemischen Schutz
gegen die genannten Tiere besitzen, sind außer
den Labiaten, welche mehrzellige Außendrüsen
tragen, die mit gewöhnlichen Köpfchenhaaren ver-
sehenen Storchschnabelgewächse zu nennen (Ge-
ranium und Erodium); ferner Diptam und Raute,
Rutazeen mit den oben besprochenen Entleerungs-
apparaten, Umbelliferen, Hypericaceen und die
große Abteilung der strahlenblütigen Kompositen
(Kamille usw.) mit inneren Drüsenorganen.
An die Weidetiere wollen wir eine einheimische
Insektengruppe anschließen, die sich ganz ähnlich
verhält, die Heuschrecken. Wie die ersteren
sind auch diese Insekten in erster Linie Gras-
fresser, in ungeheurem Individuenreichtume und
in vielen Arten vertreten besonders durch die
Gattung Stenobothrus, auf den Alpenmatten ebenso
häufig wie in unseren weniger feuchten und
trockenen Wiesen und Triften.
Die Gefräßigkeit dieser Tierchen und die Kraft
ihrer stark entwickelten Kiefer ist erstaunlich;
selbst die äußerst harten, sehr kieselsäurereichen
Blätter von Bambusarten vermögen sie zu zer-
stören.
Versuche mit zwei Stenobothrus-Arten, welche
Professor Stahl -j anstellte, ergaben folgendes.
Es wurden 52 verschiedene Pflanzenarten den
Tieren vorgelegt, darunter von Gräsern 5, von
') Kerner, Schutzmittel der Blüten gegen unberufene Gäste.
-) E. Stahl, Pflanzen u. SchnecUcn. Jena 1888.
N. F. III. Nr. 2;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
339
Labiaten 7, Boragineen 3, Kompositen 9 usw. Von
den benutzten Gräsern (LoUum perenne, Brachy-
podium pinnatum, Avena elatior, Hordeum mu-
rinum, Bambusa aurea) wurden alle fünf gern ge-
fressen, ebenso die Boragineen (Symphytum offi-
cinale, Anchusa arvensis, Pulmonaria officinalis),
von den Labiaten dagegen wurden Mentha aqua-
tica, Galeopsis tetrahit und Stachys palustris über-
haupt nicht, Lycopus europaeus, Glechoma hede-
racea, Scutellaria galericulata und Salvia pratensis
nur in der Not angegangen. Mit den Kompositen
verhielt es sich folgendermaßen : Cirsium oleraceum
und Sonchus laevis wurden gern, Senecio vulgaris,
Crepis virens und Endivia Cichorium gar nicht,
Achillea millefolium, Scorzonera hispanica,.Tarax-
acum officinale, Picris hieracioides nur in der Not
angenommen.
Aus diesen Versuchen geht klar hervor, welche
Bedeutung chemische Schutzmittel und besonders
die ätherischen ()le gegenüber den Heuschrecken
haben, während die mechanischen gegen diese
Feinde keinen allzu großen Wert haben. Die an
Kieselsäure reichen Gräser, deren Blätter also sehr
hart und schneidend sind, die von Borsten starren-
den, deshalb auch „Asperifolieen" genannten Bora-
ginaceen werden gern gefressen, desgleichen die
stachelige Kohldistel. Auch Picris hieriacioidis
und Galeopsis tetrahit sind mechanisch gut ge-
schützt, vorzüglich die erstere, beide aber ent-
halten Schutzexkrete, Picris ein bitteres, Galeopsis
ätherisches Ol, so daß auf diese die Abneigung
der Tiere zurückgeführt werden muß, weil die ge-
nannten Boragineen, die keine solchen hlxkrete
bilden, mechanisch mindestens ebenso stark be-
wehrt sind.
Wie die Heuschrecken und VVeidetiere fahnden
auch die Schnecken nach den Blättern der
Pflanzen. Sie verhalten sich etwas anders als die
erstgenannten Feinde, insofern als gerade sie gegen
mechanische Wehreinrichtungen besonders empfind-
lich sind. Die scharfen, oft als „F'eilhaare'' mit
rauher Oberfläche ausgebildeten Borsten der Bora-
gineen darf man geradezu als eine Anpassung
gegen Schneckenfraß ansehen. Legt man solche
Pflanzen den gefräßigsten Arten vor, so bleiben
sie unberührt, zerschneidet man sie aber, so werden
sie von den Schnittflächen aus angefressen und
der Borsten beraubt ohne weiteres vertilgt. Wer
die Unersättlichkeit mancher Arten, z. B. der
kleinen, unsere ungeschützten Gemüsepflanzen in
hohem Grade schädigenden und dem Gärtner des-
halb sehr verhaßten Ackernacktschnecke (Limax
agrestis, ein Tierchen von etwa 3 cm Länge) kennt,
der wird sich eine Vorstellung der Gefahr machen
können, welcher die chemisch ungeschützten Bora-
gineen ausgesetzt wären ohne ihr stechendes
Borstenkleid. Die Organisation der Gastropoden
macht es leicht verständlich, warum sie sich den
mechanisch bewehrten Pflanzen gegenüber, ein-
schließlich der Gräser, so ganz anders verhalten
als die mit einem festen Chitinpanzer versehenen,
leicht und schnell beweglichen Heuschrecken, j*
Von der Wirkung der ätherischen Öle auf
Schnecken kann man sich auf eine sehr einfache
Weise durch Nachprüfung der Stahl'schen Ex-
perimente überzeugen. Man lege eine saubere
Glasplatte horizontal und setze irgend eine Schnecke
etwa die genannte Ackernacktschnecke oder die
ebenfalls häufige, ein gelbes, dunkelgebändertes
Gehäuse tragende Gartenschnecke (Helix hortensis)
darauf Hat sich das Tier in einer bestimmten
Richtung in Bewegung gesetzt, so fahre man mit
einem zusammengepreßten Stückchen Apfelsinen-
schale einige Zentimeter vor der Schnecke quer
über die Kriechrichtung derselben, es wird sich
infolgedessen ein Strich von ätherischem ()le vor
der Schnecke befinden. Sobald nun das Tier nahe
genug herankommt, bemerkt man ein deutliches
Schlagen der Fühler noch ehe der Streif erreicht
ist, welches andeutet, daß die Dämpfe des Öles
gewittert werden. Häufig richten sich die Tiere
kurz vor dem Striche senkrecht in die Höhe und
suchen in der Luft herum, um alsbald, wenn das
()1 in genügender Menge vorhanden ist, umzu-
kehren. Hat man den Ölstreifen im Kreise um
das Tier herumgeführt, so ist es gefangen. Erst
wenn das Öl stark verdampft ist, überschreitet
die Schnecke die Linie, ohne jedoch den (Mstreif
zu berühren ; betrachtet man sie von der Seite, so
wird man sehen, daß sie über denselben je nach
der Menge des Öles einen größeren oder kleineren
Bogen schlägt.
Daß man Schnecken durch Bespritzen mit
ätherischem Öle töten kann, habe ich oben er-
wähnt.
Noch interessanter wird der eben geschilderte,
zur Demonstration sehr geeignete Versuch durch
den Umstand, daß auch das Öl einheimischer
Pflanzen in gleicher, energischer Weise wirksam
ist. Man nehme z. B. statt der Apfelsinenschale
einen Stengel des Ruprechtskrautes (Geranium
Robertianum). Dieser durch drei- bis fünfzählige
Blätter und den blutroten .Stengel ausgezeichnete
Storchschnabel besitzt eine große Zahl lang ab-
stehender Köpfchenhaare, deren Exkret, ein äthe-
risches Öl, der Pflanze einen sehr unangenehmen
Geruch verleiht. Der durch dieses Exkret her-
gestellte Strich hindert die Schnecken in dem-
selben Maße wie oben gezeigt wurde; ganz ebenso
wirken das Öl von Mentha piperita, aus der das
Pfefferminzöl gewonnen wird, und von Dictamnus
fraxinella (alba), des Diptam, dessen merkwürdige
Drüsen weiter unten besprochen werden sollen.
Man wird die intensive Wirkung des Geranium-
öles sofort verstehen, wenn man bedenkt, daß die
Pflanze für gewöhnlich im kühlen, feuchten Schatten
von Gesträuchen, Felsen und Mauern wächst, d. h.
gerade dort, wo die ebenfalls der Feuchtigkeit
sehr bedürftigen Schnecken am häufigsten ge-
funden werden.
Noch auf anderem Wege kann man die Wir-
kung des Öles nachweisen: „Wird ein Exemplar
der kleinen Limax agrestis auf eine Pflanze von
(ieranium Robertianum gebracht, so bringt sie
340
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 22
beim Krieclien jeden Augenblick ihre Tentakeln
mit den Köpfchen der Drüsenhaare in Berülirung.
Das Tier zieht die Tentakel sofort ein und erfaßt,
aus naheliegenden Gründen, bereitwillig jede glatte
Stütze, um das ihm unbequeme Substrat zu ver-
lassen. Wird ihm diese Gelegenheit nicht ge-
boten, so läßt es sich an einem immer länger
werdenden Schleimfaden auf die Erde herab.') Auf
den drüsenlosen Blumenblättern dagegen bewegt
sich das Tier mit Leichtigkeit und verläßt die ihm
zusagende Unterlage nicht so rasch. Auch die
Gartenschnecke wird durch die Drüsenhaare sehr
belästigt und verläßt das unbehagliche Substrat,
sobald ihr dazu Gelegenheit geboten wird. Eine
auf dieselbe Pflanze gebrachte Weinbergsschnecke
(Helix pomatia) kam, selbst nach längerer Zeit,
kaum von der Stelle, da sie bei jedem Versuch,
die Tentakeln behufs Orientierung auszustrecken,
dieselben mit den Drüsenköpfchen in Berührung
brachte. Werden den erwähnten Schnecken Stengel-
fragmente und Blätter unserer Pflanze vorgelegt,
so machen sich die Tiere zuerst an die halbierten
Stengel heran, um sie von den Schnittflächen aus-
gehend allmählich zu verzehren, während die drü-
sigen Oberflächen von Stengel und Blatt erst
später und nur ganz allmählich verzehrt werden.
Nach vorheriger Extraktion mit Alkohol (und nach-
folgender Wässerung) werden Stengel und Blätter
rasch und gleichmäßig vertilgt". (Stahl, 1. c. S. 46,
47.) Auch die als Zimmerpflanzen beliebten, meist
vom Kap stammenden Pelargonien („Geranien")
sind hier zu nennen.
Von der ebenfalls schon genannten Primula
chinensis sei noch hinzugefügt, daß das Exkret
ihrer Köpfchenhaare äußerst giftige Eigenschaften
besitzt. Gärtner, welche viel mit diesen Pflanzen
zu tun haben, ziehen sich nicht selten schwere
Entzündungen der Haut an Händen und Armen
zu. In noch höherem Grade gilt das von der
gleichfalls häufig in Zimmern gezogenen, blüten-
reichen Primula obconica, die ebenfalls aus Ciiina
stammt und der ersteren nahe steht. Ob nun die
von den Drüsenhaaren gebildeten ätherischen üle
oder ein anderer ihnen beigemengter Stoff jene
Entzündungen hervorruft, scheint nicht sicher zu
sein. Eine genauere Beschreibung des Krankheits-
verlaufes mit Abbildungen gibt Nest 1er.'-)
Auch den Kruziferen kommen ätherische
Ole zu, und zwar schwefelhaltige, z. B. Senföl.
Diese Öle finden sich jedoch nicht fertig in der
Pflanze vor, sondern entstehen merkwürdigerweise
erst bei der Verwundung der Gewebe, und zwar
durch Spaltung eines Glykosides mit Hilfe eines
Fermentes in Gegenwart von Wasser.
Das Gl)'kosid erscheint bei verschiedenen Kruzi-
feren als myronsaures Kalium (z. B. in den Samen
des schwarzen Senfs, Sinapis nigra, daher Sinigrin
genannt; in der Meerrettigwurzel, Cochlearia ar-
') Vgl. Naturw. Wochenschrift. X. F. I, 1902. .^. 463.
^) A. Nestler, Ber. d. d. Botan. Gesellschaft. XVlll, 1900,
S. 189. Als Heilmittel wurde mit gutem Ejfolge Pick'sches
Linimentum e.xsiccatum benutzt, abwechselnd mit Reispuder.
moracia) in besonderen im Gewebe verteilten Zellen,
desgleichen auch das Ferment, das Myrosin ge-
nannt wird. Wird die Pflanze verwundet, so tritt
eine Mischung der Stoffe ein und demzufolge die
Bildung des scharfen, auf der Haut blasenziehen-
den (')les, des Allylsenföles, welches dem Senf-
pflaster seine Wirkung und dem Mostrich seinen
Geschmack erteilt. Das für den Prozeß nötige
Wasser liefert das Gewebe der Pflanze. Außer
dem (Jl bilden sich bei der Spaltung noch Trauben-
zucker und saures Kaliumsulfat, nach folgender
Formel :
C'^' H'" KNS- O« + H-'O (bei Gegenwart von My-
Mvronsaures Kalium
rosin) = KHSO* + CSN-C" H"> -|- C« H'- O» ')
Allylsenföl Glykose
Wir wollen mit diesen Angaben über den
Schutz der Blätter durch ätherische Öle diesen
Punkt verlassen, um noch einen Augenblick bei
der Besprechung des Schutzes zu verweilen, den
unterirdische Pflanze norgane durch die
genannten Stoffe erfahren. Als Feinde kommen
hier vorzüglich in Betracht unterirdisch lebende
Insekten und ihre Larven, viele Würmer und
einige an Wurzeln lebende kleine Schnecken, ferner
kleine Nagetiere.
Ätherisches Öl produzierende Zellen finden sich
z. B. in den Wurzelstöcken verschiedener Zingi-
berazeen (Ingwer etc.), in dem der Haselwurz
(Asarum europaeum), einiger Gräser (ostindische
Andropogon-Arten) und des Kalmus (Acorus cala-
mus). Das Ul kommt auch in den übrigen Organen,
speziell den Blättern vor. Asarum und Acorus
sind an Orten zu finden, wo sie den verschie-
densten Angriffen ausgesetzt sind. Der Wurzel-
stock des Kalmus wächst im Schlamme stehender
Gewässer, wo unter anderen niederen Tieren auch
die häufigen Wasserschnecken sich aufhalten (Lim-
naea, Planorbis etc.). Auch die Wasserratte dürfte
in Betracht kommen.
Die Haselwurz wächst im lockeren, feuciiten
Waldboden, wo mehrere kleine Schneckenarten
(z. B. Helix rotundata u. a. , Achatina uricula,
Buliminus obscurus, Clausilia-, Pupa-Arten etc.)
leben. Ähnlich verhält sich der Baldrian.
Die aromatischen Zingiberazeen sind besonders
reich in den Urwäldern Südasiens entwickelt.
Die Schutzwirkung der in Rinde und Holz
bei manchen exotischen Gewächsen reichlich vor-
handenen ätherischen < )le und nahestehender Stoffe
ist experimentell noch nicht nachgewiesen. Es
wären zu nennen z. B. der Kampferbaum (Cinna-
momum camphora, eine Laurazee, von Japan bis
Formosa heimisch), ferner Cinnamomum cassiae
und zeylanicum (Zimmt), Canella alba, die zimmt-
artig riechende Canellrinde liefernd, und andere.
Von Früchten, denen aus dem Gehalte an
ätherischen Ölen ein wirksamer Schutz gegen
Tierfraß erwächst, wurden die Citrusarten (Orangen,
') Nach E. Schmidt, Ph.irmazeutische Chemie. Braun-
schweig 1901, Bd. II, I. S. 769.
N. F. III. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
341
Zitronen etc.) schon besprochen. Ferner seien er-
wähnt die ostindische Zingiberazee Elettaria car-
damomum, die Pfefferarten, Piper nigrum das be-
kannte Gewürz hefernd, P. cubeba, die offizineilen
„Cubeben", ersteres ein Wurzelkletterer Hinter-
indiens, letzteres ein Kletterstrauch der Sunda-
inseln.
Unter den einheimischen Pflanzen bieten größeres
Interesse die Umbelliferen, deren F'rüchte infolge
ihres Gehaltes an aromatischen Ölen, die sich in
den für die systematische Bestimmung der Arten
wichtigen ,,Ölstriemen" finden, eine nicht unbe-
deutende Rolle im menschlichen Haushalte spielen ;
erinnert sei an Anis, Fenchel, Kümmel, Dill.
„Während nämlich die von den Vögeln mit Vorliebe
aufgesuchten Früchte der meisten einheimischen
Kompositen (Carduazeen, Cichoriazeen) bis zu ihrer
völligen Reife den Augen der Vögel entzogen
sind und die Hüllblätter der Fruchtköpfchen sich
erst von den flugfertigen Früchten zurückschlagen,
sind bei der Mehrzahl der Doldengewächse die
auffälligen Früchte den Vögeln wie auf dem Prä-
sentierteller dargeboten, da die Stiele der Dolden
und Döldchen ebenso viele Anflugsorte darstellen.
Von der Blüte bis zur Fruchtreife sind die großen
Formen (Heracleum, Pastinaca usw.) fleißig von
Vögeln besucht, aber nicht von Körnerfressern,
sondern von Insektivoren, wie Meisen, Grasmücken,
Fliegenschnäppern, welche zur Blütezeit den die
Bestäubung vermittelnden Insekten nachstellen und
später die Blattläuse und andere Insekten, die an
den Doldengewächsen leben, ablesen. An die
Früchte machen sich die Vögel nicht heran, und
ohne Zweifel sind daran die in den Olstriemen
vorhandenen chemischen Substanzen (meist äthe-
rische Öle) schuld. Auch in der Gefangenschaft
ließen bei meinen Versuchen Sperlinge die PVüchte
verschiedener Umbelliferen unangetastet. Die darin
enthaltenen Stoffe sind diesen Tieren nicht nur
widerwärtig, sondern wirken auch in geringen
Quantitäten tödlich auf ihren Organismus. Ein
Sperling, welchem zehn ganze Früchte von Arch-
angelica officinalis aufgezwungen worden waren,
war nach der Prozedur munter und fraß mit
Appetit zahlreiche Weizenkörner; am anderen
Morgen war er tot. Ein junger Sperling ertrug
ohne Nachteil zwei eben reife I'rüchte von Carum
carvi (Kümmel), starb aber über Nacht nach der
Einnahme von fünf Früchten dieser Pflanze. Fünf-
zehn Früchte von Foeniculum officinale (Fenchel)
reichten hin, um einen anderen, ausgewachsenen
Sperling zu töten" (Stahl, 1. c. S. 102, 103).
Wie oben bereits angedeutet worden ist, be-
urteilen einige Forscher die ätherischen Öle als
Schutzstoffe gegen Parasiten und gegen Fäulnis.
Im ersteren Falle kämen in Betracht z. B. die
Mehltaupilze (Erysibazeen) ; ihre Haustorien oder
Saugfäden sind jedoch so dünn, daß sie mit
Leichtigkeit zwischen den Drüsenhaaren und
-Gängen hindurch zu wachsen vermögen, so daß
man diese Annahme nicht als zwingend wird be-
zeichnen können. Ähnlich ist es mit der anti-
septischen Wirkung der Öle. Wenn man Blätter
oder Stengelteile Öldrüsen führender Pflanzen
faulen läßt, so können sie monatelang einem
solchen Prozesse unterliegen, ohne daß die Öl-
zellen irgendwie verändert wären, während das
übrige Gewebe längst bis auf die Cuticula und ver-
holzte Elemente verschwunden ist. Dieser Um-
stand erklärt sich einfach aus der Tatsache, daß
die meisten Ölzellen oder -Behälter verkorkte, un-
durchlässige Wandungen haben, eine Einrichtung
die keineswegs im Sinne der Antisepsis ist, die
aber dadurch verständlich wird, daß die ätherischen
Öle starke Gifte sind, also die umliegenden Ge-
webe bei einem eventuellen Ergüsse aus ihren
Behältern nicht schützen, sondern zerstören würden.
Immerhin bleibt es merkwürdig, daß in manchen
Ölen, z. B. dem des Thymian, so ausgezeichnete
Antiseptica, in diesem Falle das viel benutzte
Thymol, enthalten sind. Aber auch der andere
Umstand, daß die Öldrüsen sehr früh angelegt
werden, spricht für unsere Auffassung, daß es
hauptsächlich auf pflanzenfressende Feinde abge-
sehen ist, und das Thymol ist auch nicht nur
antiseptisch, sondern besitzt nebenbei einen äußerst
scharfen Geschmack.
Eine wichtige Funktion erfüllen die ätherisches
Öl absondernden Haardrüsen durch den Schutz
der Blüten gegen jene kleineren Feinde, die als
,, unberufene Gäste" dem Nektar oder Blütenstäube
nachstellen. Kern er hat in einer größeren Ab-
handlung über „die Schutzmittel der Blüten gegen
unberufene Gäste" auch diesen Gegenstand gründ-
lich erörtert. Die ätherischen (3le sind es aller-
dings nicht allein, welche hier als Klebestoffe eine
Rolle spielen ; aber wo sie als solche auftreten,
stehen sie anderen Mitteln in der Wirkung durch-
aus nicht nach.
Bekanntlich ist die große Mehrzahl der bunten
und wohlriechenden Blütenpflanzen auf die In-
sekten als Vermittler der Pollenübertragung an-
gewiesen. Die Bienen und Hummeln nebst zahl-
reichen Verwandten, die Schmetterlinge, Fliegen
und Käfer sind in erster Linie damit betraut, also
zumeist fliegende Kerfe. Daß gerade diese die
besten und erfolgreichsten Bestäuber sind, an
deren Körperbau und Lebensweise die Blüten auch
vornehmlich angepaßt sind, leuchtet ohne weiteres
ein, wenn man die Schnelligkeit und Gewandtheit
bedenkt, mit der diese Tiere sich von Pflanze zu
Pflanze bewegen, ein Umstand, der für die Sicher-
heit der Bestäubung, also der Fortpflanzung, von
größter Bedeutung ist.
Im Hinblick auf diese Verhältnisse wird man
es leicht begreifen können, daß viele Pflanzen
Schutzmittel gebrauchen, welche eine nutzlose,
d. h. nicht mit Bestäubung verbundene Entnahme
von Nektar oder Blütenstaub verhindern. Wenn
eine Biene Nektar saugt und Pollen sammelt, so
leistet sie der Pflanze dagegen unschätzbare Dienste
durch eine sozusagen sachverständige und mit
keinem Risiko verbundene Bestäubung; Ameisen
dagegen und manche andere von unten auf-
342
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 22
kriechende Insel<ten, deren Absichten und Manieren
jene Garantie im allgemeinen nicht bieten, werden
besser fern gehalten, und das geschieht bei einer
großen Zahl von Pflanzen durch einen Besatz von
Drüsenhaaren an Stengel, Blättern, Hochblättern,
Kelchen oder Blütenblättern und besonders Blüten-
stielen.
Jene Pflanzen , bei denen ätherische ( )le die
Klebrigkeit der Schutzdrüsen bedingen, sollen im
folgenden an einigen interessanten Beispielen be-
sprochen werden.
Wir wollen zunächst die Labiaten betrachten,
deren mehrzellige, meist kugelige Auf5endrüsen
bereits beschrieben wurden. Diese Drüsen finden
sich an fast allen Teilen der Pflanzen mit alleiniger
Ausnahme der Blütenlippe, also der Anflugsstelle
für die Bestäuber. Bei den Taubnesseln (Lamium)
sind sie gehäuft jederseits zwischen den gegen-
ständigen Blättern. Sehr häufig sind sie auf der
die Staubblätter dachförmig überwölbenden Ober-
lippe der Blüten. Bei manchen Arten, wo sie am
Stengel fehlen, treten an ihre .Stelle kleine starre,
abwärtsgerichtete Borsten. So haben z. B. zwei
Salbeiarten, Salvia sclarea und die bekannte S. sil-
vestris einen Besatz von Drüsen an Kelchen und
Hochblättern, während eine andere, ebenfalls einhei-
mische Art der Gattung, S. verticillata, welche nur
wenige kleine Drüsen am Kelche hat, daselbst
und an den Blütenstielen lange starre Borsten ent-
wickelt.
Bei den Salbeiarten kommen übrigens auch
reichlich klebrige Köpfchenhaare vor, so bei der auf
Kreta heimischen Salvia argentea und der im
unteren Waldgebiete der Alpen häufigen gelb-
blütigen S. glutinosa, die ihren wissenschaftlichen
Namen nach ihrer Klebrigkeit bekommen hat.
Beides sind große, schöne Pflanzen, die oft über
und über mit toten und sterbenden Insekten be-
deckt sind, wie Fliegenstöcke in den Bauernstuben.
Daß solche Haare auch einen wirksamen Schutz
gegen größere Tiere bieten, ist selbstverständlich,
wie es auch leicht zu begreifen ist, daß es über-
flüssig wäre, wenn gegen jeden Typus von F"einden
unter allen Umständen eine besondere Art von
Waffen ausgebildet würde. Daß eine Einrichtung
verschiedene, aber ähnliche Funktionen ausübt, ist
ein im Gebiete der Schutzfrage häufiger und auch
sonst oft zu beobachtender Fall.
Ganz entsprechend den Salvia- Arten verhalten
sich unsere einheimischen Geranien, besonders die
großen Formen. Geranium Robertianum ist schon
ausführlich behandelt worden. Das schöne, blau
blühende G. pratense hat unter den übrigen eine
hervorstechend reichliche Behaarung und seine
Drüsen sondern einen sehr klebrigen und eigen-
artig schmeckenden Stoff ab. Interessant ist bei
den Geranien wiederum das Vikariieren der Schutz-
mittel. Bei G. palustre und dem großblütigen,
prächtigen G. sanguineum unserer Hügel fehlen
die Drüsen oder sind nur schwach entwickelt,
dafür treten jedoch abwärtsgerichtete oder ab-
stehende Borsten ein, so daß diese Teile selbst
von den gefräßigsten Schnecken, der Weinbergs-
und Ackerschnecke, nicht berührt werden. Gerade
die große Weinbergsschnecke und das G. sangui-
neum teilen bei Jena dasselbe Wohngebiet: die
sonnige, trockene Plügeltrifit der Muschelkalkzone.
Bei den Geranien sind auch die lange grün bleiben-
den Fruchtklappen mit vielen Drüsenhaaren be-
setzt, ebenso die Kelche, während die Blütenblätter
frei bleiben und infolgedessen auch \-on Schnecken
gefressen werden, wenn man sie ihnen vorlegt.
Auf der Pflanze dagegen sind sie durch das Drüsen-
kleid des Stengels, der Blätter und des Kelches
ausreichend geschützt.
Zu dieser ökologischen Gruppe gehören ferner
der aromatische Sumpfporst (Ledum palustre), die
Cistusarten des Mittelmeergebietes, Verwandte des
gleichfalls drüsigen Sonnenröschens (Helianthe-
mum), ferner der sehr klebrige Senecio viscosus,
gewisse Johanniskräuter (Hypericum) und der
Diptam.
Das genannte Kreuzkraut, Senecio viscosus,
eine Komposite, findet sich nicht selten auf san-
digen Waldblößen und trockenen Hügeln. Um
zu zeigen, wie minutiöse Wirkungen durch Schutz-
mittel erreicht werden können, will ich die Deutung
Kerner's aus seiner oben zitierten Abhandlung
hier wiedergeben. Die Pflanze ist an Stengel,
Blättern und an den Stielen und Hüllen der
Blütenköpfchen klebrig-zottig behaart. „Die Distanz
der Mündung der nektarerfüllten kleinen Kronen-
röhre von dem darüber stehenden Griffelende
(welches im ersten Stadium der Anthese den
Pollen trägt, später die konzeptionsfähigen Stellen
durch Ofthung der Narbenschenkel exponiert) be-
trägt nicht viel mehr als einen halben Millimeter
und die zum Nektar von oben oder von der Seite
her anfliegenden Tiere müssen, wenn ihre Saug-
werkzeuge und der Vorderteil ihres Leibes, wo-
mit sie sich der nektarführenden Korolle nähern,
auch kaum 0,5 mm Durchmesser zeigen, unver-
meidlich die Narbe resp. den Pollen streifen. Auf-
kriechende Tiere dagegen, wenn deren eben ge-
nannte Körperteile auch ganz die gleichen Dimen-
sionen haben, könnten, von unten kommend, den
Nektar gewinnen, ohne dabei das über der Kron-
röhre stehende Griffelende zu streifen und ohne
daher eine Allogamie (Kreuzung verschiedener
Blüten desselben oder zweier Individuen) zu ver-
anlassen. Der Besuch dieser letzteren wäre daher
jedenfalls unvorteilhaft, und sie sind denn auch
durch die zahlreichen, Klebestoffe ausscheidenden
Trichomzotten an den sitzenden Laubblättern und
am Laubblattstengel zurückgehalten".
Von den übrigen Pflanzen, welche sich durch
Ausscheidung ätherischen Öles vor Nektarräubern
schützen, ist von besonderem Interesse der Dip-
tam, dem wir eine ausführlichere Schilderung
widmen müssen, um dann dies Kapitel zu schließen
und noch zwei andere .Anschauungen von der Be-
deutung der in Außendrüsen produzierten äthe-
rischen Öle kurz darzulegen.
Der Diptam (Dictamnus alba) ist eine in Süd-
N. F. m. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
343
und Mitteldeutschland mancherorts nicht seltene,
bis zu einem Meter hohe prächtige Pflanze mit
großen gefiederten Blättern und langem, termi-
nalem, von großen rosafarbenen Blumen besetztem
Blütenstande. Er ist eine Steppenpflanze, ent-
stammt dem pontischen Florengebiete und ist zur
Zeit des in Deutschland und Mitteleuropa herrschen-
den Steppenklimas in unsere Kalkhügellandschaften
eingewandert. Besonders häufig ist diese Rutazee
im Saaletale, bei Jena, Naumburg und Halle, geht
im Südwesten bis Arnstadt und Gotha , südlich
vom Harze über die Sachsenburg nach Badra,
Frankenhausen, Rothenburg (K\-ffhäuser) als West-
grenze, nach Nordwest über die Ausläufer des
Ostharzes nach Halberstadt und in das Braun-
schweiger Land als äußerste Grenzpunkte; sie ge-
deiht im Thüringer Becken und bis Rraunschweig
nur auf Muschelkalk.')
Diese Pflanze ist für uns deshalb von be-
sonderem Interesse, weil sie nicht nur Blätter und
Blüten durch ätherisches Ol sezernierende Drüsen
schützt, sondern für beide Teile verschiedene und
einer besonderen Wirkung angepaßte Organe dieser
Art aufweist. Außerdem finden sich noch steife
Haare am ganzen Stengel bis über die Blattregion
hinaus. Die Blätter besitzen jene schon beschrie-
benen inneren, mit einem Offnungsmechanismus
versehenen Drüsen , welche als ein Schutzmittel
gegen Weidetiere und Schnecken gelten dürfen. Gegen
dasAnkriechen von kleinerenSchnecken und manchen
Insekten hilft sich die Pflanze durch die Behaarung
des Stengels. Da aber ferner der Nektar der
Blüten durch besondere Einrichtungen im Baue
der Blüten nicht vor nutzloser Ausbeutung ge-
schützt ist, wie bei vielen Pflanzen z. B. durch
reusenartige Haarbildungen (Taubnessel u. a.), so
muß in anderer Weise dafür gesorgt werden und
das geschieht durch zahllose, eigentümlich ge-
staltete und wirkende, vielzellige Außendrüsen, die
zu dem Kerner'schen Typus der „Leimspindeln'"
gehören, die man aber zur Kennzeichnung ihrer
Eigenart und Funktion auch „Spritzdrüsen" nennen
könnte.
Diese Drüsen besetzen oberhalb der Blattregion
in sehr großer Zahl den Stengel und den Blüten-
stand, die Blütenstiele, Kelche, Fruchtknoten und
eine bestimmte Zone an den Staubfäden dicht
unter den Staubbeuteln, ferner die Außenseite der
Blütenblätter (Fig. 9).
Die Drüsen sind kugelig bis birnförmig und
haben einen feinen, mit bloßem Auge noch sicht-
baren schnabelförmigen Aufsatz. Ihre Form wird
durch Figur 10 wiedergegeben. Die Länge be-
trägt mit Ausschluß des Schnäbelchens durch-
schnittlich 0,2 — 0,3 mm, der Ouerdurchmesser
etwa 0,2 mm, die Schnabellänge an 0,09 mm.
Betrachten wir nun zunächst die Wirkung des
Drüseninhaltes, jenes feinen, nach Zitronen duften-
den ätherischen Öles.
Wenn man eine der schon oft genannten kleinen
Ackerschnecken oder eine Gartengehäuseschnecke
auf die Blätter oder die Innenseite der Blüten
setzt, so bewegen sich die Tiere in gewohnter
Weise. Gelangen sie aber von den Blättern auf
den Stengel und beginnen an demselben empor-
zukriechen, oder verlassen sie die drüsenfreie
Innenseite der Blütenblätter, so stoßen sie sofort
auf zahlreiche, den Stengel oder die äußeren Blüten-
teile und die anderen genannten Stellen besetzende
Leimspindeln und machen schleunigst kehrt,
genau wie es für Geranium Robertianum ange-
geben wurde. Man kann sich auch durch folgen-
den sehr einfachen Versuch von der Wirkungs-
weise der Öle überzeugen. Man entferne von
frischen, turgeszenten Pflanzen die Blätter und
') Diese Angaben nach Drude, Der licrzynisclie Floren-
bezirk (Leipzig, Engelmann, 1902), dem ausgezeichneten, die
Flora der miUeldeutschen Hügel und B;rge nacli allen Rich-
tungen hin behandelnden Werke.
Fig. 9. Blüte des Diptam. Nat. Größe. A Im männlichen
Zustande. Das vordere Blütenblatt entfernt. B Im weiblichen
Zustande, n der (Iriffel.
Stelle die so präparierten Stengel in Schalen mit
Wasser, indem man sie etwa in umgestürzte
Blumentöpfe steckt. Werden dann auf die Töpfe
einige Schnecken gesetzt, welche bekanntlich die
Gewohnheit haben, des Abends an Kräutern und
Stämmen in die Höhe zu steigen (zum Schutz
gegen ihre Feinde, Igel usw.), so wird man nach
einiger Zeit bemerken, daß die Tiere in der Tat
die Stengel erklimmen, jedoch nur bis zu dem
Punkte, wo noch genügend intakte Drüsen vor-
handen sind. Stellt man zum Vergleiche noch
einen anderen Stengel , von einer nicht Drüsen
tragenden Pflanze auf, so sieht man hier die
Schnecken bis zum Gipfel emporkriechen. Die
Versuche mit Öistrichen auf Glasplatten können
mit demselben Erfolge wie bei Geranium Rober-
344
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2:
tianum auch mit dem Diptamöle ausgeführt
werden.
Ganz ähnlich wie die Schnecken verhalten sich
auch die nektarlüsternen Ameisen. Von diesen
werden sich der kleine, sehr häufige Lasius niger
und einige Formica-Arten (F. fusca, cunicularia,
gagates, rufa) fast stets an den Standorten des
Dictamnus finden. Das Benehmen des Lasius und
der Formica cunicularia unserer Pflanze gegenüber
habe ich speziell beobachten können. Während die-
selben z. B. sehr häufig in den noch unreifen Frucht-
kelchen von Lamium den aus der abfallenden Kron-
Fig. 10. Diptam. Oberer Teil des Staubblattes mit drei
intakten Drüsen. Die Anthere ist entfernt. Vergr. 43.
(Aus Flora, 1903, I.)
Fig. II. Dieselben Drüsen wie in Fig. 10, die Drüsen durch
Berühren der Schnäbel mit einer Nadel entleert und geschrumpft.
Vergr. 43. (Aus Flora.)
röhre zurückbleibenden Nektar ausbeuten und eifrig
besuchen und überhaupt auf allen zugänglichen
Pflanzen herumlaufen, habe ich sie auf dem Dip-
tam immer nur in der Blattregion, niemals im Be-
reiche der Leimspindeln gefunden. Die Ursache
sind die Drüsen, welche auch bei leisester Be-
rührung ihr Exkret ausstoßen und die gegen Kleb-
stoffe sehr empfindlichen Ameisen bespritzen, ein
Vorgang der sogleich beschrieben werden soll.
Die Wirkung wird besonders bemerkbar, wenn
man Blüten oder Teile des drüsenreichen Blüten-
standes auf eine Ameisenstraße oder auf eine von
den Tieren gut besuchte andere Pflanze legt. Die
Tiere laufen wohl zunächst an die betreffenden
Stücke heran und ein paar Schritte hinauf, aber
sehr schnell ergreifen sie dann die Flucht oder
lassen sich auf den Boden fallen, um sofort einen
Reinigungsversuch mit den an den Vorderbeinen
befindlichen Putzapparaten zu machen. Andere
Exemplare, welche auf die Innenseite der Blüten-
blätter geraten, gehen sofort daran, den leicht zu-
gänglichen und reichlichen Nektar zu schlürfen,
der am Blütengrunde zwischen den basalen Teilen
der Staubfäden zum Vorschein kommt.
Nachdem wir uns von der Wirksamkeit der
Schutzapparate des Diptam überzeugt haben, wollen
wir untersuchen, wie dieser Erfolg zustande kommt.
Wir begegnen hier einer recht eigentümlichen
Schutzwaffe. Auf Grund der Abbildungen 10—12
werden wir ihren Mechanismus leicht verstehen.
Form und Größe der Drüsen wurden bereits an-
o-ecreben. Wir haben noch hinzuzufügen, daß das
Organ von einer einschichtigen mit kräftiger Cuti-
cula versehenen Epidermis überzogen ist, welche
die größeren, das Innere ausfüllenden Exkretions-
zellen umschließt. Die Epidermis enthält einen
roten Farbstoff, während
der aus einem etwa fünf-
zelligen Faden bestehende
Schnabel farblos und nur
von äußerst feinen und
brüchigen Membranen
umgeben ist.
Die völlig entwickelte
Drüse enthält einen großen
Tropfen des angenehm
duftenden Öles, den man
durch die glänzend glatte
Wandung der intakten
Drüsen hindurchschim-
mern sieht, wie es in der
Plgur 10 angedeutet
wurde.
Untersucht man mit
einer stärkeren Lupe
einen Diptamstengel, so findet man jedoch auch
zahlreiche Drüsen, die ein ganz anderes Aussehen
bieten. Die Wandung derselben ist geschrumpft,
runzelig, das Schnäbelchen geknickt, abgebrochen
oder sonstwie verletzt, die ganze Drüse undurch-
sichtig, und es fehlt, wie genauere Betrachtung
lehrt, in diesen allen der Öltropfen.
Man kann sich schon bei bloßem Auge über
die Ursache dieses Unterschiedes Klarheit ver-
schaffen. Entnimmt man einer frischen, jungen
Blüte oder einer älteren Knospe ein Staubblatt,
ohne die Drüsen an der Spitze zu beschädigen,
und berührt nun, indem man bei guter Beleuchtung
beobachtet, mit irgend einem spitzen Instrumente
oder mit dem Fingernagel ganz leicht und vor-
sichtig den Schnabel einer prallen, ölgefüllten
Drüse, so wird man augenblicklich eine Gestalt-
veränderung erkennen, die Drüse nimmt jenes
runzelige undurchsichtige Aussehen an, der Schnabel
bricht ab oder knickt ein und die Spitze des be-
Fig. 12. Diptam. Zwei
Drüsenschnäbel , a völlig
abgebrochen, b nur ange-
brochen. Das E.\kret in
beiden Fällen ausgetreten.
Vergr. 166. (Aus Flora.)
N. F. Iir. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
345
nutzten Instrumentes bedeckt sich mit dem leicht
flüssigen Inhalte, dem ätherischen Öle.
Unsere Figur 1 1 gibt so behandelte Drüsen
in Vergrößerung wieder. Um den Vorgang
des Ölausspritzens genauer verfolgen zu können,
muß das Mikroskop oder eine Lupe benutzt
werden. Man befestigt am einfachsten ein
Staubblatt (das etwa 50 Drüsen an der Spitze
trägt) auf einem Objektträger, indem man es an
seinem Ende mit Hilfe eines aufgelegten Glas-
stückes mit der Klemme des Objekttisches fest-
drückt und die Anthere entfernt. Berührt man
nun mit einer feinen Präpariernadel beim Hinein-
sehen in das Mikroskop die Drüsen, so wird man
keine Veränderung bemerken, solange der Drüsen-
körper selbst getroffen wird, hier kann man sogar
ziemlich stark anstoßen, ohne die feste Epidermis
zu durchstechen. Sobald man jedoch, auch nur
ganz leicht, die Spitze des Schnäbelchens trifi't,
so quillt sofort das Ol hervor, ergießt sich über
die Drüse oder auf die Nadel oder spritzt in kleinen
Tröpfchen davon, letzteres, wenn die Schnabel-
spitze glatt abbricht, was nicht immer erfolgt.
Interessant ist dabei, daß der Bruch stets zwischen
zwei Zellen des Schnabels vor sich geht, also in
den Quermembranen. Gewöhnlich bricht der
Schnabel mehr unten an oder ab, wie aus Fig. 12
ersichtlich.
Man wird nun fragen, wie die für den schnellen
und energischen Ausfluß des Drüseninhaltes nötige
Spannung entstehe. Die Antwort wird man leicht
finden beim Vergleich der intakten und der ent-
leerten Spritzapparate. Die Epidermis der ersteren
ist glatt, die Zellen derselben sind flach und groß.
Im Gegensatze dazu haben die Epidermiszellen
der entleerten Drüse fast die doppelte Höhe bei
bedeutend kleinerer Grundfläche. Die Zellen haben
sich also während der Entleerung zusammen-
gezogen und zwar plötzlich. Es muß also die
Epidermis vor dem Ausspritzen gedehnt sein. Diese
Dehnung wird verursucht durch den Inhalt der
Drüse, indem die Exkretionszellen Wasser und
andere Stoffe aus den Zellen des Staubfadens auf-
nehmen und dann den großen Öltropfen ausscheiden.
Wird nun an irgend einer Stelle, z. B. an den sehr
brüchigen Schnäbeln, der äußere Gegendruck auf-
gehoben, so schießt die Flüssigkeit natürlich her-
vor und mit besonderer Schnelligkeit, weil die
Ausflußöffnung, welche der Querschnitt des dünnen
Schnabels bietet, sehr klein ist im Verhältnisse zu
dem Durchmesser des Exkrettropfens. Die be-
trächtliche Spannung, die in der Drüse herrscht,
erhellt auch daraus, daß nicht nur die unter der
Abbruchstelle gelegenen Querwände der Schnabel-
zellen, sondern auch die mehrzellige Schicht zwischen
Schnabelbasis und Tropfen ohne weiteres durch-
brochen wird.
Die Zerbrechlichkeit der Drüsenschnäbel wird
verständlich, wenn man das geringe Gewicht der
in Frage kommenden Insekten berücksichtigt ; sie
könnte aber auch einen schnellen Verbrauch zur
Folge haben. Diesem Ubelstande ist abgeholfen
durch die ungeheure Anzahl der Stengel und In-
floreszenz dicht besetzenden Organe; man findet
infolgedessen auch noch im Herbste nach der
Blüte viele Drüsen unverletzt , besonders halten
sie sich an den reifenden Kapseln sehr lange, so
daß auch den Samen ein Schutz gegen mancherlei
Feinde geboten ist.
Der Schutz des offenliegenden Nektars ist aber
vor allem vorgesehen und gilt vorzüglich gegen
die aufkriechenden Ameisen.
Der Drüsenbesatz unter dem Staubbeutel wird
dagegen anders zu deuten sein. Er liefert eine
Wehr gegen die Pollenräuber, F"liegen, Käfer und
gewisse kleinere Hautflügler, die für eine Bestäu-
bung nicht geeignet sind.
Die legalen Bestäuber sind größere Hymenop-
teren, Hummeln, Bienen und engere Verwandte.
Diese dürfen am Zutritt natürlicli nicht gehindert
sein.
Der günstige Mittelweg wird folgendermaßen
erreicht. Die Diptamblüte ist, wie viele andere,
dichogam, d. h. die Pollenreife und die Empfängnis-
fähigkeit der Narbe sind zeitlich getrennt und es
macht die gegenseitige Stellung beider Organe
(sog. Herkogamie) eineSelbstbefruchtung unmöglich.
Nun kann, wie genügend bekannt, innerhalb der-
selben Blüte entweder der Pollen zuerst reifen
(protandrische Blüten) oder die Narbe vor der
Reife des ersteren oder mit ihr die Empfängnis-
fähigkeit verlieren (protogyne Blüten). In beiden
Fällen kann natürlich nur Fremdbestäubung statt-
finden.
Der Diptam hat protandrisch-herkogame Blüten,
und zwar verhindert der Wechsel in der Stellung
der Fortpflanzungsorgane die Selbstbestäubung in
derselben Blüte.
Im ersten, dem „männlichen" Zustande der
Blüte sind nämlich die Staubfäden derart gekrümmt,
daß die Antheren annähernd senkrecht stehen
(Fig. 9 a). Infolgedessen streift die anfliegende
Biene oder Hummel über dieselben hinweg, ohne
den Drüsenkranz zu berühren und sich mit dem
Exkrete zu besudeln. Während dieser Zeit ist
dagegen der Griffel gestreckt und unter den Staub-
fäden verborgen. Haben nun aber die Antheren
abgestäubt, so beginnen die Staubfäden sich zu
strecken und der Griftel biegt sich nach oben,
beide wechseln also ihre Stellung. Jetzt muß das
mit dem Blütenstäube einer erst im Anfangs-
stadium befindlichen Blüte bedeckte Insekt beim
Anfluge über die Narbe streichen, welche auf diese
Weise belegt wird (Fig. 9 b).
Richtet man während dieses Vorganges der
Blütenentwicklung sein Augenmerk auf die Stellung
der Drüsen an den Staubblättern, so wird man
finden, daß etwa eine pollensuchende Fliege, die
für die Bestäubung ihrer Kleinheit wegen von
keiner Bedeutung ist, wenn sie sich im Fluge von
außen der Anthere nähert, beim Niedersetzen in
die Drüsen hineingeraten muß. Kommt das In-
sekt jedoch vom Innern der Blüte, weil es sich
auf den Blütenblättern oder den Basalteilen der
346
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 22
Staubfäden niedergelassen hatte, um laufend zum
Pollen zu gelangen, so muß es über die gefähr-
liche Zone hinweg, was ebenfalls zu seinem
Schaden ist. Es ist also für die meisten oder
wenigstens zahlreiche Fälle genügend für den
Pollen gesorgt.
Ehe wir nun den interessanten Diptam ver-
lassen, wollen wir noch eines beliebten Experi-
mentes kurz gedenken, daß oft an dieser Pflanze
ausgeführt wird.
Schon der pflanzenkundige Goethe kannte
diese Eigentümlichkeit des Dictamnus. In dem
„Morphologie" betitelten Bande seiner Werke findet
sich in dem kleinen merkwürdigen Aufsatze vom
Jahre 1820, „Verstäubung, Verdunstung, Vertropf-
ung" neben mehreren anderen feinen Beobachtungen
folgender Satz : „Andere Ausdünstungen verkörpern
sich an Blättern, Zweigen, Stengeln und Stämmen
zuckerartig, auch als Öl, Gummi und Harz. Der
Diptam, wenn man die rechte Zeit trifft, ent-
zündet sich, und eine lebhafte Flamme lodert
an Stengel und Zweigen hinauf"
Das Wunder erklärt sich in folgender Weise.
Nähert man von unten her dem Blütenstande einer
frischen, turgeszenten Pflanze, deren Drüsen also
der Mehrzahl nach noch intakt sind, ein brennen-
des Streichholz, so welken infolge der starken
Erwärmung die Schnäbel und das ()1 spritzt wie
nach einer Berührung hervor und entzündet sich,
die entstehende P'lamme wirkt ebenso auf die
höher sitzenden Blüten und Stengelteile, so daß
eine züngelnde Flamme von unten nach oben durch
den Blütenstand fährt. Eine Selbstentzündung,
also ein Anbrennen infolge von Sonnenhitze ist
mir nicht bekannt.
Ein ähnliches, wenn auch kleineres P'euerwerk
kann man erzeugen, wenn man durch Zusammen-
drücken einer Apfelsinenschale das in derselben
befindliche Ol ausspritzt und eine Flamme davor
hält. Die ätherischen Öle sind eben leicht ent-
zündlich.
Zum Schlüsse wollen wir jetzt noch eine andeie
Ansicht von der Bedeutung der äußeren , äthe-
risches Öl absondernden Drüsen wiedergeben, die
sich auf gewisse physikalische Untersuchungen
stützt, welche von Tyndall ausgeführt wurden
und die deshalb als Tyndall 'sehe Hypothese
bezeichnet werden soll.
Die Tyndall'sche Hypothese.
Die hier in Betracht gezogenen Untersuchungen
des berühmten englischen Physikers, der auch in
Deutschland in weiteren Kreisen durch seine aus-
gezeichneten, von Helm hol tz herausgegebenen
populären Bücher über Wärme, Licht, Schall usw.
bekannt und beliebt geworden ist, finden sicli in
dem Werke über „Die Wärme". T)-ndall be-
spricht dort auch eine Reihe von Experimenten
über die Wärmedurchlässigkeit verschiedener fester,
flüssiger und gasförmiger Körper, unter letzteren
auch die Dämpfe der ätherischen Ole, die von
diesen Stoffen bekanntlich in reichlichem Maße
auch bei gewöhnlicher Temperatur gebildet werden
und sich durch ihren Geruch weithin bemerkbar
machen.
Bezüglich der Wärmedurchlässigkeit zerfallen
die Körper in zwei große Gruppen, in solche mit
ausgeprägtem und solche mit geringem Vermögen,
strahlende Wärme durchgehen zu lassen ; erstere
werden als diatherman, die anderen als adiatherman
bezeichnet.
Festes Kochsalz ist ein äußerst diathermaner
Körper und wurde deshalb auch von Tyndall
zum Verschlusse der Röhre benutzt, in welche er
die zu prüfenden Gase einschloß. Die von einer
bestimmt regulierten Wärmequelle ausgesandten
Strahlen mußten diese Röhre passieren und fielen
sodann auf ein mit einem Galvanometer verbundenes
Thermoelement, so daß nach den Ausschlägen
des ersteren die Durchlässigkeit der untersuchten
Gase berechnet werden konnte. Die so ermittelten
Werte für die Absorption der Wärme in Dämpfen
ätherischer Öle ergaben sich, bezogen auf Luft, als
außerordentlich hoch, wie folgende Angaben dartun.
(Luft = I, bei einer Atmosphäre)
Geranium 33 Rosmarin 74
Wermut 41 Spike 355
Lavendel 60 Nardenöl 355
Thymian 74 Anis 372
In Anbetracht dieser enormen Absorptions-
fähigkeit der (Mdämpfe lag es nun allerdings sehr
nahe, aus ihr auf einen den betreffenden Pflanzen
zukommenden Vorteil zu schließen, es lag die An-
nahme nahe, daß diese hohe Adiathermansie einen
Schutz gegen die austrocknende Wirkung der
Sonnenwärme, der Insolation, bedinge, zumal die
aromatischen, ätherisches Öl produzierenden Pflanzen
gerade in den trockenen Landschaften der ver-
schiedenen Florengebiete besonders häufig sind.
Diese Annahme von der wärmeschützenden
Bedeutung der ätherischen Öle wird von mehreren
Botanikern vertreten, besonders mit dem Hinweise
auf die soeben angedeutete geographische Ver-
breitung der aromatischen Xerophyten, d. h. der-
jenigen Pflanzen, die mit Anpa.ssungen an trockene
Klimate, an Wüsten- und Steppenklima, versehen
sind. In Arabien, der Sahara, in den nordameri-
kanischen Prärien, in den Campos Brasiliens und
den ausgedehnten, trockenen Straucligebieten, den
Macchien, der Mittelmeerländer sind diese Pflanzen
überall häufig zu finden. Auch in den dürren
Formationen unseres Vaterlandes spielen sie eine
Rolle, auf den Sandfeldern und Hügeln Nord-
deutschlands der Thymian, auf den Kalktriften der
mitteldeutschen Berge mit ihm zusammen Teu-
crium chamaedrys und montanum, ebenfalls La-
biaten.
Die Erwähnung der Labiaten wird den Leser
daran erinnern, daß wir die Drüsenprodukte dieser
und anderer Familien in ganz anderer Weise ge-
deutet haben und zwar auf Grund der Tatsache,
daß derartige Pflanzen von Tieren sehr ungern
gefressen werden. Da nun aber in Steppen und
Wüsten nicht nur die Insolation , sondern auch
N. F. in. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
347
die Arten- und Individuenzahl besonders der großen
pflanzenfressenden Huftiere! Antilopen, Boviden etc.)
zunimmt, so kann man aus diesem Zusammen-
treften für beide Ansichten eine .Stütze entnehmen.
Zur Entscheidung sind deshalb andere Momente
heranzuziehen.
Die xerophilen, d. h. die Trockenheit liebenden
Pflanzen, die Xerophyten, zeichnen sich vor den
an größere Luft- und Bodenfeuchtigkeit gebundenen,
den mehr oder weniger ausgeprägten Hygrophyten
durch ganz bestimmte, bei den Angehörigen der
verschiedensten Familien gleichartig entwickelte
Merkmale aus, die den Xerophytenformationen ein
unverkennbares Gepräge geben und die so bekannt
sind, daß ihre Andeutung genügt. Da diese
Pflanzen mit Wassermangel zu kämpfen haben,
sind sie darauf angewiesen, die geringen Mengen
der für ihr Gedeihen unerläßlichen Flüssigkeit, die
ihnen in den Steppen und Wüsten zur Verfügung
stehen, entweder durch ein sehr starkes Wurzel-
system aus großer Bodentiefe herauf zu befördern,
also anstatt des Regens das Grundwasser auszu-
nützen oder aber die aus wenig ergiebigen Nieder-
schlägen gewonnene Feuchtigkeit mit großer Spar-
samkeit zu verwenden, also vor allem es vor Ver-
dunstung zu bewahren.
Demnach vermögen Pflanzen mit großen, dünnen
und deshalb leicht welkenden Blättern gar nicht
oder nur vermöge eines ganz kolossal entwickelten
Wurzelsystems an den genannten Orten zu leben.
Diesem Typus gehört z. B. die Coloquinte (Ci-
trullus colocynthis, eine Cucurbitazee Afrikas) an.
Ungleich häufiger jedoch sind die Vertreter
der anderen Gruppe von Xerophyten, die ihren
Wasservorrat nicht durch vermehrte Zufuhr, sondern
durch energisches Zurückhalten desselben in ihren
Geweben auf der nötigen Höhe erhalten. Solche
Trocken- oder Transpirationsschutzmittel sind in
mannigfacher Weise ausgebildet worden, und es
mögen nur einige Typen angedeutet werden. Fast
überall ist eine V^erdickung der Epidermis und
ihrer Cuticula zu konstatieren, die Blätter werden
lederartig fest oder durch Bildung von besonderen
Wasserspeichern dick und fleischig. Sehr viele
Arten besitzen außerdem einen sehr dichten Haar-
filz, der die Transpiration herabdrückt, oder die
Blätter werden, als die gefährlichsten Wasser-
verschwender, reduziert oder in den extremsten
Fällen überhaupt nicht mehr gebildet, wie bei den
Kakteen. Bei solchen Pflanzen, den Sukkulenten,
übernimmt dann der sehr verdickte Stengel oder
Stamm die wichtige Funktion der Assimilation.
Unter den so mit einem Haarfilz und ana-
tomischen Trockenschutzmitteln (verstärkte Cuti-
cula und Epidermis) ausgestatteten Xerophyten
befinden sich nun auch die von den sehr adiather-
manen Dämpfen ihrer ätherischen Öle umgebenen
Pflanzen, und man wird mit Recht fragen, was
dieser Überfluß bedeute. Wenn wir aber außer-
dem bedenken, daß in den Steppen und Wüsten
gerade um die heißeste Zeit, um Mittag, sich
regelmäßig Winde erheben, welche die leichte
Dampf hülle natürlich sofort davon blasen, so wird
die oben dargelegte Tierschutztheorie uns in vielen
Punkten wahrscheinlicher vorkommen. Vergleichen
wir dazu zwei Labiaten, deren Uldämpfe die gleiche
Absorptionsgröße aufweisen, Thymian (Th. vulgaris)
und Rosmarin (Rosmarinusofficinalis). Bei letzterem
sind nicht allein Cuticula und Epidermis stärker
entwickelt, sondern noch durch eine zweite Zell-
schicht, ein sogenanntes, als Wasserspeicher dienen-
des Hypoderm, verstärkt. Vergleichen wir damit
ferner die Lavandula spica, welche das Spiköl
liefert, das die Wärme 355 mal stärker als Luft
absorbiert, also etwa 5 mal so stark als die Dämpfe
des Thymianöles, so erscheint es merkwürdig, daß
die Epidermis dieser Pflanze um das Doppelte
dicker als die des Thymian und deren Cuticular-
zone wesentlich mächtiger ist.') Und was be-
deuten ferner die hohen Absorptionszahlen der in
den P'rüchten des Anis und in dem Rhizom der
das erwähnte Nardenöl liefernden Valerianazee
Nardostachys Jatamansi (Nordindien) gebildeten
ätherischen Ole?
Schon bei Berücksichtigung dieser Verhält-
nisse wird man dazu neigen, nicht die Sonnen-
wärme, sondern die tierischen Feinde als Zucht-
wahlfaktoren der ölbildenden Organe anzusehen.
Nehmen wir aber hinzu, daß Pflanzen, sowohl
ölbildende als solche ohne Drüsen, in einer künst-
lichen Atmosphäre von Dämpfen ätherischer Ole
infolge von Vergiftung zugrunde gehen, besonders
schnell bei Insolation, erinnern wir uns ferner, daß
diese ' )le auch für Tiere zum Teil heftige Gifte
sind, so werden wir der Tierschutztheorie solange
beipflichten müssen, als nicht durch physikalische
Untersuchung gezeigt ist, daß eine Hülle von Ol-
dämpfen eine Temperaturerniedrigung von wenig-
stens einigen Graden bewirkt ; denn auch die nicht
ölbildenden Xeroph\'ten vermögen enorme Boden-
und Lufttemperaturen zu ertragen und wachsen
an denselben Standorten wie erstere, und wo die
einen nicht mehr gedeihen, fehlen auch die anderen.
Unsere Tierschutzannahme scheint deshalb bei
weitem einleuchtender, zumal sie durch Tatsachen
und Experimente gut gestützt ist. Wir wollen
deshalb aber nicht übersehen, daß in einer be-
stimmten Reihe von Fällen, jedoch nach anderer
Weise als die Tyndall'sche Ansicht meint, die
ätherischen Ole tatsächlich als Transpirations-
schutzmittel in Betracht kommen, wie V o 1 k e n s
nachgewiesen hat, nämlich bei den von Harz wie
mit einem Firnis überzogenen Blättern , welche
der genannte Forscher deshalb als „lackierte
Blätter" bezeichnet hat. Wir können allerdings
nur kurz darauf hinweisen. Bei vielen Pflanzen,
welche in Wüsten und trockenen Gebieten ihre
Standorte haben, fand Volkens eine mehr oder
weniger dicke Harzschicht, welche die Blätter über-
zieht und gewissermaßen eine Verstärkung der
Cuticula bildet. Die Lackierung erfolgt in ver-
schiedener Weise. Bei den meisten durch Sekretion
') Die genannten Pflanzen teilen dieselben .Standorte.
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 22
des Harzes aus Köpfchendrüsen, bei Hypericum
resinosum stammt der Überzuc; aus inneren Drüsen,
wie sie oben beschrieben wurden, bei anderen
wieder liegt ein harzführendes Gewebe unter der
Oberhaut und endlich bei gewissen Rubiazeen
sind es die Nebenblätter, derenDrüsen die Lackierung
der Knospe und der auswachsenden jungen Blatt-
spreiten besorgen.
Jene Fälle, wo innere Drüsen oder subepider-
male, harzführendeGewebe vorliegen, deuten freilich
mehr auf eine andere, die Tierschutzfunktion, hin.
Im übrigen ist es klar, daß ein die Oberhaut be-
deckender Harzüberzug eine beträchtliche Herab-
setzung der Transpiration bewirken muß.
Bei vielen Pflanzen wird derselbe Effekt be-
kanntlich durch Ausscheidung von Wachs erreicht.
Kleinere Mitteilungen.
Über den Winterschlaf der Fledermäuse.
— Unter den Lebensbedingungen der Tiere spielt
eine besonders wichtige Rolle die Temperatur
ihrer Umgebung, und man findet in der Tierwelt
außerordentlich mannigfaltige Anpa.ssungen an
Temperaturschwankungen. Nach ihrer Anpassungs-
fähigkeit an solche unterscheidet man stenotherme
und eurytherme Tiere, jene äußerst empfindlich
schon gegen ganz minimale Temperaturdifterenzen,
diese in besonderem Maße befähigt, hohe Tempe-
raturschwankungen zu ertragen. In gewissem
Sinne nehmen nun die Tiere eine Mittelstellung
zwischen den Genannten ein, die einem Zustand
der Starre, des Schlafes verfallen, solange die
Temperatur ihrer Umgebung vom Optimum be-
trächtlich abweicht.
In den Zustand der Wärmestarre oder des
Sommerschlafes verfallen z. B. unsere Luchse,
sobald ihre Tümpel austrocknen. Als Sommer-
schläfer ist u. a. auch der madagassische
Borstenigel (Centetes ecaudatus) bekannt. Die
Kältestarre — Winterschlaf — finden wir bei
einer ganzen Anzahl Amphibien, Reptilien und
Mammalien. Unter diesen sind besonders die
Fledermäuse seit langem der Gegenstand zahl-
reicher Untersuchungen, die auf die Lösung der
mannigfachen physiologischen Probleme gerichtet
waren, die das Phänomen des Winterschlafes
bietet.
Trotzdem ist es erst neuerdings gelungen, den
Schleier zu lüften, der uns bis jetzt eines der
wichtigsten dieser Probleme verhüllte, die Frage
nämlich, welche Vorgänge sich während des
Winterschlafes im Zentralnervensystem abspielen.
L. Merzbacher hat kürzlich die Ergebnisse
seiner außerordentlich verdienstvollen Unter-
suchungen veröffentlicht (Arch. für die ges. Physiol.
XCVI und XCVII 1903), die sich auf eine große
Anzahl von Exstirpationsversuchen am Gehirn
von Fledermäusen während des Winterschlafes
beziehen.
Das nicht nur in physiologischer, sondern,
wie wir gleich sehen werden, auch in phylogene-
tischer Hinsicht höchst wichtige Resultat seiner
Untersuchungen ist dieses; „Ein erwachendes Tier
zeigt zunächst in der Art, Reize durch Reflex-
bewegungen zu beantworten, den Bewegungs-
mechanismus, der einem dekapitierten Tiere zu-
kommt; in einem weiteren Stadium jenen, der
das Tier ohne Großhirn charakterisiert, und erst
zuletzt läßt sich nachweisen, wie allmählich auch
das Großhirn ordnend und hemmend die Sinne
zu beherrschen beginnt. Das enthirnte Tier ist
so bestimmt in seinen Reaktionen charakterisiert,
daß man es ohne Schwierigkehen im ganz nor-
malen Tiere in einem gewissen Stadium des Er-
wachens wiedererkennen kann."
Merzbacher unterscheidet 4 Stadien beim
Winterschlaf und beim Erwachen der Fledermäuse
aus dem Winterschlafe:
1. Das Stadium der Starre; es bestehen aus-
schließlich Rückenmarksreflexe.
2. Das Stadium des „Anhaftreflexes"; die
Oblongatareflexe walten vor.
3. Das Stadium des Abklingens der subkor-
tikalen Reflexe und der einsetzenden Großhirn-
tätigkeit.
4. Das Stadium des Erwachens und der Be-
herrschung der subkortikalen Reflexe durch das
Großhirn.
Ebenso verhalten sich Fledermäuse nach folgen-
den operativen Eingriften:
1. Dekapitierte Tiere zeigen die Symptome
des Stadiums Nr. I.
2. Nach Entfernung des Mittel- und Großhirns
zeigen die Tiere die Symptome des Stadiums
Nr. IL Die auslösbaren Reflexe sind sämtlich
Komponenten des „Anhaftreflexes", der für die
schlafenden Tiere charakteristisch ist. Also treten
während des Winterschlafes die subkortikalen
Zentren als vorwaltend in Funktion.
3. Nach Entfernung der Großhirnhemisphären
zeigen die Tiere Zwangsbewegungen, weil das
Verhältnis der von den Körperhälften geleisteten
Muskelarbeit ein ungeregeltes ist (durch Ausfall
der Rindeninnervation). In diesem Stadium und
im Stadium völliger Integrität des Nervensystems
(doch wurden auch nach Resektion der Riech-
lappen keine Funktionsstörungen beobachtet) ver-
halten sich also die Tiere wie im Stadium Nr. III
und IV des Erwachens aus dem Winterschlafe. ^
Von den zahlreichen Experimenten Merzbacher's
seien noch folgende besprochen :
Nach Resektion des außerordentlich entwickel-
ten Cerebellums treten Zwangsbewegungen auf
(auffallende Tendenz, sich rückw?ärts zu bewegen !),
die Fähigkeit zu fliegen geht verloren. Ein
interessantes Analogon mit der Funktion des
Vogelhirnes!
Elektrische Großhirnrindenreizung löst bei
N. F. III. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
349
winterschlafenden Tieren keinerlei Bewegung aus,
hat dagegen beim wachen Tiere einen typischen
epileptischen Anfall (Krämpfe, Speichelfluß, ver-
änderten Atemt}'pus) zur Folge.
Es ließ sich aber eine gesonderte Körperfühl-
sphäre, wie wir sie ja bekanntlich bei anderen
Säugetieren besonders durch die bahnbrechenden
Forschungen Paul Flechsig 's kennen gelernt
haben, nicht nachweisen. Es scheinen danacli
die sensomotorischen Nerven einen mehr diffusen
Ursprung in der Rinde zu haben (vgl. die Rinde
der Vögel !) , was also als auffallend primitiver
Befund in vergleichender Hinsicht besonders ge-
würdigt zu werden verdient.
Zum Schluß möchte ich noch kurz andeuten,
daß meiner Überzeugung nach die Resultate
Merzbacher's auch biogenetisch von größtem
Interesse sind. Man wird zugeben, daß in letzter
Linie der Winterschlaf das Ergebnis der Einwirkung
einer besonderen Schädlichkeit (beträchtliches
Sinken der Temperatur unter ein Optimum) auf
die Neurone des Zentralnervensystems ist. Hier
wie bei einer ganzen Anzahl anderer Schädigungen
des Zentralnervensystems (Alkoholvergiftung, post-
luetische Prozesse) beobachten wir nun das höchst
bedeutsame Faktum, daß die phylogeneti-
schen Neuerwerbungen im gleichen
Verhältnis zu ihrer phylogenetischen
Jugend Prädilektionsstellen für das
betreffende Noxum bilden. So treten bei
der Paralyse, wie beim Rausche zunächst Störun-
gen im frontalen Assoziationszentrum auf; infolge
des Wegfalls der von dort ausgehenden und allent-
halben aus den entsprechenden Rindengebieten
gesammelten hemmenden Innervationen walten
nunmehr uneingeschränkt die subkortikal gelegenen
Triebzentren vor. Erst bei weiter gehender Ein-
wirkung der Schädlichkeit wird das hintere Asso-
ziationszentrum ergriffen, in dem nach Flechsig
das positive Wissen lokalisiert zu denken ist, wie
er es treffend bezeichnet: „die wesentlichen Be-
standteile dessen, was die Sprache speziell als
„Geist" bezeichnet", bei noch weiter gehender
Schädigung wird endlich auch die Körperfüiilsphäre
ergriffen und es zeigen sich die Symptome der
Ataxie. Man kann auf Flechsig's Präparaten
sehr schön die Einschiebung der assoziativen
Rindengebiete zwischen die Sinneszentra im Ver-
laufe der Ontogenese verfolgen, und zwar ergibt
sich dabei die eben angegebene Reihenfolge, die
vergleichend-morphologisch durchaus auch für die
Phylogenese bestätigt wird.
Ich bin daher überzeugt , in den For-
schungen des Leipziger Psychiaters und auch in
den eben mitgeteilten Resultaten Merzbacher's
am Gehirn der Fledermaus „Bruchstücke"
einer vierten, höchst wichtigen Stam-
mesurkunde, die sich auf die Ph)'sio-
logie stüzt, sehen zu dürfen. Wenn auch die
in einem Wust von Haarspaltereien stecken-
gebliebene Gegnerschaft Flechsig's — was die
Facta — und Häckel's — was deren Deutung
anlangt — nach wie \or den Wald vor Bäumen
nicht sehen wird, — so ist doch zu hoffen, daß
die treffliche vergleichend - physiologische Basis,
die Merzbacher mit seiner Arbeit gegeben
hat, recht bald der Ausgangspunkt neuer Unter-
suchungen auf diesem Gebiete sein wird.
Dr. Wolffjena.
I'.W. Pfaff, Über Schwereänderungen und
Bodenbewegungen in München. — Geognost.
Jahreshefte. XV. Jahrgang, 1902. Herausgegeben
vom kgl. bayer. Oberbergamt in München. 1903.
S. I — 9.
Um die Einwirkung von Sonne und Mond,
die Ebbe und Flut erzeugende Kraft, auf die feste
Erdrinde messen zu können, konstruierte der
V^erf einen Apparat, der im Gegensatz zu dem
für derartige Messungen sonst meist verwandten
Wiechertschen Horizontalpendel \on Temperatur-,
Barometerschwankungen und kleineren Erscb.ütte-
rungen des Bodens, wie sie etwa durch schwere
Lastwagen in benachbarten Straßen herbeigeführt
werden, völlig unabhängig ist. Außerdem besitzt
das neue Instrument den großen \'orzug, daß es
sehr einfach gebaut, billig herzustellen und ein-
fach zu handhaben ist, so daß derartige Apparate
leicht an den verschiedensten Orten aufgestellt
werden können.
Der Apparat besteht aus zwei rechteckigen
Becken von je i qm Oberfläche und 10 cm Tiefe,
die im Abstände von 'j'^ cm durch eine etwa
3 mm dicke, gleichmäßig weite Glasröhre mit-
einander kommunizieren. Beide Becken sind mit
Wasser gefüllt. In dem dünnen Glasrohr befindet
sich eine die beiden W'assermassen trennende
Scheidewand, bestehend aus einem in Wasser un-
löslichen Flüssigkeitsgemisch von dem spezifischen
Gewicht des Wassers, dessen Abgrenzung gegen
das Wasser sich ungemein scharf abhebt. Da die
Reibung der Flüssigkeiten bei Einhaltung der rich-
tigen Dimensionen vernachlässigt werden kann,
so läßt sich die Empfindlichkeit des Apparates
beliebig steigern, weil sie abhängig ist vom Größen-
verhältnis der Becken zum Durchmesser des
Rohres. Unter dem Mikroskop wird mittels Mikro-
metervorrichtung die Verschiebung der trennenden
Schicht bei den geringsten Neigungsänderungen
der beiden Becken gegeneinander zu messen sein.
Die abgelesenen Größen lassen sich leicht in Winkel-
maß umrechnen; es entspricht ein Teilstrich im
Okular der Größe von 0,0114 mm. Wenn sich
z. B. die trennende Schicht um 100 Teilstriche
verschoben hat, so beträgt die Hebung eines
Beckens gegen das andere etwa -^\-^".
Es ist ersichtlich, daß bei dieser Konstruktion
weder Temperaturschwankungen, falls sie nicht
zu einseitig auftreten, noch Barometeränderungen
oder kleinere Erschütterungen einwirken können,
gleichwohl wurde auch der Barometer- und Thermo-
meterstand neben den Ablesungen genau verfolgt.
Im Verlauf längerer Beobachtungszeit ergab
sich nun zwar, daß die anziehende Kraft von
35°
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III.
Sonne und Mond nur einen äußerst geringen
Einfluß auf den Apparat ausübten, indem sich
die trennende Schicht im Höchstfall bis 0,6 Oku-
larstriche im Sinne der anziehenden Kraft ver-
schob, daß aber periodisch beträchtlich Schwan-
kungen auftraten, die sich unabhängig von der
Anziehungskraft von Sonne und Mond nur auf
Oscillationen der Erdoberfläche zurückführen lassen.
Es wäre denkbar, daß im Apparat, ähnlich
wie an Meeresküsten, Gezeitenbewegungen von
längerer Dauer entstanden wären , analog der
Springflut zur Zeit von Neu- und Vollmond. In
der Tat treten in dieser Zeit die vorhin erwähnten
Maxima der Veränderung mit 0,6 Okularteil-
strichen auf, doch sind sie unbeträchtlich gegen
jene von Sonne und Mond unabhängigen Wellen-
bewegungen der Erdoberfläche, die im Instrument
eine Verschiebung des Indikators über 57 Teil-
striche hervorriefen , also ca. 1 70 mal stärker
waren.
Bislang nahm man an , daß der Elastizitäts-
modul der Erde etwa gleich dem des Stahles
für Druck = sei. Wenn dem so wäre,
2 220000
so könnten an der Erdoberfläche nur Schwan-
kungen von etwa 3 m Wellenhöhe vorkommen.
Damit steht jedoch dieTatsache im Widerspruch, daß
Senkungen ganzer Kontinente von annähernd looom
bekannt sind. Nach Melmert herrscht in 1148 km
Teufe (in 0,18 des Erdradius) die größte Schwere;
sie nimmt von hier nach beiden Seiten hin ab,
so daß im Mittelpunkt das spezifische Gewicht
der Massen gleich o, bei 11 48 km Teufe etwa
gleich 12, an der Erdoberfläche ca. 2,7 ist.
Unter Zugrundelegung dieser Ansiclit vom
Aufbau des Erdkörpers lassen sich die verhältnis-
mäßig großen kontinentalen Verschiebungen und
Schaukelbewegungen leichter erklären. Da diese
Veränderungen stets isostatische Bewegungen zu
sein scheinen, so können bei einem Erdkern von
geringem spezifischen Gewicht (in flüssigem oder
gasförmigen Aggregatzustande unter dem hohen
Druck) selbst größere Bewegungen der Erdkruste
vor sich gehen, ohne daß wir einen größeren
Elastizitätsmodul anzunehmen brauchen, als für
Stoffe an der Oberfläche.
Es ist also die Erde kein starrer Körper, son-
dern es finden periodische Erdrindenbewegungen
von eintägiger Dauer, solche von der Dauer einiger
[4 — 8] Wochen und solche von sehr langer Zeit-
dauer statt, die uns nur als geologische Verände-
rungen der Erdrinde erscheinen.
Da während der Versuche vom Verfasser
gleichzeitig täglich Schweremessungen ausgeführt
wurden , so ließ sich unter Berücksichtigung der
periodischen Veränderungen der Schwerkraft die
Höhe der periodisch wiederkehrenden Erdkrusten-
welle von mittlerer Dauer auf ca. 1,8 m für Mün-
chen berechnen. Über die Richtung dieser Wellen-
bewegungen ließ sich zunächst nichts feststellen.
Obwohl diese Oberflächenschwankungen an
und für sich nur sehr gering sind, so scheinen sie
doch von besonderem geologischen Interesse zu
sein. Würden an vielen Orten der Erde solche
Messungen vorgenommen, so könnten dadurch
die Grenzen der Bruchränder und der Schollen
der Erdrinde bestimmt werden. Wenn z. B. zur
gleichen Zeit ein Apparat stets östliche, ein be-
nachbarter etwa stets westliche Abweichungen der
trennenden Schicht anzeigen würde, so müßte
man annehmen, daß zwischen den beiden Stand-
orten ein Bruchrand der Erdkruste hindurchginge.
Da ferner die Erdrinde aus festeren und weniger
festen Gesteinen aufgebaut ist, aus den festeren,
die in sich die Kraft aufnehmen, die mürberen
unter Faltenbildung zu Gebirgen anzustauen, so
ist es nach Ansicht des Verf. nicht unwahrschein-
lich, in den in München gemessenen Neigungen
Bewegungen ganzer Schollen erblicken zu müssen,
die vielleicht als Nachklänge der Alpenfaltung zu
betrachten sind.
Auch für die Voraussagung von Erdbeben und
vulkanischen Eruptionen würden solche Messungen
von größter Wichtigkeit sein. Aus den einem
Erdbeben vorausgehenden und die Schichten stauen-
den Wirkungen ließe sich z. B. bereits vor ihrer
Auslösung aus den Veränderungen der Schwere
und den vermehrten Bodenbewegungen die bevor-
stehende Katastrophe schließen.
In ähnlicher Weise müßte man durch solche
feinen Messungen in der Nähe von Vulkanen die
Anzeichen einer drohenden Eruption erkennen
können , da bei solchen vulkanischen Ergüssen
sich entweder die Erdrinde in der Umgebung des
Kraters senkt und die Lava herauspreßt , oder
aber die Lava durch Senkungen entfernterer Erd-
rindenteile durch die Krateröffnung getrieben wird.
Weitere Versuche werden die Brauchbarkeit
der beschriebenen Methoden erweisen müssen.
Harbort.
Himmelserscheinungen im März 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist völlig unsichtbar,
Venus wird gegen Ende des Monats, Jupiter bereits im
.Vnfang unsichtbar; auch Mars ist zuletzt nur noch ','4 Stunde
abends sichtbar, während Saturn des Morgens am Schlüsse
des Monats im SO. sichtbar zu werden beginnt.
Sonnenfinsternis: Am Morgen des 17. findet eine, nur
im indischen und großen Ozean sichtbare, ringförmige Sonnen-
finsternis statt.
Sternbedeckungen: Die Sterne i'^j und i9'2 Tauri werden
am 22. vom Monde bedeckt. Die Eintritte erfolgen um 10
Uhr 54,6 Min. und 11 Uhr 6,3 Min. abends M.E.Z., die Aus-
tritte um II Uhr 41,2 Min. und 11 Uhr 33,1 Min. .Am 25.
wird 1 (Terminorum um 10 Uhr 14,2 Min. abends bedeckt
und tritt um II Uhr 18,4 Min. aus.
Algol-Minima: Am 18. um 9 Uhr 56 Min. abends und
am 21. um 6 Uhr 44 Min. abends.
Bücherbesprechungen.
Richard Avenarius, Philosophie als Denken
der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten
Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der
reinen Erfahrung. 2. unveränderte .-^uflaije. J. Cnittcii-
lag in Berlin 1003.
N. F. III. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wocheiisclirift.
3S1
Die mächtige Anregung, die das gesamte wissen-
schaftliche Denken durch Darwin's Versuch erfuhr,
die Deszendenz der Arten im wesentlichen begreiflich
zu machen, ist auch der Philosophie, im besonderen
der Psychologie und Erkenntnistheorie, zu gute ge-
kommen, ja, sie hat zu einer neuen positivistischen
Richtung des Denkens geführt, die alle philosophi-
schen Probleme unter biologischem Gesichts-
winkel betrachten lehrt. Der springende Punkt der
Deszendenztheorie liegt in ihrer Ausdehnung auf den
Menschen. Nur noch die Kopernikanische Lehre, die
der Erde ihre Stellung im Mittelpunkte der Welt
raubte, hat einen solchen Aufruhr der Geister hervor-
gerufen wie die Lehre, daß der Mensch ein Tier sei.
Man sollte zwar meinen, mit der Verwerfung der geo-
zentrischen Anschauung hätte auch schon der anthro-
pozentrischen das LTrteil gesprochen sein müssen, in-
dessen zeigt uns die Geschichte der Wissenschalten
überall, daß der Sieg einer Lehre noch lange nicht
der Sieg aller ihrer Folgerungen ist. Immer wieder
versteht es die Reaktion, sich dem vordringenden
Eroberer neuen Geisteslandes entgegenzuwerfen und
sich in seinem eigensten Gebiet starke Stellungen zu
schaffen. Und nicht nur das. Sondern die Entdecker
und die ersten Vertreter des Neuen können unmög-
lich alle seine Wirkungen überschauen oder wagen
oft, um ihre Sache nicht zu sehr zu gefährden, selbst
nicht, die Schritte zu tun, von denen sie doch wissen,
daß sie früher oder später unvermeidlich sind : Darwin
mußte erst von Haeckel gedrängt werden, die An-
wendung seiner Lehren auf den Menschen einzu-
räumen.
Wir sind auch heute noch weit davon entfernt,
alle die Früchte gepflückt zu haben, die der Batun
der Erkenntnis der Deszendenz des Menschen trägt. .
Manche, und vielleicht die köstlichsten, hängen uns
darum noch zu hoch, weil es der Zusammenarbeit zweier
Wissenschaften bedarf, um sie herabzuholen. Auch
müssen diese Wissenschaften — Biologie und Psycho-
logie — , ehe solche Zusammenarbeit möglich ist,
erst noch eine jede innerhalb ihres eigenen Gebietes
erhebliche Hindernisse aus dem Wege räumen. Die
Biologie muß aufhören, die Stellung des Menschen
in der Reihe der Organismen in erster Linie nur
nach seiner äußeren Gestalt und nach seinen vege-
tativen Organen zu beurteilen; so wichtig auch diese
Merkmale sein mögen, sie sind es nicht, die ihm
seinen hohen Rang sichern : den verdankt er allein
seinem Gehirn. Und die Psychologie darf die wert-
vollste Eigentümlichkeit der Menschenseele nicht ver-
nachlässigen, ihre Entwicklung von Generation zu
Generation. Für die heutige Biologie ist der Mensch
ein Dauertypus. Nicht der Geist ist es, der sich
entwickelt, sondern nur das Geistesprodukt, sagt ein
Fiihrer wie Weismann. Nur die Psychologie' kann
zeigen, daß das eine Gewaltsamkeit ist. Die Geistes-
produkte sind nichts ohne den sie beherrschenden
und nützenden Geist. Wahrscheinlich ist auf der
Erde noch kein Entwicklungsprozeß mit solcher Energie
und Beschleunigung verlaufen wie die Entwicklung
des Menschengeistes seit vierhundert Jahren. Und
diese Entwicklung ist zugleich eine biologische,
eine Gewebsentwicklung, die Entwicklung des giaucu
Hirnmantels.
Eine der ersten Schriften, die auch die höchsten
geistigen Funktionen unter dem Gesichtspunkt bio-
logischer Leistung betrachtet, ist Richard Ave-
narius' 1876 erschienene „Philosophie als
Denken der Welt gemäß dem Prinzip des
kleinsten Kraftmaßes". Sie geht von der An-
nahme aus, daß, wie der Körper eine empirische
Zweckmäßigkeit zeige, auch die Funktionen der Seele
zweckmäßig sein müssen, da sonst die Erhaltung des
Individiuums nicht möglich wäre, und fragt, worin
denn nun die Kraftersparnis liege, in der sich ja
Zweckmäßigkeit ausdrücke. Damit ist die Richtung
des einzuschlagenden Weges bestimmt. Denn wie ein
Streben nach Kraftersparnis läßt es sich auffassen,
wenn die Seele den Widerspruch zu vermeiden oder
sich von einer Ungewißheit zu befreien sucht, wenn
sie auf systematische Ordnung des A\'issensstoffs aus-
geht oder das Ungewohnte mit Hilfe von Gewohntem
und Bekanntem zu verstehen sich bemüht. LTnd so
darf auch die vorzüglichste theoretische, seelische
Funktion, das Begreifen, als eine Leistung gelten,
bei der in ganz hervorragendem Maße das Denken
entlastet, also auch entsprechend an geistiger Kraft
gespart wird. Mit einem einzigen Begriffe umfassen
wir eine Fiille von Einzeldingen und -Vorgängen und
mit einem einzigen Naturgesetz eine Menge von
Einzelzusammenhängen. Begriffe und Gesetze sind
es, mit denen der Mensch sich in seiner Umgebung
zurechtfindet , durch die er sich der erdrückenden
Fülle des einzelnen gegenüber behauptet, durch die
er die Welt beherrscht, und sie sind die Formen, in
denen die Seele ihre begrenzte Kraft zusammenfaßt,
um das Unendliche zu bewältigen. Je höher die Be-
griffe und Gesetze, desto umfassender sind sie und
desto größere geistige Macht verleihen sie. Der
höchste ist der alles umfassende, der Weltbegrifif, der
besondere Gegenstand der Philosophie.
Nun hat ein Begriff keineswegs von dem Augen-
blicke an, in dem er zum ersten Male gedacht wird,
schon seine endgültige Gestalt. Er kann leicht noch
überflüssige Komponenten enthalten. Diese wird aber
das Denken im Laufe der Entwicklung beseitigen,
um schließlich zu einer Form zu gelangen, die die
geforderte Leistung mit möglichst kleinem Kraft-
aufwand vollzieht. Dementsprechend ist das Ziel der
Philosophie, das Denken der Welt mit einem Mini-
mum von Kraft zu ermöglichen. Das kann aber
nicht anders erreicht werden als dadurch, daß man
aus den Begriffen — und so auch aus dem Welt-
begriff — alles beseitigt, was nicht mit und in den
Dingen selbst gegeben, sondern vom Denken hinzu-
gefügt ist. Damit sind die Anthropomorphismen jeder
•Art, aber auch alle transzendenten und alle transzen-
dentalen Spekulationen, also jede Metaphysik
verworfen : so weit unser Wissen dauern soll, darf es
nur aus reiner Erfahrung bestehen. Avenarius legte
auch schon in dieser Schrift selbst Hand an, aus dem
Weltbild zwei Vorstellungen zu beseitigen, die bereits
von der gewaltigen Kritik Humes als nicht gegebene
aufgewiesen waren, an deren Elimination man aber
352
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 22
noch nicht gegangen war : die Vorstellungen der
Kausalität und Subs t anzi al i t ät. Sie sind nicht
einmal mehr als Hilfsfunktionen notwendig.
Die Ausführungen von Avenarius berühren sich
sehr nahe mit den kurz vorher begonnenen Entwick-
lungen ErnstMachs, der sowohl in allgemeinen Dnr-
legungen wie an vielen einzelnen Fällen der Geschichte
der physikalischen Wissenschaften die Bedeutung der
Ökonomie des Denkens zeigt und dessen Er-
kenntnistheorie gleichfalls durch und durch biologisch
begründet ist. Avenarius ist aber seinen Weg un-
abhängig von Mach gegangen. Bei der Verschieden-
heit der Beweisgänge der beiden Forscher müßte
diese Verwandtschaft ihrer Ergebnisse denen zu denken
geben, die sie noch immer unbeachtet lassen : jene
Gedanken sind die notwendigen und historisch un-
entbehrlichen Folgen des mächtigen Aufschwungs der
biologischen Wissenschaften. Ihre Wirkung ist heute
aber nur in den Kreisen der allgemeiner interessierten
Physiker und Chemiker und der naturwissenschaftlich
gebildeten Philosophen offensichtlich. Sehr mangel-
haft bekannt scheinen sie dagegen noch immer — von
den unverbesserlichen, vorwiegend nur philologisch-
historisch gebildeten Philosophen abgesehen — in
den Kreisen der Biologen zu sein. Und doch könnte
gerade die Biologie, wie sie den Anstoß zu ihnen
gegeben hat, nun ihrerseits wieder reichlich durch
sie befruchtet werden , zumal gegenwärtig bei der
lebhaften Erörterung der treibenden Faktoren der or-
ganischen Entwicklung. Auf jeden Fall ist es freudig
zu begrüßen, daß die gedankenreiche, klare und äußerst
sorgfältig durchgearbeitete Schrift des uns so früh
entrissenen, bahnbrechenden Philosophen neu aufgelegt
worden ist. Leitet sie uns doch auch in Gedanken-
gänge ein, die später in der „Kritik der reinen Er-
fahrung" und im ,, Menschlichen Weltbegritil'" zu Meister-
werken philosophischen Schaffens geführt haben.
Joseph Petzoldt.
M. Fraenkel, Anatomische Vorträge für das
Staatsexamen, III. Teil, Band 2. Leipzig 1903.
Verlag von H. Härtung & Sohn. — Preis 2 Mk.
Der neu vorliegende zweite Band des dritten
Teiles umfaßt in acht Vorträgen das weite Gebiet
der großen Blutgefäße, der Baucheingeweide und des
Geschlechtsapparates. Wie seinen Vorgängern ist auch
diesem Werkchen rühmend nachzusagen ; Die über-
sichtliche und knappe, dabei den Stoff hinlänglich er-
schöpfende Darstellung alles für das Examen Wissens-
werten. Mit den in Kürze erscheinenden neuro-
logischen Vorträgen (Gehirn und Nerven) kommt dann
das Werk zum Abschluß. H. Kbr.
Literatur.
Strasburger, Prof. Eduard: Streifzüge an der Riviera. 2.
gänzlicli umgearb. Aufl. Mit 87 färb. Abbildgn. Illustriert
V. Louise Reusch. (XXVI, 481 S.) gr. 8°. Jena '04, G.
bischer. — 10 Mk. ; geb. 12 Mk.
Scbroeder, H. : Die Wirbeltier-Fauna des Mosbachcr Sandes.
1. Gattung Rhinoceros. ttrsg. v. der königl. preuß. geolog.
Landesanstalt. (143 S.) Hierzu e. Atlas v. 14 Taf (14 Bl.
Erläutergn.) gr. Fol. Berlin '03, S. Schropp. — 14 Mk.
Schmidt, Priv.-Doz. Dr. Jul.: Über die basischen Eigen-
schaften des Sauerstoffs u. Kohlenstoffs. (VI, 11 1 S.) gr. 8".
Berlin '04, Gebr. Borntraeger. — 3,20 Mk.
Vogler, Lehr. Elektrotechn. A. ; Elektrizitäts-Unterricht. Lehr-
buch, Lehrmittel u. Anleilg. f den Unterricht in Magnetis-
mus u. Elektrizität f. Lehrer u. zur Selbstbelehrung. (208 S.
m. 148 Abbildgn.) 8". Leipzig '03, M.Schäfer. — 3 Mk. ;
geb. 3,50 Mk.
Zernecke, Dr. E. : Leitfaden f. Aquarien- u. Terrarienfreundc.
2. bedeutend erweit. Aufl., bcarb. v. Max Hesdörffer. (VII,
420 S. m. 161 Abbildgn. u. I Taf) gr. 8". Dresden '04,
H. Schultze. — 6 Mk. ; geb. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn Prof M. — Ultra -mikroskopische Teilchen sind
Gebilde von solcher Kleinheit, dai3 sie auch im stärksten
Mikroskope nicht mehr abgebildet und wahrgenommen werden
können. Durch Siedentopf u. Zsigmondy ist jedoch ein Ver-
fahren ausgebildet worden , durch das man auch diese Teil-
chen wenigstens bemerken und zählen kann. Näheres hier-
über findet sich in Band II dieser Zeitschrift, Seite 515. Die
neuen, Rählmann'schen Anwendungen dieses Verfahrens wer-
den wir demnächst besprechen.
Herrn Dr. G. in Leipzig. — Als Anleitungen für chemi-
sche Experimente empfehlen wir: J. Schmidt, Chemisches
Praktikum (Breslau, Hirt, 1,60 Mk. , bespr. Bd. I, S. 264);
Peters, Salomon u. Meyer, Chemische E.xperimente (Halle,
Schwetschke, 2,80 Mk., bespr. Bd. il, S. 588); Heumann, An-
leitung zum E.iperimeutiercn (Braunschweig, Viewcg. Für
Universitäten), Arendt, Technik der E.\perimentalehemie (Ham-
burg u. Leipzig, L. Voß, ca. 20 Mk.).
Herrn A. — Ein treffliche geographische Darstellung
Nordamerikas bietet das Werk von Decliert ,, Nordamerika"
(Bibliographisches Institut in Leipzig), das in 2. Auflage zu
erscheinen im Begriffe ist und nach Mitteilung des Verlegers
voraussichtlich im April d. J. vollständig vorliegen wird.
Frage: Ich erinnere mich der Bemerkung, daß verschie-
dene Holzarten , nebeneinander in Möbel oder Bau so ver-
arbeitet, daß sie sich berühren, in vielen Fällen die Eigen-
schaft zeigen, leichter zu Fäulnis etc. zu neigen. Wenn ich
nicht irre, waren dabei z. B. Wallnus und Linde als solche
sich gegenseitig schädigende Hölzer genannt. — Ist dies richtig
und worauf beruht es?
Dr. med. Häberlen in Wyk a. Föhr.
Antwort: Durch güüge VermitÜung des Herrn Geh.
Reg.-Rates Prof Dr. L. Wittmack in Berlin gibt die Firma
Hermann Nadge in Berlin-Oberschönweide die folgende Aus-
kunft: Ich halte — schreibt sie — die vom Fragesteller be-
regte Sache für ausgeschlossen. Hölzer derselben oder einer
andern .\rt können, wenn sie in durchaus trockenem Zustande
zusammengearbeitet wurden, niemals in Fäulnis geraten. Dieser
Zustand tritt nur in dem Fall ein, wenn die Hölzer bei der
Verarbeitung nicht ganz trocken waren, oder sich die betr.
Möbelstücke in einem feuchten Räume befinden. Aber auch
hierbei kommen die verschiedenen Holzarten wesentlich nicht
in Betracht. Es wäre auch möglich, daß der Herr Fragesteller
den Prozeß meint, der durch Wurmfraß an ev. mitverarbeiteten
Splintstücken entsteht.
Herrn M. Levien in Winterthur. — Die „Verhandlungen
des V. intern. Zoologen-Kongresses" sind t902 bei Gustav
Fischer in Jena erschienen. Wegen der früheren Bände fragen
Sie bei einem der in diesem Bande genannten Vorstands-
mitglieder, am besten in jeder beliebigen großen Buchhandlung
(Max Weg in Leipzig od. dgl.) an.
Inhalt: Dr. Carl Detto: Die Bedeutung der ätherischen Öle und Harze im Leben der Pflanze. (Schluß.) — Kleinere
Mitteilungen: Dr. Wolff: Über den Winterschlaf der Fledermäuse. — F. W. Pfaff: Über Schwereänderungen und
Bodenbewegungen in München. — Himmelserschcinungen im März 1904. — Bücherbesprechungen
.Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.
Anatomische Vorträge für das Staatsexamen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grors-UcliterfeIde-We.st b. Berlin.
Druck von Lippcrt & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Richard
M. Fraenkel:
*^.J
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion
Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-'West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 6. März 1904.
Nr. 23.
Abonnement; Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Ffg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über die Quelle der Muskelkraft.
[Nachdruck verboten.]
Die PVage nach
läßt sich von zwei
Angriff nehmen. Es
Vortrag von Prof. Dr.
der Quelle der Muskelkraft
verschiedenen Seiten aus in
handelt sich einmal um ein
Problem der allgemeinen Muskelphysiologie. Die
Quelle der durch den Muskel geleisteten Arbeit
ist die Zusammenziehung, die Verkürzung be-
stimmter Muskelgruppen , also z. B. der Beuge-
muskeln des Oberarmes bei Ausübung einer Zug-
wirkung. Es fragt sich also, welche Vorgänge
spielen sich bei einer Muskelkontraktion ab? Welche
Nerventätigkeit geht vor sich, um die Kontraktion
der betreffenden Muskeln einzuleiten, was spielt
sich bei der Kontraktion im Muskel selbst ab?
Aber es kommt auch die weitere EVage, welche
Kraftvorräte sind es, die bei der Muskeltätigkeit
verbraucht werden. Denn um einen Verbrauch
von Kraftvorräten muß es sich handeln, da Ent-
stehen von freier Energie nur durch eine Über-
tragung aus einer anderen Form möglich ist.
Dieses leitet uns über zu der zweiten Betrachtungs-
weise, die der Hauptgegenstand des heutigen Be-
richtes sein soll.
Eine Hauptfunktion des lebenden, und speziell
des tierischen, Organismus besteht darin, daß ge-
Fr. N. Schulz -Jena.
bundcne Energie, die in den komplizierten or-
ganischen Verbindungen der Nahrung zugeführt
wird, in freie Energie, also im wesentlichen in
mechanische Arbeit und Wärme übergeführt wird.
Bei dem Zerfall einer höheren chemischen Ver-
bindung in niedere wird Energie frei, die vorher
zum Zusammenhalten des komplizierten Moleküls
nötig war, also keine Wirkung nach außen ent-
falten konnte. Diese freiwerdende Energie kann
nun entweder als Elektrizität, oder als Wärme oder
als Licht, oder mechanische Arbeit, oder sonst
irgendwie zutage treten. Für diese abbauende
Tätigkeit stehen dem lebenden Organismus in der
Hauptsache 3 Hauptgruppen von komplizierten
organischenVerbindungen zurVerfügung, die Eiweiß-
stoffe, die Fette und die Kohlehydrate oder Zucker.
Der Energie wert, d. h. die Menge der chemisch gebun-
denen Energie, die durch Zersetzung innerhalb des
Tierkörpers als freie Energie gewonnen werden kann,
beträgt für das Eiweiß pro Gramm etwa 4 große
Kalorien, für die verschiedenen Zucker etwa ebenso-
viel, für die Fette dagegen mehr wie das Doppelte,
nämlich ca. 9 Kai. pro Gramm. Da eine große
Wärmeeinheit, wie die Physiker uns lehren,
354
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 23
424 Kilogrammeter entspriclit, also die Arbeit zu
leisten vermag die nötig ist, um i Kilo 424 m
zu heben, so repräsentiert i g Eiweiß einen Energie-
wert von 4 X 424 = ca. 1700 mkg, ebensoviel
1 g Zucker, i g Fett ca. 3800 mkg.
Der ruhende Organismus kann bei gemischter
Nahrung sowohl Eiweiß als auch Fett und Kohle-
hydrate zur Deckung seines Energiebedarfs heran
ziehen. Bei zu leistender Arbeit tritt ein Mehr-
bedarf an Energie ein, und es erhebt sich die
Frage, welche Stoffe werden zur Deckung dieses
Mehrbedarfs benützt. Zwei Theorien lassen sich
hier einander gegenüberstellen. Betrachtet man
den Muskel als eine Arbeitsmaschine, die, etwa
wie eine Dampfmaschine, die Spannkraft des
Dampfes in Arbeit überführt, gebundene Energie
in freie Energie verwandelt, so ist es von vorn-
herein denkbar und wahrscheinlich, daß diese
Maschine alle drei Gruppen von Nährstoffen (Ei-
weiß, Fett und Zucker) sich nutzbar zu machen
versteht. Da die Maschine, der hauptsächlich aus
Eiweiß bestehende Muskel, wie jede Maschine
durch den Gebraucli allmählich abgenutzt wird,
aber ohne daß diese Abnutzung im Prinzip zur
Tätigkeit der Maschine notwendig ist, so würde
auch nach dieser vorläufig rein theoretischen Vor-
stellung ein gewisser gesteigerter Bedarf an Ei-
weiß durch erhöhte Muskeltätigkeit bedingt werden,
aber mehr als etwas accidentelles, nicht unbedingt
durch die Tätigkeit hervorgerufenes. Im übrigen
wäre es sehr wohl denkbar, daß auch die in den
Fetten und Kohlehydraten aufgespeicherte Energie
zur Leistung der Arbeit herzugezogen würde.
Folgen wir andererseits einer zweiten V^or-
stellung über das Wesen der Muskeltätigkeit. Der
lebende Muskel besteht aus protoplasmatischen
Zellen. Die Funktionsfähigkeit ist an das Leben
der Zellen gebunden. Sind die Zellen abgestorben,
so ist auch der Muskel nicht mehr imstande, durch
Kontraktion Arbeit zu leisten, wie früher. Die
lebenswichtigen Bestandteile des Protoplasmas sind
die Eiweißstoffe, oder wie neuerdings V e r w o r n
das von dem gewöhnlichen toten Eiweiß, das der
Chemiker untersucht, offenbar verschiedene Eiweil3
des lebendigen Protoplasmas nennt, das „Biogen".
Die Lebenserscheinungen spielen sich an den
„Biogenmolekülen" ab, und sind bedingt durch
den Zerfall der Biogenmoleküle. Die Kontraktion
ist die Hauptlebenstätigkeit der Muskelzelle und
ist daher auch durch den Zerfall von Biogen-
molekülen, von Eiweiß, bedingt. Nach dieser
Theorie wäre also das Eiweiß die Quelle der
Muskelkraft, und es wäre anzunehmen, daß bei
jeder Muskeltätigkeit eine entsprechende Erhöhung
des Eiweißumsatzes sich im Stoffwechselversuch
bemerkbar machen würde.
Es ist also die Frage nach der Quelle der
Muskelkraft in zweiter Linie ein Stoffwechsel-
problem. Es ist klar, daß das Problem der all-
gemeinen Muskelphysiologie von dem Stoffwechsel-
problem sich nicht trennen läßt, ja man kann
sagen, daß das Stoffwechselprobleni auf rechne-
rischem Wege gelöst werden könnte, falls die all-
gemeine Muskelphysiologie genau den Vorgang
bei einer Muskelkontraktion darzutun vermöchte.
Davon sind wir aber weit entfernt, so daß eine
getrennte Betrachtung des Stoffwechselproblems
notwendig ist.
Seit der Begründung einer wissenschaftlichen
Lehre vom Stoffwechsel hat die uns heute be-
schäftigende Frage die Physiologen lebhaft inter-
essiert. Liebig, einer der Begründer der mo-
dernen Stoffwechsellehre, hat die hier an zweiter
Stelle gebrachte Theorie, daß das Eiweiß die Quelle
der Muskelkraft sein müsse, vertreten. Zu dieser
Anschauung kam Li ebig auf Grund theoretischer
Überlegungen. Als man daran ging, die Konse-
quenzen dieser Theorie experimentell zu prüfen,
ergaben sich Schwierigkeiten, die damals wenigstens
die Theorie, daß die Zersetzung von Eiweii3 die
Quelle der Muskelkraft sei, völlig unhaltbar er-
scheinen ließen. Liebig ist gerade auf dem Ge-
biete der Ernährungsphysiologie, deren Mitbegründer
er gewesen ist, von eigenartigem Mißgeschick ver-
folgt worden. Noch zu Lebzeiten des Meisters
wurden gerade auch von selten seiner Schüler,
wie Pettenkofer und Voit, viele Haupt-
lehren, die Li ebig aufgestellt hatte, als irrig be-
zeichnet und für abgetan erklärt. Aber wie so oft
in der Wissenschaft die Anschauungen eine ge-
wisse Periodizität zeigen, so ist auch hier in vielen
Fällen wieder ein Rückschlag auf die alte Liebig-
sche Anschauung zu verzeichnen. Auch mit der
Frage nach der Quelle der Muskelkraft ist es
ähnlich ergangen, nur daß wir in diesem P'alle
wohl heute sagen können, daß vielleicht beide
recht hatten, sowohl Liebig als auch seine Gegner.
Ich komme nunmehr zu den eigentlichen Ver-
suchen. Man stellte sich die Sache ursprünglich
so vor, daß nach der Liebig'schen Thorie
jede Arbeit durch eine der geleisteten Arbeit ent-
sprechende absolute Erhöhung des Eiweiß-
umsatzes sich dokumentieren müsse. Die Größe
des Eiweißumsatzes wird, da die Eiweißstoffe die
einzigen in Betracht kommenden stickstoffhaltigen
Verbindungen sind, an der Menge des in Harn
und Kot ausgeschiedenen Stickstoffes gemessen.
Die Stickstoffausscheidung durch die Haut und
andere Sekretionsorgane kann für gewöhnlich ver-
nachlässigt werden. Also angenommen, ein Tier,
etwa ein Hund, würde in der Ruhe täglich 16 g N
entsprechend 100 g zersetztem Eiweiß ausscheiden,
so nahm man an, daß dann dies selbe Tier, falls
es an einem Tage eine Arbeit von 170 000 mkg
zu leisten hätte, dann 32 g N (Stickstoff) an diesem
Arbeitstage ausscheiden würde, da nach dem vor-
her Gesagten 100 g Eiweiß gleich 16 g Stickstoff
170000 mkg entsprechen.
Eine experimentelle Untersuchung zeigte aber
nichts von einer derartigen bedeutenden Steige-
rung des Eiweißumsatzes unter dem Einfluß ge-
leisteter Arbeit. Einige Beispiele aus der grofBen
Reihe von Versuchen, die in dieser Richtung an-
gestellt wurden, mögen als Erläuterung dienen.
N. F. III. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
355
Nahrung in g Fleischumsatz
pro die in g
1. Hund o 164 Ruhe
O 167 Arbeit
O 149 Rulie
2. Hund
1500
1522
Ruhe
1500
1625
Laufen
1500
1526
Ruhe
1500
1583
Laufen
1500
IS3S
Ruhe
Die Arbeit des Tieres bestand darin, daß es
in einem großen Tretrad zu laufen hatte ; die Größe
der Arbeit betrug nach Voit's Berechnung (von
dem auch die obenstehenden Versuche herrühren)
1 50000 mkg pro Tag entsprechend 94 g Eiweiß
oder ca. 400 g Fleisch. VVir sehen also, daß in
beiden Versuchen die an den Arbeitstagen hervor-
tretende Steigerung des Eiweißumsatzes sehr gering
war, so daß sie bei weitem nicht zur Deckung
der geleisteten Arbeit ausreicht, wozu ja ca. 400 g
Fleisch nötig wären.
Nun ist aber folgendes zu bedenken. Der
tierische Organismus besitzt nicht die Fähigkeit,
Eiweiß in irgend erheblicher Menge als Reserve-
stoff in sich aufzuspeichern, sondern das in der
Nahrung eingeführte Eiweiß wird sehr bald, für
gewöhnlich wohl innerhalb 24 Stunden, zersetzt,
einerlei ob ein entsprechender Bedarf gerade nach
Eiweiß besteht oder nicht. Es wird also dann
auch Eiweiß vom Organismus dort verwandt, wo
andere Stoffe (Fett und Kohlehj-drate) vikariierend
eintreten könnten und zwar mit demselben Er-
folg. Es findet unter solchen Umständen ein„Lu.xus-
eiweißverbrauch" statt. Es wäre also sehr wohl
denkbar, daß bei zu leistender xArbeit dieser „Luxus-
eiweißverbrauch" entsprechend eingeschränkt wür-
de, und demnach keine wesentliciie .Steigerung des
Gesamteiweißumsatzes zutage treten könnte. Es
müßte dann natürlich doch die zu leistende
JVIehrarbeit durch erliöhten Umsatz von Fett und
Zucker gedeckt werden, da aus nichts auch nichts
werden kann. Nur daß dann, entsprechend der
1, i e b i g ' s c h e n Vorstellung, dieses Fett und Zucker
nicht zur Leistung der mechanischen Arbeit be-
nutzt würde, sondern zu anderen Dingen, also etwa
zur Produktion von Wärme, die vorher, bei der
Ruhe, durch Eiweiß geliefert wurde, aber gerade
so gut durch irgend ein anderes adäquates Heiz-
material geliefert werden kann. Wie ein Blick
auf die Tabelle lehrt, läßt sich Versuch 2 mit
dieser Vorstellung sofort in Einklang bringen. Bei
dem I. Versuch ist dagegen eine solche Deutung
unmöglich, da die geleistete Arbeit durch die ge-
samte Fleischzersetzung noch nicht zur
Hälfte gedeckt wird, also unbedingt auf Kosten
von anderen Substanzen, und zwar stickstoffreien,
also Fett und Kohlehydraten, zustande gekommen
sein muß, falls 'die angeführten Zahlen auch wirk-
lich dem stattgefundenen Umsatz entsprechen.
Zu einem gleichen Ergebnisse führte ein be-
rühmt gewordener Versuch am Menschen, die
von Fick und Wislicenus zum Zweck eines
Stoffwechselversuchs unternommene Besteigung des
Faulhorns. Das Faulhorn erhebt sich 1956 m über
dem Wasserspiegel des Brienzer Sees. Fick und
Wislicenus (beide unlängst gestorben) wollten
feststellen, ob durch die Muskeltätigkeit eine Er-
höhung des Eiweißumsatzes, bzw. der Stickstoff-
ausscheidung eintrete. Sie suchten, aus den oben
erwähnten Gründen, den Einfluß des Eiweißes der
Nahrung nach Möglichkeit auszuschalten, indem
sie 17 Stunden vor Beginn der Besteigung die
letzte stickstoffhaltige Nahrung zu sich nahmen.
Die eigentliche Bergbesteigung dauerte 6 Stunden;
erst 7 Stunden nach beendigter Bergbesteigung
genossen sie wieder stickstoffhaltige Kost. Der
Harn wurde von Beginn der Bergbesteigung bis
7 Stunden nach derselben gesammelt und auf
Stickstoff analysiert ; er enthielt bei Fi ck 5,7 g N,
bei Wislicenus 5,6 g N entsprechend ca. 63000 kgm
bzw. 61000 kgm. Da Fick 66 Kilo wog, Wis-
licenus 76 Kilo, so betrug die geleistete Arbeit
im Minimum 66><' 1956 bzw. 76 >< 1956= 129 000
bzw. 148000 kgm. In Wirklichkeit war die ge-
leistete Arbeit wesentlich größer, da die horizon-
tale Fortbewegung, die Überwindung der Reibung,
Ungleichmäßigkeiten des Weges, überflüssige Mus-
kelanstrengungen etc. nicht berücksichtigt sind.
Also auch in diesem Versuche hätte nicht einmal
die Hälfte der tatsächlich geleisteten Arbeit durch
Zersetzung von Eiweiß gedeckt sein können.
Auf Grund dieser Erfahrungen galt nun lange
Zeit die alte Liebig'sche Hypothese als strikte
widerlegt; ja man war sogar geneigt anzunehmen,
daß das Eiweiß als Quelle der Muskelkraft über-
haupt nicht in Betracht käme, sondern ausschließ-
lich Fett und Kohlehydrate und zwar vorwiegend
die letzteren. Die Erfahrungen über das Glykogen,
den Hauptzucker des Muskels, wurden in diesem
Sinne gedeutet. Der ruhende Muskel speichert
Zucker in Form von Glykogen in sich auf; bei
der Arbeit wird dieses Glykogen bald verbraucht,
ein nachweisbarer Verbrauch von Muskeleiweiß
findet dagegen nicht statt. —
Erst anfangs der 90er Jahre hat Pflüger
nochmals den Versuch gemacht, die alte Liebig-
sche Anschauung zu retten. Der Haupteinwand,
den Pflüger gegen die oben skizzierten an-
scheinend so schlagenden alten Versuche von
Pettenkofer und Voit, sowie von Fick und
Wislicenus erhob, war folgender. Den er-
wähnten Versuchen lag die Anschauung zugrunde,
daß der Stickstoff des bei der Muskelarbeit eventuell
zerfallenden Eiweißes innerhalb der näclisten 24
Stunden oder noch früher zur Ausscheidung ge-
langte. Wäre diese Annahme irrig, würde tat-
sächlich der einer Arbeitsperiode entsprechende
Stickstoff erst nach 2 >< 24 oder 3 X ~4 Stunden
vollständig zur Ausscheidung gelangen, so ließen
die vorher erwähnten Versuche die Deutung zu,
daß nur deshalb die ganze geleistete Arbeit nicht
durch Eiweißumsatz gedeckt erscheint, weil derStick-
stoff zum großen Teil in der nicht berücksichtigten
3S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 23
Ruheperiode erst zur Ausscheidung^ gelangte. In
der Tat konnte Pflüger und Schüler von
ihm den Nachweis führen, daß die Folgen einer
geleisteten größeren Arbeit für den Stoffwechsel
innerhalb 24 Stunden noch nicht ausgeglichen sind.
Argutinski, ein Schüler Pflüger's, machte fol-
genden Versuch : Durch eine gleichmäßige Nah-
rung von mittlerem Eiweißgehalt suchte er sich
in sog. Stoffweciiselgleichgewicht zu bringen, d. h.
zu erzielen, daß bei der gewöhnlichen Lebensweise
die Summe aller durch die Nahrung eingeführter
Stoffe gleich der Summe aller durch die Äusschei-
dungsorgane ausgeschiedenen Stoffe war, insbeson-
dere daß die Menge des in Harn und Kot ausgeschie-
denen Stickstoffs gleich der Menge des in der Nahrung
eingenommenen Stickstoffs war. Nachdem dieses
Stoffwechselgleichgewicht einige Tage bestanden
hatte (wenigstens nach der Annahme von Argu-
tinski), wurde an einem Tage durch Bergbestei-
gung eine grotSe Arbeit geleistet, ohne daß sonst
in den Versuchsbedingungen sich irgend etwas
änderte; dann folgten wieder einige Tage mit ge-
wöhnlicher Beschäftigung. Naturgemäß wurde da-
durch das Stofifwechselgleichgewicht gestört, da
die Mehrleistung auf Kosten der Körpersubstanz
geschehen mußte. Es zeigte sich nun, daß nicht
nur an dem Arbeitstage selbst eine geringe Steige-
rung des Eiweißumsatzes, also der Stickstoffaus-
scheidung, eintrat, wie sie ja auch in den alten
Versuchen beobachtet wurde, sondern auch noch
mehrere Tage nach der Arbeitsleistung; erst dann
war wieder die Störung des Stoffwechselgleich-
gewichts beseitigt. Pflüger sagte daher: die
alten Beobachtungen haben, da die Nacliperiode
zu kurz war, zu einem Trugschluß geführt. Das
Eiweiß ist doch die alleinige Quelle der Muskel-
kraft und muß sie sein. Zu dieser schroffen Auf-
fassung kam P f 1 ü g e r auch noch auf einem anderen
Wege. Durch einen hoch interessanten Versuch,
in welchem ein Hund ausschließlich mit magerem
Fleisch (also im wesentlichen Eiweiß) ernährt
wurde, konnte Pflüger zeigen, daß das Eiweiß
die alleinige Quelle nicht nur der Muskelkraft
sondern auch aller anderen Leistungen des tierischen
Organismus sein kann. Er erzielte, daß dieser
Hund nicht nur in der Ruhe , sondern auch
bei intensiver Arbeit, ausschließlich durch Zer-
setzung von Eiweiß lebte. Bei der Arbeit mufjte
naturgemäß eine entsprechende Mehreingabe von
Eiweiß erfolgen, da sonst Fett und Kohlehydrate
vikariierend eingetreten wären. - — Obschon die
Richtigkeit der Angabe von Argutinski, daß
die Reaktion des Stoffwechsels auf eine inten-
sive Arbeitsleistung erst nach mehreren Tagen be-
endigt ist, durch Nachuntersuchungen von anderen
Seiten bestätigt ist, so ist es heute doch nicht
mehr angängig, diese Versuche im Sinne der alten
Liebig 'sehen Auffassung zu verwerten.
Argutinski hatte sich bei seinen Versuchen
mit einer Nahrung von gewöhnlicher Zusammen-
setzung ins Stoffwechselgleichgevvicht gebracht, die
verhältnismäßig reich an Eivveißstoffen war. In
einer der Versuchsreihen von Argutinski war die
absolute Erhöhung des Eiweißumsatzes während
des Versuchstages und den beiden darauf folgen-
den Ruhetagen so groß, daß die geleistete Arbeit
gerade eben durch den Mehrumsatz von Eiweiß
gedeckt sein konnte.
Die in anderen Versuchen beobachtete Er-
höhung des Eiweißumsatzes genügte an sich nicht
ganz, um den durch die Muskelarbeit postulierten
Bedarf zu decken, aber der Gesamteiweißumsatz
war so bedeutend, daß die ganze Muskelarbeit auf
Kosten von Eiweiß hätte geleistet sein können,
natürlich unter Zuhilfenahme der Hypothese, daß
vorher, zur Zeit derRuhe, eine Luxuseiweißkonsump-
tion stattgefunden hat, und daß zur Zeit der Arbeit
Fett und Kohlehydrate des Körpers an anderer
Stelle vikariierend eingetreten sind.
Später hat Krumm acher die Argutinski-
schen Versuche ebenfalls im Pf 1 ü ger' sehen La-
boratorium nachgemacht mit ähnlichem Ergeb-
nisse, nur daß die Steigerung des Eiweißumsatzes
wesentlich geringer war, wie bei Argutinski,
so daß höchstens 25 % der geleisteten Arbeit
durch die Mehrzersetzung von Eiweiß geliefert
sein konnten. Überhaupt haben andere Versuche
(auch von Krummacher, der inzwischen sich
der Voit 'sehen Schule angeschlossen hat) er-
geben, daß die von Argutinski beobachtete,
nicht unbeträchtliche Steigerung desEiweißumsatzes,
namentlich an den der Arbeit folgenden Ruhe-
tagen, sich bei geeigneter Versuchsanordnung fast
ganz vermeiden läßt und zwar durch eine reich-
liclie Beigabe von stickstoffreien Nährstoffen zu
der Nahrung. Argutinski glaubte zwar bei
seinen Versuchen in der Ruhe im Stoffwechsel-
gleichgewicht zu sein; es liegen aber triftige Gründe
vor, hieran zu zweifeln. Es geht aus den Ver-
suchen von Argutinski nicht mit Sicherheit
hervor, ob die Nahrung auch für die Ruhe eine
ausreichende war, jedenfalls mußte die Arbeit an
den Arbeitstagen auf Kosten der Körpersubstanz
geleistet werden. Vermeidet man dies durch ge-
nügende Beigabe von Fett und Zucker zur Nah-
rung, so unterbleibt die Mehrzersetzung von Ei-
weiß fast ganz. Außerdem ist noch zu berück-
sichtigen, daß Überanstrengungen, die mit Atemnot,
wenn auch geringen Grades, verknüpft sind, die
Versuchsergebnisse wesentlich beeinflussen können.
Asphyxie, Atemnot, auch geringen Grades, ruft
Steigerung des Eiweißumsatzes hervor, die dann
eine erhöhte Eiweißzersetzung als Folge der ge-
leisteten Arbeit vortäuschen kann.
Es genügen also diese Argutinski' sehen
Versuche nicht, um die Liebig'sche Lehre zu
beweisen, aber immerhin sind dieselben, ebenso wie
die K r u m m a c h e r ' s , sehr wohl mit dieser Theorie
zu vereinbaren ; sie widersprechen derselben nicht,
wie es andere Versuche, z. B. der alte von F i c k
und Wislicenus, taten.
Nun sind neuerdings von der Zuntz'schen
Schule aus Versuche gemacht worden, die in ein-
wandsfreier Weise zeigen, daß Fette und nament-
N. F. m. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
357
lieh auch Kohlehydrate als Quelle der Muskelkraft
fungieren können. Man ging nämlich darauf aus,
den Eiweißumsatz bei gleichzeitig zu leistender
ergiebiger Arbeit auf das Minimum lierabzudrücken.
Der EiweifSumsatz ist in erster Linie abhängig von
der Eiweißzufuhr in der Nahrung. Je mehr Ei-
weiß in der Nahrung aufgenommen wird, desto
mehr wird auch zersetzt. Die Grenze der Zer-
setzungsfähigkeit liegt für gewöhnlich höher, wie
die Grenze der Aufnahmefähigkeit. Andererseits
ist der Eiweißumsatz unabhängig von der Eiweiß-
zufuhr, insofern als ein Leben ohne Zersetzung
von Eiweiß nicht stattfinden kann; also findet auch
bei absoluter Nahrungsentziehung, bei vollständigem
Hunger, immer noch ein wenn auch geringer
Eiweißumsatz statt, natürlich auf Kosten von
Körpereiweiß. Ein hungernder Organismus ist
aber imstande, noch ergiebige Arbeit zu leisten
vermöge der Reservevorräte, die zu Zeiten reich-
licher Ernährung aufgespeichert sind. Noch gün-
stiger für die vorliegende Frage lassen sich die
Verhältnisse gestalten, wenn eine Nahrung gereicht
wird, die frei von Eiweiß oder arm an Eiweiß ist,
aber reich an Fett und Kohlehydraten. Auf diese
Weise kann man den Eiweißumsatz sogar noch
etwas weiter herabsetzen wie durch vollständigen
Hunger, und kann dabei noch die Reservevorräte
des Körpers schonen. Ja es ist möglich, auch das
Körpereiweiß intakt zu lassen, wenn man den Ei-
weißgehalt der Nahrung etwa so groß nimmt, wie
der tägliche Verlust an Körpereiweiß bei absoluter
Nahrungsentziehung sein würde, im übrigen aber
reichlich Fett und Kohlehydrate verfüttert. F r e n t z e 1,
ein Schüler von Z u n t z , verfuhr demnach folgender-
maßen. Er machte Arbeitsversuche einmal an
hungernden Tieren, sodann an Tieren, die aus-
schließlich mit großen Mengen Fett oder Zucker
gefüttert waren; in beiden Fällen trat ein Ver-
lust an Körpereiweiß ein. Endlich wurden auch
Versuche mit eiweißarmer, aber fett- und kohle-
hydratreicher Nahrung ausgeführt, wobei ein Ver-
lust an Körpersubstanz vermeidbar ist. In allen
drei Fällen ließ sich trotz intensiver körperlicher
Arbeit der Eiweißumsatz so sehr herabdrücken,
daß auch unter Berücksichtigung einer ausgiebigen
Nachperiode der absolute Eiweißumsatz bei weitem
nicht genügte, um die geleistete Arbeit zu decken.
Die Erhöhung des Eiweißumsatzes über den Ruhe-
wert war so minimal, daß nur ein kleiner Bruch-
teil der geleisteten Arbeit durch diese Energie-
quelle zustande gekommen sein konnte. Es ist
durch diese Versuche einwandfrei gezeigt, daß
auch Fette und Kohlehydrate die zur Leistung von
Muskelarbelt nötige Energie zu liefern vermögen.
Damit ist die alte Liebig'sche Lehre, die Pflüger
in womöglich noch schärferer Form wiederholt
hat, daß das Eiweiß die alleinige Quelle der
Muskelkraft sei, in dem Sinne, wie sie ursprüng-
lich gefaßt war, endgültig widerlegt. Das Eiweiß
kann die zur Muskelarbeit nötige Kraft liefern,
muß es aber nicht, da die bei der Verbrennung von
Fetten und Kohlehydraten freiwerdende Energie
dasselbe leisten kann, und tatsächlich für gewöhn-
lich die Hauptmasse der Muskelarbeit leistet.
Die alte L i e b i g- Pf 1 üger 'sehe Vorstellung
hat sich nicht aus den Beobachtungstatsachen heraus-
entwickelt, war also keine Theorie, sondern war
eine reine Hypothese, die sich bei der experi-
mentellen Prüfung wenigstens in ihrer ursprüng-
lichen Form als unhaltbar herausgestellt hat.
In neuester Zeit hat Verworn die alte Lehre
modifiziert und den Versuch gemacht, sie auch
den neueren Beobachtungen anzupassen; in seiner
„allgemeinen Physiologie" war dieser Ver-
such schon ausgesprochen; in dem kürzlich er-
schienenen Schriftchen „Die Biogenhypo-
these" ist der dort enthaltene Gedanke weiter
ausgesponnen, und auf eine Reihe weiterer Pro-
bleme der Physiologie ausgedehnt worden. Der
Leser der P flu ger 'sehen Arbeiten wird manch-
mal den Eindruck haben, daß Pflüger schon Ähn-
liches gedacht hat, aber präzis und deutlich aus-
gesprochen sind diese Vorstellungen erst durch
Verworn. Verworn sagt etwa folgendes: Die
Muskelkraft geht hervor aus dem Zerfall der das
lebende Protoplasma des Muskels bildenden Eiweiß-
moleküle. Diese Eiweißmoleküle sind natürlich
nicht identisch mit dem toten Eiweiß, das der
Chemiker zur Untersuchung bekommt, sondern
sind noch wesentlich komplizierter und viel un-
beständiger. Verworn nennt das hypothetische,
sehr komplizierte und dabei labile Eiweißmolekül
der lebenden Substanz „Biogen". Pflüg er hat
schon vor langen Jahren mit dem Namen „leben-
diges Eiweißmolekül" den gleichen Begriff ver-
bunden. Mit der Einführung dieses Begriffes ist
natürlich für uns nicht geholfen. Verworn geht
aber weiter und sagt: Der Zerfall des Biogen-
moleküls liefert die Energie bei der Muskeltätig-
keit; es ist aber nicht nötig, daß das Biogen-
molekül vollständig bis in seine einfachsten Spal-
tungsprodukte weiter gespalten wird, sondern es
ist denkbar, daß das „Biogen" zunächst in stick-
stoffhaltige und stickstoffreie Komplexe zerfällt
und dadurch Energie liefert. Während aber die
stickstoffreien Komplexe weiter verbrannt werden,
regenerieren sich die stickstoft'haltigen wieder zu
Biogenmolekülen, indem sie sich mit stickstoff-
freien \^erbindungen, sei es der Nahrung, sei es
der Reservedepots des Organismus, verbinden.
Damit soll erklärt werden, wie Arbeit zwar auf
Kosten stickstoffhaltiger Substanzen des Organis-
mus geleistet wird, wie aber beim Stofifwechsel-
versuch trotzdem keine entsprechende Steigerung
der Stickstoffausscheidung zur Beobachtung kommt.
Beistehende Schemata können als Eiläuterung
dienen, i und 2 seien Schemata für das Biogen-
molekül. Die großen Kreise seien stickstoffhaltige
Komplexe, die kleineren Kreise seien stickstoff-
freie Komplexe. In Vig. i sind die Komplexe zu
einem Ganzen vereinigt, in Fig. 2 ist das Biogen-
molekül zerfallen. Figg. 3, 4 und 5 schematisieren
die Regeneration des Biogens auf Kosten stick-
stofffreier Komplexe, sei es der Nahrung, sei es
3S8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. IIl. Nr. 23
der Reservestofte des Körpers. Die aus der Nah-
rung bzw. den Reservevorräten des Körpers
stammenden Komplexe sind durch punktierte
Kreise dargestellt.
Es ist aus diesem Schema ersichtlich, daß es
möglich ist, daß der Zerfall von Biogenmolekülen
die Energie bei der Muskeltätigkeit liefert, ohne
vermehrte Stickstoffausscheidung.
gerecht zu werden. Selbstverständlich können
aber diese Beobachtungen nicht als Beweis für die
Richtigkeit dieser Hypothese gelten.
Sie werden sich die Frage vorlegen, was hat
denn die ganze Hypothese für einen Zweck.? Warum
sucht man die rein h)-pothetische^Vorstellung, daß
das Eiweiß die Quelle der Muskelkraft sei, durch
neue, immer weitergehende Hypothesen zu halten?
— o
Fig. I. Intaktes P.iogenmol ekiil.
o o
o O O o
o
o
Fig. 2. Zerfiillencs lii o genm ol el< ül.
U
vj o ^
00
F'g- 3—5- Stickstofffreie Komplexe der Nalining, die sich mit den stickstoffhaltigen Resten des
Bi o genm ol ekiil s zu einem neuen Biogenmolekül regenerieren.
./
Fig. 6. Intakte F. i \ve i ß m o I e k ü 1 e der Nahrung.
vJ ■■■..J O
Fig. 7. In stickstoffhaltige und sticljstofffrcie KompleNC
zerfallenes Nahrungseiweiü.
o o
Fig. 8 — 9. Stickstoffhaltige Bio genreste, die sich mit stickstofffreien Komplexe» des Nahrungseiweifics zu neuen
Biogenmole külcn regenerieren, während die stickstoffhaltigen Reste des Nahrungseiweißes weiter zerfallen und vom
Organismus ausgeschieden werden.
Die Figg. 6, 7, 8, 9 versinnbildlichen die Re-
generation des Biogens auf Kosten stickstoffhaltiger
Bestandteile der Nahrung (Eiweiß). Es ist ersicht-
lich, daß auf diese Weise ein dem Zerfall von
Biogenmolekülen entsprechende Ausscheidung von
Stickstoff zustande kommt.
Es ist also die Verworn'sche Hypothese des
unvollständigen Zerfalls von Eiweiß bei der Muskel-
tätigkeit und der Regeneration der Zerfallsprodukte
zu dem ursprünglichen Eiweiß, soweit ich über-
sehen kann, imstande, den bisherigen Beobachtungen
Da muß man zugeben, daß das allerdings zum
Teil Geschmacksache ist. Ich muß auch sagen,
daß die Liebig' sehe Vorstellung in der Modifi-
kation von Verworn mir das Sympathischere ist.
Anderen geht es anders. So sagt z. B. Tieger-
stedt, daß ihm die andere Vorstellung die plau-
siblere ist, wonach der Muskel eine mit beliebigem
Material heizbare Maschine ist. Solange wir über
das eigentliche Wesen der Muskelkontraktion noch
so im unklaren sind, werden derartige hypo-
thetische Vorstellungen sich immer gegenüber-
N. F. ni. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
359
stehen; und solange es Hypothesen sind, die zu
weiteren Untersuchungen anregen, haben derartige
Hypothesen auch ihre Berechtigung. Verworn
macht in seiner erwähnten Schrift die treffende Be-
merkung, daß eine falsche Hypothese der wissen-
schaftlichen Erkenntnis oft mehr nützen kann, wie
eine richtige Tatsache.
Zum Scliluß noch einige Worte über die prak-
tische Bedeutung der vorstehenden Erörterungen.
Was soll ich tun, um mich in einen Zustand von
größter Leistungsfähigkeit zu setzen ? Da sind
zwei Dinge auseinander zu halten, einmal der je-
weilige Zustand der Muskulatur, und zweitens die
Art, wie die vorhandene Muskulatur am leistungs-
fähigsten erhalten wird. Es bedarf keiner Er-
örterung, daß die Eeistungsfähigkeit in erster Linie
abhängig ist von der Entwicklung der Muskulatur,
je „muskulöser", desto kräftiger. Eine Vermehrung
der Muskelmasse ist nun nicht durch irgend eine
Ernährung erzielbar, sondern ausschließlich durch
eine entsj^rechende Übung der Muskulatur. Nach
erschlaffenden Krankheiten , oder nach Perioden
unzureichender Ernährung, wird eine gute Er-
nährung auch ohne entsprechende Übung eine
Vermehrung der vorher degenerierten Muskulatur
bewirken, aber normalerweise . ist die Tätig-
keit, die Übung, das Mittel, welches imstande
ist, die Muskulatur zu kräftigen. Selbstverständ-
lich kann Übung allein nicht den gewünschten
Effekt haben, wenn nicht die Nahrung gleiciizeitig
eine ausreichende ist, und namentlich auch der
Eiweißgehalt der Nahrung ein solcher ist, daß
nicht nur der ganze Bedarf nach Eiweiß gedeckt
ist, sondern auch noch genügend Überschuß vor-
handen ist , um eine Vermehrung des Muskcl-
protoplasmas zu bewirken. Es ist nach dem vor-
her Gesagten durchaus nicht nötig, sich hierzu
einer reinen Fleischkost, wie sie von manchen
Sportsleuten empfohlen wird, zu bedienen, sondern
es genügt eine Kost mit reichlich Fleisch und
solchen Fett- und Kohlehydratmengen, die die
Ernährung zu einer ausreichenden machen.
Die andere Seite der Frage, wie kann die
vorhandene Muskulatur am besten ausgenutzt
werden? steht in direkter Beziehung zu unserer
Frage nach der Quelle der Muskelkraft. Wie ist
ein Soldat am besten befähigt große Anstrengungen
eines Manövers zu ertragen ? Wie ein Tourist zu
forcierten Bergbesteigungen? Natürlich ist auch
hier die vorausgegangene Übung und der Ernäh-
rungszustand von ausschlaggebender Bedeutung;
aber nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung
der Nahrung, welche während der forcierten Ar-
beitsleistung dem Organismus zugeführt wird. Was
für Nährstoffe soll der Bergsteiger, der Soldat, mit-
nehmen auf den Marsch ? Wäre die Liebig'sche
Anschauung in ihrer alten Form richtig, so müßten
Eiweiß, Fleisch, oder irgend welche Eiweißpräparate
die Hauptmasse des Proviants ausmachen. Kohle-
hydrate, etwa gewöhnlicher Würfelzucker oder
Chokolade, Dinge, die durch ihre Konsistenz, leichte
Aufnahmefähigkeit etc. sich besonders als Proviant-
material eignen würden, könnten keine direkte Er-
höhung der Leistungsfähigkeit bewirken. Sie
würden zwar den Bestand des Körpers an Fett
und Kohlehydraten vor Abnutzung schützen, aber
falls das Nahrungseiweiß verbraucht wäre, würden
sie nicht verhindern, daß eine rapide Abnutzung
von Körpereiweiß stattfindet. Die heute be-
sprochenen Stoffwechseluntersuchungen lehren uns
aber mit voller Sicherheit, daß dem Eiweiß eine
derartige exzeptionelle Stellung bei der Muskel-
tätigkeit nicht zukommt; daß die für die Muskel-
tätigkeit notwendige Jinergie ihre Quelle sehr wohl
in den E'ctten und Kohlehydraten der Nahrung
haben kann. In der Tat hat auch die praktische
Prüfung ergeben, daß Kohlehydrate und Fette
(z. B. Würfelzucker, Chokolade) die Leistungs-
fähigkeit bedeutend erhöhen können. Der Energie-
wert, der mit Leichtigkeit auf diese Weise zuge-
führt werden kann, ist sehr bedeutend. Ein ein-
ziges Stück Würfelzucker von etwa 5 g Gewicht
repräsentiert 5 X 4 = 20 Kai. oder 8480 mkg,
repräsentiert also einen Energiewert, der ausreichen
würde, um einen Menschen von 84 kg um 100 m
zu heben. Da die Kohlehydrate an die Ver-
dauungslätigkeit nur sehr geringe Anforderungen
stellen und leicht und rasch resorbiert werden,
also an die Stelle des Bedarfs gelangen, so sind
dieselben bei forcierten Leistungen die wertvollste
Energiequelle für den arbeitenden Organismus.
Natürlich gehört zu einer vollen Ausnutzung der
PLnergie auch ein stetiger Verbrauch von Eiweiß,
der durch die Nahrung gedeckt werden muß, wenn
der Organismus nicht leiden soll, aber gerade bei
vorübergehenden Leistungen , denen eine ent-
sprechende Ruhe mit eiweißreicher Nahrung folgt,
leisten die stickstoffreien Nährstoffe die besten
Dienste. M
') Das Manuskript dieses Aufsatzes ist schon vor Jahres-
frist der Redaktion zugegangen. Daraus erklärt es sich, daß
einige neuere Arbeiten unerwähnt geblieben sind. D. Verf.
Kleinere Mitteilungen.
K. A. V. Zittel, Der Altmeister der Paläonto-
logie. — Mit dem am 5. Januar dieses Jahres in
München verschiedenen K a r 1 A 1 f r e d v. Z i 1 1 e 1 ist
ein seltener Mann zu Grabe getragen worden, selten
durch Vorzüge seiner persönlichen Eigenschaften —
er verband mit einer impulsiven Energie eine stets
liebenswürdige Rücksicht auf andere — selten durch
die Erfolge seines Lebensganges — er war mit
23 Jahren Dozent, mit 27 Ordinarius und in relativ
jungen Jahren Präsident der bairischen Akademie
der Wissenschaften — selten auch durch das Maß
seiner Leistungen als akademischer Lehrer, als
Direktor der durch ihn enorm erhobenen palä-
ontologischen Sammlung, sowie durch seine wissen-
36o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 23
schafthchen Pubhkationen im Gebiet der Geologie
und Paläontologie. In diesem letzteren Fache, der
Lehre von den Organismen vergangener Erd-
perioden, nahm und nimmt für alle Zeit der Ver-
storbene eine Stellung ein, die auch über einen
Nachruf hinaus eine besondere Betrachtung recht-
fertigt.
Nur in einer jungen Wissenschaft kann ein
einzelner zu einer so internationalen Bedeutung
ansteigen, wie dies hier der Fall war, und die
Paläontologie ist unter den deskriptiven Natur
Wissenschaften die jüngste, und noch bis in das
Ende des letzten Jahrhunderts hinein ein schlecht
genährtes Sorgenkind der Entwicklungsgeschichte
des organischen Lebens gewesen.
Bis um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts
auch von Gebildeten noch zumeist als lusus naturae
oder Zeugen der Sintflut betrachtet, gewannen die
Versteinerungen plötzlich dadurch Bedeutung, daß
sie als Leitfossilien in der Geologie praktische Ver-
wertung fanden. Die Möglichkeit aus ihrem Vor-
kommen an sich vulkanische und neptunische Ge-
steine zu unterscheiden, aus den fossilen Formen
einstige Meeres- und Landablagerungen als solche
zu erkennen, und vor allem durch ihre Verschieden-
heiten das relative Alter der einzelnen Erdschichten
bestimmen zu können, mußte naturgemäß zur
Folge haben, daß man auf lange Zeit hinaus die
geologische Bedeutung der Versteinerungen sehr
hoch anschlug, und erklärt, daß man darüber ihre
eigene innere Bedeutung als Dokumente der, or-
ganischen Entwicklungsgeschichte fast übersah.
Den Geologen genügte im allgemeinen eine
Feststellung der äufJeren Form, die eine Wieder-
erkennung ähnlicher oder eine Unterscheidung
verschiedener Formen ermöglichte. Dazu war
eine planmäßige Untersuchungsmethode der Fos-
silien nicht erforderlich. Dazu kam, daß die
Seltenheit der meisten Funde eine Untersuchung
nur insoweit gerechtfertigt erscheinen ließ, als an
den Objekten selbst keinerlei Zerstörungen vorge-
nommen werden durften. So erklärt sich, daß die
Versteinerungen in der Regel so abgebildet wurden,
wie man sie zufällig aus dem Gestein heraus-
geschlagen hatte, daß oft selbst die geringste
Mühe gescheut wurde, das Fossil von aufsitzendem
Gesteinsmaterial auch nur oberflächlich zu säubern.
Jenachdem nun ein komplizierterer Organismus
hier diese und dort jene Teile erkennen ließ,
wurde die Vergleichung der beschriebenen Funde
fast überall sehr schwierig und nicht selten zur
Unmöglichkeit. Auch die sehr viel selteneren, von
organischem Interesse geleiteten, spezifisch palä-
ontologischen Untersuchungen litten teils unter
der Ungunst der Erhaltung fossiler P"ormen, teils
unter der mangelhaften Beachtung zoologischer oder
botanischer Gesichtspunkte. Daf3 daneben einzelne
Autoren mit mustergültiger Gründlichkeit ausge-
zeichnete und für alle Zeit grundlegende Arbeiten ge-
schaffen hatten, soll dabei natürlich durchaus nicht
verschwiegen und unterschätzt werden, aber als all-
gemeiner Stand ergab sich eine ganz außerordent-
liche Verschiedenheit in dem wissenschaftlichen
Wissen der paläontologischen F"eststellungen, und
daraus etwa noch in den 80 er Jahren eine uns
heute kaum noch verständliche Unsicherheit in der
Verwertbarkeit des paläontologischen Materials.
Auf der anderen Seite war der Paläontologie
durch die Deszendenzlehre gerade in dieser Zeit
eine Bedeutung erwachsen, die den Wert der ein-
zelnen Funde weit höher stellte, als den einer
neu gefundenen Form der Gegenwart. Denn jede
derselben stellte ein unbestreitbares Dokument für
den historischen Entwicklungsgang des betreffenden
Tier- oder Pflanzentypus dar, und erregte den
Wunsch, durch Aneinanderreihung geologisch auf-
einanderfolgender F"ormen eines Verwandtschafts-
kreises den heißersehnten Stammbaum desselben
zu ermitteln. Indem nun die Anhänger der neuen
Lehre überall Stammbäume zu rekonstruieren
suchten, stellten sie an das paläontologische Material
Anforderungen, die dieses damals noch nicht be-
friedigen konnte. Aus diesem Mißverhältnis des
hohen organischen Wertes der Versteinerungen
und ihrer meist recht unvollständigen Kenntnis
ergab sich ein höchst unerquicklicher Zustand, der
dem klaren Blick hervorragender Paläontologen
jener Zeit nicht entgehen konnte, aber bei diesen
sehr verschiedene Reaktionen hervorrief
Das war in großen Zügen der Zustand der
Paläontologie, als die Tätigkeit Zittels einsetzte.
Seine Sporen hatte er sich mit Spezialarbeiten
verdient, in denen er gründlichste Untersuchungs-
methoden mit umfassender Vergleichung verband
und die Schwierigkeiten ermessen lernte, die sich
der exakten Forschung sowohl in dem Studium
der Objekte, als in dem verschiedenen und
zumeist unkontrollierbaren Wert des subjektiven
Wissensmaterials entgegenstellten. Die Unter-
suchungen bald nach diesen bald nach jenen Ge-
sichtspunkten, hier gründlich dort oberflächlich
angestellt, ließen nur hier und da festen Boden
unter den Füßen fühlen, aber nicht gleichmäßig
auf Bestehendem weiter bauen.
Zittel erkannie, daß hier nur eine gründliche
kritische Durchsicht des gesamten bisher vor-
liegenden Materials an Funden und Schriften Ab-
hilfe schaffen konnte, und er verband wie kein
anderer die Fähigkeiten hierzu : einen klaren morpho-
logischen Blick und eine unermüdliche Arbeits-
kraft; aber erst nach zehnjährigem Bedenken unter-
nahm er die Riesenarbeit, die uns nun in seinem
fünf bändigen Handbuch der Paläontologie vorliegt.^)
Das ist sein Hauptwerk, das Ergebnis seiner eigen-
artig glücklichen Begabung, eine Leistung, die ihm
wohl kein einzelner nachgemacht hätte. Seine
Erkenntnis, daß eine Kritik des vorliegenden Ma-
terials die wichtigste Grundlage seines Werkes
sein müsse, und eine solche nur durch gründ-
lichste Sachkenntnis auch der lebenden Formen
zu erzielen war, ließ ihn von vornherein davon
absehen, obwohl er ein recht guter Pflanzenkenner
') Verlag von R. Oldenburg, München, 1876—91.
N. F. m. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
361
war, die Paläophytologie selbst zu bearbeiten. In-
dem er für diese zunächst Schimper und nach dessen
Tode Schenk gewann, sicherte er auch diesem
Teil den Wert der originellen Kritik und sich
selbst größere Bewegungsfreiheit in seinem eigenen
Gebiet der Paläozoologie.
Der ungleiche Stand des damaligen Wissens
in den Einzelgebieten der Paläozoologie zwang zu
einer vollkommen neuen Bearbeitung zahlreicher
Abteilungen, wie der F'oraminiferen und Spongien,
der Crinoiden, Cephalopoden, Trilobiten, P'ische,
Reptilien und Säugetiere. Wie Zittel in allen Teilen
seines Faches mit einer fast mühelos und instinktiv
erscheinenden Sicherheit zuverlässige und unsichere
Daten zu scheiden wui-5te, und nur das Gute als
Baustein auswählte, so wußte er auch zu seiner
Unterstützung in einzelnen Spezialgebieten die ge-
eignetsten Kräfte heranzuziehen. IVIännern wie
C. Schwager, v. Suttner, M. Schlosser wird es
immer ein Ruhmestitel sein, daß sie in ihren ein-
zelnen Spezialgebieten Zittel ihr Bestes an die
Hand geben durften. Sein Handbuch war kleiner
angelegt, aber es wuchs ihm unter den Händen
und nahm schon vom ersten Teil ab eine feste
Form an, die man als eine äußerst geschickte
Lösung der Schwierigkeiten betrachten darf. Kr be-
schränkte sich darauf, die Gattungen zu revidieren
und von Arten nur die wichtigsten Leitfossilien dem
Namen, Alter und Fundort nach anzuführen. Da-
durch war der ganzen Paläontologie eine gleich-
mäßige Revision gesichert, der gegenüber der bis-
herigen Ungleichheit und sonst üblichen eklek-
tischen Bevorzugung spezieller Formen oder ein-
zelner Abteilungen den größten Vorzug des Zittel-
schen Handbuches bildet. Es muß eine unerschöpf-
liche Geduld dazu gehört haben, die ganze so un-
endlich verschiedenartige Literatur daraufhin durch-
zuarbeiten, um jede Form schließlich am richtigen
Platz einzureihen. Hieraus ergab sich auf Schritt
und Tritt die Notwendigkeit neuer Einteilungen,
der er mit bewundernswerter Sachlichkeit nach-
kam. Wenn_ er durch diese überall von einer
subjektiven Überwertung seiner Kombinationskraft
bewahrt blieb, so hat er doch bei aller Zurück-
haltung darin soviel selbständige und glückliche
Kritik bewiesen , daß seine Einteilungen zum
größten Teile auch von den Spezialisten anerkannt
wurden. Auf der anderen Seite hieß es vorwärts,
und nicht in Einzelheiten stecken bleiben. Seine
Lehrtätigkeit, die ihn jedes Semester in das ganze
Gebiet hineindrängte , mag ihm als treibender
Faktor dabei zu statten gekommen sein. Jeden-
falls rückte das Werk nach einer zweijährigen
Pause zwischen dem ersten und zweiten Heft mit
staunenswerter Konsequenz vor, aber wir, seine
Schüler, die damals in München unter ihm arbeiteten,
wissen, welchen eisernen Fleiß er dazu entfalten
mußte. Dabei hat er sein Herzblut hingegeben.
1876 begonnen lagen die fünf stattlichen Bände
1891 abgeschlossen vor.
Diese 15 Jahre Zittel'scher Arbeit sind für
unsere Wissenschaft die läuternde und erziehende
Schule geworden, deren sie dringend bedurfte, um
neben ihren älteren Geschwistern im Kreis bio-
logischer Wissenschaften Sitz und Stimme zu er-
langen. Was Linne für die Botanik und Zoologie,
das ist Zittel für die Paläontologie geworden, er
hat Ordnung und System in sein Fach gebracht,
und das hat auch der ganze internationale Kreis
seiner Fachgenossen dankbar anerkannt. Von
Ch. Barrois ins Französische, von Lahusen ins
Russische übersetzt, schließlich von Ch. R. East-
mann und anderen amerikanischen und englischen
Autoren auch in englischer Bearbeitung herausge-
geben, ist Zittel'sHandbuch der eiserneBestand jeder,
auch der kleinsten paläontologischen Bibliothek
geworden, die Grundlage jeder Lehrtätigkeit und
jeder weiteren Forschung. Alle sonstigen Hand-
und Lehrbücher, auch seine eigenen Grundzüge
der Paläontologie fußen auf der unerläßlichen Vor-
arbeit von Zittel's großem Handbuche, und wären
ohne diese Grundlage nicht denkbar gewesen.
Das war ein Werk, das Karl Alfred v. Zittel
,aere perennius' überleben wird, und seinen Namen
als des Altmeisters der Paläontologie für alle Zeit
in den Annalen dieser Wissenschaft festgelegt hat.
Wir aber wollen uns auch als Deutsche freuen,
daß dieser Mann unser war, und es ihm noch
besonders zu Dank anrechnen, daß er für den
internationalen friedlichen Kampf der Wissenschaften
dem deutschen Vaterlande ein vortreffliches Ar-
senal geschaften hat. Das paläontologische Museum
in München, das wesentlich sein Werk ist, darf
ietzt neben den klassischen Museen von London
und Paris und dem neuentstehenden Museum in
New - York den ersten Rang in der Welt be-
anspruchen. Prof. Dr. Otto Jaekel.
Beiträge zur Erforschung der Vererbung
und Auslese beim Menschen. — Eine Schrift
von Dr. Emil Wettstein, worin Forschungs-
ergebnisse aus einem Teile Graubündens mit-
geteilt werden, verdient mehr Aufmerksamkeit, als
ihr bescheidener Umfang vermuten läßt.') Sie
enthält nicht nur wertvolle Materialien zur anthropo-
logischen und ethnologischen Kennzeichnung einer
bestimmten t )rtlichkeit , sondern sie bietet will-
kommenen Anlaß, einige Probleme der neue-
ren Anthropologie zu erörtern. Dr. Wett-
stein hat sich zum Arbeitsfeld den Kreis Disentis
(sprich Disentis) im Gebiet des Vorderrheins aus-
gesucht und er hat so ziemlich alles Wissens-
werte und Erreichbare, bis auf einen weiter unten
namhaft zu machenden Punkt, zusammengetragen.
Außer einigen Messungen an Lebenden hat er
zahlreiche Schädelmessungen ausgeführt. Die Bein-
häuser in den Gemeinden jenes Kreises lieferten
ihm 252 wohlerhaltene Schädel, die aus den letzten
4^ — 6 Jahrhunderten stammen und an denen Länge,
Breite und Höhe, ferner die Maße des Gesichts,
') Dr. Emil Wettstein, Zur Anthropologie und
Ethnographie des Kreises Disentis (Graubünden).
Zürich, Ed. Rascher's Erben, 1902. 181 S. 8". Mit mehreren
.Abbildungen und Tafeln.
36-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 23
der Augenhöhlen, der Nase, des Gaumens und
noch andere, im ganzen 36 Maße, erhoben werden
konnten. Nur bei einigen Spezialitäten mußten
Schädel in geringer Zahl ausgelassen werden.
Außerdem durfte Dr. Wettstein 78 Schädel mit-
nehmen, um sie im anthropologischen Institut der
Universität Zürich eingehender zu untersuchen.
Bei einer mittleren Länge von 173,5 mm, schwanken
die Einzelmaße der 252 Schädel von 160 — 199 mm,
und bei einer mittleren Breite von 148,1 die Einzel-
maße von 139 — 159 mm. Die Indices verteilen
sich auf 21 Einheiten von 75 — 95; der mittlere
Index ist 85,4. Die Disentiser sind also hyper-
brachycephal ; nur 4 Schädel kamen auf den Index
75, 2 auf den Index 76; bei 78 ist nur i Schädel
vorhanden, dann steigt die Verteilungskurve bis
Index 84 mit 39 Schädeln an und hat im ab-
steigenden Ast einen Höcker bei Index 87 mit
30 Schädeln, während es bei dem vorhergehenden
nur 18 sind. Bei Index 95 endigt die Kurve mit
I Schädel. Die 4 Schädel mit dem Index 75
fanden sich in Danis und gehören nach Wettstein
einem anderen Typus an als die übrigen, dem
Sion-Typus nach His. Von den 78 näher unter-
suchten brachycephalen Schädeln wurden 16 als
weiblich bestimmt mit einer Kapazität von 1200
bis 1445 ccm, durchschnittlich 1333 ccm, 62 als
männlich mit einer Kapazität von ii;o — 1760 ccm,
durchschnittlich 1429 ccm.
Eine genaue Vergleichung der Durchschnitts-
maße ergibt die nahe Übereinstimmung der von
Wettstein gemessenen brachycephalen Schädel mit
dem von His aufgestellten „Disentis- Typus".
Wettstein nimmt an, daß sie in der Tat dem
Disentis-Typus angehören und eine gewisse Ähnlich-
keit mit den brachycephalen Typen der Pfahl-
bauten aufzeigen, von denen sie aber durch ge-
ringere Brachycephalie unterschieden und zeitlich
durch eine mcso- und dolichocephale Einwande-
rung getrennt sind. Die Brachycephalen der
neueren Steinzeit wären also zuerst in einer meso-
und dolichocephalen Einwanderung aufgegangen,
dann wären die Disentiser gekommen, deren Brachy-
cephalie weit ausgesprochener ist als die der Neo-
lithiker, und die Disentiser hätten ihrerseits jene
langköpfigere Bevölkerung in sich aufgenommen.
Zur Unterstützung dieser Annahme wird auf die
nahe Übereinstimmung vieler Merkmale der Disen-
tiser mit denen der Brachycephalen in der übrigen
Schweiz, im Schwarzwald, Bayern und Württem-
berg hingewiesen.
Veröffentlichungen wie die Wettstein's erfüllen
ihren Zweck nur dann, wenn sie zu einer Prüfung
und Erörterung führen. Deswegen möchte ich
mir erlauben, einen Standpunkt zu vertreten, der
von dem Wettstein's abweicht, aber durch Wett-
stein's tatsächliche Angaben eine Unterstützung
erhält. Ich bestreite, daß die eingewanderte
Rasse dem Disentis-Typus angehörte und daß sie
eine so hochgradige Brach_vcephalie besaß, wie sie
diesem Typus heute eigen ist. Vielmehr sehe ich
die Nester einer hochgradigen Brachycephalie, wie sie
sich im Vorderrheintal, in Tirol, in gewissen Tälern
der französischen und italienischen Alpen, im deut-
schen und französischen Mittelgebirge da und dort
vorfinden, für das Erzeugnis einer seit langer Zeit
wirkenden Selektion an.
Der Vorgang ist nur dadurch zu verstehen,
daß man die Rass e n p sy ch ol ogi e zu Hilfe
ruft. Wenn eine dolichocephale und eine brachy-
cephale Rasse von verschiedener Herkunft sich
kreuzen, so entstehen Mischlinge', die von jeder
der beiden Rassen einzelne körperliche Merkmale
und einzelne Seelenanlagen erben. Je länger der
Kreuzungsprozeß dauert, desto mannigfaltiger
werden die Kombinationen, zu denen die körper-
lichen und seelischen Anlagen sich vereinigen.
Wenn die dolichocephale Rasse diejenige des
Homo europaeus ist, so geht von ihr der Wander-
trieb, der Drang, günstigere Lebensbe-
dingungenaufzusuchen,aufdie dem dolicho-
cephalen Pol näher stehenden M ischlinge über.
Die brachycephalen Mischlinge bleiben häufiger
an der Scholle haften, während die mehr zur
Dolichocephalie neigenden, also auch die Meso-
cephalen auswandern. Sind die Reihen der echten
Dolicho- und Mesocephalen gelichtet, so ergreift
dieAuswanderungauch die seh wach brachycephalen,
nach und nach auch die stärker brachycephalen
Elemente, und die Folge ist, daß der zurück-
bleibende Rest immerstärkerbrachycephal
wird. Zugleich geht die Wirkung dieser un-
bewußten Auslese dahin, daß für die Fortpflanzung
der Bevölkerung an Ort und Stelle gleichartigere
Individuen in Betracht kommen, daß also die in-
dividuellen Schwankungen immer näher zusammen-
gehen. Das Ende vom Lied ist, daß die Bevölke-
rung einen Rassetypus vortäuscht, und daß man
sehr aufpassen muß, um sie nicht für eine wirk-
liche Rasse zu halten, während sie nur das Über-
bleibsel einer negativen Selektion, wenn
man will, eine örtlich angepaßte Varietät ist. Erst
bei genauer Untersuchung stellt sich heraus, daß
die Individuen in ihren wesentlichen Merkmalen
sehr ungleich kombiniert sind und immer
noch in Einzelheiten die frühere Anwesen-
heit der dolichocephalen Komponente
verraten. Gerade letzteres hat Wettstein mit be-
sonderer Gründlichkeit erwiesen.
Die Durchschniltsmaße der Disentiser stimmen
wohl mit denen des His'schen Disentis-Typus
überein. Aber schon wenn man die Längen-
Breiten-Indices mit den Breiten-Höhen-Indices und
den Gesichtsformen kombiniert, geht die Einheit-
lichkeit des „Typus" in die Brüche. Nehmen wir
3 Klassen von jedem Merkmal: Meso-, Brachy-
und Ilyperbrachycephale, dazu Hypsi-, Ortho- und
Chamäcephale, endlich Lepto-, Meso- und Chamä-
prosope, so ergeben sich theoretisch 3 X 3 X 3 "= ^7
mögliche Kombinationen, von denen unter den
252 Schädeln Wettstein's nicht weniger als 23
wirklich vorhanden sind (S. 19). Die am
häufigsten vorkommende Kombination, chamä-
prosophypsi-hyperbrachycephal, macht 17,6 Pro-
N. F. m. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
363
zent aus, die zweithäufigste mesoprosop - hypsi-
liyperbrachycephal 16,4 Prozent, dann geht es bei
der mesoprosop-ortho-brachyceplialen Kombination
auf 11,2 Prozent herunter. Die übrigen Kom-
binationen bewegen sich zwischen 9,6 und 0,4
Prozent. Wo bleibt da der Typus? Das ist
aber noch nichts. Wettstein hat mit höchst an-
erkennenswertem Fleiß auch noch die Kombina-
tionen der 3 Gesichtsformen mit den Formen der
Augenhöhlen, der Nase und des Gaumens, nämlich
mit Hypsi-, Meso- und Chamäkonchie mit Lepto-,
Meso- und Platyrrhinie, mit Lepto-, Meso- und
Brachystaphilinie nach ihrer Häufigkeit untersucht
(S. 38 ff.). Theoretisch gibt es, wenn man mit
Wettstein die Kopfformen hier ausläßt, 81 mög-
liche Kombinationen, und von diesen kommen
64 wirklich vor, obwohl es sich bloß um 237
Schädel handelt. Mit Recht fügt VVettstein bei,
daß bei größerem Material sich die Zahl der Kom-
binationen noch vermehren würde. Nur 5 Kom-
binationen umfassen mehr als 10 Schädel. Die
höchste Zahl entfällt auf Mesoprosopie-Hypsi-
konchie-Leptorrhinie-Leptostaphilinie mit 22 .Schä-
deln oder 9,3 l^rozent. Dann folgen Kombina-
tionen mit 13, 12, zweimal II, alle folgenden be-
wegen sich zwischen 8 und i Schädel = 0,4 Prozent.
Diese Zersplitterung beweist, daß der Disentis-
Typus ein bloßer Durchschnittsbegriff ist und daf3
in den einzelnen Schädeln noch Merkmale der
dolichocephalen, leptoprosopen, hypsikonchen, lep-
torrhinen und leptostaphilinen Rasse von ehemals
mit den Merkmalen einer brach)'cephalen etc.
Rasse in den wunderlichsten Zusammenfügungen
vorhanden sind. Für diese Feststellungen muß
man Wettstein dankbar sein.
Sie bestätigen die Beobachtungen über Ver-
erbung und .\uslese, die unter ähnlichen Vor-
aussetzungen anderwärts abgeleitet wurden. Die
einzelnen Merkmale eines jeden Erzeugers werden
zunächst in größeren Gruppen auf das Kind über-
tragen. Aber mit jeder Generation werden diese
Gruppen mehr zerteilt, d. h. die Merkmale, die
sich auf das Kind vererben, vereinzeln sich und
werden mit ebenso vereinzelten Merkmalen des
andern Erzeugers in der willkürlichsten, d. h. ledig-
lich durch die Zufälligkeiten bei der Befruchtung
bedingten Weise mosaikartig verbunden. So bleiben
bei der Rasse nkreuzung mehrere Merkmale
einer jeden Rasse in dem Mischling vereinigt, aber
mit fortschreitender Mischung können immer auf-
fallender widersprechende Merkmale in einem In-
dividuum kombiniert werden, so z. B. Brachy-
cephalie mit l^eptoprosopie, diese mit Platyrrhinie
usw. Hiervon legen Wettstein's obige 23 und 64
Kombinationen sprechendes Zeugnis ab.
Bei der durch die Seelenanlagen verursachten
Auslese, die als Abwanderung der tätigeren
Volkselemente in die Erscheinung tritt, wird zwar
die Kopfform in Mitleidenschaft gezogen, die
Merkmale des Gesichts etc. erleiden jedoch keine
merkliche Beeinflussung. Es ist ganz gut zu be-
greifen, daß die Rassenanlagen des Gehirns in naher
Wechselbeziehung zu denen der Kopfform stehen,
daß sie jedoch mit der Gesichts-, Nasen- und
Gaumeiiform wenig oder nichts zu Schäften haben.
Sonst wäre es unmöglich, daß so vielfach Gesichts ,
Nasen- und Gaumenform etc. der Rasse Homo
europaeus in der Disentiser Bevölkerung übrig ge-
blieben sind, während die langen Kopfformen durch
Auswanderung vermindert wurden, und daß nun-
mehr jede Gesichts-, Nasen- und Gaumenform mit
jedem Grad von Brachycephalie vereinigt vor-
kommt.
Die Abwanderung der Langköpfe ist, wie schon
gesagt, in verschiedenen Gebirgstälern nach-
gewiesen worden, wo enge Lebensbedingungen
herrschen und der Geburtenüberschuß gezwungen
ist, sich draußen in der Welt Verdienst zu suchen.
Daß Vermögens- , Erziehungs- , Familienverhält-
nisse im weitesten Sinn einen Einfluß auf die
Auswahl der Wegziehenden üben, soll keineswegs
bestritten werden. Trotzdem wandern mehr zur
Dolichocephalie neigende Individuen aus und
bleiben mehr zur Brachycephalie neigende zu
Hause. Wäre es nicht durch den unbestechlichen
Maßstab ermittelt, so könnte man an eine Selbst-
täuschung glauben ; aber es ist eine objektive Tat-
sache. Neuerdings ist ein recht belehrendes Bei-
spiel hinzugekommen. ."Xuf den Halligen, den
vom Untergang durch die Wogen der Nordsee
bedrohten Inseln an der Westküste Schleswigs,
zeigt sich der gleiche Selektionsvorgang, der durch
Auswanderung der regsamsten Individuen die zurück-
bleibenden, von dem ursprünglich langköpfigen
Friesenstamm beeinflußten Mischlinge immer
rundköpfiger macht. Die Verhältnisse jener Inseln
sind im einzelnen gewiß so verschieden von denen
des Vorderrheintals wie nur denkbar: aber eines
stimmt, das Motiv der Auswanderung, die Un-
möglichkeit, den Bevölkerungsüberschuß zu er-
nähren. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen.
Die Frage ist nur noch: Hat der Kreis Disentis
wirklich eine solche Auswanderung und ist bei
den .'\uswandernden der durchschnittliche Index
kleiner als bei den Zurückbleibenden? Das hat
Wettstein gar nicht geprüft, daher hat er auch
kein Material geliefert, das die Frage entscheiden
könnte, wie ich für unsere Schwarzwaldbevölkerung
getan habe. In dem ethnographischen Teil gibt
Wettstein zwar die Zahl der Heiraten und der
Todesfälle, merkwürdigerweise aber nicht die der
Geburten, und das ist der im Eingang berührte
Mangel. Man kann vermuten, aber man weiß
nicht bestimmt, daß ein Geburtenüberschuß vor-
handen ist. Daß jedoch eine starke Auswanderung
stattfindet, beweist die Tabelle der Einwohner-
zahlen von 1803 bis 1900 (S. 99). Zu derselben
bemerkt Wettstein : „Der Vergleich obiger Zahlen
zeigt für den Kreis Disentis eine starke Bevölke-
rungsabnahme seit den ersten sicheren Er-
hebungen um die Mitte des Jahrhunderts. Fragt
man nach der Ursache derselben so kommt
man zuletzt auf die ungünstige Lage der Land-
wirtschaft. So sind nach dem Bündner Monats-
364
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 23
blatt im Jahr 1854 allein aus dem Kreise Disentis
145 Personen ausgewandert." Wüßte man, wie
groß der alljährliche Geburtenüberschuß ist, so
würde sich die Auswanderung wahrscheinlich noch
größer, dauernder und eingreifender darstellen, als
in der Bevölkerungsabnahme von 6503 Köpfen im
Jahr 1850 auf 59C4 Köpfe am Ende des Jahr-
hunderts.
Man irrt wohl nicht, wenn man voraussetzt,
daß solche Dezimierungen der Bevölkerung im
Vorderrheintal von jeher stattgefunden haben
werden. Die Enge des wenig fruchtbaren Gebietes,
die Nähe einer durchgehenden Verkehrsstraße mußten
in diesem Sinn wirken. Dabei ist es nicht nötig,
an eine ununterbrochen und gleichmäßig fort-
dauernde Abwanderung zu denken. Es genügt
für unsere Erklärung, wenn die Abwanderung
periodisch eingetreten ist, denn in den Zwischen-
zeiten wuchs die Bevölkerung ohne merkliche Ver-
änderung ihrer anthropologischen Durchschnitts-
beschaffenheit wieder stärker an, um dann, wenn
sie die Grenzen der Ernährungsmöglichkeit er-
reicht hatte, oder wenn anderwärts Gelegenheit
zu leichterem Fortkommen winkte, einen neuen
Schwall mit einer im Vergleich zu den Daheim-
bleibenden etwas größeren Langköpfigkeit hinaus-
zusenden. Auf diese Art kam hier, wie ander-
wärts, das im Eingang beschriebene Ergebnis
heraus.
Daß ich mit meiner grundsätzlichen Auffassung
nicht allein stehe, beweist eine Arbeit von Lucien
Chalumeau „Les Races et la population Suisse",
Bern, 1896. Dieser Landsmann Wettstein's er-
klärt die Großwüchsigkeit der Graubündner im
Kreis Maloja und den kleinen Wuchs der Leute
im Innkreis damit, daß eine starke Auswande-
rung von diesem Kreis in jenen, und zwar eine
Auswanderung der größeren Leute stattfindet, also
derer, die der Rasse Homo europaeus näher stehen.
Chalumeau sagt ferner (S. 5): „13onc dans les deux
cas, dans l'immigration actuelle comme dans l'an-
cienne, c'est l'element germanique qui a apporte
les hautes tailles en meme temps que la langue
allemande. La oü l'italien est parle seul, c'est-ä-
dire lä oü il n'y a pas eu de colonies de Valser
ou d'immigration actuelle, la taille est au mini-
mum: Bernina, Moesa; lä ou le romanche est seul
parle, la taille est moyenne: Vorder-Rhein." Diese
Winke geben ganz guten Aufschluß über die
.Selektionsvorgänge, und was von der Körper-
größe des Homo europaeus gilt, darf mit noch
größerem Recht von seiner Schädelkapsel gesagt
werden, die das Seelenorgan einschließt. Auch
hier ist Selektion wirksam. Die Disentiser sind
ein nach Herausnahme der mehr dem dolicho-
cephalen Pol der Mischlinge nahestehenden Ele-
mente übrig gebliebener Rest, dessen einzelne
Individuen infolge der Inzucht eine gewisse Ähnlich-
keit miteinander aufweisen, im einzelnen aber doch
recht verschieden voneinander sind und die Spuren
der dolichocephalen Rassenkomponente noch be-
wahren. Eine Rasse von der hohen Brachycephalie
der jetzigen Disentiser ist niemals einge-
wandert, wahrscheinlich hat es eine so brachy-
cephale Rasse nie gegeben. Der Disentis-Typus
ist überhaupt keine Rasse, nicht einmal ein
Typus, sondern ein Gemengsei von allen mög-
lichen Kopf-, Gesichts-, Nasen- und Gaumenformen,
die durch Kreuzung von Homo europaeus mit
der ursprünglich schwach rundköpfigen Rasse, dem
Homo alpinus entstehen konnten.
Im übrigen enthält der ethnographische Teil
der Wettstein'schen Schrift viele nach neuen Ge-
sichtspunkten ausgewählte Materialen, Sprachliches,
Familiennamen, Taufnamen, Flurnamen, Märchen,
Wetterregeln, .Sprichwörter, Aberglauben, Haus-
und Tierzeichen und noch mehr derartiger Dinge,
die einen guten Anfang geben und ihren wahren
Wert erst erhalten werden, wenn ähnliche Mono-
graphien für andere Gegenden vorliegen und man
zu Vergleichungen und Folgerungen schreiten kann.
Die Anerkennung, die Wettsteins mühevolle Arbeit
verdient, wird dadurch, daß ich einige seiner theo-
retischen Ansichten bestreite, nicht verringert.
Otto Ammon-Karlsruhe.
Der veränderliche Stern W- Aurigae ist
von Parkhurst genauer untersucht worden, und
zwar auf Grund sowohl photographischer wie
visueller Beobachtungen. Der Stern, dessen Ver-
änderlichkeit im Jahre 1898 von Frau Ceraski auf
Photographien von Blajko entdeckt worden ist,
hat für 1900,0 die Koordinaten a ■-= s^ 20™ 8,6^
d = -|- 36" 48' 53" und schwankt in seiner
Helligkeit ziemlich regelmäßig zwischen der 9,3.
und 13,8. Größe in einer Periode von 276 Tagen,
jedoch so, daß die Zwischenzeit zwischen einem
Maximum und dem nächsten Minimum 163 Tage
dauert, während dann in 113 Tagen wieder das
Maximum erreicht wird. Die Epochen der Maxima
lassen sich berechnen nach der Formel
M = 1898 Dez. 24 + 286 E,
worin für E ganze Zahlen einzusetzen sind.
Kbr.
Das Fluoreszenz- und Absorptionsspektrum
des Natriumdampfes. Daß der Natriumdampf
eine schöne, grüne Fluoreszenz zeigt, wenn er
durch einen hellen, weißen Strahlenkegel erleuchtet
wird, wurde im Jahre 1896 von Wiedemann und
Schmidt entdeckt. Neuerdings haben nun Wood
und Moore mit Hilfe einer eigenartigen V'ersuchs-
anordnung das Spektrum dieses Fluoreszenzlichtes
unmittelbar neben dem .'\bsorptionsspektrum des-
selben Dampfes photographiert (Astrophys. Jour-
nal, Sept. 1903), wobei sich ergeben hat, daß das
eine Spektrum die genaue Umkehrung des ande-
ren ist, indem helle Bänder und Linien im Fluores-
zenzspektrum genau an denjenigen Stellen sich
zeigen , die im Absorptionsspektrum dunkel sind.
F. Kbr.
Eine experimentelle Untersuchung über
die TemperaturdifFerenzen in auf- und ab-
N. F. III. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
365
steigenden Luftströmen hat S. Löwenherz
auf Veranlassung von Prof. Richarz ausgeführt,
worüber der letztere im 10. Bande der Annalen
der Physik (S. S63 f.) referierte. Zur Ausführung
der Versuche diente ein drehbares Röhrenrechteck,
in welchem mit Hilfe eines Ventilators eine
dauernde Luftzirkulation hervorgerufen werden
konnte. In zwei gegenüberliegenden , der Um-
drehungsachse parallelen Röhren des Rechtecks
befanden sich Bolometerdrähte , die mit Hilfe
eines hochempfindlichen Galvanometers eine äußerst
genaue Temperaturvergleichung der in den Röhren
fließenden L.uft ermöglichten. Indem nun das
Galvanometer abwechselnd bei horizontaler und
vertikaler Lage des Röhrenvierecks beobachtet
wurde, ließ sich die Wirkung der Expansion der
aufsteigenden Luft in einer Temperaturerniedrigung
erkennen, die trotz der geringen Höhendifferenz
der beiden Rohre (1,21 m) ziemlich gut mit dem
theoretisch berechneten Werte (0,009g" ^"f ein
Meter) übereinstimmte. Der Mittelwert der Be-
obachtungen war um 5% gegenüber der Berech-
nung zu klein, eine Abweichung, die sich leicht
aus der Schichtung der Luft im umgebenden
Räume und der trotz der Tuchumhüllung nicht
gänzlich zu beseitigenden Wärmeleitung durch
die Röhren erklärt. Kbr.
Eine neue Methode der Eisgewinnung
schlägt A. Kirschmann (Physik. Zeitschr. I\',
Nr. 27) vor. Da die Natur wegen des Dichte-
maximums des Wassers bei 4" C bekanntlich nur
verhältnismäßig dünne Eisschichten an der Ober-
fläche der Gewässer zustande kommen läßt, deren
Gewinnung und Transport mühsam und kostspielig
ist und deren Schmelzung wegen ihrer großen
Oberfläche ziemlich rasch von statten geht, könnte
man leicht, am besten in eigens dazu angelegten
und nach Art der Eiskeller mit Wärmeschutz ver-
sehenen Gruben, bei winterlichem Frostwetter
große Eisblöckc herstellen, indem man zunächst
eine dünne Wasserschicht gefrieren läßt und diese
dann durch Aufspritzen möglichst gekühlten
Wassers mehr und mehr verstärkt. Da die zum
Schmelzen erforderliche Zeit unter sonst gleichen
Verhältnissen der linearen Dimension eines Eis-
würfels mindestens proportional ist , weil die
Oberfläche mit dem Quadrat, das Volumen aber
mit der dritten Potenz der Kantenlänge wächst,
so müßte es nach Kirschmann leicht sein, selbst
in milden Wintern innerhalb einer Frostperiode
Eismassen zu erzeugen, die sich den ganzen
Sommer hindurch halten würden und den Eis-
bedarf einer großen Zahl von Haushaltungen
decken könnten. Nach K.'s Ansicht dürfte der
größere Arbeitsaufwand beim sommerlichen Ab-
bau dieses Eises durch die Ersparnis an Arbeits-
kräften bei der winterlichen Gewinnung des Eises
mindestens ausgeglichen werden und durch Ver-
wendung guten, filtrierten Wassers würde das nach
dem neuen Verfahren erzeugte Eis vom hygeini-
schen Standpunkt aus sicherlich den Vorzug ver-
dienen.
K. glaubt sogar, daß ein ähnliches Verfahren
es leicht möglich machen würde , in geeigneten
Gebirgen, z. B. dem Riesengebirge, mit geringer
Mühe künstliche Gletscher zu erzeugen, die die
Bestimmung haben würden , als nützliche Regu-
latoren des Wasserabflusses zu dienen.
Ob die von K. in Fluß gebrachten Vorschläge,
die ja' eigentlich so nahe Hegen, daß man sich
wundert sie bis jetzt noch nicht in die Praxis um-
gesetzt zu sehen , wirklich von nationalökonomi-
schem Vorteil sein werden, läßt sich natürlich vor
ihrer praktischen Erprobung nicht voraussagen;
jedenfalls aber ist theoretisch gegen die Richtig-
keit der angeführten Gedanken nichts einzuwenden.
F. Kbr.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der Abiturient, der von der Schule mit ihren absoluten
Vorschriften zur Universität mit ihren Freiheiten kommt, die
es jedem überläfit sich den besten Studienweg selbst zu wählen,
verliert oft Zeit, da es ihm gewöhnlich nicht gelingt, diesen
besten Weg von vorn herein einzuschlagen.
Unter dem Titel ,, Ratschläge für die Kandidaten
des höherenLehramtesin Mathematik undPhysik
an der Universität Jena" ist nun eine kleine Schrift er-
schienen, die zeigt, wie hier eine Wandlung zum Besseren
möglich ist, indem sie speziell den Studierenden der mathe-
matisch-physikalischen Disziplinen ein Wegweiser sein will
für eine zweckmäßige Einrichtung^ ihrer 'Studien. Von den
Professoren der Mathematik und Physik der Universität Jena
verfaßt, wird die Schrift von der Direktion des Mathematischen
Instituts daselbst an Interessenten kostenlos abgegeben. So-
eben ist ein Neudruck fertiggestellt worden, der gegen früher
fast den doppelten Umfang besitzt. Diese Erweiterung hat
sich als notwendig erwiesen in Hinblick auf die zahlreichen
neuen Einrichtungen und Institute, welche während der letzten
Jahre auf dem Gebiete der reinen und angewandten Mathe-
matik, der reinen' und technischen Physik, der Astronomie,
Geodäsie, Geophysik usw. in Jena entstanden sind. Es seien
nur das neue physikalische Institut, das Institut für technische
Physik und angewandte Mathematik, die Erweiterung der
Sternwarte, die geophysikalischen Einriclitungen unter der Erde
zum Zweck der Bestimmung der .Änderungen der Lotrichtung
und der mikroseismischen Bodenbewegungen-usw." erwähnt.
Zweifellos wird die kleine Schrift die Studierenden der
Mathematik und Physik , welche^ der " Natur der Sache nach
über das Feld ihrer .Studien meistens keine Übersicht besitzen,
vor mancher Enttäuschung und schwerem Zeitverlust bewahren.
Ferienkurse in Jena fürDamen und Herren im
August 1904. — I. Naturwissenschaftliche Kurse vom 4. — 17.
August: Botanik, Physik, Astronomie, Chemie, Anatomie, Phy-
siologie. II. Pädagogische Kurse teils vom 4. — 10., teils vom
II. — 17. August: Geschichte der Pädagogik, AUg.! Didaktik,
Spez. Didaktik, Religions Unterricht, Hodegetik, Pädagogische
Pathologie, Psychologie des Kindes, Hilfsschulwesen. III. Kurse
aus dem Gebiete der Frauenbildung: Frauenfrage und Mädchen-
bildung, Höhere Mädchenschule, Fröbels Pädagogik. IV. Theo-
logische, geschichtliche und philosophische Kurse vom 4. — 17.
August: Religionsgeschichte, Babel- und Bibel - Forschung,
Deutsche Literatur-Geschichte, Deutsche Kulturgeschichte, Ein-
leitung in die Philosophie der Gegenwart, Geschichte der
Philosophie, Psychologie. V. Kurse aus dem Gebiete der
Kunst vom 4. — 17. August: Antike Kunst und'Kultur, Die
Kunst im Haus und im ötfentlichen Leben^der Gegenwart.
VI. Sprachkurse vom 4.— 17. und vom 4. — 24. August:
I. Deutsche Sprache: Sprach-Kurse für Anfänger ' und für
Fortgeschrittene; 2. Englische Sprache: Elemcntar-Kursus und
Englische Literatur; 3. Französische Sprache: Grammatisch^
366
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 23
Kurse, Französische Literatur. — Anmeldungen nimmt entgegen
und nähere Auskunft erteilt das Sekretariat Frau Dr. Schnetger
in Jena, Gartenstraße 2, vom 3. August ab: Volkshaus am
Carl Zeiß-Platz.
Bücherbesprechungen.
Emil Fromm, Die chemischen Schutzmittel
des Tierkörpers bei Vergiftungen. Stiaß-
burg, Verlag v. Trübner, 1Q03. — Preis i Mk.
Die in bemerkenswerter Kürze und Klarheit ge-
schriebene Broschüre versucht ein Bild des chemischen
Rüstzeuges zu geben, dessen sich der Tierkörper bei
denjenigen Vergiftungen bedient, deren Verlauf man
chemisch verfolgen kann. Es sind vorwiegend nur
vier hier in Betracht kommende Schutzreaktionen:
nämlich Oxydation oder Anlagerung von Sauer-
stoff, so bei Phosphor, Schwefel und den meisten or-
ganischen Stoßen, ferner Reduktion oder Anlage-
rung von Wasserstoft" z. B. bei den Chloraten ; Hydra-
tation oder Anlagerung von Wasser und endlich
Deshydratation oder Abspaltung von Wasser.
Als Schutzstoffe kennen wir: das Alkali des Blutes,
das organisierte Eiweiß, Schwefelwasserstoff Schwefel-
säure, Glykokoll, Harnstoff, Cystein und Cholsäure ;
Glykuronsäure und Essigsäure. Alle diese sind Pro-
dukte des normalen Stoffwechsels, die wir aus den
gewöhnlichsten Nahrungsmitteln (Eiweißen und Kohlen-
hydraten) ableiten können. — Keiner dieser Schutz-
stoffe ist ein Spezifikum gegen ein bestimmtes Gift.
Die Zahl der Gifte, die durch Paarung an einzelne
dieser Schutzstoffe unschädlich gemacht werden, ist
jedesmal außerordentlich groß. Verfasser stellt sich
hier in Widerspruch zur modernen Bakteriologie, nach
welcher die im Kampfe gegen die Giftstoffe organi-
scher Schädlinge von unserem Körper erzeugten
Schutzstofie jedesmal oder doch oft Spezifika gegen
bestimmte Bakteriengifte sein sollen. H. Kbr.
Dr. C. Veiten, Sitten und Gebräuche der
Suaheli, nebst einem Anhang über Rechts-
gewohnheiten der Suaheli. Göttingen, Vandenhoek
u. Ruprecht. 1903. 423 S. 8^'. — Preis brosch.
8 Mk., geb. 9 Mk.
Der Verf , Lehrer des Suaheli am Berliner Seminar
für orientalische Sprachen, hat die vorstehend ge-
nannte Schrift zuerst in Kisuaheli erscheinen lassen und
gibt jetzt eine deutsche Übersetzung. Der Wert der
Schrift besteht in ihrer Vollständigkeit und Zuver-
lässigkeit, denn sie ist von dem derzeitigen Lektor
am Orientalischen Seminar, Mtoro bin Mwenyi Bakari
aus Bagamoyo, durchgeprüft und nach seinen Angaben
ergänzt worden. Die Rechtsanschauungen im Anhang
stammen von dem verstorbenen Mw'allimu Baraka bin
Shomari aus Kondutschi, der sie 1895 im Auftrag
des Verf niederschrieb. Das Buch enthält nur Tat-
sachen, kein Raisonnement. Manche von den ge-
schilderten Sitten und Gebräuchen mögen auf uralte
Zeiten des afrikanischen Stammes zurückgehen, andere
verraten auf den ersten Blick den arabischen bzw.
mohammedanischen Einfluß. Wie die verschiedenen
Anschauungen noch jetzt miteinander im Kampf liegen,
zeigt z. B. die Erzählung Mtoros aus seiner eigenen
Jugendzeit auf S. iSof: Der eingeborene Zauber-
doktor erklärt den Knaben für vom Pepo (bösen
Geist) besessen und verbietet ihm, Schaffleisch zu
essen. Der Pepo soll ihm ausgetrieben werden. Als
der arabische Lehrer davon erfährt, untersagt er die
Austreibung und sagt: „Schämst du dich denn gar
nicht?" Trotzdem der Zauberdoktor sein Verbot
wiederholt und die Mutter sich sehr ängstigt, ent-
schließt sich Mtoro nach reiflichem Nachdenken, dem
Araber zu folgen und ißt Schaffleisch auf das Zu-
reden : „Vertraue auf Gott, es gibt keinen Pepo, das
ist Unsinn!" Die Erzählung schließt: „Als ich nach
Hause kam und sagte, daß ich Hammelfleisch ge-
gessen, war meine Mutter aufs äußerste erschrocken
und sagte zu mir: „Warum hast du das getan, hast
du dein Leben denn gar nicht gern?" Ich wartete
5, 6 Tage, ohne auch nur die geringsten Schmerzen
im Kopf oder Fuß zu verspüren und lebe heute noch,
und zwar hier in Berlin. — Das Buch wird nicht nur
für die Ethnologen Wert haben, sondern auch allen
sich auf den Kolonialdienst vorbereitenden Kaufleuten,
Beamten usw. ein Mittel an die Hand geben, unsere
Schutzbefohlenen von vornherein besser zu verstehen
und danach zu behandeln.
Otto Ammon-Karlsruhe.
Chipart, La theorie gyrostatique de la lu-
miere. Paris, Gauthier- Villars. 190J. — 192 p.
— Prix 6,50 frcs.
Die gyrostatische Theorie des Lichts wurde im
Jahre 1890 von Lord Kelvin auf der Grundanschau-
ung fundiert, daß der Äther als ein Medium auf-
gefaßt wird, welches von elastischer Starrheit frei ist,
falls keine Drehungen erfolgen, während Drehungen
gegenüber vollkommene Elastizität besteht. Diese
Theorie, der übrigens bereits die 1839 von Mac
Cullagh angewendeten Gleichungen entsprechen, enthüllt
nach den Ausführungen des Verf den Mechanismus
der Transversalität des Lichts, den man seit mehr
als einem halben Jahrhundert vergeblich gesucht hatte,
und ist den gegen die elastische Theorie erhobenen
Einwänden nicht ausgesetzt. Die im vorliegenden
Buche gegebene Entwicklung der gyrostatischen Theorie
ist naturgemäß eine rein theoretische und erfordert
zum Verständnis die Vertrautheit mit den Prinzipien
der mathematischen Physik. Kbr.
Literatur.
Bottazzi, Prof. Dr. Phüipp: Physiologische Chemie f. Studie-
rende u. Ärzte. Deutsch v. Priv.-Doz. Prof. Dr. H. Borutta.
8. (Schlufi-)Lfg. (VI u. S. 241—330 m. Abbiklgn., I färb.
Taf. u. 1 Bl. Erklärgn.) gr. 8». Wien '04, F. Deuticke. —
2 Mk.
Heumann's, Karl, Anleitung zum Experimentieren bei Vor-
lesungen üb. anorganische Chemie zum Gebrauch an Uni-
versitäten, technischen Hochschulen u. höheren Lehranstalten
V. Prof. Dr. O. Kühling. 3. Aufl. (XIX, 818 S. m. 404
Abbildungen), gr. 8". Braunschweig '04, F. Vieweg & Sohn.
— 19 Mk.; geb. in Leinw. 20 Mk.
Potonie, Prof. H., et Ch. Bernard, DD. ; Flore devonienne
de l'ctage H. de Barrande. Suite de l'ouvrage: Systeme
silurien du centrc de la Boheme par Joach. Barrande edite
aux frais du fonds Barrande. (68 S. m. 156 Fig.) gr. 4°.
ffag '03. Leipzig, R. Gerhard in Komm. — Geb. in Leinw.
16 Mk.
N. F. III. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
367
Briefkasten.
Herrn A. in Hamburg. — i) Die dunkle Farbe der Ober-
seite ist bei vielen Tieren zweifellos eine Schutzeinrichtung.
Man braucht nur an manche Fische, z. B. an die Plattfische,
zu denken, die, wenn man sie auf eine anders gefärbte Unter-
lage bringt, in kurzer Zeit die Farbe dieser neuen Unterlage
annehmen und dann schwer zu sehen sind. Freilich ist die
dunkle Farbe der Oberseite nicht immer eine nachah mende
Farbenanpassung. Man denke nur an die schwarze, in andern
Gegenden rotbraune Wegschnecke. Es Hegt auf der Hand,
daß die Farbe dieser Schnecke sich gerade besonders schart
von der Farbe der Umgebung abhebt. Immerhin kann es
sich auch hier um eine Schutzeinrichtung handeln. Aber
darüber demnächst an anderer .Stelle. — Physikalisch (optisch)
läßt sich die genannte Farbenverteilung kaum erklären. Lassen
Sie eine Maus ganz im Dunkeln aufwachsen , so werden Sie
sehen, daß trotzdem die Oberseite dunkel, die Unterseite hell wird.
Man hat auch keinen Anhalt dafür, daß es anders wird, wenn
die Zucht im Dunkeln mehrere Generationen hindurch fortdauert.
Wir müssen dem Problem also wohl von einer anderen .Seite
näher treten, wenn wir eine Erklärung zu finden wünschen. —
Die dunkle Farbe der Oberseite ist, wie gesagt, als Schulz-
farbe aufzufassen. Wenn die Unterseite nicht dunkel ist, so
läßt sich diese Abweicliung sehr wohl auf das Prinzip der
Sparsamkeit, das wir überall in der organischen Welt be-
obachten können , zurückführen. Die Erzeugung von
dunklem Pigment hängt nämlich für den Körper mit einer
Ausgabe zusammen. Wo die Ausgabe unnötig ist, d. i. an
der Unterseite des Körpers, da wird sie von der Natur ge-
spart. Ist man Anhänger der Selektionstheorie und findet in
dem ersten Entstehen einer nützlichen Eigenschaft keine
Schwierigkeit, so ist damit die Erklärung gegeben. Die nütz-
liche Eigenschaft, die sich im Kampf ums Dasein immer mehr
steigern kann, weil das Erhaltungsmäßigere immer mehr Aus-
sicht hat, zur Fortpflanzung zu gelangen, ist hier das Sparen
einer unnötigen Ausgabe. — Die helle Farbe der Unterseite ist
gewöhnlich eine negative Eigenschaft, d. h ein Fehlen des
dunkeln Pigmentes. An diese negative Eigenschaft kann eine
positive anknüpfen. F'ische, die am Grunde im Wasser leben,
sind an der Unterseite mehr oder weniger weiß. Fische, die
frei schwimmen, oder gar pelagisch, d. h. nahe der Oberfläche
leben und zugleich viele Feinde haben , wie der Häring,
besitzen unten schönen Silberglanz. Es tritt hier eine Masse, die
man wohl zu künstlichen Perlen verwendet hat, an die Stelle
des Fehlens von Pigment. Man nimmt wohl mit Recht an,
daß der Silberglanz der Unterseite bei den Fischen wieder
eine Schutzeinrichtung ist: Die Oberfläche des Wassers er-
scheint von unten gesehen wie ein Spiegel und der nahe der
<_)berfläche schwimmende Fisch mit silberglänzender Unterseite
wird sich infolge dieser Farbe oft den Augen eines in den
untern Wasserschichten beutesuchend dahinstreifenden Feindes
entziehen.
2) Eine gute Übersicht des zoologischen Systems, die
lediglich eine Übersicht ist und zugleich etymologische
Erklärungen der Namen gibt, ist uns nicht bekannt. —
Eine kurze Übersicht des Systems mit den nötigen anato-
mischen Abbildungen bietet Ihnen E. Selenka, Zoologisches
Taschenbuch (2 Hefte, 4. Aufl., Leipzig 1897, Preis 5 Mk.)
und eine etymologische Erklärung aller Namen finden Sie in
J. Leunis, Synopsis des Tierreichs, 3. Aufl. von H. Lud-
wig (2 Bde., Hannover, 1S83— 86, Preis 21,50 Mk.). Die
wichtigsten Namen finden Sie auch in J. G. Paust, Tierkunde
(6. Aufl. Breslau, 1900, Preis: 4 Mk.) erklärt. Dahl.
Herrn E. K. in Görbersdorf. — Das beste Werk über
die Vögel Deutschlands ist trotz seines Alters und trotz
mancher Irrtümer immer noch J. A. und J. F. Naumann,
Naturgeschichte der Vögel Deutschlands (13 Bde. 8° mit 396
kol. Kpft. Leipzig und Stuttgart 1820 — 60, Preis 636 Mk.,
antiquarisch bei Friedländer & Sohn 320 Mk.). — Eine neue
Ausgabe dieses Werkes, herausgegeben von C. R. H e nn i c k e
unter Mitwirkung verschiedener Autoren erscheint seit 1897 in
Folioformat (Gera, bis jetzt Bd. 2 — 10 und I2, Preis geb. ca.
170 Mk.). Das Werk wird 12 Bände stark werden und ca.
400 Tafeln enthalten. Es soll dasselbe zum Teil gut, zum
Teil weniger gut, die Abbildungen brauchbar sein. — Ein
billigeres Tafelwerk ist C. G. Friderich, Naturgeschichte
der deutschen Vögel (4. Aufl. mit 50 kol. Kpft. Stuttgart
1891, Preis 25 Mk.). — Bei der Bestimmung der Vögel, na-
mentlich der Singvögel wird der Anfänger mit Abbildungen
allein kaum auskommen. Er muß vielmehr auf die charakte-
ristischen Merkmale ausdrücklich hingewiesen werden und
dies geschieht in der geeignetsten Form durcli Bestimmungs-
tabellen. Bestimniungstabellen der Vögel Deutschlands liefert
A. Reich enow. Die Kennzeichen der Vögel Deutschlands.
(2. Aufl. m. 8 Taf., Neudamm 1902, Preis 3 Mk.). — In manchen
Singvogelgruppen, z. B. in der Gattung der Rohrsänger, lassen die
unterscheidenden Form- und Farbenmerkmale oft mehr oder
weniger im Stiche. Natürlich werden die Vögel selbst ihre
eigene .\rt stets von anderen Arten unterscheiden können
und was der Vogel kann, wird der Mensch auch wohl können.
Der bei manchen Tieren so hochentwickelte Geruchssinn
kann ja bei den Vögeln nicht in Frage kommen. Zweifel-
los tritt bei ihnen in erster Linie der Gehörssinn in Anwendung
und die Laute, beim Männchen der Gesang, dienen als sichere
Erkennungsmerkmale. Ein Buch , welches eine Bestimmung
nach der Stimme herbeizuführen sucht, ist A. Voigt, E.\kur-
sionsbuch zum Studium der Vogelstimmen (2. Aufl. Dresden
1902, Preis geb. 3 Mk.). Dahl.
Frage: Welches sind die neuesten .Arbeiten über die
Leitungsbabnen der Kohlenhydrate und Eiweißstoffe im Pflanzon-
körper ?
Antwort: Wille: Beiträge zur physiologischen Anato-
mie der Laminariaceen. Christiania, 1897. Pfeffer: Pflan-
zenphysiologie Bd. 1, 1897. § 106: Wanderung der organi-
schen Nährstoff'e. Treub: Sur la localisation , le Iransport
et röle de l'acide cyanhydrique dans le Pangium edule. Ann.
du Jardin Bot. de Buitenzorg Xlll, 1896. Molisch: Studien
über den Milchsaft und .Schleimsaft der Pflanzen. Jena, 1901.
Mayer, A. : Lehrbuch der Agrikulturchemie. V. Auflage.
1901/02. Bd. L
Ferner sind nachzusehen : Die neuesten Bände vom Botan.
Zentralblatt, der Botan. Zeitung, von Just: Bot. Jahresbericht,
Wochenbericht des internal, bibliogr. Instituts, sowie dessen
Hauptwerk : Scientifical International Catalogue.
Prof. Kolkwitz.
Frage: Auf welche Weise prüft man einfach und sicher
Trinkwasser auf organische Stoffe , von Kaliumpermanganat
abgesehen ? Wie wird das Riegler'sche Reagens auf Nitrite
(Pulverf) und das Gries'sche Reagens zur Feststellung von
Nitriten im Wasser angewendet? W. W. in Styrum.
Antwort: Die Prüfung von Trinkwasser auf
organische Stoffe geschieht, wenn von der Bestimmung
mit Kaliumpermanganat abgesehen werden soll, am einfachsten
und auch wohl am besten durch Glühen des Abdampfrück-
standes. Die Differenz beider gibt die ungefähre Menge des
Wassers an organischen Substanzen an. Letztere lassen sich
beim Glühen leicht durch die Bräunung resp. Schwärzung des
Rückstandes erkennen. Tritt gleichzeitig der Geruch nach
brennenden Haaren oder auch nach verbranntem Hörn auf,
so sind stickstoffhaltige organische Stoffe zugegen.
Riegler's Naphtionsäure-Reagens auf salpetrige .Säure im
Wasser — Zeitschr. f. anal. Chem. 35, 677 — wird, wie
folgt, angewendet:
Etwas kristallisierte Naphtionsäure fügt man zu ca. 10 ccm
Wasser, versetzt das Gemisch mit einigen Tropfen konzentrierter
Salzsäure und schüttelt gut durch. Schichtet man über diese
Mischung vorsichtig ungefähr 30 Tropfen Salmiakgeist, so ent-
steht bei Gegenwart von salpetriger Säure ein schön rosa
gefärbter Ring, der beim Umschütteln verschwindet und das
Wasser alsdann rosa bis dunkelrot je nach der Menge von
N,,03 färbt.
Gries' Reagens auf salpetrige Säure im Wasser hat
folgende Zusammensetzung — Berl. Ber. II, 624 u. Zeitschr.
f. anal. Chem. 17, 369; 18, 127:
0,5 g m-Phenylcndiamin — Schm. : 63" — wird in 100 ccm
destilliertem Wasser unter Zusatz von verdünnter Schwefel-
säure, bis zur stark sauren Reaktion, gelöst. Das Reagens
ist vor Lieht geschützt aufzubewahren. Etwa gelb oder gelb-
braun geworden , ist die Lösung durch Tierkohle zum Ge-
brauche zu entfärben.
368
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 23
Eine Probe des auf salpetrige Säure zu untersuchenden
Wassers wird mit verdünnter Schwefelsäure angesäuert und
mit etwa I ccm des obigen aber farblosen Reagens versetzt.
Das Eintreten einer gelben bis braungelben Färbung zeigt
salpetrige Säure an. Die Färbung beruht auf der Bildung von
Bismarckbraun oder -Triamidoazobenzol. Dr. Kent.
Herrn Prof. Dr. K. in Freiburg (Schweiz). — i. Die
geologische Wandkarte der Erde von J. Marcou (l. Aufl.
1862, 2. Aufl. i.**75) ist bereits etwas veraltet, doch gibt es
eine neuere derartige Karte meines Wissens nicht. Gut ge-
eignet für Demonstrationen bei Vorlesungen ist der geologische
Erdglobus von 34 cm Durchmesser, entworfen von W. Dames.
Im Verlage von Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) Berlin. Für
ein gröläeres Auditorium dürfte es sich empfehlen , die
Toula'sche geologische Karte der Erde (in F. Toula,
Lehrbuch der Geologie , Alfred Holder in Wien) in eine
Wandkarte in Mercators Projektion zu übertragen. —
2. Eine tabellarische Übersicht über die Formationen und
ihre Abteilungen läßt sich als Wandtafel am besten hand-
schriftlich herstellen unter Zugrundelegung der in Crcdner's
Elementen der Geologie (W. Engelmann in Leipzig) oder in
Kayser's Lehrbuch der Geologie (Ferdinand Enke in Stuttgart)
gegebenen Einteilungen, Geh. Bergrat Prof. Dr. F. Wahnschaffe.
Herrn F. in Mainz. — Man ist, da in Rabenhorst's Krypto-
gamenflora die Süßwasseralgen immer noch nicht erscheinen, auf
Hansgirg's Prodromus der Algenflora von Böhmen (Prag
1886 — 1893) als die vollständigste Zusammenstellung ange-
wiesen. .\uch sie ist aber veraltet und enthält die Diatomeen
nicht. Meine ,, Mikroskopische Pflanzenwelt des Süßwassers.
2. Aufl. Braunschweig 1891" ist nach den zahlreichen neueren
Plankton-Forschungen auch nicht mehr auf der Höhe der
Zeit, meines Wissens übrigens vergriffen. Recht empfehlens-
wert ist : ,,Eyferth's Einfachste Lebensformen des Tier- und
Pflanzenreiches. 3. Aufl. neu bearbeitet von Schönichen u. Kalber-
lah. Braunschweig (^Benno Goeritz) 1900." Es ist die vollständigste
Zusammenstellung der Gattungen der Süßwasseralgen , enthält
aber von den Arten nur eine Auswalil der wichtigsten, und
berücksichtigt auch die Protozoen und Rotatorien. Endlich
ist zu erwähnen: R. Chodat, Algues vertes de la Suisse.
Pleurococcoides — Chroolepides. Bern 1902. Es ist eine
vorzügliche Bearbeitung, enthält aber außer einer Darstellung
der Morphologie und Biologie der grünen Süßwasseralgen nur
einen kleinen Teil dieser Klasse, ist also weit davon entfernt,
eine Flora der Süßwasseralgen zu sein. O. Kirchner.
Herrn Prof. J. — ■ Jawohl, die Pflanze, an der die Juden
in der babylonischen Gefangenschaft ihre Harfen aufhingen
(Psalm 137. 2, 2), die in der Luther'schen Übersetzung als Weide
angegeben ist, ist eine Pappel nämlich Populus euphratica.
Sie hat in der Jugend weidenartige Blätter und führt im
Hebräischen den Namen ,,Garab".
Herrn J. in Brunn. — Frage: ,,Wie können fossile
Knochen am besten präpariert und konserviert werden?"
Antwort: Über die Präparation fossiler Knochen ließe
sich ein Buch schreiben. Hier nur soviel, daß man Knochen
in der Regel in so porösem und mürbem Zustand findet, daß
man sie vor allem mit Leimwasser tränken soll, das so dünn sein
muß, daß es ganz in den Knochen einziehen kann. Bei kleinen
Objekten genügt verdünntes Gummi arabicum. Knochen, die
in losem Slaterial liegen, können dann herausgelöst und von
den angebackenen Staubteilen befreit werden. Knochen, die
in festerem Gestein liegen , müssen mit feinen Meißeln und
kleinem Hammer allmählich so präpariert werden, daß ihre
Oberfläche schrittweise freigelegt und sofort getränkt wird.
Eine besondere Konservierung ist dann unnötig. Jaekel.
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K. A. V. Zittel, Der Altmeister der Paläontologie. — Dr. Emil Wettstein: Beiträge zur Erforschung der Vererbung
und Auslese beim Menschen. — Park hurst: Der veränderliche Stern W-Aurigae. — Moore: Das Fluoreszenz- und
Absorptionsspektrum des Natriumdampfes. — S. Löwenherz: Eine experimentelle Untersuchung über die Temperatur-
differenzen in auf- und absteigenden Luftströmen. — .X. Kirschmann: Eine neue Methode der Eisgewinnung. —
Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Emil Fromm: Die chemischen Schutzmittel des
Tierkörpers bei Vergiftungen. — Dr. C. Veiten: Sitten und Gebräuche der Suaheli. — Chipart: La theorie gyro-
statique de la lumiere. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lictiterfelde-West b. Berlin.
Druclc von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 13. März 1904.
Nr. 24.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegcld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Xr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabalt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über die Einschaltung des Blattes in das Verzweigungssystem der Pflanze.
[Nachdruck verboten.]
Von L. Kny.
Zu den charakteristischen Eigenschaften der
höheren Pflanzen gegenüber den höheren Tieren
gehört das Vermögen, aus einzelnen Zellen oder
Zellgruppen, solange dieselben ihre Teilungsfähig-
keit noch nicht eingebüßt haben, neue Sprosse zu
erzeugen. Lösen sich solche ,, Adventivsprosse"
vom mütterlichen Organismus ab, so bewirken sie
die Vermehrung der Art auf ungeschlechtlichem
Wege. Sie stellen aber nicht das einzige Mittel
hierzu dar; denn auch „Xormalsprosse", welche
unter der fortwachsenden Stammspitze hervor-
getreten waren, können sich bei zahlreichen Pflanzen-
arten früher oder später vom mütterlichen Or-
ganismus ablösen und selbständig werden. Auf
diese Weise erklärt sich die rasche Vermehrung
vieler der häufigsten Unkräuter, wie des Acker-
schachtelhalmes (Equisetum arvense), des Quecken-
grases (Triticum repens), der Schafgarbe (Achillea
Millefolium) u. a. m.
Nicht an allen Teilen des Pflanzenstockes kommen
Adventivsprosse in gleicher Häufigkeit vor. Am
bekanntesten ist ihre Bildung an oberirdischen
Sproßachsen gewisser Holzgewächse. An den
Stämmen alter Linden findet man sehr gewöhn-
lich unregelmäßige Anschwellungen, welche von
zahlreichen, im Frühjahr austreibenden Knospen
besetzt sind. Werden dieselben entfernt, so er-
neuern sie sich im Laufe des Sommers aus dem
Fortbildungsgewebe des Stammes. Die Anlegung
dieser Adventivsprosse verursacht, wenn sie in rei-
chem Maße erfolgt, im Mutterstamme große Unregel-
mäl3igkeit im Verlaufe der Holzelemente und führt
zur „Maserbildung". Gemasertes Holz gewisser
Bäume, wie z. B. des Nußbaumes, wird seiner auf-
fallenden Zeichnungen wegen bei der Möbel-
F"abrikation sehr geschätzt.
In diesen und vielen anderen Fällen treten die
stammbürtigen Adventivknospen ohne äußere Ein-
grifie des Menschen ganz spontan aus dem Stamme
hervor. Nicht selten spielen sie im Entwicklungs-
gange der betreffenden Art eine wichtige Rolle.
Es gibt Blütenpflanzen, deren aus dem Samen
hervorgegangener Hauptsproß nebst seinen nor-
malen Auszweigungen es niemals zur Blütenbildung
bringt. Es gilt dies von Euphorbia Cyparissias,')
der verbreitetsten der einheimischen Wolfsmilch-
Thilo Irmisch, Bot. Zeitung 1857, p 470.
370
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 24
arten und von der in botanisclien Gärten nicht
seltenen Testudinaria Elephantipes (L.). Der Haupt-
sproß dieser aus Südafrika stammenden Pflanze
schwillt zu einer Knolle an, die sich von Jahr zu
Jahr erheblich verdickt. In jedem Frühjahr brechen
aus der Rinde Adventivknospen hervor, welche zu
langen, windenden Sprossen heranwachsen und
allein Blüten und Früchte tragen.') Ohne sie
würde diese Pflanze sich auf die Dauer nicht er-
halten können. Bei den VVolfsmilcharten treten
Adventivsprosse schon unterhalb der Samenblätter
(Cotyledonen) aus den jungen Sproßachsen hervor.
Mit den aus den Wurzeln hervorbrechenden Ad-
ventivsprossen tragen sie bei Euphorbia Cyparissias
ausschließlich , bei anderen Arten dieser Gattung
vorzugsweise die Blüten.
Auf den Wurzeln kommen Adventivknospen
nicht minder häufig vor, wenn sie auch begreif-
licherweise hier weniger in die Augen fallen.
Sieht man auf Landwegen in der Nähe von Pappeln
junge Sprosse derselben reihenweise aus dem Boden
hervortreten, so ist dies ein Anzeichen für deren
Anlegung auf horizontal verlaufenden Wurzeln.
Bei manchen Unkräutern, wie bei der Ackerdistel
(Cirsium arvense) und bei der Ackerwinde (Con-
volvulus arvensis) spielt diese Art der Vermehrung
') H. von Molil, Vermiscbte Schriften botanischen Inhaltes
(1845), p. 188.
eine wichtige Rolle. Bei der letztgenannten Art
bringen es meist nur die Wurzel-Adventivsprosse
zur Blüten- und Fruchtbildung; die aus dem Samen
hervorgewachsenen Hauptsprosse gehen frühzeitig
zu Grunde.')
Wenn Adventivknospen aus Stammgliedern
oder Wurzeln hervorgehen, so berührt uns dies
viel weniger fremdartig, als wenn sie auf Blatt-
spreite n oder Blattstielen erscheinen. Bilden
doch Stamm und Wurzel zusammen das Gerüst
der Pflanzen, dem sich die Adventivsprosse natur-
gemäß anfügen. Die Blätter aber sind seitliche
Ausgliederungen der Sproßachsen, deren Lebens-
dauer meist eine sehr geringe ist. Es erscheint
deshalb fast widernatürlich, daß ein Blatt, wie es
bei spontanem Auftreten von Adventivsprossen
auf demselben der Fall ist, in das Verzweigungs-
System von Achsenorganen eingeschaltet ist.
Unter den bisher bekannt gewordenen, nicht
sehr zahlreichen Fällen \-on blattbürtigen Adventiv-
knospen sollen hier nur wenige der lehrreichsten
hervorgehoben werden.
Von den Farnkräutern sind es unter anderen
besonders die in den Gewächshäusern sehr ver-
breiteten Asplenium bulbiferum (Fig. i, d u. e) und
A. Belangeri, welche an der Oberseite der Wedel
oft mit zahlreichen jungen Sprossen besetzt sind.
') Th.' Irraisch, Bot. Zeitung 1S57, p. 435.
Fig. I. Adventivknospenbildung an Laubblättern, d) u. e) an den Wedelabschnitten von Asplenium bulbiferum; f) am Rande
der Uiattabschnitte von Bryophyllum calycinum ; c) an den Laubblättern von Cardamine uliginosa; a) am Rande der Laub-
blälter von Mala.\is paludosa; b) zwei Knospen am Rande eines Laubblattes von Malaxis paludosa. Figg. a, c, d, I in
natürlicher Größe; Fig. e 2 fach, Fig. b 20 fach vergrößert. (Nach Kerner von Marilaun, Pflanzenleben).
N. F. III. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
371
Ihre weitere Entwicklung zu kräftigen Pflanzen
findet erst statt, wenn sie künstlich abgetrennt
und in Boden gepflanzt wurden, oder wenn sie im
Verlaufe der natürlichen Entwicklung durch Senken
des Wedels den Boden erreichen. Bei der Farn-
faniilie der Marattiaceen dienen die dickfleischigen
Nebenblätter ganz vorzugsweise der Vermehrung
der Art sowohl unter natürlichen Verhältnissen,
als in der Hand des Gärtners. Im Bereiche der
Monocotyledonen bietet die in Fig. i, a abge-
bildete kleine Erdorchidee Malaxis paludosa ein
sehr bekanntes Beispiel von Brutknospenbildung
am Rande der Laubblätter. Von einheimischen
Dicotyledonen ist z. B. der als ,, Insektenfresser"
bekannte Sonnentau (Droserarotundifolia)zu nennen,
dessen Blattspreite zuweilen mit einem oder mehreren
kleinen Pfiänzchen besetzt ist. Ferner das Wiesen-
schaumkraut (Cardamtne pratensis) und mehrere
ihrer Verwandten, wie die in Fig. i, c abgebildete
Cardamine uliginosa. .Am reichlichsten und in
regelmäßigster Anordnung aber finden wir blatt-
bürtige Adventivsprosse bei dem in den Tropen
der alten Welt heimischen Bryophyllum calycinum.
In den Einkerbungen des Blattrandes sind die
Stellen vorgebildet, an welchen die jungen Pflänz-
chen einzeln entstehen. Schon zur Zeit, wo die
Blätter noch mit dem Stamme der Mutterpflanze
im Zusammenhang stehen, köimen diese .Adventiv-
sprosse, falls die sie umgebende Luft genügend
feucht ist, Wurzeln treiben, und die ersten Stadien
der Entwicklung zurücklegen; ein ausgiebiges
Wachstum erfolgt aber erst nach Ablösung des
Blattes von dem Mutterstocke.')
Während die stamm- und wurzelbürtigen .Ad-
ventivknospen meist im Innern des Mutterorganes
sich bilden und bei ihrer weiteren Entwicklung
dessen Rinde durchbrechen müssen, sind die bis-
her genauer untersuchten blattbürtigen Adventiv-
knollen exogenen Ursprunges, d. h. an ihrem
Aufbau beteiligt sich die Oberhaut des Mutter-
organes samt den sich ihr anschließenden Zell-
schichten.
Den spontan hervortretenden Adventivknos-
pen stehen diejenigen gegenüber, welche erst nach
vorangegangener Verletzung entstehen. Ein scharfer
Unterschied ist zwischen beiden freilich nicht vor-
handen; beiderlei Sprosse können auf derselben
Pflanze gebildet werden.
Bei den meisten unserer einheimischen Holz-
gewächse entsteht, wenn bei günstiger Jahres-
zeit die Krone oder ein Teil derselben abgetrennt
wird, ein Wundgewebe (Kallus), dem sehr bald eine
oder mehrere xAdventivknospen entsprießen. Diese
haben die Aufgabe, für die verloren gegangenen
Teile des Verzweigungssystems Ersatz zu leisten.
Ohne vorausgegangene Verletzung wären sie aus
der betreffenden Stelle nicht hervorgebrochen.
Trennt man Blätter der allbekannten Begonien
(Schiefblätter) von ihren Sproßachsen ab, befestigt
sie, die Blattoberseite nach oben gekehrt , auf
feuchter Erde und durchschneidet einige ihrer
Hauptnerven in querer Richtung, so treten an
der kallösen Wucherung, welche sich an dem
oberen Wundrande hervorwölbt, an der Oberseite
.Adventivsprosse, an der Unterseite .Adventivwurzeln
hervor (Fig. 2). Durch Abfaulen der Blatt-
-^
Fig. 2. Blattspreile von Begonia Rex, nach Abtrennung vom
zugehörigen Stiele auf feuchte Erde gelegt und an den kräf-
tigeren Blattnerven durch Einstiche verletzt. Oberhalb der
Insertionsstelle des Blattstieles und an den stielwärts gekehrten
Wundrändern sind an mehreren Stellen Adventivsprosse her-
vorgetreten. (Halbe natürl. Größe). Klitzing del.
spreite werden die kleinen Pflänzchen frei und
entwickeln sich unter günstigen Bedingungen zu
kräftigen Exemplaren. Die Gartenkunst wendet
diese Vermehrungsmethode nicht nur bei den
Begonien, sondern auch bei Gloxinien und anderen
Arten an. Auch bei Wurzeln kann Verwundung
in sehr vielen Fällen zu reichlicher Produktion
von Adventivknospen Veranlassung geben, be-
sonders dann, wenn sie vorher reichlich Reserve-
stoffe gespeichert hatten. Wird ein kräftiges
Exemplar des bekannten Löwenzahns (Taraxacum
officinale) seiner Blattrosette samt dem unmittel-
bar darunter liegenden Teile der Wurzel beraubt,
so wuchern aus dem Wundrande des im Boden
zurückgebliebenen Wurzelstumpfes, einer Hydra
gleich, zahlreiche neue Blattrosetten hervor.') Will
man das gefürchtete Unkraut vertilgen, so muß
man die Wurzel bis zu voller Tiefe ausstechen.
') Vgl. Göbel, r.otan. Zentralbl., 1902, p. 423.
') Vgl. Caspary in den Schriften der physikal-ökonomischen
Gesellschaft in Kö'nigslierg, Bd. 14 (1873), p. ti2.
3/2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 24
Bei Adventivsprossen, welche auf Blättern ent-
stehen, drängen sich zwei wichtige Fragen auf,
von denen die eine das Gebiet der Morphologie,
die andere das Gebiet der Anatomie berührt.
1. Läi5t sich ein Blatt oder ein Teil desselben
für längere Dauer, mindestens bis zu einmaliger
Blüten- und Fruchtbildung, in ein Verzweigungs-
system von Achsen einschalten ?
2. Welchen Einfluß übt eine solche Einschaltung,
falls sie möglich ist, auf die Gewebebildung des
eingeschalteten Blattes aus ? Nehmen Leitbündel
desselben, welche unter normalen Verhältnissen
ihre Entwicklung abgeschlossen hätten, das Dicken-
wachstum von neuem auf? Vermögen die periphe-
rischen Leitbündel des Blattstieles sich, gleich denen
des Stammes, zu einem Gefäßbündelringe mit
interfascikularem Kambium zusammenzuschließen ?
Die erste Frage ist schon von älteren F"orschern
in positivem Sinne beantwortet worden. So sagt
Meißner') von Begonia pinnata, von der er ge-
trocknete Exemplare von der Insel Penang unter-
sucht hatte: „Man bemerkt an denselben auf der
Basis der herzförmigen Blattfläche ein halbkugeliges,
braunes Höckerchen von der Größe eines Hirse-
kornes bis zu der eines Pfefferkornes, welches an
vielen Blättern noch als unentwickelte Knospe er-
scheint, an anderen aber schon ein gestieltes Blatt,
ja oft sogar einen Blumenstiel entwickelt hat. Die
aus jenen Blattknöilchen entsprungenen Blätter
tragen gewöhnlich selbst bereits wieder ein gleiches
KnöUchen, welches oft ebenfalls schon ein junges
Pflänzchen getrieben hat, so daß oft drei bis vier
Generationen, teils blühend, teils schon mit reifen
Früchten, aufeinandersitzen."
Duchartre') sah bei zwei Varietäten der
Tomate (Lycopersicum esculentum) besonders schön
bei der Tomate cerise mit gelben Früchten, auf
dem mittleren Teile der unregelmäßig gefiederten
Blattspreiten (seltener nahe ihrem Grunde) häufig
I — 4 Adventivknospen auftreten, welche nicht nur
kräftige Blätter entwickelten, sondern es auch zur
Blütenbildung brachten. Wären die Blüten nicht
durch Herbstfröste getötet worden, so würden sie
zweifellos normale Früchte erzeugt haben.
Bei der nordamerikanischen, zu den Saxi-
fragaceen gehörigen Tolmieia Menziesii (siehe
F'g- 3) bildet Kerner von Marilaun'-) Ad-
ventivsprosse ab, welche oberhalb des Blattstieles
aus der Spreite entspringen und von denen einer
bereits zahlreiche Blätter gebildet hat. Ob er bis
zur Blütenbildung gelangt ist, wird nicht gesagt.
BeiToreniaasiatica, einer in Ostindien heimischen
Scrophulariacee, sah Hans Winkler-') die auf
') Linnaea 1838, p. 15 des Literalurbericlits (zitiert nach
Göbel, Biolog. Zentralbl., 1902, p. 427).
') Ann. du sc. nat. (Bot.) 3 me seric, t. 19, (1853), p. 241.
-) Pflanzenleben, 2. Aufl., 11, pag. 38.
') Ber. d. deutsch. Botan. Ges. 1903, p. 100.
Fig. 3. Entwicklung blattbüitiger Knospen von Tolmieia Menziesii. 1) Ein im Abslerben begrififenes Blatt, welches
an der Basis der Spreite ein schon weitentwickeltes Pflänzchen trägt. 2) Blattbürtiger .'\dventivsproß, weniger weit entwickelt.
3) Derselbe ist vor kurzem erst angelegt worden. 4 — 6) Blätter der Adventivsprosse in ihrer AJtersfolge. (Nach Kerner von
Marilaun, Pflanzenleben).
\T. V. III. Nr. -4
XaturwisscMscliaftliche Wochensclirift.
37:
den Spreiten abgetrennter und in Gartenerde ge-
pflanzter Blätter sich bildenden Adventivsprosse
Fig. 4. lUaltslcckling von
Torenia asiatica. Der eine,
ein wenig seillich vom Haupt-
nerven entstandene Sproß
ist nacli Bildung nur eines
einzigen Vorblattes unmittel-
bar zur Bildung einer Blüte
übergegangen, .^n der Basis
des .'Stieles befinden sich
mehrere vegetative .Sprosse.
(Nach Hans \V i n k 1 e r in
den Ber. d. deutsch, botan.
Ges. 1903, p. 99).
Kig. 5- Adveiitivsproß \on Begonia Re.\, von Herrn (jarten-
inspektor Lindemuth erzogen und photographiert. I Iberhalli
des in Erde geptlanztcn Blattstieles (B) ist aus der Basis der
nun schon abgewelkten, im Bild nicht sichtbaren Spreite ein
Adventivsproß entstanden, wxlcher 5 Blätter und einen Blüten-
zweig (Bl) trägt. Der Blattstiel (B) ist später der anatomischen
Untersuchung geopfert worden. Etwas verkleinert.
häufig und frühzeitig zur Bliitenbildung schreiten
(Fig. 4). ^
Herr Garteninspektor L i n d e m u t li hatte die
Getälligkeit , im hiesigen Universitätsgarten eine
größere Zahl von Versuchen mit kräftigen Blättern
von Begonia Rex für mich anzustellen, welche
Gelegenheit geben sollten, die oben aufgeworfene
zweite Frage zu beantworten, wie die zwischen
Adventivsprossen und Adventivwurzeln eingeschal-
teten Leitbündel des Blattstieles samt dem sie
umgebenden Grundgewebe sich verhalten. Die
Blätter wurden mit dem unteren Teile des Stieles
in Gartenerde eingepflanzt und im VVarmhause
sorgfältig gepflegt. Fbenso wie bei der vorstehend
abgebildeten Tolmieia Menziesii treten Adventiv-
sprosse aus der Basis der Spreite oberhalb der
Insertionsstelle des Blattstieles hervor. Außerdem
a- —
^ a
Fig. 6. Drei peripherische Bündel eines (Juerschoittes durch
den oberen Teil des auf Fig. 5 dargestellten Blattstieles (B)
von Begonia Re.x. Die im Grundgewebe bei a sichtbaren
Tangentiallcilungen, welche mit dem in radialer Richtung
stattgefundenen Wachstum der Lcitbündel in Zusammenhang
stehen, stellen wahrscheinlich den Beginn der Anlegung eines
interfascikularen Kambiums dar. (Nach einer Photogr. von
W. Magnus.)
erschienen sehr gewöhnlich noch ein bis mehrere
Sprosse an der Basis des Blattstieles. Falls letztere
rechtzeitig entfernt wurden , blieben die oberen
Sprosse mehrere Monate am Leben, produzierten,
besonders wenn eine die andere in der Entwick-
lung zurückdrängte, eine größere Zahl Laubblätter
und aus deren Achseln Blütenstände. Von den
Früchten brachten es einzelne bis nahe zur Reife
(Fig. 5).
Nach mehrmonatlicher Kulttir wtirden mehrere
der eingepflanzten Blattstiele, welche am oberen
Ende einen Adventivprozeß mit kräftiger Achse
und 2 bis 5 Blättern und mehreren darunter be-
findlichen Blattnarben trugen, in 3 verschiedenen
Höhen untersucht. Der Vergleich mit Blattstielen,
welche unmittelbar von einem normalen Exem-
plare abgetrennt waren und keine .Adventivsprosse
374
Natiirwissensrliaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 24
trugen, zeigte, daß infolge der Entwicklung der
Adventivsprosse die Leitbündel durchschnittlich
sehr erheblich an Umfang zugenommen hatten.
Das Kambium hatte weit über das Maß hinaus,
wie es die Leitbündel im Stiele erwachsener
Blätter zeigen, seine Teilungen fortgesetzt und
war noch fortdauernd in Tätigkeit. Holz- und
Bastteil hatten erheblich an Umfang zugenommen.
Ebenso war das benachbarte Grundgewebe zu ent-
sprechendem Wachstum und zu Teilungen ange-
regt worden. Von besonderem Interesse wai' es,
daß die neuen Teilungswände zwischen benach-
barten peripherischen Leitbündeln des Blattstieles
vorwiegend parallel der Außenfläche des Blatt-
stieles gerichtet waren (Fig. 6).
Es machte ganz den Eindruck, daß hiermit der
Beginn der Anlegung eines interfascikularen Kam-
biums gegeben war, das bei weiterer ungestörter
Fortbildung die peripherischen Bündel zu einem
Kreise zusammengeschlossen haben würde. Bei
der vorliegenden Art müßte die Anlegung eines
geschlossenen Kambiumringes ein um so größeres
Interesse beanspruchen, als ich ein solches in nor-
malen, in Erde fortwachsenden Rhizomen nicht
beobachten konnte. Auch die peripherischen Leit-
bündel fand ich hier zum größeren Teile isoliert.
Sollte es gelingen , auch bei Holzgewächsen
von langer Lebensdauer Adventivsprosse aus der
Spreite von Blättern zu erziehen, deren Stiele
sich, ähnlich wie bei Begonia Rex, am unteren
Ende im Boden bewurzelt haben, so dürften sich
letztere zu fortdauerndem Dickenwachstum an-
regen und zu einem vollen Ersätze für die fehlende
primäre Keimachse umbilden lassen.
Wanderungen durch Heide, Urwald und Moor.
[Nachdruck verboten,;
Von Dr. pliil. Max Grüner.
Alexander von Humboldt hat in seinen ,, An-
sichten der Natur" einmal in hochpoetischer Sprache
die Verschiedenheiten der Pflanzengebiete der Erde
mit folgenden Worten geschildert: ,, Ungleich ist
der Teppich gewebt, den die blütenreiche Flora
über den nackten Erdboden breitet: dichter, wo die
Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel empor-
steigt ; lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der
wiederkehrende Frost bald die entwickelte Knospe
tötet, bald die reifende Frucht erhascht."
Eine solche Verschiedenheit im Pflanzenkleide
unseres Planeten finden wir nun nicht nur beim
Vergleich weit voneinander entfernter Länder-
strecken, sondern auch schon kleinerer Gebiete,
auch schon in unserem deutschen Vaterlande. Das
gilt namentlich von jenen, auch heute noch ge-
waltigen Heide- und Moorgebieten, die im Nord-
westen unserer Heimat dem Landschaftsbilde ein
ganz charakteristisches Gepräge verleihen. Die
ausgedehntesten Heideflächen finden sich zurzeit
noch in der dem Namen nach ja wohl allbekannten
Lüneburger Heide, während das Großlierzogtum
Oldenburg und die preußische Provinz Ostfriesland
die umfangreichsten Moorflächen aufweisen. Im
Oldenburgischen haben sich endlich an zwei Stellen
(Hasbruch bei Bremen, Neuenburg bei Varel) Reste
des alten Waldbestandes erhalten, der einst in
weiter Ausdehnung ganz Norddeutschland über-
klcidete. Was die Natur hier in grauen Tagen
der Vergangenheit unbeeinflußt durch die Hand
des Menschen grünen und sprießen ließ in däm-
merndem Waldesdunkel, das hat sich infolge freund-
licher Schicksalsfügung durch die Stürme der Ver-
gangenheit bis in unsere Zeitepoche herübergerettet,
und wird als ehrwürdige Reliquie pietätvoll er-
halten.
Was ist nun zunächst die Lüneburger Heide
in geographischer Hinsicht? Ein Hochplateau, das
sich zwischen den Orten Göhrde und Bremen einer-
seits, den Flüssen Elbe und Aller andererseits, in
einer Entfernung von ca. 90 km erstreckt. Diese
Hochebene fällt nach Norden, also Hamburg, zu
steil ab, während sie sich nach Süden gegen die
Aller unmerklich in die weiten Hochmoorgebiete
an ihren Ufern abflacht. Am zweckmäßigsten
tritt man Heidewanderungen von der alten Heide-
zentralstadt Soltau an, einem freundlichen, auch
gewerblich recht regsamen Ort am lieblichen Böhme-
flüßchen.
Auf den üppigen Wiesen und fetten Weide-
triften, die seine Ufer kränzen, erinnert den Wan-
derer noch nichts an den düsteren Ernst der
Heide. Doch nicht lange und der Charakter der
Landschaft ändert sich. Graugrünes, langes Gras
säumt den Pfad, ab und zu erhebt sich am Wege
einer oder der andere jener stummen Wächter der
Heide: ein Wacholder- oder Machandelbaum. Da-
zwischen streckt der Beesenstrauch seine dürren
Zweige in die Luft. Einige gelbe veispätete Blüten
geben eine Vorstellung von der Schönheit dieses
Gewächses im blütenbesetzten Hochzcitskleide.
Immer steppenartiger wird der Charakter der Land-
schaft. Da und dort ein Trupp von Machandeln,
und dahinter schweift der Blick über die rot-
blühende Pracht des Heidekrauts weit, weit hinaus
in duftige Fernen. Immer enger wird der Heide-
pfad. Vom Sturmwind zerzauste struppige Birken
begleiten ihn in gemessenen Zwischenräumen, rechts
und links einsame Heide! Eine feierliche Ruhe,
nur die Stimme der Natur spricht zu dem dafür
empfänglichen Wanderer. Schwere Wolken haben
sich zusammengeballt, und fern grollt leise der
Donner. Und noch ein anderer Ton liegt in der
Luft: Ein vieltausendfältiges feines Summen: die
fleißigen Honigsammlerinnen sind an der Arbeit,
die der Heitjer züchtet, um ihren süßen Honig
aus den purpurnen Kelchen des Heidekrautes zu
sammeln. Noch anderes kleines Insektcn\'olk
K. F. m. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
375
läßt sich belauschen. Große Heuschrecken mit
wunderschönen blauen und roten Flügeln setzen
mit Ausdauer ihre Fiedelbogen in Tätigkeit, in
kleinen Sandlöchern steigt die L,arve des Sandlauf-
käfers auf und ab und lauert auf vorwitzige kleinere
Stammesgenossen, hi prächtigem Schwebefluge
gleitet der Trauermantel, der erste Bote des nahen-
den Herbstes, iaber die Blüten des Heidekrautes und
das zitternde Birkenlaub.
Der Mensch stört selten mit schnöder Alltags-
beschäftigung das gezeichnete Heideidyll und die
Ruhe der Toten, die im nahen Hünengrabe (Falling-
bostel!) zum ewigen Schlummer gebettet sind. Das
Fallingbosteler „Steingrab" besteht aus 7 plattigen
Gesteinsblöcken, die die Wände einer halb ober-
irdischen Kammer mit vorderem Hingang bilden.
Über ihr ruht eine gewaltige Granitplatte als Decke.
In diesen Steingräbern wurden die Toten (wohl Ede-
linge bzw. Fürsten) jenes unbekannten Steinzeit-
volkes bestattet, das sich vom inneren Rußland
durch ganz Europa bis nach Afrika in ihnen ein
monumentum aere perennius gesetzt hat. Außer
den halb oberirdischen „Steingräbern" finden sich
noch einzeln oder in Gruppen sog. „Hügelgräber",
von den Steingräbern durch den Erdaüfwurf unter-
schieden. Vielleicht, daß ein innerer Zusammen-
hang mit den Steingräbern darin besteht, daß sie
von demselben Steinzeit- oder einem bronzezeit-
lichen X'olke errichtet wurden, nachdem sämtliciies
brauchbare Steinmaterial für die („megalithischen")
Steingräber verbraucht worden war.
Der Heitjer der Gegenwart macht sich wenig
Kopfzerbrechen um die alten Steine; wo er sie
findet, da werden sie frisch, fromm, fröhlich, frei
in seine Wirtschaftsgebäude eingebaut oder helfen
sein meist von prächtigen alten Eichen (Schweine-
mast!) umstandenes, meist einzeln gelegenes An-
wesen einzufrieden. Weniges hat der Fiskus vor
der Zerstörung bewahrt. Der Landwirtschafts-
betrieb des Heitjers beruht immer noch vielfach
auf der altererbten Plaggenwirtschaft, d. h. auf der
Verwendung von Heidekrautstücken (den „Plaggen")
alsViehstreu bzw. Düngematerial. DiesesWirtschafts-
system, das allerdings neuerdings schon in großem
Umfang durch rationellere Verfahren (Anwendung
künstlicher Düngemittel, Gründüngung, Frucht-
wechsel statt des ewigen Roggenbaues) ersetzt ist,
stellt eine Art Raubbaues dar, da mit den Plaggen
zwar etwas Nährstoff' dem Felde zugebracht wird,
dieser der Heide jedoch nicht zurückerstattet wird.
Der ganze auf der Plaggengewinnung aufgebaute
Wirtschaftsbetrieb ist aber obendrein unrentabel,
da fast die Hälfte aller Gespannarbeit bei der
Plaggengewinnung in Beschlag genommen wird.
Immer mehr werden die großen Heidestrecken
neuerdings durch Kiefernanpflanzungen in regel-
mäßiger Schachbrettanordnung der Stämme ersetzt.
Dem landschaftlichen Reiz der Heide geschieht
dadurch freilich arger Abbruch ! Fiskus wie Private
forsten in immer steigendem Maße ihre Heide-
strecken an. In einigen Menschenaltern werden
wir hier die größte zusammenhängende Waldfläche
ganz Norddeutschlands haben. Schon jetzt sind
die Heideforsten von nicht zu unterschätzender
Wichtigkeit als Lieferanten wohlschmeckender
Waldbeeren (Blau-, Preißel-, Erdbeeren), die von
hier in Massen in die Großstädte ausgeführt werden.
Ebenso wichtig als die pflanzlichen Produkte
der Heide sind die dem Tierreiche entstammenden.
Wer kennt nicht — um von dem freilebenden
jagdbaren Getier der Heide, z. B. dem Birkhuhn,
abzusehen — das genügsame Heidschnuckenschaf?
Sommer und Winter geht es, von kurzen Äsungen
auf Stoppelfeld und Brache („Ledgen") abgesehen,
auf der Heide seiner kargen Nahrung nach, bis
es im Herbst den Weg allen Fleisches geht, um
die verwöhnten Gaumen städtischer Gourmands
zu reizen. Mit der Schafzucht geht's übrigens in
der Heide von Jahr zu Jahr mehr bergab. Leute
sind schwer zu haben, die Wollpreise niedrig, das
Fleischerträgnis quantitativ unbefriedigend, vorallem
genügen die dem einzelnen Hofbesitzer bei der
Teilung des Gemeindelandes zugefallenen Heide-
strecken, zumal in ihrem herabgekommenen Zu-
stande, nicht mehr zum Unterhalt erheblicherer
Herden. Als die Gemeindemitglieder auf die weite
Heideallmende treiben durften, ging's an ; jetzt, wo
jeder seine Parzelle hat, langt's nicht. Man hat
leider zu spät eingesehen, daß die Aufteilung dieser
Gemeindeländer auch nach anderer Richtung hin
— zumal für die kleinen Leute — von den ver-
hängnisvollsten Wirkungen begleitet gewesen ist.
Sie waren bisher berechtigt gewesen, ein oder
einige Stück Vieh auf die Gemeindeweide zu
treiben und sich dadurch in Verbindung mit dem
sonstigen Erträgnis ihrer Hände Arbeit eine be-
scheidene Existenz zu ermöglichen. Bei der Auf-
teilung gingen sie meist leer aus; fast über Nacht
waren aus Hunderttausenden kleiner aber fest
im heimatlichen Boden wurzelnder und urgesunder
Existenzen land- und heimatlose Proletarier ge-
worden. Sie wanderten in die Großstädte, zumal
deren emporblühende Industrien reichlichen Ver-
dienst, reichlicheren als auf dem Lande zu ver-
sprechen schienen. Es war ein „Schein". Hier
vermehrten sie sich und schufen in den großen
Städten das Problem, das unserer Zeit den Stempel
aufdrückt. So enthüllen die hunderte verfallender
Schafställe in der einsamen Heide dem Wissenden
eine mit der materiellen Verbesserung einzelner
zu teuer erkaufte Wirtschaftsentwicklung!
Trotz der überaus dürftigen Bodenbeschaften-
heit der Lüneburger Heide und der darauf be-
ruhenden schwachen Bevölkerungsziffer hat sich
doch schon seit alten Zeiten hier die bislang
höchste Form menschlicher Kultur, die städtische,
entwickeln können. Nur eines solchen alten Kultur-
zentrums sei gedacht, der alten Salzstadt Lüneburg.
Schon in uralten Zeiten hatten in der Nähe der alten
Kalkfelsen, an dessen P"uße Lüneburg liegt, An-
siedlungen bestanden, aber erst nach der Zerstörung
Bardowieks, der mächtigen Handelskonkurrentin,
durch Heinrich den Löwen im Jahre 11 8g, konnte
sich aus ihnen das mächtige Gemeinwesen ent-
37Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. 111. Nr. 24
wickeln, das im Prälatenkriege Kaiser und Papst
die Stirn zu bieten wagte und — noch mehr — sich
ihnen gegenüber durchsetzte. Die Quelle der
Macht Lüneburgs ist — wie allbekannt — die
Sülze, d. h. die reiche Solquelle gewesen, die aus
großen Tiefen eine sehr reine Salzlösung herauf-
bringt, die, in groiSen Kesseln eingesotten, ein wert-
volles Speisesalz lieferte und noch gegenwärtig
liefert. Zur Zeit der Blüte der Lüneburger Salz-
industrie gab es daselbst 54 Sudhäuser mit je
4 Pfannen, die jährlich ä 1000 Zentner Kochsalz
ca. liefern konnten. Der Holzverbrauch belief sich
auf ca. 100 000 Raummeter pro anno. Ursprüng-
lich herzoglich war die Sülze allmählich an ver-
schiedene Klöster und Adlige verpfändet worden,
die den technischen Betrieb an Pächter vergaben,
die sog. Sulfmeister, meist Söhne altangesessener
Patrizierfamilien. Die Sulfmeister hatten die Hälfte
der BruttoEinnahmen für die gesamte Produk-
tion bis zu 400 Zentner an den Sulzbegüterten
abzuführen, von der übrigen Hälfte wurden Be-
triebskosten bestritten. Das Erträgnis einer größeren
jährlichen Produktion als 400 Zentner kam unge-
schmälert dem Sulfmeister zugute. Die Sulz-
begüterten hatten erst 2 5''/o ihrer Einnahmen an
den Stadtsäckel abzuführen, und als die Schulden
der Stadt auf Grund ihrer Aufwendungen für Kriege
im Interesse der Sulzbegüterten immer mehr
wuchsen, sollte die Abgabe sogar 50% betragen.
Die Betroffenen wandten sich nach Rom und an
den Kaiser, aber trotzdem der Papst 1450 den
Bann und der Kaiser 1454 die Reichsacht über
Lüneburg verhängte, setzte der Rat, wenn auch
nach gefährlichen inneren Kämpfen, seinen Willen
durch. Mit dem Niedergang der Hansa, der Ver-
änderung der Handelswege, dem Aufkommen von
Konkurrenz auf dem Gebiete der Salzindustrie und
auf Grund der immer größeren Schwierigkeit, das
Brennmaterial für die Sülze herbeizuschaffen, ver-
fiel Lüneburg, um sich erst neuerdings empor-
zuraffen. Mit diesem neuerlichen Aufschwung geht
leider ein ziemlich rasches Verschwinden der bis
vor kurzem ganz mittelalterlichen Physiognomie
Lüneburgs Hand in Hand. Immerhin ist auch
zurzeit noch für einen Freund mittelalterlicher
Städtebilder, für den Historiker und Architekten
hier vieles Interessante zu sehen. Da sind die
alten Giebel am Sande in einem fremdartigen,
aus einer Verschmelzung von gotischen und ro-
manischen Elementen zustande gekommenen Bau-
stile, mit seltsam verschnörkelten Windfahnen und
Eisenverzierungen , da ist das alte Rathaus mit
seiner prächtigen Gerichtslaube und der wunder-
bar traulichen Körkammer, einem wundervoll er-
haltenen Gemache aus dem frühen Mittelalter, da
sind die alten Kirchen und noch vieles andere.
Sah es nun immer so aus in der Heide des
nordwestlichen Deutschland, wie sie sich zur-
zeit noch auf weite Erstreckungen hin präsentiert
als heidekrautbedeckte Steppe ? Keineswegs ! Es
gab eine Zeit, da ein großer Teil von ungeheuren
Wäldern bedeckt war. Menschlicher Unverstand
hat diese Wälderpracht, ohne auf Ersatz des Aus-
geholzten bedacht zu sein, bis auf ein Minimum
zugrunde gerichtet. Viel hat wohl besonders
die Lüneburger Sülze mit ihrem Holzverbrauch
von jährlich etwa 100 000 Raummetern, ein Ver-
brauch, der etwa looo Jahre anhielt, zur Ver-
nichtung der norddeutschen Waldbestände bei-
getragen. Das Wenige, was sich bis zum Anfang
des vorigen Jahrhundert erhalten hatte, wurde nach
der französischen Invasion niedergeschlagen, als die
unter der Last der französischen Kontributionen
finanziell zusammengebrochenen Gemeinden ge-
nötigt waren, ihr letztes Gemeindevermögen, den
Wald, flüssig zu machen. Die kleinen Ausschluß-
forste Hasbruch bei Bremen und Neuenburg bei
Varel sind die letzten Reste jener alten Wald-
bedeckung, während in der Heide selbst nur einige
alte knorrige Bauniriesen von entschwundener
Wälderpracht ein stummes Zeugnis ablegen.
In diesen Ausschlußforsten, die jeder Natur-
freund besichtigen sollte, der einmal den echten
deutschen Wald kennen lernen will und der sich
von deutscher Waldespoesie, wie sie in unseren
nach modernen und forstwissenschaftlichen Grund-
sätzen gepflegten Wäldern immer seltener wird,
umhauchen lassen will, sind Axt und Säge ver-
pönte Instrumente. Was die Schöpfungskraft der
Natur hier zur Entwicklung bringt, das darf sich
ohne menschliche Korrektur entfalten, was von
den alten Eichenriesen, vom Blitz getroffen oder
vom Sturm zerschmettert oder im Kampf mit
mörderischen Baumpilzen oder den Buchen als glück-
licheren Rivalinnen unterlegen, in den schwarzen
Boden gesunken ist, das modert an Ort und Stelle
im Urwalddunkel.
Der Flfeu klettert mit mannsschenkelstarken
Trieben hinauf in das knorrige Geäst, zierliche
Farne kriechen an den geneigten Stämmen bis
hinauf in die Wipfel. Unter ihnen wuchern in
düsterem Gewirr die stachelige Hülse (Stechpalme !),
Kreuzdorn, Faulbaum, Hasel, Rose und Brombeere,
überzogen von den Ranken herrlich duftenden
Jasmins, und mitleidig umkleiden sie die alten
Baumleichen mit freundlichem Grün. Meister Grim-
bart, der Dachs, legt mit Vorliebe an solchen Stellen
seine Bauten an, unbehelligt durch den Forstmann,
Pouchs und Marder schleichen abends durchs Ge-
büsch, wenn das Käuzchen sich mit klagendem
Rufe zum Ausfluge rüstet. In den Astfächern der ehr-
würdigen Baumpatriarchen nistet der alte deutsche
Waldvogel, der geschwätzige Staar. Nur das Hoch-
wild fehlt!
Noch eines Geschwisterkindes der Heide haben
wir zu gedenken: des Moors. Wo sich an tief
gelegenen .Stellen Wasseransammlungen bildeten,
da siedelten sich die genügsamen Torfmoose an;
höher und immer höher wuchsen ihre Rasen, unten
starben die Stengel ab, moderten und erzeugten
den braunen wassergetränkten Pflanzenfilz des
Torfes, oben wuchsen ihre weißgrünen Stengel
nach. Andere Liebhaber von Feuchtigkeit fanden
bei ihnen Unterschlupf, Ried- und Wollgräser,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
377
Sumpfporst, Sonnentau, auch das rotbUlhende Heide-
kraut, oder noch eher die großblütige Dopplieide
mengten sich unter sie. Ein ernstes Landschaftsbild,
solch ein Hochmoor! Weit, unendlich weit dehnt
sich die braune Fläche, hier und da schwarze
Moorlachen. Klagend streicht der Wind darüber,
zaust in den dürren Stengeln des Haidekrautcs
und treibt unruhiges graues Gewölk über das
Himmelszelt.
Warum heißt's eigentlich „Hochmoor", könnte
man fragen. Aus zwei Gründen: einmal ist das
Hochmoor ziemlich hoch , jedenfalls über dem
Wasserspiegel gelegen, besonders aber weil das
Hochmoor in der Mitte höher als an den Rändern
ist, in der Mitte somit eine etwa uhrglasförmige
Wölbung aufweist. Im Gegensatz zu den Hoch-
mooren ist die Unterlage der Niederungsnioore
entweder vom Wasser bedeckt oder häufigen Über-
schwemmungen ausgesetzt und erscheint in der
Mitte nicht gewölbt. Groß ist der Unterschied
hinsichtlich der landwirtschaftlichen Ausnutzungs-
möglichkeit. Das Hochmoor ist im rohen Zustand
unfruchtbar und gibt erst im entwässerten Zu-
stande und gedüngt befriedigende Erträge, da es
selbst so gut wie keine pflanzlichen Nährstoffe
besitzt. Dagegen genügt eine einfache Entwässe-
rung der Niederuiigsmoore, um diese in üppige
Wiesen und Weiden zu verwandeln. Die große
Mehrzahl aller nordwestdeutschen Moore sind Hoch-
moore. Auf ihnen erfolgte und erfolgt auch noch
zurzeit durch den Staat die Ansiedelung deutscher
Kolonisten in sog. Moorkolonien. Preußen und
das Großherzogtum (Oldenburg stehen zurzeit an
der Spitze der diesen Zweig der Kolonisation
pflegenden deutschen Staaten.
Das erste Erfordernis der Anlage einer Moor-
kolonie ist die Entwässerung der landwirtschaftlich
zu nutzenden Moorflächen durch einen mit einem
größeren Flußlauf in Verbindung stehenden Kanal;
dieser soll zugleich die Verbindung der Kolonie mit
größeren Verkehrszentren ermöglichen, in denen der
Kolonist seine Erzeugnisse: Torfund landwirtschaft-
liche Produkte absetzen kann und zugleich soll er den
leichteren Transport solcher Produkte auf beque-
mem Wege gestatten, die der Kolonist benötigt:
Bauholz, Bausteine, Muscheln zum Kalkbrennen,
Schlick und Fäkaldünger zum Düngen der Felder
usw. Ist die Entwässerung des Moores in genügen-
dem Maße erfolgt , so ist der Moorboden genau
ebenso gut kultivierbar wie jeder andere Acker-
boden und das Wohnen auf ihm zugleich genau
ebenso gesund wie auf festem Sandboden. Eine
der größten dieser Moorkolonien ist wohl die
oldenburgische Kolonie Elisabethfehn. Sie liegt
am 41 km langen, die Hunte mit der Ems
verbindenden Hunte - Ems - Kanal und wies 1900
165 Kolonatc auf, deren Größe zwischen 4,5 und
6,5 ha (a 4 Morgen ca.) schwankt. Die PVont der
6,5 ha großen Kolonate ist am Kanal 90 m breit
und erstreckt sich 930 m nach hinten. Der
Oldenburgische Fiskus ließ sich den ha mit
300 Mk. bezahlen. Er erhebt außerdem für die
Kanalbenutzung einen jährlichen Kanon von 6 Mk.
pro ha, jederzeit mit dem 30 fachen ablösbar und
ein Torfgeld von 3 — 6 Pfg. pro (]m abgetorfter
Fläche je nach Mächtigkeit des Moores. Der
Zahlungsmodus ist neuerdings ein derartiger, daß
ohne Zahlung eines Kaufgeldes oder Kanons eine
3 '/■2 °/" ig^ jährliche Rente des taxierten Wertes
des Kolonates gezahlt wird. Zugleich gewährt
der Fiskus dem Kolonisten eine lojährige Be-
freiung von Grund- und Gebäudesteuer. Das
Torfgeld bleibt bestehen. Die Rente beträgt
meinen Informationen zufolge durchschnittlich 67 —
70 Mk. Allerdings müssen auch noch die Zinsen
für Hypotheken zum Bau des Hauses, zur An-
schaffung von Düngemitteln, Saatgut und Vieh
aufgebracht werden. Verfolgen wir nun die Ent-
wicklung eines Kolonates.
Um das Haus, das an der sich neben dem
Kanal hinziehenden Straße liegt, wird ein kleiner
Gemüsegarten angelegt. Bald aber beginnt auch
die landwirtschaftliche Nutzung des Moors. Seine
Oberfläche wird „gebrannt" und das gebrannte
Moor mit Buchweizen bestellt, eine Kulturart, die
allerdings nur solange ausübbar ist, als noch eine
Humusdecke existiert, die sog. Bunkerde. Zugleich
mit der Brandkultur des Buchweizens beginnt der
Kolonist mit der Torfstecherei , die ihn in den
ersten Jahren fast völlig zu erhalten hat und er-
halten kann, da der Torf namentlich in den großen
Weserstädten stets zu guten Preisen Absatz findet.
Für den Transport auf dem Kanal bedient sich
der Kolonist eines Torfschiffes, das eine Trag-
fähigkeit von etwa 10 — 20 Tonnen k loookg be-
sitzt und ca. 1500 Mk. kostet. Als Rückfracht
nimmt der Kolonist gern Seeschlick zur Verbesse-
rung seiner Felder. Diese legt er in der Weise
an, daß er auf das abgetorfte Land die Bunkerde-
schicht wirft und die obersten 10 cm mit Schlick
und P'äkaldünger versieht. Schlahnstetter Roggen,
schwarzer Moorhafer, Kartoffeln und Peluschken-
wicken wachsen auf diesen Feldern vorzüglich.
Aber auch vortrefifliches Vieh gedeiht auf den
Weiden, die er auf dem Moor angelegt hat.
Daß es vorwärts geht in den Kolonien, das
lehrt schon ein Blick in die freundlichen Backstein-
häuser mit ihren blütenweißen Gardinen, wohl-
gefüllten Glasschränken, stattlichen mit Delfter
Kacheln ausgekleideten Feuerstellen. Man kann
überhaupt die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser
Moorkolonien meines Erachtens nicht hoch genug
veranschlagen; hunderttausende von deutschen
Bauernfamilien könnten hier noch angesiedelt wer-
den, Königreiche sind hier noch in friedlicher Arbeit
mit Spaten und Pflug zu erobern.
378
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Kleinere Mitteilungen.
Ein Beispiel hervorragender tierischer
Intelligenz. — Dal.^ die geistige Betätigung der
Tierwelt weit über das Instinktive liinausgeht,
darin 'stimmen wohl gegenwärtig alle vorurteils-
losen Beobachter überein ; wohl aber wird noch
lange ein Gegenstand der Kontroverse die Frage
bleiben, inwieweit sich der tierische Geist dem
menschlichen nähert, und welchen Geschöpfen
hierin der Vorrang gebührt. Jeder Spezialforscher
der Lebewelt macht in dieser Beziehung so über-
raschende Wahrnehmungen, daß er gern geneigt
ist , gerade den Geschöpfen eine hervorragende
Stellung auf dem Gebiete geistiger Befähigung
zuzusprechen, deren Intellekt er näher kennen zu
lernen Gelegenheit hatte, und so ist es schon ge-
kommen, daß man den einzelnen Abteilungen der
Insekten, die durch ihre Mannigfaltigkeit und Ab-
sonderlichkeit besonders viele und recht verschieden
beanlagte Beobachter auf sich gezogen haben,
einen so hohen Rang einzuräumen bestrebt ge-
wesen ist, daß selbst die der menschlichen Orga-
nisation sich mehr nähernden Wirbeltiere dagegen
in den Hintergrund gedrängt wurden. Ohne
weiteres kann man aber wohl erwarten, daß je
mehr instinktive Gabe dem Geschöpf verliehen
worden ist, wie das besonders beim Stamme der
Insekten der Fall ist, um so weniger Verstand zur
Erhaltung und Fortpflanzung der Art nötig sein wird,
und ferner, daß die auch in körperlicher Beziehung
dem Menschen nähergerückten Vertebraten, nament-
lich deren oberste Klassen , soweit es die dem
menschlichen Geiste qualitativ ähnlichen Kräfte
angeht, auch hierin vor allen Tieren bevorzugt
sein werden. Und von diesen sind es wohl wieder
diejenigen, die den schwersten Kampf ums Dasein
kämpfen müssen und deswegen schon geistige
Überlegenheit nötig haben und sodann diejenigen,
die der Mensch, nicht um sie bei seiner Ernährung
zu verwerten, wie verschiedene Haustiere, sondern
in der Absicht auswählte und an sich heranzog,
um sie zu seiner Unterstützung, als Mitarbeiter,
als Helfer, oder vielleicht gar als Gesellschafter
um sich zu haben. Wenn wir nun aber auch
besonders bei letzteren eine hervorragende geistige
Beanlagung erwarten dürfen, so wolle man nicht
außer acht lassen, daß sie unserer Beurteilung
nicht mehr unterliegen als wilde , noch in ihrem
ehemaligen Zustande verharrende Geschöpfe, son-
dern als solche, deren ursprüngliche geistige Kraft
von den Menschen sorglich weiter gebildet worden
ist, und die sich uns nun mit den seit ungezählten
Generationen von den Alten auf die Jungen ver-
erbten Fortschritten präsentieren. Kann es aber
nicht noch Tiere geben, die dem Menschen zwar
ferner geblieben sind, und zu deren geistiger
Weiterbildung er noch nichts beigetragen hat, die
aber schon ihrer ursprünglichen Beanlagung nach
auch den intelligentesten Haustieren überlegen
sein können?
Der ganzen Körperkonstitution nach stehen
uns weder der Hund, dessen geistige Bevorzugung
besonders oft betont wird, noch andere in nähere
Beziehung zum Menschen getretene Tiere , wie
Pferd, Elefant, Kameel usw. so nahe, daß wir
Veranlassung hätten zu behaupten , sie müßten
auch betreffs des Geistes unmittelbar hinter dem
Menschen rangieren. Dem Körperbau nach sind
ja viel mehr menschenähnlich die Affen und be-
sonders diejenigen von ihnen, die wir geradezu
als anthropoid bezeichnen. In dieser, wenn auch
nur auf körperlichen Merkmalen fußenden Ähn-
lichkeit eine Verwandtschaft auch hinsichtlich
des Geistes zu vermuten, ist jedenfalls keine Un-
gereimtheit. Wenn man dem entgegen halten
kann, daß, wenn diese Tiere dem Menschen je
als geistig ausgezeichnet erschienen wären, er sie
auch längst als geistig sich verwandt erkannt und
an sich heran gezogen haben würde, so wolle man
bedenken, daß die Naturvölker gerade der Zone,
in welcher diese Tierspezies heimisch ist, von
anderen Gefühlen geleitet werden als wir, und sie
diese Tiere vielleicht eben wegen ihrer hohen
geistigen Potenz mehr gefürchtet und bekämpft, als
sie an sich heranzuziehen Bedürfnis gefühlt haben.
Zu einer näheren Prüfung der Intelligenz der
anthropoiden Affen ist es eigentlich auch erst ge-
kommen, seitdem Kulturvölker mit ihnen in Be-
rührung getreten sind, und besonders, seitdem sie
selbst zu uns gebracht werden, und wir in den
zoologischen Gärten Gelegenheit haben , uns mit
ihnen zu beschäftigen. Das gilt vor allem für den
früher sehr wenig bekannten Schimpansen.
Der zoologische Garten in Dresden kam 1S72
zum erstenmal in den Besitz eines solchen Tieres
und bot 4 Jahre lang Gelegenheit, das unter dem
Namen Focke höchst interessante Tier kennen zu
lernen. Der Unterzeichnete, dem der Erwerb des-
selben schnell bekannt gegeben worden war, be-
eilte sich , ihm so bald als möglich einen Besuch
zu machen und erlaubt sich hier mitzuteilen, was
er damals gesehen.
Focke war im Winterhause untergebracht in
einem leidlich großen Räume, an dessen Wänden
Sitzbretter liefen. Er saß bei meiner Ankunft
auf einem derselben, sah sich, was er schon
stundenlang getan, höchst verwundert seine neue
Wohnstätte an und blickte dabei mehr auf- als
abwärts. Endlich prüfte er die im Wohnräume
befindlichen Gegenstände und besonders einen
Krug mit Wasser. Dabei entdeckte er ein Ast-
loch in der Diele. Er kam demselben näher und
stierte nun vor ihm kauernd mit einem Auge
längere Zeit in dasselbe hinein. Er mochte wohl
vor allem seine Tiefe haben ergründen wollen,
denn als die Betrachtung zu keinem Ziele führte,
steckte er den Zeigefinger, so tief er konnte, in
das Loch und schien höchst verwundert , als er
auch auf diese Weise den Boden nicht erreichte.
Jetzt fing er nach einiger Zeit der Überlegung an,
in das Loch zu spucken und sorglich allen daneben
kommenden Speichel mit den Ungern in dasselbe
zu dirigieren. Die Flüssigkeit aber reichte nicht
N. F. III. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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aus, es zu füllen, da die Diele mehrere Zentimeter
über den unebenen Grund gelegt war, und so das
kleine Loch in den großen Zwischenraum über-
ging. Nun iiolte er den Wasserkrug und goß
seinen ganzen Inhalt in die so merkwürdige Öffnung.
Aber alles Wasser verlief, ohne den erwünschten
Aufschluß zu geben. Da setzte er langsam den
Krug wieder an seinen früheren Platz, ging auf
sein Brett, setzte sich ruhig nieder, sah zuweilen
noch auf das Loch herunter, schien aber sehr be-
troffen zu sein. In den folgenden Tagen soll er
noch oft Versuche gemacht haben, sich über die
Tiefe des L,oches Gewißheit zu verschaffen, bis er
endlich die Resultatlosigkeit seiner Bemühungen
einsah und das Loch keines Blickes mehr würdigte.
Bei Beurteilung der Intelligenz dieses Tieres
ist wohl besonders beachtenswert, daß sie sich in
einer Richtung betätigte, die mit den mate-
riellen Bedürfnissen seines Trägers in keinem Zu-
sammenhang stand. Es war eine rein theoretische
Frage, für die sich Focke interessierte, und deren
Lösung sonst für Tiere wohl kaum Interesse
haben dürfte. Und wie suchte er dieselbe zu
lösen. Die vier Mittel, die ihm hierzu allein zu
Gebote standen , hat er sämtlich erkannt und in
einer Reihenfolge benutzt, vom nächstliegenden
zum entfernteren übergehend, wie sie auch die
menschliche Intelligenz nicht besser hätte anordnen
können. Zu welcher Höhe würden derartig geistig
begabte Tiere gebracht worden sein, wenn sie
seit Tausenden von Generationen systematisch er-
zogen worden wären !
Dr. Robert Ebcrt, Dresden.
Die Besonderheit der Flora zwischen Mainz
und Ingelheim. — Westlich von Mainz erstreckt
sich bis gegen Ingelheim ein Gebiet mit eigen-
tümlicher Vegetation. Den Nordabhang des leicht
w^elligen, im allgemeinen etwa 200 m hohen frucht-
baren (jaues bedeckt Kiefernwald, welcher sich in
die hier am Südufer nur 2 km breite, 86 bis lOO m
hohe Rheinebene hineinzieht (Rheinspiegel bei
Mittelwasser 82 m über N.N.). Streckenweise ist
Eichenniederwald eingeschoben. Gegen den Fluß
zu wird der Waldbestand mehr und mehr durch
Spargelfelder und Obstgärten unterbrochen. Forst-
lich vernachlässigte Waldstreifen sind hier meist
reich an Unterholz von Schwarzdorn, während in
den geschlossenen Beständen öfter Wacholder-
sträucher angetroffen werden. Wo nicht gar zu
viel Streu gerecht wurde, bedeckt den Waldboden
neben Gräsern und Kräutern oft Heidekraut,
Gamander und Quendel. Diesem für die wärmeren
Lagen Westdeutschlands durchaus ungewöhnlichen
Vegetationsbilde entspricht eine besondere Boden-
formation, der Flugsand. Denselben treffen wir
von Straßburg nordwärts nicht selten strichweise
am Oberrhein, und wo Buchten des Gebirges sich
gegen die Ebene öffnen, ist er streckenweise in
größerer Menge angehäuft, besonders im Hagenauer
Forst, dem Bienwald und südwestlich von Darm-
stadt. Überall wächst auf diesen crrößcrcn oder
kleineren Sandflächen Kiefernwald. Hagenauer
Forst und Bienwald liegen auf dem Hochstaden,
nicht in der Ebene des Flusses, ihre Flora ist im
wesentlichen dieselbe wie die der niedrigen Lagen
der Nordvogesen. der Hardt und des Saarkohlen-
gebirges. Die Wälder sind von Mooren unter-
brochen, Königsfarn, Lungenenzian (Pneumonanthe),
Zwerglein (Radiolai, Kriechweide, Sonnentau u. dgl.
erinnern an die moorreichen Sandgebiete des Nord-
seeküstenlandes. Anders ist die Flora im Sand-
gebiete von Mainz, welches dem Flusse näher und
dem Gebirge ferner liegt. Hier fehlt die Neigung
zur Moorbildung, vielleicht wegen der niedrigeren,
wärmeren Lage und des kalkreichen Untergrundes.
Der leichte Boden wird im Frühling schnell trocken
und warm, im Sommer dafür übermäßig dürr.
Dementsprechend haben wir eine reiche und schöne
P'rühlingsflora , während im Sommer genügsame
Arten blühen und fruchten, welche auf reicherem
Boden neben üppigeren Mitbewerbern keinen Platz
finden. Diese Verhältnisse des Bodens genügen
zur Erklärung der floristischen Eigentümlichkeit
des Mainzer, wie auch des ähnlichen Darmstädter
Sandgebietes. Sie machen es auch begreiflich,
weshalb wir die Frühlingsblumen des Sandes an
anderen Orten sowohl auf dürrem steinigem Grunde
als auch auf feinkörnigem Kalk (Lößl finden,
während die Sommer- und Herbstblumen zum
Teil auf den im Frühjahr feuchten, später desto
mehr ausdörrenden Salzfeldern wiederkehren.
Als Alfred Nehring: die hochwichtige Entdeckung
gemacht hatte, daß im Braunschweiger Löß Knochen
des Springhasen (Alactaga), des tatarischen Murmel-
tiers (Boback) und anderer Nagetiere liegen, welche
sommerdürre Felder bewohnen, entstand die zu
vielerlei Mißverständnis führende Steppentheorie.
Man übersah, daß diese Nagetiere ihr eigentliches
Wohngebiet auf den hochgelegenen Steppen Asiens
haben inmitten einer Flora, welche sich mit der-
jenigen vergleichen läßt, welche die Wohnungen
des Alpenmurmeltiers umgibt. Hätte man dies
zur rechten Zeit erkannt, so schob sich die sub-
glaziale Springhasen- und Murmeltierzeit zwischen
die glaziale Lemming- und die boreale Eich-
hörnchenzeit ebenso zwanglos ein, wie die Periode
der Birken- und Weidengesträuche zwischen die
der Tundra und des Waldes. Aber der von Nehring
niclit ganz glücklich gewählte Ausdruck „Steppen-
tiere" rief in vielen Forschern den Irrtum hervor,
zwischen Eiszeit und Gegenwart müsse eine Zeit-
lang bei uns ein Klima und eine Vegetation ge-
herrscht haben, ähnlich wie wir sie jetzt in der
nördlichen Umgebung des Schwarzen Meeres sehen.
Wesentlich erleichtert wurde die Aufnahme dieser
Theorie durch die auch jetzt noch in Deutschland
verbreitete, in Rußland von den Kennern und Er-
forschern des Landes schon seit 30 Jahren über-
wundene Meinung, daß die Vegetation der süd-
russischen Steppen, insbesondere ihre Baumlosig-
keit, eine Folge des Klimas sei. — Nicht das
Klima hält dort den Baumwuchs auf, sondern die
chemische Zusammensetzung des Bodens. Und
38o
Naturwissenschaftliche VVochcnsclirift.
N. I-. III. Nr. 24
die Tiere, welche am meisten für Deutschlands
ehemalige „Steppen" charakteristisch waren, Spring-
hase und tatarisches Murmeltier, leben dort nur
an wenigen Stellen als Relikte oder infolge neuerer
Anpassung als Schädlinge der menschlichen Kul-
turen.
Diese Steppentheorie, oder genauer gesagt,
pontische Steppentheorie verfehlte nicht, auch die
Auffassung der Mainzer Sandflora zu beeinflussen.
Eine Zusammenstellung derCharakterpflanzendieser
Flora ergab,') daß die meisten in Südosteuropa vor-
kommen; es war gar keine Frage, daß einst die
ganze oberrheinische Ebene eine Steppe gewesen,
und die Sandflora von Darmstadt und Mainz deren
Überbleibsel war.
Der Urheber dieser Theorie hat gewiß nie
eine Steppe gesehen. Flugsand, mit Kiefern be-
wachsen, darunter ein Filz, in welchem strecken-
weise das Heidekraut überwiegt, das ist von der
Steppe so verschieden, wie die Marsch von der
Geest im nordwestdeutschen Tieflande. Freilich
gibt es in Südrußland überall an dem linken Ufer
der Flüsse Anhäufungen von Flugsand, und stellen-
weise treten auch Kiefernwälder auf, aber diese
Formation wird dann als „Vorposten des Waldes"
aufgefaßt, von der Plateausteppe ist sie grund-
verschieden. Man könnte ja sagen, auf dem (xau
bei Mainz ist die Steppenflora der Kultur erlegen,
nur diejenigen Steppenpflanzen, welche sich in
das Dünengebiet des Uferabhanges retten konnten,
blieben hier erhalten.
Aber der Florencharakter des Mainzer Sand-
gebietes ist gar kein pontischer. Die Kiefer ist
in Südrußland selten, der Wacholder geht kaum
über das Gouvernement Kiew hinaus, das Heidekraut
ist eine Charakterpflanze Nordwesteuropas. Dem
eigentlichen Steppengebiete fremd ist auch eines
der häufigsten Gräser unseres Sandgebietes (Cory-
nephorus Weingärtneria oder Aira canescens) sowie
das Tripmadam (Sedum reflexum). Ja unter den
für unser Gebiet vom pflanzengeographischen Stand-
punkt wichtigsten Arten, d. h. denen, die hier
mehr oder weniger isolierte Standorte haben, ist
nicht eine rein pontische, während zwei rein west-
liche darunter sind: ein dem Timothee ähnliches
kleines Gras (Phleum arenarium) und die wegerich-
blättrige Unterart der Grasnelke (Statice armeria
plantaginea). Ein anderes charakteristisches Gras
( I'oa alpina badensis) gehört der Hochgebirgsflora
an. Am meisten isoliert ist wohl eine Boraginee,
die Lotwurz (Onosma arenarium), deren zusammen-
hängendes Wohngebiet sich von Südosteuropa
einerseits bis Osterreich und Mähren, andererseits
um den Südabliang der Alpen herum bis Süd-
frankreich und ins obere Rhonetal erstreckt. Noch
manche andere Charakterpflanzen des Mainzer
Sandes haben ähnliche Wohngebiete: eine große
Verbreitung im Südosten, zerstreute Standorte bis
ins Ostseegebiet und an den Harz, sodann eine
') Jännicke, Die Sandflora von Mainz, ein Relil;t aus der
Steppenzeit. Frankfurt (ohne Jalir, aber nach 1S89).
Reihe von Vorkommnissen durch das .Alpengebiet
bis Südfrankreich und weiter zum Oberrhein. So
verhält es sich u. a. mit der schönsten Frühlings-
blume, einem gelben Adonisröschen (Adonis ver-
nalis), welches vor Jahrhunderten als Ingelheimer
Nieswurz weit bekannt war. Diese Arten können
den Mainzer Sand ebensowohl von Süden her als
von Osten erreicht haben.
Einzelne Arten sind freilich rein östlich. Dahin
gehört der Sandflohsame (Plantago arenaria), ein
Gattungsgenosse der Wegericharten. Dieser ist
am Oberrhein erst seit 1812 aufgehoben, und die
Vermutung liegt nahe, daß die Truppenbewegungen
der napoleonischen Zeit die Ursache seiner Aus-
breitung waren. Auch das im Mainzer Sande so
häufige Salzkraut (Salsola kali), dasselbe welches
als russische Distel in Amerika neuerdings zum
lästigen Unkraut geworden ist, erschien am Ober-
rhein erst in jener Zeit, 18 12 wurde es von
Schwetzingen als Einwanderer gemeldet, 18 14 für
Mainz festgestellt. Noch später wurde die oben
erwähnte Boraginee Onosma arenarium entdeckt.
Angesichts dieser Tatsachen muß der Pflanzen-
geograph sich fragen, ob nicht vielleicht noch
mehr charakteristische Bestandteile der Mainzer
Sandflora durch den V'erkehr der Menschen dort-
hin geführt sind. Seit der römischen Kaiserzeit
ist Mainz ein verkehrsreicher und vielumstrittener
Platz gewesen, vor dem Heere aus Süden, Westen,
Osten und Norden wiederholt gelegen haben. Das
oben erwähnte Alpengras (Poa alpina) wurde
neuerdings zuweilen in Mittel- und Norddeutsch-
land eingeschleppt. Eine der Mainzer nahe ver-
wandte andere Unterart der Grasnelke (Statice
armeria elongata) wird gegenwärtig als Einwanderer
von Osten her im Saargebiet beobachtet. Das
kleine Timotheegras (Phleum arenarium), welches
hauptsächlich die Küsten bewohnt, wird neuer-
dings zuweilen durch Schiffsverkehr verschleppt,
kann es nicht durch solchen früher rheinaufwärts
gebracht sein? Am Niederrhein ist es \'erbreitet.
Ich glaube, dies sind der botanischen Einzelheiten
genug, um zu beweisen, wie verkehrt die Be-
hauptung Jännicke's war, der Florencharakter des
Mainzer Sandgebiets würde auch ohne Nehring's
Knochenfunde zur Annahme einer ehemaligen
Steppenperiode nötigen.
Das Mainzer Sandgebiet gewährt
durch die Eigentümlichkeit seines
Bodens einer von der Umgegend ab-
weichenden Flora Schutz. Da wir ander-
weit wissen, daß der Gegenwart eine
kältere und wohl wenigstens zeitweise
trocknere Periode vorausging, so ist
es nicht unwahrscheinlich, d a ß m a n c h e
jetzigen C h arak t er p f la n ze n des Sandes
damals im oberrheinischen Gebiet ver-
breitet waren, während sie jetzt auf
schwererem Boden nicht mehr mit den
inzwischen eingewanderten anspruchs-
volleren Arten konkurrieren können.
Der lebhafte mensch liclic \^crkchr gab
N. F. III. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
381
Gelegenheit zur Einbürgerung für manche
Arten, denen die dortigen Verhält nisse
günstig sind, welche aber sonst keine
Mittel zur Einwanderung gehabt hatten.
— Das ist nach meiner Ansicht alles, was man
aus dem heutigen Bestände der Flora und ihrer
neuesten Geschichte schließen kann. Von großem
Interesse wäre es, Nachrichten zu finden über das
Aussehen dieses Sandgebietes in früherer Zeit.
Vielleicht zeigt ein Historiker den Weg zu ein-
schlägigen Quellen ; in den Mainzer Chroniken
konnte ich nichts finden. Ernst H. L. Krause.
Über organische Ablagerungen am Grunde
der Tiefsee. — Können sich organische Sub-
stanzen auf dem Roden der Tiefsee anhäufen ?
Diese Frage wurde mir vor einiger Zeit vor-
gelegt mit der Bitte, sie in den Spalten der
Naturwissenschaftl. Wochenchrift zu beantworten.
Auf den ersten Blick erscheint es unbedenklich
die Frage zu bejahen, im Hinblick auf die be-
kannten Funde von Agassiz im karaibischen
Meere und im Stillen Ozean zwischen Kalifornien
und den Galapagos. Dieser Forscher erhielt näm-
lich auf Dretschzügen in 1800 bis 3000 m Tiefe
große Massen von Zweigen, Blättern und anderen
Pflanzenteilen; eine andere Frage ist es jedoch,
ob es hier wirklich zur Bildung von organischen
Ablagerungen kommt. Es ist sehr wohl denkbar,
daß diese Pflanzenreste am Boden der Tiefsee
verwesen , ebenso wie auf dem Lande die abge-
storbenen Pflanzenteile in vielen tropischen Ge-
bieten, ohne auch nur eine Spur von organischem
Sediment zu bilden. Sollte sich aber in den von
Agassiz beobachteten Fällen wirklich organische
Substanz am Grunde der Tiefsee anhäufen , so
wird es sich doch nur um einen ganz speziellen
Fall handeln, der nicht ohne weiteres auf die
großen land fernen Ablagerungen der Tiefsee
übertragen werden kann.
Versuchen wir also die Lösung der gestellten
Frage auf allgemeinerer Grundlage I Wenn wir
absehen von dem Material , das von der Küste
her verschleppt ist, so wird organische Substanz,
die sich am Boden der Tiefsee ansammelt , im
wesentlichen von dem in höheren Wasserschichten
und speziell in der Nähe der Oberfläche treibenden
Plankton stammen ; Nekton und Renthos sind be-
kanntlich für den Aufbau der Tiefseeablagerungen
ohne Bedeutung. Man wird also sagen dürfen,
daß von vornherein dort die Aussichten für eine
Sedimentierung organischer Substanz am günstig-
sten liegen müssen, wo das reichste Planktonleben
zu beobachten ist. Man wird aber dabei im Auge
behalten müssen, daß der weitaus größte Teil der
absterbenden organischen Substanz wiederum zur
Ernährung der planktonischen oder nektonischen
Tiere dient, also gar nicht auf den Meeresboden
gelangt. Immerhin mag ein, wenn auch kleiner,
Prozentsatz von Tier- und Pflanzenleichen den
Meeresboden erreichen.
Auch von diesem wird noch immer ein ge-
wisser Teil von dem Benthos der Tiefsee ver-
arbeitet werden. Der Rest aber könnte sich dann
zu organischen Ablagerungen anhäufen — wenn
er nicht verweste. Die Verwesung ist bekanntlich
ein Oxydationsprozeß; ist also im Meereswasser
der Tiefsee noch genügend freier Sauerstoff vor-
handen , um die zugeführte organische Substanz
zu oxydieren , so wird nie eine Anhäufung der-
selben stattfinden können, mit einer Ausnahme
allerdings; wenn nämlich die Sedimentablagerung
anorganischer Substanzen , z. B. von Ton oder
Kalk, so rasch vor sich geht, daß die niedersinkende
organische Substanz rasch eingehüllt und damit
der oxydierenden Wirkung des Seewassers ent-
zogen wird.
Das sauerstoffreiche Wasser der Tiefsee stammt,
wie bekannt, von der Oberfläche und ist dank
seiner tieferen Temperatur oder dem höheren
Salzgehalte allmählich zu Boden gesunken. In
den Weltmeeren ist die Quelle des Tiefenwassers
in den Polargebieten , speziell im Südpolargebiet
zu suchen. Wo eine derartige absteigende Wasser-
zirkulation fehlt, wie z. B. im Schwarzen Meere,
ist der Sauerstoff des Tiefenwassers ungenügend
zur Oxydation der organischen Substanz, es findet
eine Reduktion der Sulfate zu Sulfiden statt, durch
welche das Tiefenwasser mit Schwefelwasserstoff
imprägniert wird.
Theoretisch wird man also eine Anhäufung
von organischer Substanz am Boden der Tiefsee
dort erwarten dürfen, wo das planktonische Tier-
und Pflanzenleben der Oberflächenschichten sehr
reich ist und wo entweder das Tiefenwasser arm
an Sauerstoff ist oder dem Meeresboden sehr
reichlich anorganisches Sedimentmaterial zugeführt
wird. Sehen wir nun, wie sich mit diesen Forde-
rungen die Erfahrungen der Tiefsee-Expeditionen
vereinigen lassen.
In seiner klassischen Bearbeitung der ,, Tiefsee-
ablagerungen, welche vom Challenger erlotet wur-
den", gibt John Murra\' an, daß sich Spuren von
organischer Substanz in nahezu allen Grundproben
der Tiefsee fanden. In den roten Tonen und
anderen rein pelagischen Sedimenten ist jedoch
die Menge der organischen Substanz sehr viel
geringer als in den terrigenen, wie z. B. im blauen
Schlick. Jedoch kommt es auch bei den land-
nahen Tiefseeablagerungen zu keiner irgendwie
nennenswerten Anreicherung von organischer Sub-
stanz, wie aus den Analysen zu ersehen ist.
Wichtigere Aufschlüsse gibt uns der zu früh
verstorbene Conrad Natterer in einer Reihe sehr
gehaltvoller Berichte über die Chemie des öst-
lichen Mittelmeeres, des Marmara- und des Roten
Meeres. Er sagt darüber: „Man könnte erwarten — ,
daß im Meer ein Gleichgewicht zwischen Bildung
und Zerstörung organischer Substanz besteht.
Dies ist jedoch nicht der Fall. Der unleugbare
Verbrauch von freiem Sauerstoff in den Meeres-
tiefen hat nicht eine entsprechende Vermehrung
der Kohlensäure zur Folge, vielmehr dient dieser
Sauerstoff hauptsächlich zur Bildung von Zwischen-
38:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 24
Produkten der Oxydation organischer Substanzen,
welche Zwischenprodukte ebenso wie die sonstigen
organischen Reste von Pflanzen und Tieren nur
zum geringsten Teil in Lösung sind oder in Lösung
gehen, sondern zum größten Teil auf dem Meeres-
grunde abgelagert werden.
Es bilden also im östlichen Mittelmeere und
wahrscheinlich auch in weiten Gebieten der Ozeane
die Meerespflanzen eine bedeutend größere Menge
organischer Substanzen, als gleichzeitig bis zur
vollständigen Zerstörung oxydiert wird."
Zu einer besonders starken Anreicherung von
organischer Substanz konmit es nach Natterer an
dem unterseeischen Abhang der Küsten von
Syrien und Palästina. Dadurch wird eine Reduk-
tion der schwefelsauren Salze und Bildung von
Schwefeleisen bewirkt, es bildet sich aber auch,
was von besonderem Interesse ist, Petroleum,
das in Spuren im Tiefen.schlamm und in dem
darüber stehenden Wasser nachgewiesen werden
konnte. Ahnlich liegen die Verhältnisse am Aus-
gange des Golfes von Suez, wo ebenfalls das
Schlammwasser Spuren von Petroleum enthielt.
Natterer meint sogar, daß das Petroleumvorkom-
men auf der benachbarten afrikanischen Küste
(am Djebel Zeit) durch kapillares Aufsteigen des
im Tiefenschlamme sich bildenden Petroleums zu
erklären wäre. In ähnlicher Weise findet sich
Petroleum an der syrischen Küste bei Alexandrette
in der Nähe des petroleumhaltigen Meeres-
schlammes.
Im allgemeinen dürfte sich die Frage nach
theoretischen Betrachtungen und unter Zugrunde-
legung der leider noch sehr spärlichen praktischen
Erfahrungen wohl dahin beantworten lassen, daß
organische Substanz sich wohl nie am Grunde der
küsten fernen, wohl aber im Gebiete der
küstennahen Tiefsee anreichern kann. Beson-
ders bevorzugt erscheinen in dieser Hinsicht
Binnenmeere, im Weltmeere die Mündungsgebiete
grof.Jer Ströme. Nach dem heutigen Stande un-
serer Kenntnisse werden aber derartige submarin
abgelagerte Massen von organischer Substanz eher
gasförmige oder flüssige, als feste Kohlenstoff-
verbindungen hinterlassen. E. l'hilippi.
tation des Gestirns zurückführbar sein. Die Formel
zur Berechnung der Minima lautet:
Min. = 1902 Okt. 6 + 161 E,
wo für E die Reihe der natürlichen Zahlen einzu-
setzen ist. F. Kbr.
Der veränderliche Stern X-Aurigae ist
kürzlich von K. Graff eingehend auf Grund des
zahlreichen , vorliegenden Beobachtungsmaterials
untersucht worden. Es hat sich dabei ergeben,
daß der Stern einem sehr regelmäßigen Licht-
wechsel zwischen der 8,7. und 1 1,7. Größenklasse
in einem Cyklus von 161 Tagen unterworfen ist.
Von konstanter Helligkeit ist der Stern niemals,
vielmehr steigt er etwas schneller zum Maximum
an, als er wieder zum Minimum zurückkehrt.
Letzteres ist von sehr kurzer Dauer, die Licht-
kurve^ biegt scharf von dem absteigenden Aste
in den aufsteigenden um, während die Helligkeits-
änderung im Maximum weniger plötzlich verläuft.
Der Licht Wechsel dürfte vermutlich auf eine Ro-
Bücherbesprechungen.
Prof. P. Bachmetjew, E.xperimen t eil e ento-
mologische Studien vom physikalisch-
chemischen Standpunkte aus. Mit einem
Vorwort von Prof. Dr. August Weismann.
Erster Band , Temperaturverhältnisse bei Insekten.
Mit 7 Figuren im Text. Leipzig , Verlag von
Wilhelm Engelmann. 1901. 160 Seiten.
Den Untersuchungen über den Einfluß verschie-
dener Temperaturen auf die Natur der Insekten
kommt es zugute, wenn der Entomologe zugleich ein
geübter Ph\siker ist. Der Verfasser dieses Buches
ist unter derartigen günstigen Umständen zu bemer-
kenswerten Resultaten gelangt. Er ist der erste,
welcher für die bekannte auffallende Widerstands-
fähigkeit vieler Insekten gegen Kälte eine wissen-
schaftliche Erklärung abgibt. Es ist vielen Entomo-
logen bekannt, daß Schmetterlingsraupen im Eis ein-
frieren können , ohne zu sterben , und daß auch
andere Entwicklungszustände , namentlich entwickelte
Insekten unter Umständen längere Zeit eine Tempe-
ratur aushalten, die erheblich unter Null liegt. Dieses
Verhalten ist augenscheinlich eine sehr zweckmäßige
Einrichtung der Natur, weil dadurch die Überwinterung,
die nicht immer an geschützten Stellen stattfindet,
zur Erhaltung der Art beiträgt. Aber der Grund
dieser zweckmäßigen Einrichtung war bisher rätsel-
haft. Eine Anpassung einzelner Arten kann es nicht
sein, da die Erscheinung in weit ausgedehnten geo-
graphischen Gebieten maßgebend ist. Auch sind in
zahlreichen Fällen von vielen Entomologen Experi-
mente durch Anwendung von Kältegraden mit Lepi-
dopterenpuppen angestellt worden, welche nicht über-'
wintern, also höheren Kältegraden nicht angepaßt
sind.
Der Verfasser schließt aus dem \'erhaUen der
frostfesten Insekten oder deren Entwicklungsformen,
daß , wie bei frostharten Pflanzen , der Grund ihrer
Widerstandsfähigkeit in einer Unterkühlung zu suchen
ist. Die Entdeckung der Unterkühlungserscheinungen
der Säfte ist geeignet, den mit Temperaturverhält-
nissen zusammenhängenden biologischen Forschungen
der Entomologen, aber auch aller Zoologen neuen
Aufschwung zu geben. Den Physiologen sind hiermit
neue Bahnen gewiesen.
Der Verfasser nennt denjenigen Temperaturgrad,
bis zu welchem die Insekten- und Pflanzensäfte sich
unterkühlen können, den k ri tis chen P unkt. Dies
ist derjenige Temperaturgrad , welcher erreicht wird,
bevor die Säfte zu erstarren beginnen, und von wel-
chem an die Temperatur des Insekts bis zum n o r -
m a 1 e n Erstarrungspunkte der Insektensäfte wieder
steigt. Ein lebender Schmetterling, S at u r n i a p y r i ^^
wurde in Eis gelegt. Bei — 2,5" C bewegte er sich
nicht mehr; er war nach 15 Minuten bis auf — 9,4"
N. F. III. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
383
abgekühlt, zeigte dann aber plützlicli einen Temperatur-
sprung auf — 1,4", wonach seine Temperatur wälirend
II Minuten konstant blieb. Die Temperatur — 9,4" C
ist in diesem Falle der kritische Punkt, und
— 1,4" der normale Erstarrungspunkt. Bei — 2,2"
wurde der Schmetterling aus dem kalten Luftbade
herausgenommen, bei — 1,7 bis -|-5,o" bewegte er
sich noch nicht, aber nach i Stunde und 10 Minuten
lebte er bei Zimmertemperatur wieder auf und legte
am folgenden Tage viele Eier. Auf S. 138 tt". ist
die Methode mitgeteilt, nach welcher der Verfasser
bei seinen Untersuchungen die Temperatur der In-
sekten gemessen hat. In dem Buche sind noch zahl-
reiche derartige Experimente beschrieben. Jetzt
wissen wir, daß manche biologische Fragen, /.. B.
die rätselhafte Anabiose, die Widerstandsfähigkeit der
Tiere und Pflanzen gegen Kälte und andere verwandte
Erscheinungen sich wirklich erklären lassen und in
ganz anderem Lichte erscheinen als früher.
H. Kolbe.
S. Levy's Anleitung zur Darstellung orga-
n i sc li • c h e misch e r Präparate. Vierte, ver-
besserte und erweiterte .Auflage. Herausgegeben
von Dr. A. Bistrzycki, o. Professor der Cliemie an
der Universität Freiburg in der Schweiz. Mit 40
in den Text gedruckten Holzschnitten. Stuttgart.
Verlag \'on Ferdinand Enke. 1902. Preis 4,20 Mk.
Das treffliche Buch verfolgt einen vornehmlich
didaktischen Zweck , indem es den Anfänger an der
Hand von Beispielen in die organische Chemie ein-
führen will. Der Verfasser hat eine Reihe von zweck-
mäßigen Präparaten ausgewählt, unter denen ziemlich alle
Klassen der organischen Verbindungen als Haupttypen
vertreten sind. Zahlreiche Abbildungen erleichtern
das Verständnis, und für denjenigen, der das Buch
zum Selbstunterricht benutzt, ist eine kurze Einleitung,
die einige allgemeine Ratschläge enthält, vorangestellt.
Diese Einleitung bietet nicht das , was in dem allge-
meinen Teil des ausgezeichneten Gattermann'schen
Werkes zu finden ist, und was gerade für .\nfänger
und beim Selbstunterricht von so grotSer Bedeutung
ist. Der Verfasser macht zwar darauf aufmerksam, daß
der Lernende sich stets Rechenschaft geben soll von
den Vorgängen, die bei den betreffenden Synthesen zu
beachten sind und hat jeder einzelnen Präparaten-
vorschrift eine Anmerkung über den sich dabei ab-
spielenden chemischen Vorgang vorangestellt. Aber nach
meiner Ansicht hätte er doch die theoretische Seite der
organischen Synthese mehr hervorkehren und die
betreffenden Angaben nicht nur in der Form von
Rezepten geben sollen. Denn wenn ein Lernender
beim Selbstunterricht — um ein Beispiel herauszu-
greifen — die Synthese von Äthylbromid auf Grund
der gegebenen Anleitung vornimmt, so mag er wohl
die Vorgänge, die sich dabei abspielen, kennen, ohne
sich jedoch^der Hauptsache bewußt zu sein : daß er
nämlich den Ersatz einer alkoholischen Hydroxyl-
gruppe durch Halogen vorgenommen hat, und daß
dieses Beispiel typisch ist für alle derartigen Synthesen ;
dies ist doch eben der Schwerpunkt der Operation.
Der Anfänger wird z. B. ferner auch nicht darauf
aufmerksam gemacht, daß er vom 31. Präparat an
plötzlich die Synthese von Kohlenstoffringen in An-
griff nimmt. Alles dies, meine ich, hätte auch äußer-
lich etwas mehr zur Geltung kommen können. — Doch
von alledem abgesehen, ist das Levy'sche Ruch längst
in weitesten Kreisen als ein ganz vorzügliches Werk
anerkannt und geschätzt worden. Was ihm u. a.
besonderen Wert verleiht, sind die Angaben zur
Prüfung auf Reinheit und über das chemische Ver-
halten der angefertigten Präparate. Gerade dieses
pädagogisch wichtige Moment ist wieder in dem Gatter-
mann'schen Werke nicht genügend berücksichtigt und
es ist erfreulich, daß der Herausgeber der Levy'schen
Anleitung hierauf besonderen Wert gelegt hat. Die
vierte Auflage ist durch persönliche Erfahrungen des
Prof Bistrzycki und durch Privatmitteilungen seiner
Fachgenossen wesentlich verbessert worden. Jede
einzelne Präparatenvorschrift ist eingeteilt in i. Lite-
ratur, 2. chemischer Vorgang (zumeist in chemischen
Formeln ausgedrückt), 3. Darstellung, 4. Eigenschaften.
Der Bestimmung des Schmelz- und Siedepunktes
wurde in der Neuauflage besondere Berücksichtigung
zuteil. Neu aufgenommen wurde außerdem die „Dar-
stellung des Formaldehyds nach Ullmann" in Genl
und die „Titrierung des Formaldehyds", auch ein
Beispiel für die Kenzoylierung nach Schotten-Baumann
u. a.
Das Buch kann unbedingt jedem aufs wärmste
empfohlen werden, der sich mit der Darstellungsweise
organischer Präparate vertraut machen will.
Dr. R. Loebe.
Literatur.
Bruder, Gymn.-Prof. Geo.: Geologische Skizzen aus der Um-
gebung .\ussigs. Eine Anleitg. zur selbständ. Naturbeobachtg.
Mit 16 Orig.-Lichtdr.-Taf. u. 17 .-Vbbildgn. im Text. Progr.
(68 .S.) gr. 8°. .'Aussig '04, A. Beclier. — 3 Mk.
Hesse-Wartegg, Ernst v. : Korea. Eine Sommerreise nach
dem Lande der Morgenruhe 1894. Mit zahlreichen Abbild.
u. e. Spezialkarte Koreas m. den angrenz. Ländern. 2.
verm. Ausg. (V, 239 S.) 4". Dresden '04, C. Reißner. —
5 Mk. ; geb. 6 Mk.
Lauterer, Dr. Jos.: Japan. Das Land der aufgeh. Sonne
einst u. jetzt. Nach seinen Reisen u. Studien geschildert.
Mit 100 Abbildgn. nach Japan. Orignalen sowie nach photo-
graph. Xaturaufnahmcn. (V, 407 S.) gr. 8". Leipzig ('04),
U. Spamer. — 7 Mk. ; geb. in Leinw. 8,50 Mk.
Moissan, Prof. Henri: Einteilung der Elemente. Deutsch v.
Dr. Th. Zettel. (58 S.) gr. 8». Berlin '04, M. Krayn. —
2 Mk.
Waiden, P. : Wilhelm Ostwald. Mit 2 Heliogravüren u. e.
Bibliographie. (Vll, 120S.) gr. 8". Leipzig '04, W.Engel.
mann. — 4 Mk.
Walker, Prof. Dr. James: Einführung in die physikalische
Chemie. Nach der 2. Aufl. des Originals unter Mitwirkg.
des Verf. übers, u. hrsg. von Assist. Dr. H. v. Steinwehr.
|X , 428 S. m. 48 Abbildgn.) gr. 8". Braunschweig '04,
K. Vieweg & Sohn. — 6 Mk. ; geb. in Leinw. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn L. — Frage: Wann sind Speziesnamen, die ihre
Herkunft von Eigennamen herleiten, durch Anhängung von
US resp. ius zu latinisieren .•
Antwort: Nach dem mir vorliegenden .Material zu ur-
teilen, hat sich der .Sprachgebrauch offenbar so entwickelt,
daß man im allgemeinen Eigennamen, welche nicht schon
eine lateinische Endung haben, wie Cornelius, .Andreas usw.
384
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 24
durch Anliängung eines ius hitinisicit , also Lindemuthius.
Dagegen erhalten Eigennamen auf er regelmäßig bloß us, was
aus Arabis Halleri , Care-x Oederi , Conioselinum Fischeri,
Dianthus Wimmeri , Hieracium Engleri zu ersehen ist. Auch
auf en, in und un ausgehende Namen haben gewöhnlich nur
US. So nennen sich die Berliner Professoren Mommsen und
Vahlen in ihren lateinischen Schriften Momrasenus und
Vahlenus, und botanische Namen wie Artemisia Baunigarteni,
Galiura Bauhini, Festuca Brinkmanni erweisen dasselbe. Daß
diese Regel aber nicht streng innegehalten wird, zeigt Plantago
Wulfenii. Auch ursprüngliche Vornamen behalten us, vgl.
Amarantus Berchtoldi, Arabis Gcrardi, Carex Gebhardi. Ein
e wird durch aeus wiedergegeben, also Linnaeus, Potoniaeus.
Bei der englischen Namensendung -son schwankt der Gebrauch,
vgl. Carex Marssoni, Clcrodcndron Thompsonae neben Sper-
gula Morisonii. — Über diese nicht unwichtige p'ormfrage
sollte, falls es nicht schon geschehen ist, eine internationale
Einigung unter den Gelehrten herbeigeführt werden.
F. Matthias.
Herrn J. H. in lUans. — Sie haben einen Calathus
mit vier Reihen eingestochener Punkte gefunden und wünschen
dessen Namen zu wissen. — Ihre Angaben sind zu unbestimmt,
als daß man Ihnen ganz sichere .Auskunft geben könnte. —
Von Calathus cisteloides ■ — der ältere und deshalb
richtige Name ist C. fuscipcs Goeze 1777 (vgl. G. .Seid-
litz, Fauna Baltica, Die Käfer, 2. Aufl. Königsberg, 1891,
S. 32) — heißt es in der sorgfältigen Beschreibung von
Erichson (Naturgesch. der Insekten Deutschlands, Band i,
S. 391, Berlin 1860); „Außer der gewöhnlichen Reihe größerer
Punkte am achten Streifen steht eine Reihe von Punkten am
fünften Streifen und eine andere am dritten Zwischenraum, in
der vorderen Hälfte der Flügeldecken nahe am dritten, in der
hinteren gewöhnlich nahe am zweiten Streifen." Gyllenhal
stellt die letztere Reihe geradezu als zwei Reihen dar (Insecta
Suecica T. I pars 2 p. 126, Scaris 1810): ,,juxta striam se-
cundam a satura, posterius, puncta majora plerumque sex, in
tertia anterius itidem sex." — Erichson fügt seiner Be-
schreibung hinzu, daß „die Zahl und Stärke dieser Punkte
manchen Abänderungen unterliege". Nach Dejean (Species
general des Coleopteres Tom. 3 p. 67, Paris 1828) können
die Punktreihen sogar ganz schwinden. — Calathus fus-
cipes veranschaulicht also eine Tatsache, die jedem erfahre-
nen Systematiker zur Genüge bekannt ist, daß nämlich gute
Artmerkmale , ja sogar Gattungsmcrkmale in einzelnen ano-
malen Fällen im Stiche lassen. Die Diagnose oder kurze
Beschreibung darf mit seltenen Anomalien nicht belastet wer-
den. Man würde z. B. vom Menschen niemals in einer kurzen
Beschreibung sagen, daß er 5 — 6 Finger besitze, obgleich ein
sechster Finger gar nicht so sehr selten vorkommt. — Klar-
heit verschafft sich der Sammler stets, wenn er an derselben
Örtlichkeit weiter sammelt und zahlreiche Exemplare zu be-
kommen sucht. Wo ein Stück einer Art vorkommt, da sind
meist auch mehrere zu finden. Dahl.
Herrn R. in G. — Als besonders brauchbares und zu-
gleich erschöpfendes Werk über chemische Kristallo-
graphie und Mineralogie empfehle ich Ihnen Brauns,
R. , Chemische Mineralogie, Leipzig, Chr. Herm. Tauchnitz,
1896. Sie finden darin die Lehren der chemischen Kristallo-
graphie und Mineralogie unter Berücksichtigung der neueren
Forschungen im Zusammenhange eingehend dargestellt. .Außer-
dem wäre noch die ,, Physikalische Kristallographie mit Ein-
leitung in die kristallographische Kenntnis der wichtigsten
Substanzen" von P. Groth. 3. Aufl. Leipzig, 1895, Verlag von
Wilhelm Engelmann, zu nennen. Der Zweck dieses umfang-
reichen , vorzüglichen Werkes ist, unter ,, Voraussetzung der
allgemeinen Experimentalchemie und -physik, aber ohne weitere
mathematische Kenntnisse, als sie die Mittelschule zu liefern im
Stande ist, den Studierenden nicht nur in das Verständnis der
Gesetzmäßigkeiten, denen die kristallischen Stoffe unterworfen
sind, einzuführen, sondern ihn auch zu befähigen, die Metho-
den dieser Wissenschaft praktisch anzuwenden". Das von
Ihnen genannte Buch von A. Fock ist als Einleitung in
die chemische Kristallographie ebenfalls gut brauchbar. —
Des ferneren fragen Sie nach einem ,,schr tiefgehenden, dabei
aber mit gelehrtem Stoff nicht überladenen" Werke über
organische Chemie. .An Büchern über dieses Gebiet ist kein
Mangel, und umso schwieriger ein einzelnes besonders zu
empfehlen. Bekannt sind die Lehrbücher von Roscoe-Schor-
lemmer, Graham-Otto, und das kürzere Werk von Bernthsen,
auch die ,, Chemie der Kohlenstoffverbindungen" von Richter
ist ein vorzügliches Werk. .Als ganz besonders brauchbar
möchte ich Ihnen aber das ,, Lehrbuch der organischen
Chemie" von Victor Meyer und Paul Jacobson in zwei Bänden
nennen. (Leipzig, 1893. Veit & Co.) Dieses Werk ist in
erster Linie zur Lektüre bestimmt. Es will den Leser durch
eine ausführliche Darlegung des heutigen Standes der organi-
schen Chemie mit dem bisher Erreichten vertraut machen und
ihn belähigen, der weiteren Entwicklung unserer Wissenschaft zu
folgen. Es hält sich von dem Lapidarstil der kürzeren Kom-
pendien fern, vermeidet die störende Beladung des Textes
mit Zahlen und legt auch (iewicht auf zuverlässige Literatur-
angaben. Ob nach dem Tode Victor Meyer's eine Neuauflage
besorgt worden, ist mir nicht bekannt. Dr. R. Lb.
Herrn E. K. in Reihersdorf — Ich habe eine große An-
zahl mikroskopischer Präparate aufbewahrt in einem Tropfen
Glycerin , einfach bedeckt mit dem Deckgläschen ohne das-
selbe ringsum mit Lack abzuschließen. Auch über 20 Jahre
alte Präparate haben sich so derartig gut erhalten, daß sie
nichts zu wünschen übrig lassen. Das ist die einfachste, nicht
zeitraubende Aufbewahrungsmethode, die sich für die meisten
Präparate bewährt, wenn es sich nicht gerade um Bakterien
oder sehr zarte, weiche tierische Objekte handelt. P.
Herrn Dr. P. G. in Riedlingen (Württemberg). — Zum
Studium der Entstehungsbedingungen von Varietäten nehmen
Sie de Vries , Mutationstheorie, in welchem Werk Sie auch
Auskünfte über Bastardierung finden (Bd. II betitelt sich
,, Elementare Bastardlehre" 1903, Leipzig, Veit & Co.). Im
übrigen sind zu benutzen C. Correns : Die Ergebnisse der
neuesten Bastardforschungen (Berichte der deutschen botanischen
Gesellschaft, Berlin 1901). Der Aufsatz: Die Mendel'schen
Regeln , ihre ursprüngliche Fassung und ihre modernen Er-
gänzungen (Biologisches Zentralblatt 1902) ist eine gute ein-
führende Darstellung.
Herrn R. in Friedenau. — Murray und Renard (Deep
Sea Deposits, Challenger Report) verstehen unter ,,Mud" die
terrigenen, schlammigen .Absätze der Tiefsee, d. h. diejenigen
Tiefseeablagerungen , welche ihr Material größtenteils vom
Lande beziehen. Sie unterscheiden einen blauen, roten, grünen,
vulkanischen und Korallen-, ,Mud". Der Gehalt an organischer
Substanz ist in allen ,,Muds" nach den vorliegenden Analysen
gering, aber beträchtlicher, als in den landfernen Tiefsee-
ablagerungen. Man übersetzt ,,Mud" wohl am besten mit
Schlick, da sich die Zusammensetzung, besonders die des am
meisten verbreiteten blauen ,,Muds" der des Schlicks unserer
Wattenmeere nähert. Unter ,,Ooze" verstehen die Engländer
die organogenen küstenfernen Tiefseebildungen(Pteropoden-,
Globigerinen-, Diatomeen-, Radiolarien-Ooze), man gebraucht
für ,,Ooze" wohl am besten die Bezeichnung Schlamm. Red
clay = roter Ton ist das anorganische Sediment der größten,
landfernen Tiefen. Privatdoz. Dr. E. Philippi.
Inhalt: L. Kny: Über die Einschaltung des Blattes in das Verzweigungssystem der Pflanze. — Dr. phil. Max Grüner:
Wanderungen durch Heide, Urwald und Moor. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Robert Ebert: Ein Beispiel hervor-
ragender tierischer Intelligenz. — Ernst H. L. Krause: Die Besonderheit der Flora zwischen Mainz und Ingelheim.
— E. Philippi: Über organische Ablagerungen am Grunde der Tiefsee. — K. Graff: Der veränderliche Stern
X-Aurigae. — Bücherbesprechungen: Prof. P. Bachmetjcw: Experimentelle entomologische Studien vom physika-
lisch-chemischen Standpunkte aus. — S. Levy's Anleitung zur Darstellung organisch-chemischer Präparate. — Lite-
ratur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-^A^est bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 20. März 1904.
Nr. 25.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Vufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstrafie 46, Buchhändlcrinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten.]
Riesen und Zwerge spielen in den Mythen,
Sagen und Märchen vieler Völker eine große
Rolle.') Zweifellos sind Riesen und Zwerge zu
allen Zeiten vorgekommen und haben die Auf-
merksamkeit der Zeitgenossen von gewöhnlichem
Wüchse erregt, wie auch heutzutage die Menge
sich drängt, um solche Naturwunder anzustaunen.
Wenn ihnen auch nicht die außerordentliche Größe
oder Kleinheit zukommt, wenn sie auch nicht die
übernatürlichen Eigenschaften besitzen, womit die
schöpferische Phantasie des Volkes und der Dichter
sie ausgestattet hat, so erregen sie dennoch all-
gemeines Interesse. Auch die moderne Wissen-
schaft hat sich mit ihnen vielfach beschäftigt.
Mythen und Sagen, Märchen und sonstige Dich-
tungen, die von Riesen und Zwergen handeln,
sind öfters der Gegenstand sprachwissenschaftlicher
und ethnographischer Untersuchungen geworden,
und die körperlichen und geistigen Eigenschaften
') Dieser Aufsatz ist der zweite Teil eines Vortrages
über Riesen und Zwerge. Sein erster Teil, der einen Über-
blick über die Riesen und Zwerge behandelnden Mythen,
Sagen und Märchen der verschiedenen Völker gab, ist hier
weggeblieben.
Riesen und Zwerge.
Von Professor I >r. Richard Zander.
zahlreicher Riesen und Zwerge sind neuerdings
von Ärzten und Naturforschern häufig studiert
worden.
W'ie die Naturwissenschaft die Riesen und
Zwerge auffaßt, was sie von ihren Eigenschaften
erkundet hat, wie sie ihre Entstehung erklärt, soll
Gegenstand dieser Mitteilung sein.
Riesen nennen wir Menschen, die ihre Mit-
menschen an Körpergröße sehr bedeutend über-
ragen. Zwerge sind Menschen, die sich durch
Auffallen erregende Kleinheit auszeichnen. Jeder
weiß, daß die Körpergröße der Menschen in sehr
weiten Grenzen schwankt; jeder kennt ungewöhn-
lich große und kleine Leute, die auffallen, doch
aber nicht als Riesen und Zwerge angesehen werden.
Die Frage, wie groß ein Mensch sein muß, um als
Riese zu gelten, wie groß, um die Bezeichnung
Zwerg zu verdienen, kann nicht ohne weiteres
beantwonet werden, weil das Durchschnittsmaß
der verschiedenen Völker sehr erhebliche Unter-
schiede zeigt. So sind z. B. die Patagonier im
Mittel 180 cm groß, die Nordamerikaner des
Westens 177, die Engländer 173, die Norddeutschen
168, die Südfranzosen 163, die Italiener 162, die
386
Naturwissenschaftliche VVochenschriit.
N. F. III. Nr. 2^
Lappländer 152, die sogenannten Zwergvölker
Afrikas') 130 — 140 cm. Eine Körpergröße, die
bei den Buschmännern, die zu den afrikanischen
Zwergvölkern gehören , schon riesenhaft wäre,
würde bei den Patagoniern und den Nordameri-
kanern des Westens es noch lange nicht sein.
Und umgekehrt würde eine Person, die in einem
großgewachsenen Volke zwerghaft erscheint, diesen
Eindruck in einem Volke von kleiner Statur nicht
machen. Den im allgemeinen kleinen Römern
erschienen die Germanen riesenhaft. Uns erscheinen
die Lappländer und die Buschmänner als Zwerg-
völker. Ferner ist zu berücksichtigen, daß Frauen
im Durchschnitt kleiner als Männer sind — bei
Deutschen und Engländern um 10 cm — , und
daß Frauen, die das gewöhnliche Männermaß über-
schreiten, darum stark auffallen.
Für die Feststellung der Grenzen des Riesen-
und Zwergwuchses ist demnach die mittlere Größe
des Volksstammes zugrunde zu legen. In Europa
erscheinen uns Leute von 190 cm und mehr Körper-
länge als „übergroß". Für Riesen erklären wir
aber erst Männer von über 200 cm Körpergröße.
Für Frauen rechnet man schon über 180 cm die
Riesengröße. Personen unter 140 cm Körperhöhe
erscheinen uns zwerghaft; als echte Zwerge pflegt
man nur solche Individuen zu bezeichnen, die
weniger als 105 cm (Bollinger) groß sind.
Nach Brissaud sind Riesen viel seltener als
Zwerge. Es ist natürlich nicht möglich festzustellen,
wie viel Riesen und Zwerge augenblicklich leben;
doch darf diese Behauptung als richtig angesehen
werden, weil in der organischen Natur ein Zurück-
bleiben der ganzen Organismen oder ihrer Teile
hinter der Norm \'iel häufiger vorkommt als das
I linauswachsen über dieselbe.
V. Luschan hat behauptet , daß unter
wirklichen Riesen weibliche sehr selten sind,
fand unter 41 Riesen nur 4 Frauen. Unter
Zwergen herrscht das umgekehrte Verhältnis:
den
Er
den
hier
stark
überwiegen die weiblichen Individuen sehr
über die männlichen.
Genaue Angaben über die Größe von Riesen
und Zwergen besitzen wir recht w^enige. Alle
Angaben, die nicht von Ärzten und Anthropologen
herstammen, müssen mit großer Vorsicht aufge-
faßt werden, weil sie in der Regel ganz unzuver-
lässig, oft absichtlich gefälscht sind. Besonders
gilt dies für jene Individuen, welche behufs ma-
terieller Ausbeutung zu öffentlichen Schaustellungen
benutzt werden. Es gelingt nicht immer, eine
wissenschaftliche, genaue Untersuchung derselben
vorzunehmen; die Untersucher sind, falls über-
haupt eine Untersuchung gestattet wird, meistens
genötigt, ihre Arbeit übereilt und ohne die nötigen
Vorsichtsmaßregeln auszuführen. Bisweilen ist ein
zweiter Untersucher glücklicher und vermag seine
Beobachtungen genauer anzustellen. So erklärt es
sich, daß über einzelne Riesen oder Zwerge ab-
weichende Angaben vorliegen. Weiterhin ist aber
') ^S'- "leinen Aufsatz über Zwergvölker in dieser Zeitschr.
auch ZU berücksichtigen, daf3 Untersuchungen, die
zu verschiedener Zeit ausgeführt wurden, darum
ein verschiedenes Ergebnis hatten, weil die Unter-
suchten inzwischen wirkliche Veränderungen der
Größe erfahren hatten, weil sie älter geworden
waren oder andere Beeinflussungen der Größe er-
litten hatten. Riesen werden kleiner, wenn ihr
Körper verkrümmt, was gar nichts Ungewöhnliches
ist. Zwerge werden größer, weil sie oft noch in
einem recht späten Alter zu wachsen beginnen.
Es ist wiederholt vorgekommen, daß das Alter
\'on zur Schau gestellten Zwergen zu hoch, von
Riesen zu niedrig angegeben wurde, um die Körper-
größe noch auffälliger erscheinen zu lassen, als
sie schon ist. Selbstverständlich ist es noch sehr
viel schwieriger, das Alter festzustellen als die
Körpergröße.
Die in den letzten Jahrzehnten von zuverlässigen
Beobachtern gemessenen Riesen hatten eine Körper-
größe bis 255 cm. V. Luschan hält den 238 cm
großen Russen Feodor Machnow für den größten
lebenden Riesen. Karl Langer erwähnt, daß
ein im Jahre 1553 angeblich „gerecht", d. h. natur-
getreu gemalter Bauer, dessen Bild im Schlosse
Ambras in Tyrol sich befindet, 270 cm groß war.
Der französische Anthropologe Topinard führt
unter den größten Riesen als den allergrößten
den Finnländer Cajanus mit 283 cm auf. Die vier
Riesinnen, von denen nach meiner Kenntnis das
Längenmaß festgestellt ist, maßen 204 bis 255 cm.
So bedeutend diese Größen auch sind, so er-
scheinen sie doch geringfügig im Vergleich mit
jenen, die die Mythen und Sagen, Märchen und
Dichtwerke schildern. Daß ehemals erheblich
größere Riesen existierten, ist nicht wahrscheinlich.
Jene Schilderungen kennzeichnen sich ohne weiteres
als Übertreibungen der dichtenden Phantasie.
Zwerghafte Personen kommen recht häufig vor.
Wirkliche Zwerge mit einer Größe unter 105 cm
sind dagegen immerhin eine Seltenheit. Eine
große Schwierigkeit bei der Beurteilung der Zwerg-
größe macht die Feststellung des Alters. Eine
große Anzahl der als Zwerge zur Schau gestellten
kleinen Wesen befindet sich noch im kindlichen
Alter und erfährt später noch eine mehr oder
minder erhebliche Größenzunahme. Die Größe
der Zwerge muß immer in bezug auf ilir Alter
beurteilt werden.
Der seinerzeit kleinste Mann der amerikanischen
Armee, der nach Gould eine Körpergröße von
nur 101,6 cm hatte, war 24 Jahre alt; seine Größe
entspricht der eines fünf- bis sechsjährigen Kindes.
Einer der birmesischen Zwerge, die in den Jahren
1896 bis 1899 in Berlin sich aufhielten, der 14jährige
Knabe Smaün, maß mit seinen 60 cm weniger
als ein halbjähriges Kind. Und der von Topi-
nard erwähnte 37jährige Zwerg von 43,3 cm
Körperlänge hatte eine geringere Größe als ein
neugeborenes Kind.
Zwerge von einer solchen Kleinheit, wie sie
in den Sagen und Märchen vorkommen, die nur
N. F. III. Nr. 2 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3Ö7
eine Spanne oder gar nur einen Daumen lang
waren, haben in der Wirklichkeit nicht existiert.
Nicht ohne Interesse ist die Geschichte des
Wachstums der Riesen und Zwerge.
Von mehreren Riesen ist bekannt, daß sie in
den Kinderjahren von normalem Wüchse waren.
Dann stellte sich in verschiedenem Alter das starke
Wachsen ein und hielt bei einzelnen bis zur Be-
endigung des Wachstums an, bei anderen wurde
es durch einen einmaligen oder öfteren Stillstand
unterbrochen. Daß die Riesen schon bei der
Geburt auffallig groß gewesen, habe ich nicht er-
wähnt gefunden. In einem Teil der Fälle voll-
zieht sich das Wachstum langsam, in einem anderen
sehr rasch, und solche schnell wachsenden Riesen
pflegen nur ein sehr kurzes Leben zu haben. Mehr-
fach ist bei Riesen eine nachträgliche Abnahme
der Größe infolge von Verkrümmungen der Wirbel-
.säule und der Beine beobachtet worden.
Zwerge werden meistens sehr klein geboren.
Einige wachsen dann abnorm langsam aber stetig
bis zu der Zeit, wo auch bei normalen Menschen
das Wachstum aufhört. Andere wachsen anfangs
ganz normal wie andere Kinder; dann tritt früh-
zeitig ein Stillstand im Wachstum ein, nicht immer
für den ganzen Körper, sondern nur für einzelne
Teile. Die Liliputaner, die in Deutschland längere
Zeit ihre Vorstellungen gaben, hörten nach den
Untersuchungen von Joachimsthal alle zwischen
dem 3. und 10. Jahre zu wachsen auf. Bei vielen
Zwergen tritt im vorgeschrittenen Alter, zu einer
Zeit, wenn bei normalen Menschen das Wachs-
tum längst beendet ist, von neuem ein bald stär-
keres, bald schwächeres Wachstum auf. Von dem
englischen Zwerg Jeffery Hudson, von dem man
erzählt, daß die Herzogin von Buckingham gegen
das Ende eines Gastmahles ihn in einer Pastete
der Königin Henriette Maria von Frankreich über-
reichen ließ, berichtet Geoffroi St. Hilaire,
daß er mit 18 Jahren 18 englische Zoll (54,90 cm)
hoch war und eine Reihe von Jahren in dieser
Größe verblieb, dann aber mit 30 Jahren plötzlich
zu wachsen angefangen und nach kurzer Zeit eine
Höhe von 45 englische Zoll ( 1 37,2 5 cm) erreicht habe.
Sind Riesen und Zwerge, abgesehen von der
charakteristischen Größe als normale Menschen
anzusehen?
Unter den Leuten, die eine riesenhafte Größe
besitzen, kommen zweifellos solche vor, die sonst
in jeder Beziehung völlig normal sind. Der größte
Soldat der Münchener Garnison im Jahre 1 897,
der mit 22 Jahren 209 cm maß, war wohl pro-
portioniert und breitbrustig. Er machte die großen
Kaisermanöver, die als außerordentlich anstrengend
gelten, mit, ohne je auszutreten oder krank zu
werden. Ein 209,5 cm großer Leutnant in dem
amerikanischen Heere, mit Namen Buskirk, war
nach dem Zeugnis seines Generals ein tapferer
Mann, der die Strapazen des Marsches so gut wie
die meisten Männer gewöhnlicher Größe ertrug.
Vier andere Riesen der amerikanischen Armee
(einer von 205,7, '^wei von 204,5 und einer von
von 203,2 cm Höhe) waren weniger leistungsfähig
als die Leute von mittlerer Größe. Namentlich
waren sie weniger ausdauernd im Marschieren und
standen häufiger auf der Krankenliste. Einer der bei-
den riesigen preußischen Gardisten, deren Skelette im
Berliner anatomischen Museum aufgehoben werden
(219,66 cm groß) erreichte ein Alter von 86 Jahren
und hielt sich noch im Greisenalter stramm auf-
recht, wie zur Zeit, da er als Flügelmann diente.
Einzelne Riesen zeichnen sich durch eine be-
sondere Körperkraft aus. Von Kaiser Maximinus,
dem Thracier, der über 250 cm groß gewesen sein
soll, wird berichtet, daß er einen in der Fahrt
begriffenen Wagen mit der Hand festhalten und
den Kiefer eines Pferdes mit einem Faustschlage
zerschmettern konnte. Von dem englischen Riesen
Tony Payne, der mit 21 Jahren 222,6 cm maß,
wird erzählt, daß er einen Esel samt seiner Last
auf der Schulter trug. Wilhelm Otte, der Riese
von Freiwaldau, der im Jahre 1887 von Buschan
gemessen wurde, und damals im Alter von 29 Jahren
214 cm groß war, konnte 100 Pfund mit den
Armen 3 mal geradeaus strecken, 1 50 Pfund 6 bis
7 mal in die Höhe strecken und mit 150 Pfund
tiefe Kniebeuge machen. Solche Fälle haben wohl
die dichtende Phantasie angeregt zu Erzählungen
von Riesen, die Berge aufeinander türmten, Felsen
zerrissen und gewaltige Felsblöcke weithin schleu-
derten. In der Regel aber sind die Riesen schwach,
so daß die Erzählung, daß am kaiserlichen Hofe
zu Wien Riesen durch Zwerge besiegt wurden,
nicht unglaubwürdig erscheint. Die Maße und
Leistungsfähigkeit der Muskeln halten nicht Schritt
mit dem Anwachsen der Höhe. Die Riesen ver-
brauchen ihre ganze Kraft, um den schweren Körper
zu tragen. Auch bei Riesen, die eine auffallende
Körperkraft besitzen, pflegt die körperliche Leistungs-
fähigkeit bald nachzulassen. Die Mehrzahl der Riesen
erscheint schwerfällig und ihre Glieder haben
etwas Schlotteriges.
Von einzelnen Riesen wird eine auffällige Ge-
fräßigkeiterwähnt. Kaiser Maximin soll oft 40 Pfund,
nach Cord US 60 Pfund Fleisch an einem Tage
verzehrt und mehr als einmal am Tage einen
kapitolinischen Krug, der fast 26 Liter enthielt,
geleert haben. Hasler aus Gemund am Tegernsee,
der nach dem Bericht v. B u h 1' s bis zum 9. Lebens-
jahre sich normal entwickelte, dann aber unge-
heuerlich zu wachsen begann und mit 25 Jahren
eine Länge von 235 cm erreichte, aß während des
starken Wachstums sehr viel, vorzugsweise Butter
und anderes Fett. Auch Marie Emme Bataillard aus
Villeserine im Departement du Jura, die im Alter von
1 5 7j Jahren 217cm groß war, soll ein sehr großes
Nahrungsbedürfnis gehabt haben. Die Gefräßigkeit
der Riesen spielt in Sagen und Märchen eine sehr
große Rolle. Polyphem verschlang sechs Genossen
des Odysseus, und Gargantua, dem, wie dem heiligen
Christoph schon zehn Ammen gegeben werden
mußten, trank, sich niederbeugend, einen ganzen
Pluß aus.
Sehr oft zeigen die Riesen ein wirklich patho-
388
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 25
logisches, krankhaftes Verhalten und gehen früh-
zeitig zugrunde. Die Knochen der Riesen sind
häufig sehr brüchig, teilweise verdickt, verbogen,
mißgestaltet. Verkrümmungen der Wirbelsäule,
der Kniee (Genu valgum) werden oft erwähnt.
Bei vielen Riesen sind Verdickungen und un-
förmige Vergrößerungen der Endteile der Glied-
maßen, an den Händen und Füßen, bisweilen auch
an den Unterarmen und Unterschenkeln, ferner an
dem Unterkiefer, der weit vorspringt, beobachtet
worden. Neben der Knochenverdickung findet
sich bisweilen auch eine Schwellung der Haut
an diesen Teilen. Die Nase erscheint plump, ver-
dickt und verlängert. Die Lippen sind wulstig,
gewöhnlich ist auch die Zunge veigrößert. Diese
Erscheinungen hat Pierre Marie in Paris im
Jahre 1886 als eine besondere Krankheit bei Leuten
gewöhnlicher Größe erkannt und als Akromegalie
beschrieben. In neuester Zeit mehren sich die
Nachrichten, daß die Akromegalie bei Riesen auf-
tritt, nachdem das Größenwachstum ein Ende ge-
funden. Nach Brissaud findet sich dies in der
Hälfte der Fälle, nach Hutchinson in 40 bis
60%. Durch dieses Leiden werden sehr auf-
fällige Entstellungen hervorgerufen, die so charakte-
ristisch sind, daß v. L u s c h a n die damit be-
hafteten Riesen von den anderen Riesen trennt.
Wenn man von den gelegentlich vorkommenden
Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Beine
absieht, erscheinen die Riesen im allgemeinen pro-
portioniert gebaut. Langer hat darauf hinge-
wiesen, daß der Kopf der Riesen, so groß er auch
absolut ist, doch relativ klein ist. Das Körper-
maß des Riesen setzt sich erst aus 9,7 Kopflängen
zusammen, das von Normalgroßen aus 7 bis 7,5.
Im übrigen zeigt der Riesenwuchs im wesent-
lichen dieselben Proportionen wie der Normalwuchs,
dasselbe Verhältnis zwischen Ober- und Unter-
körper, zwischen Stamm und Gliedmaßen. Auch
beim Riesenwuchs lassen sich schlanke und unter-
setzte Formen unterscheiden. Die hochgewachsenen
Personen, die zwischen dem Normal- und Riesen-
wuchs stehen, wie die „langen Leute" der Garde,
sind unproportioniert gebaut : der Rumpf ist meist
schmal und schlank, die Beine sind zu lang.
Ebenso wie unter den Riesen kommen unter
den Zwergen Individuen vor, die in jeder Hin-
sicht normal sind. Ein nur 101,6 cm hoher vier-
undzwanzigjähriger Soldat in dem nordamerikani-
schen Heere wurde nach der Versicherung seines
Oberst in Ertragung der Strapazen von keinem
Soldaten übertroffen. In der Regel sind aber
Zwerge schwächlich und ihre Muskelkraft ist sehr
gering. Auch sind sie wenig widerstandsfähig
gegen äußere Einflüsse. Nur ausnahmsweise er-
freuen sie sich einer guten Gesundheit und er-
reichen ein höheres Alter. Meistens altern sie
sehr frühzeitig, und dieses alte Aussehen gab wohl
die Veranlassung dazu, daß die Sagen und Märchen
die Zwerge so häufig als uralte Männchen mit
eisgrauen Barten dargestellt haben. Es ist durchaus
berechtigt, die schwächlichen echten Zwerge im
Gegensatz zu den durch ihre geringe Körperhöhe
ausgezeichneten, durchaus kräftigen Rassenzwergen
oder Pygmäen als Kümmerzwerge zu bezeichnen.
Interessant ist, daß Zwerge, geradeso wie kleine
Tiere, verhältnismäßig viel mehr Nahrung ge-
brauchen als Normalgroße. Ranke's und Voit's
Versuche an dem sog. General Mite, einem 19 Jahre
alten 80,7 cm großen Zwerg aus New York mit
Namen Francis G. Flym ergaben, daß die vier-
undzwanzigstündige Nahrungsaufnahme von 414 g
mit 135 g festen {Bestandteilen, so gering sie auch
ist, doch die eines normalen Mannes, auf gleiches
Körpergewicht berechnet, erheblich übertrifft.
Während ein Arbeiter pro i kg Körpergewicht
1,7 g Eiweiß und 8,9 g stickstofTfreie Substanzen
verbrauchte, verbrauchte General Mite 2,9 g Ei-
weiß und 20,7 g stickstoftfreie Substanzen und ein
Kind von entsprechender Größe wie der Zwerg
verbrauchte 4 g Eiweiß und 14,9 g stickstofffreie
Substanzen. Die durch diese Stoffe gelieferten
Wärmeeinheiten betrugen beim Arbeiter 47, beim
Kinde 64, beim Zwerg 104.
Wie bei den Riesen finden sich auch bei den
Zwergen sehr häufig deutliche Veränderungen an
den Knochen. Diese zeigen trotz ihrer kinder-
artigen Kleinheit mächtig entwickelte Muskelleisten
und -höcker in großer Anzahl, durch die die Ober-
fläche sehr charakteristisch gestaltet wird. Mittels
der Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen fand
J o a c h i m s t h a 1 die Knorpelfugen in den Knochen,
die bei normalen Menschen nur in der Jugend vor-
kommen und als Wachstumsstellen der Knochen
von größter Bedeutung sind, bei 6 unter 8 Zwergen
noch erhalten in einem Alter, wo sie bei nor-
malen Menschen längst verschwunden sind. Diese
Knorpclfugen sind von anderen F"orschern an den
Skeletten von Zwergen gesehen worden, die ein
Alter von 39, bzw. 49 und 61 Jahren erreicht
hatten. Aus dieser Tatsache erklärt es sich, daß
Zwerge gelegentlich in Jahren, in denen normaler-
weise das Wachstum längst beendet ist, von
neuem zu wachsen beginnen.
Ein großer Teil der Zwerge hat verbogene
oder verkrümmte Gliedmaßen, zeigt Rückgratver-
krümmungen und Mißstaltungen des Brustkorbes,
kurz, ist mehr oder weniger hochgradig verkrüppelt.
Während in der Regel der Kopf der Zwerge
im Verhältnis zum übrigen Körper zu groß er-
scheint, kommen recht selten Zwerge vor, die
durch eine geringe Größe des Kopfes ausgezeichnet
sind. Virchow hat diese Fälle als Nanocephalie
bezeichnet. Sie bilden den Übergang zur Mikro-
cephalie, der krankhaften Kleinheit des Hirnschädels,
die in der Regel ebenfalls mit abnormer Kleinheit
des ganzen Körpers verbunden ist, und wegen
der geringen Größe des Hirnschädels und des
mangelhaft ausgebildeten Großhirns Blödsinn im
Gefolge hat.
Es zeigen die Zwerge also eine sehr verschiedene
Gestalt: Ein Teil von ihnen ist hochgradig ver-
krüppelt. Andere zeigen gnomenhafte, schlecht
proportionierte Formen : während Kopf und Rumpf
N. I'. III. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
389
naheicu oder ganz normal entwickelt sind, sind die
Beine verkrümmt, oder sowohl die Beine als auch
die Arme sind außerordentlich kurz, was man als
Mikromelie bezeichnet. Szombathy bezeichnet
diese Art des Zwergwuchses als gnomenhaften
Niedervvuciis, Birkner als partiellen Zwergwuchs.
Eine dritte Art von Zwergen ist dadurch ausge-
zeichnet, daß ihr Körper wohl proportioniert ist.
Bei ihnen ist freilich der Kopf verhältnismäßig zu
groß, wenn man einen Vergleich mit normalen
Erwachsenen anstellt. Während beim normalen
Erwachsenen die Körperhöhe 7 bis 7,5 mal so
groß als die Kopfhöhe ist, hat Ouetelet bei
einer 33 jährigen 91,8 cm großen Zwergin sie
5,9 mal so groß gefunden. So erklärt es sich,
daß die gut proportionierten Zwerge einen kind-
lichen Habitus haben. Sie sehen nicht wie ver-
kleinerte Erwachsene, sondern wie Kinder aus.
Diese Art des Zwergwuchses bezeichnet Szom-
bathy als echte Zwerghaftigkeit oder totalen
Kleinwuchs, Birkner als totalen Zwergwuchs.
Wie der Riesen- und Zwergwuchs zustande
kommen, ist nur zum Teil aufgeklärt. Sicherlich
handelt es sich in den ausgesprochenen Fällen
beider um krankhafte Vorgänge.
Beim Riesenwuchs handelt es sich um ein
übermäßiges Wachstum des ganzen Körpers, dessen
Ursache ganz dunkel ist. Vorher wurde erwähnt,
daß ein großer Teil der Riesen nach Beendigung
des Wachstums an Akromegalie erkrankt. Während
ein Teil der Arzte annimmt, daß Riesenwuchs
und Akromegalie ganz verschiedenartige patho-
logische Zustände sind, die nur häufig bei dem-
selben Individuum vorkommen, ist von anderen
in neuerer Zeit die Meinung ausgesprochen worden,
daß Riesenwuchs und Akromegalie dieselbe Krank-
heit sind, oder wenigstens die gleiche Ursache
haben. Diese Ursache erzeugt nach der Ansicht
von E. Brissaud und Henry Meige, wenn sie
ein im Wachstum begriffenes Individuum betrifft,
Riesenwuchs, bei einer Person, die bereits ausge-
wachsen ist , aber Akromegalie. Die Krankheit
kann zum Stillstand kommen. Geschieht dies
jedoch nicht, so wird an den Riesenwuchs beim
Abschluß des Wachstums sich die Akromegalie
anschließen. Bei der Sektion von Personen, die
an Akromegalie zugrunde gegangen waren, hat
man fast immer eine Verkümmerung der Schild-
drüse, in mehreren Fällen auch eine Wucherung
der Hypophysis, des Hirnanhanges, gefunden und
die P'olgerung gezogen, daß die Erkrankung dieser
beiden Organe die Akromegalie verschuldet hat.
Dana hat bei 12 Sektionen von Riesen diese
Wucherung des Hirnanhanges gefunden. Es ist
darum nicht unmöglich, daß die Erkrankung dieses
Organs die Ursache für das abnorme riesenhafte
oder akromegalische Wachstum ist. Ob diese
Vermutung sich bestätigen wird, muß abgewartet
werden.
Zwergwuchs kann als F'olge der Rachitis oder
englischen Krankheit, die in der frühesten Jugend
auftritt, entstehen. Der rachitische Zwergwuchs
kennzeichnet sich durch charakteristische Difformi-
täten der Knochen , vor allem durch die Ver-
krümmungen der Beine. Die rachitischen Zwerge
sind gewöhnlich nicht besonders klein. Ein großer
Teil der auffallend kleinen, aber doch mehr als
105 cm messenden Personen verdankt der Rachitis
die geringe Größe. Ein ganz anderes Resultat liefert
eine Krankheit, die schon vor der Geburt sich
abspielt, die fötale Rachitis oder Chondrodystro-
phia foetalis oder Achondroplasie. Der Zwerg-
wuchs, der auf dieses Leiden zurückzuführen ist,
ist dadurch gekennzeichnet, daß im Verhältnis zu
dem Kopf und Rumpf die Gliedmaßen stark ver-
kürzt sind. Als Ursache des Zwergwuchses ist
ferner die pathologische Kleinheit des Kopfes, die
mit Blödsinn verbundene Mikrocephalie anzusehen.
Auch bei Cretinismus, einer in manchen Gegenden
epidemisch vorkommenden Krankheit, die auf eine
abnorme Funktion der Schilddrüse zurückgeführt
wird, kommt Zwergwuchs vor. Wenn die Schild-
drüse operativ völlig entfernt wird, oder wenn sie
durch Krankheit zugrunde geht und nun ihre
Tätigkeit ganz ausfällt, so stellen sich sehr merk-
würdige Krankheitserscheinungen ein, die man als
Myxödem bezeichnet hat. Manche Zwerge zeigen
diese Erscheinungen sehr deutlich, und man nimmt
an, daß der Zwergwuchs eine Folge dieser Krank-
heit und des Ausfalles der Schilddrüsentätigkeit
sei. Für einen großen Teil der Zwerge, und ge-
rade für diejenigen, welche wegen ihres gut pro-
portionierten Baues als echte Zwerge bezeichnet
werden, ist festgestellt worden, daß die Knorpel-
fugen, in denen das Knochenwachstum stattfindet,
oft bis ins hohe Alter hinein weich bleiben. Warum
dies aber geschieht, wissen wir nicht.
Verletzungen des Kopfes sind für manche
Fälle von Riesenwuchs, aber auch von Zwerg-
wuchs als Ursache angegeben, indes steht diese
Behauptung auf sehr schwachen Füßen.
Ganz ausgeschlossen ist, daß die Vererbung,
die für die meisten körperlichen und geistigen
Eigenschaften von so großer Bedeutung ist, bei
dem Riesen- und Zwergwuchs eine Rolle spielt.
Riesen und Zwerge stammen von normal großen
Menschen ab. In der Regel sind auch ihre etwaigen
Geschwister von gewöhnlicher Größe. Doch
sind hiervon nicht wenige Ausnahmen bekannt.
So waren von den 1 1 Geschwistern des sogenannten
Vogelkopfmenschen Dobos Janos, der mit 22 Jahren
114,5 cm maß und wohlproportioniert war, drei
Zwerge. Die französische Riesin Marie Emme
Bataillard, die Tochter eines Holzhauers, hatte
14 Geschwister, von denen 13 normale Größe
hatten , eine zwanzigjährige Schwester aber nur
3' 2", also etwa 105 cm, maß. Vor allem aber
spricht gegen den Einfluß der Erblichkeit die Tat-
sache, daß Riesen und Zwerge nicht fortpflanzungs-
fähig sind. Freilich erwähnte Lucas Cham-
ponniere in der Academie de medecine zu
Paris im Mai 1899 bei Vorstellung eines sieben-
undzwanzigjährigen 203 cm großen Mannes, daß
dessen 223 cm großer Vater nicht weniger
390
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. 111. Nr. 25
als 12 Kinder hatte. Doch ist dieser Fall sicher
nur eine Ausnahme. Bekannt ist, daß Katharina
von Medici, die Gemahlin des Kurfürsten Joachim
Friedrich von Brandenburg, und Peter der Große
Zwerghochzeiten veranstalteten. Indes hat man
von Nachkommen dieser Zwerge niemals etwas
zu hören bekommen. Handelt es sich aber nicht
um echten Zwergwuchs, sondern bloß um abnorm
kleine Personen, so fehlt diesen keineswegs immer
die Fortpflanzungsfähigkeit.
Noch weniger sicher als über die körperlicJien
Eigenschaften der Riesen und Zwerge sind unsere
Kenntnisse über ihre geistigen und Charakter-
eigenschaften.
Von einzelnen Riesen wird als etwas Besonderes
angeführt, daß ihre geistigen Eigenschaften gut
entwickelt waren. So erwähnt Bollinger, daß
der 37 Jahre alte 230 cm große Riese I)rasal vier
Sprachen sprechen konnte, und von dem englischen
Riesen Albert Brough wird erzählt, daß er als
liebenswürdiger Erzähler in Gesellschaften gern
gesehen war. Im allgemeinen aber erweisen sich
die Riesen geistig ebenso minderwertig als körper-
lich. Die Kleinheit des Hirnvolumens bedingt
Energielosigkeit und geringfügige geistige Fähig-
keiten, die oft unter das Normale heruntergehen.
Auch in der Volkssage werden von den Riesen
nur magere und einförmige Geschichten erzählt.
Unter den Zwergen sind die Mikrocephalen
und Cretins blödsinnig; die anderen Formen haben
meistens ein gut entwickeltes Gehirn. Dem ent-
sprechend haben die Zwerge meistens ein im all-
gemeinen normales geistiges Verhalten, nament-
lich werden bei ihnen oft rasche Auffassungsgabe
und Mutterwitz beobachtet. Darum wurden sie
auch früher soviel an den Fürstenhöfen zur Unter-
haltung gehalten. Wenn man den Zwergen Nei-
gung zum Zorn, Bosheit und Eifersucht nach-
erzählt, so darf man sich nicht wundern, daß solche
übele Eigenschaften bei Leuten entstehen, die von
Jugend auf immer angestaunt, verhöhnt und ver-
spottet wurden.
Während die Riesen in den Sagen und Mär-
chen im allgemeinen als dumm geschildert werden,
erscheinen die Zwerge meistens als klug und zu
allerlei Verrichtung geschickt, bald sind sie den
Menschen freundlich gesonnen, bald necken sie
dieselben, sind ihnen feindselig und voller Tücke.
Nach allem, was bisher über Riesen und Zwerge
festgestellt werden konnte, sind sie anormale Wesen,
denen die Vorzüge, mit denen die dichtende Phan-
tasie sie ausgestattet hat, nicht eigen sind, die
vielmehr fast ausnahmslos in körperlicher und
geistiger Hinsicht minderwertig sind.
Das Ansehen der Zwerge bei ihren Mitmenschen
war von jeher gering. Die Riesen dagegen haben
immer imponiert , weil man annahm , daß die
Leistungsfähigkeit der Körperlänge entspräche. So
erklärt es sich, daß Friedrich Wilhelm I. ein Regi-
ment von Riesen zusammenstellte und durch ent-
sprechende Frauen, die er ihnen zuführte, ein
Riesengeschlecht zu züchten versuchte. Vor eini-
gen Jahren hat ein sonderbarer Menschenfreund
der Stadt Ronen ein Legat von 2 Millionen Francs
vermacht mit der Bestimmung, jedes Jahr ein
Ehepaar von Riesen mit 100 000 Francs zu prä-
miieren. Er wollte so die französische Nation ver-
bessern. Durch die Feststellung der Minderwertig-
keit der Riesen in körperlicher und geistiger Hin-
sicht ist jeder Versuch , ein Riesengeschlecht zu
erzeugen, verurteilt.
Die immerhin noch recht spärlichen Unter-
suchungen über die Riesen und die Zwerge lehren,
daß alles, was für sie charakteristisch und ihnen
eigentümlich ist, sich in Mythe und Sage wieder-
findet, wenn auch ausgeschmückt und übertrieben.
Das deutet darauf hin , daß das , was Sage und
Mythe künden, nicht alles allein der dichtenden
Phantasie entsprang, sondern eine reale Grundlage
hat.
Kleinere Mitteilungen.
Die Wurmkrankheit. — Im Jahre 1880 zeig-
ten sich bei Arbeitern, die beim Bau des St. Gott-
hardtunnels beschäftigt waren , Krankheitserschei-
nungen , die sich in Blutarmut und Verdauungs-
störungen äußerten. Bei der Untersuchung der Fäces
der an der sogenannten „Tunnelkrankheit" leidenden
Arbeiter erkannte man dann , daß es sich um
schwere Fälle der Wurmkrankheit handelte. Auch
neuerdings ist die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
durch die Verhandlungen im Deutschen Reichstag
auf diese eigenartige Krankheit gelenkt worden.
Eine große Zahl von ,, Würmern" im weiteren
Sinne leben bekanntlich als Parasiten im Darm-
kanal und in anderen Organen der meisten Tiere
und auch des Menschen. Ich erinnere hier nur
an die Bandwürmer (Cestodes) , die Leberegel
(Trematodes) und andere. Speziell aus der Gruppe
der Nematoden oder Fadenwürmer gehören zu den
bekanntesten Parasiten des Menschen der Spul-
wurm (Ascaris), der Spring- oder Madenwurm
(Oxyuris), die Trichine und schließlich derjenige
Parasit, welcher die Ursache der Wurmkrankheit
ist : Ankylostoma duodenale. Die systematische
Stellung von Ankylostoma, zu den Strongyliden
gehörig, ist aus der folgenden tfbersicht zu er-
kennen.
Kotatoria — Rädertiere
Vermalia
Rund
Anguillulidcn
Ascariden
Strongyliden
Trichotracheüdcn
Filariden.
Strongylaria
Würmer
Prosopygia — Buscliwürmer
Frontonia — Rüsselwürmer
Entdeckt wurde dieser Wurm im Jahre 1838
in Italien von Dr. Dubini. Wegen seiner geringen
Größe war der Parasit jedenfalls früher übersehen
worden. Denn bald nach seiner Entdeckung wurde
er auch an anderen Orten ziemlich häufig als
N. F. III. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39 1
Parasit des menschlichen Darmkanals gefunden.
Sicher nachgewiesen wurde er z. B. in Ägypten
1847, in Wien 1872, bei Arbeitern des Gotthard-
tunnels 1880, in Ungarn 1881. Interessant ist es
auch, daß die Krankheit schon den alten Ägyptern
bekannt war; der Wurm, der sie verursachte, hieß
heltu. Überhaupt ist die Wurmkrankheit in Ägypten
sehr verbreitet. Nach Looß mußten 1892 in
Oberägypten 3,3 ",„, in Unterägypten 6,2"/,, und
an einem Orte sogar 1 3,9 % der Gestellungs-
pflichtigen wegen der durch lAnkylostoma verur-
sachten Blutarmut zurückgewiesen werden.
In Deutschland ist die Wurmkrankheit in den
letzten 20 Jahren des öfteren beobachtet worden
und zwar stets an solchen Orten, wo sich die für
Fig. I. Eier von Ankylostoma in vcrscliiuilcncn Furcliungs-
stadicn.' (Nach W. SchulthcÜ.)
Fig.
Kopf von .'Vnkylosloma, 9, vom Rücken her gesehen.
(Nach W. Schultheß.J
fälle und der menschlichen Fäkalien. Der dritte
zur günstigen Entwicklung notwendige Faktor ist
schließlich die feuchte Wärme in allen diesen unter-
irdischen Betrieben. Das Zusammenwirken aller
drei Umstände erschwert die Beseitigung des schäd-
lichen Parasiten so sehr.
Untersucht man die Fäkalien eines an der
Wurmkrankheit leidenden Menschen mit dem Mikro-
skop, so sieht man in den meisten Fällen keine
ausgebildeten Würmer, sondern nur die Eier der-
selben in verschiedenen P'urchungsstadien, Fig. i.
Fig. 3. Männchen (oben)
und^Wcibchen von Ankylo-
stoma in nat. Größe. (Nach
W. Schultheü.)
-d.
Fig. 5. Schema von Ankylo-
stoma 9. (Nach W. Schult-
hcß.) a Mundkapsel, b Oeso-
phagus, c Darm, d Vaginal-
schenkel, e Eiröhren.
die Entwicklung des Wurmes und für die Ver-
breitung der Krankheit notwendigen Bedingungen
finden. Meist ist er bei uns durch italienische
Arbeiter, die bei Tunnelbauten, in Ziegeleien
und in Bergwerken beschäftigt waren, einge-
schleppt worden. Betrachten wir einmal die
Verhältnisse, unter denen die Arbeiter in diesen
Betrieben leben. Das Arbeiten im Bergwerk ist
ein beständiges Kämpfen gegen das Wasser; in
den Ziegeleien, bei den Tunnelbauten, überall ist
Wasser in reichlicher Menge vorhanden. Und
P'euchtigkeit ist der wichtigste Faktor für die Ent-
wicklung dieses Parasiten. Dazu kommt die Un-
sauberkeit, die ungenügende Beseitigung der Ab-
Haben nun die Eier den menschlichen Darm mit
den Exkrementen verlassen und treffen sie die
für ihre weitere Entwicklung günstigen Bedingungen
an, d. h. schmutziges Wasser und eine Temperatur
von 20—25'' C, so entwickeln sie sich in wenigen
Tagen zu einer kleinen, winzigen, o,2i mm langen,
beweglichen Larve. Diese macht mehrere Häutungen
durch und wächst schnell heran (bis zu einer Länge
von 0,5 — 0,6 mm); alsdann ist sie auch gegen
reines Wasser sowie gegen einen gewissen Grad
von Trockenheit nicht mehr allzu empfindlich.
Werden nun solche Larven mit dem Trinkwasser
oder durch Berührung des Mundes mit den erde-
beschmutzten Händen in das Innere des Menschen
j92
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 25
aufgenommen, so machen sie, wie Looß durch
Infektion von Hunden und Katzen festgestellt hat,
eine Art Metamorphose durch. Sie gelangen durch
den Magen in den Darm, nehmen aber zunächst
wenig an Größe zu.
Am siebenten Tage tritt
Fig. 4. Miiiinclicn von Ankylostoma duodenale. 50 mal ver-
größert. (Nach W. Schultheß.) a Mundkapsel, b Oesophagus,
c Darm, d Halsdrüsen, e Hodcnkanal, f Vesicula seminalis,
g Ductus ejacvdatorius, h Haut, i Muskelschicht, k Penis, 1 Anal-
drüscn, m Bursa.
nochmals eine Häutung ein, und dadurch erhalten
die Tiere die eigentümliche, unten näher zu be-
schreibende Mundkapsel. Dann nehmen sie auch
an Größe zu und nach 4 — 5 Wochen sind sie ge-
schlechtsreif.
Zur Anheftung an den Wänden der Darm-
schleimhaut sind diese Würmer, wie schon er-
wähnt, mit einem wirksamen Haftapparat ver-
sehen. In der Mundhöhle stehen auf der Bauch-
seite vier hakenförmige, nach hinten gerichtete,
auf der Rückenseite zwei nach vorn gerichtete
Zähne, Fig. 2. Außerdem findet sich im Grunde
der Mundhöhle ein nach vorn gerichteter Zahn
und zwei blattartige Chitinlamellen. Das ent-
wickelte Männchen ist 8 — lo mm lang und 0,4
bis 0,5 mm breit. Das Weibchen ist etwas größer,
12 — 18 mm lang, Fig. 3. Den feineren inneren
Bau des Männchens von Ankylostoma duodenale
zeigt F"ig. 4. Auf die mit den Haftzähnen be-
wehrte Mundkapsel (a) folgt der Schlund (b), der
in den Darm mündet (c). Im vorderen Teil des
Körpers liegen zu beiden Seiten des Darmes die
zwei Halsdrüsen (d), die jedenfalls eine sekretorische
Funktion haben. Dann folgen die Geschlechts-
organe (e, f, g). Recht kompliziert ist das Schwanz-
ende des Männchens gebaut. Um nämlich das
Weibchen bei der Begattung festzuhalten, ist das
hintere Ende des Männchens mit einem Klammer-
organ, der sogenannten Bursa versehen (m). Die
langen Geißeln am Hinterende des Körpers
sind die äußeren Geschlechtsorgane des Männ-
chens (k). Den Bau des Weibchens, besonders
die Verteilung und Ausmündung der Eiröhren
zeigt im Schema Fig. 5 (auf S. 391).
Der ganze Bau dieser Würmer ist eine An-
passung an ihre Lebensweise als Darmparasiten.
Mit den Zähnen und Haken der Mundkapsel heften
sie sich an die Darmwand ihres Wirtes an und
saugen Blut. Besonders schädlich werden sie in
dieser Beziehung dadurch, daß sie ihren Anheftungs-
punkt öfters wechseln und dann Nachblutungen
der Wunden veranlassen. Dazu kommt, dafS natür-
lich die Funktion des Darmes als Verdauungs-
organ durch diese Verletzungen wesentlich zu Un-
gunsten des Patienten beeinflußt wird. Vielleicht
kommen dazu noch Giftwirkungen von selten des
Parasiten, so daß die Wurmkrankheit bei längerer
Dauer und bei starker Ansammlung der Schäd-
linge im Duodenum nicht ohne Gefahr für das
Leben der davon befallenen Patienten ist. Neuer-
dings will Looß (1901) gefunden haben, daß die
Infektion des Menschen nicht nur durch den Mund,
sondern auch durch die Haut stattfinden kann.
Bringt man einen Tropfen Wasser, in dem Larven
von Ankylostoma enthalten sind, auf die Haut-
oberfläche, so dringen dieselben durch die Haar-
bälge in die Lederhaut ein und finden von da
den Weg in das Innere des Darmes. Doch ist
diese Annahme noch nicht ganz sicher bewiesen.
Die Krankheitssymptome bei leichteren Fällen
von Wurmkrankheit werden als ägyptische Bleich-
sucht (Chlorosis aegyptiaca) bezeichnet. Die Ab-
N. F. 111. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
393
treibiing der Würmer erfolgt durch die bekannten
Wurmmittel (Extract. fil. mar.), die auch bei der
Wurmkrankheit mit PIrfolg angewendet werden.
Das energischste Mittel jedoch, um das weitere
Umsichgreifen dieser Krankheit in Deutschland zu
verhindern, ist: größte Sauberkeit und genügende
Beseitigung der menschlichen Exkremente in allen
unterirdischen Betrieben. Nur durch die Ver-
nachlässigung dieser Maßregeln ist ein solches An-
wachsen der Wurmkrankheit, wie wir es z. B. in
den Ruhrgebieten und in Oberschlesiens Kohlen-
distrikten erlebt haben, zu erklären.
Anmerkung. Zur weiteren Orientierung seien .lus der
reicblialtigen Literatur erwähnt:
Wilhelm Schultheß, Beiträge zur Anatomie von .\nkylos-
toma duodenale (Rubini) in : Zeitschrift f. wiss. Zoologie.
XXXVII. 1882.
Braun, Die Parasiten des Menschen. Neueste .\uf läge. 1903.
H. Goldmann, Die Hygiene des Bergmannes, seine Berufs-
krankheiten , erste Hilfeleistung und die Wurmkrankheit
(Ankylostomiasis). Halle 1903.
Ernst Röhler.
Der Zustand des Eisens im Erdinnern. —
Bekanntlich wird daraus, daß das spezifische Ge-
wicht des Erdganzen etwa doppelt so groß ist
als das der äußeren Erdrinde, geschlossen, daß
das Erdinnere hauptsächlich aus Schwermetallen,
insbesondere Eisen, besteht. Auf den Zustand, in
welchem sich letzteres da befinden müßte, hat
G. Tammann ein interessantes Streiflicht fallen
lassen in einer Diskussion „über den Einfluß des
Druckes auf die Umwandlungstemperaturen des
Eisens", die er in der Zeitschr. f. anorgan. Chemie,
Band 37, veröffentlicht hat.
Von dem Eisen nimmt man jetzt 3 allotropi-
sche Zustände an. Bei Erhitzung des reinen
Eisens absorbiert dieses bei 770" eine erhebliche
Wärmemenge, ohne sein Volumen merklich zu
ändern und verliert die Fähigkeit, sich magneti-
sieren zu lassen, fast vollständig; das bei gewöhn-
licher Temperatur beständige «-Eisen wandelt sich
also in /S-Eisen um. Bei weiterer Temperatur-
steigerung absorbiert das /:?-Eisen bei 890*' noch-
mals Wärme, dieses Mal jedoch unter nicht uner-
heblicher Volumenminderung, indem es sich in
das bis zum Schmelzpunkte beständige y-Eisen
umwandelt. Diese Umwandlungen sind reversibel,
sie treten bei der Abkühlung im entgegengesetzten
Sinne wieder ein und wird also bei dem Über-
gänge von y-Eisen in /i- oder «-Eisen infolge der
Abkühlung eine Volumenvermehrung stattfinden.
Die Temperatur der Umwandlung wird durch
steigenden Druck sowie durch Zusatz anderer
Elemente, so insbesondere von Kohlenstoff oder
Nickel u. a. , erniedrigt (vom Nickel wurde über-
dies ermittelt, daß sich durch Zusatz von bis zu
30 "/„ Nickel der Umwandlungspunkt und hiermit
der Verlust der Magnetisierbarkeit unter deutlicher
Verkürzung bis auf Zimmertemperatur erniedrigen
lasse, diese Umwandlung jedoch nicht bei gleicher
Temperatur reversibel ist, sondern bei der Ab-
kühlung die Verlängerung zusammen mit der
Wiederkehr der Magnetisierbarkeit erst bei einer
bis um 400" niedrigeren Temperatur eintritt; wo-
gegen Zusätze von 40 bis 100 % Nickel zur Folge
haben, daß der wiederum reversibele Verlust der
Magnetisierbarkeit ohne merkliche X'olumenände-
rung erfolgt). Infolge dieser Abhängigkeit vom
Druck und von Beimengungen wird sich das
Eisen in der Erde schon in nicht erheblicher Tiefe
im y-Zustande befinden. Das in Tiefen über ^/j^,,,
Erdradius (bei über 16000 kg Druck und über
600'' Temperatur) in der Erde vorkommende
Eisen, welches wohl nickel- und kohlenstoffhaltig
ist, könnte sich nur im y-Zustande befinden, in
dem es nur schwach magnetisierbar ist. Bei sin-
kender Temperatur der Erde würde dann das
Eisen unter Volumenvergrößerung in den stärker
magnetisierbaren Zustand übergehen. O. L.
Elektrische Entladungen in der Luft. —
In einer Arbeit, die in der letzten Versamm-
lung der „Association fran<;aise pour l'avancement
des Sciences" zu Angers vorgetragen und in Nr. 50
von l'Eclairage Electrique im Auszuge wieder-
gegeben ist, beschreibt Prof. de Kowalski die
Versuche, die er gemeinsam mit Herrn Moscicki
über die chemische Wirkung von Hochfrequenz-
Entladungen in Gasgemischen ausgeführt hat. Bei
einer gewissen Frequenz nimmt, wie der Verfasser
feststellt, die Entladung in einem gasförmigen
Mittel einen eigenartigen Charakter an , der im
übrigen noch von der aufgewandten elektrischen
Energie abhängig ist. Die chemischen Wirkungen
sind bei einer derartigen Entladung von großer
Wichtigkeit für praktische Anwendungen ; es bilden
sich in der Luft salpetrigsaure Dämpfe in großer
Menge; in einem Gemisch von Kohlensäure und
Stickstoft' bilden sich salpetrigsaure Dämpfe und
Kohlenoxyd; mit einem Gemisch von Benzin-
dämpfen und Stickstoff erhält man schließlich
Wa.sserstofi" und Cyan. Wegen der Wichtigkeit,
welche die Frage für die Praxis besitzt, haben
sich die Verfasser besonders mit der Erzeugung
von salpetrigsauren Dämpfen beschäftigt, aus denen
man wieder Salpetersäure gewinnt. Es lassen
sich bis 44 Gramm Salpetersäure pro Kilowatt-
stunde erzielen; aus den Berechnungen ergibt es
sich , daß der Kostenpreis von i Kilogramm
Kalziumnitrat nicht viel höher als 10 Pf. sein
würde. Im weiteren beschreibt de Kowalski seine
Versuche über elektrische Entladungen an der
Oberfläche von Isolatoren. Wenn die eine Seite
einer isolierenden Platte mit einer leitenden Schicht
überdeckt wird, während man auf der anderen
Seite Entladungen hervorruft, so erhält man Funken,
die weit länger sind, als die ohne leitende Schicht
erzielten. Die vom Verfasser vorgezeigten Photo-
graphien zeigen, daß die Funken genau den Weg
verfolgen, welcher von einer leitenden Schicht auf
der gegenüberliegenden Seite der Platte vorge-
zeichnet ist: man kann auf diese Weise Funken
in dreieckiger, quadratischer und Zickzackform er-
halten. Zum Schlüsse weist der Verfasser auf die
394
Naturwissenschaftliche Wochenschrirt.
N. F. III. Nr. 25
Analogien zwischen diesen Entladungen und den
beim Gewitter in der Atmosphäre stattfindenden
elektrischen Entladungen hin. A. Gr.
Ein einfacher Apparat zur Trisektion eines
Winkels. — Es ist GC = HD; ferner CD =
CB = BA =-- GH. F ist ein Griff. Bei A be-
findet sich ein Stift, der an aa entlang gleitet.
Der Apparat wird mit dem Winkelpunkt D und
den Schenkeln DH und DC auf den gegebenen
Winkel eingestellt. Dann wird der P'ührungsgrifi'
A so weit an aa hin- und hergeführt , daß das
freie Lineal E den Winkeldrehpunkt D gerade
berührt. Dann ist der Winkel triseziert nach
folgender h'igur:
Eine erdmagnetische Vermessung von
Württemberg und Hohenzollern ist kürzlich
unter der Oberleitung von Prof. A. Schmidt
durch Prof. K. H a u ß m a n n zum Abschluß ge-
bracht worden. Damit ist nun auch in Süddeutsch-
land eine systematische, magnetische Landesauf-
nahme im Anschluß an die in Preußen und fast
allen Deutschland umgebenden Staaten neuerdings
durchgeführten .'\rbeiten begonnen worden. Als
Stützpunkt diente eine Basisstation in Kornthal
bei Stuttgart, die durch sorgfältige Vergleichs-
messungen an das Potsdamer erdmagnetische Obser-
vatorium angeschlossen wurde. 65 Beobachtungs-
stationen, die durchschnittlich 20 km voneinander
entfernt waren, wurden unter möglichster Um-
gehung der sehr zahlreichen Elektrizitätswerke
sowie der 125 schwäbischen Vulkanembryonen
unter den versteinten Punkten der Landestriangu-
lierung ausgewählt und alle Feldbeobachtungen
vom 2. August bis 6. Oktober 1900 erledigt.
Diese Zeit war im allgemeinen magnetisch ruhig,
so daß wesentliche Fehler durch zeitliche Stö-
rungen als ausgeschlossen gelten können. Als
F"ormel für die Säkularvariation der Deklination er-
gab sich durch Verbindung mit älteren Messungen :
D = D.goi.o — n. 5',o -f n^ . o',03,
wenn n die Zahl der seit 1901,0 verflossenen Jahre
bedeutet. Dem offiziellen Bericht (Die erdmagn.
Elemente von Württ. u. Hohenz., v. K. Haußmann,
Stuttgart 1903) sind fünf magnetische Karten bei-
gefügt, aus denen ersichtlich ist, daß das durch
vulkanische Gesteine und Erzvorkommen am stärk-
sten gestörte Gebiet dasjenige zwischen Geislingen,
Heidenheim, Neresheim und .'^alen ist. Die spe-
zielle Untersuchung der Störungsgebiete bleibt
einer besonderen Arbeit vorbehalten. F. Kbr.
^ CDB = ^ CBD = 2 -<:? GAB = 2 ^ ADH;
-.4 HDA = \ -4 HDC.
Reichart.
Die Beziehungen zwischen den Sonnen-
flecken und dem Erdmagnetismus bespricht
Deslandres in den Comptes rendus vom 23. No-
vember. So klar der Zusammenhang beider Er-
scheinungsgruppen durch die allgemeine Periodizi-
tät von übereinstimmendem Rhythmus festgestellt
ist, so strittig und ungeklärt ist dagegen die Frage
im einzelnen. Bis jetzt kann z. B. noch nicht ent-
schieden werden, ob magnetische Störungen durch
die Passage einer größeren Flecken- oder P'ackel-
gruppe durch den Mittel meridian der Sonne
bedingt werden, wie Marchand 1887 gefunden zu
haben glaubte, oder ob die gleichzeitig von Veeder
ausgesprochene Hypothese das richtige trifft, nach
welcher die Flecken und Fackeln am nordöst-
lichen Rande der Sonne für magnetische Störun-
gen maßgebend sind. Auch die letzte, große mag-
netische Störung vom 3 I.Oktober könnte zugunsten
jeder dieser beiden Ansichten ausgenützt werden.
Es ist aber durchaus nicht unwahrsclieinlich, dafS
vielleicht weniger die formalen Abnormitäten der
Sonnenoberfläche, als die in deren Gebiet sich
abspielenden, aber bis jetzt noch sehr unzureichend
beobachteten Bewegungsvorgänge das Ausschlag-
N. F. III. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
395
gebende sind, hat doch z. B. Fowler am 31. Ok-
tober 1903 in London eine sehr starke Verschiebung
der C-Linie im Spektrum der mittleren Flecken-
gruppe festgestellt. Leider hat diese Beobachtung
erst drei Stunden nach Beginn der magnetischen
Störung stattgefunden und wolkiges Wetter ver-
eitelte die weitere Verfolgung der Erscheinung.
Diejenige solare Erscheinung, die in ihrer Intensität
den erdmagnetischen Störungen parallel geht, ist
also jedenfalls noch nicht sicher gefunden. Zur
Herbeiführung einer baldigen Förderung dieses
Problems plaidiert Deslandres mit Wärme für die
Einrichtung einer fortlaufenden, von mehreren
Punkten der Erde aus auszuführenden Registrierung
aller Sonnenphänomene, im besonderen auch der
auf Bewegungsvorgänge hinweisenden Spektral-
linienverschiebungen. Auch sollten auf Stern-
warten Einrichtungen getroffen werden, die beim
Auftreten einer magnetischen Störung die Astro-
nomen sofort selbsttätig alarmieren, damit diese
zu rechter Zeit mit allen verfügbaren Mitteln die
V'orgänee auf der Sonne verfolgen können.
^ ^ I-. Kbr.
Wetter-Monatsübersicht.
Während des diesjährigen Februar herrschte in Deutsch-
land größtenteils trübes Wetter mit milden südwestlichen
Winden und zahlreichen Niederschlägen. Die Temperaturen
wiesen viel geringere Schwankungen auf, als sonst, besonders
in einem Wintermonat, vorzukommen pflegen. Ihre Minima,
die die beistehende Zeichnung von verschiedenen Orten wiedcr-
jempera/ur-^Hinima einiger öj^e im KtJruar 1907.
Wftferbureau.
das Thermometer in Memel bis auf — 13", in München bis
auf — 12» C. Im Monatsmittel aber blieben die Temperaturen
über ihren normalen Werten, die sie in Norddeutschland
durchschnittlich um einen, in Süddeutschland um zwei Grad
überschritten.
Die im Winter an und für sich schon so spärliche Sonnen-
strahlung ist in diesem Jahre noch viel mehr als gewöhnlich
durch dicke Wolken beeinträchtigt worden. Im letzten Februar
hat beispielsweise in Berlin nur an 30 Stunden die Sonne ge-
schienen, während wir im Durchschnitte der früheren Februar-
monate hier [66 'Sonnenscheinstunden hatten. Desto größer
waren die Regen- und Schnccmengen, die sich, wie die neben-
stehende Zeichnung ersehen läßt, besonders zwischen dem 6.
gibt, lagen im allgemeinen einen oder ein paar Grade über,
seltener unter dem Gefrierpunkte, die Ma.xima überschritten
nur in Süddeutschland an einzelnen Tagen um Mitte des
Monats lo''.C.
Strenger Frost trat in den ersten Februartagen allein in
den Provinzen Westpreußen und nanuntlich Ostpreufsen aul,
wo es Gumbinnen und Marggrabowa auf 16" C Kälte
brachten. Seit dem 23. Februar fand allgemein eine ziem-
lich empfindliche Abkühlung statt, in der Nacht zum 28. sank
T?ie(ler^tj(ag5^'6J^cn im Jetruar 1904.
MittlcrerWert für
Deutschland.
MonatssumineimFebr.
IWl. 03. 02 Ot. 00. 1833
BclinerWtlTfrburtau.
und 23. Februar ziemlich gleichmäßig über ganz Deutscliland
ergossen. Während dieser Zeit wuchsen an der Küste sowie
im westlichen Binnenlande die Südwest- und Westwinde häufig
zu Stürmen an, in deren Begleitung sich einzelne Gewitter
entluden und wiederholentlich Hagelschauer vorkamen.
Durch die täglich sich erneuernden Niederscldäge wurden,
da auch der alte Schnee auf den Bergen schmolz und der
neue fast nirgends liegen blieb, seit dem 12. Februar im Ge-
biete des Rheins, der Ems und Weser ebenso wie der Donau
und ihrer Nebenflüsse weite Länderstrecken überschwemmt.
Nach kurzem Rückgange der Hochwasser traten sie seit dem
18. in noch stärkerem Maße auf und dehnten sich bald danach
auch auf die Oder und Warthe aus. Allein in den drei
Tagen vom 20. bis 23. morgens fielen zu Uslar 59, zu Chem-
nitz 38 mm Regen und Schnee. Dann ließen die Nieder-
schläge zwar an Stärke bedeutend nach, doch setzten sie sich
fast überall bis zum Schlüsse des Monats in leichten Schnee-
fällen fort, die auch eine neue Schneedecke bildeten. Der
gesamte Ertrag der Niederschläge belief sich für den Durch-
schnitt der berichtenden Stationen auf 62,9 mm und ist seit
Beginn des vorigen Jahrzehntes nur im Februar 18S8 und 1893
noch übertroffen worden.
.außerordentlich groß war die Zahl der tiefen barometri-
schen Minima, die im Laufe des Februar vom .\tlantischen
Ozean in Europa erschienen. Anfänglich mußten sie hier ihre
Herrschaft im wesentlichen auf die britischen Inseln, Frank-
reich und Italien beschränken, da ein Hochdruckgebiet fast
ganz Rußland bedeckte und sich bis Mitteleuropa ausdehnte.
Nach und nach wurde jedoch das Maximum aus dem euro-
päischen Rußland nach Sibirien gedrängt; nur ein kleineres
Hochdruckgebiet blieb gewöhnlich in Nordrußland und er-
zeugte daselbst durch Bodenausstrahlung äußerst strenge Kälte,
die in Ust-Tsylma an der Petschora schon am 2. Februar
— 37° C erreichte und sich später am 16. bis — 43° C steigerte.
Die atlantischen Depressionen rückten darauf teils nach
396
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 25
tjstcn, teils iiLicli Nordosten vor. Achtuiiil j^clangtcn Minima,
deren tiefster Barometerstand unter 745 mm herabging, fünf
darunter mit Harometerständen unter 735 mm, mit stürmischen
Winden und starken Niederschlägen in das Gebiet der Nord-
see und Ostsee. Ihre rasche Aufeinanderfolge, ihre häutige
Teilung an der einen und Wiedervereinigung an der anderen
Stelle gaben der Witterung in ganz West- und Mitteleuropa
einen sehr unbeständigen Charakter. Erst als am 23. Februar
sich ein neues Hochdruckgebiet vom nördlichen Eismeer über
die skandinavische Halbinsel ausbreitete, drehten sich die
Winde nach Nordost und wurde das Wetter in Mitteleuropa
gleichmäßiger und kälter. Doch herrschte bis zum Ende des
^lonats bedeckter Himmel und die Neigung zu Schneefällen
vor, da ein über dem mittelländischen Meere lagerndes De-
pressionsgebiet einzelne, obschon sehr flache Teilminima nach
Norden entsandte. Dr. E. Leß.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Das Museum von Meisterwerken d e r N a t u r -
Wissenschaft und Technik (vgl. Naturw. Wochenschr.
Nr. 20 vom 14. Februar 1904, p. 317) beabsichtigt neben
seinen .Sammlungen historischer Maschinen usw. auch eine
große wissensehaltlich-tcchnische Bibliothek einzurichten. Im
Anschluß an diese Bibliothek soll ein Hauptgewicht auf den
Ausbau einer systematischen Plansammlung für alle im Museum
vertretenen Gebiete gelegt werden. Zu diesem Zwecke werden
lehrreiche Pläne und Zeichnungen aus früherer und neuerer
Zeit gesammelt , in einer für einen bequemen und häufigen
Gebrauch sicheren Weise in Leinwand gebunden, und in der
bisher nur für Bücher üblichen Weise genau nach Gruppen
katalogisiert und aufbewahrt.
Die Einrichtung soll es ermöglichen , daß die Besucher
der Plansammlung I die sich für irgend ein Gebiet, seien es
Bauten, Maschinenanlagen oder sonstige Einrichtungen, inter-
essieren, die betreflenden Pläne und Zeichnungen im Museum
genau studieren können.
Wenn auch die Auswahl der Pläne so erfolgt, daß hier-
durch kein spezielles Fabrikgeheimnis preisgegeben zu werden
braucht, so wird diese Plansammlung doch nicht nur den
Besuchern des Museums eine überaus wertvolle Belehrung
bieten, sondern auch die Interessen der Unternehmer, Fabriken
und Konstrukteure fördern, indem auch Schöpfungen derselben,
die sich nicht im Original oder Modell aufstellen lassen, durch
die Plansammlung und deren Kataloge den weitesten Kreisen
der Bevölkerung bekannt werden.
Das Museum glaubt, bei richtiger Organisation in seiner
Plansammlung eine Einrichtung zu schaffen , welche für die
gesamte Technik ebenso wertvoll werden dürfte, wie es die
Bibliotheken für die verschiedenen Wissenszweige geworden
sind, und es ergeht daher an staatliche und städtische Be-
hörden, an Unternehmungen, Fabriken, Zivilingenieure usw.
die freundliche Aufforderung, die ihnen geeignet erscheinenden
Pläne dem Museum zur Verfügung zu stellen.
Bücherbesprechungen.
H. von Buttel-Reepen, Sind die Bienen Re-
flexmascli in en ? Experimentelle Beiträge zur
Biologie der Honigbiene. Leipzig , Verlag von
Arthur Georgi, 1900. 82 S. — Preis 1,20 Mk.
Albrecht Ret he hat vor einigen Jahren in
seiner Abhandlung „Dürfen wir Ameisen und Bienen
psychische Qualitäten zuschreiben ?" (Arch. f. d. ge-
samte Physiologie, Bd. 70, i8g8.) die Ansicht aus-
gesprochen, daß Ameisen und Bienen über keine
Sinne, über keine Möglichkeit, Erfahrungen zu
sammeln und danach ihr Handeln abzuändern, ver-
fügen, daß alle Reize unter der Schwelle der sinn-
lichen Empfindung und Wahrnehmung bleiben, und
daß diese Tiere rein mechanisch alle die oft so
vernunftmäßig erscheinenden Tätigkeiten ausüben.
V. Buttel-Reepen weist nach, daß Bethe
irrt, und daß die Bienen im tiegenteil psychisch hoch
entwickelt sind, daß von ihnen neben den ererbten
Trieben itn individuellen Leben viele Fähigkeiten er-
worben werden, und daß \ie\e Vorgänge auf Erfahrung,
Gedächtnis, Lernvermögen, Assoziationsvermögen usw.
beruhen.
Nach Bethe ist das Mitteilungsvermögen der ge-
nannten Insekten auf chemische Einflüsse zurück-
zuführen. Der Herr Verfasser kennt jedoch zahl-
reiche Tatsachen, welche dieser Ansicht sich nicht
fügen. Wenn einem Bienenvolk die Königin ge-
nommen wird, d. h. wenn es entweiselt wird, so ist
sogleich oder später eine auffallende Veränderung an
seinem Verhalten wahrzunehmen ; die sogenannte
„Weiselunruhe" bricht aus. Der behaglich summende
Ton des Volkes verwandelt sich in einen tieferen,
langgezogenen, klagenden. Der Imker sagt dann, daß
die Bienen „heulen". Die Bienen werden unruhig
und stechlustig. Augenscheinlich ist den Bienen die
Abwesenheit der Königin zum „Bewußtsein" gekommen.
Das geschieht nach Bethe durch chemische Reize ;
wir würden sagen ,, Geruchsreflexe", deren fehlen von
den Bienen bemerkt wird. Aber bei der Abwesenheit
der Königin müßte ihr Nestgeruch, von dem man
doch nur annehmen kann, daß er sich überallhin
durch den Bienenstock verbreitet, in letzterem ver-
blieben sein. v. B. jedoch zweifelt im Gegensatz zu
Bethe nicht daran, daß die Bienen sich durch Töne
verständigen und daß bei den Klagetönen einzelner
bald auch alle übrigen Bienen instinktmäßig in Klage-
töne verfallen. Noch andere Beobachtungen machen
es wahrscheinlich, daß das Mitteilungsvermögen auf
Tonperzeptionen beruht. Kurz vor dem Ausschwärtnen
des Volkes drängen sich einzelne aus dem Flugloche
hervorkommende Bienen unruhig in die vorlagernde,
oft wie ein „Bart" vom Flugbrette herabhängende
Bienenmasse. Lind plötzlich löst sich dann der „Bart"
auf, die Bienen ziehen schnell zum Flugloche wieder
hinein und fallen über die Honigvorräte her; sie
füllen gewissermaßen ihren Wandersack, ebenso auch
die übrigen Schwarmlustigen des Stockes, und dann
bricht der Schwartu hervor, um hinauszufliegen. Es
ist kaum zu bezweifeln, daß es sich hier um Mit-
teilungen handelt.
Für die bekaimte Erscheinung, daß die ausge-
flogenen Bienen eines Stockes den Weg zu diesem
wieder zurückfinden, nimmt Bethe eine „unbekannte
Kraft" an. Dies sei eine Kraft, welche nicht dem
Bienenstocke selbst anhafte; sie führe die Bienen
auch nicht zu dem Bienenstocke, sondern zu der
Stelle im Räume, an der sich der Bienenstock ge-
wöhnlich befinde. Die Grenze des Wirkungskreises
dieser Kraft sei auf etwa 3 km anzunehmen. Dieser
Annahme einer „unbekannten Kraft" tritt v. Büttel-
Reepe n entgegen ; er weist mit Recht darauf hin,
daß die Bienen ein Ortsgedächtnis haben. Nach
einem mitgeteilten Beispiel flogen ausgeflogene junge
Bienen, die bei der Rückkehr ihren Stock nicht
wiederfinden konnten, in andere Stöcke, und zwar in
solche, welche durch eine Farbe kenntlich gemacht
waren und ihrem eigenen Stocke glichen. Sie wurden
N. F. III. Nr. 2;
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
397
hier allerdings unfreundlich empfangen und von den
Bewohnerinnen der fremden Stöcke getötet.
Das inhaltreiche Buch birgt zahlreiche interessante
und viele neue oder wenig bekannte Beobachtungen
an Bienen, namentlich solche, welche sich auf das
Mitteilungsvermögen und das Ortsgedächtnis derselben
beziehen.
Der Herr Verf. weist darauf hin, daß in manchen
zoologischen und entomologischen Handbüchern viel
Falsches über die Bienen mitgeteilt ist, obgleich in
Bienenzeitungen und Zeitschriften und in Büchern
der Bienenkunde viele biologische Kenntnisse über
Apis mellifica niederlegt sind, die aber in die
wissenschaftliche Welt wenig Eingang gefunden haben
und seltsamerweise wenig beachtet seien.
Kolbe.
Sammlung chemischer und chemisch-technischer
Vorträge. Herausgegeben von Prof 1 )r. Felix
B. A h r e n s in Breslau. Stuttgart , Verlag von
Ferdinand Enke. Jährlich 12 Hefte. Preis im
.\bonnement 12 Mk. ; einzelne Hefte 1,20 Mk.
i) Chemische Affinität und Energieprinzip. Von
Dr. Joseph Siegrist in Zürich. (VII. Band,
5. Heft.)
2) Chemische Verwandtschaftslehre. Die Lehre
von den Gleichgewichten in homogenen und hete-
rogenen Systemen und von der Reaktionsgeschwin-
digkeit. Von Dr. W. Herz, Privatdozent der
Chemie an der Universität Breslau. (VIII. Band,
10. Heft.)
3) Der gegenwärtige Stand der Schwefelsäure-
industrie von Dr. Gustav Rauter, Charlotten-
burg. (VIII. Band, S. Heft.)
4) Die Santoningruppe von Privatdozent Dr. E.
Wedekind, Tübingen. (VlII. Band, 9. Heft.)
5) Die Nitrosoverbindungen. Von Dr. Julius
Schmidt, Privatdozent an der Technischen Hoch-
schule zu Stuttgart. (VIII. Band, 11. Heft.)
6) Über Racemie. Von Dr. A. Ladenburg, o.
Professor an der Universität zu Breslau. Mit einer
Abbildung.
7) Von den Hydraten in wässriger Lösung. Von
Dr. Emil Baur, Privatdozent an der Technischen
Hochschule zu München. Mit 6 Abbildungen.
(7. und 8. im VIIL Band, 12. Heft.i
8) Die Lichtabsorption in Lösungen vom Stand-
punkte der Dissociationstheorie. Von Dr.
George Rudorf, B. Sc. London. Mit einer
.■\bbildung. (L\. Band, i. u. 2. Heft,
9) Die Theorie der elektrolytischen Dissociation
von Professor Dr. R. Abegg, Breslau. (VIII. Band,
5. 7. Heft.)
10) Das Gärungsproblem. Von Prof. Dr. Felix
B. Ahrens, Breslau. (VII. Band, 12. Heft.)
Es erscheint mir als eine dankbare Aufgabe, den
Blick weiterer Kreise unserer Zeitschrift auf diese
Ahrens'sche Sammlung chemischer und chemisch-
technischer Vorträge hinzulenken , die bereits im
8. Jahrgang erscheint. Sie hat schon eine stattliche
Zahl guter Schriften der Oflentlichkeit übergeben,
und die Namen des Herausgebers und der Mitarbeiter,
von denen ich nur Abegg-Breslau, Bod-
länder -Braunschweig, Buchka, van 'tHoff
und Liebermann-Berlin, Gatter mann-Frei-
burg, Ladenburg-Breslau, Lunge-Zürich
und Wi n kl er -F re iber g nenne, bürgen schon an
sich für die Vorzüglichkeit des Inhalts. Wenn auch die
meisten bisher erschienenen Hefte der beliebten
Sammlung rein wissenschaftliche Probleme behandeln,
und daher viele der Vorträge nur das spezielle Inte-
resse von Chemikern wachrufen können , so findet
auch der Nichtfachmann zahlreiche hochinteressante
und belehrende Schrillen darunter, und es kann die
Anschaffung einzelner Hefte auch ihm aufs wärmste
empfohlen werden.
W'as den Iniialt der vorstehend angeführten Schriften
betrifft, so stellt zunächst i), der bereits im VII. Bande
erschienene Vortrag von Siegrist, einen gemeinver-
ständlichen Überblick über den Entwicklungsgang der
Affinitäts- oder Verwandtschaftslehre dar. Seitdem
Robert Boyle mit den alchymistischen .Anschauungen
gebrochen und mit der Lehre von den vier Grund-
stoffen aufgeräumt hatte, begann erst die Chemie in
wissenschaftliche Bahnen einzulenken, und von da ab
kann auch erst von einer eigentlichen Entwicklung der
Lehre von der chemischen Affinität und dem Erfor-
schen eines Energieprinzips die Rede sein. Von
hier ausgehend, entrollt der Verfasser an der Hand
größerer historischer Werke ein anschauliches Bild
über den Gang dieser Entwicklung und zeigt , wie
nur langsam Stein zum Stein gefügt werden konnte,
um das Gebäude der heute geltenden Theorien aufzu-
führen. Er verbreitet sich aber zu lange über die
ältere Geschichte und hat die moderne Affinitäts-
lehre zu wenig eingehend behandelt. .-Auch ist
es zu verwundern, daß er die bei solcher Zusammen-
stellung ganz unentbehrlichen Werke eines van 'tHoff
und Nernst nicht zur Literatur herangezogen hat.
Doch ist die Darstellung selbst äußerst klar, und
das reiche Material geschickt zusammengefaßt, so daß
auch der Nichtfachmann aus der 22 Seiten fassenden
Arbeit Belehrung schöpfen kann. Ein richtiges und
volles Verständnis der heutigen thermodynamischen
Affinitätslehre wird er durch sie allein aber schwer-
lich gewinnen können.
2) Herz gibt in seiner Abhandlung über die
Lehre von den Gleichgewichten in homo-
genen und heterogenen Systemen und von
der Reaktionsgeschwindigkeit eine bemer-
kenswerte Monographie der chemischen Verwandt-
schaftslehre nach den heule geltenden Anschauungen,
die das Massen wirkungsgesetz als dieGrund-
lage aller Erscheinungen der chemischen
Mechanik hinstellen. In knapper Form der Darstellung
schildert der Verfasser die wiclitigsten Forschungsergeb-
nisse der physikalischen Chemie, die uns zu dieser Er-
kenntnis geführt haben. Und er zeigt an den Erfolgen
dieses Gesetzes, wie vieles durch die Überlegungen
und Methoden der physikalischen Chemie geschaften
ist , und daß vieles noch zu erwarten steht. Das
Heft bildet im wesentlichen den Inhalt eines Kollegs
über chemische Verwandtschaftslehre, das der Ver-
fasser im Sommersemester 1902 an der Universität
398
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2 5
Breslau hielt. Seine Ausführungen lehnen sich an
die größeren Werke von van 'tHoff und Ostwald,
besonders an das von Nernst an ; und die Absicht
des Verfassers, „durch Erwähnung nur der allerwichtig-
sten Forschungsergebnisse eine so große Einfachheit
der Darstellung zu erreichen , daß die Monographie
den weitesten Kreisen der Chemiker verständlich ist,"
dürfte als völlig gelungen zu betrachten sein.
3) Die Darstellungsweise der Schwefel-
säure nach dem Bleikammerprozeß hat im großen und
ganzen gegen frülier wenig Änderungen erfahren, und
auch diese betreffen nur Einzelheiten im Betriebe. Aber
nachdem ihm in dem sogenannten katalytischen oder
Kontaktverfahren ein Mitbewerber entstanden ist, muß
man heute eine Monographie der Schwefelsäure-
fabrikation, wie sie uns G. R a u t e r in dem vorliegenden
Hefte liefert, mit Freuden begrüßen. Der Verfasser
hat es sich zur Aufgabe gemacht, nur einen allgemein
skizzierten Gang der Fabrikation zu geben,
ohne ein bestimmtes Verfahren zugrunde zu legen,
ohne eine erschöpfende Geschichte der Schwefelsäure-
darstellung schreiben oder auch ihren Betrieb in allen
Einzelheiten schildern zu wollen. Er beschreibt zu-
nächst das „Kammerverfahren", behandelt auch
die wichtigen „Nebenbetriebe des Schwefelsäure-
kammerverfahrens" , schildert die Herstellung von
„Schwefelsäure in Türmen'' und verbreitet sich end-
lich weiterhin über das in neuerer Zeit so wichtige
,,Schvvefelsäureanhydritverfahren". Der Verfasser hat
seine Aufgabe glücklich gelöst. Der Stoff ist gut
behandelt und das Heft von jedermann mit großem
Interesse zu lesen, der sich ein Bild von der heutigen
Lage der Schwefelsäurefabrikation machen will.
4) Das Santonin, welches das wirksame Prinzip
des Wurmsamens darstellt, besitzt eine eigentümliche
Umwandlungsfähigkeit, die zu einer ganzen Reihe von
Isomeren und Derivaten geführt hat. Seitdem man
dies erkannt, nimmt auch diese Muttersubstanz der
Santoningruppe ein erhöhtes Interesse der chemischen
Forschung für sich in Anspruch, wie so viele andere
natürlich vorkommende Stoffe , z. B. der Pflanzen-
alkaloide, vor ihr. Die zumeist in italienischen Zeit-
schriften hierüber veröffentlichten Arbeiten sind in dem
Hefte W e d e k i n d ' s zusammenhängend dargestellt.
Und dies konnte mit um so mehr Berechtigung unternom-
men werden, weil gerade auf diesem Gebiete und beson-
ders über die Wirkungsweise des Sonnen-
lichts auf das Santonin in neuester Zeit be-
merkenswerte Entdeckungen gemacht worden sind,
obgleich die Konstitutionserforschung der Santonin-
stoffe noch nicht als abgeschlossen gelten kann.
Eine kurze Übersicht über die Geschichte, Darstellung,
sowie einige allgemeine Angaben über die physika-
lischen, chemischen und physiologischen Eigenschaften
dieses Pflanzenstoffes ist der Schrift vorausgeschickt,
die im übrigen den Charakter einer rein wissenschaft-
lichen Abhandlung wahrt.
6) Laden bürg liefert einen bemerkenswerten,
wissenschaftlichen Beitrag zur Kenntnis der racemischen
Körper, d. h. solcher Substanzen, die der Traubensäure
(acidum racemicum) analog konstituiert sind. In Kürze
deutet er eingehends auf die wichtigsten historischen Tat-
sachen hin, um sich dann über die Frage ; wie und
unter welchen Umständen der Racem-
körper in seine optischen Komponenten
zerfällt, zu verbreiten. Er bespricht fünf Metho-
den: I. die dilatometrische Methode, II. die tentri-
metrische Methode, III. elektrische Bestimmung der
Umwandlungstemperatur, IV. Bestimmung der Um-
wandlungstemperatur durch Löslichkeitsbestimmungen,
V. die thermometrische Methode.
7) Baur behandelt in seiner Schrift gewisse
Verbindungen gelöster Stoße mit dem Lösungsmittel.
Auf die Existenz solcher Verbindungen lassen be-
kanntlich verschiedene Eigentümlichkeiten wässriger
Lösungen schließen, die unsere Kenntnis über die
Konstitution der Lösungen zu bereichern geeignet
sind. Solche Verbindungen treten gegenwärtig in
den Vordergrund des chemischen Interesses. Der
Verfasser hat es unternommen , alles das zusammen-
fassend darzustellen und an Versuchen und Beispielen
durch die lonentheorie wissenschaftlich zu begründen,
was wir heute über die Hydrate in Lösung
wissen und vermuten. Der äußerst interessante
Stoff ist übersichtlich und die Form gewandt. Die
Baur'sche Schrift ist sehr geeignet, zur Anregung
und Belehrung über diesen Gegenstand beizutragen.
8J In folgenden Abschnitten:
Grundanschauungen der Theorie ; — Die Beweg-
lichkeit der Ionen; ■ — • Gleichgewichte zwischen
Ionen ; — Dissociationskonstante ; — Gleichgewichte
zwischen mehreren Elektrolyten ; — Hydrolyte ; —
Avidität ; — Indikatoren ; — Heterogene elektrolytische
Gleichgewichte ; — Anomalie der starken Elektrolyte ;
— Druck und Temperatureinfluß auf die Dissociation ;
Nichtwässrige Lösungen; — Chemische Natur und
lonenbildungstendenz der Elemente
gibt G. R u d o r f einen Ü b e r b 1 i c k ü b e r den
heutigen Stand der Lehre von der
elektrolytischen Dissociation. Der
reiche Inhalt der interessanten Schrift umfaßt zwei
Hefte der Sammlung und bietet zum tieferen Ein-
dringen in das Wesen der lonentheorie eine reiche
Quelle der Belehrung. Es ist in dem Werke in geschickter
Weise alles das zusammengestellt , was für die Er-
kenntnis der elektrochemischen und chemischen
Vorgänge überhaupt von größter Wichtigkeit ist, und
mit dessen Hilfe die bedeutendsten und letzten Fragen
der Chemie, das Wesen der Valenz und der Ver-
wandtschaftskräfte, gelöst zu werden versprechen. Bei
dem heutigen Stande der Theorie von Arrhenius, die
in schneller Folge durch zahlreiche neuere Arbeiten
gefestigt und ausgebaut wurde, ist es doppelt erfreulich,
wenn uns von so berufener Feder, wie es hier der
Fall ist , eine solch wertvolle Zusammenstellung ge-
boten wird. Und was dem Buche seinen besonderen
Wert verleiht, ist besonders die Berücksichtigung auch
der neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse.
()) Der bekannte Verfasser, Prof. Abegg in Bres-
lau, hat sich in dem vorliegenden Werke die Aufgabe
gestellt, die Li chtabsorpt ion im wesentlichen nur
insoweit zu betrachten, als sie mit der
I) issociations th eorie von Arrhenius ver-
k n ü p f t i s t, ohne das ganze Gebiet der Spektralanalyse
N. F. III. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
399
von Lösungen durchstreifen zu wollen. Die Schrift ist
mit besonderer Freude zu begrüßen , da sie einem
längst empfundenen Bedürfnisse nach einer einheit-
lichen Zusammenfassung der über das Thema vor-
handenen Literatur und einer kritischen Iktrachtung
derselben entspricht. Und der Verfasser hofft nicht
zu Unrecht, daß eine solche Zusammenstellung den
Weg zu neuer Untersuchung andeuten kann. Der
Inhalt gliedert sich in folgende Abschnitte: I. Ein-
leitung. II, Allgemeines über Lichtabsorption und
mathematische Behandlung. III. Die Anwendung der
Dissociationstheorie auf die Lichtabsorption. IV. Ge-
schichtliches: a) betreffs des Beer'schen Gesetzes,
b) betreffs der Dissociationstheorie. V. Einfluß des
Aggregatzustandes auf die Absorption. VI. Einfluß
des Lösungsmittels auf die Absorption. VII. Einfluß
der Temperatur auf die Absorption. VIII. Kurze
Zusammenstellung des Vorhergehenden. IX. Schluß-
bemerkungen.
Der Stoff, der auf 2 Hefte der Sammlung verteilt
ist, erfreut sich einer sehr gewissenhaften Behandlung,
und mit gutem Verständnis sind nur die brauchbaren
Literaturangaben ausgewählt , während die minder
wichtigen unberücksichtigt blieben.
10) Das Heft über die Gärung von Felix B.
Ahrens bietet eine bequeme und gute Zusammen-
stellung zum Gegenstande in seiner Begründung des
Resultates : „Die Gärung ist ein chemischer Prozeß."
R. Lb.
Literatur.
Becker, Elektrochem. H. : Die Elektrometallurgie der .\lkali-
metalle. Mit 83 Fig. u. 3 Tab. im Text. (VIII , 135 S.)
Halle '03, \V. Knapp. — 6 Mk.
Curie, Mme S. : Untersuchungen üb. die radioaktiven Sub-
stanzen. Übers, u. m. Literaturergänzgn. versehen von W.
Kaufmann. Mit eingedr. Abbildgn. (VllI, 132 S.) Braun-
schweig '04, F. Vieweg & Sohn. — 3 Mk.; geb. 3,80 Mk.
Hertwig, Prof. Dir. Ose. : Die Elemente der Entwicklungslehre
des Menschen und der Wirbeltiere. Anleitung und Repi-
torium f. Studierende u. Arzte. 2. Aufl. (VI, 420 S. mit
373 Abbildgn.) gr. 8". Jena '04, G. Fischer. — 8 Mk. ;
geb. 9 Mk.
Knuth, weil. Oberrealsch.-Prof. Dr. Paul: Handbuch der
Blütenbiologic. Begründet v. K. III. Bd. Die bisher in
auüercurop. Gebieten gemachten blütenbiolog. Beobachtgn.
Unter Mitwirkg. v. Reg.-R. Dr. Otto Appel, bearb. u. hrsg.
V. Realgymn.-Prof. Dr. Ernst Loew. I. Tl.: Cycadaceae
bis Cornaceae. Mit 141 Abbildungen und dem Portr. Paul
Knuth's. (VII, 570 S.) gr. 8». Leipzig '04, W. Engelmann.
— 17 Mk.; geb. in Halbfrz. 20 Mk.
Remsen, Prof. Dr. Ira: Einleitung in das Studium der Chemie.
Deutsche Ausg. Bearb. v. Prof. Dr. Karl Seubert. 3., neu-
bearb. Aufl. (XVI, 462 S. m. 44 Abbildgn. u. 2 Taf.) gr. 8°.
Tübingen '04, H. Laupp. — 6 Mk. ; geb. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn S. in U. — Über Kultur und Zubereitung
der Bananen äußert sich z. B. Johann Maria Hilde-
brandt in der Monatsschrift des Vereins zur Beförderung des
Gartenbaues, Berlin 1881, p. 425 ff. Die Kultur ist in Ostafrika
höchst einfach : Man nimmt ein Stück von einem Ausläufer
und steckt es in die Erde. Besonders pflanzt man die Bananen
in der Nähe der Hütten an, denn sie geben einen hübschen
Schatten, da meist sechs, oft zehn bis zwölf Stämme aus einem
Wurzelstocke hervortreten. Gewöhnlich tragen sie im zweiten
Jahre schon Früchte, selbst ganz kleine Ausläufer entwickeln
zu der Zeit einen Fruchtstand. Man schneidet die Früchte
meistens bereits etwas vor der Reife ab, da bei völliger Reife
nicht nur die Menschen , sondern ganz besonders auch die
Affen und andere Tiere sehr lüstern danach sind. Ganz
eigentümlich ist die Art, wie man sie nachreifen läßt. Man
macht zu dem Zweck eine Grube, ähnlich wie eine Kartofi'el-
miete, hängt die Fruchtstände an einem darin angebrachten
Gestell auf und bedeckt sie mit Laub oder mit Erde. Sind
sie so allmählich nachgereift, so werden sie zu Markt gebracht.
— Man kann die Bananen auch grün vor der Reife verwen-
den. Sie werden dann entweder einfach in ein Kohlenfeuer
gelegt und geröstet, was sehr schnell von statten geht und in
ihnen einen außerordentlich süßen Geschmack entwickelt, oder
sie werden, wenn sie noch jünger sind, auch wohl in Stücke
geschnitten, dann getrocknet oder halb geröstet und nachher
zerrieben. Die zerriebene Substanz wird dann als eine Art
rohes Mehl benutzt. Am besten schmecken die Früchte, wenn
man sie abschält, mit Eierkuchenteig umwickelt und leicht
bratet. Aus den Bananen läßt sich auch ein angenehmes Ge-
tränk bereiten. Wenn die Früchte recht reif und die Schale
schon schwarz geworden, zieht man die letztere ab, zerquetscht
die Frucht, tut sie in ein Gefäß mit Wasser und läßt es drei
bis vier Tage stehen, worauf die Flüssigkeit einen sehr ange-
nehmen Geschmack angenommen. Will man dies Getränk
berauschend machen, so tut man einen Gärungserreger (Blätter f)
von Kigelia africana oder Rinde von einer Rhamnusart oder
Blätter von R. pauciflorus hinein.
Alle diese Bemerkungen bezichen sich auf Musa paradisiaca,
die .A.rt mit kleineren Früchten.
Die Früchte von Musa sapientum (Plantain der Engländer)
sind größer und haben eine sehr zähe Schale; sie werden
nicht roh gegessen, sondern meist geröstet oder zu Mehl ver-
arbeitet. Oft erreichen sie eine Länge von '/j m ; sie sind
etwas sichelförmig und führen wegen ihrer Form auch den
Namen ,,Elephantenrüssel".
Aus der Asche der Blütenstandsachse bereitet man ein
ziemlich scharfes Salz, welches man zum Würzen der Speisen
verwendet, auch an Schnupftabak tut. Der Stengel oder
Stamm der Pflanze wird an Ziegen und Schafe verfüttert. Auch
auf den SchilTen füttert man das Vieh mit den in Stücke zer-
schnittenen Bananenstengeln ; dieses Futter hält sich ziemlich
lange. Mit den Blättern werden zuweilen die Dächer gedeckt,
doch nicht häufig, da die Blätter nicht lange dauern. Mehr
verwendet man sie zu Schattendecken. Auch als Ruhelager
sind die Bananen wegen ihrer großen Blätter sehr gut ver-
wendbar: zwei Bananenstämme (mit den Blättern) werden der
Länge nach hingelegt, oben ein dritter quer als Kopfkissen
— dann ist das Lager fertig.
Herrn cand. prob. F. N. in Heiligenstadt. — I. Das
umfassendste systematische Spezialwerk über Kolibris ist
J. Gould, The Trochilidae or Humming Birds (fol. mit 360
kol. Tfln., London 1849 — 61) nebst Suppl. von R. B. Sharpe
(mit 60 kol. Tfln., 1880—87; Gesamtpreis: 1900 Mk.). — Ein
weniger umfangreiches französisches Tafelwerk ist Mulsant et
Verreaux, Hist. nat. des Oiseaux- Mouches ou Colibris
(4 vols. 40 mit 120 kol. Tfln., Lyon 1874 — 79; Preis: 340 fr.
bei R. Friedländer & Sohn antiqu. 175 Mk.). — Die neueste
Zusammenfassung aller bis zum Jahre 1900 beschriebenen
sicheren Arten mit bis auf die Art fortgesetzten Besümmungs-
tabellen, kurzen Beschreibungen und Hinweisen auf die wich-
tigsten Beschreibungen und Abbildungen der einzelnen Arten
ist E. Hartert, Trochilidae (Das Tierreich, 9. Lief., 8»,
Berlin 1900, Preis: 16 Mk.).
2. Über das Aufweichen der Kolibribälge sagt Martin,
der Meister in der Taxidermie (P. L. Martin, Die Pra.Kis
der Naturgeschichte, I. Teil, Taxidermie, 4. Aufl., Weimar
1898, p. 107). ,, Vögel von lebhaftem Glanz eignen sich für
das Einlegen in feuchten Sand nicht, da manche derselben,
wie z. B. Trochilus moschitus , durch das Feuchtwerden an
ihrem Feuerglanze Schaden nehmen, ich rate daher, bei sol-
chen Bälgen die Füße , durch Umhüllen mit feuchtem Werg,
zuerst einzuweichen. Ist dieses, unter Schonung des Gefieders,
nach einigen Stunden oder höchstens in einer Nacht erfolgt,
so nimmt man den Balg behutsam aus , indem man ihn am
Flügelbug faßt, damit die Flügel nicht abbrechen und feuchtet
ihn hierauf mit Gift innerlich an, wonach man in der Regel
bald zum Ausstopfen schreiten kann. Ist aber die Haut eines
4bo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 25
tJlanzvugels durchlöcliLTt uiul Ijcslclit die Gefalii', daß briiii
Einstreichen Giftlösung nach außen ins Gefieder dringt, so
weicht man den Balg in einem verschlossenen Giase ein,
dessen Luft durch einen angenetzten Wattebausch feucht ge-
halten wird." Dahl.
Herrn J. H. in Bentheim. — Wir empfehlen Ihnen
Drcssel's ,, elementares Lehrbuch der Physik", Freiburg i. B.,
Herdcr'scher Verlag. 2. Aufl. igoo. 1036 Seiten mit 589
Abb. Preis 15 Mk. Noch neuer und gleichfalls günstig be-
urteilt (vgl. N. W. Bd. 111, S. 79) ist A. Berliner's ,, Lehrbuch
der Experimentalphysik in elementarer Darstellung" (Jena
1903, G. Fischer. 857 Seiten. Preis 14 Mk.)
Herrn W. F. in Mannheim. — I. Eine neue Auflage
von Reichenow's Vögel der zool. Gärten gibt es nicht. Die
Nomenklatur ist alt und die Namen daher meist unrichtig.
2. Ähnliche, die ganze Vogelwelt umfassende Werke gibt es
nicht. 3. Über den Fang der Vögel finden Sie z. B. eine
Zusammenstellung in C. G. Friderich , Naturgeschichte der
deutschen Vögel (Julius Hoffmann in Stuttgart, 1891).
Herrn H. F. in Dresden. — Frage: Bei meinen photo-
graphischen Platten hatten die Kanten, auf denen ein schmaler
Streifen Papier zur Trennung von der nächsten Platte liegt,
nicht eine schwarze Färbung angenommen, wie Prof Blaas in
dem Artikel der Naturw. Wochenschr. sagt, sondern waren
ganz weiß geblieben. Ich dachte zuerst, das Papier habe die
Schicht eingesogen ; doch das ist ja schon deshalb ausge-
schlossen, weil die Verpackung trocken geschieht. Außerdem
sind diese Stellen vor der Entwicklung durch nichts ausge-
zeichnet vor den anderen Teilen der Platte. Nach diesem
Prozesse sind sie vollständig weiß und fi.\ieren dann klar aus.
Antwort: Warum die mit weißem Papier getrennten
Ränder der erwähnten Platten nicht lichtempfindlich sind, kann
ich nicht angeben ; mir ist eine solche Erscheinung bisher
nicht untergekommen. Die in meinem Aufsatze erwähnte
Schwärzung der Platte tritt dann ein, wenn das zwischengelegte
Papier holzstoffhaltig ist und wenn die Streifen vor dem Ein-
legen im Licht lagen. Es ist daher leicht erklärlich, daß im
einen Fall eine photechische Wirkung vorhanden ist, im an-
deren nicht (wenn nämlich diese Voraussetzung nicht erfüllt
ist). Prof. Blaas-lnnsbruck.
Herrn A. K. in Leipzig. — Nehmen Sie Garcke's Flora
von Deutschland (Paul Parey in Berlin) oder Potonie's Illu-
strierte Flora von Nord- und Mitteldeutschland (Julius Springer
in Berlin). Wer sich in die Floristik vertiefen will , kann
.Ascherson und Graebner's Synopsis der mitteleuropäischen
Flora l^W. Engelmann in Leipzig) nicht entbehren.
Herrn P. Bl. und G. St. in Magdeburg. — Die Etymo-
logie der griechischen und lateinischen Bezeichnungen für
Pflanzen und Tiere ist treftlich in den noch von Lennis selbst
herausgegebenen Auflagen seiner Synopsis der drei Natur-
reiche angegeben. Sie finden dort das Wesentlichste. Das
Werk ist antiquarisch öfter zu haben. Ein neuzeitliches Lexikon
aller wissenschaftlichen Termini gibt es leider nicht; es wäre
recht zweckdienlich, wenn ein solches geschaffen würde.
Herrn W. E. in Jena. — Vielleicht genügen Ihnen die
in ,,Peter's astronomischen Tafeln und Formeln" (Hamburg,
Mauke, 1871, ca. 10 Mk.) S. 19S — 202 enthaltenen Vergleichs-
tabellen. Für Thermometer bietet auch das Pariser „Annuairc
pour 1904" (Gauthier- Villars, 1,50 Fr.) p. 389 eine Tabelle,
die für jeden Fahrenheitsgrad den entsprechenden Celsiusgrad
(bis auf hundertel) angibt. Altere Jahrgänge des Annuaire
(2. B. 1900) enthalten auch eine Tabelle zur Verwandlung der
englischen Barometerangaben (um Zehntel Zoll fortschreitend)
in Millimeter (bis auf hundertel).
licrrn Fr. K. in lleeßen. — Mechaniker kann man nur
werden, indem man bei einem tüchtigen Meister in die Lehre
geht und dieses schwierige Handwerk durch persönliche Unter-
weisung erlernt. Die Instrumente allein nützen nichts, wenn
man sie nicht zu handhaben versteht.
Herrn W. B. in Stuttgart. — Bei der Verdunstung des
Seewassers entweicht nur reiner Wasserdampf in die Luft,
während alle Salze zurückbleiben. Der Salzgehalt der Seeluft
ist gleichwohl vorhanden , erklärt sich aber durch das Zer-
stäuben des Wassers an den Wellenkämmen und durch die
Benetzung des Strandes mit .Salzwasser. Nach Verdunstung
des Wassers bleiben die Salzleilchen als mikroskopische
Stäubchen in der Luft bzw. an den benetzt gewesenen Kör-
pern und werden nun vom Winde auch in das Binnenland
getragen. Daß auch der binnenländische Staub salzhaltig ist,
erkennen Sie durch das gelegentliche, gelbe Aufleuchten der
Bunsenflamme, das sich im Spektralapparat als Natriumlicht
zu erkennen gibt. Besonders hell wird diese Gelbfärbung der
Bunsenflamme, wenn man mit der Hand auf den Tisch schlägt
oder sonstwie in der Nähe der Flamme den Staub aufwirbelt.
Ohne Spektralapparat können Sie die Natur dieses Lichts im
Dunkeln daran erkennen, daß bunte Papierblätter bei dieser
Beleuchtung nur noch hell und dunkel erscheinen.
Flerrn Z. in Pr. — Mädler's .\stronomie muß heute als
veraltet bezeichnet werden. Klein's Himmelsbeschreibung ist
eine sehr gründliche Zusammenfassung der kosraographischen
Kenntnisse an der Jahrhundertwende, die besonders für be-
obachtende Himmelsfreunde wertvoll ist. Meyer's Weltgebäude
ist schwungvoll geschrieben und prächtig ausgestattet , daher
als Lektüre mehr zu empfehlen.
Herrn F. in Popelau. — Das Gewicht der Erde wird
durch die Verbrennung der Steinkohlen natürlich nicht ge-
ändert, da die gasförmigen Verbrennungsprodukte in der
Atmosphäre bleiben und zum größten Teil (durch die Assimila-
tionstätigkeit der Pflanzen) gelegentlich wieder in feste Ver-
bindungen übergeführt werden. Daß Gase an der Grenze der
.•Xtuiosphäre von der Erde entweichen könnten, ist eine unbe-
wiesene Hypothese, jedenfalls käme diesem etwaigen Masse-
verlust gegenüber der Massenzuwachs durch aufstürzende
Meteore in Betracht, so daß sich gar nicht absehen läßt, welche
von beiden h'rscheinungen überwiegen mag. Die Astronomie
hat vorläufig durchaus noch keine Veranl.assung gefunden, die
Mas.se der Erde als eine veränderliche Größe anzusehen, da
die Änderungen für unsere jetzigen Beobachtungsmittel unwahr-
nehmbar klein sind.
Herrn U. in PI. — Als Erfinder der drahtlosen Tele-
phonie ist der Physiker Simon zu bezeichnen, auch Ruhmer
iiat Vervollkommnungen der Apparate ersonnen. Hierüber
sowie über P'rage 2 lesen Sie am besten nach in Kighi Dessau
„Die Telegraphie ohne Draht" (Braunschweig, F. Vieweg,
bespr. Bd. II, S. 431) oder auch in Ruhmer ,,Das Selen etc."
(Berlin 1902, Preis 2,40 Mk., bespr. Bd. II, S. 168).
Herrn R. K. in Wien. — Bezüglich der Literatur über
pflanzliche Elektrizität ist nachzusehen: I.Pfeffer, Pflanzen-
physiologie I. Aufl. Bd. 2 ; Pflanzenphysiologie II. .Aufl. Bd. 2,
S. 122. 2. Ewart, On the physics and physiology ofprolo-
plasmic Streaming in plants, Oxfort (At the Clarendon Preß)
1903. Enthält zahlreiche einschlägige Literaturangaben.
3. Just, Botanischer Jahresbericht unter: Physikalische Phy-
siologie. In diesem Abschnitt ist die gewünschte Literatur
sehr leicht aufzufinden. Prof. Dr. Kolkwitz.
Herrn F. in Popelau. — Die Kadaver der Tiere werden
meist sofort von anderen aufgefressen: dies der Grund, warum
man so selten welche findet.
Inhalt: Prof Dr. Richard Zander: Riesen und Zwerge. — Kleinere Mitteilungen : Ernst Röhler: Die Wurmkrank-
heit. — G. Tammann: Der Zustand des Eisens im Erdinnern. — Prof. de Kowalski und Mosel cki: Elektrische
Entladungen in der Luft. — Reichert: Ein einfacher Apparat zur Trisektion eines Winkels. — A. Schmidt und
K. Haußmann: Eine erdmagnetische Vermessung von Württemberg und Hohenzollern. — Deslandres: Die Be-
ziehungen zwischen den Sonnenflecken und dem Erdmagnetismus. — Wetter-Monatsübersicht. — Aus dem wissen-
schaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen; H. von But tel - R ee p cn: Sind die Bienen Rcflexmasehinen.- —
Sammlung chemischer und chemisch-technischer Vorträge. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs.Lichterfclde-West b. Berlii
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
JimuikL V'i
Einschliefslich der Zeitschrift „DiC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 27. März 1904.
Kr. 26.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Posl
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltcnc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinscrate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Wüsten-Laboratorium zu Tucson in Arizona.
[Nactidruck verboten.] \ un Hugo
Die Westamerikanischen Wüsten bieten so eigen-
tümliche Verhältnisse und eine so besondere Pflanzen-
welt, daß sie in vielen Hinsichten zu einem näheren
Studium auffordern. Der Einfluß extremer klima-
tischer Umstände und hier und dort sehr ab-
weichende chemische Zusammensetzungen des
Bodens lassen sich nirgendwo so klar und in so
großer Ausdehnung dem Versuch zugänglich machen
als dort. Sie bilden einen auffallenden Gegensatz
zu den tropischen Lebensbedingungen, wo die
Feuchtigkeit neben der Wärme der Hauptfaktor
ist, und die ganze lebende Natur beherrscht. Der
tropischen Üppigkeit gerade entgegengesetzt ist
die Dürre der VVüsten, und das ganze Gepräge
der Pflanzen deutet auf Wassermangel als die alles
beherrschende Ursache. Aber arm ist deshalb
die Wüstenflora keineswegs. Ohne Zweifel gribt es
einige wenige Gattungen und Arten, welche in
zahllosen Individuen ausgedehnte Gegenden über-
decken. Aber diese Arten wechseln je nach den
Bodenverhältnissen, und je nach dem Klima der
einzelnen Länder. Und neben jenen vorwiegend
strauchartigen Sorten mit kleinen ledrigen Blättern
und sehr langen Wurzeln g-ibt es eine solche
de Vries.
Fülle der Formen kleinerer und zum Teil ein-
jähriger Gewächse, daß in der Zahl der Arten
die Wüstenflora gegenüber dem Pflanzenschatz
irgend eines anderen Landes, mit Ausnahme gerade
der Tropen, gar nicht merklich zurücksteht.
Verspricht das Studium einer tropischen Lebens-
lage auf vielen Punkten höchst wichtige Auf-
schlüsse für die Forschung, so ist das nicht weniger
der Fall mit der extremen VVasserarmut dieser
Gegenden. Auch praktische Rücksichten gesellen
sich dieser Hoffnung, denn die Mittel des Wasser-
transportes dehnen sich rasch und gewaltig aus,
und manche Gegend, welche bis vor Jahrzehnten
noch Wüste war, wird jetzt allmählich für die
Landwirtschaft geöffnet.
Ausgehend von derartigen Überlegungen hat
die Carnegie-Institution zu Washington den
Beschluß gefaßt, inmitten der Wüstengegend ein
botanisches Laboratorium zu stiften, dieses mit
allen Hilfsmitteln der jetzigen Forschung auszu-
statten, einen Botaniker mit der Leitung dieser
Untersuchungen zu beauftragen, und es ferner für
den Besuch und die F"orschungsarbeiten aller Inter-
essenten offen zu stellen. Als Sitz wurde Tucson
402
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
gewählt, welches in den verschiedensten Hinsichten
eine zentrale Lage hat. Es ist eine Station der
Southern Pacific - Eisenbahn , in vier Tagen von
New-York und in 30 Stunden von San Franzisco
mit den Haupt - Schnellzügen zu erreichen. Es
liegt an einer der größeren Handelsrouten, welclie
von den südlichen Staaten nach Mexiko füiiren,
ziemlich nahe an der Grenze. Es ist zwar nur
ein kleiner Ort, mit etwa 10 000 Einwohnern, ent-
wickelt seinen Handel und seine Industrie aber
sehr rasch, besitzt eine Universität, eine landwirt-
schaftliche Versuchsstation und mehrere andere
Anstalten. Auch das Klima kann als zentral be-
trachtet werden; der Regenfall ist ein mittlerer
(etwa 12 inches), die extreme Hitze, welche in
anderen Wüsten alles Arbeiten zeitlich unmöglich
machen würde, kommt hier nicht vor, und die
Landschaft bietet auf Ebenen, Hügeln und Berg-
zügen einen größeren Reichtum des Pflanzenlebens
als in manchen melir eintönig ebenen Wüsten.
Der Boden ist nicht unfruchtbar, nur trocken, und
nicht durch die sonst vorkommenden alkalinischen
und anderen schädlichen Bestandteilen dem Pflanzen-
leben ungünstig. Dagegen führen verschiedene
Eisenbahnlinien zu den meisten umliegenden Wüsten,
und sind von dort aus in bequemer Weise zu
erreichen.
Der Gedanke zu der Errichtung dieses Labora-
toriums ist ausgegangen von F. V. Coville in
Washington und D. T. Mac Dougal in New-
York, zwei bekannten Botanikern , welche sich
durch viele Reisen in den westamerikanischen
Wüsten mit diesen Gegenden seit mehr als zwölf
Jahren durchaus vertraut gemacht, und grund-
legende Beschreibungen ihres botanischen Reich-
tums veröfientlicht haben. Auf Vorschlag des
ersteren wurde der Beschluß zu der Gründung
gefaßt ; beide Herren wurden zum Ausschuß er-
wählt, und zunächst mit einer Inspektionsreise be-
auftragt, um die verschiedenen Orter, welche neben
Tucson zur Wahl geeignet schienen, zu besuchen
und endgültig zu beurteilen. Sie untersuchten
die Wüsten von Texas, die Chihuahua-Gegend in
Mexiko, den Tularosa-desert, New Mexiko und
Arizona, die Guaymas-Wüste, welche sich an der
Mündung des Colorado-Flusses bis ans Meer er-
streckt, und der sogar einige Inseln im Golf von
Kalifornien angehören, und schließlich auch den
etwas nördlicher in Kalifornien gelegenen Mohave-
desert. Sie wählten schließlich Tucson.
Die Veröfi'entlichungen der Carnegie-In-
stitutions enthalten in Nr. 6 einen ausführlichen
Bericht über diese Reise, mit einigen Karten und
mit etwa dreißig größeren photographischen Auf-
nahmen, welche ein klares Bild dieser ganzen
merkwürdigen Gegend geben, und sehr zum Be-
such auffordern. Letzterer wird jetzt durch die
Gründung des Laboratoriums in hohem Maße er-
leichtert. Als Leiter, mit dem Titel Resident
Investigator, wurde Dr. W. A. Cannon
aus New-York ernannt, der gerne bereit ist, Bo-
tanikern und anderen Forschern zur Hilfe zu sein
und ihren Aufenthalt so fruchtbringend wie nur
möglich zu machen.
Die städtischen Behörden von Tucson haben
dem neuen Institute eine kräftige Hilfe verliehen.
Namentlich haben Herr Adams, der Präsident
der Universität, und Professor R. H. Forbes,
der Leiter der Agricultural Experiment Station
vieles zu dem anfänglichen Erfolg beigetragen.
Die Stadt selbst hat, auf Veranlassung des Herrn
Manning, President of the Chamber of Com-
merce, das erforderliche Terrain für den Bau ge-
schenkt, mit ausgedehnten Besitzungen, in denen
die Wüstenflora auch bei etwaiger Ausdehnung
der Landwirtschaft und namentlich der Industrie
in dieser Richtung frei und unverändert erhalten
werden kann.
Denn das Institut liegt in einer Entfernung
von etwa zwei Meilen von der Stadt, auf dem
Rücken einer mit niedrigen Sträuchern und Riesen-
Kakteen (Cereus giganteus) bewachsenen Hügel-
reihe. In den Löchern der oft 40 Fuß hohen, ge-
raden und wenig verzweigten Stämme dieser
Wüstenriesen nisten die Vögel. Wasser gibt es
selbstverständlich nicht, und die Stadt hat nicht
nur eine Straße und eine Wasserleitung, sondern
auch elektrische Leitung für Licht und Kraft bis
zum Laboratorium herstellen lassen. Dieses wird
telephonisch mit dem Post- und Telegraphenamt
verbunden. Ganz isoliert ist man dort inmitten
der Wüste nicht.
Tucson gehörte bis etwa 1850 zu Mexiko, und
ging dann durch Kauf an die Vereinigten Staaten
über. Bis zu jener Zeit war es eine Ansiedlung
der Papago Indianer, und war gegen die Streif-
züge der Apachen mit Mauern umwallt. Die
Papago Indianer trieben dort eine Art Landwirt-
schaft, welche dem dürren Klima in hohem Grade
angepaßt war. Sie bauten in der Regenzeit nament-
lich Bohnen und Mais, und zogen während des
Sommers, als nichts mehr wachsen konnte, nach
Süden auf die Jagd. Sie haben im Laufe vieler
Jahrhunderte dort gewohnt, und zur Ausbildung
der landwirtschaftlichen Gewächse und der Me-
thode des Baues in diesem trockenen, regenarmen
Klima sehr bedeutend beigetragen. Ihre Erfahrungen
harren des wissenschaftlichen Studiums, um eine
wichtige Basis für ferneren P'ortschritt zu werden.
Die Hügel, auf denen das Laboratorium er-
richtet worden ist, sind namentlich mit lockerem
Gebüsch bedeckt. Sie erheben sich bis etwa
2400 Fuß über dem Meeresspiegel, während das
benachbarte Santa-Catalina-Gebirge noch 6000
Fuß höher hinansteigt. Den Hauptbestand des
Gehölzes bildet der in den meisten amerikanischen
Wüsten überwiegende Kreosotstrauch (Co vi 11 ea
tridentata), zwischen dem mehrere Arten von
Opuntia mit zumeist zylindrischen Stämmen wachsen.
Hier findet man Ephedra trifurca und den großen
Faß-Kaktus (Echinocactus), dessen Kopf die In-
dianer abhauen, um das Mark zu einem Brei zu
rühren und zu trinken. Prosopis und Acacia
Greggi wachsen in den tieferen undetwas feuchteren
N. F. III. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
403
Einschnitten. Auch die Riesen-Kakteen sieht man
überall aus dem niederen Gebüsch hoch empor-
ragen. Zwei Arten von Palo Verde (Pakin -
sonia niicrophylla und P. t o r r e y a n a), Oco-
tillo (Fouquieria splendens), zwei Arten von
Lycium und eine Reihe anderer holziger Gewächse
stellen ferner das Gebüsch zusammen. Die ein-
zelnen Sträucher sind groß und weit verzweigt,
jeder bildet einen eigenen Busch, und zwischen
diesen ist der Boden teils mit kleineren peren-
nierenden Gewächsen bedeckt, großenteils aber
nackt.
Denn gerade dieses ist der Charakter der
Wüste: die Pflanzen erreichen nie eine so große
Zahl oder eine so große Ausdehnung, daß sie den
ganzen Boden bedecken. Mehr als die Hälfte,
oft noch weit größere Teile, bleiben frei, und der
austrocknenden und verpulvernden Hitze der Sonnen-
strahlen, sowie dem Spiel der Winde überlassen.
Und die Winde greifen kräftig ein. Hier häufen
sie Hügel und Dünen von Sand an, dort führen
sie den Sand in horizontaler Richtung mit großer
Geschwindigkeit und Kraft weit über die ausge-
dehnten Ebenen. Was dem Winde im Wege steht,
wird von ihm poliert und geritzt, und so tief reibt
der Sand in Rinde und Holz hinein, daß die
Telegraphenträger an der Eisenbahnlinie mehrfach
am Boden so stark zerstört wurden, daß der Wind
sie umstürzen konnte. Man sieht sie jetzt überall
bis zu einer Höhe von Vo — i ni mit lockeren Steinen
umgeben, um dieser Abreibung vorzubeugen.
Sanddünen schreiten selbstverständlich lang-
sam vor, sie erfüllen die Räume zwischen den
Zweigen der Sträucher und es entsteht ein ganz
merkwürdiger Streit zwischen dem emporwachsen-
den Strauch und dem sich anhäufenden Sande.
In unseren Dünen kämpfen in dieser Weise die
Birken, dort sind es die Yucca und andere bei
uns nur als Ziergewächse bekannte Arten.
Die Flora der Wüsten ist stellenweise eine
außerordentlich reiche. Im Colorado-desert liegt
eine Hügelreihe, deren Regenwasser zuerst über
eine Lehmschicht fließt, bevor es sich im Sand
verliert. Hier wachsen haushohe Palmen in kleinen
Gruppen in den Einschnitten (Neo was hing-
ton ia filifera). Überall sieht man von weitem
die dunklen Gruppen am Fuß der Hügelreihe. So
an den San Bernardino-Bergen in der Nähe von
Indio, wo sich diese Gruppen über eine Linie von
vielen Meilen erstrecken. Fast reiner Gipsboden,
oder ein überwiegender Gehalt an schwefelsauren
Salzen bedingen wiederum einen ganz anderen
Pflanzenwuchs, und die Frage, welcher Art diese
Bedingung ist, läßt sich gewiß hier besser als
irgendwo sonst studieren. Sind die Pflanzen an
Ort und Stelle durch den Boden und durch das
Klima umgewandelt worden, wie man gewöhnlich
annimmt, oder sind aus der Flora der umliegen-
den Gegenden nur solche Arten zur Verbreitung
in die Wüste gelangt, als gerade bereits die dazu
erforderlichen Eigenschaften besaßen ? Die Frage
ist teils auf dem Wege des Experiments, teils
durch floristische und statistische Studien zu be-
antworten, und die Aussicht auf Erfolg ist wohl
nirgends so groß als gerade im neuen Labora-
torium zu Tucson.
Die Beziehungen des Regenfalles zu der Flora
harren gleichfalls des näheren Studiums, und diese
Aufgabe steht in erster Linie auf dem Programm
der Versuchsstation. Ist der spärliche Regen ziem-
lich gleichmäßig über das ganze Jahr verteilt, so
bedingt dieses eine sogenannte xerophytische Vege-
tation; fällt er dagegen periodisch in größeren
Mengen, so pflegen die Pflanzen dieses Wasser
aufzusaugen und in sich anzuhäufen, um den Be-
darf der trockeneren Jahreszeiten daraus bestreiten
zu können. Die xerophytischen Gewächse sind
dürr und dünn, holzig und trocken, mit kleinen
lederigen, oft zusammengerollten Blättern und
meist sehr langen Wurzeln. Wasseranhäufung da-
gegen führt zum Typus der Kakteen.
Sehr wichtig ist ferner ein vergleichendes
Studium der westamerikanischen Wüsten mit denen
der alten Welt. Vieles ist ähnlich, manches ist
anders. Um dieses Studium anzubahnen, hat der
Leiter des Laboratoriums, Cannon, zunächst eine
möglichst vollständige Bibliographie der Wüsten
zusammengebracht, und im Berichte über die
Stiftung veröffentlicht. Sie enthält über 200
Nummern, teils dem Klima, dem Boden und dem
Wasser gewidmet , hauptsächlich aber die bio-
logischen Verhältnisse berücksichtigend. Neben
den Arbeiten von Gray, Merriam, Coville
und anderen amerikanischen Forschern findet man
hier diejenigen von Warming, Schimper,
Volkens, Wiesner und vielen anderen zu-
sammengestellt.
Alles deutet im Laboratorium zu Tucson auf
großartige Auffassung der zu behandelnden Pro-
bleme, und auf den Wunsch nach internationalen
Beziehungen im Interesse der Wissenschaft und
des Landes. Amerika ist reich an persönlichen
Stiftungen im allgemeinen Interesse, und diese
jüngste Gabe wird nicht nur ihrem Mäcenas, Herrn
Carnegie, sondern auch ihren wissenschaftlichen
Gründern, den Herren Coville und MacDougal,
gewiß zur hohen Ehre werden. Mögen auch viele
t^uropäer sich an ihrer Blüte beteiligen 1 —
Der Winterschlaf.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. med. Ludwig Reinhardt.
Unerschöpflich wie die Natur selbst sind die halten. Wenn bei uns der frostige Winter mit
mancherlei Mittel, welche sie anwendet, um das seinen kurzen Tagen und seinem Nahrungsmangel
Leben da, wo es gefährdet sein könnte, zu er- einkehrt, ebenso wenn in den Tropen die Sonne
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
ihre Herrschaft angetreten und alle Vegetation
zum Ersterben gebracht hat, indem völlige Trocken-
heit eingetreten ist, so müssen viele Lebewesen,
die aus Mangel an Fortbewegungsorganen der Un-
gunst der betreffenden Jahreszeit nicht entfliehen
können, um nicht zugrunde zu gehen ihren Stoff-
wechsel dermaßen einschränken, daß sie in einen
schlafähnlichen Zustand verfallen. Weil in unseren
Breiten dieser Sparschlaf, wenn wir uns so aus-
drücken dürfen, in den Winter fällt, so nennen
wir ihn deshalb Winterschlaf, aber da er in warmen,
aus Regenmangel zu einer Trockenheit führenden
Landstrichen in den Sommer fällt, so ist leicht
einzusehen, daß nicht der Winter, also die Kälte
an sich, etwa durch Erstarrung diesen Schlaf-
zustand bedingt, sondern daß einzig nur der Mangel
an Subsistenzmitteln, sei es Nahrung oder sei es
Wasser, diese Einschränkung der Lebenserschei-
nungen aus Sparsamkeitsgründen hervorbringt.
Alle Tiere, die sich dieser schlimmen Jahreszeit
nicht entziehen können, die nicht etwa wie die
leicht beschwingten Vögel, sich vor dem Hunger
durch Auswanderung flüchten, schränken vorüber-
gehend ihren Stoffwechsel über diese Zeit ein, um
dann später bei eintretenden günstigeren Bedin-
gungen um so intensiver ihre Lebensfunktionen
zu entfalten.
Bei den wechselwarmen Tieren, bei denen die
Temperatur des Blutes mit der Temperatur der
sie umgebenden äußeren Luft steigt und fällt,
sieht man die Intensität aller Lebensfunktionen mit
der Temperatur zu- und abnehmen. Wie die
Eidechse am heißen Sommertage auf der von
Wärme durchglühten Felsenwand blitzschnell dahin-
schießt, so träge bewegt sie sich an kalten Tagen,
um im Winter gar in lethargischem Schlafe zu
erstarren. Und wie sie treiben es alle wechsel-
warmen Tiere, die nicht ihre Bluttemperatur un-
abhängig von der sie umgebenden Luft oder dem
Wasser zu erhalten vermögen. So energisch ihre
Lebensäußerungen auch in der Wärme sein können,
so träge und apathisch werden sie in der Kälte,
um über den Winter sich in irgend welchen Schlupf-
winkeln, in die sie sich verkrochen, in förmlichem
Scheintod der Wiederkehr des Frühlings und der
Wärme entgegenzuschlummern.
Die warmblütigen Tiere , die unabhängig von
der Temperatur des sie umgebenden Mediums
konstante Bluttemperatur erreicht haben , sind
dadurch nicht nur über die kalte Jahreszeit
besser gestellt, sondern haben durch diese
Fähigkeit der Unabhängigkeit von der Außen-
welt in erster Linie die höchste Stufe der vitalen
Energie und intellektuellen Fähigkeiten erlangt,
wodurch sie sich weit über die wechselwarme
Tierwelt erheben konnten.
Aber unter dieser bessersituierten Tierwelt der
Warmblüter gibt es minder Begünstigte, die aus
äußeren Gründen des Nahrungsmangels von dieser
Höhe vitaler Energie vorübergehend aus Zweck-
mäßigkeit heruntersteigen und sich der eisernen
Notwendigkeit fügen, um kürzere oder längere
Zeiten des Hungers zu verschlafen. Wir nennen
sie Winterschläfer, weil sie bei uns den
Winter verschlafen, wie beispielsweise das Murmel-
tier, der Hamster, der Siebenschläfer, der Ziesel,
die Haselmaus, die Fledermaus, der Bär, der Igel
u. a. m.
Der wesentliche Unterschied zwischen einem
winterschlafenden und einem schlafenden Säuge-
tier ist nun der, daß beim schlafenden nur die
Gehirnfunktionen auffallend herabgesetzt sind, weil
das hochstehende Organ intellektueller Tätigkeit
periodischer Ruhe zu seiner Erholung bedarf,
während beim winterschlafenden Tier, das nicht
sowohl ausruht als in höchster Sparsamkeit sich
über eine Periode des F"uttermangels hinweghilft,
alle Lebensfunktionen auf ein Minimum reduziert
sind, so weit, daß es von einem toten Tiere
kaum zu unterscheiden ist. Die Körpertemperatur
kann bei ihm unter o" sinken. Dr. Alexander
Horvarth in Straßburg maß 1875 sogar eine
Mastdarmtemperatur von — 0,2" C bei einem
winterschlafenden Ziesel, das keineswegs tot war,
vielmehr einige Zeit darauf erwachte und völlig
munter wurde.
Die Blutzirkulation und Atmung sind während
des Winterschlafes sehr herabgesetzt; der Blut-
kreislauf stockt bisweilen in ganzen Gefäßbezirken
und die Atmung kann sogar völlig still stehen.
Der französische Arzt Dr. Jean-Antoine Saissy
in L_\-on (1756— 1822), dem wir die wertvollsten
Versuche über den Winterschlaf aus älterer Zeit
verdanken, konnte schlafende Murmeltiere in giftige
Gase bringen oder unter Wasser tauchen, ohne
daß sie umkamen. Es ist aber nicht bloß die
äußere Atmung hochgradig herabgesetzt, sondern
damit einhergehend auch die innere Atmung,
worunter wir die Verbrennung von Sauerstoff und
die Spaltungsprozesse in den Geweben verstehen;
denn das Blut bleibt arteriell, das heißt es behält
einen Überschuß an gebundenem Sauerstoff, trotz
der verlangsamten Zirkulation. Gemäß der auf
ein Minimum reduzierten Lebenstätigkeit scheiden
auch die Drüsen fast nichts ab. Die Harnaus-
scheidung ist minimal, ebenso die Absonderungen
der Leber und des Darmkanals; das Tier entleert
sich erst nach Monaten, wenn es erwacht ist. Die
ganze Zeit über lebt es von dem in den voraus-
gegangenen, günstigeren Monaten in seinen Körper-
geweben aufgespeicherten Reservematerial , wie
besonders Fett, dann auch etwas Eiweiß. Die
Reflexerregbarkeit ist gemäß seinem eingeschränkten
Leben sehr herabgesetzt, bisweilen sogar völlig
aufgehoben. Durch den größten Lärm kann man
es niclit aufwecken, es scheint völlig taub zu sein.
Fragen wir nach den Bedingungen des Eintrittes
dieser auf Lebenseinschränkung beruhenden Le-
thargie, so können wir uns leicht überzeugen, daß
es nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die Kälte
ist, welche sie verursacht; denn manche der so-
genannten Winterschläfer schlafen gerade in der
wärmsten Jahreszeit, wo eine mit Futtermangel
einhergehende Trockenperiode zu überwinden ist.
N. V. III. Nr. 26
Naturwisscnschaftliclie Wochenschrift.
405
Wie die Krokodile, Schlangen und auch einige
Fische der heißen Himmelsstriche während der
Zeit der Dürre unter einer Schlammdecke ver-
borgen ihr reduziertes Leben führen, bis neue,
durch Regengüsse herbeigeführte bessere Lebens-
bedingungen ihnen eine Auferstehung ermöglichen,
so verkriecht sich beispielsweise der Tanrek auf
Madagaskar, ein igelartiger Insektenfresser, während
der trockenen Jahreszeit in seine unterirdischen
Höhlen und Gänge und verfällt in tiefen „Winter-
schlaf".
Daß auch bei den Winterschläfern unserer Breiten
nicht die Kälte, sondern die Nahrungsenthaltung
die primäre Ursache des Winterschlafes ist, bedarf
keines Beweises mehr. Um nur eine Tatsache
anzuführen, hat der italienische Forscher Albini
ein Murmeltier bei guter Ernährung zuerst bis
in den Anfang Januar wach erhalten. Als er so
dann das Tier einige Tage fasten ließ, verfiel es
innerhalb von vier Tagen in tiefen Schlaf, der so
lange anhielt, bis das Tierchen durch fortgesetztes
Elektrisieren und künstliche Erwärmung aufge-
weckt wurde. Es erwachte nach zwölf Tagen
und machte sich sofort über die Kastanien und
den Honig her, die man ihm in den Käfig gelegt
hatte. Nunmehr brachte man das Murmeltier
wieder in einen kalten Raum, aber es blieb wach
und warm und zeigte gar keine Lust, sich der
Nahrung zu enthalten. Schließlich wurde ihm
sogar das Heu aus dem Käfig genommen, so daß
es mit dem harten und kalten Zink seines Ge-
fängnisses in direkter Berührung blieb; trotzdem
zeigte sich bei ihm auch nicht einmal eine An-
wandlung von Schläfrigkeit, während das Thermo-
meter Mitte Februar jenes Jahres in Neapel bis
auf fünf Grad unter den Gefrierpunkt sank und
die Fenster zu der Behausung des Murmeltieres
ofifen standen. Als die Temperatur wieder stieg,
schien es eine Anwandlung von Schlafbedürfnis
zu haben, aber sie ging wieder vorüber.
Auch beim Ziesel tritt nach dem schon er-
wähnten Forscher AI. Horvarth der Winterschlaf
keineswegs mit der kalten Jahreszeit ein. In Süd-
rußland wimmelt es auf vielen Feldern von Zieseln ;
sie sind dort eine Landplage, und es bleiben frucht-
bare Felder ihretwegen unbebaut. Ein Gutsbesitzer
ließ deren in einem Jahre 40 000 auf seinen Feldern
töten. Diese Tiere erfüllen im Sommer mit den
pfeifenden Tönen, die sie ausstoßen, die Luft. Aber
im August wird es plötzlich still, obgleich die
Temperatur noch bis 30" C beträgt, — die Ziesel
haben sich in ihre Schlupflöcher verzogen, die
senkrecht ein bis vier Meter tief sich erstrecken.
Dort beträgt die Temperatur konstant etwa 15" C
und sinkt auch im Winter kaum tiefer herab. Aber
da die Ziesel nach Einsammeln ihres F"utters draußen
nichts mehr finden, so ziehen sie sich in ihre
Schlupfwinkel zurück, um zu schlafen, zwischen
hinein wohl auch aufzuwachen und von den ein-
gesammelten Vorräten zu verzehren. Gefangene
Ziesel sah Horvarth schon bei 17" und 18" C
einschlafen und fand, daß die für ihren
Winterschlaf günstigste Temperatur 10 bis 13" C
beträgt.
Viele Winterschläfer, die gewöhnlich in der
kalten Jahreszeit schlafen, sieht man bisweilen auch
in der warmen Jahreszeit in tiefe Lethargie ver-
sunken. Es scheint, daß dieses eintritt, wenn sie
sich gemästet haben. Prof. E. Forel, der be-
kannte Ps\'chiater und Ameisenforscher, hielt sich
zwei Siebenschläfer und sah sie, nachdem sie den
Winter über im warmen Zimmer mit Nüssen sich
aufgemästet hatten, im Mai in Winterschlaf ver-
fallen. Doch ist es unmöglich, Winterschläfer im
Sommer durch Kälte in den Winterschlaf zu ver-
setzen. Dabei zeigte es sich , daß die Winter-
schläfer sich ganz anders verhalten als die übrigen
Säugetiere. Die Winterschläfer überlebten wieder-
holte Abkühlungen auf 4" bis 1,2" C, während die
übrigen Säugetiere bei 19" bereits umkamen. Man
kann diese letzteren, wenn ihr Körper bis zur
angegebenen Temperatur abgekühlt ist, nicht mehr
durch Erwärmen wiederbeleben, es sei denn, daß
künstliche Atmung zu Hilfe kommt. Junge nicht
winterschlafende Tiere dagegen, wie Hunde, konnte
Horvarth bis auf 5" C abkühlen, ohne daß der
Tod eintrat.
Das Erwachen aus dem Winterschlafe erfolgt
nicht bloß durch das Steigen der Temperatur
in der L^igebung, sondern ebenso durch allzu
große Kälte. Verschiedene Forscher sahen winter-
schlafende Tiere durch strenge Kälte, wie Tempera-
turen unter o", geweckt werden und sich wärmere
Orte suchen.
Wenn Winterschläfer erwachen, so ist zunächst
das rasche Steigen der Körpertemperatur merk-
würdig. Es ist dies ein Zeichen, daf.5 die redu-
zierten vitalen Vorgänge wieder eine Steigerung
erfahren und die Maschine, die Arbeit verrichten
soll, wieder geheizt wird. Ein winterschlafendes
Murmeltier von 5" C Eigenwärme in ein Zimmer
von 24" C gebracht, erwachte, nach Saissy,
nach 5 Stunden, wobei es eine Körpertemperatur
von 16" C hatte. Nach 9 Stunden schon hatte
es seine normale Körpertemperatur von 35" C
erreicht, wie vor dem Einschlafen. Igel erreichen
das Maximum ihrer Temperatur in 5 — 6, Fleder-
mäuse in 3 — 4, Haselmäuse schon in 2 Stunden.
Ein Ziesel braucht nach Horvarth zum völligen
Erwachen aus dem Winterschlafe 2 — 3 Stunden
und dabei kann die Körpertemperatur von 8" auf
32" C, in den letzten 40 Minuten von 21" auf
32" C steigen! Dabei ist die Atemfrequenz nicht
einmal über die Norm gesteigert.
Es ist dies sehr merkwürdig, daß sich der
aus 70 Prozent Wasser von hoher spezifischer
Wärme bestehende Tierkörper in 40 Minuten um
11'^ C erwärmen kann, ohne die Atmung zu
steigern, was doch bei der intensiv gesteigerten
inneren Verbrennung zu erwarten wäre. Die Tat-
sache erklärt sich daraus, daß das Tier während
seines Winterschlafes einen Überschuß von Sauer-
stoff, den es bei dein hochgradig herabgesetzten
Leben nicht verbrennt, in lockerer Bindung in den
406
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
Geweben aufspeichert und dann im Moment des
Erwachens unter stärkerer Wärmeentwicklung
rasch verbrennt.
Wenn auch die Ursache, welche zum Winter-
schlafe führte, nicht überall die gleiche war, so
können wir doch mit Bestimmtheit sagen, daß in
unseren Breiten die letztenEiszeiten ihn hervor-
gerufen haben. Sie waren es, welche die in den
Zwischeneiszeiten in diese Gebiete eingewanderten
Tiere zwangen, wenn sie nicht der Kälte und dem
durch sie bedingten Nahrungsmangel zum Opfer
fallen wollten, solche Schutzeinrichtungen zu treffen,
welche ihnen über Zeiten der Not und des Mangels
hinweghalfen. Die leichtbeschwingten Vögel, deren
große vitale Energie ihnen nicht erlaubt in Lethar-
gie zu verfallen, wurden durch sie zur Auswande-
rung über den Winter, d. h. zum Wanderfluge ge-
zwungen, während die minder beweglichen kleine-
ren Säugetiere den Sparschlaf zur Erhaltung ihres
Lebens sich aneigneten. Ein jedes Tier hilft sich
eben so, wie es ihm seine Organisation erlaubt.
Während die Natur für ihre hilflosen Geschöpfe
aufs beste gesorgt hat, sich über eine Zeit der
Not schlafend hindurchzufasten, hat es der Mensch
weniger gut. Die soziale Frage wäre zum größten
Teile gelöst, wenn wir die vielen Beschäftigungs-
losen, die den Winter über frierend sich hindurch-
hungern müssen, auf ähnliche Weise bis zum Früh-
jahr bei minimalem Leben versorgen könnten. Die
überaus armen russischen Bauern versuchen in
Hung-erwintern, wie sie bei ihnen nicht gerade
selten sind, auf einem Haufen zusammenliegend,
um sich gegenseitig zu wärmen, und möglichst
beständig schlafend, um die die Nahrungszufuhr
erheischende innere Verbrennung möglichst ein-
zuschränken, sich bis zum Anbruch der wärmeren
Jahreszeit hindurch am Leben zu erhalten. Höch-
stens einmal im Tag wird eine kleine Mahlzeit
gehalten, die zu einem mit irgend welcher Arbeit
verbundenen Leben ungenügend wäre. Aber für
diese Art zu vegetieren, genügt das bischen Speise
gerade, um die armen Schlucker vor dem Ver-
hungern und Erfrieren zu schützen.
Weiter in der Kunst wie die Winterschläfer
scheintot ohne Lebensäußerungen eine kürzere
oder längere Zeit zu überdauern ohne doch zu
sterben, haben es die indischen Fakire, die
sogenannten Yogi, gebracht, die nach jahre-
langen Übungen und Vorbereitungen nach Ent-
leerung und vollständiger Reinigung des Magens
und der Gedärme langsam, durch eine Art Selbst-
h3.'pnose, Herzschlag und Atmung aussetzen und
in eine Art Scheintod verfallen, in dem sie ohne
Nachteil mehrere Wochen selbst in luftdichtem
Behälter eingeschlossen es aushalten können, bis
man sie durch gewisse Manipulationen zu neuem
Leben erweckt.
Ungläubig werden wohl manche unter den Lesern
diese Tatsache aufnehmen. Und in der Tat ist
mit diesem zum Zweck gewisser religiöser Übungen
der Hindu in Szene gesetzten künstlichen Schein-
tod von profanen Schwindlern teils in Indien selbst.
teils in Europa, wie beispielsweise bei Gelegenheit
der Millenniumausstellung in Budapest, schlimm
betrogen worden, wodurch die jedenfalls biologisch
sehr interessante Tatsache bei vielen diskreditiert
und zum Humbug degradiert wurde. Aber aus
den Berichten mehrerer vollkommen glaubwürdiger
europäischer Augenzeugen wissen wir, daß in Indien
von Zeit zu Zeit solche in strengster Askese lebende
Anhänger der Yogaphilosophie, die sich den Yoga,
das heißt die mystische Vereinigung mit der Gott-
heit zum Ziele gesetzt haben, auftreten und solche
uns Abendländern vollkommen unverständliche
Beweise eines selbst Wochen hindurch geführten
latenten Lebens geben, daß wir wenigstens die
Möglichkeit solchen Tuns ohne Vorbehalt zugeben
müssen. Durch lange fortgesetzte Kasteiungen,
wobei diese Adepten sich durch Autosuggestion
in immer länger anhaltenden Schlaf versetzen,
bereiten sie sich für Erlangung der höheren Stufe
der Gottähnlichkeit, wie sie glauben, jahrelang vor.
Nach diesen Vorübungen, bei denen sie sich in
eine enge unterirdische Zelle einschließen , in
welcher eine möglichst gleichmäßige Temperatur
herrscht, beginnen sie nach Durchschneiden des
Zungenbändchens ihre Zunge zu verschlucken, um
so den Eingang in die Lunge zu verlegen, halten
dann Atmung und Herzschlag willkürlich an und
wenn dies auch anfänglich nur für kurze Zeit ge-
lingt, so bringen sie durch Übung und fortdauernde
Selbsthypnose oder Autosuggestion durch Fixieren
der eigenen Nasenspitze oder der Stelle zwischen
den Augenbrauen es bald dahin , daß sie will-
kürlich in Scheintod verfallen können. Dieser
künstliche Scheintod, während dessen die Yogi
sich sogar haben begraben lassen, ist in Indien
selbst von vorurteilsfreien Beobachtern gesehen
worden und müssen wir uns unter die für unsere
Vorstellungen allerdings unerklärliche Tatsache
beugen. Was winterschlafende Tiere aus Not er-
reicht haben, hat der Mensch aus einem irre-
geleiteten religiösen Bedürfnis zu erreichen ge-
sucht. Allerdings muß man schon ein indolenter,
in beschaulichem Vegetieren die höchste Befriedi-
gung fühlender Hindu sein, um sich solchem sonder-
baren Sporte hinzugeben. Da derselbe aber ein
integrierender Bestandteil der religiösen Anschau-
ungen dieser fanatischen Yogasekte ist, so wird
sich nie ein solcher Scheintodkünstler gegen Geld
öffentlich zeigen. Das wäre in ihren Augen Pro-
fanation. Deshalb ist es so schwer, über diese
überaus interessante biologische Erscheinung des
freiwilligen Reduzierens aller Lebenserscheinungen,
die wir unfreiwillig beim Tiere beobachten, auch
beim Menschen wissenschaftlich gesicherte Be-
obachtungen anzustellen. ')
Hier sind unserem Wissen, so wie wir es heute
besitzen, Grenzen gezogen, die zu überschreiten
uns unmöglich ist. Aber damit ist noch lange
') Im letzten Winter hielt sich übrigens einer dieser sonder-
baren Heiligen eine Zeitlang in Berlin auf und überzeugte
mehrfach Zeitungsreporter von seiner Fähigkeit, das Herz für
einige Minuten zum Stillstand zu bringen. Anm. d. Red.
N. F. III. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
407
nicht gesagt, daß nicht künftige, weiter im Natur-
erkennen und damit auch im Naturbeherrschen
gekommene Generationen dieses Rätsel, das uns
in den mancherlei Erscheinungen des Lebens ent-
gegentritt, ganz oder teilweise lösen werden. Wir
stehen erst am Anfang einer langen Entwicklung.
Ein Naturerkennen und damit einhergehend ein
Naturbeherrschen, das unseren Urgroßeltern noch
undenkbar, selbst unmöglich erschien, ist heute
auf manchen Gebieten der Naturwissenschaft er-
reicht und technisch so ausgebildet worden, daß
es Gemeingut der heutigen Menschheit ist. Und
nach uns werden erleuchtetere Geschlechter
Kleinere Mitteilungen.
Einen interessanten Fall von Synästhesie
teilt Dr. Helene Friederike Stclzner im
Archiv für Ophthalmologie, LV. Bd., 3. Heft, mit.
Unter Synästhesie versteht man die durch Er-
regung eines Sinnesorganes hervorgerufene, sekun-
däre Empfindung in einem anderen Sinnesorgane,
und zwar sind folgende Kombinationen bis jetzt
beobachtet worden: i. Sehen von Tönen : primäre
Beteiligung des Gehörs-, sekundäre des Gesichts-
sinnes; 2. Hören von Farben: primäre Beteiligung
des Gesichts-, sekundäre des Gehörssinnes; 3. Sehen
der Geschmäcke: primäre Beteiligung des Ge-
schmacks-, sekundäre des Gesichtssinnes; analog 4.
Sehen der Gerüche, 5. Sehen der Schmerzen. Der
mitgeteilte Fall gehört zur ersten Kategorie und
ist deshalb besonders interessant, weil er eine
Selbstbeobachtung darstellt und frei von den bei
solchen Fällen gern vorhandenen phantastischen
Übertreibungen ist. Dr. St. hat, seit ihrer Kind-
heit unverändert, beim Hören jedes Vokales oder
Diphthongs eine Farbenempfindung, „während die
Konsonanten gewissermaßen nur als graue bis
schwarze Dämpfer dazwischen sitzen", und zwar
erwecken die einzelnen Vokale folgende Farben-
empfindungen: A = Grau, je nachdem der Vokal
heller oder dunkler gesprochen wird, von Silber-
farbe bis Bleigrau; E = Schneeweiß; J = hartes
leuchtendes Rot; O = Braun, etwa Schokolade-
farbe; U ^= Tiefschwarz; A = eine Mischung
von Grau, Gelb und Weiß, wie Küstensand etwa;
Ei = Gelb; Eu = Blau wie Preußischblau;
Au ^ Himmelblau ; 0 = Hellbraun ; Ü = Purpur-
rot. Ebenso werden durch musikalische Klänge,
Töne und Akkorde, bestimmte Farbenempfindungen
geweckt. Bei einem Teile der solche Synästhesien
aufweisenden Personen, zu dem auch Dr. St. ge-
hört, werden die Farben im Gehirne empfunden,
etwa wie eine bengalische Beleuchtung des Schädel-
innern, während sie von dem größeren Teile der-
selben nach außen projiziert werden und dabei
z. T. bestimmte Konturen und Formen annehmen.
Diese letzteren, sowie allerhand z. T. komplizierte
Licht- und Farbenvorstellungen und -bilder, die
gelegentlich als durch bestimmte Musikstücke,
Namen von Personen und ganz abstrakte Begriffe
hervorgerufen beschrieben sind, sind allerdings
kommen, die die Natur in noch ganz anderer
Weise erkennen und beherrschen werden, denen
wird so manches, das uns Anfängern und Stümpern
in der Erkenntnis ein unlösbares Rätsel erschien,
als ganz einfach und selbstverständlich vorkommen.
Die hier ansetzende Entwicklung können wir mit
unserem schwachen Geiste nur vermuten. Aber
weit über unsere Vermutungen und heißesten
Wünsche hinaus wird sie die Menschheit führen
auf eine Höhe der Erkenntnis und des Beherrschens
der ihn umgebenden Natur, voii der wir kurzlebigen
Menschen uns heute keine Vorstellung machen
können.
sehr zweifelhaft und wohl so zu erklären, daß
eine lebhafte Phantasie poetisch-bildliche Ausdrücke
mit wirklichen Sinneserregungen verwechselt hat.
Das beschriebene Sehen von Tönen tritt ausge-
sprochen erblich und familienweise auf, in dem
Falle der Verfasserin unter den Geschwistern und
Geschwisterkindern nur bei den weiblichen Familien-
gliedern. Nach den bis jetzt vorliegenden, nur
sehr wenigen statistischen Zusammenstellungen
soll das Phänomen bei 8 — lo, ja bei über 12 "/o
aller Menschen , allerdings meist nur in sehr ge-
ringer Intensität, vorhanden sein. Zur Erklärung
der optisch -akustischen Synästhesie nimmt man
abnorme Faserverbindungen zwischen den optischen
und akustischen Zentren der Hirnrinde oder an-
derer Hirnteile an, ohne jedoch einen Beweis für
diese H\-pothese erbringen zu können , da anato-
mische Untersuchungen darüber noch nicht vor-
liegen. Dr. Weinhold.
Über die Wirkung der Labyrinthe und
des Thalamus opticus auf die Zugkurve des
Frosches berichtet Gustav Emanuel in
Pflüger's Archiv f. d. ges. Phys. (99. Bd., 7. und
8. Heft), indem er den Einfluß der Labyrinthe
und der Sehhügel auf den Muskeltonus bei Rana
esculenta zum Gegenstande seiner Untersuchung
macht. Das Vorhandensein eines derartigen Zu-
sammenhanges ist seit den Erörterungen Ewald 's
über die durch den \^estibularis vermittelten
Gleichgewichtsstörungen und durch die sich daran
schließenden zahlreichen Untersuchungen unzweifel-
haft dargetan. Der Anteil, welcher dem Thalamus
opticus an der Erregung des Muskeltonus zukommt,
bildet den Gegenstand der obengenannten Arbeit.
Dieselbe stützt sich auf im Jahre 1893 von Ewald
angestellte Experimente und beweist den Zu-
sammenhang zwischen dem Labyrinthtonus und
der „Zugkurve" der Froschbeinmuskulatur.
Wird ein Frosch in vertikaler Stellung derart
befestigt, daß die Beine senkrecht herunterhängen,
und an der Mittelzehe jedes Fußes je ein mit
einem Kymographion verbundener Hebel befestigt,
so werden die durch ein Gewicht beschwerten
Beine infolge eines kurzen Zuges oder Druckes
nach unten gezogen, um sich sogleich nach oben
zu heben und nach mehreren pendeiförmigen
Auf- und Niederschwankungen zur Ruhe zu kom-
4o8
Naturwissenschaft liehe Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
men. Die so entstandenen Lageänderungen werden
durch die Hebel auf das Kymographion übertragen
und in Gestalt einer charakteristischen Kurve
wiedergegeben, welche sich von den durch Zuk-
kungen oder Tetanus entstandenen Kurven wesent-
lich unterscheidet. Von besonderer Bedeutung
ist nun der Umstand , daß sich diese Zugkurve
in charakteristischer Weise ändert, sobald das
Labyrinth zerstört worden ist, so daß
man aus der Gestalt der Kurve auf das
Fehlen bzw. Vorhandensein eines oder
beider Labyrinthe zu schließen im-
stande ist.
Beim unverletzten Frosche senkt sich nämlich
die Tonuskurve durch das Herabziehen des
Beines unter die Abszissenachse und erhebt sich
dann endgültig über dieselbe, um nach mehreren
Höhenschwankungen allmählich abzuflachen, ohne
die Abszissenachse wieder zu berühren;
die Kurve bleibt also nach dem ersten Abstiege
dauernd über der Abszisse. Ihr von der
ersten Schwingung abweichender weiterer Verlauf
beweist also, daß es sich nicht um den einfachen
Ausdruck eines schwingenden elastischen Körpers
handelt. Im Gegensatze zu dieser Tonuskurve
steht die ,,Le ich en kurve", welche bei derselben
Versuchsanordnung entsteht, sobald das Gehirn
oder das Rückenmark des Frosches verletzt ist.
Auch in diesem Falle senkt sich die Kurve zwar
zunächst unter die Abszisse und steigt alsdann,
entsprechend der Hebung des Beines, ebenfalls
über dieselbe; allein der fernere Verlauf derselben
zeigt deutlich , daß die Schwankungen auf die
Schwingungen der elastischen Muskelbänder zu-
rückzuführen sind. Denn die Kurve steigt
alsbald wieder unter die Abszisse hinab
und pendelt wiederholt mit abnehmen-
der Amplitude in gleichem Abstände
oberhalb und unterhalb der Abszissen-
achse. Da die Kurve der Ausdruck reiner
Elastizitätsschwingungen ist, so liegen auch ihre
entsprechenden Phasen in gleicher Entfernung
voneinander, im Gegensatze zu den Tonus-
kurven, die infolge der allmählich eintretenden
Verzögerung der Umkehrpunkte einen gestreckte-
ren Verlauf zeigen.
Die Leichenkurve tritt nicht nur nach mecha-
nischer Zerstörung der Labyrinthe, sondern auch
bei Anwendung von Giften auf, welche eine
Funktionsstörung der nervösen Zentralorgane zur
Folge haben , also z. B. nach Kurarevergiftung,
ferner nach Aufhebung des Zusammenhanges
zwischen Rückenmark und Beinmuskulatur, sowie
endlich nach Durchschneidung der sensibeln
Wurzeln des Rückenmarkes. Durch diese
letzte Beobachtung wird bewiesen, daß die Tonus-
kurve auf reflektorischem Wege unter Einfluß
sensibler Reize zustande kommt, welche durch
das Herabfallen des Beines ausgeübt werden. —
Andererseits ist für die Entstehung des reflek-
torisch ausgelösten Tonus die funktionelle Unver-
sehrtheit des Labyrinthes maßgebend , da nach
Entfernung beider Labyrinthe beim Frosche die
typische Leichenkurve auftritt. Die Entfernung
der Augen sowie die Durchschneidung der Seh-
nerven bewirkt ebensowenig wie die schichten-
weise Abtragung des Großhirns eine Verminde-
rung des Tonus, ausgenommen die Exstir-
pation der Sehhügel, welche das Auf-
treten der typischen Leichenkurve zur
Folge hat. In gleicher Weise ergibt die Durch-
trennung aller unterhalb der Thalami optici ge-
legenen Rückenmarksteile dasselbe Resultat , was
daraus hervorgeht , daß durch eine derartige
Unterbrechung der Leitungsbahnen die abwärts
gelegenen Ganglienkomplexe der Funktion der
Sehhügel entzogen werden.
Aus dem Angeführten geht hervor, daß die
Tonuskurve durch die in den Extremi-
täten ausgelösten Reize entsteht; daß
aber das Zustandekommen dieses Re-
flexes durch die Funktion der Laby-
rinthe sowie der Thalami optici mit-
bedingt ist. Diese Abhängigkeit der Muskel-
bewegungen und der Aufrechterhaltung des
Gleichgewichtes von der Funktion der Sehhügel
macht den Verlauf des Nervus octavus durch die
Thalami optici höchst wahrscheinlich, so daß die
letzteren als eine Zentralstation für die vom Ohr
nach dem Rückenmarke und den Augenmuskel-
kernen verlaufenden Leitungsbahnen aufzufassen
sind. Wegener.
Das Sammeln von Rindenresten in der
Steinkohlenformation. — Unter den fossilen
Pflanzenresten in der Steinkohlenformation sind
Rindenteile der Schuppen- und Siegelbäume
(Lepidodendren und Sigillarienj recht häufig zu
finden. Besonders die Sigillarien kann man zu
den wichtigsten Charakterpflanzen der Stein-
kohlenformation rechnen, auf die sie im wesent-
lichen beschränkt sind. Trotzdem sind diese Rinden-
reste noch in so geringem Maße genau bekannt,
daß sie bisher nur wenig zur Charakterisierung
der einzelnen Schichten verwandt werden konnten,
und doch sollen die Pflanzen , wie manche
Paläobotaniker meinen, besser zu diesem Zweck
geeignet sein, als die im allgemeinen von
den Geologen dazu verwandten Meerestiere, da
die Pflanzen empfindlicher auf alle klimatischen
und geologischen Veränderungen reagieren als
diese. \^oraussetzung dabei ist aber, daß sie ge-
nügend bekannt sind, daß man weiß, welche For-
men in den einzelnen Schichten vorkommen und
welche Teile zu derselben Pflanze gehören. Gerade
bei den Sigillarien sind noch recht schwierige
Fragen zu lösen. Dazu ist es sehr erwünscht, daß
recht viele, denen gelegentlich solche Reste in
die Hände fallen, sie sammeln und der wissen-
schaftlichen Bearbeitung zugänglich machen. Doch
kann dies nur dann von größerem Nutzen sein,
wenn der Sammler einen Begriff davon hat, worauf
es ankommt.
Was von Sigillarienstämmen gewöhnlich er-
N. F. III. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
409
halten ist, ist nur die äußere Rindenschicht, die
in Schlamm eingebettet wurde und allmählich
verkohlte, während der Schlamm zu fester Gesteins-
masse wurde. Auf der Oberfläche der Rinden-
schicht sind die Blattnarben zu sehen, die Ab-
bruchsstellen der Blätter. Diese Blattnarben sind
viel größer als bei den meisten lebenden Pflanzen,
wie die F"iguren zeigen. Sehr häufig kommt es
vor, daß die kohlige Rinde mit derjenigen Seite,
die die Blattnarben trägt, auf dem Gestein aufliegt.
Fig. I
in 2'.
Gerippte Sigillarie, linl<s in natürlicher Größe, rcclits
.Außenfläche der kohligcn Rinde, z. T. abgebröckelt.
Einsetzen einer neuen Rippe. .\us Oberschlesicn, Orzesche-
grube. Für jüngere Schichten als die in Fig. 3 abgebildete
.\rt charakteristisch. (Aus W. Koehne in ,,H. Potonie, Ab-
bildungen und Beschreibungen fossiler Pflanzen". Lieferung I,
Nr. 18. S. rugosa.)
Mansieht dann dieInnenseitederKohlenrinde(Fig.4).
Um die Blattnarben zu sehen, muß man diese ent-
fernen. Dies geschieht am besten, indem man
einen kleinen spitzen Meißel leicht auf die
Kohlenrinde aufsetzt und mit dem Hammer-
stiel vorsichtig darauf schlägt. Bei einiger Übung
wird man meist die Kohle auf diese Weise
entfernen können. Man erhält dann den Abdruck
der Blattnarben, auf die es vor allem ankommt,
auf dem Gestein oft sehr deutlich und schön.
Wenn man das Stück noch verschicken will, so
ist es aber gut, die Kohlenrinde auf dem größten
Teile des Stückes zu belassen, da sie den Ab-
druck vor Beschädigungen schützt.
Liegt dagegen die Kohlenrinde mit nach oben
gekehrten Blattnarben vor (Fig. i), so darf man
sie natürlich nicht entfernen, ;muß sie vielmehr
äußerst vorsichtig behandeln (in Watte packen),
da der darunter zürn Vorschein kommende Stein-
kern für die Erkennung der Art geringen Wert
hat, wenn er aucli sonst ganz hübsch aussehen
mag.
'fe.v>
B. N
Fig. 2. Rezente Blattnarbe (B. N.) einer Tanne"(Abies bracliy
phylla) 15 fach vergrößert, gezeichnet vom Verfasser.')
') Die seitlichen Höckcrchcn, die die Figur rechts und
links neben der in der Blattnarbe zentral gelegenen Leit-
bündelspur zeigt, konnte Verfasser bei einer Anzahl von
Spezies von Abies erkennen, Ijcsonders gut bei A. brachy-
phylla, balsamea und Nordmanniana. Die Bedeutung ist noch
unbekannt. Verfasser beabsichtigt, darauf noch einmal
zurückzukommen.
Fig. 3. Zwei verschiedene Blattnarbcn von ein und demselben
Rindenstück einer Sigillaria des Saargebietes ((_icgenortschacht
bei Dudweiler). Doppelt vergrößert, gezeichnet vom Verfasser.
Am meisten fallen dem Laien solche Sigil-
larien in die Augen, bei denen die Oberfläche
durch parallele Furchen in Rippen geteilt sind
(Fig. i). Solche wellblechähnlichen Stücke sieht
man auf den Halden oft schon viele Meter weit.
Es hat aber nur dann Zweck sie mitzunehmen,
wenn sie deutlich erhaltene Blattnarben auf den
Rippen tragen. Überhaupt wird ein kundiger
Sammler auch unscheinbaren Stücken seine Auf-
merksamkeit zuwenden. Ein kleines Stückchen,
das wenige aber ringsum scharf kenntliche Blatt-
narben besitzt, kann zur Konstatierung der Art
4IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
in einer Schiclit ausreichen. Bei J wohlerhaltenen
großen Stücken tut man gut, darauf zu achten,
ob die Blattnarben und sonstigen Verzierungen
überall gleich sind, oder ob in ihrer Form, Ent-
fernung usw. Verschiedenheiten vorkommen, was
gar nicht selten ist (vgl. Fig. 3). In solchen
Fällen lohnt es sich, auch große schwere Stücke
l#^^W^
sechseckigen Polstern; da sie häufig sehr klein
sind, können sie leicht übersehen werden, be-
sonders wenn auch großnarbige Stücke am selben
Fundort vorkommen.
Eine andere Gruppe von Sigillarien, die aber
nur im jüngsten Karbon und Rotliegenden vor-
kommt und sich daher in manchen Gebieten,
am
-w* 'auf ^' ^W'*^ •— "^
,^' ^ ^. ^ «/^"^^^
Fig. 4. Eine Sigillaria mit ziemlich großen Blattnarben. Nat.
Größe. Abdruck im Gestein. Bei K noch von kohlig er-
haltener Rinde bedeckt. Aus der Magerkohlenpartie West- Fig. 5. Eine Sigillaric mit Zickzackfurchen und kleinen Blattnarben, mit Querreihen
falens (Zeche Ringeltaube bei Annen). von Blütennarben (B). Innenseite der kohligen Rinde, unter der die Abdrücke derl
Blattnarben zum Vorschein kommen. Aus der Magerkohlenpartie Westfalens (Fran-
ziska Tiefbau bei Witten). Nat. Größe
ganz mitzunehmen. Abgesehen davon, daß sie als
Schaustücke die Sammlungen zieren, dienen sie
dem Fachmann dazu , die Zusammengehörigkeit
verschiedener Formen zur selben Art zu erkennen.
Außer auf die Sigillarien mit Längsfurchen ist
aber auch auf solche mit Zickzackfurchen zu achten
(Fig. 4 u. 5). Hier stehen die Blattnarben meist auf
z. B. dem Ruhr-Revier, nicht findet, hat entweder
rhombische Polster, oder es stehen die Blattnarben
einfach auf der glatten Stammoberfläche.
Es ist immer gut, am selben Fundort möglichst
viel zu sammeln; denn daraus kann der Fachmann
wichtige Schlüsse über die Zusammengehörigkeit
verschiedener Teile einer Pflanze, z. B. von Stäm-
N. F. m. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
411
men und Zweigen etc., oder von verschieden skulp-
turierten Rindenstücken, ziehen. Audi ist darauf
zu achten, ob noch Blätter oder gar Blüten an
den Stücken ansitzen (Abbruchsstellen der Blüten
siehe Fig. 5). Eine möglichst genaue Angabe des
Fundortes und besonders auch des Horizonts, z. B.
zwischen welchen Leitflözen, ist auch nötig.
Mit dem .Sammeln von Schuppenbäumen (Lepi-
dodendren) verhält es sich ähnlich. Auch bei
diesen ist häufig eine kohlig erhaltene Rinden-
schicht erhalten und von der Außen- oder Innen-
seite sichtbar. Doch kommen hier häufiger auch
noch andere Erhaltungszustände vor, auf die hier
nicht näher eingegangen werden kann.
Natürlich können gesammelte .Stücke nur dann
Wert haben, wenn sie fachmännischer Bearbeitung
zugänglich gemacht werden. Die Freude an dem
schönen Anblick pflegt bei dem Sammler bald
nachzulassen. Er selbst kann sie auch unmöglich
bestimmen. Dazu ist eine Literatur erforderlich,
wie sie nur in wenigen größeren Bibliotheken, z. B.
in Berlin, vorhanden ist. Daher können die Samm-
lungen nur dann für die Wissenschaft nutzbar
gemacht werden, wenn sie einem großen Museum
zugehen. Das geologische Landesmuseum ') hat
für jede Sendung nach den angegebenen Gesichts-
punkten gesammelter Sigillarien beste Verwendung.
Wer lieber einem Provinzialmuseum etwas zu-
kommen lassen will, möge aber, da dort die Sachen
sonst leicht unbearbeitet bleiben, wenigstens ver-
anlassen, daß sie leihweise dem Landesmuseum
zur Untersuchung überlassen werden. Manches,
was tüchtige Sammler zusammengebracht haben,
hat Bereicherungen unserer Kenntnisse veranlaßt.
Wenn sie recht viele Nachfolger finden, wird es
möglich sein, die Sigillarien für die Gliederung
des Karbons vielfach ebenso wie bisher die Farne
zu benutzen. W. Koehne.
wäre, falls sich Wendell's Beobachtung bestätigt
der erste Planetoid, bei welchem die Nachweisung
einer Rotation geglückt ist. Kbr.
^) Adr. : Paläohotanische .'\hteilung der Kgl. geolog. Landcs-
anstalt. Hcrlin X 4, Invalidcnslr. 44.
Astronomische Breitenbestimmungen hat
Schwarzschild kürzlich mit einem sehr ein-
fachen Apparat ausgeführt. Er benutzte nämlich
eine von Erschütterungen möglichst frei aufgehängte
Zenith-Camera, auf deren Platte die in der Nähe
des Zeniths kulminierenden Sterne ihre Spuren
hinterließen. Die geographische Breite — gleich
der Deklination eines genau im Zenith kulminie-
renden Sterns — konnte auf diesem Wege mit
verhältnismäßig geringer Mühe in bis auf die
Bogensekunde genauer Übereinstimmung mit dem
Ergebnis der Meridiankreisbeobachtungen abge-
leitet werden. F. Kbr.
Der Planetoid Iris (Nr. 7) soll nach einer
telegraphischen Meldung von Wen d eil (Astr.
Nachr. Nr. 3925) einen sechsstündigen Helligkeits-
wechsel im Betrage einer Viertelgrößenklasse
zeigen, der auf eine in diesem Zeitraum sich voll-
ziehende Rotation schließen lassen würde. Iris
Über einige Erscheinungen an Quecksilber-
Lichtbögen. — In einer kürzlichen Mitteilung an
die Französische Akademie der Wissenschaften
berichtet deValbreuze über einige Versuche, die
er an Ouecksilberlichtbögen in mit einer Sprengei-
schen Pumpe verbundenen U-Röhren ausgeführt
hat. Wenn der Druck in der kalten Röhre zwi-
schen 0,004 "T^ 0,002 mm Quecksilber lag, be-
obachtete er folgende Erscheinung:
Sobald der Bogen angelassen wurde, bildete
die Anode eine größere oder kleinere, gleichmäßig
helle Fläche, welche sich später mit kleinen, sehr
hellen Sternchen bedeckte, die regelmäßige geo-
metrische Figuren bildeten. Diese Sternchen
lagen häufig in den Ecken und im Mittelpunkte
eines durchaus regelmäßigen Fünf- oder Sechsecks.
Ein anderes Mal wieder waren sie in großer An-
zahl vorhanden, von sehr kleinen Dimensionen und
äußerst beweglich ; in diesem Falle waren sie auf
konzentrischen Kreislinien verteilt. Dieses ver-
schiedenartige Aussehen ließ sich im allgemeinen
abwechselnd beobachten ; die beiden Phasen traten
äußerst schnell auf, und verschwanden ebenso
schnell. Wenn die Elektrode warm wurde, nahmen
die Sterne an Größe zu ; sie sahen dann aus wie
helle kugelförmige Perlen, die auf dem Queck-
silber aufsaßen. Späterhin bildeten sie Gruppen,
ketteten sich aneinander, so daß eine Scheibe im
Mittelpunkt und ein oder mehrere helle Ringe
entstanden, die von dunkeln Ringen getrennt
waren. Schließlich verschwanden die dunkeln
Ringe und nahm die Anode ihr gewöhnliches
Aussehen wieder an , nämlich das einer gleich-
mäßigen Fläche.
Um diese Erscheinung zu erklären, nimmt der
Verfasser das Vorhandensein einer Oberflächen-
membran an der Quecksilberoberfläche an ; diese
Membran würde für den Strom mehr oder weniger
durchlässig sein, und durch ihren Schwingungs-
zustand die regelmäßige Form der beobachteten
F'iguren bedingen.
Im zweiten Teil seiner Mitteilung behandelt
der Verfasser einige das Anlassen von Quecksilber-
lichtbögen betreft'ende Eigentümlichkeiten. Nach
der allgemeinen Anschauung ist zum Anlassen
von Vakuumröhren mit einer oder zw^ei Queck-
silberelektroden eine Potentialdifl'erenz von einigen
Tausend Volt erforderlich ; dann findet der nor-
male Stromdurchgang mit einem Potentialabfall
von nur 1 5 Volt statt. Wenn man an die Röhren
eine Potentialdifferenz von 550 Volt anlegt, so
beobachtet man ein spontanes Anlassen unter
folgenden Bedingungen:
Wenn die Anodenröhre aus Eisen und die
Kathode aus Quecksilber besteht , so beobachtet
man eine schöne violette Lichterscheinung ober-
halb der Kathode, welche den ganzen Querschnitt
der Röhre bei einem inneren Drucke von 0,006
412
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
bis 0,015 mm Quecksilber ausfüllt; ein schwach
grünliches Licht ist am Rande der Anode zu be-
obachten, während der Rest dunkel bleibt. Der
die Röhre durchfließende Strom liegt zwischen
0,01 und 0,02 Amp. Der normale Lichtbogen
setzt meistens nach einigen Minuten ganz selbst-
tätig ein. Wenn andererseits der Druck bis auf
0,006 mm heruntergeht, so treten zwar dieselben
Erscheinungen auf, jedoch muß die Röhre etwas
erwärmt werden; meistens ist zum Anlassen des
Bogens ein leichtes Schütteln erforderlich.
Wenn andererseits beide Elektroden aus Queck-
silber sind, so tritt das selbsttätige Anlassen weit
seltener auf und erfordert stets ein Erhitzen der
Elektrode und leichtes Schütteln. Häufig beobachtet
man Schichtenbildung in der Röhre ; die Schichten
sind abwechselnd violett und grünlich.
Da durch Schütteln der Quecksilberfläche die
Schwierigkeiten , denen man beim Anlassen be-
gegnet, bedeutend vermindert werden , so nimmt
Verfasser an, daß auch hier Oberflächenmembranen
eine Rolle spielen , deren Widerstand besonders
im kalten Zustande hoch ist. A. Gr.
Himmelserscheinungen im April 1904.
Von den Planeten ist nur Merkur des Abends zuletzt
fast eine Stunde lang im NW. siclitbar; Saturn fängt an am
Morgenhimmel sichtbar zu werden, während die übrigen Pla-
neten gänzlich unsiclitbar bleiben.
Sternbedeckung: Der Stern o Leonis wird am Abend
des 21. durch den Mond für Berlin um 9 Uhr 57,4 Min.
M.E.Z. bedeckt und tritt um 10 Uhr 38,2 Min. am südwest-
lichen Rande wieder hervor.
Algol-Minima lassen sich im April wegen der Sonnen-
nähe des Algol niclit beobachten.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Am Freitag, den 4. Dezember,
abends 8 Uhr, hielt im Hörsaal der alten Urania
Herr Privatdozent Dr. L. D i e 1 s einen Projektions-
vortrag: „Reiseskizzen aus Neuseeland".
Neuseeland, so führte der Herr Vortragende aus,
in seiner einsamen Lage inmitten der Weiten des
Stillen Ozeans stellt den Rest eines einst größeren
Landes dar, und ist wiederum zerborsten in drei
Stücke: die Nordinsel, die Südinsel und Stewart-
Island.
Die Südinsel wird durchzogen von einer mäch-
tigen Gebirgskette, die als Wetterscheide die nasse
steile Westküste von den Ebenen der Ostseite
trennt. Das Gebirge ist rauh und schwer zu-
gänglich. Auf der Ostseite wird es von Quer-
tälern durchzogen, die z. T. von präalpinen Seen
eingenommen sind. Die Hänge tragen eine nur
kärgliche Vegetation; stellenweise machen sie einen
steppenartig dürftigen Eindruck. Viele Stege
sind bis zum Gipfel mit mächtigem Geröll be-
deckt und von 2000 m an schon völlig vege-
tationslos.
Die Westseite bietet dazu einen starken Gegen-
satz. Die von Nordwest kommenden Regenwinde
verschwenden in Fülle ihre Niederschläge (300 cm
pro Jahr) dort. Die Täler und unteren Hänge
bekleidet eine Pflanzenwelt von tropisch anmuten-
der Üppigkeit und reizvoller Schönheit. Die Masse
des Laubes, die Mannigfaltigkeit der Farne und
der allgegenwärtigen Moose wird nur in wenigen
der gemäßigten Gegenden der Erde annähernd
erreicht. Auch in den höheren Regionen bewahrt
der grüne Teppich seine Frische und erinnert
äußerlich mehr an Schweizer Matten als an die
kahlen Hänge der Ostseite. Die Feuchtigkeit des
Klimas, der Wechsel von steilem Gebirge und
engen Tälern erhält sich auf der ganzen West-
seite. In der Südhälfte ist vielfach das Meer ein-
gedrungen und hat Fjordlandschaften von roman-
tischer Großartigkeit geschaffen.
Noch zeigen sich diese westlichen Gebirgs-
gegenden fast ungeändert in ihrem ursprünglichen
Zustande und stehen insofern in lebhaftem Kon-
trast zu den Ebenen des Ostens. Hier hat die
Kultur rasch die eingeborene Pflanzenwelt zurück-
gedrängt und das Antlitz des Landes gründlich
umgestaltet. Ergiebige Viehzucht blüht in diesen
Distrikten, und an der Küste liegen ansehnliche
Städte, wie das schottische Dunedin und das
englische Christchurch.
Die N o r d i n s e 1 gehört geologisch eng mit
dem Süden zusammen. Aber die Gebirgsachse
ist viel niedriger, so daß keine klimatische Trennung
von ihr ausgeht, sondern die feuchten Winde zum
ganzen Lande gleichmäßigen Zutritt haben. Daher
mag einst ein wenig unterbrochener Urwald die
Insel bedeckt haben. Heute hat ihn die Siedelung
oft weithin eingeschränkt.
Das Hauptinteresse für den Touristen und den
Naturfreund bietet das Thermalgebiet der Nord-
insel, das etwa im Zentrum des Landes gelegen
ist. Hier drängen sich in überraschender Fülle
die Erscheinungen des Vulkanismus: der fast er-
loschene Ruapehu mit seiner Schneekrone, die
aschen- und lavareiche Umgebung des Taupo-Sees,
das Sprudel- und Geysergebiet von Rotorua. Die
Menge der Quellen, die Mannigfaltigkeit der Sinter-
absätze, das Spiel der Geyserfontänen haben auf
der Erde kaum ihresgleichen, wenn auch das Prunk-
stück des Ganzen, die Terrassen von Rotomahana,
seit der furchtbaren Eruption von 1886 für immer
verloren ist.
Im Thermalgebiet gewinnt auch der Fremde
noch am leichtesten den Einblick in Leben und
Gesittung der Maoris, die vor der britischen
Annektion über Neuseeland herrschten. Sie ge-
hören der polynesischen Rasse an, scheinen aber
trotz ihrer trefflichen Qualitäten in schnellem
Niedergang begriften. Viel rascher aber wächst
die tatkräftige weiße Bevölkerung an, die heute
schon über 800000 Seelen zählt und Ritter's Wort
wahr zu machen scheint, daß Neuseeland „vor
anderen Ländern berufen scheine, eine Mutter
zivilisierter Menschengeschlechter zu werden." —
Um die Mitte des Monats folgte eine größere
Anzahl von Mitgliedern einer freundlichen Ein-
ladung des Herrn Otto Beyrodt in Marienfelde
N. F. ni. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
413
zur Besichtigung seiner weltberühmten Orchideen-
züchtereien. In zwei Gruppen wurden die Teil-
nehmer der Exkursion am Sonnabend, den 12. De-
zember, nachmittags 2 Uhr, sowie am darauf-
folgenden Sonntag, vormittags ^,'.,10 Uhr, von
Herrn Beyrodt und einigen seiner Herren Beamten
durch die teilweise in herrlichster Blütenpracht
stehenden Kulturen hindurchgeführt, wobei manches
belehrende Wort über die mühsame und gefahr-
volle Tätigkeit der Sammler in den tropischen
Urwäldern, über Versand, Pflege und Marktwert
jener reizvollen Kinder Floras den Besuchern zuteil
wurde.
Am Mittwoch, den 30. Dezember, hielt im großen
Hörsaal der Königl. Landwirtschaftlichen Hoch-
schule Herr Geh. Reg.Rat Prof Dr. Wittmack
seinen angekündigten Vortrag : „Z u r G e s c h i c h t e
der wichtigsten Kulturpflanzen".
Nachdem der Herr Vortragende daran erinnert,
daß viele unserer gewöhnlichsten Pflanzen erst
nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs
nach Ostindien , ja selbst z. T. noch viel später
eingeführt seien, ging er näher auf die Geschichte
des Getreides ein.
Als älteste Getreideart muß wahrscheinlich
die Gerste angesehen werden, ihr nahe kommt
der Weizen, der sowohl in Ägypten um 4000 Jahre
vor Christo wie in China um 3000 Jahre vor
Christo schon gebaut wurde. Die Funde von
Weizen in Ägypten stellen aber nicht immer ge-
wöhnlichen nackten Weizen, Triticum vulgare im
engeren Sinne, dar, d. h. Weizen dessen Körner
aus den Spelzen herausfallen, sondern oftmals eine
Art des bespelzten Weizens, und zwar Emmer
oder Zweikorn, Triticum dicoccum. Bei diesem
zerbrechen die .Ähren (wie beim Spelz und Ein-
korn) in Stücke, in Ahrchen, und in diesen .\hr-
chen bleiben die Körner fest von den Spelzen um-
geben sitzen.
Das Vaterland der Gerste ist sicherlich Vorder-
asien, für den Vk'eizen nahm man das bisher auch
an; Graf Solms Laubach hat aber in seiner Schrift:
„Weizen und Tulpe", Leipzig 1899, darauf hin-
gewiesen, daß eher vielleicht Zentralasien die Heimat
des Weizens sein möchte, und daß er von da
schon in alter Zeit nach China einerseits und nach
Kleinasien und Ägypten andererseits gekommen
sein dürfte.
In Troja (Hissarlik) ist von Virchow und Schlie-
mann nur wenig gewöhnlicher Weizen gefunden,
dafür aber sehr viel Einkorn , Triticum mono-
coccum, eine Getreideart, die man noch im wilden
Zustande in Südosteuropa und in Vorderasien als
Triticum aegilopodioides kennt. Heute wird Ein-
korn bei uns nur wenig gebaut, höchstens in
einigen Gebirgsgegenden; in Spanien aber dient
es als Pferdefutter.
In Pompeji ist nach den von dem Herrn Vor-
tragenden angestellten Untersuchungen nur ge-
wöhnlicher Weizen vorhanden. In dem verkohlten
Zustande, in welchem sich dort alle Samen be-
finden, ist es wenigstens nicht möglich zu ent-
scheiden, ob es statt gewöhnlichen Weizens viel-
leicht Hartweizen ist. Dieser wird jetzt in Süd-
italien viel gebaut, weil er sich wegen seines
hohen Eiweißgehaltes (Klebergehaltes) besonders
zur Herstellung von Makkaroni eignet. Es scheint
aber, als wenn die alten Römer noch gar keine
Makkaroni gegessen haben. Die Alten aßen nur
Grütze oder Brei aus grob gestoßener Gerste oder
Weizen. Das nannten sie Polenta. Heute wird
die Polenta fast nur aus Maisgries bereitet.
Auffallend ist, daß gar kein Spelz aus vor-
geschichtlicher oder selbst aus etwas späterer Zeit
bekannt ist. Die alten Griechen und Römer
scheinen nur den Emmer gekannt zu haben, da-
gegen ist wahrscheinlich der Dinkel (Spelz) ebenso
wie der Roggen und der Hafer zuerst von nord-
alpinen, keltischen und germanischen Völkern in
Kultur genommen und erst durch die Germanen
auch den Römern bekannt geworden.
Speziell in Südwestdeutschland und der Ost-
schweiz, fast den einzigen Gegenden, wo heute
der Dinkel die Hauptbrotfrucht ist, ist der Dinkel-
bau mit den Alamannen eingewandert, hat sich
mit ihnen weiter verbreitet und sich seither inner-
halb ihres Stammgebietes dauernd behauptet.
Weiter ist er aber auch nie verbreitet gewesen;
sein heutiges beschränktes Anbaugebiet ist nicht
etwa der letzte Rest einer früher allgemeineren
Verbreitung. Der Dinkel ist also die Charakter-
pflanze der Alamannen (Gradmann, Württemb.
Jahrb. 19OI, I, 103).
Von Hülsenfrüchten sind im Altertum be-
sonders viel Saubohnen, Vicia Faba, gebaut worden,
teils als Nahrungsmittel, teils als Gründünger;
weiße Bohnen, überhaupt sog. Gartenbohnen, Brech-
bohnen und Schneidebohnen, Phaseolus vulgaris,
hatte man nicht. Die sind erst, wie die Funde
in den peruanischen Gräbern lehren, aus Amerika
zu uns gekommen. Höchstens hatte man eine
ähnliche Gattung: Dolichos, die Langbohne, doch
sind Samen davon bis jetzt nicht gefunden. —
Wohl aber hatte man im .-Altertum schon vielfach
Erbsen, Wicken, Platterbsen, Lupinen und eine
mit den Erbsen verwandte Pflanze, die Erve.
Ausführlicher besprach der Herr Vortragende
die von ihm im April 1903 untersuchten Samen
von Pompeji, die im Museo nazionale in Neapel
aufgestellt sind. Eine kleinere Sammlung findet
sich in Pompeji selbst. Die auf den herrlichen
Wandgemälden vorkommenden Pflanzen sind von
Prof. Comes in Portici eingehend beschrieben,
dagegen ist den verkohlten vegetabilischen
Funden, den Samen und Früchten etc., bisheJ
wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Nur
der dänische Pflanzengeograph Schouw hat schon
darauf hingewiesen, daß Italien damals noch nicht
das Land war, „wo die Zitronen blühn, im dunklen
Laub die Goldorangen glühn." Denn die Zitronen
und Pomeranzen kamen erst viel später, wahr-
scheinlich erst durch die Araber nach Europa; die
Apfelsinen erst nach 1500, und zwar durch die
Portugiesen, welche sie von China heimbrachten
414
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
(Apfel aus Sina, Portogallo im römischen Dialekt).
Nur die dickschaligen Cedraten dürften schon i
bis iV., Jahrhundert vor Plinius eingeführt sein.
Plinius selbst sagt freilich, daß man sich vergebens
bemüiit habe, den „medischen Apfel" (Scliouw
sieht darin den „Cedrat") nach Europa zu ver-
pflanzen. Schouw glaubt, der Cedrat sei erst im
3. Jahrhundert nach Christus in Italien angebaut. —
Die „goldenen Äpfel der Hesperiden" sind nach
Ansicht des Vortragenden vielleicht Quitten ge-
wesen, da man diese auch cydonische Apfel
nannte und eine Sorte nach Plinius als „Gold-
quitten" unterschied. Quitten wurden auch ge-
wissermaßen als Opfergaben benutzt, sie wurden
in den Schlafzimmern vor den Darstellungen der
Schutzgötter niedergelegt.
Redner bestimmte die im Museo nazionale zu
Neapel untersuchten pflanzlichen Reste als fol-
gende : Weizen, Gerste (kleine), Rispenhirse, Kolben-
hirse, Saubohnen, Linsen, Erbsen, Platterbsen oder
Lupinen, Raps oder Rübsen, Koriander (oder
Hanf?), Piniensamen (mit Schale), P'eigen, Mandeln,
Walnüsse, Haselnüsse, Oliven, Weinbeeren, Kirschen,
Kastanien, Johannisbrot, ein Pfirsichstein (scheint
modern), Datteln, Zwiebeln, Knoblauch (?), Einge-
machtes, Teig oder Sauerteig und ganze Brote,
ferner Gewebe, Stroh, Netze, Taue, Wollen (?)Zeug,
ein Knäuel Garn, Rest eines Besens, Körbchen,
Harz, Holz, Sandalen, Kork.
Das Interessanteste sind die ganzen Brote. Sie
sind zwar verkohlt, aber sonst sehr wohl erhalten.
Die meisten Brote haben die Form eines Baretts;
sie sind kreisrund und haben ca. 16 — 20 cm Durch-
messer. Ein viel kleineres Brot zeigt deutlich
noch den Stempel des Bäckers.
Auffallend ist ferner die große Menge Datteln,
die ihrer Größe nach zu urteilen von besonders
schöner Qualität gewesen sein müssen. Sie sind
sicher aus Ägypten oder Nordafrika auf dem Wege
des Handels nach Italien gekommen , denn die
Dattelpalmen brachten damals so wenig wie heute
in Italien genießbare P'rüchte hervor. Die Datteln
sind also ein sicherer Beweis für einen ausgedehnten
Handel.
Die von dem Vortragenden als Koriander an-
gesprochenen Samen wurden bisher für Hanf ge-
halten; eine erneute, möglichst auch eine mikro-
skopische Untersuchung ist nötig, um die Sache
sicher festzustellen. Auch die Frage der Zwiebeln
und des Knoblauchs muß noch näher geprüft
werden.
Sodann ging der Redner auf die Kulturpflanzen
der neuen Welt über und hob hier außer Mais
und Gartenbohnen besonders die Kartoffel hervor.
Er zeigte u. a. eine getreue Kopie der ersten far-
bigen Abbildung der Kartoffel, die Clusius, bei
dem sie in Wien 1576 blühte, hatte machen lassen.
Die Kartoffel Ist augenscheinlich auf zwei Wegen
nach Europa gelangt, einmal durch die Spanier,
zweitens durch die Engländer. Von Spanien kau.
sie nach Italien und erhielt dort wegen ihrer
Ähnlichkeit mit Trüffeln den Namen „tartuffoli",
woraus unser Wort Kartoffeln geworden ist.
Zum Schluß wurden frische Knollen der neuer-
dings wieder eingeführten Sumpf kartoffel, Solanum
Commersonii, deren Heimat Südbrasilien, Uruguay
und Argentinien ist, vorgelegt. Der Vortragende
verdankt dieselben der Freundlichkeit des Herrn
Prof Hecke), Direktor des Botanischen Gartens
in Marseille.
I. .\.: Dr. W. Greif, I- Schriftführer,
SO l6| Köpenickerslraße 142.
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. Conwentz, Die Heimatkunde in der
Schule. Berlin 1904, Gebr. Bornträger. 139 S.
— Preis geb. 2,40 Mk.
Durch sorgfältiges Studium der Lehrpläne , der
eingeführten Schulbücher und der vorhandenen Lehr-
mittel zahlreicher Schulen ist Verf. zu der Überzeugung
gelangt , daß die Heimatkunde im gegenwärtigen
Schulunterricht — sowohl an höheren wie an niederen
Schulen — zu kurz kommt. Gewiß gibt es auch in
unserem Vaterlande Himmelsstriche , die von Natur
in so geringem Grade mit Schönheiten ausgestattet
sind, daß es begreiflich ist, wenn sich der Blick der
Bewohner mit Sehnsucht in die Ferne wendet, die
immer wieder in den herrlichsten Farben geschildert
wird. Aber gerade darum fällt doch sicherlich der
Schule die Aufgabe zu , dem kindlichen Gemüte zu-
nächst die nirgends fehlenden Reize der engeren
Heimat zum Bewußtsein zu bringen , ihm das Ver-
ständnis zu erschließen für Land und Leute der
nächsten Umgebung und so in der Liebe zur Heimat
die kräftigste Wurzel der Vaterlandsliebe erstarken
zu lassen. Ganz besonders für Stadtkinder muß es
von unvergleichlichem Werte sein , wenn sie in die
Eigenart derjenigen Landesteile gründlicher eingeweiht
werden, die sie auf kleinen , bei den heutigen Ver-
kehrsmitteln auch dem ärmeren mögliche Ausflüge
durch eigene Anschauung kennen lernen können,
wenn sie die Tier- und Pflanzenwelt der engsten
Heimat vor allem zu beobachten Anleitung erhalten,
anstatt nur von der Pracht tropischer L^rwälder und
der Eigenart fremder Tierformen zu hören. Freilich
muß dann der Unterricht in der Heimatkunde mit
besonderer Liebe auch in den fortgeschritteneren
Klassen ergänzt werden , die Lehrmittel müssen vor
allem den lokalen Verhältnissen angepaßt sein und
Anschauungsbiider , die in der Schweiz am Platze
sind, dürfen nicht , wie das vielfach noch heute ge-
schieht, in der norddeutschen Ebene dem Unterricht
zugrunde gelegt werden. Verf. bietet in seiner sorg-
fältig gearbeiteten Schrift zahlreiche, recht beherzigens-
werte Winke mit Bezug auf diejenigen Punkte, wo in
dem angegebenen Sinne Wandel geschaffen werden
sollte und müßte. Selbstverständlich soll die allge-
meine Erdkunde, deren Bedeutung für moderne Bil-
dung von Tag zu Tage wächst , durch solche Be-
strebungen nicht zurückgedrängt werden, es wird sich
vielmehr nur dauim handeln, neben dem Unterricht
über fremde Erdgebiete den Sinn für die Heimat vor
N. F. m. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
415
Verkümmerung zu schützen und das zur Erzielung
eines richtigen Weltbildes nötige Gleichgewicht zwischen
den Interessen am Nahen und Femen zu wahren.
F. Kbr.
Prof. J. C. Kapteyn, Skew frequency curves
in biology and statistics."" — Publ.^by the astrono-
mical Laboratory at Groningen. 45 S. P. Noord-
hoflf, Groningen.
Bessel hatte in Bd. 15 der astronomischen Nach-
richten gezeigt , daß bei großer Individuenzahl die
biologischen oder statistischen Häufigkeitskurven nor-
mal, d. h. symmetrisch verlaufen, sofern die Variations-
ursachen sehr zahlreich, voneinander unabhängig und
so beschaffen sind, daß die Wirkung jeder einzelnen
im Vergleich mit der summarischen Wirkung aller
klein ist. Gleichwohl bilden schiefe Häufigkeitskurven
in der Natur durchaus nicht eine Ausnahme, sondern
sogar die Regel. Dieselben werden, wie Verf dartut,
durch Ursachen erzeugt, deren Wirkung von der
Größe der Individuen abhängt. Daher werden in der
Natur die meisten Kurven schief sein, aber sich docii
meist von normalen Kurven nur wenig unterscheiden.
Deutlich schiefe Kurven treten aber z. B. bei Schwellen-
wertsbestimmungen von Sinneswahrnehmungen auf, da
hier die Beobachtungsfehler im Vergleich mit den
zu messenden Größen nicht klein sind. Verf. be-
schreibt nun eine Maschine zur Demonstration der
Entstehung schiefer Kurven , die ähnlich konstruiert
ist wie Galton's Apparat für normale Kurven, und
gibt dann die mathematische Theorie des allgemeinen
Problems. Eine Anzahl von Beispielen wird dann im
einzelnen behandelt und durch Figuren zur Dar-
stellung gebracht. Für Variationsstatistiker ist die
Publikation sicherlich von hohem Interesse und Wert.
F. Kbr.
Astronomischer Kalender für 1904. Heraus-
gegeben von der k. k. Sternwarte zu Wien. Wien,
K. Gerold's Sohn. — Preis geb. 2,40 Mk.
Als Anhang zu dem astronomischen Kalendarium
mit den üblichen Angaben bringt der heurige 66. Jahr-
gang des altbewährten Kalenders eine verdienstliche
Originalarbeit von Dr. Holetschek „über den Hellig-
keitseindruck einiger Nebelflecke und Sternhaufen".
Im Anschluß an seine Untersuchungen über Kometen-
helligkeiten hat der Verf. dieses Aufsatzes für 213
Sternhaufen und Nebel durch eigene Beobachtungen
an einem 6-Zöller und dem dazu gehörigen Sucher
die Größenklasse derjenigen Fixsterne festgelegt , die
ebenso leicht gesehen werden können wie jene diffu-
seren Objekte. Für Liebhaber der Himmelsbeobach-
tung, welche mit kleineren Instrumenten die interes-
santeren Nebelgebilde und Sternhaufen selbst aufsuchen
wollen, werden die hier gegebenen Zahlen von hohem
Nutzen sein, da sie ein bisher vermißtes Maß für die
Schwierigkeit der Wahrnehmung der betreffenden
Objekte darstellen. — Aus der von Prof. Weiß ge-
gebenen Zusammenstellung der im verflossenen Jahre
neu entdeckten Planeten und Kometen sei hier her-
vorgehoben, daß im Zeitraum 1901 — 1903 in Heidel-
berg 140, anderwärts dagegen nur 8 neue Planeten
entdeckt wurden. Die fabelhafte Ergiebigkeit der von
M. Wolf ausgebildeten, photographischen Methode der
Aufsuchung neuer Planeten entlockt den beobachten-
den und rechnenden Astronomen begreiflicherweise
gar oft die Seufzer des Goethe'schen Zauberlehrlings,
da die gewissenhafte Verfolgung all dieser ans Licht
gezogenen Planetoidchen eine kaum mehr zu bewäl-
tigende und nicht eben dankbare Aufgabe darstellt.
F. Kbr.
Prof J Liznar, Die barometrische Höhen-
messung. Leipzig u. Wien, 1904, F. Deuticke.
48 Seiten. — Preis 2 Mk.
Verf. leitet zunächst die ausführliche barometrische
Höhenformel theoretisch ab und zwar in einer Form,
die von der gewöhnlich gegebenen etwas abweicht.
Bei der praktischen Anwendung dieser Formel be-
nutzt man gewöhnlich die durch Logarithmierung
entstehende Gleichung, so daß man bei der Berech-
nung von Höhenunterschieden Logarithmentafeln
braucht und außerdem keinen Lberblick über die
Größen der verschiedenen Korrektionsglieder hat.
\'erf. gibt deshalb der Formel lieber eine andere
Gestalt, in der die Korrektionen direkt in Metern
auftreten. Die der Abhandlung angefügten, neuen
Tafeln ermöglichen es, die meisten Korrektionen ohne
Rechnung zu entnehmen und den Höhenunterschied
also ohne Benutzung von Logarithmen zu gewinnen.
Mit der Behandlung einiger Beispiele schließt die
Abhandlung. F. Kbr.
Prof. Dr. G. Mie, Die neueren Forschungen über
Ionen und Elektronen. Mit 4 Abb. (Samm-
lung elektrotechnischer Vorträge IV, 2). Stuttgart,
F. Enke, 1902. 94 S. — Preis 1,20 Mk.
In drei Vorträgen behandelt Verf das Gebiet.
Ausgehend von einem Exkurs über den Äther (i. Vor-
trag) werden im zweiten Vortrag die Elektrolyse und
elektrisch leitenden Gase, im dritten die Entladung
in Gasen besprochen. Als zusammenfassende Über-
sicht der neueren Vorstellungen über Ionen , Elek-
tronen etc. mag die Schrift von Wert sein, dem noch
Uneingeweihten wird sie dagegen kaum einen klaren
Einblick in die wohl an sich noch gar sehr der Ab-
klärung bedürftigen Anschauungen gewähren können,
fast möchte man im Gegenteil fürchten, daß die allzu
frühe Popularisierung der neueren Ansichten unserer
Spezialforscher in den Köpfen der physikalisch inter-
essierten Laien eher Konfusion und das Gefühl des
Faust'schen Schülers erzeugen könnte. Kbr.
Literatur.
Ostwald, Willi.: Grundlinien der anorganiscben Chemie. 2.,
verb. Aufl. (5. bis 8. Taus.) (XX, 808 S. m. 126 Fig.)
gr. 8". Leipzig '04, W. Engelmann. — Geb. in Leinw.
16 Mk.
Reiche!, Prof. Dr. Otto : Vorstufen der höheren Analysis und
analytischen Geometrie. (X , 1 11 S. m. 30 Fig.) gr. 8".
Leipzig '04, B. G. Teubner. — (leb. in Leinw. 2,40 Mk.
Rofs, Kust. Dr. H. : Die Gallenbildungen (Cecidien) der
Pflanzen, deren Ursachen, Entwicklung, Bau u. Gestalt. Ein
Kapitel aus der Biologie der Pflanzen. Mit 52 Fig. im
Text u. auf e. Taf. (40 S.) gr. 8". Stuttgart '04, E. Ulmer.
— 2 Mk.
4i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 26
Schilling, Dr. Johs. : Das Vorkommen der „seltenen Erden"
im Miner.ilreiclie. (VllI, 115 S.) gr. 4". München '04,
R. Oldenbourg. — 12 Mk.
Briefkasten.
Herrn Prof. P. in B. — Sie fragen : Sind Ökologie
und Ethologie begrifflich dasselbe? — Das Wort
Ökologie stammt von E. Haeckel her. Haeckcl selbst
hat drei Definitionen gegeben. Nach der ersten, die sich in
der „Generellen Morphologie" (Bd. 2, i866, p. 235) findet,
erscheint der Begriff am umfassendsten. Sie lautet: ,,Die
Lehre vom Na t u r h a u s h a 1 1." t^twas befremden muß
es freilieh, wenn Haeckel hinzufügt, „ein Teil der Physio-
logie". Nach allgemeiner Auffassung dürfte der Naturhaushalt
doch alle chemischen, physikalisclien und physiologischen
Tatsachen einschließen. — Gut ist es also, wenn Haeckel
auf der nächsten Seite noch eine zweite Definition gibt. Nach
dieser neuen Definition ist die Ökologie ,,die Wissenschaft
von den Wechselbeziehungen der Organismen unterein-
ander." Diese Definition ist weit enger und man darf die
Ökologie nach dieser neuen Auffassung sehr wohl mit
Haeckel der ,, Physiologie der Ernährung" und der ,, Physiologie
der Fortpflanzung" gegenüberstellen. Später, in der ,, Natür-
lichen Schöpfungsgeschichte" (z. B. 8. .Aufl., 1889, p. 777)
wird der Begriff wieder etwas erweitert und die Ökologie als
,,die Lehre von den Beziehungen der Organismen zur um-
gebenden Außenwelt" definiert. Diese letzte Definition
ist diejenige, welche in botanische Werke übergegangen ist.
Man vergleiche z. B. E. Warming, Lehrbuch der ökologi-
schen Pflanzengeographie (2. Aufl. von P. Graebncr, Berlin
1902). — Der Name Ökologie ist leider von der jetzt allge-
mein aufgegebenen ersten Definition Haeckel 's hergenom-
men. Er soll jedenfalls nichts anderes sein als eine Abkürzung
von (Jkonomologie [oiy.oro/iin Hauswirtschaft und i.üyoi
Lehre). Die Abkürzung ist freilich ebenso unglücklich wie
die Herleitung des Wortes und man darf sich deshalb als
Zoologe wohl denjenigen anschließen, welche den Haeck ei-
schen Namen in seiner eigentlichen Bedeutung verwenden und
unter Ökologie (nly.oi Haus, Wohnung und loyos Lehre) ,,die
Lehre von den Wohnstätten oder dem Aufenthalt der Tiere"
verstehen. (Vgl. F. Dahl in: Verhandl. d. Deutsch, zoolog.
Gesellsch., Jahrg. 1898, p. 122 und E. Was mann in: Biolog.
Zentralbl. Bd. 21, 1901 , p. 392.) Was Haeckel in seiner
Schöpfungsgeschichte und nach ihm Warming Ökologie
nennt, ist die ,, Biologie" vieler .Autoren, wenn man eine
Biologie im engeren Sinne der Biologie im weiteren Sinne,
d. i. der „Lehre von den Lebewesen" überhaupt gegenüberstellt.
Dieser Auffassung pflichtet u. a. K. Möbius bei, der
die „Beziehungen", die Haeckel im Auge hat, in seiner
Schrift „Die Austern und die Austernwirtschaft" (Berlin 1877,
p. 72—87) in einem konkreten Fall zur Darstellung bringt.
Er nennt die zusammen an einem Orte vorkommenden Organis-
men eine „Biocönose". Will man das Wort Biologie im
engeren Sinne und das Wort Ökologie im weiteren Sinne ver-
meiden , indem man letzteres im oben genannten engeren
Sinne anwendet, so kann man die Ökologie im späteren
Ha e ekel 'sehen Sinne etwa „Biocönotik" nennen.
Ethologie (f&oi Gewohnheit und koyos Lehre) ist die
Lehre von den gesamten Lebensgewohnheiten der Tiere. Diese
Lebensgewohnheiten beziehen sich teils auf die Selbsterhaltung,
teils auf die Erhaltung der Art, die ersteren teils auf die
Nahrungsaufnahme, teils auf den Schutz vor den Feinden, die
letzteren teils auf die Paarung, teils auf die Brutpflege. Die
Ethologie ist also ein Teil der Ökologie im weiteren Sinne. Die
Ökologie im engeren, zoologischen Sinne, d.i. die Lehre von dem
Aufenthalt der Tiere ist dagegen ein Teil der Ethologie und zwar
ein Grenzgebiet, da der Aufenthalt häufig nicht von den Be-
wegungen des Tieres allein abhängig ist, die Lebensgewohn-
heiten also häufig nicht allein den Aufenthalt des Tieres be-
stimmen. Immerhin empfiehlt es sich, die ökologischen Tatsachen
im engeren Sinne als Ganzes der Ethologie anzugliedern. — Die
Ethologie wird übrigens auch ihrerseits von manchen Autoren
Biologie im engeren Sinne genannt (Man vgl. F. Dahl in :
Silzungsber. d. Akad. d. Wiss. , Berlin 1896, p. I7fi'. , in;
Biolog. Zentralbl. Bd. 21, p. 675 ff. und in: Verh. d. 5. inter-
nation. Zoologcnkongr. Berlin 1901, p. 296ff., E. Wasmann
in: Biolog. Zentralbl. Bd. 21, p. 3916'. und W. M. Wheeler
in: Science, N. S. Vol. 15, 1902, p. 971 ff.). Das Wort
,,Biologie" hat also jetzt bei den verschiedenen Autoren
eine vierfache Bedeutung. Es ist I. „die Lehre von den Lebe-
wesen" (= Zoologie -\- Botanik), 2. ,,die Lehre von den Be-
ziehungen der Lebewesen zur -Außenwelt" (= Biocönotik),
3. „die Lehre von den Lebensgewohnheiten der Tiere"
{= Ethologie) und 4. ,,die Lehre von den Lebensvorgängen
in der Zelle" (= Cytologie). Die erste und älteste Bedeutung
dürfte am meisten berechtigt sein. Dahl.
Herrn H. in Zw. — Fragen: a) Sind bittere Mandeln
wirklich geeignet, die Gesundheit eines Menschen ernstlich zu
gefährden, b) Ist es möglich , daß süße Mandeln bitter wer-
den nach längerem Liegen, durch schlechte Aufbewahrung usw.?
Antwort: a) Bittere Mandeln sind, wenn in größerer
Menge genossen, geeignet, die menschliche Gesundheit zu ge-
fährden. Die Giftwirkung der bitteren Mandeln beruht darauf,
daß das darin zu 1 ',,2 bis 2 % vorkommende Glykosid Amyg-
dalin durch das Ferment Emulsin bei Gegenwart von Feuchtig-
keit unter Bildung von Benzaldehyd (Bittermandelöl) , Zucker
und Blausäure gespalten wird. 100 g bittere Mandeln ver-
mögen ca. o, I g Blausäure zu bilden. Über die Giftigkeit der
Blausäure äußert sich L. Lewin in seiner Trikologie wie folgt:
Für Menschen beträgt die tödliche Dosis an Blausäure 0,05 g,
doch wurde Wiederherstellung in seltenen Fällen noch nach
0,1 g, ja sogar nach I g beobachtet. Hiernach ist es ver-
ständlich , daß nach dem Genuß von bitteren Mandeln sich
schwere Vergiftungen ereignen können. Aus der Literatur
mögen die folgenden Fälle angeführt sein: Die bitteren Man-
deln löten besonders schnell Vögel; ein Hund verendete durch
20 g. Bei Kindern erzeugten lo Stück schwere Vergiftung,
45 — 70 g bei Erwachsenen den Tod.
b) Daß süße Mandeln infolge längeren Liegens oder in-
folge schlechter Aufbewahrung bitter werden, also Amygdalin
bilden, ist bisher nicht beobachtet worden. Prof. Thoms.
Herrn W. in A. — Durch Einwirkung von Schwefelsäure
auf Kaliumchlorat entsteht nach der Formel
3 KCIO3 -j- 3 HoSOi = 3 KHSO4 -|- HClOi + 2 CIO.2 + HjO
das gelblichgrüne Chlordioxydgas (oder Cl.jOj Chlortetroxyd,
was dasselbe ist). Dieses ist sehr unbeständig und zersetzt
sich im Sonnenlichte allmählich , plötzlich bei 60 — 63" unter
Explosion nach der Formel CLOj ^ Cl., -\- 2 O2 in Chlor und
Sauerstoff. Wenn man wenig Schwefelsäure zu einigen KCIO3-
Kristallen gibt, so kann man schon durch Berühren des Reak-
tionsgemisches mit einem Holzspahn (Vorsicht!!) momentane
Explosion unter heftigem Knall herbeiführen. In Gegenwart oxy-
dierbarer Körper erfolgt die Explosion unterFlammenerscheinung.
Hat man Zucker im Gemisch, so wird ihm das Wasser, welches er
in molekularen Mengen chemisch gebunden enthält, durch die
Schwefelsäure gleichzeitig entzogen, es hinterbleibt Kohle, und
diese wird durch den bei der Zersetzung des Chlordioxyds frei-
werdenden Sauerstoft' oxydiert. Hierdurch wird die Flammen-
erscheinung bedingt. Bei den Versuchen ist allergrößte Vor-
sicht anzuraten! Der .Ausdruck ,,Zuckerräucherung" ist wissen-
schaftlich nicht gebräuchlich. Es ist nicht einzusehen, welchen
Prozeß derselbe hierbei andeuten sollte. Und daher ist auch
Ihre zweite Frage nicht zu beantworten. Dr. Lb.
Inhalt: HugodeVries; Das Wüsten-Laboratorium zu Tucson in -Arizona. — Dr. med. Lu dwig Reinhard t: Der Winter-
schlaf. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Helene Friederike Stelzner: Ein interessanter Fall von Synästhesie.
— Gustav Eraanuel: Über die Wirkung der Labyrinthe und des Thalamus opticus auf die Zugkurve des Frosches.
— W. Koehne: Das Sammeln von Rindenresten in der Steinkohlenformation. — Schwarzschild: Astronomische
Breitenbestimmungen. — Wen d eil: Der Planetoid Iris. — de Valbreuze: Über einige Erscheinungen an Queck-
silber-Lichtbögen. — Himmelserscheinungen im April 1904. — Vereinswresen. — Bücherbesprechungen: Prof. Dr.
Conwentz: Die Heimatkunde in der Schule. — Prof. J. C. Kapteyn: Skcw frequency curves. — Astronomischer
Kalender für 1904. — Prof. J. Liznar: Die barometrische Höhenmessung. — Prof. Dr. G. Mie: Ionen und Elek-
tronen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
VcrantwortJicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-Wcsl b.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Biichdr.), Naumburg a. S.
Berlin
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Nene Folge 111. Baad;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 3. April 1904.
Nr. 27.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgcld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.\ufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über Zw^ergvölker. ^)
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. R. Zand
Die durchschnittliche Körperlänge der ver-
schiedenen Völkerschaften zeigt sehr erhebliche
Unterschiede. Für die Patagonier wird sie auf
170 — 180 cm angegeben, für die Buschmänner auf
130 — •140 cm. Merkwürdigerweise kommen in allen
Erdteilen große und kleine Stämme vor, bisweilen
n.ichbarlich nebeneinander, wodurch die Größen-
unteischiede um so auffälliger werden. So wohnen
in Europa die kleinen Lappen neben den großen
Norwegern , in .Afrika die kleinen Buschmänner
neben den großen Kafifern. Im Vergleich mit den
großen Stämmen erscheinen die kleinen zwerghaft.
Man spricht von Zwergvölkern, wenn die Er-
wachsenen eine Durchscimittsgröße von 150 cm
und weniger haben. Leute von 1 50 cm Höhe
sind keine eigentlichen Zwerge. Man stellt sie
bei uns noch in die Handwerkerabteilungen des
Militärs ein. Als Zwerge sind nach Bollinger
und A. Schmidt solche Menschen zu bezeichnen,
die im Verhältnis zu ihrem Alter allzu erheblich
unter dem Minimalmaß ihrer Rasse oder ihres
Stammes bleiben und dadurch auffallen. Die Grenze
für den Beginn des Zwergwuchses ist nicht für
alle Völker gleich, weil ihre Durchschnittsgröße
er (Königsberg i. F.).
SO verschieden ist. Für die Bewohner Mitteleuropas
dürfte eine Höhe von etwas über i m (1&5 cm)
als Grenze gelten, unterhalb der das Zwergtum
beginnt.
Die Zwerge, die in Schaustellungen dem Publi-
kum wegen ihrer ganz außerordentlichen Klein-
heit vorgeführt werden, sind in der Regel nicht
als normal anzusehen. Zum Teil sind sie Krüppel,
zum Teil weisen sie grobe VVachstumsstörungen
auf und zeigen infolgedessen stark abweichende
Proportionsverhältiiisse, wie auffallende Größe des
Kopfes und starke V'erkürzung der Beine. Aber
auch die wohl proportionierten Zwerge sind, wie
die Untersuchung mittels der Durchleuchtung durch
Röntgenstrahlen ergibt, inmitten des Wachstums
stehen geblieben. Die Epiphj'senknorpel — die
Teile der Knochen, in denen das Längenwachstum
stattfindet — pflegen bei ihnen noch erhalten zu
sein in einem Alter, wo sie bei normalen Menschen
längst geschwunden sind.
Derartige Zwerge kommen überall gelegentlich
') Nach einem Vortrage, gehalten in der physikalisch-
ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i, Pr.
4iS
Naturwissenschaftliche VVocheiisclirift.
N. F. III. Nr. 27
vor. Wegen ihrer Seltenheit fallen sie so sehr auf.
Ihre Kleinheit ist krankhaft. Bei den Zwergvölkern
ist die geringe Körpergröße eine rassenhafte Eigen-
tümlichkeit. Sie ist nicht eine seltene Ausnahme,
sondern kommt allen Individuen des Stammes zu.
Bei diesen „Rassenzwergen" ist die Körpergröße
niemals so gering wie bei den infolge von krank-
haften Störungen im Wachstum zurückgebliebenen
„Kümmerzwergen". Sie hält sich in Grenzen, wie
sie auch Angehörige großer Volksstämme ver-
einzelt zeigen.
Unsere Kenntnisse von Zwergvölkern haben
erst in der neueren Zeit eine gewisse Sicherheit
gewonnen, wo Forschungsreisende in die abge-
schlossensten Winkel der Erde vordrangen.
Die ersten Nachrichten über Zwergvölker stam-
men aus dem Altertum. Man hat ihnen wenig
Glauben geschenkt und erst jetzt beginnt all-
mählich die Meinung, daß es sich nicht um bloße
Phantasiegebilde handelte, sondern daß jenen Schil-
derungen Beobachtungen zugrunde lagen, durch-
zudringen.
Homer spricht von einem kleinen Geschlecht
der Pygmäen an des Okeanos strömenden Fluten,
die im Frühjahr mit den Kranichen heftige Kämpfe
aufführen. AuchHesiod erwähnt die Pygmäen.
Der griechische Geschichtsschreiber Megasthenes,
der 295 v. Chr. als Gesandter des Seleucus Nicator
an den König Sandrocottus nach Indien ging,
schildert Menschen von drei und fünf Spannen
Länge, die naselos wären und nur Löcher zum
Atmen über dem Munde hätten. Mit den Drei-
spannigen führten die Kraniche Krieg. Die Drei-
spannigen vernichteten die Eier der Kraniche, die
dort brüteten. Der Geograph Strabo meinte,
daß Homer und Hesiod des Vergnügens und
der Ergötzung wegen von den Pygmäen gefabelt
hätten und Megasthenes schenkt er keinen
Glauben, weil alle, die über Indien geschrieben
hätten, in hohem Grade Lügner wären.
Die erste genauere Kunde von dem Vorhanden-
sein kleinerer Menschen im inneren Afrika gibt
uns Herodot. Im II. Buche der Geschichten er-
zählt er, daß 5 junge nasamomische Männer (die
Nasamomen, ein libysches Volk, wohnten an
der Syrte und südlich davon), nachdem sie die
libysche Wüste in südlicher Richtung durchquert
hatten, auf kleine Männer, noch unter Mittelgröße,
gestoßen seien und von diesen angegriffen und ge-
fangen nach einer Stadt geführt worden wären,
wo alle -Leute ebenso klein und schwarz von
Farbe waren. Und bei der Stadt floß ein großer
Strom, und floß von Abend nach Sonnenaufgang,
und waren Krokodile in demselben zu sehen.
Aristoteles erwähnt in seiner Tierkunde,
daß die Kraniche aus den skythischen Ebenen in
die südlich von Ägypten liegenden Sümpfe, von
wo der Nil herkommt, ziehen, wo sie nach der
Sage die Pygmäen bekriegen sollen. Die Pygmäen
hält er nicht für fabelhafte Wesen, sondern er
glaubt der Erzählung, daß es dort einen Schlag
kleiner Menschen gäbe, die Höhlenbewohner sind.
Der Geograph Pomponius Mela versetzte
die P)'gmäen nach Arabien, Ktesia.s, der grie-
chische Leibarzt des Artaxerxes, beschrieb
ungefähr 400 v. Chr. mitten in Indien schwarze
Menschen, die sehr klein sind. Sie werden Pyg-
mäen genannt, sind stülpnasig und häßlich, gehen
ganz nackt und hüllen sich in ihre sehr langen
Haare. Sie sind sehr rechtlich und ausgezeichnete
Bogenschützen. Plinius erwähnte mehrfach Zwerg-
völker in Afrika und Indien.
Aus dem Mittelalter sind nur wenige Nach-
richten über Zwergvölker auf uns gekommen. In
einem dem Bischof I'alladius von Heleno-
polis in Biihynien vielleicht fälschlich zugeschrie-
benen Werke, das die Reise eines Mannes von
Theben in Ägypten nach Ceylon schildert, werden
die Bithsades (was wohl eine verstümmelte Form
von VVeddas ist) als das kleinste Volk der Insel
erwähnt, das in Felsenhöhlen wohnt, sehr geschickt
im Klettern über Abhänge ist und durch schwarze
Farbe der Haut sich auszeichnet. Der chinesische
Geograph Hiuen Thsang, der im 7. Jahr-
hundert unserer Zeitrechnung Indien bereiste, be-
richtet von dem X'orkommen und der Verbreitung
der zwerghaften Yakkhos in der Südostecke von
Ceylon. Leo Africanus (eigentlich Alhassan-
Ibn-Mohammed Alwazzan) lernte auf seinen
Reisen in Nordafrika, die er von 1492 ab aus-
führte, in Südmarokko Zwergvölker kennen.
Im Id. Jahrhundert brachten portugiesische See-
fahrer Nachrichten von Zwergvölkern an der Loango-
küste (zwischen Äquator und Kongo). Im 17. Jahr-
hundert wurden im äquatorialen Afrika dieDongo
angetroffen.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnte
EtiennedeFlacourt, Direktor der Französisch-
Ost-Indischen Kompagnie und Statthalter von Mada-
gaskar, in seiner „Histoire de la grande ilc de
Madagaskar", daß er die allgemein geglaubten Er-
zählungen von dem Vorhandensein von Riesen
und Pygmäen auf der Insel für Fabeln halte. Mehr
als ICO Jahre später berichtete de Commerson,
der Botaniker der Bougainvilleschen Expedition,
über das Vorkommen eines Zwergvolkes auf Mada-
gaskar, das er Quimos nennt. Er konnte eine
etwa 30 Jahre alte Frau dieses Stammes unter-
suchen. Sie war 119 cm hoch. Ihre herabhängen-
den Arme reichten bis zur Kniescheibe. Sie war
heller gefärbt als die gewöhnlichen Neger. Ihre
Haare waren kurz und wollig. Die Quimos be-
wohnen die höchsten Berge der Insel. Sie gelten
als die klügsten, tätigsten und kriegerischsten
Völker der Insel. Ihr Mut ist doppelt so groß
als ihr Wuchs. Niemais gelang es ihren Nach-
barn, sie zu unterdrücken, obgleich sie ihnen durch
ihre Zahl und durch den Besitz von F'euerwaffen
überlegen sind. Ergänzt wird dieser Bericht durch
eine Mitteilung des Gouverneurs de Modave un-
gefälir aus derselben Zeit, der eine Expedition zur
Entdeckung des Pygmäenlandes unternahm, die
freilich erfolglos blieb, ihm jedoch die Überzeugung
brachte, daß es auf Madagaskar wirklich ein Zwerg-
N. F. III. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
419
volk, das Quimos heißt, gibt. Die Männer sind
durchschnittlich iio cm groß, die Frauen noch
kleiner. Sie sind dick und untersetzt. Ihre Haut-
farbe ist weniger schwarzbraun als die der übrigen
Insulaner. Ihre Haare sind kurz und wollig.
Diese Berichte über die Quimos und andere
Zwergvölker Afrikas wurden mit großem Miß-
trauen aufgenommen und fanden wenig Beachtung,
denn sie alle stützten sich nicht auf Selbstgesehenes.
Seit 1867, wo du Chaillu auf Grund eigener
Beobachtungen und Untersuchungen das Zwerg-
volk der O b o n g o beschrieb, haben wir sichere
Kenntnisse von einer ganzen Anzahl von afrika-
nischen Zwergvölkern erhalten. Die anfangs an-
gezweifelte Existenz der Obongo wurde durch
die Mitglieder der deutschen Loangoexpedi-
tion, sowie durch Lenz bestätigt. Schwein-
furth verdanken wir die Entdeckung der Akka
im Ouellgebiet des Nil. Am Hofe des Königs
M u n s a von Monbutta traf er Leute dieses
Volkes. Seine Beobachtungen wurden später durch
Long, Felkin, Emin Pascha, Casatti,
Stanley und S t u h 1 m a n n bestätigt. Die Akka
werden von ihren verschiedenen Nachbarn auch
Ewe, Tiki-Tiki, Wambutti, Wassumba
genannt. Junker traf Zwerge in den Gebieten
der Mabode und Momfü, Stuhlmann am Issango
und Ituri. Serpa Pinto fand am oberen Kuando
die Mucassi quere; Stanley, Wolf und Wiß-
mann sahen zwischen den Zuflüssen des Kongo
die Batua oder Watwa, Frangois und Gren-
feU am Kongo selber die Bapoto, Kund die
Bojaeli im Hinterland von Kamerun, Crampel
die Bayago nördlich am Ogowe, Bau mann
die Watwa in Urundi.
Diese Zwergvölker im Innern des zentral-
afrikanischen Waldgebietes sowohl, wie im Osten
und Westen des Erdteils lehnen sich in ihren
körperlichen Eigenschaften eng an die Buschmänner
an. Sie alle unterscheiden sich von den umgeben-
den Völkerschaften durch eine auffallend geringe
Körpergröße. W iß mann maß 40 Batua in
den Wäldern östlich des Sankorn und erhielt eine
Durchschnittsgröße von 140cm. Frangois fand
am oberen Tschuappa die Männer 140, die Frauen
120 cm groß. Stuhlmann beobachtete bei den
Akka oder Ewe des oberen Ituri eine Körper-
größe von 124 — 150 cm, meint jedoch, daß In-
dividuen von mehr als 140 cm nicht als von reiner
Rasse anzusehen seien. Lenz fand beiden Abongo
die ausgewachsenen Männer 132 — 142 cm groß,
die Frauen erheblich kleiner. Nach der Ansicht
von Emin Pascha dürfte eine Körpergröße
zwischen 130 und 140 cm für die afrikanischen
Zwergvölker typisch sein. In den Proportionen
macht sich meistens ein Überwiegen des Rumpfes
gegenüber den Beinen bemerkbar. Merkwürdig
ist die Dünnheit der Gliedmaßen, die im Ver-
hältnis zum großen Kopf zu klein erscheinen. Die
Körperfarbe ist hellbraun mit stark gelblichröt-
lichem Grundton. Die Haare sind spiralig-wollig,
meistens etwas bräunlich, selten rein schwarz. Ein
zartes Pflaumhaar bedeckt die ganze Haut, die
eine auffallende Neigung zur Faltenbildung zeigt.
Körperlich sind die Zwergvölker geschickt und von
großer Sinnesschärfe. Stuhlmann nennt sie
„scheue, hinterlistige und rachsüchtige Wald-
kobolde". Alle Zwergvölker sind nomadisierende
Jäger, die nur provisorische Hütten bauen. Überall
sucht man sie zu verjagen, weil man vor ihren
Diebereien nicht sicher ist. Wie sehr sie deshalb
von ihren großen Nachbarn gehaßt und gefürchtet
werden , schildert sehr hübsch ein Bericht von
Dr. K a n d t. Derselbe lautet folgendermaßen :
„Im Juli i8g8 befand ich mich auf einem
Ring-IVIarsche vom Zusammenfluß des Mkunga und
des Nyavarongo um die großen Vulkane herum
zum Nord-Kiwu und von dort wieder zurück zum
Nyav-arongo. Als ich zwischen der Karissimbi-
Gruppe und dem von Götzen bestiegenen Vulkan
ein pori passirte, stieß ich auf zwei offene Hütten,
d. h. eigentlich nur ein paar Bretter mit Stroh-
dach, unter denen noch frische Feuer waren, dicht
am Wege, der über den Paß führte. Bevor ich
sie sah, bemerkte ich, daß mein Mruanda-Führer,
der etwa 50 m vor mir ging, mit geballter Faust
einige Schimpfworte ausstieß, nach der betreffen-
den Richtung gewandt. Ich fragte nach der Lh--
sachc seines Zornes und erhielt zur Antwort, daß
hier Räuber Tag und Nacht lauerten, um einsame
Wanderer zu überfallen und zu berauben, Männer
zu töten, Weiber und Kinder in Gefangenschaft
zu schleppen. Diese Geschichte klang mir natür-
lich wie ein Märchen. Indes war aber die Nach-
hut erschienen, die, immer von einer größeren
Zahl Wanyarunda begleitet, die Lebensmittel zum
\'erkauf ins nächste Lager brachten. Ich fragte
noch einmal — die gleiche Antwort I ,Was sind
diese Räuber für Leute ?' „Watwa". — ,Was sind
Watwa?' „Böse Menschen; so groß" — und dabei
hielt ein himmellanger Mann seine Hand dicht
über den Fußboden. Der Inhalt der weiteren
Mitteilungen war dies: „Es gibt zweierlei Watwa,
gute und böse. Die guten leben wie die übrige
Bevölkerung, sind ansässig, bestellen ihre Felder,
betreiben Töpferei usw. ; die bösen nomadisieren
im pori, sind Jäger, haben keine Felder, sondern
stehlen des Nachts ihren Bedarf. Mit gewissen
Dörfern stecken sie unter einer Decke, indem diese
sich loskaufen und dafür von ihnen verschont
werden." ,Warum sie die Watwa nicht vernichten ?'
Allgemeines Entsetzen — fast hätte ich geschrieben
Bekreuzigen. „„Die Watwa könne man nicht be-
kriegen , sie seien zu böse", und dann folgten
einige Schauergeschichten ..." Kandt suchte
die Watwa auf Ihre Hütten standen in einer
Lichtung des Urwaldes; sie besaßen keine Felder
und kein Vieh; er fand aber bei ihnen viele ge-
stohlene Lebensmittel und Geräte.
Zu den Zwergvölkern sind auch die Busch-
männer zu rechnen, denn sie haben eine durch-
schnittliche Größe von 130 — 140 cm. Gustav
Fritsch, der sie gelegentlich seiner Reise in
Südafrika 1863 — 1866 sehr genau studiert hat.
420
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 27
fand bei 6 erwachsenen Männern, die er maß, nicht
mehr als 144,4 cm. Das Ausbreitungsgebiet der
Busclimänner umfaßte früher so ziemlich den ganzen
Südwesten Afrikas und ihre Stämme breiteten
sich weit nach Norden und Osten aus. Jetzt aber
sind sie in die Gebirge und Wüsten zurückgedrängt.
Ihr Hauptsitz ist die Kalahari. Zerstreut finden
sie sich noch im Westen des Kaplandes, im Nama-
land und bei den Ovambo; in der Gegend des
Ngamisees reichen sie bis 17" nordwärts. Neben
der geringen Körpergröße fällt am meisten
ihre außerordentliche Magerkeit auf. Ihre Glied-
maßen sind schlank und dürr. Selbst ihre Kinder
zeigen nicht die runden Formen sonstiger Menschen-
kinder. Die Muskeln treten unter der rötlich gelben,
schlaffen, faltigen Haut deutlich hervor, was den
Eindruck des Mumienhaften macht. Ihre Muskeln
sind nicht dick, aber äußerst leistungsfähig. Die
Buschmänner sind so ausgezeichnete Läufer, daß
sie durch ihre Ausdauer und Schnelligkeit das
W'ild zu Tode hetzen. Überhaupt sind sie im-
stande große Strapazen auszuhalten und leisten im
Ertragen von Hunger und Durst Erstaunliches.
Die Sinnesorgane sind bei ihnen äußerst scharf
entwickelt. Sie führen ein unstätes Jägerleben,
ziehen dem Wilde nach, und Frauen und Kinder
müssen mit ihnen wandern. Freiheitsliebe, Mut,
aber auch Grausamkeit und Rachsucht sind ihre
hervorstechendsten Charakter - Eigentümlichkeiten.
Sehr auffallend ist ihre Begabung für bildende
Kunst, die durch zahlreiche Felsmalereien und
Felsskulpturen im Wohngebiete der Buschmänner
erwiesen wird. Sie haben auch eine große Vor-
liebe für Musik und treten selbst produzierend auf
indem sie das schreckliche Instrument, die Gorra,
in nervenerschütternder Weise malträtieren.
Es liegen mancherlei Tatsachen vor, die dafür
sprechen, daß die Buschmänner und die Zwerg-
völker früher ein viel größeres Ausbreitungsgebiet
in Afrika hatten. So sind vor kurzem in Abydos
in Oberägypten bei den Ausgrabungen, die die
englische Gesellschaft für die Erforschung Ägyptens
unter Leitung von F. Petrie ausführen läßt, neben
Schädeln und Abkömmlingen der großen Rassen
Afrikas auch solche von Pygmäen aufgefunden
worden. 20 Prozent der Schädel gehörten Pygmäen
an. Die Schädel stammen aus der Steinzeit Ober-
ägyptens und der Metallzeit der ersten Dynastien,
also aus der Zeit 4000 — 6000 v. Chr. K o 1 1 m a n n
hält es demnach für im hohen Grade wahrschein-
lich, ja fast gewiß, daß Homer, Hesiod, Aristo-
teles und andere Schriftsteller des Altertums zu-
treffende Kunde von diesen Rassenzwergen hatten.
An den alten Nachrichten über Pygmäen an den
Quellen des Nil ist sicher ein wahrer Kern.
Die Zwergvölker sind keine Eigentümlichkeit
Afrikas. Sie sind auch in den anderen Erdteilen
bekannt geworden. In Indien wurden sie, wie
vorher mitgeteilt wurde, schon im Altertum er-
wähnt. Eine Reihe von typischen Zwergvölkern
ist hier nachgewiesen z.B. in den Nilgiris, wo
sie wohlverbürgten Nachrichten zufolge früher
eine weit stärkere Ausbreitung hatten, auf Ceylon,
in den Gebirgen des mittleren Dekhar, in Ben-
galen, auf den Andamanen, auf der Halb-
insel Malakka. Zu den Zwergvölkern gehören
auch dieNegritos auf den Philippinen, den
Suluinseln, Sumatra, Java, Borneo, Flo-
res, Timor, Djilolo.
Am eingehendsten sind von diesen untersucht
die Weddas auf Ceylon von Dr. PaulSarasin
und Dr. Fritz Sarasin aus Basel. Aus ihrem
ausgezeichneten Werk, das den Titel führt : „Die
Weddas von Ceylon und die sie umgebenden
Völkerschaften, ein Versuch, die in der Phylogenie
des Menschen ruhenden Rätsel der Lösung näher
zu bringen," mögen hier einige Angaben mitge-
teilt werden.
Die Weddas von Ceylon stellen eine der
ältesten und tiefststehenden Rassen des Menschen-
geschlechts dar, „eine Menschenvarietät, welche an
Alter ihre Nachbarstämme weit übertrifft". Diese
uralte, kleine und schwarzbraune Rasse lebte in
\^orderindien in einer ,,weddaischen Periode", viele
Jahrhunderte vor Budda und Christus; andere spär-
liche, weniger rein erhaltene Überreste derselben
stellen die kleinen peninsularen Weddastämme
dar, die einsam und zerstreut in entlegenen Ge-
birgswäldern Vorderindiens leben, die Kurum-
bas in den Nilgiri Gebirgen, die Kanikaren in
den West-Ghats, die Juangs und andere soge-
nannte „schwarze Hindustämm e". Alle diese
peninsularen Weddastämme gleichen den Weddas
auf Ceylon in folgenden Merkmalen : der Wuchs
ist klein, die Hautfarbe dunkelbraun, das Kopfhaar
lockig oder wellig, der Bartwuchs spärlich, die
Nase tief eingesattelt mit breiten F"lügeln, die
Gliedmaßen lang und mager, das Skelett zierlich,
der Schädel lang und schmal mit niedriger Stirn
und kleiner Hirnkapsel. Die mittlere Höhe be-
trägt beim Manne 153 cm, beim Weibe 147 cm.
Die Kleinheit des Kopfes harmoniert mit der
Kleinheit des Körpers, während bei den afrika-
nischen Zwergvölkern und den Buschmännern der
Kopf etwas zu groß ist, wodurch der zwerghafte
Eindruck noch gesteigert wird. Die Weddas
bewohnen das Waldland des östlichen Ceylon, das
sie als unstätes Jägervölkchen durchziehen. Zum
größten Teil haben sie sich bereits ihren kul-
tivierten Nachbarn angeschlossen und dürften in
absehbarer Zeit völlig unter ihnen aufgehen. Die
Zahl der „wilden Weddas" beträgt kaum
mehr 300.
In Neu-Guinea sind Zwergvölker durch
Lauterbach, Kersting und Tappenbeck
in einem Teil des Inneren des östlichen Abschnittes
der Insel festgestellt. W e u 1 e berichtete im vorigen
Jahre über Pygmäen, die er im Stromgebiet des
mittleren Ramu antraf
Nach Wilhelm Krause gibt es in Australien
ebenfalls eine auf weit niedrigerer Kulturstufe als
die bisher sogenannten Eingeborenen stehende,
kleinere, primitive Urrasse.
Auch in Europa sind Pygmäen nachgewiesen
N. F. III. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
421
worden. Der seinerzeit hochberühmte, weit-
gereiste österreichische Diplomat Herbertstain
erwähnt in dem Bericht über seine Reisen nach
Moskau in den Jahren 1516 — 15 18 und 1528, daß
in dem südlichsten Teil Samogithiens, des
heutigen Gouvernements K o w n o, Zwerge neben
großen Leuten lebten. Diese Nachricht ist indes
sehr unsicher. Sichere Beobachtungen aber sind
in neuerer Zeit gemacht worden. In der Schweiz
sind an drei verschiedenen Orten Pygmäenknochen
in Gräbern der neolithischen Zeit zwischen Knochen
großgewachsener Europäer aufgefunden worden.
Die in Schweizersbild bei Schaff h ause n
aufgefundenen Knochen ließen auf eine Körper-
höhe von 135,5, I41A 142,4, 150 cm schließen.
Ebenso sind an drei Stellen in Frankreich Skelett-
reste von P\-gmäen zusammen mit solchen von
großen Personen nachgewiesen worden, die eben-
falls der neolithischen Periode angehören. In der
neolithischen Station, genannt aux Fees bei Brueil
(Departement Seine et Oise\ betrug die Zahl der
Pygmäenknochen g",,. In Deutschland sind
der gleichen Zeit angehörende P)'gmäenknochen
jüngst am Rhein bei Worms und Egisheim
gefunden. Der Hocker im Museum zu Worms
hatte eine Größe von 144,5 cm; für die Pyg-
mäen von Egisheim wird eine Größe von 1 20,
125, 150, 152 cm angenommen. Im vorigen Jahre
berichtete T h i 1 e n i u s über prähistorische Pyg-
mäen in Schlesien. Die prähistorischen Skelett-
reste im Museum schlesischer Altertümer in Bres-
lau, die aus der fruchtbarsten Gegend Schlesiens
zwischen Breslau und dem Zobten staiimicn,
gehören verschiedenen Perioden an, die bei Rot-
schloß gefundenen stammen aus der ersten Pe-
riode der Bronzezeit, die bei Jordansmühl auf-
gedeckten aus römischer- Zeit, die bei S c h w a n o -
witz gefundenen aus der slavischen Zeit. Aus
der Länge der Oberschenkelknochen wurde für
die Pygmäen von Rotschloß eine mittlere Länge
149,6 cm bzw. (für die einer anderen Fundstelle 1
152,3, für die von Jordansmühl von 150,6 cm,
für die von Schwanowitz von 142,9 cm be-
rechnet. Neben den Oberschenkeln waren ein-
zelne Schädel und andere Knochen vorhanden.
Die Körperhöhe, die aus diesen berechnet wurde,
wich nicht wesentlich ab. Auch in Schlesien
finden sich neben den kleinen Individuen \"er-
treter einer großen Varietät, allerdings nicht neben-
einander wie in der Schweiz und am Rhein. Alle
Funde zeigen schlanke, gut geformte, von allen
pathologischen Erscheinungen freie Knochen, so
daß von Kümmerzwergen nicht die Rede sein
kann.
Damit ist der Nachweis geführt, da(3 Pygmäen
in Europa von den Urzeiten her bis in verhältnis-
mäßig neue Zeit vorkamen. Ja sie existieren auch
gegenwärtig noch. Sergi und Mantia haben
unzweifelhaft festgestellt, daß noch heute in S i z i 1 i e n,
namentlich in der Provinz Girgenti Pygmäen
leben. N i c e f o r o und O n u i s wiesen lebende
Pygmäen auf S a rd i n i e n nach, Leute mit kleinen
Schädeln und einer Körpergröße von 1 50 cm im
Mittel für Männer (98 Messungen) und 146 cm
im Mittel für Frauen (6 Messungen). Auch in
einigen östlichen Gouvernements Rußlands ist eine
auffallend große Zahl von kleinsten Leuten, von
Rassenzwergen, beobachtet worden.
Ihrer geringen Körpergröße wegen könnten
auch die Lappen hierhin gerechnet werden.
V i r c h o w fand bei drei Männern der ersten
Gruppe, die er zu untersuchen Gelegenheit fand,
eine Durchschnittsgröße von 138 cm. Von einer
zweiten Gruppe maß der erste Mann 144,6 cm,
der zweite 144, der dritte, der als ,,der kleinste
Mann Lapplands" bezeichnet wurde, nur 126 cm.
Die P'rau hatte eine Größe von 144,5 cm. Rechnet
man alle Größen, die gemessen sind, zusammen,
so ergibt sich ein Mittel, daß unter dem aller
übrigen europäischen Rassen steht. Wegen des
überaus schlechten Ernährungszustandes, der für
die Lappen charakteristisch ist, und wegen der
starken Runzelbildung der Gesichtshaut, die jüngere
Personen alt erscheinen läßt, erinnern sie sehr an
die afrikanischen Buschmänner.
In Amerika sind von den amerikanischen
Anthropologen bisher noch keine Pygmäen nach-
gewiesen. Die Angaben von A. v. Humboldt,
Martius u. a. über Pygmäen hat Brinton als
Fabeln bezeichnet, aber doch wohl mit Unrecht,
denn die Gräber in den Ruinen von Pachanamäo
und auf dem altberühmten Totenfelde von Ancon
enthalten neben Schädeln und Skeletten von großen
Leuten auch solche von Pygmäen. Prinzessin
Therese von Bayern hat hier eine Anzahl
von Schädeln gesammelt und nach Europa ge-
bracht. Sie haJDen eine Kapazität von nur 1060
bis I [92 ccm und damit dieselbe Kleinheit wie
die Schädel der Weddas, der Negritos, der
Andamanen, der Buschmänner und der
Pygmäen Europas. Zwei Oberschenkelknochen
völlig ausgewachsener Individuen , die mit den
Schädeln zusammen den Grabstätten entnommen
wurden, ermöglichten die Berechnung der Körper-
höhe von 1 16,1 resp. 146,3 cm. Unter den Schädeln
der Peruaner sind vielfach sehr kleine Schädel
gefunden worden. Pygmäenhafte Schädel sind auch
in Chile, West Venezuela und Nevada be-
obachtet worden. Lebende Zwergvölker sind in
British -Honduras nachgewiesen. Ehren-
reich traf unter denBotokuden lebende Pyg-
mäen. Porte sah in diesem Volke Leute von
185 cm Größe, daneben aber auch kleine Männer
und PVauen, die nur 116— 135 cm hoch waren.
Auch auf der Santa-Cruz-Insel und in K a 1 i -
f o r n 1 e n ist noch in jüngster Zeit das Zusammen-
leben großer Rassen mit Zwergrassen beobachtet.
Dr. von W e i k h a m m e r lenkte vor wenigen
Jahren die Aufmerksamkeit der Ethnologen und
Anthropologen auf die Guayaquf, die mitten
in Paraguay noch heute ohne Gebrauch der
Metalle leben und als ein Zwergstamm gelten. Sie
führen ein unstätes Wanderdasein in den Wäldern
der -Serra Maracayü und sind äußerst scheu —
422
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 2;
um so mehr als sie in den letzten Jahren ein
anthropologisch und ethnographisch begehrtes Ob-
jekt und das Ziel auf guten Verkauf spekulieren-
der Kopfjäger und Schädel-Spekulanten geworden
sind. Der Paraguayer hält sie für Affen oder
Schwanzmenschen und umgibt sie mit den üb-
lichen Grusellegenden. Von den Kolonisten werden
sie gehaßt und verfolgt, weil sie gelegentlich auf
Vieh , früher nur Pferde und Maultiere , die sie
sehr gerne essen , heute auch auf Rinder Jagd
machen.
Es kommen und kamen also in allen Erd-
teilen Zwergvölker neben großen Rassen vor.
Wie sind diese Zwergvölker aufzufassen ? Es
stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Ein Teil
der Anthropologen und Ethnographen betrachtet
die Zwergvölker als Rassen, die durch ungünstige
äußere Lebensbedingungen herabgekommen sind,
und bezeichnet sie geradezu als „Kümmerformen
der Menschheit". Der Ausdruck „Kümmerformen"
ist bei den Tierzüchtern für Tiere, die in der
Größenentwicklung zurückbleiben, gang und gäbe.
Veranlassung zu dieser Auffassung gab wohl
Virchow. Er wandte sich gegen die Ansicht,
daß die sogenannten niederen Rassen in der Ent-
wicklung stehen geblieben und zu weiterer Ent-
wicklung nicht fähig wären. Er wies nach, daß
sie gewöhnlich nichts an sich haben, was dafür
spräche, daß sie vielmehr im Gegenteil etwas
Greisenhaftes an sich hätten. Er führt dies zurück
auf mangelhafte Ernährung, die im Laufe der
Jahrhunderte auf die ganze Konstitution einen
solchen Einfluß ausgeübt habe, daß sie in ge-
wissem Sinne als pathologische Rassen bezeichnet
werden könnten. Die Lappen und Busch-
männer, die V i r c h o w als pathologische Rassen
ansieht, erscheinen uns wegen ihrer außerordent-
lichen Magerkeit, wegen der starken Runzelung
der Haut, die auch jungen Personen ein greisen-
iiaftes Aussehen verleiht, als herabgekommen, als
degeneriert. Zugunsten dieser Ansicht spricht die
Beobachtung von Euro paus, einem ausgezeich-
neten Kenner der Lappen, daß diese unter ver-
besserten Lebensbedingungen, wenn sie ansässig
und ackerbautreibend geworden sind und sich
kräftiger ernähren, im Laufe von ein bis zwei
(lenerationen an Größe zunelimen und die über-
mäßige Magerkeit verlieren. Neben der schlechten
und unzureichenden Ernährung würden auch andere
ungünstige Umstände in Frage kommen, so die
Anstrengungen und Verfolgungen, die ein Stamm
im Laufe der Zeit zu erdulden hat durch das un-
aufhörliche Vorwärtsdrängen anderer, stärkerer
Vr.lker.
K o 1 1 m a n n bezeichnet die Degenerationshypo-
these als eine „voreilige Entscheidung" über die
Zwergvölker, die unter dem Eindruck der patho-
logischen Kümmerzwerge entstanden ist. Alle Be-
obachter, die ganz objektiv urteilen, vor allem aber
alle, die mit den Zwergvölkern persönlich in Be-
rührung gekommen sind, und die ihre Lebens-
gewohnheiten studiert haben, sind Gegner der
Ansicht, daß die Zwergvölker degeneriert wären.
Die Buschmänner werden uns als ganz außer-
ordentlich ausdauernde Läufer geschildert. Fritsch
sagt in seinem bekannten Werk über ,,die Ein-
geborenen Südafrikas"; ,,Der trainierte, sehnige
Körper, dessen Muskelkraft beträchtlicher ist, als
man meint, macht es ihnen möglich, nicht nur
durch andauerndes Laufen wie die Kaffern sich
hervorzutun, sondern sie erreichen dabei auch eine
verhältnismäßig große Durchschnittsgeschwindig-
keit. Sie hetzen zuweilen zu Fuß die Arten des
Wildes, welche nicht sehr andauernd zu laufen
vermögen." Lloyd und Jo h n st o n betonen, daß
die Zwergvölker Afrikas kräftig gebaut und mit
gut entwickelter Muskulatur ausgerüstet sind. Von
den Nachbarvölkern werden sie, wie gezeigt wurde,
gehaßt und gefürchtet. Stuhlmann, der die
A k k a oder E w e des oberen Ituri auf der Reise
mit E m i n Pascha genauer studierte, glaubt nicht,
daß die Zwerge durch Degeneration entstanden
seien. Nach Rütimeyer sind die Natur-
weddas in ihrer Weise für die Lebensaufgaben
vollkommen ausgerüstet, kräftig und gesund, und
aus den Schilderungen der Vettern Sarasin geht
mit Bestimmtheit hervor, daß dieWeddas nicht
degeneriert sind. Kollmann fand an den Knochen-
resten von Pjgmäen, die er untersuchen konnte,
niemals Degenerationserscheinungen. Sein Beob-
achtungsmaterial war ein recht reichhaltiges. Es
umfaßte die Skelette der Schweizer Pygmäen, zahl-
reiche Skelette aus dem Sarasin'schen Besitz,
ein Andamanenskelett, zwei von Emin Pascha
nach London gesandte Skelette von afrikanischen
Pygmäen, ferner Schädel von Pygmäen aus Sizilien,
Afrika, Indien und Amerika. Sokolowsky, ein
Anhänger der Degenerationshypothese, bemerkt
sehr richtig, daß der ungünstige Einfluß der äußeren
Verhältnisse nicht die alleinige Ursache der kümmer-
lichen Ausbildung der Zwergvölker sein könne,
weil sie oft rings umgeben sind von Volksstämmen,
die trotz der gleichen Lebensbedingungen doch
die volle Ausbildung aufweisen. Die Degenerations-
h\-pothese erscheint unhaltbar.
Immer mehr gewinnt die Ansicht an Ver-
breitung, daß die Pygmäen nicht verkümmerte Ab-
kömmlinge der großen Rassen sind, sondern ge-
sunde und wohl entwickelte, jedoch kleine Ab-
arten des Menschengeschlechts. Sie stellen eine
Urra.sse dar. Aus allen Reiseberichten geht her-
vor, daß die Zwergvölker in ihrer Erscheinung
etwas Primitives, etwas Ursprüngliches im Vergleich
mit den hohen Stämmen haben.
Wenn die Annahme, daß die kleinen Rassen
durch Degeneration aus den großen sich ent-
wickelt haben, unhaltbar ist, so bleibt nur die
Möglichkeit übrig, daß die großen Rassen von den
kleinen abstammen, denn vom naturwissenschaft-
lichen Standpunkt aus kann nicht angenommen
werden, daß beide Arten unabhängig voneinander
auftreten.
Die Annahme, daß die großen Rassen von den
kleinen abstammen, steht mit der allgemeinen Er-
N. F. III. Nr. 2-]
Natui wissenschaftliche Wociiciischrift.
423
fahriing im Kiiiklant^^, daß die großen l'llaiizen und
die großen Tiere immer später auftraten als die
kleinen. Wie die Riesenamphibien, die Riesen-
saurier, die Riesenvögel, die großen Raubtiere,
Huftiere und Wiederkäuer sich allmählich aus
kleinen Formen entwickelt haben, so sind auch
die großen Menschenrassen aus den Pygmäen her-
vorgegangen.
„Unter den jetzt noch lebenden Menschen-
Spezies stehen", wie Ernst Haeckel in seinem
Vortrage über den Ursprung des Menschen be-
tonte, „nach unseren jetzigen anthropologischen
Kenntnissen zwei Pygmäenarten der gemeinsamen
längst ausgestorbenen Stammform des Menschen-
geschlechts . . . am nächsten. E^s sind dies die
W e d d a s auf Ceylon und die A k k a s in
Zentral-Afri ka."
Kollmann hat neuerdings den X'ersuch ge-
macht, einen Stammbaum der Menschheit zu ent-
werfen, der von Pygmäen ausgeht. Von einer
Urhorde von Pygmäen, die in der Urzeit, wohl
schon im Tertiär aufgetreten ist, und die aus
gleichartigen Individuen bestand, gingen Abarten
von Pygmäen hervor, die durch Haar, Hautfarbe
und Form des Schädels voneinander sich unter-
scheiden. Es entstand eine Pygmäenart mit wel-
ligem Haar (cymotriche), eine wollhaarige (ulotriche)
und eine straffhaarige (lissotriche). Diese An-
nahme scheint berechtigt, weil es noch gegen-
wärtig wellhaarige, wollhaarige und straffhaarige
P)-gmäen gibt. Zu den wellhaarigen gehören die
Weddas und die indischen Pygmäen, zu den
wollhaarigen die afrikanischen Zwergvölker und
zu den straft haarigen die amerikanischen Pygmäen.
Diese Abarten gelangten durch Wanderung in die
verschiedenen Kontinente und hier wandelte sich
ein Teil der Pygmäen durch Mutation in einigen
Generationen in große Rassen um, die nun neben
den kleinen fortbestanden. Das Menschengeschlecht
gewann so eine große Mannigfaltigkeit. Es gab
nun cymotriche, ulotriche und lissotriche große
und kleine Rassen. Um die Diluvialperiode herum
traten dann weitere Differenzierungen auf Wir
kennen aus dieser Periode Lang- und Kurzgesichter,
Lang-, Kurz- und Mittelschädel unter den großen
Rassen. Beobachtungen an Pygmäen sind freilich
nicht vorhanden. In der Periode, in der wir uns
noch gegenwärtig befinden, hat die Gliederung
unter den großen Rassen zugenommen; es haben
sich Lokalvarietäten gebildet. Es scheint, daß
damit die Mutationsperiode einen Abschluß fand,
denn seit mehr als loooo Jahren sind keine Ände-
rungen mehr aufgetreten. Die Knochenreste aus
der paläolithischen und ncolithischen Periode be-
weisen dies. Auch für die Pygmäen ist, wie die
Funde in den Gräbern zu Abydos in Ober-
ägypten, in der Schweiz, in Frankreich
und in Schlesien und die lebenden Zwergvölker
beweisen, seit der Urzeit keine Veränderung mehr
eingetreten. Die Kol Iman n'sche Hypothese
erklärt in ungezwungener Weise die Tatsache, daß
die wollhaarigen Neger neben wollhaarigen Zwerg-
völkern leben, die wellhaarigen Inder und Europäer
wellhaarige Pygmäen umschließen, und die glatt-
haarigen Indianer und glatthaarigen Pygmäen auf
demselben Gebiete vorkommen.
Kleinere Mitteilungen.
Über die Schutzimpfung gegen Cholera
teilt N. Murata, Regierungsarzt in Japan, im
Zentralblatt für Bakteriologie (Jena, G. Fischer,
Februar 1904) folgendes mit: Die Schutzimpfung
gegen Cholera ist von Haffkine in Indien seit
1892 in großem Maßstabe durchgeführt. Haffkine
verwendet dazu lebende Cholerabouillonkultur.
Danach hat im Jahre 1897 Kolle diese Schutz-
impfung in wissenschaftlich exakter Weise studiert.
Japan wurde schon oftmals von Choleraepidemien
heimgesucht. Jedesmal wurde der Cholerakeim
von Ausländern eingeschleppt. So hat das vor-
letzte Mal im Jahre 1896 eine große Epidemie in
Japan geherrscht; seitdem war Japan mehrere
Jahre lang ganz frei von Cholera geblieben. Es
wurde im Jahre 1902 nochmals von Cholera
heimgesucht. Diese Epidemie war so fürchterlich
verheerend , daß fast ganz Süd- und Mitteljapan
von ihr beherrscht wurde. Es war das Zahlen-
verhältnis der Erkrankten zu den Cieimpften nur
6 ; lOOOO, während das zu den Nichtgeimpften
13 : lOOOO war. Die Mortalität unter den Ge-
impften betrug nur 42,5 Proz., während sie unter
den Nichtgeimpften 75,0 Proz. ausmachte. Was
die Reaktion der Impfung anbetrifft , so war sie
niemals von unangenehmen, gefährlichen Erschei-
nungen begleitet. H. Kbr.
Aus dem Leben der Schlupfwespen. —
Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß auch
den „Schlupfwespen", diesen tätigsten Helfern des
Menschen im Kampfe gegen die tierischen Feinde
seiner Nutzgewächse, die F'ähigkeit zukommt, durch
ihren Stich allein schon auf die Beute einzuwirken.
Daher seien hier zwei interessante Beobachtungen
registriert, die eine solche Einwirkung zu beweisen
vermögen. Die eine entnehme ich dem Bericht
des Agrikulturentomologen F.. Dwight Sander-
son über einige schädliche Raupen (Bull. Nr. 56
vom 20. Juni 1902 der Delaware College Agri-
cultural Experiment Station). Hcmcrocampa Icii-
cosligina S. u. A., ein Spinner mit stummelflügligen
Weibchen, ähnlich unserer Gattung Orygia, tritt
in Nordamerika stark schädlich auf Er wird
namentlich in Schranken gehalten durch die
Schlupfvvespe Piuipla i)iquisitor. Diese legt ihre
Eier ab auf die vollerwachsene Hcincrocampa-
Raupe, wenn diese sich schon eingesponnen hat.
Vorher aber sticht sie nach Sanderson gewöhn-
lich mehrmals auf die Raupe ein, „und lähmt sie
4-4
NnlLir wissenschaftliche Wochcnsciirift.
N. F. III. Nr. 2;
so" („thus benumbing ii"). ECs wäre das also ein
ganz ähnliches Vorgehen , wie wir es von den
Sphegiden oder Raubwespen her allgemein kennen,
die ihre Eier mit einem Vorrat durch Stich ge-
lähmter, aber lebender Insekten, Raupen, Fliegen
u. dgl. umgeben. .'\uch diese /-"//«//«-Larven zehren
nun von außen her an der Raupe oder Puppe!
Daß die Waffe der Schlupfwespe, ihr Stachel,
auch in ernsthaftestem Kampfe oft dringend ge-
braucht werden kann, dafür bietet die zweite Be-
obachtung ein höchst anziehendes Beispiel. Pro-
fessor Habermehl in Worms hat uns diese
Beobachtung, in einem sonst wesentlich systema-
tischen Aufsatz ,,über Ichneumoniden" (Zeitschr.
f. systematische Hymenopterologie und Diptero-
logie, Juli-Heft 1903) versteckt, mitgeteilt. Er
erzählt: ,,Am 21. Juni 1900, abends 6'/., Uhr, bei
bedecktem Himmel, sah ich im sog. Rosengarten
bei Worms, wie sich ein $ der Pimpla ociilatoria
F. von den von einem Ulmenblatt herabhängenden
Spinnfäden durch heftig zerrende Bewegungen zu
befreien suchte, was dem Tierchen auch nach
einiger Zeit gelang. Zu meiner großen Über-
raschung flog die Schlupfwespe jedoch sofort
wieder auf das Ulmenblatt zurück, wo sie aber
in demselben Augenblick von einer kleinen Spinne
mit weit^gelbem Hinterleib ( Thcridiitiu lincatiiiii]
wütend angefallen wurde. Bei näherem Zusehen
entdeckte ich dann auf der Unterseite des Blattes
die in einem lockeren Gespinste befindlichen Eier
der Spinne, auf welche es die SchJupfvvespe
offenbar abgesehen hatte. Es entspann sich nun
zwischen der ihre Eier bewachenden Spinne imd
der offenbar von Legenot getriebenen Schlupf-
wespe ein höchst dramatischer Kampf, bei dem
ich die Ausdauer der Kämpfenden bewunderte.
Unablässig suchte die Spinne ihre Giftklauen in
die Wespe einzuschlagen, während diese mit ihrem
Legebohrer auf die Spinne einstach. Dabei konnte
ich deutlich beobachten, wie die Stiche der Wespe
häufig fehl gingen und das Blatt durchbohrten.
Immer wieder versuchte die Spinne ihren Gegner
durch kräftige Bisse und durch Umwickeln mit
Spinnfäden unschädlich zu machen, aber jedesmal
gelang es der Schlupfwespe , sich wieder zu be-
freien. Endlich , nach etwa viertelstündigem er-
bittertem Kampfe schien die Spinne ermattet zu
sein. Während sich diese nun nach dem abwärts
umgebogenen Rande des Blattes zurückzog, eilte
die Schlupfwespe blitzschnell in das Gespinst
auf der Unterseite des Blattes und stieß mehr-
mals rasch hintereinander den Legebohrer in die
Eier der Spinne hinein."
Auch hier also eine Punpla , die sich ihres
Stachels mindestens zur Wehr bedient, oder auch
daneben noch, wie dort, zu einer wirklichen
Lähmung der Beute. Es wäre interessant, darüber
noch genauere Beobachtungen zu hören.
Dr. P. Speiser (Bischofsburg).
suchungen wurde von mehreren Seiten, vor allem
von H. d e V r i e s hingewiesen ; von großer Wichtig-
keit wäre es nun, längere Zeit hindurch unter
denselben Lebensbedingungen die Variationskur\-en
eines Organismus zu studieren. Von diesem
Standpunkt ausgehend studierte ich durch zwei
Jahre, und zwar Anfang August bis Mitte September
in den beiden bezüglich ihrer Witterungsverhält-
nisse ziemlich gleichen Sommern 1901 und 1902,
im Böhmerwald bei Karlsdorf die Variation der
Randblüten der Centaurea jacea L. und zwar auf
zwei Standorten. Der eine Standort, der mit
dem Namen ,, schlechte Lebensbedingungen" charak-
terisiert sein mag, war eine sandige an einer Stelle
nasse Waldwiese in einem schlechten Kieferwald,
die im Frühjahr ziemlich lange abgeweidet wurde;
das andere Gebiet der variationsstatistischen Unter-
suchungen waren mehrere Feldraine guter in der
Ebene liegender Felder, auf denen Korn, Hafer
und Kartoffeln angebaut wurde.
S 9 (O « iZ 13 l'ir /5 (fc il 1» ig ec Zi ZZ
iaoj
10 0 iä i.i (ir i5 IC 1^ IS 11) zc m ZU
Gute Lebensbedingungen
7902
Variationskurven der Centaurea jacea L.
Auf die Bcdcutunw variationsstatistischer Unter-
Von den kümmerlich vegetierenden Pflanzen
wurden 1901 294 Blüten, 1902 295 Blüten, von
den Pflanzen vom guten Standort 1901 251 Blüten,
1902 139 Blüten untersucht. Unter den guten
Lebensbedingungen bildeten 1901 die Blüten mit
15 Randblüten das Maximum, 1902 die mit iS
Randblüten. Blüten , die von dem schlechten
Boden entstammten, besaßen 19OT bei 13, 1902
bei 14 das Maximum. In beiden Fällen erlitt vom
Sommer 19OI auf 1902 das Maximum eine Ver-
N. 1''. III. Nl. 27
Naiurwissciischaft liehe Wochenschrift.
425
Schiebung nach rechts, die Maxima unterschieden
sich, wie aus der Betrachtung der Kurven hervor-
geht, auch voneinander. Leider mußte ich aus
äußeren^Gründen diese Untersuchungen, die doch
hier mitgeteilt werden mögen, aufgeben.
S. Prowazek.
Über die Sexualität bei den Ascomyceten
hat 1'. Dangeard 'j Nachuntersuchungen der von
R. Harper beobachteten Vorgänge angestellt,
die zu wesentlich verschiedenen Resultaten führen
und die Sexualität in ganz anderem Lichte er-
scheinen lassen.
Bekanntlich wurde schon von De Bary die
Behauptung aufgestellt, daß bei Sphaerotheca und
ähnlichen Formen eine Befruchtung der Ascogon-
zelle statthabe. Von mancher Seite, namentlich
vonBrefeld, wurde die Tatsache bestritten, ohne
daß aber ein vollgültiger Beweis für und gegen
die Sexualität geführt werden konnte. Noch
eigentümlicher verhielt sich Pyronema, bei dem
die Ascogone trichogynartige Fortsätze tragen,
die an das Pollinodium (Antheridium) anwachsen.
Trotz genauester Untersuchung konnte Kihl-
m a n n eine Durchbrechung der Wandung zwischen
Trichogyn und Pollinod nicht auffinden. Infolge-
dessen blieb der sexuelle Vorgang bei Pyronema
noch mehr in DuuKel gehüllt.
Diese beiden viel umstrittenen Objekte waren
nun von R. Harper zum Gegenstand der Unter-
suchung gemacht worden , die mit allen neueren
Hilfsmitteln der Mikrotom- und Färbetechnik
durchgeführt wurde. Er wies aus seinen Präpa-
raten für Sphaerotheca nach, daß eine offene Vqt-
bindung zwischen Ascogon und Pollinod eine
kurze Zeit besteht und daß der männliche Kern
in das Ascogon hinüberwandert. Es findet dann
Vereinigung der Kerne im Ascogon statt, wodurch
der sexuelle Vorgang über allen Zweifel gestellt
ist. F"ür Pyronema wies er nach , daß das Tri-
chogyn in offene Kommunikation mit dem Pollinod
tritt, daß aus diesem zahlreiche Kerne in das
Ascogon treten und hier nun paarweise Vereinigung
der Kerne stattfindet. Also auch hier eine klare
und sichere Sexualität! Die Anhänger der
Sexualiiätslehre waren natürlich von diesen Resul-
taten hochbefriedigt und glaubten damit die Lehre
von der Geschlechtslosigkeit der höheren I^ilze
endgültig beseitigt zu haben.
Zwar hatte A. Möller bereits darauf hinge-
wiesen, daß der Jubel verfrüht sei und die Lhiter-
suchungen H a r p e r ' s noch keineswegs so fest
begründet seien, um die Vernichtung der wohl-
begründeten NichtSexualität herbeizuführen. In-
dessen fanden seine Ausführungen nicht die nötige
Pieachtung, da Beobachtungen fehlten, welche L'n-
richtigkeiten in Harper's Beweisführung dar-
legten. Allerdings hatte P. Dangeard schon
vorher darauf hingewiesen, daß eine offene Ver-
bindung zwischen Ascogon und Pollinod bei
Sphaerotheca nicht.besteht, aber seine Ausführungen
waren von den Sexualisten totgeschwiegen oder
höchstens mit Fragezeichen zitiert worden.
Nun kommt aber Dangeard mit neuen
Untersuchungen der von Harper bearbeiteten
Pilze. Trotzdem erst eine \^orläufige Mitteilung
vorliegt und die mit Abbildungen versehene Ar-
beit noch in Aussicht steht, kann jetzt schon als
sicheres Resultat seiner Untersuchungen hingestellt
werden, daß eine Sexualität bei den genannten
Pilzen nicht vorhanden ist. D a n g e a r d weist
in erster Linie nach, daß eine offene Verbindung
zwischen Ascogon und Pollinod zu keiner Zeit
existiert. Es kann natürlich auch kein Übertritt
von Kernen stattfinden, wodurch jede X'orbedingung
einer Sexualität fällt.
Die von Harper behaupteten Kernvereini-
guiigen im Ascogon finden statt, aber wie bei
jedem anderen .Ascus als völlig normaler Vorgang.
Im jungen Ascus finden sich nämlich stets zu
einer gewissen Zeit zwei Kerne vor, die sich erst
vereinigen und dann wieder zum Zwecke der
Sporenbildung teilen. Den eigentlichen geschlecht-
lichen Akt erblickt Dangeard in der Vereinigung
dieser beiden Ascuskerne. Ob dieser Vorgang
als Sexualität aufzufasseti ist , läßt sich vor der
Hand nicht entscheiden und es würde auch für
die bisher behauptete Art der Sexualität bei den
Ascomyceten belanglos sein , wenn diese Kern-
verschmelzung wirklich als geschlechtlicher \'or-
gang erwiesen würde.
Die Frage der Sexualität bei den Ascomyceten
liegt also jetzt wieder so, daß bisher keine einzige
Tatsache bekannt ist, die dafür spricht, daß aber
alle scheinbar dafür sprechenden Tatsachen als
irrtümlich erwiesen worden sind. Harper's
Beobachtungen sind damit ein für allemal abgetan
und zeigen nur wieder , wie außerordentlich vor-
sichtig man bei der Ausdeutung von Mikrotom
schnitten sein muf-5. (i. Lindau.
') Le Botanistc 9. ser. Httl I. 1903 (hier dit.- Lilriatur).
Über die beiden Eisrücken auf der West-
seite des Gaufsberges. — Die deutsche Südpolar-
cxpedition hat, neben umfangreichen anderen
Materialien von hohem wissenschaftlichen Werte,
auch treffliche Photographien mitgebracht, welche
z. T. Aufschlüsse über eigenartige Erscheinungen
gewähren. Unter den im Januarheft der Zeit-
schrift der Gesellschaft für Erdkunde \ervielfältigtcn
Bildern ist besonders bemerkenswert die photo-
graphische Ansicht des Gaußberges von der West-
seite. Dieser Berg — der einzige Punkt anstehen-
den Gesteins, welchen die Expedition in ihrem
l^berwinterungsgebiete gefunden hat — besteht
aus vulkanischem Gestein von verhältnismäßig
jugendlichem Aussehen und ragt, auf drei Seiten
vom Inlandeise umgeben, nach vorläufiger Messung
S66 m über das an seine Nordseite stoßende
Meereis. An seiner Westseite liegen zwei
moränenartig gestaltete Eisrücken , welche in
der Nähe des Felsgipfels beginnen und in der
Richtung; des stärksten Gefälles sich bis zum all-
426
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 27
gemeinen Eishorizonte herabziehen. Dr. I^hilippi,
welchem wir dieses schöne Bild verdanken, hat in
der Sitzung der deutschen Geologischen Gesell-
schaft vom 3. Februar d. J. die Vermutung aus-
gesprochen, daß in der Gegend dieser Eisrücken
einst eine allgemeine Inlandeisdecke lag, welche bis
zu dieser erheblichen Meereshöhe den Gaußberg
umflutet habe. Wäre diese Vermutung zutreffend,
so würde sie von hohem Interesse für die allge-
meine Erdkunde sein, weil ja dann bewiesen wäre,
daß am Südpol, insbesondere am Kaiser Wilhelm II.-
Land, die Vereisung erheblich zurückgegangen
wäre, woraus sich ein Festpunkt für die wechsel-
seitigen Klimabeziehungen beider Hemisphären
ergäbe. In der Tat darf diese Vermutung als
sehr wohl begründet gelten, weil sich am Berges-
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N. F. III. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
427
hang Terras.sen finden, deren Einebung auf Inland-
eis zurückgeführt werden kann, und insbesondere
weil ebendort sich Geschiebe älterer, von dem
vulkanischen Material des Gaußberges völlig ver-
schiedenen Gesteine finden, deren Herkunft dort
nun einem Transport durch Inlandeis zugeschrieben
werden darf Für den mit Dünenbildungen Ver-
trauten besteht indes kaum ein Zweifel'), daß
beide auf der Photographie so deutlich her\-or-
tretende Rücken nicht Reste solchen alten Inland-
eises sind, sondern daß dieselben ihre Anhäufung,
ihre besondere Lage am Bergeshang und ihre
eigenartige Gestalt dem Winde verdanken. Sie
sind als Schneedünen zu betrachten, deren
Schnee durch Druck und eingesickertes Schmelz-
wasser vereist sein mag, deren äußere Gestalt
mit ihren schmalen Kämmen aber noch in jüngster
Zeit durch Winderosion bedingt sein muß.
Sie sind somit geologisch jünger als der einstige
Hochstand des Inlandeises, welcher die Terrassen
des Gaußberges mit erratischen Geschieben be-
streute. Bei dem hohen Interesse, welches dem
(laußberg und den Entdeckungen der deutschen
Südpolarexpedition mit Recht zukommt, glaubte
Verf. mit obiger kurzen Bemerkung nicht zurück-
halten zu sollen. Prof Dr. Alfred Jentzsch.
') Man betrachte zum Vergleich die Bilder im Handbuch
des deutschen Dünenbaues, Berlin 1900, und die darin vom
Verf. niedergelegten Bemerkungen über Winderosion , z. B.
S. 77 ff- •
Namengebung für die Formen des Meeres-
bodens. — Der 7. Internat. Geographenkongreß
hat im Jahre 1899 bei seiner Berliner Tagung
neben anderen Beschlüssen auch den gefaßt, „der
Kongreß wolle eine intern. Kommission für die
subozeanische Nomenklatur einsetzen mit dem
Auftrag, spätestens bis zum Zusammentritt des
nächsten Kongresses die Ausarbeitung und Ver-
öffentlichung einer berichtigten Tiefseekarte des
Weltmeeres zu veranlassen". Der nächste Kongreß
wird im Jahre 1904 zu Washington tagen. Des-
halb war es Zeit, daß kürzlich die Kommission
mit den Veröffentlichungen der vereinbarten Namen
für die I'ormen des Meeresbodens hervortrat. Die
deutschen Bezeichnungen hat Prof. S u p a n in Peterm.
Mitteil. (Bd. 43, S. 151) veröffentlicht; Urheber
der französischen Namen ist Lapparent , der eng-
lischen Murray.
Der Teil des F'estlandsockels, der sich von der
Grenze dauernder Meeresbedeckung allmählich bis
zur Tiefe von 200 m (100 Faden) senkt, bei wel-
cher der Steilabfall zu beginnen pflegt, heißt
Schelf, z. B. Britischer Schelf Die Vertiefungen
des Meeresgrundes sind Becken, wenn ihre Ge-
stalt rundlich ist, dagegen Mulden, wenn sie
sich lang hinstrecken, ziemlich breit sind und die
Ränder langsam ansteigen lassen, und Gräben,
falls sie bei langer Erstreckung schmal sind und
steile Ränder besitzen, von denen der an der
I'^estlandseite höher sein wird als der, welcher
nach dem Meerestrog hin liegt. Dringen Aus-
läufer von Becken, Mulden, Gräben in P'estländer
oder unterseeische Erhebungen ein , so entstehen
Buchten, wenn die Gestalt der Gebilde breit,
rundlich oder dreieckförmig ist, oder Rinnen,
falls diese Vertiefungen sich lang hinstrecken.
Man wird also von der ostaustralischen Bucht,
aber von der norwegischen Rinne sprechen.
Die Erhebungen des Meeresgrundes, welche
unter mäßigen Böschungswinkeln ansteigend bald
breit, bald schmal sind und ganz verschiedene
Höhenentwicklung zeigen können, heißen stets
Schwellen. Sie vor allem gliedern den Boden
der Meere, fallen aber ihrer langsamen, flachen
Entwicklung halber weniger auf als die Rücken,
welche energischer geböscht aber schmaler sind
als Schwellen. Steigt eine Bodenerhöhung steil
auf, entwickelt sich aber auf der Fläche zu einiger
.Ausdehnung, so daß die Breite der Länge gleich-
kommt, so handelt es sich um ein Plateau,
gleichgültig, ob es rings von Meerestiefen umgeben
ist oder sich einem Rücken oder einer Schwelle
angliedert, vielleicht ihr aufgesetzt ist. Die höch-
sten selbständigen Teile der Erhebungen heißen,
falls sie nicht zum Sockel von Inseln oder Fest-
land gehören. Höh als Gegensatz zum Tief,
welches den eingesenktesten Teil der Vertiefimgen
am Meeresboden darstellt.
Neben diesen Großformen der unterseeischen
Bodengliederung stehen noch Kleinformen : Riffe
oder Gründe liegen bis zu 11 m tief dicht
unterm Wasserspiegel, Bänke zwischen 11 und
200 m. Kuppen sind Einzelhöhen des Meeres-
grundes mit kleiner Grundfläche und steiler
Böschung. Der Ausdruck Rücken kehrt noch-
mals wieder, insofern er auch für kleine langge-
streckte, schmale Erhebungen von unruhiger Ober-
fläche verwertet werden soll. Steileinstürze des
Meeresbodens von geringer Ausdehnung sollen
Kessel heißen, dagegen kanalartige Einschnitte,
die senkrecht oder in irgend einem Winkel gegen
den Festlandrand sich neigen, Furchen.
Dr. F. Lampe.
Der veränderliche Stern i Aurigae, dessen
Duplizität im vorigen Jahre von H. C. Vogel auf
spektrographischem Wege erkannt wurde (vgl.
Bd. II, S. 358), ist kürzlich von Ludendorff ein-
gehend untersucht worden (Astr. Nachr. Nr. 3918
bis 20), wobei sich die höchst interessante Tat-
sache herausgestellt hat, daß der Stern, der bis-
her als unregelmäßig veränderlich galt, eine regel-
mäßige, aber außergewöhnlich lange Periode von
27,12 Jahren besitzt, was übrigens mit Vogel's auf
den spektralanalytischen Befund gestützten Ver-
mutungen übereinstimmt. Aus der großen Zahl
von Beobachtungen des Sterns, die im vergangenen
Jahrhundert durch Argelander, Heis, Oudemans,
Schönfeld, Schwab, Plaßmann, Sawyer, Luizet,
V. Prittwitz und andere angestellt wurden, konnte
Ludendorff mit ziemlicher Sicherheit ermitteln,
daß der Stern 25,13 Jahre lang in unveränderter
Helligkeit (3,35. Größe) leuchtet. Nach Ablauf
428
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 27
dieser Zeit beginnt das Licht abzunehmen, wird
nach etwa 207 Tagen mit 4,08™ wieder für 313
Tage konstant und steigt dann wiederum wäh-
rend eines Zeitraumes von 207 Tagen auf die
normale Helligkeit an. Die ganze Dauer der L.icht-
änderung beträgt demnach rund 2 Jahre. Da die
Mitte des letzten Minimums auf den 31. März 1902
fiel, so wird demnach der Stern voraussichtlich
erst wieder im Jahre 1928 eine Helligkeitsschwan-
kung erfahren.
Aus den obigen Angaben folgt, daß die Licht-
kurve von 4 Aurigae ihrer Gestalt nach genau dem
Algoltypus entspricht, nur übertrifft die Dauer der
ganzen Periode sowohl , wie auch die der Ver-
finsterung bei weitem die bisher bekannten Fälle
regelmäßig veränderlicher Sterne. Es ist bemerkens-
wert, daß in letzter Zeit der Bereich, innerhalb
dessen die Periodenlängen bekannter, veränder-
licher Sterne eingeschlossen sind , nach beiden
Seiten hin erheblich erweitert werden konnte
(vgl. Bd. II, S. 309), so daß man gegenwärtig
Perioden von 4 Stunden aufwärts bis zu 27 Jahren
kennt. F. Kbr.
E. R a e h 1 m a n n, Ultramikroskopische Unter-
suchungen über Farbstoffe und Farbstoff-
mischungen und deren physikalisch-ph)-siologische
Bedeutung. (V^ortrag, gehalten am 23. September
1903 auf der 75. Naturforscherversammlung zu
Kassel).
In Nr. 43 N. F". II (S. 515, 26. Juli 1903) dieser
Zeitschrift ist darüber berichtet worden, wie die
durch die Natur des Lichtes den Mikroskopen
gesetzte Grenze, die es ausschließt, Gegenstände
von weniger als o,ooo2 mm Durchmesser im
Mikroskop scharf zu sehen, von Sieden topf
und Zsigmondy bei der Ausnutzung des Mikro-
skops dadurch beseitigt worden ist, daß sie auf
die Betrachtung eines scharfen Bildes verzichten
und das Beugungsscheibchen studieren, das bei
so kleinen Gegenständen im Mikroskop sich zeigt.
Abstand und I'arbe bleiben ja, also läßt sich das
Mikroskop immer noch ausnutzen. Dort handelte
es sich um das Studium kleinster Goldteilchen im
Rubinglase; Raehlmann, der über seine Unter-
suchungen der Naturforscherversammlung in Kassel
berichtet hat (abgedruckt in der phys. Zeitschrift
4. Jahrgang, Nr. 30, S. 884 ff., 15. Dez. 1903), hat
als Objekt für dieselbe mikroskopische Methode
Farbstoffe und Farbstoffmischungen gewählt.
Ein erster Vorzug der neuen Mikroskopier-
methode zeigt sich darin , daß Farbteilchen , die
man bei scharfer Einstellung als ungefärbte, mehr
oder weniger dunkle Körper im Wasser schwimmen
sieht, bei der neuen Methode, wo sie nicht im
durchscheinenden Lichte, sondern im seitlich auf-
fallenden betrachtet werden, in ihrer eigenen Farbe
leuchten. Man kann also bei der Untersuchung
von Farbstoffen auf ihre Reinheit mit der neuen
Mikroskopiermethode viel weiter kommen als mit
der alten.
Bei anderen F"arbstoffen , die auch bisher für
rein und einfach galten, wirbelten drei, vier oder
noch mehr verschiedenfarbige Teilchen durch-
einander. Bei allen bisher üblichen Methoden der
Betrachtung haben sie sich wegen ihrer großen
Nähe auf demselben Netzhautzäpfchen abgebildet
und den Eindruck der Mischfarben hervorgerufen,
während man sie jetzt auf verschiedenen Zäpfchen
abbilden und dadurch Farbe und Bewegune
studieren kann. Die Größe dieser Teilchen geht
herunter bis 5 oder 10 /.ifi (d. h. 0,000005 nim
oder 0,000010 mm), das ist etwa 0,02 der Wellen-
länge des gelben Lichtes; man hat es also mit
Körpern zu tun, die Komplexe von nur wenigen
Molekülen sein können.
Eine fernere Erscheinung, die Raehlmann stu-
diert hat , ist das Auftreten einer Mischfarbe ; er
hat Grün aus Gelb und Blau gewählt. Daß das
Grün nicht dadurch zustande kommt , daß der
gelbe und blaue Farbstoff für sich schon ein
grünes Element enthalten, das bei der Mischung
allein übrig bleibt , während gelb und blau sich
zu Weiß ergänzen, folgt daraus, daß solche h'arben
wie Preufiischblau und Naphtholgelb u. a. nur
einfarbige kleinste Teilchen haben. Während dann
bei einigen Farbenmischungen das Mikroskop die
gelben und blauen Teilchen noch erkennen läßt,
das Grün also erst aus dem Reiz eines Netzhaut-
zäpfchens durch die beiden Teile herrührt, gibt es
andere Farben, deren Teilchen beim Mischen ihre
Farbe ändern , z. B. Preußischblau und Naphthol-
gelb.
Die Teilchen des Preußischblau sehen ent-
sprechend der Verdünnung der Lösung blau, blau-
violett oder rotviolett aus, die des Naphtholgelb
immer messinggelb. Mischt man nun zwei Lösungen
der Farbstoffe, so daß die Mischung deutlich grün
erscheint , so erscheinen die violetten Teile des
Preußischblau gelbrot und die messinggelbeii des
Naphtholgelb grün. Diese beiden Elemente, gelb-
rot und grün, geben dann wieder durch Reizung
desselben Netzhautzäpfchens den Eindruck der
grünen P'arbe. Das physiologische Element der
Mischfarbe, der Mischeindruck aus zwei verschie-
denen Farben bleibt also auch hier: aber die
Farbenänderung der Teilchen bleibt noch zu er-
klären.
Raehlmann stellt über die Parbenänderung die
Theorie auf, daß jedes Teilchen einer Farbe sich
mit einer Hülle von Teilchen der anderen P'arbe
umgibt, und daß die I-'arbe des Kernes, die durcli
die Hülle hindurchscheint, die Mischfarbe gibt;
ein Verhalten also ähnlich wie bei den Lasuren
in der Malerei, wo die Farbe des Grundes durch
eine Oberhaut hindurchscheint.
Die Kräfte, die die Peilchen zu dieser Grup-
pierung nötigen, mögen elektrisch sein. Bekannt-
lich bildet ja das Wasser aus vielen Stoffen, die
sich in ihm lösen, Ionen, d. h. elektrisch geladene
Atomkomplexe. Dem Wasser also die Kraft zu-
zuschreiben, Moleküle elektrisch zu laden, ist nichts
Neues, das ist die Grundlage der neuen P-Iektro-
Ph)-sik und -Chemie. Um nachzuweisen , daß in
N. F. III. Nr. 2 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
429
der Tat hier elektrische Ladungen auftreten , zer-
setzte Raehlmann die einfachen Lösungen von
Preußischblau und Naphtholgelb und ihre Mischung
durch den elektrischen Strom. Dabei zeigte sich,
daß der Strom die grüne Mischflüssigkeit am
negativen Pol gelb, am positiven grün färbt, außer-
dem Wasser zersetzt. Die gelbe Flüssigkeit zeigte
unter dem Mikroskop Naphtholgelb fast ganz ohne
Beimengung von Preußischblau , aber die gelben
Naphtholteile zum Teil zu Ketten und Haufen
geballt. Die grüne Polflüssigkeit zeigte über-
wiegend gelbrote Teilchen (des Preußischblau mit
der NaphtholhüUe).
Bei der Elektrolyse einer Lösung von Preußisch-
blau sammelten sich die Farbteilchen am positiven
Pol an , die Flüssigkeit am negativen Pol wurde
farblos. Bei der Elektrolyse einer Lösung von
Naphtholgelb trat keine .\nderung der Farbe ein.
Hieraus folgt, daß Naphtholgelb ein Leiter der
Elektrizität ist, daß die Teile des Preußischblau
negativ geladen sind, und daß in der Mischung
die Teile des Naphtholgelb positiv elektrisch
werden. Also sind alle Unterlagen tatsächlich
vorhanden für die Theorie, daß die Mischfarbe
durch LTmlagerung der Teile des einen Farbstoffs
durch die des anderen zustande kommt.
Wenn nun damit die vorliegende Untersuchung
zu einem Abschluß geführt ist, so weist sie doch
auf viele neue PVagen, die ihrer Erledigung harren.
Z. B. wenn bei der Untersuchung von organischen
Präparaten gefärbt wird , lagert da der Farbstoff
passiv im Gewebe oder wirkt er auf Teile des
Gewebes ein ? Wenn eine Mischfarbe dadurch
zustande kommt, daß verschieden gefärbte Teile
sich auf demselben Netzhautzäpfchen abbilden,
welchen Einfluß hat das auf die alte Theorie des
Farbensehens, nach der die Farbe dadurch zu-
standekommt, daß von je drei zusammengehörigen
Zäpfchen das eine oder andere stärker gereizt
wird , während gleichmäßige Reizung weiß gibt ?
Wenn man hier die Farbteilchen umherwirbeln
sieht, überblicken wir da schon lonenwanderungen,
oder was ist die Ursache der Bewegungen ? —
Man sieht, daß die neue Methode, das Mikroskop
zu benutzen, uns noch außerordentliches leisten
kann, daß sie eine Tragweite haben kann, die bei
den ersten Anfängen nicht zu übersehen war.
A. S.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
/weite Zusammenkunft der freien Vereinigung
der systematischen Botaniker und Pflanzen-
geographen zu Stuttgart vom 4. — 7. August 1904. — Es
findet ein Ausflug nach Hohenheim statt (Besichtigung der
interessanten biologischen Anlagen der dortigen landwirt-
schaftlichen Hochschule und des Instituts für Pflanzenschutz),
ferner eine Besichtigung des botanischen Gartens der Kgl.
technischen Hochschule, ein Ausflug nach dem Hohen-Neufi'en
und Urach, zwei Glanzpunkten der schwäbischen Alb, ein
Ausflug nach Tübingen (Besteigung des Österberges, mit pracht-
voller Aussicht auf die Alb , das Neckartal und Tübingen.
Hierauf Besichtigung des botanischen Gartens).
Zu den Vorträgen mit Lichtbildern , den Besichtigungen,
sowie zu den Ausflügen sind auch Damen willkommen. Herren
haben zu den Vorträgen nur als Mitglieder Zutritt.
Diejenigen Mitglieder, welche für 1904 ihren Jahresbeitrag
von 3 Mark bis zum 15. Mai an den Kassenführer, Prof. Dr.
Potonic in Groß-Lichteri'elde-West bei Berlin, eingesandt haben,
erhalten im Juni das definitive Programm der Zusammenkunft,
im Dezember 1904 den Bericht über dieselbe. Vorträge für
die Zusammenkunft wolle man möglichst bis I. Juni bei dem
Kgl. Botanischen Garten Berlin W, (Irunewaldstr. 6,7 anmelden.
An denselben mögen sich auch diejenigen Botaniker und Kreundc
der Botanik wenden, welche die .Satzungen der „Freien Ver-
einigung" zu erhalten und Mitglied derselben zu werden wün-
schen. Nach § s der Satzungen kann jeder Botaniker Milglied
werden, welcher von zwei Mitgliedern der Vereinigung vorge-
schlagen und vom Vorstand angenommen wird.
Bücherbesprechungen.
Eduard Strasburger, o. ö. Professor der Botanik
a. d. Universität Bonn, Streifzüge an der Ri-
viera. iMit 87 farbigen Abb. Zweite gänzlich
umgearbeitete Auflage. Illustriert von Louise Reusch.
Verlag von (lustav Fischer. Tena 1904. — Preis
10 Mk.
Der starke Wechsel von Winter und .Sommer
macht uns den Frühling besonders anziehend, bringt
uns eindringlich seine Herrlichkeit zum Bewußtsein.
Wer's kann, der eilt ihm gern entgegen, um ihn wo
anders schon zu einer Zeit zu genießen, in der die
rauhere Natur unseres Nordens uns noch in winter-
liche Fesseln hält. Und wie schön ist überdies die
Riviera: diese Zuflucht des friihlings-Vtedürftigen Men-
schen! Ein voller (lenuß ist aber nur möglich, wenn
auch der Verstand mitwirken kann ; deshalb vergesse
keiner das Buch mitzunehmen, dessen Titel wir oben
anzeigen. Es ist so recht dem Erholungsbedürftigen
angepaßt. Nicht um schwere Lektüre handelt es
sich, sondern um liebenswürdige, leichte Fingerzeige,
die jeder, der etwas Neues sieht und Vergleiche mit
bereits Bekanntem anzustellen liebt, gern empfängt
und aufsucht. Auch ein Führer ist das pi ächtig aus-
gestattete Buch Strasburger's, das auf manchen Winkel
und Flecken an der Riviera aufmerksam macht, an
dem der Wanderer wohl sonst achtlos vorljeigegangen
wäre. Daß die Betrachtung der Pflanzenwelt im
Vordergrunde steht, kann bei dem Beruf des Ver-
fassers nicht AVunder nehmen, aber die Pflanzenwelt
zieht auch an der Riviera unwiderstehlich die Blicke
und die . . . Neugierde auf sich und man wird dem
Verfasser für die Aufschlüsse und die Belehrung, die
er in der angenehmsten Form gibt, dankbar sein.
Die bunten Abbildungen, die die 2. Auflage
schmticken, sind ganz trefflich: eine Verschönerung
des Buches und, da es sich vorwiegend um Pflanzen-
bilder handelt, eine Erleichterung für das Verständnis
derselben. — Das Format des Buches ist so gewählt,
daß es unterwegs bequem mitgenommen werden kann.
P.
Felix Rosen, Die Natur in derKunst. Studien
eines Naturfreundes zur (leschichte der Malerei.
Mit 120 Abbildungen nach Zeichnungen von Erwin
Süß und Photographien des Verfassers.' >. Leipzig
(B. G. Teubner) 1903. — Preis geb. 12 M.
Verfasser versucht die Verhältnisse der Künstler
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 27
zur Natur für einige Hauptepochen der Malerei auf-
zudecken und zwar geschieht dies mit derjenigen
naturwissenschaftlichen Vorbildung, die hierzu uner-
läßlich ist, ohne die ernstlich eine sachgemäße Be-
handlung des Gegenstandes Blendwerk bleiben würde.
Wir sind überzeugt , daß der unvoreingenommene,
wahre Künstler das anerkennen wird. Das Buch
Rosen's ist eins, das auch der Naturforscher mit Be-
friedigung lesen wird, da die naturwissenschaftliche,
d. h. kritische Methodik überall durchgreift: es
sind keine oberflächlichen Meinungen, die einem
entgegentreten , sondern durch eingehende Unter-
suchung und logische Verarbeitung des Tatsäch-
lichen erreichte Resultate , die nun auf demselben
Wege eventuell zu bekämpfen oder zu bestätigen sind.
Auf die in den Kunstwerken dargestellte Natur weist
uns Rosen hin : auf die allmähliche Entwicklung des
Verständnisses für die Naturbeobachtung. Jeder, der
mit Kunstsinn begabt ist, wird sich gern führen lassen
und mit Zuhilfenahme der vielen gebotenen, guten
.Abbildungen mit Interesse verfolgen, wieviel Zeit und
Versuche dazu gehört haben, um die Naturgegen-
stände, Pflanzen, das Wasser usw. so darzustellen, wie
wir es heute von den Malern gewöhnt sind, wie es
der Natur am nächsten kommt : in der „naturalistischen"
Darstellung. Der Künstler und der Naturforscher (ins-
besondere der Botaniker) werden aus dem Buch An-
regung empfangen. P.
i) Dr. Richard Hertwig, o. ö. Prof. d. Zool. u. vergl.
Anatomie a. d. Univ. München, Lehrbuch der
Zoologie. Mit 579 Abb. 6. umgearb. Aufl.
(Sustav Fischer in Jena 1903. — Preis ii,5oMk.
2) E. Ray Lankester, A treatise of zoology.
Part I. Introduction and Protozoa. Se-
cond fascicle. London (Adam u. Charles Black)
1903. — 12 S. 6 p.
3) C.Claus' Lehrbuch der Zoologie, neubearb.
von Dr. Karl Grobben, o. ö. Prof. d. Zool. a.
d. Univ. Wien. L Hälfte (Bogen i — 30). Mit
507 Fig. Marburg in Hessen (N. G. Elwert) 1904.
— Preis 8,50 Mk.
4) Dr. C. Matzdorff, Oberlehrer, Tierkunde f. d.
Unterricht an höheren Lehranstalten.
Ausgabe für Realanstalten. 5. Teil: Lehrstofi' der
Ober-Tertia. Mit 49 Abb. u. i farbigen Karte.
6. Teil: Lehrstoff der Unter-Sekunda. Mit 85 Abb.
u. I farbigen Karte. Breslau (Ferdinand Hirt)
1903. — Preis geb. 1,50 und 1,30 Mk.
5) Samuel Schilling's Grundriß der Natur-
geschichte. I. Das Tierreich. Zwanzigste
Bearbeitung von Professor Dr. H. Rei che n bach,
Oberlehrer. Mit 550 teilweise farbigen .A.bbildungen
im Text, sowie einer Karte und drei Tafeln in
F'aibendruck. Breslau (Ferd. Hut) 1903. — (icb.
4,20 Mk.
6) Pokorny's Naturgeschichte des Tier-
reiches für höhere Lehranstalten. Neu
bearbeitet von Dr. Robert Latzel. Mit 73 far-
bigen Tierbildern auf 24 Tafeln von W. Kuhnert
und H. Morin und 283 Abbildungen im Text und
I Erdkarte. Sechsundzwanzigste, nach biologischen
Gesichtspunkten umgearbeitete Auflage. G. Freytag
(Leipzig) 1903. — Preis geb. 4 Mk.
Die Werke 1 — 3 sind Lehrbücher zum Studium
der Zoologie, 4 — 6 Schulbücher.
i) Das Buch von Hertwig hat sich seit 1891,
dem Erscheinen der i. Aufl., schnell Freunde erworben
und das nicht nur wegen seiner sehr zweckdienlichen
textlichen Gestaltung, sondern auch wegen seines sehr
billigen Preises und der dabei trefflichen Ausstattung. Es
ist so recht ein Buch für jeden, der zoologische Kennt-
nisse gebraucht aber nicht in gar zu spezielle Einzel-
heiten eingeführt zu werden wünscht. Das Wesent-
liche tritt durch das Buch bequem hervor und doch
bietet es wieder nicht zu wenig , so daß es durchaus
auch für denjenigen als Einführung genügt, der die
Zoologie zu seinem F'achstudium erwählt hat. Es
haben auch in der vorliegenden Auflage Verbesserungen
und zeitgemäße Veränderungen stattgefunden.
2) Eine andere Absicht verfolgt das Lankester'sche
Werk. Es will ein umfangreiches, weit ins Spezielle
hinausgehende Kompendium der Zoologie werden
und wird namentlich da gute Dienste leisten, wo das
Bedürfnis nach einem Ersatz einer umfangreichen
zoologischen Bibliothek vorhanden ist. Der vor-
liegende Teil wurde bearbeitet von J. B. Farmer,
J. j. Lister, E. A. Minchin und S. J. Hickson. lüne
ganze Reihe von Mitarbeitern ist also an dem auf
eine Reihe Bände geplanten Lhiternehmen tätig.
3) Obwohl ebenfalls nur erst zum Teil vorliegend,
wollen wir doch die Gelegenheit benutzen, die
1. Hälfte des neubearbeiteten bekannten Claus'schen
Lehrbuches anzuzeigen. Es tritt uns in dem jetzigen
Gewände textlich stellenweise sehr verändert entgegen.
Das Buch ist viel umfangreicher als das Hertwig'sche
und dementsprechend teurer. Wir haben vielleicht
Gelegenheit, wenn es fertiggestellt sein wird, noch
einmal näher auf das Werk zurückzukommen.
4) Die Matzdorff'schen Schulbücher sind gewissen-
haft ausgearbeitet. Der V. Teil beschäftigt sich mit
einer vergleichenden Beschreibung von Wirbellosen
ohne gegliederte Anliänge und bietet eine Übersicht
über ihre Verwandtschaft. F'erner ist die Verbreitung
der gesamten Tierwelt behandelt. Das Buch ist dis-
poniert in die Abschnitte i. Tierbeschreibungen,
2. Erläuterungen und Zusammenfassungen und 3. Tier-
verbreitung. Der VI. Teil behandelt den Bau, die
Lebenseinrichtungen und die Gesundheitspflege des
menschlichen Körpers sowie die Verbreitung des
Menschen.
5) Die neue Auflage von Schilling's Tierreich ist
im wesentlichen unverändert geblieben ; Reichenbach
war aber bestrebt, den sprachlichen Ausdruck mehr
und mehr zu verbessern, insbesondere die aus frühe-
ren Auflagen herrührende, abgekürzte Darstellungs-
weise möglichst zu beseitigen. Auch die übrigen
wenig bedeutenden Veränderungen entsprechen zum
grüi.5ten Teil ausgesprochenen Wünschen und den
\'orschlägen von F'achgelehrten , so die Änderungen
in der systematischen .(Xuordnung bei den Pflanzen-
tieren, den LTrtieren u. a. Von den älteren Abbil-
dungen wurde eine Anzahl durch neue ersetzt. Das
Buch bemüht sich ebenfalls die Neuzeit zu Wort
N. F. III. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
431
kommen zu lassen, so fanden die immer mehr ücdeu-
tung gewinnenden protozoischen Krankheitserreger
(der Tsetseparasit nebst der zugehörigen Fliege und
der Entwicklungskreis des Malariaparasiten nach
Schaudinn) Aufnahme.
6) Wie bei den Matzdorff'schen Büchern, so tritt
die Biologie (im engeren Sinne) — besser Ökologie —
auch in dem vom Gymnasialdirektor Latzel neu
herausgegebenen Pokorny'schen Buch in den Vorder-
grund. Der innige Zusammenhang zwischen der Ge-
stalt des Tieres und seiner Lebensweise, seiner
Färbung und seinem Wohnort etc. wird also bei jeder
Gelegenheit hervorgehoben ; Fragen und Hinweise
sind eingestreut, um den Schüler zu selbständigem
Denken anzuregen.
Dr. Karl Scheid, Professor an der Oberrealschule zu
Freiburg i. H. , approb. Chemiker, Chemisches
E.xperimen tierbuch für Knaben. Mit 78
Abbildungen im Text. Verlag von B. G. Teubner
in Leipzig. — Preis geb. 2,80 M.
Spielend soll der Knabe eine Anzahl wichtiger
Vorgänge aus dem täglichen Leben untersuchen und
in fröhlicher Beschäftigung die Grundgesetze der
chemischen Wissenschaft erfahren.
Die .Anordnung und Auswahl der Versuche ist
so getroffen, daß nichts als bekannt vorausgesetzt wird.
Vom Leichten zum Schwierigen aufsteigend, werden
die in Versuchen gewonnenen Kenntnisse immer wieder
von neuem verwertet und vertieft. Dem Sinn und
Wunsch der Jugend ist tunlichst durch Auswahl auf-
fallender Versuche Rechnung getragen. Beschränkung
mußte diesem Streben dadurch auferlegt werden, daß
Versuche von zugleich einfacher, belehrender und
eleganter Art nicht immer die billigsten und harm-
losesten sind. Als Ersatz dafür sind vielfach .An-
deutungen gegeben, wie sich einzelne Experimente für
harmlose Scherze ausgestalten lassen ; solche Kunst-
stückchen finden aber stets sachgemäße Erklärung.
Bei der Auswahl der Chemikalien wurde stets auch
auf den Preis Rücksicht genommen. Da außerdem
teure Gerätschaften sich in der überwiegenden Mehr-
zahl der Fälle durch billige Hausgeräte ersetzen lassen,
dürfte auch dem Wenigerbemittelten die Gelegenheit
zu experimentieren gegeben sein.
Das Büchelchen ist als Geschenk für Knaben sehr
geeignet.
Dr. Julius Schmidt, Privatdozent an der k. tech-
nischen Hochschule zu Stuttgart. Die Alkaloid-
chemie in den Jahren 1900 bis 1904. Stutt-
gart, Verlag von Ferdinand Enke. 1904.
Das vorliegende Buch ist als eine Ergänzung und
Fortsetzung des im Februar 1900 vom Verfasser er-
schienenen Werkes „Über die Erforschung der Kon-
stitution und die Versuche zur Synthese wichtiger
Pflanzenalkaloide" aufzufassen, stellt aber gleichwohl
ein in sich geschlossenes Ganzes dar. — Es ist be-
zeichnend für die Bienenarbeit chemischer F'orschung,
daß es nicht nur als lohnende Aufgabe gilt, sondern
sich geradezu als notwendig herausgestellt hat, die
Fortschritte der Chemie in ihren einzelnen Spezial-
zweigen während eines relativ kurzen Zeitraums der
Entwicklung festzuhalten und von Zeit zu Zeit eine
übersichtliche Zusammenfassung zu geben. Lhid dies
geschieht denn auch mit umsomehr Berechtigung, als
uns heute durch die zahlreichen Publikationen in den
verschiedensten, mehr oder weniger leicht zugänglichen
Zeitschriften jeder Überblick über ein Spezialgebiet
verloren geht. So ist denn auch das vorliegemle
Heft Schmidts mit Freuden zu begrüßen, indem es
der Verfasser verstanden hat, alle auf die Chemie der
Alkaloide bezüglichen neuen Entdeckungen während der
letzten vier Jahre (es muß in dem Titel richtiger heißen
,,in den Jahren igoo bis 1903") mit Fleiß zusammen-
zutragen, mit Geschick nur das Wesentliche aus der
vorhandenen Literatur auszuwählen und gut zu ordnen.
Er deutet zunächst an, daß zwar relativ viele der
wichtigen Pflanzenalkaloide bezüglich ihrer Struktur
noch nicht mit genügender Sicherheit erkannt worden
sind, wenn man auch bei einigen, wie den Opium-
alkaloiden Morphin , Kodein und Thebain und den
Chinaalkaloiden der vollständigen Erkenntnis ihres mole-
kularen Baues ziemlich nahe gekommen ist. Bei eini-
gen anderen dagegen, wie Nikotin, Atropin und Kokain,
Konydrin, Narkotin usw. war es in der neuesten Zeit
möglich, die letzten Fragen nach ihrer Konstitution
zu beantworten. An der Hand der einschlägigen
Literatur bespricht der Verfasser sodann die Fort-
schritte in der Erforschung der einzelnen Alkaloide,
die er mit Rücksicht auf ihre basischen Bestandteile
folgendermaßen klassifiziert ;
1. Alkaloide der Pyridingruppe : Conydrin und
Pseudoconydrin, Nikotin, neue Alkaloide des
Tabaks.
II. Alkaloide der Pyrrolidingruppe : Hyoscin und
Atroscin , Atropin und Cocain. Synthesen
der Tropingruppe.
III. Alkaloide der Chinolingruppe: Chinin und
Cinchon, Lupinin, Strychnin und Brucin.
IV. Alkaloide der Isochinolingruppe : Papaverin,
Laudanosin und Laudanin, Narkotin.
V. Alkoloide der Morpholin (?) -Phenanthren-
gruppe: Morphin und Codein, Isomorphin
und Isocodein, Apomorphin und Apocodein,
Thebain.
VI. Alkaloide der Puringruppe. Synthese des
Theobrorains und Kofteins.
Das Buch dürfte auch in weiteren Kreisen einer
guten Aufnahme sicher sein , da nicht allein der
Chemiker, sondern auch die Vertreter anderer Berufe,
wie der Arzt, der Pharmakolog, der Pharmazeut und
der Pflanzenphysiologe dem Kapitel der Alkaloid-
chemie ihr Interesse entgegenbringen. R. Lb.
Briefkasten.
Herrn E. K. in Kcibersdorf. — I-'rage: Kann man un-
sere deutschen Tritonarten (bes. Tr. vulgaris und alpestris)
zur Neotenie veranlassen und wie? — Antwort: Seit den Be-
obachtungen von V, Seh rei be rs (Isis, Jahrg. 1833, p. 527fif.)
weil3 man, daß .\mphibienlarven über die normale Entwicklungs-
dauer hinaus im Larvenzustande verharren können, und um-
gekehrt weiß man seit den Beobachtungen von Dumeril am
432
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 27
Axülotl (Ann. Scienc. nat. 5- s«. Zool. v. 7, 1867, p. 229 IT- 1,
daß Amphibien, die gewöhnlich die Kiemen dauernd behalten,
diese gelegentlich verlieren können, um sich in die sog. Am-
blvstomaforra zu verwandeln. Die Larven der ersteren Gruppe
erreichen oft eine sehr bedeutende Größe. Besonders häufig
scheinen derartige große, überwinterte oder gar mehrjährige
Larven bei der Knoblauchskröte vorzukommen (vgl. l'tluger
in; PflUgci's Archiv f. d. ges. Physiol. v. 31 p. I34tf l^S>3j-
doch kennt man sie jetzt auch von den meisten andern Frosch-
lurchen Bei den Schwanzlurchen wird die kiementragcnde
Larvenform gelegentlich sogar geschlechtsreif. Unter den
heimischen Arten hat man das letztere zuerst {i 861) und am
häufigsten bei Molge (Triton) alpestris beobachtet (vgl. de
Filippi in: Zeitschr. f. wiss. Zoologie v. 28 p. 73 ff- "nd
Camerano in: Atti Acad. Sc. Torino v. 19, 1883, p. 84 f^-)
und man darf nach den bis jetzt vorliegenden Beobach-
tungen (vc»l. Wolterstorff in: Zool. Garten v. 37, 1896,
n 327 ff.) schließen, daß er bei allen Molge - Arten ge-
legentlich vorkommt. - Das „Festhalten der jugendlichen
FOTra" ist von Kell mann (Zool. Anz v. 7, p. 26b, lb«4)
Neotenie genannt und zwar wird eine totale Neotenie , die
sich bis zur Geschlechtsreife ausdehnt und eine partielle Neo-
tenie die auch bei Froschlurchcn vorkommt und mehrere
fahre dauern kann, ohne zur Geschlechtsreife zu führen,
unterschieden. - Aus Ihrer Frage ist nicht zu ersehen, ob Sie
die totale oder die partielle Neotenie meinen. — Die totale
Neotenie ist bei Molge-Arten bisher experimentell nicht erreicht
worden. Dennoch liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln,
daß sie erreichbar ist. Man darf wohl annehmen, daß dieselben
Faktoren, welche die Entwicklung verzögern, welche also die
partielle Neotenie bewirken, auch zur totalen Neoteme fuhren
können. — Was nun die verzögernden und befordernden Fak-
toren anbetrifft, so kam Weis mann zu dem Schluß, „daß
die meisten AxolotUarven sich in die Amblystomaform um-
wandeln, wenn sie im Alter von 6-9 Monaten in so seichtes
Wasser gebracht werden, daß sie vorwiegend mit den Lungen
atmen müssen" (Zeitschr. f. wiss. Zool. v. 25, Suppl. 1S75,
p 302). Bar für th kam an der Hand umfassender txperi-
mente, teils in Bestätigung früherer Untersuchungen, zu folgen-
dem Resultat: 1) Niedrige Temperatur verlangsamt die Ver-
wandlung 21 Mechanische Erschütterungen, wie sie z. B. da-
durch hervorgerufen werden, daß zahlreiche Tiere sich in deni-
selben Gefäße befinden, verzögern die Verwandlung. 3) Di«
letzten Stadien der Verwandlung werden durch Hunger abge-
kürzt (Arch. f. mikr. Anat., v. 29, 1887, p. I ff. u. Biol. Zen-
tralbl, v. 6, p. 612 ff.). In früheren Entwicklungsstadien wirkt
Mangel an Nahrung umgekehrt gerade verzögernd auf die
Entwickung ein (vgl. Wolterstorff 1. c. p. 328). — Von einem
Amerikaner J. H. Powers wurde in jüngster Zeit unab-
hängig (er kannte nämlich die betreffende Literatur nicht)
bei Amblystoma tigrinum der Barfurth'sche Punkt 3) be-
stäti<Tt (The American Naturalist, v. 37, 1903. P- 3ö5n-l-
Powers meint, daß das Aufhören der Nahrungsaufnahme
auch dann der die Verwandlung bewirkende Faktor sei, wenn
der Tümpel, den das Tier bewohnt, austrocknet. — Für die
experimentelle Herbeiführung einer totalen Neotenie ist es
wichtig, die Beschaffenheit der Gewässer, in denen man zahl-
reiche neotenische Formen gefunden hat, zu kennen und da
zeigt sich nach Zeller, der in einem Gewässer bei Winnenden
vom Mai bis August eines Jahres i Molge cnstata, 12 M. al-
pestris und 15 M. vulgaris im totalneolcnischen Zustande fand,
daß die betreffenden Gewässer vor allem tief und steilwandig
sind. Nahrung war in dem Gewässer bei Winnenden reichlich
vorhanden. Molge alpestris wurde besonders an hochgelegenen
Orten die auf eine niedrige Temperatur der Gewässer schließen
lassen, neotenisch gefunden (Jahreshefte d. Ver. f. Vaterland
Naturk. in Württemberg, 55. Jahrg., 1899, p. 23 «•)• — ""
diesen kurzen Litcraturangabcn ist die Basis angedeutet, auf
welcher jetzt weiter zu bauen ist.
Frage: Wie gewinnt man möglichst einfach und human das
Drüsensekret der Salamander, Kröten und Molche , und wie be-
wahrt man es auf ? — A n t w o r t : Über die Gewinnung des Drüsen-
sekrets von Sieboldia maxima sagt Phisalix (Bull. Mus. Hist.
nat. V. 3, 1897, p. 242): La procede qui m'a le mieux reussi
est la compression de la peau du dos avec une spatule en
platine adaptee ä cct usage. — Nach Loeb scheidet sich bei
Durchleitung eines konstanten elektr sehen Stromes an der
Anodenseite reichliches Sekret ab (Pflüger's Arch. f. d. ges.
Physiol. V. 65, 1896, p. 308 ff.). — Robert machte bei
Kröten eine subkutane Einspritzung von 5 — 10 cgr Chlorbarium,
und nach 15 Minuten waren die ausgetretenen Mengen so
reichlich, daß die Tiere auf dem Kopfe, dem Rücken und der
Rückenseite der Extremitäten wie mit Milchrahm bestrichen
aussahen (Sitzungsbcr. Natuif.-Ges. Univ. Dorpat, v. 9 (1891),
1892, p. 64). — Am leichtesten und humansten gewinnt man das
Sekret vielleicht zur Fortpflanzungszeit und zwar des Abends;
denn Leydig sagt; ,,Die betäubende Wirkung des Saftes
scheint besonders während der Fortpflanzungszeit erhöht zu
sein. Ich besuchte gegen Ende April (bei Würzburg 1873)
wiederholt in der Abenddämmerung einen Tümpel, in dem
sich Bufo variabilis und B. calamita zahlreich des Laich-
geschäftes wegen eingefunden hatten. Die äußerst lebendigen
und behend herumschwimmenden Tiere ließen, herausgefischt,
ihren Saft reichlich abfließen, von dessen flüchtigen Stoften
sich nicht nur die Schleimhaut des Auges, der Nase und des
Rachens getroffen fühlte, sondern es meldete sich auch Be-
täuhtheit und Eingenommenheit des Kopfes , so daß ich die
Jagd immer früher aufgab, als im Plane lag. — Vielleicht
ist es nur gerade die Abendzeit, in welcher bei gesteigerter
Lebenstätigkeit überhaupt auch die Schärfe der Hautabsonde-
rung zunimmt. Denn ich habe im Monat September, also
außer der Laichzeit, an dem auf Wegen bei Meran in der
Abenddämmerung tlink sich herumtreibenden Bufo variabilis
ganz ähnliche Erfahrungen machen müssen; während an sol-
chen, welche bei hellem Tage gefangen wurden, der Haut-
saft nicht entfernt jenen Grad von Schärfe kundgab (Arch. f.
mikr. Anatomie v. 12, 1876, p. 218 f.). — L'ber die Aufbe-
wahrung des Sekretes sagt Phisalix (1. cO : La Solution peut
etre conservee plusieurs jours si on l'additionne de quelques
gouttes de chloroforme. Elle ne tarde pas ä s'attcnuer.
L'addition de glycerine en pcrmet une conservation plus lon-
gue; mais ä cause de ses proprietes toxiques convulsivantes
sur la Grenouille , la Solution glycerinee ne peut etre em-
ployee. Dahl.
Herrn H. Bl. in Genf. — Wegen Beschaffung von flüssiger
Luft wenden Sie sich zweckmäßig z. B. an die „Gesellschaft
für Markt- und Kühlhallen", Berlin SW 11, Trebbinerstr. 5.
Herrn S. in R. — i. Die Preisaufgaben der verschiedenen
Akademien werden zunächst in den Publikationen der betr.
Körperschaften bekannt gemacht, z. B. die Pariser in den
„Comptes rendus", die Berliner in den „Sitzungsberichten" etc.
Aus diesen Publikationen gehen die Themata dann in der
Regel in verschiedene referierende Zeitschriften über; auch
wir werden gelegentlich gestellte Preisaufgaben verbreiten
helfen. 2. Friedländer u. Sohn, Berlin NW, Carlstraße 11.
3. Physikalische Zeitschrift (monatlich 2 Hefte, Preis viertel-
jährlich 5 Mk., Verlag von S. Hirzel in Leipzig). Physikalisch-
chemisches Zentralblatt (Verlag von Gebr. Borntraeger, Berlin,
jährlich 24 Hefte für 30 Mk.) Zeitschrift für den phys. und
ehem. Unterricht (Verl. v. J. Springer, Berlin, jährlich 6 Hefte
für 12 Mk.).
iNaiurK. 111 vv ui LLi-iiiu^-i g , 3^. j...."foM --7^1 1 ^ ' ^ .^ ^——^
■ nhalt: Prof Dr. R. Zander: über Zwergvölker - K^eine^^.tteilungen: N.^Iurata; ^^er die SdiiiUimpfirng^gegcn
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Centaurea jacea L. — P. Dangeard. Über aie aexua Snnan- Namen^cbung für die Formen des
über die beiden Eisrücken auf der Westseite des Gaußbe^g - Jupan^ Nameng ^^^^^^^_
Meeresbodens. - Ludendorf ( De,- vc-nderlich^ S^ern . Aun^^^^^^^^ _ ß^^^^^^^^^^^h^^gen:
suchungenüberFarbstotteundFarbstoffmischungen - Aus deinw ._^ ^^^^ ^.^_^^^^ _ H er t w ig, La n-
Eduard Strasburger: Streifzuge an der R-- - s,, lei d Chemisches Experimentierbuch für Knaben. - Dr.
]:t-:: s.^;.^::^^^^:^ ^^)^::^ '900 bis 1904. - BHerkaste^^^
Einschliefslich der Zeitschrift „üiC jNa.tUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoniö und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 10. April 1904.
Nr. 28.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.•\uftragen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über,
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraflc 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Allmacht des Lichts.
[Nachdruck verboten.] Von Prof.
Im Westen der uralten Ruinen Thebens, am
Fuße der kahlen Hügelketten, welche die Sand-
massen der Wüste vom fruchtbaren Niltale trennen,
erhebt sich ein hoher, mächtiger Steinkoloß. Weit-
hin sichtbar ragt er empor wie ein mahnender
Grenzstein des schweigenden Ament, des düsteren
Totenreiches, welches der alten Ägypter frommer
Glaube dorthin nach Sonnenuntergang verlegte.
Doch der erste zarte, zitternde Lichtstrahl der
rosigen Morgenröte, welcher das dunkle Granit-
gebilde küßt, löst den Rann des Todes, und neues
Leben, neues Fühlen durchströmt den starren Stein :
Und in dem Gefelse wohnt heute noch
Ein seltsam Tönen und Klingen,
Als wollt es von seeliger Jugendzeit
Ein Lied der Sehnsucht uns singen.
Und dieses Lied der Sehnsucht, wie würde es
lauten, was würde es verkünden ? Es würde singen
von einer fernen Zeit, wo das Licht der Kultur
und des Wissens das dunkle Land am Nil
erhellte, singen von einer mächtigen Stadt mit
stolzen, weit berühmten Tempeln, deren hochragende
Pfeiler nicht für Ägypten allein, auch für die ganze
damalige Welt in lichtem Glänze erstrahlten.
Dr. Pfuhl.
( >n nannten die Ägypter jene Stadt, die Griechen
sagten Heliopolis, die Araber hießen sie Quell
des Lichts und wir müssen übersetzen mit Sonnen-
stadt. Hier wurde im heiligen Tempel des Osiris
im feierlichen Halbdunkel der mächtigen Säulen-
grotten wenigen Auserwählten wundersame Weis-
lieit gelehrt, die ihren Anfang hatte und ihr Ende
in der ewigen Sonne, die alles Irdische bescheint :
was ist, das existiert durch sie, was lebt, lebt
durch ihr Licht. Und was damals jene klugen
und weisen Priester lehrten, das lehren uns heute
nach 5 Jahrtausenden die großen Meister der mo-
dernen Naturwissenschaft. Auch sie verherrlichen
die Allmacht des Lichts, auch ihre Lehre lautet:
die Sonne ist der Urquell alles Seins auf Erden.
Daß die Sonne Leben verleiht, das
zeigt ja jede Pflanze, welche ein trauriges Ge-
schick an einen Ort verschlagen, den das Licht
der Sonne nicht erreicht, z. B. der Keim einer
Kartoffel im dunklen Keller, oder eine dort ver-
gessene Tulpen- oder Hyazinthenzwiebel , welche
Blätter getrieben hat. Schon die bleiche,
gelbliche Farbe des Laubes zeigt Kränklich-
keit an , und der sichere Tod tritt selbst bei
434
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. III. Nr. 28
guter Erde und hinreichender Feuchtigkeit bald
ein, wenn das belebende Licht keinen Zutritt er-
hält. Geschieht dies jedoch, so läßt das Mikro-
skop schon nach wenigen Minuten die Entstehung
des grünen Farbstoffes in Blatt und Stengel er-
kennen. Und erst mit Hilfe dieser ganz, ganz kleinen
Körnchen (Blattgrün genannt) ist die Pflanze im-
stande, die ihr nötige Nahrung aus der Luft auf-
zunehmen. Und bedeckt man auch die üppigste
Pflanze vom prächtigsten Grün mit einer undurch-
sichtigen Hülle, — bald stellt sich Bleichsucht ein,
sie siecht dahin, und wenn die Verdunklung an-
hält, stirbt sie den Lichthungertod. Das macht sich
übrigens der Mensch zu nutze. Beim Städtchen Elche
in Spanien zieht man auf diese Weise elfenbein-
weiße Palmwedel , welche in manchen Ländern
sehr geschätzt werden. Hier existiert ein Wald
von Dattelpalmen, der fast 100 000 Bäume zählt.
Moawiah, ein arabischer Feldherr, der sich manchen
Lorbeer errungen, pflanzte vor 1200 Jahren die
erste Dattel dort in Spanien zur Erinnerung an
seine palmenumkränzte Heimatstadt Damaskus.
Es bietet das allerdings keinen sehr schönen An-
blick, wenn so der zehnte Teil sämtlicher Kronen
zu einer gewissen Zeit im Jahre mit dichten
Matten umhüllt ist. Hierdurch werden aber jähr-
lich Tausende von Wedeln gewonnen, die zu
Ostern nach Frankreich, besonders aber nach
Italien exportiert werden : denn im Vatikan be-
dient man sich Palmsonntags echter Palmen.
Aber nicht nur die grünen Teile der Pflanzen
sind vom Lichte abhängig : auch manche Samen
entwickeln die Keime nur, wenn sie durch das
Licht dazu geweckt werden. Das ist bei vielen
Gräsern der Fall, z. B. auch bei denen, welche
zur Anlage von Rasenplätzen benutzt werden,
ferner bei der Mistel, welche auf Bäumen, z. B.
Pappeln, Kiefern wächst, und auch die Sporen
von Moosen und Farnen keimen nur im Lichte.
Aber auch künstliches Licht — nur muß dasselbe
intensiv genug sein — bewirkt die Entwicklung
der Pflanze. Schon im Jahre 1843 wurden Pflanzen
im elektrischen Licht gezogen. Zu jener Zeit
bereits stellte Siemens eine Reihe von Ver-
suchen an, die er später wiederholt und erwei-
tert hat. Es zeigte sich, daß durch direkte
Bestrahlung die Blätter welken, daß sie ge-
tötet werden, daß das Licht aber, wenn es nur
durch eine gewöhnliche Glasscheibe gegangen
— welche gewisse, dem elektrischen Licht eigen-
tümliche (ultraviolette) Strahlenarten zurückhält —
vorteilhaft wirkt. Zwei Gewächshäuser wurden
vom Abend bis zum Morgen elektrisch erleuchtet,
und das Wachstum wurde bedeutend beschleunigt.
Erbsen z. B. hatten schon in 2 Monaten reife
Früchte entwickelt, und der Weinstock brauchte
vom Ausschlagen bis zur Vollreife nur wenige
Tage mehr als 2 Monate. Dabei war die Farbe
der Blumen, mit denen experimentiert wurde,
eine viel gesättigtere, das Aroma der Früchte soll
ein feineres gewesen sein , nur der Zuckergehalt
war geringer.
Jules V^erne, der phantastische Schriftsteller, er-
zählt in einem seiner naturwissenschaftlichen Ro-
mane von riesigen Champignons, welche im Innern
der Erde dichte Wälder bilden, ein sicherer Aufent-
haltsort für gewaltig große Elefanten und mäch-
tige Nashörner. Wie überall in seinen Romanen
ist Wahrheit mit Dichtung innig vermengt, wo-
durch ja diese Schriften auf Laien so verwirrend
wirken können, da sie nicht immer die Grenze
zwischen abenteuerlicher Phantasie und realer Wirk-
lichkeit zu ziehen wissen. Falsch ist, daß Cham-
pignons solch kolossale Dimensionen annehmen,
richtig: daß sie unter der Erde, fern vom Licht
der Sonne existieren können. Keine bessere An-
wendung konnte man von den verlassenen Kalk-
brüchen bei Paris und den unbenutzten Stollen
mancher Kohlenbergwerke Oberschlesiens machen,
als daß man Champignonplantagen darin anlegte,
welche Winter und Sommer große Mengen dieser
geschätzten Pilze liefern.
Aber wie fügt sich diese Tatsache der Lehre:
Ohne Licht kein Leben? Wollen Sie nur sich er-
innern an die Ihnen bekannten Pilze, denken Sie
an den hellgelben Champignon, den dottergelben
Pfefferling, den roten Fliegenpilz, die dunkelbraune
Trüffel, den weißen Überzug des Schimmelpilzes
auf Brot, Kartoffeln, Früchten. Und wir kommen der
Lösung des Rätsels schon näher: den Pilzen fehlt der
grüne Farbstoff, welcher bei allen anderen Pflanzen
das Auge so wohltuend berührt, fehlt das Chloro-
phyll, wie der Botaniker sagt, welches — durch das
Licht angeregt — die Nahrung aus der Luft aufnimmt.
Und der Widerspruch mit jenem Naturgesetz ist
völlig beseitigt, wenn Sie die Lebensweise der
Pilze beachten. Sie wissen, daß die Bakterien, die
einfachsten der Pilze, in anderen Organismen leben :
die Cholerabakterien im Menschen, die Milzbrand-
bakterien im Rinde, ein anderer Pilz bringt an der
Kartoffelpflanze, ein anderer an den Getreidearten
sehr gefürchtete Krankheiten hervor; und von
der Trüffel wissen Sie, daß sie an dem Wurzel-
geflecht der Eichen wuchert. Parasitisch nennt
man Pilze von dieser Lebensweise. Und bei
anderen Pilzen wieder haben Sie bemerkt , daß
dieselben in besonders schwarzer Humuserde vor-
kommen, welche reich ist an vermodernden Pflanzen-
und Tierstoffen. Saprophytisch nennt man solche.
Es sind die Pilze also unselbständige Or-
ganismen, welche die Existenz anderer voraus-
setzen, von den Stoffen sich ernähren, welche
jene durch eigene Tätigkeit am Licht gebildet.
Ebenso wie die Tiere sind sie schließlich von der
übrigen, der chlorophyllhaltigen Pflanzenwelt ab-
hängig. Geradezu Lichtfeinde sind manche dieser
Wesen; und darauf beruht eine ganz moderne Heil-
methode, die der Sonnen- oder Lichtbäder. Das
überaus starke Licht, welches mittels gewisser Vor-
richtungen auf bestimmte Hautstellen geworfen
wird, tötet die pilzartigen Orgainsmen, welche dar-
unter wuchern.
.So also erklärt es sich, daß trotz des Gesetzes
von der Allmacht des Lichts eine Flora der
N. F. III. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
435
Dunkelheit existieren kann und wirklich existiert.
Ich würde heute gar nicht fertig werden, wenn
ich Ihnen alle Pflanzen und alle Tiere aufzählen
wollte, welche der lichten Herrschaft des leuch-
tenden Helios entzogen, unter Pluto's finsteres
Szepter gebannt sind. Denn den lichtscheuen
Pflanzen folgen die Tiere in das Reich der
Finsternis. Auch sie tragen dann , so wie die
Pilze, gewisse Abzeichen der düsteren Heimat an
sich. Fast alle sind sie von trüber und dunkler
Färbung, die Augen in der Regel bis zur Blindheit
verkümmert , oder doch fast unbrauchbar. So
rächt sich die Vernachlässigung eines Organs, so
endet der Mangel an Übung in Verkümmerung.
Sicherer vor Feinden, weniger gefährdet im Kampfe
aller gegen alle sind in dunkler Abgeschiedenheit
diese Tiere, aber die Welt des Lichts und der
P'arbenpracht setzen sie dagegen ein. Allein in einer
einzigen Höhle, der Mammuthöhle Kentuckys,
die allerdings eine ganz bedeutende Ausdehnung
besitzt — man hat sie bis auf eine Länge von 30 km
durchforscht, 200 Verzweigungen hat man da ge-
funden, 5 domartige Erweiterungen, 8 Wasserfälle —
allein hier fand man eine reiche Fauna blinder Fische
und Krebse, blinder Spiimen und Insekten, blinder
Würmer, Muscheln und Schnecken; als Ausnahme
allerdings einige mit ganz nutzlosen, überflüssigen
Augen ; von einer Käferart war nur das Männchen
sehend , das Weibchen blind. Für die unterirdi-
schen Flüsse des Karstgebirges ist der augenlose,
blaßgefärbte Olm das charakteristische Tier, in
den tiefen Brunnen Münchens lebt eine völlig
blinde Schneckenart und in den Höhlen der ost-
asiatischen Inseln fand man sogar blinde Heu-
schrecken.
Aber wenn auch diese Kinder der Nacht
sich der Herrschaft des Lichts zu entziehen
suchen, um so sehnsüchtiger streben die Wesen
des Tages dem belebenden Lichtstrahl zu.
Der schlanke Stengel der Zimmerpflanze wendet
sich dem Fenster, der Lichtquelle zu, und immer
wieder geschieht das, wie oft auch die Stellung
des Blumentopfes geändert wird. Heliotropismus
hat die Botanik diese Eigenschaft der Pflanzen
genannt. Und alle Pflanzen streben dem Lichte
zu, der verholzende Stamm der mächtigen Tanne
und der knorrigen Eiche ebenso, wie der schlanke
Stengel der Lilie oder der Hyazinthe. Und ist er
selbst zu schwach dazu, seine Sehnsucht nach dem
Lichte zu stillen, so windet, rankt, klimmt oder
klettert er an anderen in die Höhe. So klettern
viele Rosenarten mit ihren Stacheln, der Hopfen
klimmt mit seiner starren Behaarung, der Efeu mit
kleinen Wurzeln, welche an der Rinde des Baumes
oder den Ziegeln derMauer festhaften, Kletterwurzeln
heißen sie. In den düstern Lirwäldern Mittel-
amerikas ringt sich die Vanillenpflanze mit Luft-
wurzeln, welche fast ^2 ^n lang werden, an den
Baumriesen in die Höhe, um ihren Laubblättern
das nötige Licht zu verschaff'en. Das Philodendron,
das dort ebenfalls seine Heimat hat, die bekannte
Zimmerpflanze mit den eigentümlich durchlöcherten
Blättern, klettert mit Luftwurzeln, welche viele
Meter lang werden können, dem belebenden Lichte
zu. Der edle und der wilde Wein gebraucht
Ranken zu diesem Zweck, deren Enden durch
einen sehr zähen Klebstoff' sich an der Mauer oder
dem Spalier festkitten, mit solcher Kraft, daß eine
Ranke, die schon 10 Jahre lang dem Wind und
dem Wetter getrotzt, noch 5 kg zu tragen ver-
mochte, ohne abzureißen. Die Passionsblume, der
Kürbis und sehr viele andere schwache Pflanzen
senden Ranken aus, welche sich stetig im Kreise
drehen, so daß sie eine Stütze finden, manchmal
mit einer Schnelligkeit, daß die Spitze in i Stunde
mehr als ';., m dabei zurücklegt. Die leiseste Be-
rührung veranlaßt die Ranke sich zu krümmen,
also den berührten Gegenstand festzuhalten. Darwin
hat z. B. mit den Ranken der Passionsblume ex-
perimentiert; er fand, daß das sehr geringe Ge-
wicht eines feinen Drahtes, das darauf gehängt
wurde, schon nach 30 Sekunden die Ranke zur
Biegung veranlaßte, und während zweier Tage
reizte er 20 mal dieselbe Ranke, ohne daß sie
auch nur ein einziges Mal den Reiz unbeantwortet
gelassen hätte. Merkwürdig ist hierbei, daß der
Druck, den die Ranken aufeinander ausüben, nicht
vom geringsten Einfluß ist, und daß auch fallende
Wassertropfen völlig wirkungslos sind, wodurch
die Pflanzen jedenfalls vor vielen Irrtümern und
unnötiger Arbeit bewahrt werden.
Die Bewegungen der Pflanze werden ja meist
so durch das Licht beeinflußt, daß die Pflanzen-
teile sich der Lichtquelle zustrecken , manchmal
aber auch in der Weise, daß sie sich vom Licht
abwenden : negativ nennt der Botaniker diese
Art des Heliotropismus. Der Wein sendet seine
Ranken der dunklen Seite des Spaliers zu, als
ob er wüßte, daß er nur hier die gesuchte Stütze
finden könnte, aber auch auf einem Weinberge
recken sich die meisten Ranken nach Norden hin.
Auch die Unterseite seines Blattes ist negativ licht-
empfindlich. Wird es mit Gewalt umgedreht, so
wendet es sich in höchstens zwei Tagen in seine
normale Lage zurück, um mit der chlorophyll-
reichen Oberfläche das belebende Licht aufzu-
fangen.
Schlafstellung nennt man es, wenn die
Blätter in der Dunkelheit der Nacht eine andere
Stellung annehmen als am Tage, was Plinius schon
vor 1800 Jahren beobachtet hat, und für den Klee
:. B. und die Mimose erwähnt. Auch die feinen
'oren in der Blattfläche, die Spaltöfihungen,
welche in außerordentlicher Anzahl die Oberhaut
durchsetzen, um der Luft und dem Wasserdampf
die Zirkulation zu verstatten, haben Schlafstellung,
d. h. sie schliel3en sich in der Nacht mehr oder
minder vollständig. Hierdurch wird das Ver-
dunsten des Wassers fast ganz aufgehoben. Zu
welch bedeutender Leistung dieses im Tages-
lichte anwachsen kann, ergibt sich z. B. daraus, daß
ein kleines Stückchen Buchenwald von nur i ha Aus-
dehnung, dessen aneinandergelegte Blattflächen
etwa 8 ha einnehmen würden , während eines
436
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. V. III. Nr. 28
Sommers 3 Millionen kg Wasser aushaucht, eine
Wassermasse, welche den Boden des Waldes 30 cm
hoch bedecken würde. Bei anderen Pflanzen ist
das Aufsaugen des Wassers und die Transpiration
noch bedeutender. So kultiviert man in Rußland
Sonnenblumen und pflanzt in Italien Eukalyptus-
bäume an, um Moräste auszutrocknen.
Die Schlafstellung der Blätter hat für dieselben
ganz besondere Vorteile. Denn es haben die Blätter
nicht nur u m die Sonnenstrahlen, sondern auch
gegen dieselben zu kämpfen. Während bei ge-
wöhnlichem Tageslicht das Blattgrün für den Or-
ganismus der Pflanze nützlich und vorteilhaft wirkt,
die Baustoffe und die Nahrung bereitet, so wirkt
das grelle, ungeschwächte Sonnenlicht schädlich,
dies baut nicht auf, es reißt nieder, es zerstört.
Von den einheimischen Bäumen ist es die
Robinie, sie wird hierzulande fälschlicherweise
immer Akazie genannt, bei der die Schlafstellung
ihrer Blättchen am auffallendsten ist. Die wohl-
tätigen, nicht zu starken Strahlen der Morgen-
sonne treffen die während der Nacht abwärts
gerichteten Blättchen des zusammengesetzten Laub-
blattes senkrecht; allmählich heben sich die
Blättchen, so daß die hohe Mittagssonne sie nur
sehr schräg, also mit schwacher Wirkung trifft;
mit dem sinkenden Tage senken auch sie sich
wieder, so daß sie noch zum vollen Genuß der
nun wieder senkrecht auffallenden Strahlen der
milden Abendsonne gelangen. Hindert man die
Blättchen jene Schutzbewegung auszuführen, so ist
es zu ihrem Verderben, sie welken.
Auch niedere, ganz einfach gebaute Pflanzen
zeigen solche schützenden Bewegungen. Bei einer
Algenart, welche als grüne Fäden im Wasser lebt,
bildet das Chlorophyll im Innern des röhren-
förmigen Körpers ein spiraliges Band. Sowie ein
Strahl Sonnenlicht die Pflanze trifft, zieht sich das
Chlorophyllband knäuelförmig zusammen, um bei
verminderter Bestrahlung sogleich sich wieder aus-
zudehnen.
Besonders in der Jugend ist das Chlorophyll
der Pflanzen, wie Experimente ergeben , gegen
ungeschwächtes Sonnenlicht sehr empfindlich. Da-
her ist es für die jungen Blätter ein großer Vorteil,
daß sie eingerollt sind, wie bei vielen Gräsern,
oder daß sie aufrecht stehen, beim Krokus, der
Tulpe z. B., oder daß sie mit einer starken schützen-
den Haar- oder Wollschicht bedeckt sind, oder
daß sie ihr Blattgrün mit einem rotbraunen Farb-
stoff umhüllen — denken Sie nur an das junge
Laub der Pappeln und des Ahorns.
In sehr merkwürdiger Weise suchen die Blätter
mancher besonders empfindlichen Pflanzen der über-
mäßigen Bestrahlung auszuweichen, sie stellen sich
senkrecht, d. h. so, daß ihre Flächen nicht nach oben
und unten, sondern nach links und rechts gerichtet
sind. Wir könnten sie einer Wetterfahne ver-
gleichen, in Stellung und Bewegung: wie diese
den Weg des Windstromes anzeigt, geben jene
die Richtung des stärksten Lichtstromes an. Da
dieser nun von Süden nach Norden zieht, so sind
auch die Blätter in nordsüdlicher Richtung gestellt.
Kompaßpflanzen nennt man sie sehr bezeichnend.
In den endlosen Prärien Nordamerikas ist eine
der Sonnenblume ähnliche, doch kleinere Pflanze,
Silphium heißt sie, Jägern und Nomaden bei be-
decktem Himmel ein sicherer Wegweiser. Aber
auch die einheimische Flora weist eine Pflanze
auf, es ist das eine Verwandte des bekannten
Gartensalats: Lactuca scariola, welche ihre Blätter
ebenfalls senkrecht stellt und sie von Norden nach
Süden orientiert. Stets gibt sie genau die Himmels-
gegenden an, wenn sie an einem vollkommen
freien Standorte wächst; doch die Nähe eines
Baumes, eines nahen Strauches schon, kann durch
den Schatten die Exaktheit der Erscheinung stören.
Für das Chlorophyll und seine wichtige Leistung
im Lichte — hängt von ihm doch die Existenz
der gesamten Pflanzen- und Tierwelt ab — ist nun
Ihre Aufmerksamkeit so vielfach in Anspruch ge-
nommen, daß es wohl erlaubt wäre, Ihr Interesse
einer Frage zuzuwenden, welche für Botaniker wie
Zoologen von gleicher Bedeutung ist. Nämlich :
kommt Chlorophyll auch in Tieren vor? Die
höheren Tiere sind hierbei natürlich nicht gemeint ;
es handelt sich um kleine, schleimige Wasser-
bewohner. Hätten Sie vor einigen Jahrzehnten
einen Naturforscher hiernach gefragt, so würden
Sie die Antwort erhalten haben: das ist eine all-
bekannte Sache, Blattgrün findet sich in niederen
Tieren; und er hätte Ihnen eine ganze Reihe
Chlorophylltiere aufgezählt. In neuerer Zeit jedoch
entdeckte man, daß die kleinen grünen Körnchen
in vielen Süß- und Salzwassertieren kleine Pflänz-
chen sind, richtige, wirkliche Pflänzchen : Algen
sind es; und lustig und vergnügt leben Algen und
Tiere in einem Organismus zusammen, ohne daß
sie sich hierbei gegenseitig im geringsten inkommo-
dieren. Die Algen werden nicht verdaut, das Tier
stirbt nicht an einer Infektionskrankheit. Im Gegen-
teil! Diese Kombination aus Pflanzen- und Tier-
reich gedeiht viel besser, als wenn beide Organismen-
arten getrennt lebten. Denn die Kohlensäure,
welche das Tier absondert, machen sich die Algen
mit ihrem Chloroph\']l sogleich zunutze, während
der von ihnen ausgeatmete Sauerstoff direkt dem
Tiere wieder zugute kommt. Symbiose nennt
die Naturwissenschaft dieses Zusammenleben.
Wenn aber, wie wir gesehen, Stengel und
Blätter der Pflanze durch das Licht zu Bewegungen
angeregt werden, so ist dies noch viel auffallender
bei den Blüten; eine Erscheinung, welche schon seit
alter Zeit bekannt ist. Clytia, so erzählt nämlich
Ovid, Clytia war eine niedliche Nymphe ; die hegte
heiße und innige Liebe zum Sonnengotte. Doch
der stolze Helios wandte sich ab von ihr. Da
brach der Armen das Herz ; aber gütige Götter
verwandelten sie in eine zierliche Blume. Die
nannten die Menschen später Heliotropium. Aber
noch nach der Verwandlung blieb ihr die Liebe,
und täglich schaut sie mit ihren Blüten dem
Geliebten nach auf seiner hohen Bahn. So er-
klärt uns Ovid die Lichtsehnsucht der Blumen.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Plinius, der kühlere Naturforscher, macht auf die
belebende Kraft des Lichts aufmerksam und gibt
die Bewegung der Blüten für eine Anzahl von
Pflanzen an. Schon ^Theophrast, der würdigste
Schüler des großen Aristoteles, erzählt \'on der
Lotosblume: Auf den Wellen des Euphrat prangen
des Lotos herrlich gefärbte Blüten. Beim ersten
Strahle der Morgensonne taucht der Kelch aus
der Wasserfläche empor und erhebt sich, wenn
die Sonne hoch steht, über die Wellen ; dann neigt
sich die Blume wieder, und, gegen Westen ge-
wendet, sinkt sie mit scheidender Sonne zurück
in die Flut. Es ist also, nach Theophrast dem
Naturforscher, nicht richtig, wenn der Dichter sagt:
die Lotosblume fürchtet sich vor der Sonne Pracht
und mit gesenktem Haupte erwartet sie träumend
die Nacht. Aber schön klingt das doch. Und
das ganze Altertum kannte den Lotos als Licht-
blume und als Symbol des Lebens. Lakschmi,
die Lebensgöttin der Inder, taucht aus dem Milch-
meere auf, eine Lotosblume in der Hand. Homer
läßt die ewigen Götter in den lichten Höhen, auf
Krokus und Lotosblumen gelagert, ihren seeligen
Freuden sich hingeben, und die Ägypter zierten
die Tempel ihrer unsterblichen Götter mit Lotos-
bildern und Lotosskulpturen; ist doch auch eines
der alten Schriftzeichen, der Hieroglyphen, mit
denen die damaligen Ägypter ihr Land bezeich-
neten, ein Lotoszweig mit 5 Blumen.
Und wie viele solcher Lichtblumen ließen sich
noch nennen: die blaue Cichorie des Herbstes, die
Wegwarte, der gelbe Löwenzahn des Frühlings,
vor allen die Sonnenblume selbst : die sich be-
ständig in suchender Sehnsucht zur Sonne hin-
wendet und selbst ihr Bild ist. Mirabilis, die Wunder-
same, heißt eine tropische Pflanze, weil ihre Blumen-
blätter am Abend sich so kraus verzerren, daß die
Blüte verwelkt aussieht; der erste Morgenstrahl
gibt ihr die Jugendfrische zurück. Eine andere
Pflanze zieht am Abend Blätter und Blüten so
dicht an den Stamm, daß sie einem Stück trockenen
Holzes ähnlich sieht. Regenblume heißt eine
andere, weil jede Wolke, welche die Sonne ver-
dunkelt, sie sofort zum Schließen veranlaßt. Manche
aber schlafen so leise, daß selbst schwaches Licht
fähig ist, ihren Schlaf zu stören, wie den Krokus
Lampenlicht schon erweckt. Andere Blumen deuten
auch durch Farbenänderung ihren Schlummer an.
So färbt eine Art Nachtkerze dann ihre sonst
weiße Blume tiefrot; vielleicht träumt sie jetzt
von dem schimmernden Falter, der sie im .Sonnen-
schein so oft besuchte, um süßen Nektar zu schlürfen.
Doch es gibt auch lichtscheue Blüten. Diese
entfalten sich dann in der Nacht und strömen
ihr starkes Aroma nur während der Dunkelheit
aus. Selten sind sie bunt, meist weiß, grünlich oder
trüb von Farbe, und — gleich und gleich gesellt
sich gern — ihre Freunde sind die auch meist
trüb gefärbten Nachtfalter, welche den Blütenstaub
von Blüte zu Blüte übertragen. Andere dieser
Sonnenfeinde kriechen sogar unter die Erde.
Bei der Erdmandel erreichen die Blumen ihr Ziel,
indem die Blütenstiele durch spiraliges Aufrollen
sich mehr und mehr verkürzen, und nur diejenigen
reifen Samen, denen das Eindringen in die Erde
gelungen. Manche Pflanzen haben zweierlei Blüten :
große, farbige, oberirdische, welche vielfach un-
fruchtbar bleiben, und kleine fruchtbare, welche
unter der Erde blühen und Samen entwickeln.
Aber nicht nur einzelne Teile der Pflanzen
werden durch das Licht zu Bewegungen angeregt.
So gibt es ein winziges stäbchenartiges Pilzchen,
ein Bakterium , von dem mehrere Tausend der
Länge nach zusammengelegt erst i cm ergeben.
Wird das Gläschen, auf dem man es in einem
Wassertropfen unter dem Mikroskop untersucht,
verdunkelt, so macht es wie verdutzt sofort in
seiner gleitenden Bewegung halt, es verfällt in
Dunkelstarre. Ein schwacher Lichtstrahl, den man
auffallen läßt, belebt es wieder, je mehr Licht, um
so schneller gleitet es weiter. Und der geringste,
dem Auge kaum merkbare Lichtwechsel ändert
die Schnelligkeit seiner Bewegung sofort, daher
der Name: „Bacterium photometricum, das Licht-
messende". Und wie dieses, so werden auch
andere kleine Pflanzen, sogar niedere Tiere, In-
fusionstiere besonders, durch die Bestrahlung zur
Fortbewegung veranlaßt, und nach der Seite des
Aquariums hingezogen, welche der Lichtquelle am
nächsten.
So spendet überall in der Natur Licht : Leben ;
doch auch das Umgekehrte gilt: es bewirkt Leben
Licht. Plinius erzählt in seiner Naturgeschichte,
welche aus 37 Büchern besteht, daß manche
Muscheln mit solchem Lichte glänzen, daß im
Finstern Feuertropfen aus dem Munde derjenigen
herauszuträufeln scheinen, welche sie essen. Er
erzählt, daß ein einziges Exemplar der Bohr-
muschel *4 Pfund Milch, in welche es gebracht
wird, so hell aufleuchten läßt, daß die Gesichter
der Umstehenden im dunkeln Zimmer deutlich
sichtbar werden. Schon Aristoteles, der geniale
Grieche, hatte solche Erscheinungen mehrfach be-
obachtet; er gibt ganz richtig an, daß Fisch-
schuppen, Augen und Köpfe von Fischen, faulen-
des Holz und Hörn stark leuchten. Linne be-
hauptete, daß auch Eulenfett leuchtet; und über
das Leuchten von Fleischarten, welche in der
Küche V^erwendung finden, liegen Abhandlungen
seit 300 Jahren vor. Besonders häufig wurde das
Licht an Fischfleisch bemerkt, welches manchmal
fast 8 Tage in unverändertem Glänze strahlte. Die
Ursache beruht, wie das Mikroskop offenbart, auf
der Vegetation von Bakterien, die sich ja trotz
ihrer Kleinheit überall bemerkbar machen. Das
Leuchten läßt sich auch auf andere Fleischstücke
überimpfen, die Erscheinung ist also ansteckend
— der Gesundheit übrigens gar nicht schädlich.
Cucujo heißt ein Käfer Mittelamerikas, der auf
seinem Rücken 2 Flecke besitzt, die bei der
Dunkelheit ein so starkes Licht ausstrahlen, daß
man Geschriebenes dabei bequem lesen kann.
Die Indianer sollen sich, wie Reisende erzählen,
was aber jedenfalls in das Reich der Fabel zu
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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verweisen ist, die Käfer an die Füße binden, um
in der Nacht den Fußpfad durch das Walddickicht
erkennen zu können ; aber amerikanische Damen
nähen die Käfer in feinmaschigen Tüll und
schmücken sich damit zu nächtlichen Gartenfesten.
Sogar von leuchtenden Ufern und lichtstrahlenden
Quellen erzählen römische Dichter (Ausonius und
Martial), und wenn es auch heißt: Märchen noch
so wunderbar, Dichterkünste machens wahr — es
ist dies kein Phantasiegebilde, keine dichterische
Überschwenglichkeit. In der Grafschaft Aosta in
Oberitalien existierte eine solche Quelle, deren
Ufer bei jeder Berührung durch einen Fußtritt,
einen Spatenstich in der Nacht mit überraschen-
der Helligkeit aufleuchteten, was natürlich auf das
Vorhandensein kleiner lichterzeugender Organismen
beruhte.
Wenn auch schon aus früherer Zeit einige un-
klare Andeutungen vorliegen über die glänzendste
Lichterscheinung lebender Organismen, welche die
Erde bietet, so war es doch zuerst der berühmte
Abenteurer Amerigo Vespucci, dem ja Amerika
seinen Namen verdanken soll, der das Meerleuchten
genauer beobachtet und beschrieben hat. Ver-
geblich bemühte man sich diese Erscheinung zu
erklären, sogar kosmische Ursachen, d. h. die Ge-
stirne, zog man zu Hilfe. Erst vor wenig mehr als
100 Jahren erkannte man, daß das Licht dem Leben
im Ozean entstammt, denn eine große Anzahl
Meertiere besitzt Leuchtvermögen. Die Sajpen
z. B., fast durchsichtige, schleimige Tiere, deren
merkwürdige Entwicklung zuerst Chamisso er-
kannt hat, dann sind es Medusen, Polypen, In-
fusorien, welche einzeln wenig leuchtend, aber zu
vielen Milliarden zusammenlebend das Meer grün,
blau, rötlich funkeln lassen, besonders da, wo es
an Felsen und Klippen sich bricht, wo es an die
Wände des Schiffes schäumt — und einen langen
feurigen Streifen hinterläßt der Kiel, der die
leuchtenden Wogen furcht. Wenn das klassische
Altertum die volle tropische Pracht dieses Phä-
nomens gekannt, wie ganz anders hätte dann
Hesiod in seiner Götterschöpfung die Aphrodite
dem Meeresschaum entsteigen lassen.
Aber, was ist alles Licht der erwähnten Leucht-
tiere gegen den Glanz der Feuerwalze, Pyrosoma,
deren i^/., m langer Körper Funken zu speien
scheint, wenn er berührt wird. Auf dem schon
leuchtenden Körper hebt sich in strahlendem
Lichte ein Namenszug ab, den der Finger sanft
überstreichend beschreibt. Schon in alter Zeit
muß man solche feuersprühenden Tiere gekannt
haben; sagt doch der Dichter des Buches Hiob
vom Liviathan: Seine Nüstern strahlen Licht und
seine Augen gleichen des Frührots Wimpern, aus
seinem Rachen gehen Fackeln, Feuerfunken sprühen
hervor.
Die Märchen erzählen uns von dem wunder-
baren Reiche der Undinen, welches sich tief unten
auf dem Meeresgrunde ausdehnt, bevölkert mit
Wesen von ganz besonderer Natur. Solch ein
wunderbares Reich erschloß sich dem Forscher,
als er seine Untersuchungen bis zu des Meeres
Quellen ausdehnte und das Innere der Tiefen
durchspähte. Vor wenigen Jahrzehnten noch hielt
man die Abgründe des Ozeans für tot, jedes Lebens
entblößt. Da wurde 1872 die Challengerexpedition
für Tiefseeforschung ausgerüstet, und 4 Jahre lang
durchkreuzte sie die Ozeane. Eine neue Welt
wurde entdeckt. Aber die Arbeit war auch eine
außerordentlich schwierige. Ein einziger Zug mit
dem Schleppnetz nahm bei 6 km Tiefe einen
ganzen Tag, vom frühesten Morgen bis späten
Abend, in Anspruch, und dann hatte man doch
vielleicht nichts anderes als Schlamm gefischt; und
die winzigen zarten Tiere wurden, noch unsicherer,
durch beschwerte Büschel von Hanffäden an das
Licht befördert. So fand man aber, daß das Leben
nach der Tiefe wohl abnimmt, daß es aber, selbst
in Meerestiefen von mehr als 8 km, nirgends fehlt.
Viele dieser Tiere sind blind und ersetzen den
mangelnden Sinn durch mächtig lange Fühlfäden.
Bei einigen sind die Augen, man sieht wie merk-
würdig die Natur manchmal scherzt, in lange
Stacheln umgewandelt. Manche haben im Gegen-
satz dazu kolossal entwickelte Augen : den dritten
Teil der Körperfläche nehmen sie bei einigen
Fischen ein.
Diese Organe sind in diesen Abgründen, wo
vollkommene Finsternis herrschen sollte, aber
nicht unbrauchbar, denn Licht liefern die ver-
schiedensten Wesen der Tiefsee. Manche haben
merkwürdige Anhängsel am Kopfe, oben auf dem
Scheitel, welche hell phosphoreszieren, oder lange
leuchtende Bänder gehen von ihren Mundseiten
aus und ziehen hinter ihnen her wie der Schweif
eines Kometen. Manche leuchten in hellen Seiten-
streifen, bei anderen, z. B. einigen Tiefseehaien,
ist die Haut mit zahlreichen glänzenden Flecken
bedeckt. Bei anderen wieder leuchtet die ganze
Oberfläche gelb, grün, blau, weiß, violett. Brisinga
nannte ein skandinavischer Forscher einen See-
stern, der in unbeschreiblicli schönem orangefarbe-
nem Lichte flammte, er nannte ihn so nach dem
in der Sage gepriesenen Edelsteingeschmeide der
Schönheitsgöttin Freia.
Und diese ganze Tierwelt der Tiefsee ernährt
sich nur von den Brosamen, welche aus der be-
gnadeten Welt des Lichts herabfallen in diese ewig
dunkle Einöde, wie Manna in der Wüste. Allerdings
nimmt es eine ziemliche Zeit in Anspruch, ehe
die Speise den weiten Weg von der Oberwelt
zurücklegt. So dauert es mehr als 4 Tage, ehe
der tote Körper einer Salpe von der Größe eines
kleinen Fingers 4 km herabsinkt, aber er sinkt
doch herab. Bei Australien fand man in der Tiefe
von 8 km einen lebenden Seeigel, dessen Magen
reichlich mit Seegras angefüllt war, und aus einer
anderen tiefen Meeresgegend holte man mehrere
Palmenfrüchte heraus, welche von Krebsen stark
angenagt waren. Das belebende Licht der Sonne
war in ihnen verkörpert, und in ihnen senkte es
sich herab in die düstern Abgründe des Ozeans,
auch hier Leben wirkend, auch in diesen trost-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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losen Tiefen Haß und Liebe erweckend. Die
Sonne leuchtet auf dem Ozean — und er lebt,
sagt Oken, der berühmte Naturforscher.
Und schwerer Undankbarkeit würden wir uns
schuldig machen, wenn wir uns nicht dieser un-
endlichen Quelle alles Lichtes, der erhabenen, leben-
wirkenden Sonne zuwendeten.
„Wir verlangen des Lichtes, ersehnen die Sonne
mit dem Andrang des Adlers, doch ach, unser
Auge
blendet der Lichtblick, des wir begehren,
und weh, durch die Wolken dringen wir nie"
so klagt verzweifelnd Odhin , der höchste der
Götter. Aber Teleskop, Spektroskop und wie die
Apparate alle heißen mögen, geben uns Auskunft
über diesen lichtspendenden Himmelskörper, denn
Licht ist die Sprache der Sterne. Wenn uns
die Astronomen sagen , die Sonne ist über 20
Millionen Meilen entfernt, wie können wir uns
davon eine Vorstellung machen? Aber ein tüch-
tiger Fußgänger , der sich nicht unnötig auf-
hält, würde sie von der Erde aus in 6800 Jalnren
erreichen, ein schneller Eisenbahnzug schon in
300 Jahren, das Geschoß eines Geschützes sogar
in 9 Jahren, aber erst 5 Jahre später würde der
Knall des Schusses auf der Sonne erdröhnen. Hätte
ein Kind, ein allerdings etwas paradoxes Beispiel,
einen so langen Arm, daß es die Sonne berühren
könnte, so würde es im höchsten Greisenalter
sterben, ohne zu ahnen, daß es sich in frühester
Jugend die Hand an jenem entfernten Fixstern
verbrannt; die Nerven hätten noch nicht Zeit ge-
habt, den Schmerz nach dem Gehirn zu leiten.
Der Sonnenkörper selbst ist eine glühende
Kugel, welche aus Stoffen besteht, die auch den
Erdkörper bilden : Eisen, Nickel, Kalzium z. B. Die
Oberfläche dieser Glutmasse nennt man Photosphäre.
Auf ihr heben sich viele noch heller leuchtende
Stellen ab — Sonnenfackeln nennt man sie, welche
übrigens schon in alten chinesischen Rüchern er-
wähnt werden. Sie bedecken manchmal Strecken,
viel größer als ein irdischer Kontinent und be-
sitzen eine Geschwindigkeit, welche sie 200 Meilen
in I Sekunde fortführt. Sind dies helllodernde
Stellen der Sonnenfläche, so gibt es auch dunklere,
die allbekannten, oft genannten Sonnenflecke, welche
man seit etwa 300 Jahren beobachtet. Solch ein
Fleck, manchmal in einer Breite von 18 Erddurch-
messern, bleibt mitunter 2 auch 3lVIonatesichtbar, und
rotiert mit der Photosphäre um die Sonnenachse.
Manchmal sind sie in bedeutender Zahl und Größe
vorhanden, dann verschwinden sie wieder. Diese
Periodizität wiederholt sich in einer Zeit von etwa
1 1 Jahren. Man macht die Sonnenflecke ver-
antwortlich für vieles, was auf unserem heimat-
lichen Planeten passiert. Das Nordlicht, der Ozon-
gehalt der Luft, Überschwemmungen, Dürre und
Mißwachs sollen damit zusammenhängen, ferner
das Auftreten von Epidemien, und ein Professor
wollte sogar beweisen, daß ein Zusammenhang
besteht zwischen Sonnenflecken und Börsenkrachen.
Diesen Sonnenkörper nun umhüllen 2 Atmo-
sphären. Die untere ist die Chromosphäre, aus der
fortwährend gewaltige Flammenströme von glühen-
dem Wasserstoff, die Protuberanzen, in die obere,
die Corona hineinschießen, und mit einer Ge-
schwindigkeit, welche die des schnellsten Ge-
schosses weit übertrifft, zuweilen eine Höhe von
70000 Meilen erreichen. Die Corona, die äußerste
Hülle, macht sich bei totaler Sonnenfinsternis als
perlgrauer Hof bemerkbar, den übrigens schon die
Astronomen des Altertums gekannt haben, über
dessen Natur unsere Physiker aber noch ebenso
im unklaren sind, wie die P'orscher, welche einst
auf den Sternwarten von Heliopolis und Babylon
die Gestirne beobachteten.
Aber das wissen wir, daß die Lichtmasse dieses
Zentralkörpers noch bedeutender ist, als die vieler
Milliarden der vorzüglichsten Gasflammen, und daß
die Helligkeit seiner Oberfläche die Glut einer
der höchsten künstlichen Hitze ausgesetzten Eisen-
masse um das 5000 fache übertrifft. Um die Kräfte
aber, welche die Sonne ausstrahlt, durch künst-
liche Verbrennung hervorzubringen, müßte stünd-
lich von der besten Steinkohle eine Masse ver-
brennen, welche die ganze Oberfläche der Sonne
5 m hoch bedeckt. Bestände aber der ganze Sonnen-
körper aus jener vorzüglichsten Kohle, so würde er
doch — wenn er dasselbe an Wirkung leisten sollte
— in 6000 Jahren schon völlig ausgebrannt sein,
und die Sonne wäre tot und kalt. Und doch läßt
sich nach den genauesten Untersuchungen auch nicht
im geringsten eine Abnahme an Licht oder Wärme
wahrnehmen. Wir stehen da wieder einmal vor
einem der vielen Rätsel, die die Naturwissenschaft
noch überall findet, die sich zunächst nicht besser
beantworten lassen, als durch den Refrain eines
Liedes, welches einst auf der Naturforscherversamm-
lung zu Freiburg gedichtet wurde. Er lautet :
„Wir finden nicht die Gleichung lösend x
Und sagen nescimus — wir wissen nix."
Aber diese Unermeßlichkeit der Sonne, diese
ewig sich verjüngende Kraft, diese Unendlichkeit
des Lichts und der Wärme, sie haben von je ge-
waltig den Geist des Menschen bewegt, seinen
Blick mächtig jenem Lebensquell zugewendet :
jene hochwaltende Himmelsmacht zu preisen und
zu verehren als die höchste der Gottheiten. Die
Hieroglyphe für Osiris, den Himmelsgott, den Ver-
treter des neu erwachenden Lebens im frucht-
baren Niltale, besteht aus einem Auge, dem Himmels-
auge, der Sonne, und aus einem hochragenden
Thron. Die Perser verehrten den lichten Gott des
Guten, den Ahuramazda, unter der Gestalt eines
Auges, aus dem ein Bogen mit gefiederten Pfeilen
hervorragt: die Sonne ist es und ihre Strahlen.
Im Namen des Bei, des höchsten Gottes der Baby-
lonier, steckt die Sprachwurzel il ^^^ leuchten, und
eine Wurzel desselben Sinnes in Assur, und des-
selben Stammes wie Bei, der leuchtende, ist Apollo
und Baidur, der Frühlingsgott der deutschen Götter-
sage. Was ist Siegfried anders als der lichte.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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die Erde zu neuem Leben erweckende Sonnen-
gott, dem das Dunkel des Winters, als Hagen
personifiziert, entgegentritt. „Dann sieh zur Sonne,
wird sie zur Sichel, so besieg auch den Sohn
des Königs Siegmund," so zischt die Schlange aus
dem Dunkel der Höhle dem finstern Hagen zu;
und warnend singt die Drossel: „O Siegfried, Sieg-
fried, bald siegt ja die Sonne, nur ein Weilchen
warte, ein kleines Weilchen; der Helfer entschleiert
sein strahlendes Haupt und die Hölle wird macht-
los." Und in der Dornröschensage wieder ist der
zauberlösende Kuß des Ritters der wiederkehren-
den Sonne Lebensblick, welcher die Erde aus
Wintersfesseln zu neuer, schaffender Tätigkeit er-
weckt.
Auch von Sitten und Gebräuchen erinnert
noch so manches an einen uralten Sonnen- und
Lichtkultus. Das Julfest zur Winter-Sonnenwende
mit dem hoch lodernden Holzstoß, dessen Flamme
im Lichterglanze des Weihnachtsbaumes eine so
liebliche Erinnerung gefunden; dann die Johannis-
feier zur Sommer-Sonnenwende, ja auch die runde
Form der Brote, wie sie zu gewissen Zeiten in
vielen deutschen Gauen gebacken wurden. Auch
in der keltischen Sage vom Gral liegt verborgen
ein Kultus des Lichts, welches Leben spendet:
Die Königin Repense de Schoie, so heißt es im
Parcifal,
,,Trug des Paradieses Fülle
So den Kern wie die Hülle,
Das war ein Ding, das hieß der Gral:
Irdschen Segens vollster Strahl."
Lebenbringend wirkt der lichte Edelstein auf
den unglücklichen König Anfortas:
„Dem Tod auch könnt er nicht entgehn.
Doch ließen sie den Gral ihn sehn —
Da fristet ihn des Grales Kraft."
Doch was sind der Beweise mehr nötig dafür,
daß das Bewußtsein von des Lichtes Allgewalt
tief in der Seele der Völker wurzelt. Finden wir
doch am Anfang des Buches, welches wie kein
anderes ein Gemeingut ist der ganzen Kulturwelt,
gleichsam als eine Pforte, durch welche alles, was
ist, hat eingehen müssen in die Welt des Seienden,
die lebenverkündenden Worte :
Und Gott sprach: es werde Licht und es
ward Licht.
Kleinere Mitteilungen.
Menschen- und Rindertuberkulose. — Die
wichtigen Beziehungen der Rindertuberkulose zur
Tuberkulose des Menschen haben in letzter Zeit
auf Kongressen und in Fachschriften eine so breite
Erörterung gefunden , daß auch weitere natur-
wissenschaftliche Kreise eine knappe übersichtliche
Zusammenstellung dieser heut im wesentlichen
klargestellten Verhältnisse vielleicht interessieren
mag.
Seit etwa 80 Jahren ist die große Bedeutung
der Perlsucht der Haustiere, insbesondere des
Rindes, für menschliche Hygiene erkannt, aber erst
in den letzten Jahrzehnten die lang vermutete
Identität der Entstehung und des Wesens dieser
Krankheit bei Mensch und Rind bewiesen. An
die ersten von Villemin (1865) vorgenommenen
Überimpfungsversuche von Mensch zu Tier reiht
sich bis auf den heutigen Tag eine ununterbrochene
Kette sorgfältig beobachteter Experimente, deren
Ergebnis stets eine zum mindesten außer-
ordentlich große Artähnlichkeit beider Krankheits-
prozesse feststellte. Der evidente Nachweis der
Identität ließ sich erst durch Robert Koch's Ent-
deckung des Tuberkelbazillus erbringen. Koch
hat beim tuberkulösen Rind in den Wandungen
von krankhaften Lungenaushöhlungen (Kavernen),
im Zwerchfell , Bauchfell und den Darmdrüsen
immer dieses spezifische Agens finden können.
Nach heutigem streng bakteriologischen Stand-
punkt müssen beide Tuberkulosen wegen der
Identität der sie bedingenden Parasiten für iden-
tisch gehalten werden, obgleich das anatomische
Verhalten wie auch der klinische Verlauf beider
nicht unbeträchtlich voneinander differiert.
Die Frage der experimentellen Übertragbarkeit
der menschlichen Tuberkulose auf Rinder ist nun-
mehr endgültig im bejahenden Sinne gelöst. Erst
jüngst hat Dr. Karlinski, ein bosnischer Forscher,
in der „Zeitschrift für Tiermedizin" (VIII. Band,
Jena bei Fischer, 1904) seine diesbezüglichen Ver-
suche veröffentlicht.
Das Verfahren ist folgendes : Es wird nur nach-
weislich gesundes Rindermaterial verwendet, wel-
ches auf vorhergegangene Probeinjektion von
Tuberkulin nicht mit Fieber reagierte, also als von
Tuberkulose frei angesehen werden kann; alsdann
werden wenige Milligramm einer aus menschlichem
Auswurf gezüchteten Tuberkulosekultur (Reinkultur
von Tuberkelbazillen in Rinderblutserum aufgelöst)
dem Versuchstier unter die Haut des Halses, oder
in das Bauchfell oder in die Halsvene eingespritzt.
Weit virulenter gestaltet sich zuweilen der Injek-
tionsstoff, wenn man ihn vorher durch den Körper
von ein oder mehreren Meerschweinchen hindurch-
passieren läßt.
Als abschließendes Ergebnis berichtet Dr.
Karlinski :
„Daß unter 14 Versuchen die Übertragung
auf Rinder dreizehnmal positiv möglich war,
daß Tuberkelbazillen, obwohl menschlicher
Provenienz, sobald sie den Rinderorganismus
passiert haben, bedeutend an Virulenz gegen-
über andern Rindern gewinnen und daß die
gewonnenen Veränderungen gar nicht hinter
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den Erscheinungen, die man bei spontaner
Perlsucht vorfindet, zurückbleiben ;"
„daß ferner die Infektion hauptsächlich
die Lymphbahnen befällt, daß jedoch auch
die Allgemein Verseuchung des Körpers, wie
dies bei Perlsucht der Fall ist, gelingt und
somit von Unterschieden zwischen mensch-
licher und der Rindertuberkulose keinesfalls
gesprochen werden darf"
Tritt nun zu dieser Identität noch derselbe oder
ein ähnlicher Grad von Infektiosität — der aller-
dings noch sehr verschieden geschätzt wird —
so liegt die Frage nahe, ob nicht durch den Ge-
nuß von Fleisch oder Milch eines perlsüchtigen
Rindes die Tuberkulose auf den Menschen über-
tragen wird.
Schon im Jahre 1875 hat Gerlach durch Ver
fütterung mit erkrankten Lymphdrüsen , mit ge-
kochten Perlknoten und mit dem Fleisch erkrankter
Tiere bei verschiedenen Tieren Tuberkulose er-
zielt und hält diese Erfahrung für so überzeugend,
daß ein Rückschluß auf den Menschen im gleichen
Sinne berechtigt ist.
Seitdem haben sich staatliche Behörden , tier-
ärztliche und hygienische Kongresse mit dem
Gegenstand mannigfach beschäftigt, aber zu einem
von allen Seiten gleicherweise akzeptierten Stand-
punkt ist man bis heute noch nicht gekommen.
Robert Koch verhält sich in der Frage der
Genießbarkeit des Fleisches perlsüchtiger Rinder
nicht absolut ablehnend. Da die kranken Tiere
keine Sputa produzieren, so können von diesen
während des Lebens Tuberkelbazilien nicht ins
Freie geliefert werden und eine Ansteckung auf
solche Weise erscheint nicht möglich. Eine In-
fektion kann also nur nach dem Tode stattfinden
und, wenn man von den seltenen Phallen einer
unmittelbaren Infektion beim Verkehr mit tuber-
kulösen Fleischteilen, welche bei kleinen Wunden
und Hautabschürfungen, z. B. bei Fleischern,
von außen her erfolgen kann , absieht , nur
vom Verdauungsapparat aus. Die Krankheits-
erscheinungen müßten sich also hier imm.er zuerst
zeigen; da aber die primäre Tuberkulose des
Darmes beim Menschen eine gar nicht häufige,
im Verhältnis zur Lungentuberkulose sogar seltene
Afilsktion ist, so ist daraus zu schließen, daß die
gedachte Infektion durch Pleischgenuß nicht oft
vorkommt. Sie würde wahrscheinlich häufiger
sein, wenn die sichtbar kranken Fleischteile (Lunge,
Leber usw.) nicht stets vor dem Verkauf beseitigt
und das Fleisch in nicht gekochtem Zustande ge-
nossen würde.
In Übereinstimmung hiermit ging Virchow's
Ansicht dahin, ,,daß das Fleisch perlsüchtiger Tiere
zur menschlichen Nahrung erst zu verbieten sei,
wenn überhaupt eine Übertragung der Krankheit
von Tier zu Tier durch eine nicht selbst mit
Perlknoten durchsetzte Nahrung erfolge. Bisher
sei dieser Beweis noch nicht erbracht." Trotzdem
ist für das Königreich Preußen — und mit Recht
— verfügt : „daß auch das von Perlknoten freie
Fleisch perlsüchtiger Tiere dann vom Genuß durch
Menschen ausgeschlossen sein solle" : „wenn meh-
rere Organe des Körpers erkrankt befunden
werden oder das Tier abgemagert ist" (Minist. -
Erlaß vom 27. Juni 1885).
Eine gewiß viel größere Bedeutung als dem
Fleische kommt der Milch perlsüchtiger Tiere zu ;
man übersehe nicht, daß die Kühe „die Ammen
fast aller Großstadtkinder" sind. Cohnheim be-
zeichnete schon 1881 die Milch gradezu als Haupt-
quelle für das bei kleinen Kindern häufige Vor-
kommen der Darmtuberkulose , der sogenannten
Phthisis meseraica. Es ist mehrfach statistisch
nachgewiesen , daß die Sterblichkeit der Kinder
unter 2 Jahren in solchen Ortsbezirken am größten
ist, wo nach Ausweis des Fleischschauregisters
sich die meisten tuberkulösen Rinder finden. Auf
dem vierten Internat, tierärztlichen Kongreß zu
Brüssel (1883) wurde die Resolution angenommen:
,,daß die Milch evident perlsüchtiger Kühe weder
für Menschen noch für Tiere als Nahrung zulässig
sei und daß die Milch von Tieren , die der An-
steckung verdächtig sind, nur nach vorherigem
Kochen gebraucht werden soll".
Robert Koch erklärt noch heute, daß eine
Milch nur dann eine Infektion verursachen kann,
wenn sie Tuberkelbazillen enthält. Dies scheint
aber, wie er ausführt, nur dann der Fall zu sein,
wenn die Milchdrüsen selbst tuberkulös erkrankt
sind. Da aber Perlsuchtknoten im Euter nicht
sehr oft vorkommen, so wird auch die Milch perl-
süchtiger Kühe häufig keine infektiösen Eigen-
schaften besitzen.
Auch Virchow hebt hervor, daß Milch aus
einem erkrankten Euter in jedem Fall zu ver-
werfen sei. „Es sind wahrscheinlich zweierlei
Arten von Milch zu unterscheiden ; dort wo das
Euter selbst perlsüchtig erkrankt, wo die Wandungen
der Milchdrüsen mit Perlknoten durchsetzt sind
oder wo das nicht resp. noch nicht der Fall."
Wie die Milch aus tuberkulösem Euter wirkt
auch die Milch tuberkulöser Kühe, wenn sie an
generalisierter, an akuter Miliartuberkulose leiden,
ein Zustand, der am lebenden Tier schon durch
seine auffallende Abmagerung erkenntlich wird.
Seit den Untersuchungen Sormanis (1884) ist
der Wert der Siedhitze für die Zerstörung des
Virus in der tuberkulösen Milch erkannt. Er setzte
gewöhnlicher Milch etwas tuberkulöse Materie zu,
erhitzte jene 20 Minuten bis 70 — 80" und injizierte
sie Meerschweinchen. Nach 41 Tagen wurden
sämtliche Tiere tuberkulös befunden; dasselbe
geschah , wenn die Milch nur eine Minute zum
Sieden gebracht war. Als er aber fünf Minuten
das Sieden fortgesetzt und die abgekühlte Milch
verimpfte, blieben alle Tiere gesund. In allerletzter
Zeit ist V. Behring wieder auf die eminente
Bedeutung der Milch perlsüchtiger Kühe zurück-
gekommen ; er hat sogar seine Theorie von der
Entstehung der Tuberkulose im Menschen ledig-
lich hierauf begründet; eine Anschauung, mit der
er auf der I. internationalen Tuberkulosekonferenz
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sowie auf der letzten Naturforscherversammlung
zu Kassel (1903) ein allgemein bekanntes Aufsehen
erregte, v. Behring leugnet den bisher als gültig
angenommenen Infektionsweg durch Einatmung
der Bazillen oder bazillenhaltigen Stoffe. Seiner
Ansicht nach nimmt die Tuberkulose von den
Darmwänden ihren Ausgang und sie ist im wesent-
lichen eine Krankheit des kindlichen, des Säuglings-
alters. Die Darmschleimhaut des Säuglings ent-
behre noch eines schützenden Decküberzuges, der
im erwachsenen Alter schädliche Ingesta leichter
vernichtet. Vom Darm aus verbreitet sich die
Krankheit auf dem Umwege über die Skrophulose
durch die Lymphbahnen, um schließlich, meist erst
nach vielen Jahren, die bekannten Lungenspitzen-
und andere Affektionen herbeizuführen.
Es gelte also vor allem die Bazilleneinfuhr in
den Mund des Säuglings durch einwandfreie Milch
zu verhindern und, da dies nicht immer gesichert
erscheint, antibakterielle Körper mit der Milch
zuzuführen. Um diesen Anforderungen am besten
gerecht zu werden, empfiehlt er einen Formalin-
zusatz I ; 5000 bis loooo zur Säuglingsnahrung.
Ein näheres Eingehen auf diese neue Theorie
V. Behring's muß an dieser Stelle unterbleiben ; es
ließe sich gar vieles zugunsten der durch sie
zweifellos unterschätzten Inhalationstuberkulose
sagen. —
Das „Zentralblatt für Bakteriologie und Parasiten-
kunde" (Jena bei G. Fischer) bringt in Nr. 8/9
vom Dezember 1903 aus der Feder von Dr. Lydia
Rabinowitsch eine zusammenfassende Übersicht der
neueren Forschungen der Infektiosität der Milch
tuberkulöser Kühe. Es niag genügen nähere
Interessenten auf diese Arbeit hinzuweisen und
aus ihr hier nur die Schlußfolgerungen eingehender
Untersuchungen des amerikanischen Forschers
Mohler anzuführen :
i) Tuberkelbazillen können in der Milch tuber-
kulöser Kühe nachgewiesen werden, selbst wenn
das Euter weder eine makroskopisch noch mikro-
skopisch wahrnehmbare Erkrankung darbietet.
2) Von einem solchen Euter können Tuberkel-
bazilien in genügender Anzahl ausgeschieden wer-
den, um sowohl durch Fütterung wie Impfung
Tuberkulose bei den Versuchstieren hervorzurufen.
3) Bei Kühen, die an Tuberkulose leiden, kann
das Euter jederzeit befallen werden.
4) Das Vorkommen von Tuberkelbazillen in
der Milch tuberkulöser Kühe ist nicht konstant;
es variiert von Tag zu Tag.
5) Kühe, welche tuberkelbazillenhaltige Milch
ausscheiden, können in so geringem Grade von
Tuberkulose befallen sein, daß die Erkrankung
nur durch die Tuberkulinreaktion nachgewiesen
werden kann.
6) Die physikalische Untersuchung oder das
Allgemeinbefinden der Tiere läßt keinen Rück-
schluß auf die Infektiosität der Milch zu.
7) Die Milch sämtlicher auf Tuberkulin reagie-
renden Kühe muß als verdächtig angesehen und
vor ihrer Verwendung sterilisiert werden.
8) Noch besser wäre es, wenn tuberkulöse
Kühe überhaupt von der Verwendung für milch-
wirtschaftliche Zwecke ausgeschlossen würden.
In diesen Mohler'schen Ergebnissen ist zugleich
deutlich der Weg gewiesen, den eine zielbewußte
Hygiene zu gehen haben wird. Es muß eine
ständige Überwachung und Kontrolle aller, auch
der kleinen privaten Viehbestände, eine Isolierung
und womöglich Ausmerzung tuberkulös erkrankter
Tiere, eine fortlaufende Nachprüfung der Gesund-
heit durch die Probe der Tuberkulineinspritzung
und eine sorgfältige Begutachtung aller zur Ver-
wendung, nicht nur der zu Markt kommender,
Milch angestrebt werden. Forderungen , welche
bei der großen Schwierigkeit ihrer exakten Durch-
führung vorläufig noch ,, ideale" genannt werden
müssen. — — Dr. Heinrich Koerber.
Zu den Tierformen, die als ursprünglich typische
Landbewohner einem Aufenthalte im Wasser sich
angepaßt haben, gehören gewiß als einige der
auffallendsten Erscheinungen marine Myriopoden,
über die C. Hennings im 23. Bande des Biolo-
gischen Zentralblattes eine Reihe neuer Beobach-
tungen anführt. Es handelt sich um die beiden
Arten Scolioplanes viaritiutus und Scliendyla sub-
inarina , die sich , vielleicht auf der Flucht vor
den sie auf dem Lande bedrohenden Feinden, in
die Gezeilenzone zurückgezogen haben, bei jeder
Flut also von Wasser bedeckt werden und so
gleichsam eine amphibische Lebensweise ange-
nommen haben. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt
sich über die Küsten von Schweden, Norwegen,
Dänemark, Deutschland, England und Frankreich.
Die Beobachtungen von Hennings beziehen
sich auf Scolioplanes maritimiis. T^vl 10 — 20 in
einem Knäuel unter Steinen liegend erwarten
diese Tiere die Flut und lassen sie über sich
hinweggehen. An den Stigmen sowie an Mund-
und Afteröffnung treten kleine Luftbläschen aus,
die sich lange erhalten können, wenn die Tiere
ruhig und fast ohne jede Bewegung liegen bleiben.
Kriechen sie langsam umher, was indessen nur
selten geschieht, so vermindern sich die Luft-
bläschen schnell an Umfang. Ist die Flut abge-
laufen , so kehrt bald die gewöhnliche Gewandt-
heit und Schnelligkeit zurück und die Fühler
führen die gewohnten lebhaften Bewegungen aus.
Werden einzelne Scolioplanes von der Flut außer-
halb eines Schlupfwinkels überrascht, so schwimmen
sie infolge ihres geringen spez. Gewichtes unter
eigentümlichen, schlängelnden Bewegungen auf der
Oberfläche des Wassers, oder sie verharren hier
unbeweglich, den Körper in Bretzelform zusammen-
legend, bis die ablaufende Flut sie wieder aufs
Trockene setzt. Experimente über die mögliche
Dauer eines Aufenthaltes unter Wasser ergaben,
daß nach 12 Stunden Aufenthalt im Seewasser
die ersten Spuren einer Betäubung sich einstellten,
nachdem die oben erwähnten lAiftbläschen an den
Körperöffiiungen geschwunden waren, nach 24
Stunden nimmt die Betäubung zu, nach 30 Stunden
N. F. m. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
443
dauert dieselbe auch nach dem Zurüclibringen an
die Luft längere Zeit an, zwischen 30 und 40
Stunden tritt der Tod ein. Im Süßwasser dagegen
vermögen sie bis zu 70 und 80 Stunden auszu-
halten. Auch gegen den Aufenthalt in anderen
Flüssigkeiten erweisen sie sich sehr widerstands-
fähig, so vermögen sie in einer gesättigten wäß-
rigen Lösung von Magnesiumsulfat bis zu 5 Stun-
den auszuhalten , in 5 "/,, wäßriger Lösung von
Chloralhydrat trotz schnell eintretender Betäubung
bis fast eine Stunde. Auch in 70 "/^ Alkohol
können sie verhältnismäßig sehr lange leben. Die
ersten 10 Minuten suchen sie unter lebhaftem
Schlängeln und Kriechen zu entkommen , dann
werden sie schnell matter, nach 15 Minuten sind
sie betäubt, nach 20 Minuten tritt der Tod ein.
Formol wird am wenigsten gut vertragen, schon
ein Aufenthalt von 5 Minuten in demselben zieht
den Tod des betreffenden In-
dividuums nach sich.
J. Meisenheimer.
wiegend durch die Tätigkeit v-on Bakterien aus
dem Stickstoff der Luft gewonnen werde, vor
jeder anderen Hypothese der Stickstoffernährung
der Wasserorganismen den Vorzug. Se.
Der Asphalt hat im letzten Jahrzehnt so große
wirtschaftliche Bedeutung gewonnen, daß wir gerne
die Gelegenheit benutzen, unseren Lesern einige
Bilder über Asphaltvorkommen und -gewinnung
in Italien vorzuführen.') Bekanntlich kommt der
Asphalt in zwei äußerlich recht verschiedenen
Arten in der Natur vor. Wenn das Tote Meer
im späteren Altertum als Asphaltitis bezeichnet
wird, so lag der Grund in den Asphaltschollen,
die auf seinem salzigen Wasser treiben und hin
und wieder ans Ufer geworfen werden. In diesem
reinen Zustande stellt der Asphalt eine schwarze,
beim Erwärmen erweichende, in der Kälte aber
Fig. 1.
J. R e i n k e , Symbiose
von Volvox und Azotobacter.
(Ber. d. Dtsch. Botan. Gesellsch ,
Bd. 21, 1903, S. 481.) Verf
kultivierte in einer sterilisierten,
stickstoffreien Nährlösung Ku-
geln von Volvox Globator. Die
Lösung enthielt auf 200 ccm
Wasser: 4,0 g Mannit, 0,1 g
Kaliumphosphat, 0,05 g Mag-
nesiumphosphat, 0,3 g Calcium-
karbonat. Nach etwa zehn-
wöchentlichem Stehen ergab
sich unter reichlicher Entwick-
lung des Spaltpilzes Azotobac-
ter ein Gewinn von 11,6 mg
an gebundenem Stickstoff in
der Lösung. Dieser konnte
nur auf die Assimilation des im
Wasser absorbierten Luftstick-
stoffs zurückgeführt werden.
Die Infektion der sterilen Nährlösung mit Azoto-
bacter konnte wohl deswegen stattfinden, weil an
der Oberfläche der Alge anhaftende Bakterien in
die umgebende Flüssigkeit gelangten. Das wechsel-
seitige Ernährungsverhältnis zwischen Alge und
Bakterium ist aller Wahrscheinlichkeit nach der-
artig, daß letzteres durch die grünen Zellen der
Alge mit organischen Kohlenstoffverbindungen
versorgt wird und dafür seinerseits an die Alge,
in und auf deren Oberfläche es lebt, Stickstoff in
gebundener Form abgibt. Für im Meere (Ostsee)
lebende Algen ist ein solches Symbioseverhältnis
mit Azotobacter bereits bekannt. — Es sei hier
an das analoge Verhältnis zwischen Leguminosen-
wurzeln und Knöilchenbakterien erinnert.
Nach den Beobachtungen des V^erfassers ver-
dient die Hypothese, daß der in den Pflanzen
und Tieren des Salz- und Süßwassers gegebene
Vorrat von Stickstoff in Gestalt von Eiweiß über-
Das Majella
kalke), im V
■Gebirge in Millelilalien vun >.\V aus gesellen (Gebiet der .\s|ihaU-
ordergrunde das Dorf Roccamorice über dem Cusanotal.
ziemlich feste Masse dar, für die, auch der che-
mischen Zusammensetzung nach, der alte deutsche
Name „Erdpech" recht bezeichnend erscheint. Das
weitaus bedeutendste Vorkommen solchen Asphaltes
ist der berühmte Asphaltsee auf Trinidad, dessen
Oberfläche ganz aus Erdpech besteht. Auch auf
dem benachbarten Cuba und in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika findet sich reiner Asphalt,
und zwar gewöhnlich gangförmig auf Klüften der
verschiedensten Gesteine.
Seine heutige Bedeutung hat der Asphalt jedoch
in einer anderen Form erlangt, nämlich als Asphalt-
kalk. Es sind das Kalksteine, die vollständig mit
Asphalt oder dem etwas weniger festen „Bergteer"
durchtränkt sind. Zu feinem braunem Pulver zer-
mahlen bilden sie den sog. Stampfasphalt, der, auf
') Wir verdanken die Abbildungen der Liebenswürdigkeit
der Firma Adolf Reh u. Co. in Berlin.
444
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 28
N. F. III. Nr. 28
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
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fester Retonunterlage ausgebreitet und durch ober-
flächliche Erwärmung zu einer rasch erstarrenden,
zäh-festen Masse verbunden das immer beliebter
werdende Asphaltpflaster unserer Großstädte
ergibt.
Seine steigende wirtschaftliche Bedeutung hat
auch den Eifer im Suchen nach Asphaltkalklagern
erhöht, und so kennen wir bereits eine ganze
Anzahl den verschiedensten geologischen Forma-
tionen angehörige Lagerstätten, von denen hier
nur aus Deutschland die jurassischen Asphaltkalke
von Limmer und Vorwohle bei Hannover genannt
seien, aus der Schweiz die von Neuenburg, die
lange Zeit die bekanntesten waren. Reich an
Asphaltkalken ist Nordamerika, und fast überall,
wo Petroleum auftritt, findet sich auch Asphalt
als Imprägnation in Gesteinen. Doch ist die Zahl
der technisch brauchbaren Asphaltkalke immer-
hin recht beschränkt. Das in unseren Bildern dar-
Fig. 5. Asphaltwerk San Valentio in Mittelitalien (im Hintergrunde der Abfall
des Plateaus, das den Vordergrund in Fig. I bildet).
gestellte Vorkommen von San Valentino in Mittel-
italien liegt an dem terrassenartigen Nordwest-
abfall des Majella ■ Gebirges (Fig. i und 5), das
sich als nordöstlicher Ausläufer der Abbruzzen
südlich von Chieti unweit des Adriatischen Meeres,
kahl wie alle Kalkgebirge Italiens, bis zu 2800 m
Meereshöhe erhebt.
Die Gesteine des Majella - Gebirges gehören
wesentlich dem Tertiär an, Tertiärkalke sind es,
die wegen ihres Asphalt- bzw. Bitumengehalts von
9 — 30% bergbauliche Bedeutung gewinnen. In
einem Gebiet von etwa 50 qkm treten 3 Zonen
von Asphaltkalken auf, die durch Tagebau oder ein-
fachen StollenbetrietD abgebaut werden. Die oberste
dieser Zonen zeigt Fig 2, auf der rechten Seite
tritt sie deutlich als dunkle Gesteinspartie hervor.
Eine Wechsellagerung zwischen hellen asphaltarmen
und dunklen asphaltreichen Lagen ist auf Fig. 3
sichtbar. Der wechselnde Bitumengehalt hängt in
erster Linie von der Beschaffenheit des impräg-
nierten Gesteins ab, nur zwischen 9 und 12"^
macht er das Gestein zu Stampfasphalt geeignet,
das reichere ebenso wie das ärmere Gestein werden
auf Bitumen verarbeitet, das man an der Grube
in einfachen Ofen (Fig. 4) austreibt, um es in dem
nahen Asphaltwerk (Fig 5), wo auch die Mühlen
zur Herstellung des Stampfasphalts stehen, zu
raffinieren.
Großen Schwierigkeiten begegnet heute noch
der Versuch, die Entstehung des Asphaltes zu
erklären. Sehr wechselnd und deshalb nicht scharf
zu charakterisieren ist seine chemische Zusammen-
setzung. Mehr vom technischen Standpunkte trennt
man den zähflüssigen Bergteer von dem festeren
Asphalt. Geologisch gesprochen muß man alle
Bitumenarten der Natur anscheinend unter gemein-
samen genetischen Gesichtspunkten betrachten,
Petroleum ebenso wie Naphta, Ozokerit, Bergteer
und Asphalt. So sieht man denn
den Asphalt gewöhnlich als ein
Oxydationsprodukt des Petro-
leums an. Sein Auftreten nahe
der Oberfläche und in feinporigen
(xesteinen, in denen durch die
feine Verteilung eine ausgedehnte
Berührung mit oxydierenden
."^gentien gefördert wurde, ebenso
wie die aus dem nordwestdeut-
schen Erdölgebiet bekannte Er-
scheinung, dafS die oberen Petro-
leumschichten wesentlich dick-
flüssiger sind als die tieferen,
spricht für die ^Auffassung, daß das
Bitumen in Form leichtflüssiger
Stoffe aus der Tiefe aufstieg, um
in höheren Horizonten durch Be-
rührung mit lufthaltigen Wässern
oder anderen atmosphärischen
Einwirkungen mehr und mehr
oxydiert zu werden bis zur Kon-
sistenz des Asphaltes. Indem
dieser die Poren des Gesteins ver-
stopft, in dem er entstanden ist, schließt er die
oxydierenden Einflüsse ab und bildet somit das
Endglied des Prozesses.
Aber damit ist die Frage nach der Entstehung
nur vom Asphalt auf das Petroleum verschoben,
und es kann nicht die Absicht dieser Zeilen sein,
das noch keineswegs spruchreife Problem hier
weiter zu verfolgen. Wir lassen es dahingestellt,
ob die bituminösen Stoffe letzten Grundes vul-
kanischen Lirsprungs sind oder, wie es noch immer
glaubhafter erscheint, aus der Zersetzung organischer
Reste hervorgegangen sind, und begnügen uns
mit dem Ergebnis, daß der .Asphalt im allgemeinen
ein Fremdling ist da, wo er sich findet, zugewandert
in Form naphtaartiger Stoffe aus Schichten, die
wnr nicht kennen. Das Tote Meer zeigt uns diesen
Entstehungsprozeß mit greifbarer Deutlichkeit;
denn hier dringt das Bitumen als zähflüssige Masse
aus Spalten des Nebengesteins hervor, und erst
446
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 28
auf der Oberfläche des Sees erhärten die Schollen
allmählich zu Asphalt, — Söhne der Tiefe, die
vom Tageslicht getroffen, zu Stein erstarren.
Die doppelte Umkehrung von Spektral-
linien, d. h. das Auftreten einer hellen Linie im
Innern einer dunkeln Absorptionslinie, wird häufig
im Spektrum der Sonnenfackeln beobachtet, konnte
aber experimentell bisher nicht mit Sicherheit
nachgeahmt werden , sondern war nur äußerst
selten im Laboratorium zur Wahrnehmung ge-
langt. Kürzlich ist es nunHuniphreys (Astro-
phys. Journal, Okt. 1903) gelungen, bei einer
ganzen Reihe von Linien verschiedener Elemente
die doppelte Umkehrung sowohl visuell zu be-
obachten, als auch photographisch zu fixieren.
Der von ihm angewandte Kunstgriff, der stets
mit Sicherheit von Erfolg war, besteht darin, daß
er zwei hintereinander geschaltete Bogenlampen
so aufstellte, daß das Licht der einen nur durch
den Lichtbogen der zweiten hindurch den Spalt
des Spektroskops erreichen konnte. Die dem
Spalt zunächst befindlichen Kohlen dürfen dabei
nur mit einer geringen Menge der betreffenden
Substanz beschickt werden , während die etwa
5 cm weiter entfernten Kohlen eine reichliche
Menge derselben erhalten. „Die doppelt umge-
kehrten Linien in den Spektren der Sonnenfackeln
können daher angesehen werden als bedingt durch
zwei völlig getrennte Lichtquellen :^die^eine liegt
tief in der Sonnenatmosphäre in einer Schicht,
wo das betreffende Material reichlicli vorhanden
ist und daher breite, dunkle Umkehrungslinien
erzeugt; und darüber schwebt mehr oder minder
abgesondert eine selbstleuchtende, nur verhältnis-
mäßig wenig von der Substanz enthaltende Wolke."
Kbr.
Sekundäre Röntgenstrahlen. — Röntgen-
aufnahmen von großen Objekten, wie es der
Rumpf eines Menschen ist, sind nur schwer zu er-
halten, weil scharfe Umrisse fehlen und alles ver-
waschen erscheint. Man hat den Vorschlag ge-
maclit, durch einen Metallring, den man bei Auf-
nahmen des Unterleibes auf den Leib preßt, die zu
durchstrahlende Masse zu komprimieren und somit
schmaler zu 'machen. Nicht immer mit Erfolg.
Der Grund liegt nach einer Arbeit von Dessauer
und Wiesner (Phys. Zeitschrift V, 2. 1904) in
den schon länger bekannten sekundären Strahlen,
den S-Strahlen. Wasserhaltige, fettreiche Objekte,
also z. B. Leibesteile, Knochenbrüche mit starkem
Bluterguß, erzeugen starke S-Strahlen, Metalle,
besonders Blei, nur wenig. Wenn man nun einen
Metallcylinder vor das zu durchstrahlende Objekt
legt, so erzeugen die X-Strahlen an der Cylinder-
wand starke S-Strahlen, die diffus verlaufen und
das Bild verderben. Nach dem Vorschlage der
genannten Verfasser teilt man den Cylinder in
2 Ringe, zwischen denen die im oberen Teil ge-
bildeten S-Strahlen entweichen. Eine beigegebene
Abbildung zeigt ein deutliches Bild der Wirbel-
säule und läßt ahnen, wie sehr dadurch die Klar-
heit der Bilder gewinnt. In der Zeitschrift für
Elektrotherapie (1902, 11 u. 12) haben die \'er-
fasser weitere Einzelheiten über ihre Methode
mitgeteilt, die bereits von vielen Kliniken mit
Erfolg angewendet wird. A. S.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der VI. Internationale Zoologenkongreß findet
in Bern vom 14. — 19. August 1904 statt. Dr. Th. Studer,
Professor an der Universität Bern, ist Präsident derselben.
Die Kongreßteilnehmer werden eingeladen , nach Schluß
des Kongresses einen Ausflug nach Genf zu machen, wo
Samstag, den 20. August, ein Empfang stattfinden wird. Für
die über Basel oder Zürich reisenden Kongreßmitglieder stehen
am Samstag, den 13. August, die zoologischen Museen und
Institute dieser Städte offen. Es werden die dortigen Zoologen,
in Basel Direktor Dr. Fritz Sarasin, in Zürich Direktor Prof. Dr.
A. Lang, an welche man sich zu wenden bittet, oder deren
Stellvertreter die Führung übernehmen.
Der Preis der Mitgliederkarte ist auf 25 Fr. (20 Mk.)
festgesetzt. Alle Zoologen und Freunde der Naturwissen-
schaften erlangen durch Lösung einer Karte das Recht, sich
am Kongreß zu beteiligen und die gedruckten Verhandlungen
zu beziehen. Die Damen können sich unter den gleichen Be-
dingungen am Kongreß beteiligen, oder aber besondere Karten
(Damenkartenl zum Preise von 10 Fr. lösen. Diejenigen
Kongreßmitglieder, welche die für Schweizer Bahnen und
Seerouten ausgegebenen Generalabonnements für zwei oder
vier Wochen wünschen, erhalten die ausführlichen Bestimmungen
darüber vom Organisationskomitee.
Die Anmeldungen zur Teilnahme am Kongreß, sowie alle
den Kongreß betreffenden .anfragen sind zu richten an den
Präsidenten des VI. internationalen Zoologenkongresses, Natur-
historisches Museum, Waisenhausstraße, Bern. — Geldsendungen
sind zu richten an Herrn Eugen von Büren-von Salis, p. a.
Eug. von Büren & Cie., Bern.
Bücherbesprechungen.
Dr. Georg Hartmann, Die Zukunft Deutsch-
Süd we st afr i kas. Beitrag zur Besiedlungs- und
Eingebornenfrage. 31 Seiten. kl. 8". Berlin,
1904. E. S. Mittler u. Sohn. — Preis 75 Pf.
Wie der Titel sagt, ist die Aufgabe des Büchleins
eine volkswirtschaftliche, keine naturwissenschaftliche.
Wenn trotzdem in dieser Zeitschrift die kleine Schrift
selbst denen warm empfohlen sei , denen die prak-
tischen Vorschläge des Verfassers zu gewagt erscheinen
werden, so geschieht es deswegen, weil der Verfasser
durch den Vergleich mit den recht ertragreichen
„Steppenkolonien" anderer Völker klar beweist, wie
die Mißachtung der natürlichen Eigenart des Gebiets
der Hauptgrund für die geringe Entwicklung der
Kolonie gewesen ist. Mit besonderer Deutlichkeit
zeigt dies Beispiel, wie wertvolle Dienste die vertiefte
physische Erdkunde dem nationalen Aufschwünge
leisten kann — wenn sie gehört wird. F. S.
Prof. Dr. Kobert, Beiträge zur Kenntnis der
Sap on in Substanz en. Stuttgart, \'erlag von
Enke. 1904. 7 Bogen.
Nach einleitenden Erörterungen über die physi-
kalischen, chemischen und physiologischen Eigen-
schaften und über den Ort des Vorkommens im
Pflanzenkörper bespricht der bekannte Rostocker
Pharmakologe das Verhalten der Saponinsubstanzen
N. F. III. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
447
zu Ammonsulfat und einigen FarbstofFen. Im An-
schluß hieran gibt er die Resultate einer großen
Reihe von Experimenten bekannt, die er namentlich
mit dem (Juillajagift am tierischen Organismus, vor
allem an Seetieren angestellt hat. Bei der relativ
hohen Giftigkeit der Sapotoxine sollten nach Verf.
die Behörden ein wachsameres Auge den im Handel,
z. B. in den BrauseUmonaden, Verwendung findenden
alkoholischen Saponinlösungen zuwenden. Am ge-
bräuchlichsten ist die Herstellung solcher Schaum-
präparate aus der offiziellen Quillajarinde. Kobert
macht mehrere Vorschläge, um solche Toxine zu be-
seitigen resp. zu ersetzen, so z. B. durch ein durch
vielmaliges Eindampfen mit Baryumhydroxyd ent-
giftetes Sapotoxin. — Ein ausführliches Autoren- und
."Sachregister beschließt die mit großer Klarheit und
Elindringliclilieit geschriebene Arbeit. H. Kbr.
Hartinger'sche Wandtafeln für den naturge-
schichtlichen Anschauungsunterricht. Karl
( jerold's Sohn Verlag, Wien. — Preis pro Taf. 1,60 Mk.
Um die Tafeln den modernen Anforderungen an-
zupassen und sie nach Möglichkeit zu verschönern,
läßt der Verlag für alle Tafeln, deren Vorräte zu
Ende gehen, von Künstlern entweder neue Originale
anfertigen oder die bisherigen — wenn es sich als
zweckmäßig erweist — durch Fachmänner verbessern.
Fünf solche nach neuen Originalen hergestellte, in
zweiter Auflage erschienene Tafeln liegen uns vor. Die
dargestellten Tiere und Bäume sind naturgetreu und
gut ausgeführt.
Dr. Johannes Schilling, Das Vorkommen der
„seit ene n Er den" i m Mi n er aireiche. Mün-
chen und Berlin, Druck und Verlag von R. Olden-
bourg 1904. VIII u. 115 Seiten. 4". — Preis 12 Mk.
Auf das Vorkommen der sogenannten seltenen
Erden, einer Anzahl schwer reduzierbarer Oxyde mit
nur geringen Unterschieden der chemischen und physi-
kalischen Eigenschaften, wurde seit der Erfindung des
Gasglühlichtes die besondere Aufmerksamkeit sowohl
der Mineralogen wie Chemiker gerichtet. Im rein
chemischen Sinne sind als seltene Erden eigentlich
nur die Cerit- und Yttererden aufzufassen, zu denen
der Verf aus praktischen Gesichtspunkten die Thor-
und Zirkonerden hinzuzieht.
Die Literatur über das Auftreten dieser Erden in den
einzelnen Mineralien ist außerordentlich zerstreut. Verf.
unternimmt es, die Literaturangaben und die analyti-
schen Belege des Gehalts an Cerit-, Ytter-, Thor-
und Zirkonerden in tabellarischer Form zusammenzu-
stellen, wobei eine große Zahl von neuen Analysen
des Verf verwertet wird. Dazu wird eine kurze
Charakteristik jedes einzelnen der in Betracht kommen-
den Mineralien gegeben. Die verschiedenen Fund-
punkte werden kurz, geographisch geordnet, in ziem-
lich großer Vollständigkeit aufgeführt.
Von einer getrennten Aufzählung der einzelnen
Oxyde der Cerit- und Vttererde-Gruppe mußte wegen
des geringen Analysenmateriales Abstand genommen
werden.
Die Ordnung folgt der Groth 'sehen tabellarischen
t'bersicht der Mineralien.
Man findet in dem Buche die Angaben über
1 1 5 -Mineralien und einige Gesteine. Wie in jeder
derartigen bibliographischen Zusammenstellung kann
man bei eifrigem Studium Fehler in den Literatur- und
Analysenangaben finden, die aber in dem vorliegen-
den Buche auf ein geringstes Maß gebracht zu sein
scheinen.
Dem Verfasser müssen für diese Zusammenstellung,
die als sehr wichtiges Ergänzungswerk zu den vor-
handenen mineralogischen und mineralchemischen
Handbüchern zu betrachten ist, nicht nur Geologen
und Mineralogen, sondern auch Chemiker und speziellere
Interessenten der Glühlichtindustrie zu Dank verpflichtet
sein. E. Kaiser.
H. J. Phillips, F. I, C, F. C. S. , Chimiste conseil
du „Great Kastern Railway", Les combustibles
solides, liquides, gazeux. Analyse, dt5ter-
mination du pouvoir calorifique. Ouvrage traduit
de l'anglais d'apres la troisieme edition par Joseph
Rosset, Ingenieur civil des mines. Librairie Gauthier-
Villars, Paris, 6'^. 19. — Prix 2,75 fr.
Dieses kleine Werkchen , welches aus dem Eng-
lischen ins Französische übersetzt ist , stellt eine ele-
mentare Brennstofflehre dar. Für deutsche Verhält-
nisse hat es im allgemeinen wenig Bedeutung , wir
haben keinen Mangel an mindestens ebenso guten
Werken auf diesem Gebiete. Interessant ist es als
Probe für die Behandlung des technischen Gegen-
standes in unsern Nachbarländern, da es dort an-
scheinend ein empfundenes Bedürfnis deckte ; unter
Umständen wird auch die Zusammenstellung von
Analysen und Brennwertsbestimmungen im letzten
Kapitel, weil sie sich hauptsächlich auf englische und
französische Materialien bezieht, als Quelle dienlich sein.
Das folgende ausführliche Inhaltsverzeichnis informiert
hinlänglich über das von dem Schriftchen Gebotene.
Preface du Traducteur. Introduction. — Chap. I.
Poids specifique des combustibles solides, Hquides et
gazeux. Poids specifique de la houille, du coke, des
combustibles liquides. — Point d'inflammation des
combustibles liquides. Systeme Holden pour l'emploi
des combustibles liquides sur les locomotives et dans
les chaudiferes fixes. Poids specifitiue des combusti-
bles gazeux. Methode du docteur Letheby. Balance
de Lux. Tirage des chemindes. Tuyaux k tirage
variable. — Chap. II. Analyse des combustibles soli-
des et liquides. Dosage de l'humidite et des cendres
dans les combustibles solides. Dosage du coke et
des matieres volatiles. Classification des houilles.
Dosage du soufre. Methode de Hundershagen. Do-
sage de l'azote, du carbone, de l'hydrogene, de l'oxy-
giine. — Chap. III. Analyse des combustibles gazeux.
Analyse des gaz combustibles. Appareil d'Elliot.
Dosage de lacide carbonique, des carbures d'hydro-
gtoe, de l'oxygene, de Toxyde de carbone, de l'hydro-
gene, de l'azote. Analyse eudiometrique. Dosage du
soufre. — Chap. IV. Pouvoir calorifique des com-
bustibles solides et liquides. Determination du pou-
voir calorifique des combustions solides et liquides
448
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 28
par le calorimetre de Thompson. Calcul du pouvoh'
calorjfique theorique des combustibles solides et liqui-
des d'apres l'analyse chimique. Valeur theorique des
combustibles liquides. — Chap. V. Pouvoir calorifique
des combustibles gazeux. Pouvoir calorifique des gaz
combustibles. Chaleur de rombustion. Comparaison
de la valeur calorifique d'un gaz avec la valeur calo-
rifique d'une houille. Calorimetre de Hartley. —
Chap. VI. Analyse des cendres des combustibles.
Analyse des cendres. Dosage de la silice, de l'acide
sulfurique, de l'oxyde de fer, de la chaux, de la mag-
nesie, de l'acide phosphorique, de la potasse, de la
soude, de l'acide carbonique. — Chap. VII. Tableaux
legt sind, so werden auch diese Teile geladen. Dadurch wird aber
die Ladung der Hammerteile geschwächt, also auch die lonen-
brücke und die Bahn für den Extrastrom. Dieser erlischt
schneller, ebenso erlischt der Wagnetismus des Kernes schneller
und dieser schnell erlöschende Magnetismus ruft einen kräftigen
Induktionsstrom in der sekundären Spule hervor.
Beim Gebrauch der Flüssigkeitsunterbrecher nach Wehnelt
oder Simon geht der Extrastrom durch die Gasschicht, die
sich an der Platinspitze (Wehnelt) oder in der Öffnung des
Porzellanrohres (Simon) bildet, ruft die Explosion des dort
gebildeten Knallgases hervor und erlischt dadurch. Der Kon-
densator ist daher bei Flüssigkeitsunterbrechern überflüssig.
A. S.
Herrn E. M. in Sarstedt. — Das von Ihnen genannte
Werk ist zum Privatstudium zu speziell. Versuchen Sie's mit
j ,' T.,,'"~",.',;-7,'„J 7f H'Qnalvc;»»«' TnHpv alnhi- Strasburger, NoU etc., Lehrb. d. Botanik 6. Aufl. (G. Fischer
de resultats piatiques et d analyses^ index alplia j_^ j^,^^ ^^^j^ 8_^„ Mk , „d,, ,^ij den der Schwendener'sehen
hetinue. iJr. H. Mehnei. Schule angehörigen Elementen der Botanik von Potonie (3. Aufl.
]ulius Springer in Berlin. Preis ca. 3 Mk.) Zum Bestimmen
betique.
Literatur.
Bardeleben, Karl v. , u. Dir. Heinr. Haeckel, Proft'. DD.:
Atlas der topographischen Anatomie des Menschen. Für
Studierende u. Ärzte. 3. völlig umgearb. u. verm. Aufl.
8. — 10. TaUs. Enth. 204 größtenteils mehrfarb. Holzschn.,
I lith. Doppeltaf. u. erläut. Text. Hrsg. unter Mitwirkg.
V. Volontärassist. Dr. Fritz Frohse. Mit Beiträgen v. Prof.
Dr. Thdr. Ziehen. (VIll, 166 S.) Lex. 8°. Jena '04, G.
Fischer. — 20 Mk. ; geb. 22 Mk.
Credner, Herm. : Der vogtländische Erdbebenschwarm vom
13. U. bis zum 18. V. 1903 u. seine Registrierung durch das
Wiechert'sche Pendelseismometer in Leipzig. Mit 26 Seis-
mogrammen als Texlfig. u. I Karte. (107 S.) Leipzig '04,
B. G, Teubner. — 5 Mk.
Chwolson, Prof. O. D. ; Lehrbuch der Physik. Ubers. von
Oberlehrer H. Pflaum. 2. Band. gr. 8". Braunschweig,
F. Vieweg & Sohn.
DallaTorre, Prof. Dr. K. W. v., u. Ludw. Graf v. Sarnthein:
Flora der gefürsteten Grafsch. Tirol, des Landes Vorarlberg
u. des Fürstent. Liechtenstein. Nach eigenen und fremden
Beobachtgn. , Sammlgn. u. den Literaturquellen bearbeitet.
5. Bd. Die Moose (Bryophyta) v. Tirol, Vorarlberg und
Liechtenstein. Mit dem Bildnisse H. Ganders. (LIV, 671S.)
gr. 8". Innsbruck '04, Wagner. — 22 Mk.
Dupr^, Laborat. -Verst. Dr. F.; Leitfaden der qualitativen
Analyse. (VII, 104 S.) 8». Cöthen '04, (O. Schütze). —
Geb. in Leinw. 2,50 Mk.
Fiedler, Dr. Wilh. ; Die darstellende Geometrie in organischer
Verbindung mit der Geometrie der Lage. 4. Aufl. I. Tl.
gr. 8°. Leipzig, B. G. Teubner.
der Pflanzen „aus der heißen Zone" gibt es kein Werk. Bis
zu sämtlichen Gattungen der Erde und den wichtigeren Arten finden
Sie Auskunft in den von Engler herausgegebenen Natürlichen
Pflanzenfamilien (Wilhelm Engelmann in Leipzig). In diesem
Werk finden sie dann weitere Literatur. Preis mehrere Hun-
dert Mark.
Mit Bezug auf das Wort „Mud" (vgl. Briefkasten S. 384)
teilt uns Herr wiss. Lehrer Müller in Schmalkalden freund-
lichst mit, daß dieses Wort auch in der deutschen Sprache
vorkommt und zwar im Nassauischen der Umgegend von
Frankfurt für den feinen Bodensatz, der sich in der Kaffee-
tasse bildet, wenn der Kaffee durch ein nicht genügend feines
Sieb gegossen worden ist.
Herrn M. L. in Halle. — Vermutlich meinen Sie das
Kapitel „Das nächtliche Tierleben im Urwalde" in den ,, An-
sichten der Natur" (S. 193 der Meyer'schen Ausgabe).
Briefkasten.
Herrn A. S. in Wien. — Zur Erklärung des Kondensators bei
Funkeninduktoren diene folgendes: In dem Augenblick, in dem
der Wagner'sche Hammer den primären Strom des Funkeninduk-
tors unterbricht und der Magnetkern seinen Magnetismus ver-
liert, entsteht in den Windungen der primären Spule ein
Induktionsstrom, der Extrastrom, der dem primären gleich-
gerichtet ist und ihn also unterstützt. Dieser Extrastrom lädt
die beiden schon getrennten Teile des Wagner'schen Hammers
so stark, daß in der dazwischenliegenden Luftstrecke sich
Ionen bilden, die dem Strom einen Weg bieten, so daß der
Eisenkern nur langsam seinen Magnetismus verliert. Wenn
nun aber an die Teile des Hammers die beiden Teile eines
Kondensators (Leydener Flasche, Franklin'schen Tafel oder der
' ■ ' oder Glimmer getrennten Staniolblätter) ange-
Herrn A. C. in Wien. — ,,Wie kann man die Ein-
bettung pflanzlicher Objekte in Paraffin, ohne
Zuhilfenahme eines Paraffinofens vornehmen, so
daß die Objekte vom Einbettungsmedium hin-
reichend durchtränk t wer den, und gute möglichst
dünne Mikrotomschnitte liefern?"
Man benutzt zu dem Verfahren: a) ein Gestell, etwa einen
eisernen Dreifuß; b) eine ca. 2—3 mm dicke Kupferplatte,
welche an einem Ende spitz zuläuft. Unter die Spitze stelle
man d) den Bunsenbrenner mit kleiner regulierter Flamme, .^uf
die Kupferplatte setzt man das aus Blech gefertigte Paraffin-
kästchen, in das man Paraffin vom Schmelzpunkt 52" hinein-
bringt. Selbstverständlich wird an der dem Bunsenbrenner
zugekehrten Seite das Paraffin im Blechbehälter zuerst schmel-
zen. Die Verflüssigung geht dann mit zunehmender Erwärmung
der Kupferplatte weiter und dehnt sich über den ganzen In-
halt des Behälters aus; indes muß die Flamme derart reguliert
werden, daß an der vom Bunsenbrenner entferntestenVVand
das Paraffin zwischen seinem Erstarrungs- und Verflüssigungs-
punkt schwankt. Bei genauer Beobachtung dieser Angaben
wird man eine Temperatur stets zwischen 52—55" C erhalten.
Das Objekt bringe man dann in die MiUe des Paraffinbehälters.
Dr. L. Bayer,
Assistent am botan. Institut d. Univ. Bonn.
Berictitigung: Die auf Seite 412 versehentlich für den
21. April angekündigte Sternbedeckung findet erst am 21. Mai
statt.
durch Ölpapier o
Inhalt: Prof. Dr. Pfuhl: Die Allmacht des Lichts. - Kleinere Mitteilungen: Dr. H. Koerber: Menschen- und Rinder
1. Reinke: Symbiose von Volvox und .Azotobacter.
Spektrallinien. — Dessauer und Wies-
tuberkulose. — C. Hennings: Marine Myriopoden.
F. Solger: Der Asphalt. — Humphrey: Die doppelte Umkehrung von bpe ^ . ^r Crnra
ner: Sekundäre Röntgenstrahlen. - Aus dem wissenschaftlichen Leben - B"<='^"t'"P^"''""|^" .^'.^,'' °!„^
Hartmann: Die Zukunft Deutsch-Südwestafrikas. - Prof. Dr. Robert: Beitrage zur Kenntnis der Sabonmsubstanzen.
— Hartinger'sche Wandtafeln für den naturgeschichtlichen Anschauungsunterricht. - ^r Jo h annes bcii in n
Das Vorkommen der „seltenen Erden" im Mineralreiche. - H. J. Phillips: Les combustibles solides, liquides, ga-
zeux. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC JNa.tUr (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 17. April 1904.
Nr. 29.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahnie durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserale durch die
Verlagshandlung erbeten.
Der Lamsberg bei Gudensberg.
[Nachdruck verboten.] Von Otto
Bekanntlich haben unsere berühmten geologi-
schen Bahnbrecher Leopold von Buch und
Alexander von Humboldt die schon früher
herrschende Lehre, daß die vulcanische Tätigkeit
nur aufbauend wirke durch Anhäufung von Aschen,
Schlacken und Lavamassen, dagegen die Lagerungs-
weise des Untergrundes durchaus nicht störe, ver-
geblich durch eine Theorie zu verdrängen ver-
sucht, welche als die der Erhebungs-Kratere be-
zeichnet wird. Zum Hauptcharakter eines Vulcans
gehört, wie im Kosmos IV, d dargelegt wird, sein
Gerüst, das er sich durch Hebung und Auftreibung
des Bodens schafft. „Die vulcanische Tätigkeit
wirkt formgebend, gestaltend durch Erhebung des
Bodens; nicht, wie man ehemals allgemein und
ausschließend glaubte, aufstauend durch An-
häufung von Schlacken und sich überlagernde neue
Lavaschichten. Der Widerstand, welchen die in
allzu großer Menge gegen die Oberfläche ge-
drängten feuerflüssigen Massen in dem Ausbruch-
kanal finden , veranlaßt die Vermehrung der
hebenden Kraft. Es entsteht eine ,,blasenförmige
Auftreibung des Bodens", wie dies durch die
regelmäßige, nach außen gekehrte Abfallsrichtung
Lang.
der gehobenen Bodenschichten bezeichnet wird :
Eine minenartige Explosion, die Sprengung des
mittleren und höchsten Teils der konvexen Auf-
treibung des Bodens, erzeugt bald allein das, was
Leop. V. Buch einen Erhebungs-Krater ge-
nannt hat, d. h. eine kraterförmige, runde oder
ovale Einsenkung, von einem Erhebungs-
zirkus, einer ringförmigen, meist steilenweise
eingerissenen Umwallung, begrenzt, bald in der
Mitte des Erhebungs-Kraters zugleich einen dom-
oder kegelförmigen Berg."
Rücksichtlich dieser längst überwundenen Theo-
rie der Erhebungs-Kratere ist schon wiederholt
die Vermutung geäußert worden, daß ihr dennoch
ein Kern von Wahrheit innewohne, weil die für
sie als Beweisgrund angeführte regelmäßige, nach
außen gekelirte Abfallsrichtung tatsächlich an den
Bodenschichten einiger Vulcane beobachtet wurde.
Sehr gewichtige LJrsache zu Zweifeln an der Voll-
gültigkeit der herrschenden Lehre von dem Un-
vermögen der vulcanischen Tätigkeit zu mecha-
nischen Umlagerungen gibt ferner die Erwägung,
daß sie ihre Wahrscheinlichkeit verliert bei den
unterhalb der Erdoberfläche, in der Tiefe erstarrten
4SO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 29
Eruptivgesteinsmassen , welche man früher als
„Massive" bezeichnete und für die der in Amerika
erfundene Name „Lakkolithe" in die Mode ge-
kommen ist; denn daß die von ihnen jetzt er-
füllten Räume ohne ihr Zutun entstanden wären,
erscheint ganz unmöglich schon deshalb, weil sie
als Hohlräume der nötigen Stabilität entbehrt
haben würden und zusammengebrochen sein müßten.
Da nun diese „Tiefengesteine" ihre Emporführung
aus größeren Tiefen doch wohl derselben vul-
canischen „Kraft" verdanken wie die Eruptivgesteine
der Oberfläche, dürfte diese Kraft auch hier das-
selbe Vermögen zu mechanischer Betätigung be-
sessen haben wie in jenen Fällen.
Art geliefert worden zu sein, vielmehr wird man
in diesem Falle die Atmosphäre dafür haftbar zu
machen haben. Die beiden anderen Aufschlüsse,
die in etwas größerem Maßstabe noch gesondert
(in Fig. 2 u. 3) dargestellt sind, werden von den
Eingangswegen geliefert, welche in die am öst-
lichen und westlichen Abhänge bisher betriebenen
Steinbrüche führen und etwa 70 m unterhalb der
Kuppe und in etwa je 300 m seitlicher Entfernung
von ihr gelegen sind. In beiden Aufschlüssen,
von denen der westliche inzwischen schon wieder
teilweise verschüttet wurde, finden sich nun auf-
fälligerweise Schichtensättel durchschnitten,
die aus den liegenden tertiären Sanden und san-
— - 00 \
-"— o o O',
"-": o o O'
;--- o o o <i
ö o o '
o o;
Kig I. Durchschnitt durch den Lamsberg b. Gudensberg, R. B. Cassel, schcm.ilisiert und ergänzt.
Profil des Steinbruch-Zuganges a. d, Westabhange.
Einen Beweis hierfür aber, nämlich für vul-
canische Lagerungsstörungen der Umgebung von
Eruptionspunkten, allerdings wohl nicht mittels
explosiver Entladungen, wie Buch wollte, bieten
nun die Verhältnisse eines Vulcanberges in der
weiteren Umgegend von Cassel, des Lamsberges
bei Gudensberg.
Das hier entworfene westöstliche, schematisierte
und^ergänzte Profil (Fig. i) dieses Berges ist auf
Grund von drei , nicht miteinander zusammen-
hängenden Aufschlüssen hergestellt, von denen der
an der Basaltkuppe höchstgelegene ersichtlich durch
ehemaligen Steinbruchsbetrieb geschaften wurde,
eine nach Nordnordost streichende Felswand von
etwa 30 m Höhe bei 50 m Fußbreite bildet und
in der Anordnung der Absonderungs-Säulen die
Kennzeichen einer stockförmigen Eruptivmasse
offenbart; die Abkühlungsfläche, zu welcher sich
die Säulen^bei ihrer fi^rstarrung senkrecht gestellt
haben, braucht nicht von Gesteinsmassen anderer
Profil des Steinbruch-Zuganges
Ostabhiinge.
digen Tonen, welche hier auch Schmitzen oder
kleine dünne P'lötze von Braunkohlen enthalten,
gebildet werden; in beiden Aufschlüssen stehen
dabei diese Sättel an den bergauswärts gelegenen
Profilenden und zeigen ihre bergeinwärts geneigten
Sattelschenkel entschieden steileres Einfallen als
die bergauswärtigen.
Die oberhalb der Sande und Tone des Tertiär
befindlichen Basaltmassen, welche die Bergkuppe
hauptsächlich aufbauen, bilden mehrere nach Ge-
füge, Aufbau und Lagerungsweise voneinander
wohl unterscheidbare Gesteinskörper, die jedoch
ihre innige Verwandtschaft miteinander dadurch
offenbaren, daß sie einem gemeinsamen petro-
graphischen Typus und zwar einem besonderen
angehören. VVenn man nämlich nach der Natur
der Gemengteile, insbesondere des Feldspates
oder seines Vertreters, unter den Basaltgesteinen
verschiedene Arten und nach dem Gesteinsgefüge
sowie nach der Massenbeteiligung der verschieden-
N. F. III. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
451
artigen Konstituenten wieder Unterarten oder Typen
unterscheidet, so erweisen sich die von 9 ver-
schiedenen Stellen des Berges entnommenen und
mikroskopisch untersuchten Proben zusammen-
gehörig dadurch, daß sie alle, trotz mannigfacher
Schwankungen in der Größenausbildung der Ge-
mengteile (und zwar aller Konstituenten oder nur
der „Einsprengunge" oder nur derjenigen von be-
stimmter Mineralart) sowie in dem mehr oder
weniger reichlichen Vorhandensein eines an sich
gestaltlosen Grundteiges („Gesteinsbasis") einen
mikroporphyrischen Feldspatbasalt darstellen,
der zu etwa zwei Drittel seiner Masse aus braun
durchsichtigem Augit (neben Feldspat, Olivin
und undurchsichtigen Erzkörnchen) besteht; die
gleiche Gesteinsvarietät findet sich aber nur noch,
und zwar in untergeordneteren Massen, an wenigen
Stellen der nächsten Nachbarschaft des Lamsberges,
ist dagegen aus seiner an verschiedenartigen
Basaltgesteinen reichen weiteren Umgebung nicht
wieder bekannt geworden.
Die unterscheidbaren Basaltgesteinskörper sind
um die senkrechte Achse der Bergkuppe nicht
gleichmäßig verteilt, wofür der Grund darin zu
erkennen ist, daß die vulcanischen Auswürflinge,
nämlich die explosiv geförderten Aschen, L^apilli
und Bomben, bei ihrer Ablagerung den Einflüssen
der atmosphärischen Bewegungen, der Winde unter-
lagen; so finden wir denn ihre Anhäufungen auf
der westlichen Bergseite in erheblich größerer
Mächtigkeit und deutlicherer Gliederung als auf
der östlichen. Während hier ihre Ablagerungs-
masse (b in Fig. 3) mit 8 m horizontaler Strecke
durchquert ist, bedarf es dazu auf der Westseite
(b' bis b'") gegen 50 m, und während im Osten
der Vulcanschutt aus Stücken der verschiedensten
Größenstufen bis zu derjenigen zentnerschwerer
Blöcke besteht, die ohne Unterschied ziemlich fest
zusammengepackt wurden und von der weit vor-
geschrittenen Verwitterung ein einheitliches, asch-
graues Aussehen zugeteilt erhielten, finden sich
im Westen außer einer sehr mächtigen derartigen
Ablagerung (b") auch noch solche, bei deren Bil-
dung die groben Konstituenten ausgeschlossen
worden waren; so ist das Agglomerat b'" ziemlich
frei von mehr als faustgroßen Blöcken und die
über ihm liegende, nur i m mächtige Schicht (b")
besteht sogar hauptsächlich nur aus feinerdiger
.■\schen- oder TufFmasse; hierdurch ist sie be-
sonders scharf gegen die hangende, grobblockige
Vulcanschuttmasse gesondert, während mit ihrem
Liegenden, gegen welches sie trotzdem deutlich
und zwar ebenfalls durch eine ziemlich ebene
Schichtfläche wie gegen das Hangende begrenzt
ist, eine Vermittlung erkennbar gegeben ist durch
eingemengte, bis zu 10 cm große l.apilli, deren
Zahl sich in dieser Richtung mehrt.
Ein Ausgleich der beiderseitigen Gesteins-
Massenentwicklung ist in beschränktem Maße da-
durch geschaffen, daß von den über dem Vulcan-
schutte zunächst folgenden, geschlossenen Basalt-
Gesteinskörpern derjenige am Ostabhange etwa
doppelt so große Mächtigkeit besitzt als wie der
auf der Westseite; trotzdem scheint sich der dort
vorhandene seitlich nicht so lückenlos fortzusetzen,
als wie das nach den vom Steinbruchsbetriebe
geschaffenen Aufschlüssen hier der Fall ist. Auf-
fällig ist aber auch noch der Unterschied ihrer
morphologischen Ausstattung: im Westabhang ist
die Masse regelmäßig abgesondert zu dicken,
parallelen Säulen, die bei einer der Gesteins-
mächtigkeit entsprechenden Länge von etwa 12 m
senkreclit auf der ebenen Grenzfläche gegen das
liegende Agglomerat stehen und also (mit 35 bis
40" nach West) bergauswärts geneigt sind; die-
jenige am Ostabhange dagegen zeigt sich in dem
für den Steinbruchseingang geschaffenen Durch-
bruche dünnplaltig bis nahezu geschiefert; dabei
gehen jedoch die Plattungs- oder Schieferungs-
flächen nicht durch die ganze Masse einheitlich
und gleichmäßig durch, obwohl sie fast überall
horizontal liegen und nur in den Grenzpartien
sich mehr oder weniger neigen oder sogar senk-
recht stellen, vielmehr wechselt die V^oUkommen-
heit der „Schieferung" ungemein schnell von Ort
zu Ort. Diese Plattung (zu einer wirklichen
Schieferung mangelt es an einem blättrigen Be-
standteile im Gesteine), welche stellenweise nur
wenige Millimeter voneinander entfernte, horizon-
tale Plattenflächen hervorgerufen hat, ist allem An-
scheine nach eine lokal beschränkte Erscheinung,
die schon in geringer Tiefe unter der Sohle des
Durchbruchs aufhört, da ein in dessen Mitte an-
gelegtes seichtes Brunnenloch, welchem die Hori-
zontalspalten das in Vertiefungen des liegenden
Agglomerates einerseits, auf der Steinbruchssohle
andererseits angesammelte Tagewasser zuführen,
bei einer Vertiefung um i m nicht ergiebiger
wurde: sie ist vermutlich sekundärer Entstehung
und als eine Abscherung durch einseitigen Druck
zu deuten. Trotz dieser verschiedenen Ausge-
staltung der am westlichen Abhänge parallel-säulen-
förmig abgesonderten, am östlichen dagegen ver-
mutlich ursprünglich massigen Basaltmassen darf
man beide doch als einem und demselben Ge-
steinskörper zugehörig betrachten, weil sie in den
mikroskopischen Verhältnissen vollständig mitein-
ander übereinstimmen und zugleich hierin von den
weiter nach dem Berginnern zu anzutreffenden
Basaltmassen auffällig abweichen ; sie sind nämlich
sehr reich an farbloser, amorpher Gesteinsbasis
und sind die in dieser ausgeschiedenen Gemeng-
teile in ihrer Größenentwicklung ganz erheblich
zurückgeblieben.
Hinter diesen ersichtlicii effusiven Basaltmassen
folgen in beiden Profilen bergeinwärts wiederum
Agglomerate von gerundeten Basaltblöcken, die
in diesem Falle alle von ziemlich gleicher Größe
sind, welche allerdings immerhin lokal schwankt
zwischen den bei Kürbissen gewöhnlichen Maßen.
Diese kompakten Blöcke besitzen zwar eine hell-
graue Vervvitterungsrinde von jedoch nur wenigen
Millimeter Dicke, zeigen aber im Innern, im Gegen-
satz zu den meisten Blöcken aus den liegenden
452
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 29
Agglomeraten und den geschlossenen Basaltmassen,
ganz frisches schwarzes Gestein, das meistens mit
ebenen Flächen spaltet und deshalb bislang fast
ausschließlich den Gegenstand des Steinbruch-
betriebes bildete. Die Lücken des Blockhaufwerkes
werden von feinerdiger brauner Masse ausgefüllt,
die als verwitterte, vulcanische Asche gedeutet
werden muß; ihre Menge schwankt von Ort zu
Ort, ist im allgemeinen in den hangenden Partien
größer und fand sich im Hangenden des Agglome-
rates auf der Ostseite sogar eine undeutlich ge-
schichtete, lose, tuftähnliche Masse, welche haupt-
sächlich von ihr gebildet war und nur wenige
Basaltblöcke, sowie außerdem ein etwa 0,25 m
langes Stück von verkohltem Holze aufwies, dabei
in ihrer Mächtigkeit bergaufwärts schnell von 0,5
auf 1,5 m und mehr anwuchs; dieselbe dürfte als
eine räumlich beschränkte, sekundäre Ablagerung
jenes Aschenmaterials aufzufassen sein, das vom
atmosphärischen Wasser aus höher gelegenen Kup-
penstrecken ausgewaschen wurde. Bei dieser Ge-
legenheit sei gleich erwähnt, daß die Oberfläche
der Kuppe außer von abgestürztem, stellenweise
in Schurren gehäuftem Basaltschotter auch noch
von einer, allerdings meist recht dünnen und
lückenreichen Decke von feinerdigem Gehänge-
lehm gebildet wird, an welchem das erwähnte
Tuffmaterial stark beteiligt erscheint; doch schob
sich zwischen den daselbst etwa 25 cm mächtigen
Lehm und den vorbeschriebenen ,, sekundären" Tufi
an einer inzwischen schon wieder verschütteten
Stelle der Steinbruchswand der 5 m lange Quer-
schnitt einer vorgeschichtlichen F"euerstätte ein,
welche durch den rotgebrannten Zustand der bis
auf 5 cm Dicke zusammengefritteten Tuffober-
fläche sowie durch Kohlen- und Aschenreste ge-
kennzeichnet war.
Für die Deutung der genetischen Verhältnisse
des vorbeschriebenen Block-Agglomerates ist der
Umstand von Wichtigkeit, daß sich zwischen die
Blöcke im Steinbruche an der Ostseite schon in
etwa 15 m Abstand von der plattig zerklüfteten
Basaltmasse einzelne bergeinwärts geneigte Basalt-
säulen, in dem jetzt zwischen dem bisher be-
triebenen Steinbruche an der Westseite und der
Kuppe in Angriff genommenen neuen .Steinbruche
aber bereits in der Nähe der Oberfläche mäch-
tigere und nach dem Berginnern zu an Mächtig-
keit noch weiter gewinnende Partien von säulen-
förmig abgesondertem Basalt einschieben ; inner-
halb der etwa 30 m langen Strecke, welche an
letzterwähnter Stelle bei meiner letzten Anwesen-
heit (Oktbr. 1903) bergeinwärts getrieben war,
zeigten sich die Säulen in den der Oberfläche
näheren Partien schlanker (von 10 — 15 cm Dicke)
als wie in den weiter bergeinwärts gelegenen,
und während sie dort bei überall herrschender
radialer Richtung zur Bergkuppe im allgemeinen
horizontal lagerten oder ganz flach ost- oder west-
wärts geneigt waren, gewann die Einfallrichtung
nach Osten, also dem Berginnern zu, an Ausdruck
(vereinzelt bis zu 45") und Vorherrschaft, je weiter
man sich von der Oberfläche entfernte.
Es läßt sich mithin ein Übergang des Block-
Agglomerates in den mit Säulen-Absonderung aus-
gestatteten Zentralkörper des Berges erkennen
und das Block- Agglomerat als zu dessen Außen-
schale zugehörig deuten, hervorgegangen aus der
Blocküberkleidung, welche die sich oberhalb des
Eruptionsschlotes aufhäufende Lavamasse umgab.
Die in jüngster Zeit beobachtete Bildung des
Zentralkegels des Mont Pele auf Martinique hat
das Beispiel geliefert, nach welchem wir auch die
Entstehung der Lamsberg- Kuppe beurteilen dürfen;
das die Kuppe bildende Magma ist da von einem
steinigen Panzer aus Blöcken bedeckt, welche es,
solange nur seine Masse durch aus dem Erdinnern
nachdrängende Lava im Wachsen bleibt und in
Bewegung gehalten wird, an einem festen Zu-
sammenbacken zu einer einheitlichen starren Hülle
verhindert; zeitweilig schon zusammengesinterte
Partien werden sogar wieder auseinander gesprengt
und hierbei viele Blöcke zum Abstürzen gezwungen ;
die oberflächliche Erstarrungskruste reicht eben
immer noch nicht für die im andauernden An-
wachsen begriffene Masse der vulcanischen Quell-
kuppe und der langen Dauer des allmählichen
Anwachsens entspricht dann einerseits die Dicke
der dem fortgesetzten Zersprengtwerden unter-
worfenen Blockhülle, andererseits die noch er-
heblichere Mächtigkeit der von letzterer ■ nicht
scharf trennbaren Ansammlung von abgestürzten
Blöcken am Fuße der Kuppenflanken. Der Vor-
gang findet sein natürliches Ende, wenn das Nach-
drängen von Magma aus dem Erdinnern aufhört
und der feurigflüssige Kuppenkern hierdurch zur
Ruhe kommt, so daß auch er nun der allmäh-
lichen Erstarrung anheimfällt, welche von den Ab-
kühlungsflächen aus unter Absonderung von senk-
recht zu letzteren orientierten und womöglich in
ihrer Dicke wachsenden Säulen erfolgt.
Wenn A. Lacroix, dem wir die Schilderung
und Erklärung der Bildung des Zentralkegels des
Mont Pele verdanken, behauptet, daß solcher Vor-
gang einer Kumulovulcanbildung nur bei an Kiesel-
säure verhältnismäßig reichen Magmen eintrete,
weil basische, basaltische Laven zu dünnflüssig
seien, um eine Magma-Anhäufung an der Mündung
des Vulkanschlotes zu gestatten, so hat das seinen
Grund wohl einzig darin, daß bisher solche Ent-
wicklungsgeschichte nur von den aus kieselsäure-
reicheren Laven aufgebauten Kumulovulcanen von
Santorin und des IVIont Pele bekannt wurde; die
Verhältnisse des Lamsberges aber, welche die
gleichen Bildungsverhältnisse zu ihrer Erklärung
gebieterisch fordern, lehren nun, daß auch basal-
tische Laven, die allerdings in zahlreicheren anderen
Fällen zu Decken auseinander geflossen sind, in
schwerflüssigem Zustande zur Eruption gelangt
sein und gelangen können.
Kehren wir nun zur Betrachtung der Lagerungs-
verhältnisse derjenigen Gesteinskörper zurück,
welche zwischen den Zentralstock und die liegen-
den Schichten von Ton und Sand eingeschaltet
sind ; da finden wir unter denen am Westabhange,
die für die Beurteilung jener Verhältnisse wegen
N. F. m. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
453
ihrer größeren Mannigfaltigl<eit auch von größerer
Wichtigl<eit sind als diejenigen des Ostabhanges,
die etwa i m mächtige feinerdige Tuffschicht
(b" des Profils) deutlich zu einem Sattel geknickt;
das entsprechende Verhalten läßt sich auch an
dem Agglomerat (b'") in ihrem Liegenden nach-
weisen und hieraus dürfen wir weiter folgern, daß
auch die hangenden Glieder b' und c' ehemals
ebenfalls Sattelbau besessen haben und solchen
jetzt nur deshalb vermissen lassen, weil ihre berg-
auswärts fallenden Schenkel der oberflächlichen
Abtragung vollständig erlegen sind. Nun ist aber
fraglich, ob hier wirkliche Sattelbildung vorliegt,
hervorgegangen durch Faltung oder Knickung einer
vorher in einer Ebene gestreckten Ablagerung,
oder nur scheinbare, die durch Überschüttung
einer wallartigen Erhöhung durch vulcanische Aus-
würflinge entstehen kann; woraus die wallförmige
Erhöliung da besteht, ob nur aus einer Vulcan-
schutthäufung oder aus einem von Sedimentär-
schichten gebildeten Sattel, welchen Fall man ja
hier als vorliegend annehmen könnte, ist ganz
gleichgültig; würde festgestellt werden können,
daß hier Trugsattelbildung vorliegt durch Über-
mantelung des von Tertiärschichten gebildeten
Sattels seitens der vulcanischen Asche und sonstigen
Auswürflinge, so müßten die Ablagerungen b' bis
b'" und c' einem vulcanischen Aufschüttungskegel
zugerechnet werden, zu deren Kennzeichen ja ge-
hört, daß ihre unterschiedlichen Ablagerungen von
vulcanischen Auswürflingen machmal doppeltes
Einfallen, nämlich bergein- und -auswärts besitzen,
jener Sattel von Tertiärschichten aber wäre dem-
nach schon vor Beginn der Eruptionen gebildet
worden. Stellt man sich nun den Vorgang der
Übermantelung einer bereits vorhandenen wall-
artigen Erhöhung von dreieckigem Durchschnitte
durch einen Regen von Aschen und Lapilli näher
vor, so wird man zu dem Schlüsse gelangen, daß,
sobald die Böschung der Wall-Flanken einen ge-
wissen geringen Einfallwinkel, nehmen wir an von
10", überschreitet, alles niedergefallene Material
schwerlich an ihnen haften kann, sondern teil-
weise die Böschung abwärts rollen oder rutschen
muß; die Grenzflächen der an der Böschung ent-
standenen schichtenähnlichen Ablagerungen werden
demnach nach dem Wall-Gipfel zu konvergieren
und zwar mit um so größerem Winkel, je steiler
der Abhang war. Von solcher Konvergenz ist
aber an der Tuffschicht (b"), deren Lagerungs-
verhalten am deutlichsten zu erkennen ist und
deren hangende Grenzfläche im allgemeinen mit
20* nach O einfällt, gar nichts zu erkennen, wo-
gegen die von letzterer stellenweise gezeigte flach-
konvexe Wölbung eher für eine echte, sekundäre
Aufsattlung als für eine ursprüngliche Ummante-
lung spricht. Auch fällt die im Hangenden nächst-
folgende Schichtengrenzfläche zwischen b' und c',
welche im Falle der Aufschüttung flacheres Ein-
fallen zeigen müßte, als wie jede der liegenden,
im Gegenteil sogar mit im allgemeinen 50" ein.
Von noch größerer Bedeutung sind jedoch die
Verhältnisse der parallel säulenförmig abgesonderten
Basaltmasse (c'); ihre Lagerungsrichtung (westliches
Einfallen mit 35—40") haben ja die Säulen bei
ihrer Erstarrung erhalten, indem die beiden Grenz-
flächen zugleich Abkühlungsflächen waren; die
geneigte Lage fordert nun zu ihrer Erklärung, daß
diese Basaltmasse dabei entweder als zwischen-
gepreßte Lavamasse einen „Intrusivgang" zwischen
den Agglomeraten b' und d' oder aber eine Dicke
über b', wobei dieses und die Decke selbst hori-
zontal lagen, gebildet hat; jener Annahme wider-
spricht die lockere Agglomeratnatur der Nachbar-
gesteine, welche die Entstehung eines parallel-
flächigen Gangspaltcnraumes zwischen ihnen als
unmöglich erscheinen läßt. Mithin bleibt nur die
Annahme übrig, daß die säulenförmig abgeson-
derte Basaltmasse als Decke auf horizontaler Unter-
lage erstarrt und in ihre heutige, geneigte Lage-
rung erst nachträglich durch eine Aufsattlung ge-
bracht worden ist. Da nun auch bei den unter-
teufenden (iesteinskörpern Sattelbildiuig vorliegt,
wird man die Folgerung, daß dieselben alle bis
hinab zu den tertiären Tonen und Sauden ge-
meinschaftlich und gleichzeitig (und zwar natür-
lich erst nach der Erstarrung der hangenden Basalt-
decke) aufgesattelt wurden, wohl als gerechtfertigt
anerkennen müssen.
Dieses an dem westlichen Teil des Lamsberges
gewonnene Ergebnis hat aber auch für dessen
Ostabhang Geltung, wo wir die Sattelbildung an
den liegenden, tertiären Ton- und Sandschichten
ebenfalls deutlich ausgesprochen finden und an
deren hangenden Agglomerats-Ablagerung wenig-
stens nichts jener Folgerung Widersprechendes zu
erkennen ist; die auch hier vorhandene hangende
Masse von effusivem Basalt hat mithin wahrschein-
lich zu derselben Decke gehört, welche im Westen
bei auf die Hälfte verminderter Mächtigkeit mit
parallel -säulenförmiger Absonderung ausgestattet
wurde.
An den noch beide Schenkel besitzenden Sätteln,
insbesondere an den beiden Sätteln von Ton- und
Sandschichten läßt sich weiter erkennen, daß die
Neigung der zusammengehörigen Schenkel ungleich
ist. Wo wir sonst in Gebirgsprofilen Schichten -
Sättel mit ungleichmäßig geneigten Schenkeln
hintereinander beobachten, finden wir, daß in der
Regel völlige oder angenäherte Parallelität der
gleichsinnig geneigten Schenkel obwaltet. Der
seitliche Druck, dem wir die Schichtenfaltungen
und Aufsattlungen zuschreiben müssen, hat da er-
sichtlich auch solche Parallelität erstrebt. Dabei
ist, wie dies auch daraufhinzielende Versuche in
kleinem Maßstabe ergeben haben, der steilere
Sattelschenkel nach derjenigen Richtung hin ge-
neigt, von welcher aus der Seitendruck wirkte.
Bei den Flanken-Sätteln des Lamsberges herrscht
aber keine Parallelität der gleichsinnig gerichteten
Schenkel ; auch findet bei Untersuchung der Um-
gebung die nächtsliegende Annahme keine Unter-
stützung, daß die Sättel den in den geschilderten
Aufschlüssen vorhandenen Verhältnissen ent-
454
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 29
sprechend geradlinig nach Norden und Süden fort-
streichen und eine ebenso gerichtete Mulde ein-
fassen, welche etwa mit ihrer Muldenspalte dem
vulcanischen Magma als Eruptions-Schlot gedient
haben könnte.
Jene Opposition der steileren Sattelschenkel
an den Abhängen des Lamberges widerspricht also
nach den oben mitgeteilten Erfahrungen sowohl
dem Erklärungsversuche, wonach diese Schichten-
sättel Produkte eines einheitlichen, von außen
wirkenden Gebirgsdruckes, als auch dem, wonach
sie von zwei Druckkräften emporgestaut wären,
welche in einander gerade entgegengesetzten Rich-
tungen von außen wirkten und sich beide alsdann
totliefen oder ausglichen, sie bildet vielmehr ein
Beweismittel dafür, daß der Ausgangspunkt
des aufsattelndenDruckes zwischen beiden
Sätteln, mithin imBerginnern selbst lag ; diese
Annahme besitzt gegenüber jenen anderen Be-
hauptungen auch den Vorzug, daß sie die Gleich-
zeitigkeit der beiden Sattelbildungen mit ein-
schließt.
Ist nun aber der Druck von keiner Fläche,
sondern von einem Punkte ausgegangen und nach
zwei entgegengesetzten Richtungen in ziemlich
gleichem Maße wirksam geworden, so ist hiermit
zugleich die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß er
sich gleichzeitig auch nach allen anderen Rich-
tungen des Horizontes betätigt hat und von ihm
die Schichten rings um das Berginnere
aufgesattelt wurden, also ein Sattel entstand,
dessen Firste oder Sattellinie eine in sich ge-
schlossene Kurve, einen Kreis darstellt. Da eine
solche Kurve durch 3 Punkte in der P^bene be-
stimmt wird, von denen in diesem Falle erst zwei
durch die Steinbruchseingänge geboten wurden,
kam es zum Nachweis des kreisförmig verlaufen-
den Sattels darauf an, noch an mindestens einem
Punkte des Berggehänges einen Aufschluß zu
schaffen. Die Kosten eines solchen zu tragen
übernahm in höchst dankenswerter Weise die
Geologische Landesanstalt in Berlin ; für seine Aus-
führung erschien der Südabhang des Berges nach
seinen Kulturverhältnissen am geeignetsten und
wurde deshalb in demjenigen Niveau, in welchem
man noch Tertiärschichten unter dem Schotter
zu treffen erwarten durfte, ein radial zur Berg-
kuppe gerichteter, über 22 m langer und berg-
aufwärts an Tiefe schnell zunehmender Graben
gezogen, der zunächst rostbraunen Sand von 0,7 m
Mächtigkeit und in dessen Liegendem hellen, fast
weißen und mehr als i m mächtigen Ton er-
schloß. An dem Verlauf der Grenzfläche zwischen
beiden Schichtenkörpern ließ sich nun deutlich
erkennen, daß auch hier eine Aufsattlung vorlag,
an welcher der bergauswärts geneigte Schenkel
mit höchstens lo" nach Süd einfiel, der nördliche
aber die doppelte Neigungsgröße besaß.
Hiermit ist der Nachweis geführt, daß die
eruptive Innenmasse des Lamsberges ringförmig
von einem Schichtensattel, einem R i n g s a 1 1 e 1
umgeben wird, dessen trichterförmiger Innen-
schenkel den Krater des Vulcanschlotes darstellt.
Dieser Umstand legt den Gedanken nahe, daß
der Ringsattel ein vulcanisches Produkt ist; denn
welche andere Tätigkeit als wie die vulcanische
könnte wohl vom Eruptionspunkte aus die Auf-
sattlung bewirkt haben? Nur durch die Verbin-
dung mit der Eruption wird auch die Frage nach
der Bildungszelt des Sattels befriedigend beant-
wortet. Die Art der Kraftbetätigung spricht aber
keineswegs für eine Explosionswirkung und jähe
Entwicklung von Gasen, sondern für einen all-
mählich nach allen Seiten wirkenden Druck. Die
beste Erklärung für solche Bildung vermag wohl
einzig die vulcanologische Theorie von der Volumen-
vermehrung des Eruptivmagmas bei seiner Er-
starrung zu bieten, wie solche seit einer Reihe
von Jahren auch von A. S tu bei vertreten wird:
das an der Mündung des Eruptionsschlotes er-
starrende Magma verschaffte sich einen zur Kuppen-
basis genügenden Raum, indem es die benach-
barten Gesteinsmassen beiseite drängte und zu
einem Ringsattel zusammenschob.
Ein solcher Ringsattelkrater ist meines
Wissens noch an keinem anderen Orte festgestellt
worden. Das dürfte aber seinen Grund nicht
darin haben, daß ein derartiges Vulcangerüst ganz
vereinzelt oder überaus selten wäre, vielmehr darin,
daß die Gerüste der bekannten Vulcane überhaupt
noch sehr wenig erschlossen sind, und daß in den
Fällen, wo natürliche Aufschlüsse Einblick in ihren
Bau gestatten, dieselben Kräfte, welchen die Auf-
schlüsse zu danken sind, nämlich die oberflächliche
Abtragung sowie die weitere Lagerungsstörungen
herbeiführenden Tätigkeiten, das Architekturbild
verwickelt und verwischt zu haben pflegen, so daß
dessen Deutung sehr erschwert wird. Ungleich-
mäßig verteilte Druckwiderstände in den aufge-
sattelten Ablagerungen konnten leicht zur Bildung
von Spalten, Verwerfungen und Überschiebungen
führen und so erhebliche Abweichungen vom
Sattelbau veranlassen. In vielen Fällen wird
die Erkennung eines vorhandenen Ringsattels
schon dadurch vereitelt worden sein, daß der
eine oder andere seiner Schenkel der oberfläch-
lichen Abtragung bereits erlegen ist oder wenig-
stens von dem bergauswärts fallenden Schenkel
nur noch solche Stücke erhalten geblieben sind,
deren geneigte Schichtenstellung nicht in die Augen
fäUt. Doch haben ja eben die mehrorts beob-
achteten, allseitig von dem Eruptionspunkte hinweg-
fallenden Schichtentafeln die tatsächliche Unter-
lage für Buch 's Theorie von den Erhebungs-
kratern geliefert. Den zu einem Trichter ver-
einigten Innenschenkel mögen an manchen Erup-
tionspunkten erneute Betätigungen des Vulcanismus
vernichtet haben. Gleichwohl findet sich schon
in geringer Entfernung vom Lamsberge eine Kuppe,
der Ziegenberg im Habichtswalde, die eben-
falls einen Ringsattelkrater zu besitzen scheint,
wenigstens nach deren von Rosenthal auf Grund
bergbaulicher Aufschlüsse veröffentlichtem Profil,
N. F. m. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
455
indem daselbst der aus der Tiefe emporsteigende
Stiel der Basaltkuppe von den ein Braunkohlen-
flötz enthaltenden Tertiärschichten trichterförmig
umschlossen wird. Bekannt ist auch die ent-
sprechende Deutung von der pilzförmigen Basalt-
masse des M e i ß n e r s (östlich vom Casseler Becken) ;
nun ist dieselbe allerdings in neuerer Zeit nicht
als eine Ouellkuppe anerkannt, sondern ihr Bau
dahin erklärt worden, daß sich da ein Basaltlava-
strom von außen und oben her in ein von einem
Braunkohlenflötze eingenommenes, napfartiges
Becken ergossen und dieses erfüllt habe; in diesem
Falle sollte man aber annehmen, daß die Mächtig-
keit des Braunkohlenflötzes nach dem Becken-
boden zu wachse ; da nun am Meißner gerade das
Gegenteil davon der Fall ist, will die neuere Er-
klärung nicht recht befriedigen und ist zu wünschen,
daß die Lokalforscher die Verhältnisse nochmals
im Hinblick auf die Ringsatteltheorie prüfen. Viel-
leicht dient der am Lamsberge gelungene Nach-
weis eines Ringsattelkraters auch zur Aufhellung
der sehr verwickelten Verhältnisse des Ries- Vulkans
(um Nördlingen, unweit der Donau). Nachdem
daselbst große Schichtschollen-Überschiebungen er-
kannt worden sind, die ebenso wie die dort eben-
falls vorhandenen Aufpressungen älterer Gesteine
durch jüngere hindurch mit der Eruption des
Vulcans in Verbindung gebracht werden,') fehlt
^) Noch eine dritte, im Ries und im ,,Vor-Ries" auf weite
Strecken hin beobachtete Erscheinung, die ,,Vergriesung" wird
als vulcanische Äußerung gedeutet und zwar als eine durch
Gas-Explosionen bewirkte, was jedoch schwer glaublich ist in
•Anbetracht der für (_-rasc ungewöhnlichen Wirkungsweise ; die
verbrcitetste Ausbildungsform dieser Vergriesung besteht näm-
lich darin, daß der Zusammenhalt des davon betroft'cnen Ge-
steins nur gelockert wurde ohne die bei weiter vorgeschrittener
Vergriesung vorhandene Verschiebung der zahlreichen kleinen
Bruchstücke.
es doch für den Überschiebungs-Mechanismus an
einer zentralen Überhöhung; die Annahme eines
vorhanden gewesenen Ringsattels dürfte möglicher-
weise für eine solche größere Wahrscheinlichkeit
bieten als diejenige eines in das Erdinnere wieder
zurückgesunkenen hohen Zentralberges, an dessen
einstige Existenz zu glauben die Mehrzahl der
mit der Erforschung des Rieses beschäftigten Geo-
logen jetzt fordert. — Auch am Mont Pele scheint,
den vorhandenen Schilderungen zufolge, eine An-
deutung einer dem V^ulcaninnern entstammenden
radialen Kraftäußerung vorhanden zu sein in der
gekrümmt konzentrisch verlaufenden Erhebung,
welche im Morne de la Croix nordöstlich vom
Kraterkegel gipfelt.
Ein Rückblick auf die vorstehende Darstellung
läßt also wohl erkennen, daß Buch und Hum-
boldt nicht ganz unrecht hatten, wenn sie der
vulcanischen Tätigkeit auch einen gestaltenden
Einfluß auf die Umgebung der Eruptionspunkte
zuschrieben und das Gerüst des Vulcans von ihm
selbst aufgebaut wissen wollten. Nur irrten diese
Forscher eben darin, daß sie den vulcanischen
Explosionen die auftreibende Tätigkeit zuschrieben ;
von diesen darf man wohl, zumal nachdem Branco
das ungeahnt zahlreiche Vorkommen der von solchen
„Bläsern" erzeugten Mare und Eruptionsschlote
nachgewiesen hat (auch der Vulcanschlot des
Lamsberges ist vermutlich zunächst ausgeblasen
worden, trotz des Vorhandenseins von zwei Aus-
läufern des Lamsberg-Basaltes in der Nachbarschaft,
das auf vorhandene Spalten, vielleicht Radialspalten,
hinweist), als für alle Fälle erwiesen hinstellen, daß
sie die Lagerungsweise der Umgebung des Eruptions-
punktes durchaus nicht ändern; solche Störungen
dürften vielmehr nur bewirkt werden von der Expan-
sion des eruptiven Magmas bei seiner Erstarrung.
Kleinere Mitteilungen.
In der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung
(Nr. 4, Februar 1904, Verlag G. Fischer, Jena)
schreibt Dr. H.E.Schmidt über die Entwick-
lung der Lichttherapie und ihre Bedeutung
für die Behandlung der Hautleiden u. a. fol-
gendes: Unsen machte die Beobachtung, daß sich
bei Menschen, die die Pocken überstanden hatten,
die tiefsten und zahlreichsten Narben an den dem
Lichte ausgesetzten Körperteilen, also im Gesicht
und an den Händen, zeigten und gründete auf
die Annahme, daß die chemischen Lichtstrahlen
einen schädlichen Einfluß auf die Haut ausüben,
seine Behandlung der Pockenkranken im „roten
Zimmer". Durch diese einfache Therapie gelang
es in der Tat, die Eiterung entweder ganz zu
unterdrücken oder wenigstens auf ein Minimum
zu beschränken, so daß die entstellende Narben-
bildung völlig oder fast völlig ausblieb. Ähnlich
günstige Erfolge hat man bei Masern, Scarlatina
und Erysipel erzielt. Streng genommen kann man
diese Behandlung der genannten Exantheme nicht
als „Chromotherapie" bezeichnen, denn nicht das
rote Licht als solches hat diesen Einfluß auf die
schnelle Abheilung der Hauterkrankung, sondern
lediglich die Ausschließung der chemisch wirk-
samen, irritierenden Strahlen. Man kann also eher
von einer „negativen Lichttherapie" sprechen.
Im Gegensatz zu der Lichtbehandlung gewisser
akuter Exantheme, welche durch den Ausschluß
der irritierenden „chemischen" Strahlen wirksam
ist, wird bei der Behandlung des Lupus vulgaris
gerade der schädigende Einfluß dieser Strahlen
nutzbar gemacht. Man kann also hier von einer
,, positiven Lichttherapie" sprechen.
Auf drei Eigenschaften der chemischen Strahlen,
der entzündungerregenden, bakteriziden und Tiefen-
wirkung beruht die Lichtbehandlung des Lupus
vulgaris.
Als Lichtquelle dient eine starke elektrische
Bogenlampe, die mit einer Stromstärke von 70
bis 80 Ampere bei einer Spannung von 50 Volt
brennt, und deren Lichtintensität ungefähr der von
456
Naturwissenschaft liehe Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 29
40000 Normalkerzen entspricht. Im Kreise um
den Lichtbogen herum sind 4 Konzentratoren
Metallröhren mit einem Linsensystem — an-
gebracht, welche die nach allen Richtungen diver-
gierenden Strahlen sammeln (cf. Abbildung 1).
Um die Wärmestrahlen auszuschließen laßt
man das Licht eine im Konzentrationsrohre be-
findliche Schicht destillierten Wassers, die wieder
von beständig zirkulierendem Leitungswasser um-
spült wird, passieren. Dadurch wird schon ein
Teil der Wärmestrahlen absorbiert; immerhin ist
der Rest der in dem Lichtkegel noch enthaltenen
Wärmemenge so groß, daß er im Brennpunkte in
wenigen Sekunden eine Nekrose der Haut her-
vorruft. Dieser Rest wird nun dadurch völlig aus-
erforderlich, die vor allem dafür zu sorgen hat,
daß der Druckapparat, welcher ja zugleich Kühl-
apparat ist, der belichteten Stelle überall fest an-
liegt, da es andernfalls, wie gesagt, zu schweren
Verbrennungen kommt. Die zu belichtende Haut-
partie wird zunächst mit Alkohol und Äther ge-
reinigt, dann 1—2 Stunden bestrahlt. Die durch
die chemischen Strahlen hervorgerufene Reaktion
tritt im Gegensatz zu der, welche die Wärme-
strahlen erzeugen, nicht unmittelbar, sondern erst
einige Stunden nach der Belichtung auf und äußert
sich bei dem konzentrierten Licht der Finsen-
lampen in einer genau dem belichteten Bezirk
entsprechenden Rötung und Blasenbildung. Diese
reaktive Entzündung heilt in 10—20 Tagen ab;
fW. i. Finsenapparat in Tätigkeit.
geschaltet, daß auf die bestrahlte Stelle ein aus
zwei Bergkristallplatten bestehender „Druckapparat"
aufgeleg'twird, in welchem beständig kühlesLeitungs-
wasser zirkuliert, das in dieser dünnen Schicht
nur sehr wenig von den chemisch wirksamen
Strahlen, höchstens einige ultraviolette, absorbiert.
Dieses Kompressorium hat noch einen anderen
Zweck, nämlich den, durch mäßigen Druck die
Haut möglichst anämisch zu machen, da das rote
Blut natürlich gerade so wie die rote Scheibe in
der photographischen Dunkelkammer ein Filter
für die chemisch wirksamen Strahlen bildet und
also die Tiefenwirkung in hohem IVIaße beein-
trächtigt. Für jeden der vier Patienten, die gleich-
zeitig bestrahlt werden können, ist eine Wärterin
erst dann darf dieselbe Stelle von neuem belichtet
werden. . .
Besonders geeignet für die Finsentherapie sind
oberflächliche und nicht vorbehandelte, weniger
geeignet tiefe und in narbiger Haut gelegene
Lupusherde. Die Vorteile dieser Methode vor
allen anderen sind folgende: i. Sie ist schmerzlos,
2. sie wirkt — wie auch die histologischen Unter-
suchungen zeigen — elektiv auf zellige Elemente,
macht also an sich keine Narben und liefert daher
ein unerreichtes kosmetisches Resultat. Auch in
bezug auf Rezidive scheint die Finsentherapie
weitaus die günstigsten Resultate zu ergeben.
Im Gegensatz zu der auf exakter wissenschaft-
licher Grundlage aufgebauten Finsentherapie ist
N. F. m. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
457
eine andere, für die Behandlung der Hautleiden
wegen ihres größeren Anwendungsgebietes noch
wichtigere Methode, nämlich die Röntgentherapie,
eine rein empirische Behandlungsweise.
Nach den klinischen und histologischen Be-
obachtungen kann man rationellerweise nur bei
2 Gruppen von Krankheiten die Röntgenbehand-
lung für indiziert halten, I. bei den sog. Haar-
ausgesendet werden. Das wirksamste Präparat
scheint zurzeit das von der Braunschweiger Chinin-
fabrik hergestellte Radiumbromid zu sein. Die
Ausbeute an radioaktiver Substanz aus dem Roh-
material ist — abgesehen von der mühsamen Her-
stellung — sehr gering, so daß der Preis für i mg
Radiumbromid ungefähr 1 2 Mk. beträgt. Charakte-
ristisch für die radioaktiven Stoffe ist, daß sie im
lig. 2.
Lupus vulgaris vdf und nach der Finsen-Behandlung.
Fig. 4. Fig. 5.
Flacher Hautkrebs vor und nach der Röntgen-Ecstrahlung.
krankheiten, also bei Hypertrichosis, Favus, Sykosis
und Trichophytie und 2. bei den epithelialen Neu-
bildungen, also bei Warzen, Kankroiden und
inoperablen Karzinomen.
Den Röntgenstrahlen in ihren Wirkungen sehr
ähnlich sind die von Becquerel im Jahre 1896
entdeckten und nach ihm benannten Strahlen, die
von bestimmten Bestandteilen der Uranpcchblendc
Dunkeln von selbst leuchten. Diese spontane
Produktion von Strahlen findet fortwährend statt
und scheint unbegrenzt lange Zeit fortzudauern.
Die Radiumstrahlen schwärzen die photographische
Platte und haben eine starke Penetrationskraft,
welche die der Röntgenstrahlen bei weitem über-
trifft; sie wirken bakterizid und erzeugen auf der
Haut ähnliche Veränderungen wie die X-Strahlen.
458
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 29
Vereinzelte therapeutische Versuche bei Lupus
vulgaris, Kankroiden, Karzinomen und Sarkomen
liegen bereits vor. Doch sind derartige Versuche
wegen der deletären Wirkung auf die Haut und
wegen der ungleichen Aktivität der verschiedenen
Präparate, welche allgemein gültige Dosierungs-
vorschriften einfach unmöglich macht , sehr ge-
fährlich. Die Radiumstrahlen besitzen also vor-
läufig lediglich ein wissenschaftliches Interesse.
Inwieweit sie praktisch therapeutisch verwertbar
sein werden, muß spätere Erfahrung lehren.
Bemerkungen zu den Abbildungen.
Es zeigen: Abbildung i den Finsenapparat in
Tätigkeit, Abbildungen 2 und 3 eine Lupuskranke
vor und nach der Finsenbehandlung. Der Fall
beweist, daß auch ein Lupus, der schon zu be-
trächtlichen Zerstörungen der Nase geführt hat,
mit einem ausgezeichneten kosmetischen Effekt
zur Heilung gebracht werden kann.
Die Abbildungen 4 und 5 zeigen einen Fall
von flachem Hautkrebs vor und nach der Röntgen-
behandlung. Links sieht man deutlich den charakte-
ristischen Kankroidwall. Bei der 65 jährigen Patientin
bestand die Affektion seit 4 Jahren. Nach der
dritten Behandlung war das Ulkus überhäutet, der
Randwall abgeflacht, nach der sechsten Bestrahlung
verschwand auch der Rest des Walles völlig. Nach
jeder Bestrahlung trat eine leichte Rötung ein.
Über einen hellfarbigen Typus unter den
Bantunegern berichtet S. P. Verner im „Ameri-
can Anthropologist".') Diese Afrikaner unter-
scheiden sich nicht nur durch ihre Hautfarbe, ein
helles Kupferbraun, das an die nordamerikanischen
Indianer erinnert, sondern durch ihre ganze Er-
scheinung von den typischen Negern. Sie leben
nicht in Stämmen beisammen, sondern sind unter
den verschiedenen Bantustämmen zerstreut. Das
geographische Verbreitungsgebiet dieser hellen
Rasse reicht vom Sudan bis zur Kapkolonie; Verner
nimmt an, daß etwa is";, der Bevölkerung Zentral-
afrikas derselben angehören. Die Anzahl der hell-
farbigen Personen ist relativ am größten unter der
Bevölkerung hochgelegener Landschaften. Sie
scheinen in keiner Weise eine bestimmte soziale
Gruppe zu bilden, obwohl sie körperlich und geistig
besser entwickelt sind als ihre dunklen Stammes-
genossen. Der typische hell-kupferfarbige Afrikaner
ist von hoher Gestalt, schlank, und hat hellbraune
Augen; die Nase, oft mit hohem Rücken, ist
niemals so flach wie bei anderen Negern. Hände
und Füße sind verhältnismäßig klein. Die hell-
farbigen Neger weisen auch hinsichtlich der Schädel-
bildung im Vergleich mit den dunkelfarbigen weit-
gehende Unterschiede auf Sie sind in der Regel
dolichokephal, doch werden auch häufig brachy-
kephale Individuen angetroffen. Die ganze Er-
scheinung dieses Negertypus hat einen mehr
semitischen Charakter, obwohl auch gegenüber den
Semiten auffallende Unterschiede wahrzunehmen
sind. Kulturell stehen die Angehörigen dieser
hellen Rasse höher als die dunklen Neger. Ehen
zwischen den hell- und den dunkelfarbigen Stam-
mesangehörigen kommen nur selten vor; die
Tendenz zur Erhaltung des hellen Typus durch
natürliche Auslese ist eine sehr starke.
Die Frage nach der Herkunft dieser hellen
Rasse gehört zu den schwierigsten Problemen der
afrikanischen Anthropologie. Es ist unwahrschein-
lich, daß spontane Evolution oder lokale Variation
die auffallenden Unterschiede herbeigeführt hätten ;
auch das Eindringen nordafrikanischer (oder medi-
terraner) Volkselemente ist nach Verner aus ver-
schiedenen Gründen nicht anzunehmen, um das
Entstehen der hellen Rasse zu erklären; derselbe
meint hingegen, daß diese die Reste einer Ein-
wanderung asiatischer Völker darstellt, welche
zeitlich von dem Eindringen der Bantuvölker in
ihre gegenwärtigen Wohnplätze durch eine mehr-
hundertjährige Periode getrennt ist. Trotz ihrer
numerischen Überzahl haben es die dunkelfarbigen
Neger nicht vermocht, im Laufe der Jahrhunderte
die späteren Ankömmlinge vollständig zu assimi-
lieren, was in der körperlichen und geistigen
Superiorität der letzteren begründet sei.
Fehlinger.
Eine zusammenfassende Übersicht der durch
Trypanosomen erregten Krankheiten geben
L. Rabino witsch und W. Kempner im
34. Bande des Zentralbl. für Bakteriol. Orig.
Die Trypanosomen sind zu den Flagellaten ge-
hörige einzellige Wesen , die namentlich die Ur-
sache vieler Tierseuchen der heißen Länder sind.
In Indien rufen sie die Surra hervor, welche
Pferde, Maulesel, Hunde, Rinder, Kamele, Büffel
und andere Tiere befällt, in Afrika die Nagana
') „.American Anthropologist", vol. 5, 1903, pag. 539 u. IT.
Erwachsene Trypanosomen aus der Cerebrospinalfiüssigkeit
schlafkranker Neger. (Nach Castellani).
oder Tsetsekrankheit, welche unter den Haustieren
oft ungeheuren Schaden anrichtet, in Algier die
Dourine oder Beschälkrankheit der Pferde, in
Südamerika das Mal de Caderas, gleichfalls eine
Pferdekrankheit. In der menschlichen Pathologie
spielten Trypanosomen bisher nur eine unter-
geordnete Rolle, nur zuweilen traf man sie im
Organismus des Menschen an, neuerdings dagegen
führt man die „Trypanosomiasis" oder das „Gambia-
N. F. m. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
459
fever" auf sie zurück und hat man mit einem
großen Grade von Wahrscheinlichkeit Trypano-
somen als die spezifischen Urheber der sog. Schlaf-
krankheit der Neger erkannt. Diese epidemische
Krankheit versetzt den Kranken in einen schlaf-
süchtigen Zustand, der schließlich fast immer zum
Tode führt. Castellani^) fand den Parasiten
in der Cerebrospinalflüssigkeit solcher Kranken
auf, er besitzt eine wurmähnliche Gestalt , von
welcher das eine Ende in eine Geißel ausläuft,
das andere mehr oder weniger stumpf endet und
eine Vakuole enthält. An der einen Kante des
Körpers verläuft eine undulierende Membran, die
Geißel entspringt von einem terminal gelegenen
Körnchen, dem sog. Mikronukleus oder Zentrosom,
läuft an dem äußeren Rand der undulierenden
Membran entlang und wird schließlich am ent-
gegengesetzten Ende frei (vgl. nebenstehende Figur).
Die Übertragung der Parasiten scheint im all-
gemeinen durch Insekten zu erfolgen, namentlich
durch Stechfliegen. So gilt als Verbreiterin der
Nagana die Tsetsefliege (Glossina morsitans), der
Surra in hidien Tabanus tropicus und Tabanus
lineola , auf den Philippinen dagegen Stomoxys
calcitrans. Letztere Fliege überträgt wahrschein-
lich auch das Mal de Caderas in Südamerika,
während für die Verschleppung der Schlafkrank-
heit wieder die Tsetsefliege verantwortlich gemacht
werden muß.
Morphologisch sind die verschiedenen Trypano-
somenarten, welche hier in Betracht kommen, nur
schwer voneinander zu unterscheiden , weder auf
Grund der Morphologie noch der Entwicklungs-
geschichte läßt sich deshalb eine Artsystematik
zurzeit mit Sicherheit durchführen. Möglich ist
eine solche nur auf Grund ihrer biologischen
Eigenschaften. Da nämlich Tiere, welche man
gegen die eine Seuche immun gemacht hat , für
die andere noch empfänglich sind, so muß daraus
geschlossen werden, daß die Urheber der betreffen-
den Krankheiten verschiedene Arten sein müssen.
J. Meisenheimer.
') Zentralblatt für Bakteriol. etc. Orig. Bd. 35. 1903.
Über Totwasser. — Einem in den Annalen
der Hydrographie (1904, Heft i) enthaltenen Auf-
satz von Kapt. Meyer von der Deutschen See-
warte über „Totwasser" entnehmen wir das Fol-
gende : In seinem Werke „In Nacht und Eis"
führt uns Nansen eine Naturerscheinung vor, die
er deutsch mit dem Namen Totwasser — dänisch
Doedvand — benennt, und die unter den nor-
wegischen Seeleuten allgemein unter diesem Namen
bekannt sein soll. Er sagt zunächst auf S. 146
des ersten Bandes dieses Werkes : „Die „Fram"
hatte Totwasser und wollte fast nicht vom Fleck,
trotzdem die Maschine vollen Druck hatte. Es
ging so langsam, daß ich vorzog, im Boot voraus-
zurudern, um Seehunde zu schießen."
Weiter heißt es auf S. 147: „Wir wollten in
einer kleinen Bucht eine Kesselreinigung vornehmen,
die sehr nötig war, aber wir brauchten mehr als
vier Stunden, um die wenigen Seemeilen zurück-
zulegen , die wir in einer halben Stunde oder
weniger hätten rudern Können. Wir kamen des
Totwassers wegen fast nicht vom Fleck, wir
schleppten die ganze Seeoberfläche mit uns. Ein
eigentümliches Phänomen, dieses Totwasser! Hier
hatten wir mehr Gelegenheit, es zu studieren, als
wünschenswert war. Es scheint nur da vorzu-
kommen, wo eine Süßwasserschicht auf der Wasser-
fläche über dem salzigen Seewasser liegt, und
wird dann wohl dadurch gebildet, daß das Süß-
wasser vom Fahrzeug mitgeschleppt wird, wobei
es über die schwerere Seewasserschicht wie eine
feste Unterlage gleitet. Der Unterschied zwischen
den beiden Schichten war hier so groß, daß wir
der Oberfläche des Meeres Trinkwasser entnehmen
konnten, während das durch den Bodenkran der
Maschine erhaltene Wasser viel zu salzig war, um
im Kessel verwendet werden zu können. Das Tot-
wasser zeigt sich als größerer oder kleinerer Wasser-
rücken oder als Wellen, die sich quer übers Kiel-
wasser erstrecken, die eine hinter der anderen.
Manchmal kommen sie fast bis zur Mitte des
Schiffes. Wir hielten einen gekrümmten Kurs ein,
drehten zuweilen ganz herum und machten alle
erdenklichen Seitensprünge, um los zu kommen,
aber es half alles nichts. Sowie die Maschine
stillstand, wurde das Fahrzeug gleichsam rück-
wärts gesogen."
Endlich heißt es auf S. 149: „Am 2. September
war der Kessel endlich gereinigt. Abends fuhren
wir in südlicher Richtung, aber das Totwasser
folgte uns unausgesetzt. Nach Nordenskjölds Karte
sollen es nur 20 Seemeilen bis zum Taimyr-Sunde
sein, aber wir brauchten die ganze Nacht, um diese
Strecke zurückzulegen. Unsere Geschwindigkeit
war etwa ein Fünftel von dem, was sie unter
anderen Umständen gewesen wäre. Erst um 6 Uhr
morgens am 3. September kamen wir in etwas
dünnes Eis, das uns vom Totwasser befreite. Der
Übergang war fühlbar. In demselben Augenblick,
als „Fram" durch die Eiskruste schnitt, machte
sie einen Satz nach vorn und glitt von da an mit
der gewöhnlichen Fahrt vorwärts. Seit dem Tage
spürten wir das Totwasser nicht viel mehr." So-
weit Nansen in seinem Werke über das Totwasser.
\'on deutschen Seeleuten ist nie ein Bericht
zur Veröffentlichung gelangt, aus dem gefolgert
werden könnte, daß auf dem offenen Meere jemals
die von Nansen beschriebene Erscheinung beob-
achtet worden sei. Wohl aber ist diese Erschei-
nung oftmals vor den Mündungen von Flüssen
und auch in Straßen beobachtet worden. Be-
sonders die Kongomündung und die Georgiastraße
vor der Mündung des Frazerflusses weisen ähn-
liche Zustände auf, wie sie Nansen beschreibt, und
jene Erscheinung ist dort wohlbekannt.
Nach ausführlicher Schilderung einiger Bei-
spiele ob für die Beachtung von Totwasser an den
460
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 29
letztgenannten Örtlichkeiten fährt M. fort: Die an-
geführten Beispiele lassen durchaus keinen Zweifel
darüber, daß in allen Fällen eine wagerechte
Schichtung des Wassers vorhanden war, und zwar
befand sich jedesmal eine Schicht leichten, süßen
Flußwassers fließend auf einer schwereren salzigen
Unterlage von Meerwasser. Ob letztere sich in
allen Fällen ebenfalls in Bewegung befand, ist nicht
sicher, für einige Fälle ist es aber nicht zu be-
zweifeln. Eine solche Schichtung muß aber in
ganz natürlicher Weise den P'ortgaiig und die
Steuerfähigkeit eines Schiffes beeinträchtigen, sofern
das Schiff in beide Schichten taucht, wie weiter
ausgeführt werden soll.
Wenn man bedenkt, daß ein schwimmendes
Schiff vermöge seiner Bauart nur in seiner Kiel-
oder Längsrichtung mit verhältnismäßig geringer
Kraft durch das Wasser bewegt werden oder
solches durchschneiden kann, dagegen in seiner
Dwars- oder Querrichtung nur mit großer Kraft
in minimale Bewegung zu bringen ist, so wird es
begreiflich, wie schwer es halten muß, ein Schiff
vorwärts zu bewegen, das in zwei wagerecht ge-
trennte Wasserschichten taucht, sofern beide nicht
die gleiche Richtungsbewegung haben, es mithin
keine derselben in seiner Längsrichtung durch-
schneiden kann.
Sofern nur ein Unterschied in der Geschwindig-
keit der Bewegungen beider Wasserschichten vor-
handen ist, was der Fall ist, wenn die untere
Schicht still steht und die obere darüber hinweg
fließt, oder wenn beispielsweise die obere mit
größerer Geschwindigkeit als die untere in der-
selben Richtung sich bewegt, so muß sowohl Vor-
wärtsbewegung wie Steuerfähigkeit eines in beide
Schichten tauchenden Schiffes möglich sein, solange
es in der Richtung des Oberflächenstromes steuert.
Die Fahrt des Schiffes durch das Wasser erscheint
alsdann größer, wenn es gegen diesen Strom fährt,
kleiner, wenn es mit ihm fährt, als wenn es nur
in die obere Schicht tauchte, weil es im ersten
Falle weniger, im letzten Falle mehr Wasser zu
durchschneiden hat, als der Oberflächenströmung
allein entspricht. Sobald das Schiff aber mit seinem
Kurse von der Richtung der Oberflächenströmung
abweicht, müssen Schwierigkeiten in der Steuer-
fähigkeit wie auch im Fortgang des Schiffes ent-
stehen, denn durch die fließende oder schneller
fließende Schicht wird das Schiff dann seitlich
gegen die feststehende oder langsamer fließende
Schicht gedrängt und durch den so entstehenden
Druck bis zu einem gewissen Grade festgehalten.
Aus diesem Grunde kann es in der Folge auch
nicht mehr die fließende Schicht in seiner Kiel-
richtung durchschneiden. Die Größe dieses Druckes
richtet sich nach der Dicke und Geschwindigkeit
der fließenden oder schneller fließenden Schicht
und nach der Tauchtiefe des Schiffes in die stehende
oder langsamer fließende Schicht. Beschränken
wir uns der Einfachheit halber und um ein leich-
teres Verständnis zu erreichen, auf den Fall der
stehenden Unterlage.
Ist beim Abweichen von der Stromrichtung
der fließenden Schicht der Druck stark, sei es,
daß die fliei3ende Schicht von beträchtlicher Dicke,
sei es, daß die Geschwindigkeit derselben groß
ist, so muß die Steuerlähigkeit des Schiffes auf-
hören und dasselbe sich infolge des seitlichen
Druckes quer zur Stromrichtung der fließenden
Schicht legen. Etwas Vorwärtsgang kann trotz-
dem noch möglich sein. Es tritt alsdann ein Zu-
stand für das Schiff ein, der dem Aufgrundsitzen
quer im Strome sehr ähnlich ist, weil das Schift
in seiner Querlage nur ganz langsam durch die
stehende Wasserschicht gedrängt werden kann.
Genau so, wie es uns und dem „General Brial-
mont" in der Kongomündung erging. Durch das
an der Luvseite (Luv in bezug auf die Strömung)
des Schiffes aufstauende und an beiden Enden
desselben vorbeifließende Oberflächenwasser ent-
stehen in Lee Wirbel und Neerströme, und durch
den Schiffsdruck gegen die feste Unterlage und
den geringeren Druck an der Oberfläche quillt
auch das Wasser der Unterlage an der Leeseite
empor und tritt bis an die Oberfläche.
Ist der Druck beim Abweichen von der Strom-
richtung nicht sehr groß, so daß derselbe durch
die Ruderlage ausgeglichen werden kann, so leidet
doch der Vorwärtsgang darunter, weil das Schiff
dann die fließende Schicht unter einem Winkel
durchschneiden muß, wie es bei S. M. Kanonen-
boot „Hyäne" und mutmaßlich auch bei der „Fram"
der Fall war. Auch in diesem Falle muß ein
mehr oder weniger breites Kielwasser, je nach
dem Grade der Abweichung von der Stromrichtung,
dem Schiffe folgen. Es mag daher auch der Ein-
druck erweckt werden können , daß die obere
Schicht vom Schiffe mitgeschleppt wird, was in
Wirklichkeit nicht der Fall ist. Es fließt vielmehr
die obere Wasserschicht unter solchen Umständen
genau so am Schiffe entlang, wie das Wasser, wenn
das Schiff nur in eine Schicht taucht.
Nun denke man sich aber den Fall, daß beide
wagerecht getrennten Schichten in eigenen Be-
wegungen sind , die voneinander abweichen. In
solchem Falle kann das Schiff, wenn es in beide
Schichten taucht, niemals beide Schichten gleich-
zeitig in seiner Kielrichtung durchscJineiden. Wenn
es zu der einen Schicht in Kielrichtung liegt, so
muß es von der Richtung der anderen stets um
einen mehr oder weniger großen Winkel abweichen,
der dem Richtungsunterschied beider Strömungs-
bewegungen entspricht. Wenn in solchem Falle
die obere Schicht dick genug ist und das Schiff
gleichzeitig tief genug in die untere Schicht taucht,
so kann das Schift' weder Steuerfähigkeit noch
Fortbewegung erlangen, falls die Stromgeschwindig-
keit beider Schichten nur von einiger Bedeutung
ist. Quer durch das Wasser geht ein Schiff eben
nicht. Durch den aus verschiedenen Richtungen
kommenden Druck muß es in eine Lage kommen,
die der diagonalen Wirkung beider Kräfte ent-
spricht, und die man wohl mit dem Ausdruck
toter Punkt bezeichnen kann. Ähnliche Verhält-
N. F. III. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
461
nisse traf das Schiff „Wilhelm" vor der IVIündung
des Frazerflusses. — — — — — — —
Der Zustand solcher wagerechten Schichtung
des Wassers kann überall dort entstehen, wo ein
unvermittelter plötzlicher Zufluß einer Wasser-
masse möglich ist. Längere Zeit auf größerer
Fläche erhalten kann sich aber solcher Zustand
nur, vi^enn gleichzeitig große Unterschiede im
spezifischen Gewicht beider Wasserschichten vor-
handen sind, wie dies zwischen warmem frischen
Wasser und kaltem Seewasser der Fall ist. Aus
diesem Grunde kann ein dauernder Zustand nur
dort vorkommen, wo plötzlich und unvermittelt
frisches Wasser ins Meer sich ergießt. Man findet
solchen Zustand vielfach in tiefen Buchten, in die
kleine Flüsse münden. — — — — — —
In die meisten Flüsse dringt das Meerwasser
infolge des geringen Gefälles ihres Unterlaufes
und wegen der Gezeiten weit hinein, und die
Mischung von See- und Flußwasser findet im
Flusse selbst statt. Man bezeichnet diese Mischung
gewöhnlich mit dem Namen „Brackwasser". Vor
den Mündungen solcher Flüsse findet eine wage-
rechte Schichtung des Wassers daher nicht statt.
Ein Zustand der Schichtung so, daß die Steuer-
fähigkeit und der Fortgang von Schiffen dadurch
wesentlich beeinträchtigt wird, erfordert daher be-
sondere Vorbedingungen. In den nördlichen Ge-
wässern mag ein solcher Zustand durch Schmelzen
von Treibeis und Schnee zu gewissen Zeiten
dauernder sich gestalten können, und daher das
durch die Steuerunfähigkeit von Schiffen in Er-
scheinung tretende Phänomen Totwasser allge-
meiner bekannt geworden sein, als es sonst der
Fall ist.
Die Spektra von 0 Ceti und ;; Cygni. —
Das Spektrum der Mira Ceti ist mit dem 36-
zölligen Refraktor der Licksternwarte durch Steb-
bins vom Juni 1902 bis zum Januar 1903 photo-
graphiscli verfolgt worden, d. h. während eines
Zeitraums, in welchem die Helligkeit von der
3,8. Größe bis zur 9,0. Größe herabsank, so daß
dementsprechend die Expositionsdauer von 45 Mi-
nuten bis auf 5 Stunden erhöht werden mußte.
Der ausführliche Bericht über diese wichtige Ar-
beit (Astrophysical Journal, Dez. 1903) unter-
scheidet dreierlei Erscheinungen am Spektrum der
Mira: Ein Absorptionsspektrum mit schmalen,
dunklen Linien, ein Bandenspektrum und ein aus
hellen Linien bestehendes Emissionsspektrum.
I. Das Absorptionsspektrum ist demjenigen
der Sonne nur wenig ähnlich, da die Intensitäts-
verhältnisse der dunklen Linien wesentlich andere
sind. So sind die Kalziumlinien g, H und K
zwar im Stern vorhanden, aber g ist bei weitem
am stärksten, während im Sonnenspektrum be-
kanntlich H und K durch große Breite und Deut-
lichkeit ausgezeichnet sind. Die starken Eisen-
linien des Sonnenspektrums treten im Miraspektrum
sehr wenig hervor, und ähnlich steht es auch mit
anderen Linien. Sicher festgestellt sind durch
dunkle Linien im Miraspektrum die Elemente Ca,
Fe, Cr, V (durch 1 1 Linien), .'\1 und Sr. Ver-
änderungen ließen sich sicher erkennen an der
Kalziumlinie g, welche immer breiter wurde, je
mehr die Helligkeit des Sterns abnahm. Bei
mehreren anderen Linien ist die gleiche Erschei-
nung wenigstens als wahrscheinlich zu bezeichnen.
Einige Linien wurden überhaupt erst auf den
späteren Aufnahmen wahrnehmbar, diese haben
die Wellenlängen 3991, 4045, 4094 und 4097. Ihnen
entsprechende Sonnenlinien konnten nicht gefunden
werden.
2. Das Bandenspektrum besteht aus vorwiegend
zwischen Hy und H; liegenden Banden, deren
Herkunft noch nicht mit Sicherheit bestimmt werden
konnte. Betrachtet man die Banden als dunkle
Absorptionsbanden, so liegt ihre scharfe Begrenzung
durchweg nach der violetten Seite zu. Das kon-
tinuierliche Spektrum zeigte, wie bereits Sidgreaves
1897 bemerkt, eigenartige Veränderungen in der
Helligkeitsverteilung. Während der Lichtabnahme
des Stern wurde dasselbe zwischen den Wellen-
längen 4300 und 5000 schwächer im Vergleich
zu dem zwischen 4000 und 4300 liegenden Teile.
Es kann diese Erscheinung auch so aufgefaßt
werden, daß einige helle Banden zwischen 4300
und 5000 schwächer geworden sind.
3. Das Emissionsspektrum ist für Mira Ceti
besonders charakteristisch und daher zur Zeit des
Maximums auch früher schon von Wilsing, Camp-
bell u. a. studiert worden. Auf den neuen Lick-
Aufnahmen waren H ^, H,, H,!, Ht und einige andere,
zum Teil dem Eisen angehörende Linien hell. H <
und Hf schienen im Vergleich mit den übrigen
Wasserstoff linien intensiver zu werden mit ab-
nehmender Sternhelligkeit. Besonders interessant
sind die vermutlich dem Eisen zugehörigen Linien
4308 und 4376. Hier scheinen helle Linien vor-
zuliegen, die auf der roten Seite von dunklen be-
gleitet werden. Das Emissionsspektrum scheint
überhaupt gegen das Absorptionsspektrum nach
Violett hin verschoben zu sein. Die hellen Linien
wiesen vielerlei zeitliche Veränderungen der Hellig-
keit auf; ja einige auf den früheren Platten noch
nicht sichtbare Linien (z. B. 459 1) wurden später
heller als die WasserstofTlinien. Diese starken
Veränderungen der hellen Linien zeigen, daß der
Lichtwechsel von Mira Ceti durch andere Ur-
sachen bedingt ist, als durch allgemeine Absorption.
Diese Ursachen dürften nach Stebbins in inneren
Kräften zu suchen sein, da die Konstanz der
während des ganzen Beobachtungszeitraumes ge-
messenen Linienverschiebungen die Klinkerfues-
sche Theorie des dunklen Begleiters unwahrschein-
lich macht.
Ganz ähnlich wie 0 Ceti verhält sich nun auch
der etwas weniger bekannte Veränderliche x Cygni,
der zwar nie so große Helligkeit im Maximum
erreicht wie Mira, aber eine Periode von ähnlicher
Länge (406 Tage) und LInregelmäßigkeit zeigt
und wie Mira im Maximum durchaus nicht immer
die gleiche Helligkeit erreiciit, sondern das eine
462
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 29
Mal bis zur 4. Größe anwächst und ein anderes
Mal dem bloßen Auge unsichtbar bleibt. Es war
zu vermuten, daß beide Sterne auch ein ähnliches
spektrales Verhalten zeigen würden. Dies hat sich
durch eine Reihe von Aufnahmen aufs beste be-
stätigt, die am Potsdamer photographischen Re-
fraktor gemacht und von Eberhardt im Oktober-
heft des Astrophysical Journal beschrieben wurden.
Auch % Cygni zeigt neben einem schwachen Ab-
sorptionsspektrum , das nur zur Zeit des Licht-
maximums photographiert werden konnte, einige
Banden und eine Anzahl heller Linien, unter denen
die Wasserstofflinien besonders intensiv leuchten.
Die Intensitätsverhältnisse der dunklen Linien sind
auch bei diesem Stern wesentlich andere als im
Sonnenspektrum und ähneln mehr dem Spektrum
von « Herculis. Das Vorhandensein der Elemente
Ca, Ti, Cr, V, Fe, Mg konnte sicher festgestellt
werden. Unter den hellen Linien, von denen W^
anfangs am stärksten war, wurden gleichfalls zeit-
liche Intensitätsschwankungen beobachtet, nament-
lich wurde die dem Eisen zugehörige Linie 4308 um
so stärker, je mehr die Helligkeit des Sterns ab-
nahm. Interessant ist auch die im Miraspektrum
ebenfalls hell vorhandene Linie 3906, die dem Si
angehört. Auch eine Verschiebung des Emissions-
spektrums gegen das Absorptionsspektrum nach
Violett hin (entgegengesetzt wie bei neuen Sternen)
wurde von Eberhardt gemessen. Die Geschwindig-
keit in der Gesichtslinie ist für die Emissions-
linien konstant gleich — 20 km, dagegen für den
das kontinuierliche Absorptionsspektrum liefernden
Bestandteil des Sterns aller Wahrscheinlichkeit nach
in engen Grenzen variabel (nach Eberhardt's Mes-
sungen zwischen -[-2,5 und — 2,3 km).
Die außerordentliche Ähnlichkeit in der Be-
schaffenheit und den Veränderungen der Spektra
von o Ceti und x Cygni macht es sehr wahrschein-
lich, daß dieses spektrale Verhalten für die ganze
Klasse der Veränderlichen vom sog. Mira -Typus
charakteristisch ist. F. Kbr.
Als Verant bezeichnet M. von Rohr einen
von ihm erfundenen, einfachen Apparat, der die
richtige Betrachtung von Photographien ermög-
lichen soll. Einer über diesen Apparat handeln-
den Abhandlung von E. Wandersieb (Verh. d.
physik. Gesellschaft, VI, Nr. i) entnehmen wir das
Folgende. Die Betrachtung einer Photographie
mit Hilfe einer Linse von derselben Brennvi'eite f,
wie sie das aufnehmende Objektiv hatte, kann
deswegen der Forderung des richtigen Sehens
nicht genügen, weil wir bei der Betrachtung einer
wirklichen Landschaft unser Auge nicht ruhen
lassen, sondern dasselbe zum Zwecke der direkten
Betrachtung der einzelnen Gegenstände beständig
um einen Punkt drehen, der etwa i cm hinter
der Pupille liegt. Wir müssen deshalb zur Er-
reichung der richtigen Perspektive im direkten
Sehen das Bild in den Abstand f vom Drehungs-
punkte des Auges, oder in den Abstand f — i cm
von der Pupille bringen. Die Bedeutung des
Augendrehungspunktes ist zuerst von A. Gullstrand
in Üpsala erkannt worden und die mit Rücksicht
auf sie eben angegebene Betrachtungsregel weicht
bei den gewöhnlich bei Landschaftsaufnahmen
angewandten Brennweiten von 10 bis 16 cm schon
recht merklich von der früher befolgten Regel
ab. Es entstehen bei der Betrachtung aus zu
großem Abstände, wie sie ohne Anwendung von
Linsen fast stets erfolgt, jene bekannten Fälschun-
gen der Perspektive, die den Hintergrund zu klein
erscheinen lassen usw. Der von M. v. Rohr er-
sonnene Verant besteht nun aus der Kombination
einer Konkavkonvexlinse mit einer Bikonkavlinse.
Der Vorzug dieses Systems besteht in einem von
Verzeichnung, Astigmatismus und Farbenfehlern
freien, großen Gesichtsfeld (über 60") und, da der
Kreuzungspunkt der Hauptstrahlen 27.2 cm hinter
der Linse liegt, so kann derselbe mit dem Drehungs-
punkte des betrachtenden Auges zusammenfallen.
Der von der Firma C. Zeiß ausgeführte Verant
läßt uns daher in der Tat schon bei monokularem
Sehen einen sehr plastischen und natürlichen Ein-
druck des Bildes gewinnen, insbesondere kann
man z. B. das ,, Stürzen" vertikaler Kanten, die mit
aufwärts gerichtetem Objektiv aufgenommen wur-
den, überraschend gut mit seiner Hilfe korrigieren.
— Neben dem Einzelveranten hat v. Rohr auch
einen Doppelveranten konstruiert, der im wesent-
lichen ein Helmholtz'sches Linsenstereoskop ist,
dessen Linsen eben Verantlinsen sind, und bei
welchem die beiden zu vereinigenden Bilder nicht
fest miteinander verbunden, sondern zugleich mit
den Verantlinsen seitlich verschiebbar sind, so daß
die Anpassung an den Augenabstand ohne Störung
der Verantwirkung ermöglicht wird. F. Kbr.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der XIV. internationale Am erikanisten- Kon-
greß wird am Donnerstag den 18. bis Dienstag den 23. August
1904 in Stuttgart staltfincden. Anmeldungen werden erbeten
an die Adresse des Generalsekretärs des Organisationskomitecs
Herrn Oberstudienrat Dr. Kurt Lampert, Stuttgart, Arclnvslr. 3.
Bücherbesprechungen.
L. Darapsky, Altes und Neues von der
Wiinschelrut e. Leipzig, F. Leineweber, 1903.
— 1,50 Mk.
Was Naivität und Aberglaube unbewußt, was
Schlauheit und Berechnung absichtlich der Wünschel-
rute an wunderbaren Eigenschaften zugeschrieben
haben , bietet Herr Darapsky in einem unterhaltlich
zu lesenden und hübsch geschriebenen Büchelchen
dem Leser dar. Der Gegenstand ist durch die
famosen Beobachtungen, welche der „Prometheus" im
Anfang des vorigen Jahres brachte , sehr zeitgemäß
und ich hoffe, daß die Rutengänger manchen schätzens-
werten Hinweis auf die sonstigen Wundertaten ihrer
Gerte mit Dank annehmen und weiter ausbilden wer-
den. Eine kurze Cleschichte des Aberglaubens der
sog. Kulturvölker hat der Verfasser mit vielem Humor
hier gehefert und gezeigt, daß trotz Baco von Veru-
N. F. III. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
463
lam , Theophr. Paracelsus und J. G. Agricola das
Mittelalter nicht dümmer war, als die Verehrer der
Haselgerte in der Jetztzeit. Übrigens sind wir Deutsche
in diesem Betracht die reinen Waisenknaben gegen-
über dem, was man in jüngster Zeit noch in England
über diesen Spuk mit vieler Andacht gedruckt ans
Tageslicht brachte. Leppla.
Dr. Karl Rufs, Einheimische Stuben vögel.
Vierte, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auf-
lage von^Karl Neunzig. Mit über 150 Bildern im
Text und 1 3 Tafeln^und l''arbendrucken. Magde-
burg 1904. Creutz'sche Verlagsbuchhandlung. —
Preis geb. 6,50 Mk.
Wer die ersten , bescheidenen Auflagen gekannt
hat, wird sich über die Umwandlung freuen , die das
Buch in seiner jetzt vorliegenden 4. Auflage äußer-
lich und innerlich erfahren hat. Es ist über seinen
bisherigen Inhalt weit hinausgewachsen. Ruß, der
Begründer des Buches, war praktischer Vogelliebhaber
und -Züchter und was er in seinen ersten Büchern
mitteilte, waren größtenteils eigene Erfahrungen und
Beobachtungen aus der Vogelstube. In der neuen
Bearbeitung ist das von Ruß gesammelte , wertvolle
Material zwar als Grundstock beibehalten , es hat
aber eine wesentliche P>gänzung und Erweiterung und
vor allen Dingen eine wissenschaftliche Vertiefung
auf der Grundlage der einschlägigen Werke von
Naumann, Reichenow, Berlepsch u. a. erhalten. Das
Werk ist dadurch auch für den Ornithologen von
Fach wertvoll geworden. Diesem mehr wissenschaft-
lichen Inhalte entspricht die vornehme Ausstattung
des Buches in Papier, Druck und Format, sowie der
beigegel)enen Tafeln und Bilder, deren einige den
in kolorierten .\bbildungen von Pflanzen und Tieren
so häufig bemerkten Fehler einer allzu lebhaften, das
Natürliche überschreitenden Färbung allerdings eben-
falls tragen. Dr. Boettger.
J. E. Schoute, Assistent am botanischen Institut der
Reichsuniversität Groningen, Die Stelär-Theorie.
Gustav Fischer in Jena u. P. Noordhofif in Groningen.
— Preis 3 Mk.
van Tieghem zergliedert die pflanzlichen Organe
der Pteridophyten und Phanerogamen histologisch-
topographisch in Epidermis, Rinde und Zentralzylinder.
Epidermis faßt er im alten Sinne als einzellschichtig.
Die Rinde scheidet sich in die innerste Lage, die Endo-
dermis, und auch die äußerste Rindenlage ist oft be-
sonders ausgebildet (Exodermis Vuillemin's). Der Zentral-
zylinder besitzt außen den Pericykel : eine ein- bis
mehrschichtige Gewebezone , von der manche Neu-
bildungen (Kork, Nebenwurzeln, Adventivknospen) aus-
gehen. Konjonktiv nennt v. T. das aus Pericykel,
Markverbindungen und Mark gebildete Gewebe. „Astel''
sind Organe mit ,, zerrissenem" Zentralzylinder : die
Leitbündel sind Je von einer besonderen Endodermis
und einem pericykelartigen (iewebe umgeben, das
hier aber ,,Peridesm" heißt. „Polystele" Organe be-
sitzen viele (konzentrisch gebaute) Zentralzylinder usw.
Verfasser erläutert so die von van Tieghem ein-
geführten Termini und den V'orteil, den sie haben.
Seine Arbeit liegt in der Richtung der alten ,, morpho-
logischen" Schule, wie sie auf anatomischem Gebiet
insbesondere Hanstein gepflegt hat. Schoute sucht
aber die van Tieghem'sche ,, Stelär-Theorie" gegen-
über der bekannten Hanstein'schen Einteilung zu ver-
teidigen.
Friedr. Wickert, Der Rhein und sein Ver-
kehr, mit besonderer Berücksichtigung der Ab-
hängigkeit von den natürlichen Verhältnissen.
Forschungen zur deutschen Landes- und Volks-
kunde. Herausgeg. von A. Kirchhoft'. XV. Band.
Stuttgart, J. Engelhorn, 1003. — 12 Mk.
An der Hand der natürlichen Stromverhältnisse
des Rheines, der Beschaffenheit seiner Ufer, seines Bettes,
seines ( lefälles, der Wassermengen und -höhen untersucht
der Verfasser die Entwicklung des Verkehrs auf dem
Hauptstrom und den Nebenflüssen. Die Wirkung und
Bedeutung der Korrektionen, der Kanalisationen, der
Häfen, der Einfluß der verschiedenen Arten der
Tiiebkräfte auf die Fahrzeuge werden untersucht und
durch zahlreiche statistische Angaben belegt. Ein
Triumph der Technik, dem weitere nachfolgen sollten.
Die Schiffahrt ist abhängig von dem Wasserstand
des Flusses. Ihr größtes Hindernis bildet das Nieder-
wasser, auf den Kan.Tlen das Eis. Mit Hilfe der
Technik sind Main und Neckar wieder schiffbar ge-
macht worden, der Rheinverkehr hat ihr seinen ge-
waltigen Aufschwung zu verdanken. Hätte sie uns
nicht die Mittel gegeben, um Korrektionen, Regulie-
rungen, Kanalisationen auszuführen, hätte sie uns nicht
mit Dampfschiften, insbesondere mit Tauern (Main
und Neckar) und starken Schleppern beschenkt, so
würde der Verkehr auf dem Rhein auch heute noch mit
großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, und seine
Abhängigkeit vom Wasserstand wäre noch viel größer.
Leppla.
i) Prof. Dr. Wilh. Schmidt, Astronomische
Erdkunde. (Teil VI der „Erdkunde", herausgeg.
von M. Klar.) Mit 81 Holzschnitten und 3 lith.
Tafeln. 231 Seiten. Leipzig u. Wien, F. Deu-
ticke, 1903. — Preis 7 Mk.
2) Dr. Kurt Geilster, Anschauliche Grund-
lagen der mathematischen I> d k u n d e.
Mit 52 Figuren. 199 Seiten. Leipzig, B. (;. Teubner.
1904. — • Preis geb. 3 Mk.
Nr. I ist ein mit großer Sorgfalt didaktisch aus-
gearbeitetes Lehrbuch, das an vielen Stellen die lang-
jährige pädagogische Erfahrung des Verf erkennen
läljt und den Text durch viele, originelle Zeichnungen
und Figuren zu klarem Verständnis zu bringen sucht.
Besonders glücklich erscheint Ref. die Benutzung der
orthogographischen Projektion der Himmels- und Erd-
kugel zur einfachen Herstellung der in den Figuren
24, 25 und 29, 45, 46 dargestellten scheibenförmigen
Apparate, die für die Erläuterung des Jahreszeiten-
wechsels und für Ablesung der Tagbögen etc. fast
genau ebensoviel leisten wie ein Himmelsglobus bzw.
Tellurium. Auch der Apparat zur Demonstration der
in allen Azimuten gleich großen Azimutänderung der
Gestirne am Horizont (Fig. 48) ist recht brauchbar
464
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 29
und es ist nur zu billigen, daß das Foucault'sche
Pendel und die Ablenkung der Winde auf diese
Weise erklärt werden. Im ganzen ist das Buch in
erster Linie für Lehrer zur Vertiefung ihrer Vorbe-
reitung auf den Unterricht berechnet, dem entspricht
ein umfangreicher Schluljteil „Zum LTnterricht der
astronomischen Erdkunde an Mittelschulen" (S. 174
bis 219). Für Anfänger würde wohl auch der Text
hin und wieder nicht durchsichtig genug und die
Figuren vielfach nicht recht verständlich sein. Auf-
fallend kurz ist die Sonnenuhr behandelt. Bei dem
Bestreben des Verf. nach Anschaulichkeit läge es doch
nahe, die vom Endpunkt des Schattens eines vertikalen
Stabes beschriebenen Kegelschnitte genauer zu be-
schreiben und ein mit ihrer Hilfe zu fertigendes, zur
gleichzeitigen Bestimmung der Tages- und Jahreszeit
Martin, Prof. Dr. Paul: Lehrbuch der Anatomie der Haus-
tiere. (An Stelle der IV. Aufl. des Franck'schen Hand-
buches der Anatomie der Haustiere.) 13. (Schlurs-)Lfg.
II. Bd.: Beschreibende Anatomie der einzelnen Ilaustier-
arten. Mit S33 Textfig. (XI u. S. 961 — 1217.) gr. 8».
.Stuttgart '04, Schickhardt & Ebner. — 7 Mk. (2. Bd. 3iMk. ;
geb. in Halbfrz. 34 Mk.)
Stratz, Dr. C. H. : Die Entwicklung der menschlichen Keim-
blase. (32 S. m. 14 teils färb. Abbildgn. u. 3 färb. Taf.)
gr. 8". Stuttgart '04, F. Enke. — 3 Mk.
Briefkasten.
Herrn G. in B. — Frage: Welche Tiere bilden die
Pusleln auf der Apfelsinenschale und ähnliche auf andern
Früchten? — Antwort: Die kleinen braunen Pusteln, die
man so häufig auf Apfelsinen findet, sind nicht etwa gallen-
artige Umbildungen des Pflanzenkörpers, wie Sie anzunehmen
scheinen, sondern die Rückenschilde weiblicher Schildläuse.
Es sind das eigentümliche Bildungen, die zuerst bei der Larve
dienendes Solarium nach Art des von AugUStUS im als getrennte Wachsfäden auftreten um sich später zu einer
alten Rom errichteten zu behandeln.
2) Das Geißler'sche Buch ist mehr zum Selbst-
studium bestimmt. Sehr viel (Gewicht wird auf Übun-
gen, d. h. unbeantwortete Fragen, gelegt. Der vom
Verf. benutzte, aus Spielreifen herzustellende „Zonen-
apparat" scheint Ref weniger praktisch als die An-
schauungsmittel, die in dem Werke von Schmidt be-
schrieben werden. Die Erklärung der Ebbe und Flut
im Anschluß an die vorangegangene , nicht recht be-
friedigende Besprechung der Evektion des Mondes
festen Schale zu verdichten. Bei der Häutung wird der jetzt
neugebildete Schild durch die abgestreifte Haut verstärkt.
Diese definitiven Schilde bestehen nur zum geringeren Teile
aus Wachs, da sie weder an der Flamme schmelzen, noch sich
in Chloroform etc. lösen. (Reh in: Zool. Anz. v. 23, 1900,
p. 502 u. Biol. Zentralbl. v. 20, 1900, p. 743). Die einge-
sandte Art, welche die Form einer Miesmuschel (Mytilus) im
kleinen wiedergibt, man könnte sie auch kommaförmig nennen,
gehört zur Gattung M y ti 1 asp is (Syn. : Lepidosaphes) und
zwar ist es die auf Orangen häufigste Art M. citricola
(Pack) (Syn.; L. bcckii Newm.). Außer dieser etwa 2 mm
langen und an der breitesten Stelle etwa ^4 "i™ breiten Form
Ijommt gelegentlich noch eine gestrecktere, zartere Art der-
scheint dem Ref. ein verfehlter Versuch zu sein, hier selben Gattung (ca. 272 mm lang und V3 mm breit) M. glo
(Pack) und eine schwarze, fast viereckige kleine Form
(ca. l'/jmm lang und '/a mm breit) Parlatoria zizyphus
(H.Luc.), in größerer Zahl seltener auch Parlatoria per-
gandii Comst. und P. proteus Curt. auf Apfelsinen vor
(vgl. Reh in; Illustr. Zeitschr. f. Entom. v. 5, 1900, p. 161
u. Biol. Zentralbl. 1. c). — Dünnschalige Früchte der ver-
schiedenen Art findet man weit seltener mit Schildläusen be-
setzt. Auf einheimischen Früchten fand man bi.sher Myti-
laspis pomorum Bche (Lepidosaphes ulmi L.) und Aspi-
diotus ostreaeformis Curt. (Reh in: Illustr. Zeitschr.
f. Entom. V. 4, 1899, p. 361). — Zu den Schildläusen, die
gelegentlich auf Apfel und Birnen gehen, gehört auch die be-
rüchtigte San -Jose -Schildlaus. Es mußte deshalb bei dem
ersten so verheerenden Auftreten dieses Tieres in Amerika
auch die Gefahr der Einschleppung auf Früchten in Erwägung
gezogen werden (vgl. Reh in: Mitt. naturh. Mus. Hamb. v. 16,
1899, p. 123). Die San-Jose-Schildlaus, Aspidi otus perni-
ciosus Comst., unterscheidet sich von den oben genannten
Orangeschildläusen und von den meisten bei uns heimischen
Schildlausartcn durch ihre kreisförmige Gestalt und durch ihre
graue, am mittleren Buckel rötlichgelbe Farbe. Ihr Durch-
messer ist 1 — 1,4 mm. Die einzige schwer, nur bei etwa
300 facher Vergrößerung sicher, von dieser unterscheidbare ein-
heimische Art ist Asp. ostreaeformis (vgl. Frank und
Krüger, Schildlausbuch, Berlin 1900). In der Schausamm-
lung des Berliner zoologischen Museums (Insektensaal, Mittel-
schrank) hat Herr Dr. Kuhlgatz alle hier genannten Ob-
jekte aufgestellt. — Die Larven der Schildläusc sind beweg-
lich. Sie suchen einen zum Ansaugen geeigneten Punkt auf
und nun tritt bei ihnen eine sehr weitgehende Umwandlung,
eine Rückbildung der Beine und die Entwicklung des großen
Rückenschildes ein. Der von jetzt ab unbewegliche Körper
wird, ebenso wie nach dem Tode des Tieres die Eier, durch
den Schild geschützt. Dahl.
Inhalt: Otto Lang: Der Lamsberg bei Gudensberg. — Kleinere Mitteilungen: Dr. H. E. Schmidt: Die Entwicklung
der Lichttherapie und ihre Bedeutung für die Behandlung der Hautlciden. — S. P. Verner: Über einen hellfarbigen
Typus unter den liantunegern. — L. Rabin owitsch und W. Kemper: Durch Trypanosomen erregte Krankheiten.
— Meyer: Über Totwasser. — Stebbins; Die Spektra von o Ceti und x Cvgni. — M. von Rohr: Verant. —
Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: L. Darapsky: Altes und Neues von der Wün-
schelrute. — Dr. Karl Ruß; Einheimische Stubenvögel. — J. E. Schonte: Die Stelär-Theorie. — Friedr.
Wickert: Der Rhein und sein Verkehr. — 1) Prof Dr. Wilh. Schmidt: Astronomische Erdkunde. 2) Dr. Kurt
Gcißlcr: Anschauliche Grundlagen der mathematischen Erdkunde. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
soll das näher liegende aus der durch eigene Be-
obachtung doch sicherlich nicht bekannt gewordenen,
also rein theoretisch gelehrten und fernliegenden Tat-
sache einer Unregelmäßigkeit der Mondbewegung
erläutert vv^erden. Auch mit dem Bestreben des Verf ,
in den Unterricht dieses Faches Reimregeln einzu-
führen, können wir uns nicht einverstanden erklären.
Im sprachlichen Unterricht, wo es sich vielfach um
rein gedächtnismäßige Aneignung der Geschlechter etc.
handelt, sind Reimregeln gewiß am Platze, aber in
der inathematischen Geographie, wo alles nur auf das
anschauliche Verständnis ankommt, können sie nur
schädlich wirken. Wenn der Schüler den Vers lernt:
„Westlich ist noch nicht so weit Wie im Ost die
Sonnenzeit", so wird er nur gar zu gern die anschau-
liche Begründung dieser Tatsache vergessen , anstatt
sie durch beständige Übung der Anschauung zu festi-
gen. Übrigens ist das Buch nur als ein erweiterter
Abdruck der vor einigen Jahren in der „Sammlung
Göschen" erschienenen mathematischen Geographie
desselben Verfassers zu bezeichnen. F. Kbr.
Literatur.
Gray, Prof Andrew: Lehrbuch der Physik. Deutsch v. Prof.
Dr. Fei. Auerbach. I. Bd. Allgemeine u. spezielle Meclianik.
(XXIV, 838 S. m. 400 Abbildgn.) gr. 8°. Braunschweig
'04, F. Vieweg & Sohn. — 20 Mk. ; geb. in Leinw. 2 1 Mk.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichtcrfelde-West b. Berlin.
Druclc von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buclidr.), Naumburg a. S.
Einschlierslich der Zeitschrift „DlC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 24. April 1904.
Nr. 30.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis isv M. 1.50. Hringegeld bei der Post 1|
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446-
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlcrinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Konjugation und natürlicher Tod.
rNachdruck verboten.
Von G.
So unerbittlich wahr und selbstverständlich uns
die Tatsache erscheint, daß alles Lebendige dem
Tode verfallen ist, die Wissenschaft hat bis heute
noch keine befriedigende Deutung der physio-
logischen Ursachen des natürlichen Todes gefunden.
Der Erkenntnis des Lebens und seiner Entstehung
sind wir durch die gewaltigen Fortschritte der
Biologie näher gekommen. Darum dürfte es mög-
lich sein, mit dem Material, das diese Wissenschaft
uns an die Hand gibt, auch die Frage, warum
das entstehende Leben den Todeskeim in sich
trägt, kurz, das Geheimnis des natürlichen Todes
in ein helleres Licht zu rücken. Von diesem Ge-
sichtspunkte aus wollen wir untersuchen, welcher
Kausalnexus zwischen dem Leben und speziell
seinem erhaltenden Prinzipe, der Fortpflanzung,
und seinem Negativ, dem Tode, bei niedersten
einzelligen und höheren mehrzelligen Lebewesen
besteht, um uns ein Bild von den in der Natur
der Organismen begründeten Ursachen des Todes
machen zu können.
Wenn ein einzelliges Infusor oder ein Bakte-
rium sich fortpflanzt, so zerfällt es, ganz äußerlich
betrachtet, in zwei Hälften, die für sich wieder
Heilig.
neue Lebewesen bilden. Die Mutterzelle stirbt
als Individuum. Die Tochterzcllen pflanzen sich,
wenn man die günstigsten Bedingungen annimmt,
auf dieselbe Weise fort, und so ergibt sich eine
kontinuierliche Kette von Organismen. Theoretisch
könnte man die Fortsetzung dieser ungeschlecht-
lichen Fortpflanzung ad infinitum annehmen, da
die Tochterzellen, was sie durch die „Geburt" im
Verhältnis zur Mutterzelle an Größe und Stoff-
reichtum eingebüßt haben, durch Wachstum er-
setzen. Nun haben aber die Beobachtungen von
ausgezeichneten Forschern wie Bütschli, Engel-
mann, Gruber, R. Hertwig und besonders Maupas
den Nachweis erbracht, daß nach einer gewissen
Zeit ungeschlechtlicher Fortpflanzung eine typisch
geschlechtliche eintritt, eine Konjugation, deren
Prinzip das Verschinelzen der auf die Hälfte re-
duzierten Kernsubstanzeti zweier Zellen ist. Be-
sonders bei den hochentwickelten Infusorien hat
Maupas Vorgänge nachgewiesen, die fast bis auf
Einzelheiten in den Befruchtungsvorgängen bei
höheren Metazoen ihre Analoga finden. Es be-
steht bei ihnen sozusagen schon ein Fortpflanzungs-
organ, der Mikronucleus. In unendlich einfacherer
466
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 30
Form ist die Konjugation bei Baciliariaceen be-
obachtet worden. Hier verschmelzen sclieinbar
zwei Individuen mit ihrem ganzen Soma zu einem,
— allerdings wissen wir nicht, ob die von ihnen
behauptete Kernlosigkeit nicht auf Rechnung unserer
mangelhaften Instrumente zu setzen ist. Die Kon-
jugation tritt nun mit einer gewissen Periodizität
auf. Nacli einer solchen Konjugalionsperiode
können wieder eine Reihe von Generationen auf
uhgesclilcclnlichem Wege durch Teilung entstehen,
und zwar scheint gerade nach der Konjugation
die Fortpflanzungsfähigkeit auf dem Wege der
Teilung ganz enorm gesteigert zu sein. Nach
Maupas' Untersuchungen tritt im Falle der Ver-
hinderung der Konjugation eine Degeneration der
zum Versuche dienenden Infusorienkolonie ein.
Am Zellkörper und Kern gehen Veränderungen
vor sich, die Wimpern verkümmern, so daß die
Fähigkeit der Bewegung und genügenden Nahrungs-
aufnahme verringert wird, kurz, es tritt der Tod
durch Marasmus ein. Daraus läßt sich der Schluß
ziehen, daß die periodische Konjugation eine Lebens-
bedingung der Infusorien ist. Maupas geht sogar
so weit, daß er darin eine Art von Verjüngungs-
prozeß erblickt; indessen sind die konjugierenden
Zellen und Zellelemente entschieden äquivalent,
ebenso wie die gewöhnlich als männlich und weib-
lich unterschiedenen Geschlechtszellen der Meta-
zoen, und von einer Verjüngung im eigentlichen
Sinne kann man nicht reden. Vor allem hat Weis-
mann gegen diese Auffassung Maupas' verschiedent-
lich Front gemacht. Doch dürfte er nach der
anderen Seite hin zu weit gehen, wenn er den
Gedanken an eine Auffrischung der lebenzeugen-
den p'ortpflanzungsfähigkeit durch die Konjugation
im Prinzip verwirft und den Einzelligen unsterb-
liches Leben als in ihrer Natur begründet zuspricht.
Er weist die Folgerung, dal3 die Monoplastiden
die Unsterblichkeit ihrer Art durch die Konjugation
erhalten, d. h. an sich sterblich sind, zurück') und
meint, man könne dann ebenso gut die Nahrungs-
aufnahme als die Ursache ihrer Unsterblichkeit
ansehen, vergilbt aber dabei, die scharfe Unter-
scheidung von Art und Individuum zu machen.
Die Nahrungsaufnahme erhält das Leben des In-
dividuums — bis zu einem gewissen Zeitpunkt;
warum nicht auf ewig, werden wir weiter unten
sehen. Die Konjugation erhält das Leben der
Art und sichert ihr, aber zusammen mit der
Nahrungsaufnahme, dem Stoffwechsel der Indivi-
duen, die LTnsterblichkeit. Diese selbst sind sterb-
lich wie schließlich jede Einzelerscheinung des
Universums, verglichen mit einer anderen Einzel-
erscheinung höherer, beziehungsweise niedererer
Ordnung. Wie jede Art ihr Leben durch Kon-
jugation der Geschlechtszellen zweier Individuen
erhält, sei es nun innerhalb jeder Generation oder
erst nach einer Reihe von ungeschlechtlichen
Generationen, so ist auch für die Infusorien von
') Weismann, Bemerkungen zu einigen Tagesproblcmen.
Erlangen iSgo.
Zeit zu Zeit die Notwendigkeit gegeben, durch
Konjugation die Fortdauer des Lebens ihrer Art
in gewissem Sinne auf ewig zu sichern, während
die Individuen selbst sterblich sind, — auf ewig,
d. h. auf Zeiträume, innerhalb deren sich das Leben
oder genauer das Leben ihrer Art den Existenz-
bedingungen der Erde anzupassen vermag. Es
ließe sich wohl eine Parallele ziehen zwischen den
oben angedeuteten Degenerationserscheinungen an
einer Infusorienkolonie bei ausbleibender Kon-
jugation und solchen, wie sie bei Iiöheren Ord-
nungen durch dauernden Inzest zutage treten; von
Interesse dürfte es dabei sein, den Einfluß der mehr
oder weniger nahen Verwandtschaft oder gar Ge-
schwisterschaft zu untersuchen.
Welche Ursachen ließen sich nun für jene
empirisch gefundene Notwendigkeit der Konjuga-
tion anführen? Wir können uns denken, daß die
jeder Zelle inhärierenden, von der Mutterzelle er-
erbten Eigenschaften und unter diesen vor allem
die Fortpflanzungsfähigkeit durch die fortgesetzte
Teilung sich allmählich so verringern, „verdünnen",
daß sie schließlich gleich null werden. Da die
Naturwissenschaft für gewisse fundamentale Natur-
erscheinungen als Erklärung die Wellenbewegung
gefunden hat, so dürfen wir wohl auch für die
fundamentalen Lebenserscheinungen eine solche
Molekularbewegung annehmen. Damit knüpfen
wir an Haeckel's Perigenesistheorie von der Wellen-
zeugung der Plastidule an. Die in einem Medium
von weniger dichtem Aggregatzustande schwim-
mend gedachten Plasmamoleküle oder Plastidule
sind die Träger der Vererbung, insofern als bei
der Fortpflanzung die Tochterzelle nach rein mecha-
nischen Gesetzen dieselbe charakteristische Plastidul-
bewegung überkommt, wie sie die Mutterzelle be-
sessen. Da diese Bewegung aber nicht ohne
Reibung der Plastidule aneinander oder an dem
sie umhüllenden Medium vorstellbar ist, so kann
sie nicht bis ins Unendliche fortgepflanzt werden.
Es müssen daher mit dem Aufhören der charakte-
ristischen Plastidulschwingungen auch die ererbten
P'ähigkeitcn bei den Zellen nach einer Anzahl von
Teilungsgenerationen erlöschen, unter ihnen die
P'ortpflanzungs- und damit überhaupt die Lebens-
fähigkeit.
Nun haben wir aber den bedeutsamen Faktor
der Anpassung bis jetzt unberücksichtigt gelassen.
Nach der Perigenesistheorie ist die Vererbung
Übertragung einer bestimmten, konstanten, wenn
auch sicher sehr komplizierten Plastidulwellen-
bewegung, mithin die Anpassung eine Abänderung
derselben. Wenn nun durch Anpassung der Zelle
an äußere Verhältnisse oder Vorgänge (durch
Nahrungsaufnahme) eine neue Plastidulbewegung
in die ererbte hineingetragen wird, so entsteht
eine Variationsbewegung der letzteren, d. h. eine
neue, deren Schwingungen nun wieder eine Zeit
lang, dem Trägheitsgesetz gehorchend, der Reibung
widerstehen können. So ließe sich denken, daß
durch die ständige Wechselwirkung von Vererbung
und Anpassung oder, physikalisch ausgedrückt.
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
467
durch das fortwährende Entstehen neuer, eine ge-
wisse Zeit „lebcns'Tähiger Plastidulschwingungcn
die Summe aller ererbten und erworbenen Fähig-
keiten, das Leben überhaupt und in ihm begriffen
die Fähigkeit der Fortpflanzung durch Teilung
ewig und ungeschwächt durch alle Generationen
getragen werden müßte. Dagegen ist jedoch zu
sagen, daß bei der ungeheuren Schnelligkeit, mit
der sich die einzelligen Protisten vermehren, und
den überaus kleinen Zeiträumen, die zwischen der
Entstehung der einzelnen Generationen liegen, die
Anjiassung der Vererbung gegenüber kaum ins
Gewicht fällt, daß also die Variierung der Plastidul-
bewegung durch Anpassung und damit — sit
venia verbo — ihre Auffrischung und regenerative
Umbildung verschwindend klein ist. Das Haupt-
moment der Anpassung, die Nahrungsaufnahme,
dient wohl dazu, den Verfall hintanzuhalten, doch
ganz verhindern kann sie ihn nicht. Kurz, weil
die Erwerbung neuer Eigenschaften durch An-
passung nicht mit der Vererbung gleichen Schritt
halten kann, d. h. die Konstanz der Plastidul-
bewegung so gut wie gar keine oder eine, um
bedeutsam variierend und regenerierend zu wirken,
zu geringe Einbuße erleidet, erstirbt schließlich
jene Moleknlarbcwegung, die Trägerin aller Eebens-
erscheinungen, und m,it ihr die Fähigkeit der Fort-
pflanzung, das Leben überhaupt, — wenn nicht
ein neues belebendes Moment auftritt und neue,
anders kombinierte Schwingungen und Wellen der
Plastidule hervorruft, und dieses Moment ist
in der Konjugation gegeben.
Wir geben zu, daß dieser Erklärungsversuch
nur ein Versuch ist und manche bedenklichen
Lücken aufweist; mag man ihn fallen lassen, für
unsere weiteren Betrachtangen bedürfen wir nur
der so gut wie nachgewiesenen Tatsache einer
für die Erhaltung des kontinuierlichen Lebens not-
wendigen Konjugation bei den Protisten. Von
Bedeutung ist dabei, daß bei ihnen das Leben der
Gattung an die ganzen Individuen gebunden ist:
die Mutterzelle teilt sich in ihrem ganzen Umfange,
um zwei neue Lebewesen, organisiert wie sie, an
ihrer Stelle entstehen zu lassen. Ganz anders und
viel komplizierter liegen die Verhältnisse bei den
mehrzelligen Gewebeorganismen , den Histoncn,
oder, da wir ans Tierreich und speziell an den
Menschen denken, den Metazoen. Hier fällt die
Aufgabe der Fortpflanzung nur einer im Vergleich
mit den übrigen verschwindend kleinen Zellgruppe
zu, den Geschlechtszellen. Alle anderen, die Soma-
zellen, sind zwar auch Vermehrungsprodukte der
zur Stammzelle (cytula) verschmolzenen elterlichen
Geschlechtszellen, haben aber die Fähigkeit, das
Leben der Gattung zu erhalten, verloren. Zwar
vermehren sie sich auch ungeschlechtlich durch
Teilung, doch hat dies für den Zellenstaat, für
das Individuum, nur die Bedeutung des Wachs-
tums oder der Neubildung von Gewebe. Aus dem
oben Erörterten ergab sich, daß zur Erhaltung
der Plastidulbewegung zeitweise die Bildung von
Kombinationsbewegungen durch Konjugation nötig
sei, oder allgemeiner, daß die Lebens- und Fort-
pflanzungsfähigkeit der Zellen zu ihrer Erhaltung
die zeitweise Konjugation unmöglich entbehren
kann. Bei den Zellenstaaten vor allem der höheren
Metazoen zeigt sich, daß nur die Geschlechtszellen
zu konjugieren und damit das Leben durch Fort-
pflanzung ungeschwächt zu erhalten imstande sind.
Weil aber bei den Gewebetieren das Individuum
als solches nach vollendeter Entwicklung nur durch
die Somazellen begriffen wird, so kann es selbst
nur solange lebensfähig bleiben, als die eigene
Lebenskraft der Somazellen — das ominöse Wort
in rein mechanischem Sinne gebraucht — aus-
reicht, da sie ja die Fähigkeit der Kon-
jugation und damit der Bildung neuer, wieder
eine Zeitlang existenzfähiger Plastidulschwingungen
verloren haben: darum ist das Individuum
dem Tode oder besser dem Absterben verfallen.
Das allmähliche Erlahmen der Plastidulschwin-
gungen ist in diesem Sinne die Ursache der In-
volutionserscheinungen des Alters.
Nach den hier entwickelten Anschauungen er-
scheint uns der individuelle natürliche Tod als
eine in der Natur der Organismen begründete
Notwendigkeit. Weismann sieht in ihm lediglich
eine sekundäre Anpassungserscheinung.^) Auf eine
gewisse Anpassung mag man allerdings insofern
schließen können, als vielleicht die Somazellen der
Metazoen sich phylogenetisch allmählich eine längere
Lebensdauer erworben haben als die Geschlechts-
zellen zum Ersatz für die Konjugation, die allein
die letzteren behielten. Weil diese konjugieren
können, sterben sie auch früher als die Gewebs-
zellen, während noch bei niederen Tieren oft die
Gewebszellen, das Soma nicht die Geschlechts-
zellen und ihre Konjugation überdauert. Indessen
abgesehen von dem bereits Erörterten ließe sich
auch aus rein philosophischen Gründen gegen
Weismann's Auffassung vom Tode als einer er-
worbenen .'\npassungserscheinung einwenden, daß
die Protisten eine ganz unbegreifliche Sonder-
stellung im Universum einnehmen würden, wenn
sie allein von allen Lebewesen, ja allein von allen
Einzelerscheinungen unsterblich wären. Die In-
dividuen sind vergänglich, doch die Art ist un-
sterblich; wenigstens wird sie durch jene umgeben
mit einem „Scheine von Unsterblichkeit", wie
Johannes Müller sagt. Denn im Vergleich mit
der Lebewelt ist auch ihr ein Ziel gesetzt, sei es,
daß sie ausstirbt oder sich im Laufe endloser
Zeiten von Grund aus umwandelt. Und auch die
Lebewelt als solche ist nur eine vergängliche, sich
wandelnde Erscheinungsform des Alls. Unsterb-
lich, d. h. in ewiger Bewegung, in ewiger Syn-
these und Diathese begriffen, ist nur eins, das
Universum, und die Daseinsformen sind alle nur
kräuselnde Wellen im endlosen Ozean.
') Weismann, Über die Dauer des Lebens. Ein Vortrag.
Jena 1882. — U. a. a. O.
468
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 30
Zur lateinischen Terminologie der elementaren Arithmetik. I.
[Nachdruck verboten.]
Von Prof. Dr. Max C. P. Schmidt in Berlin.
Die Termini der Zahlenkunde sind, von Ein-
zelheiten abgesehen, der lateinischen Sprache ent-
lehnt. Wir reden von den vier Spezies, von
Addition, Subtraktion, Multiplikation,
Division, von Posten, Summanden, Summe,
Fazit, Resultat, von Subtrahendus, Mi-
nuend us, Differenz, von Multiplikator,
Multiplikand US, Faktoren, Produkt, von
Divisor, Dividend us, Quotient. Wir reden
auch, um ein wenig höher zu steigen, von Null
und Primzahlen, von plus, minus, positiv,
negativ, von reell, inkommensurabel,
irrational, imaginär, komplex, von P e r -
mutationen und Kombinationen, von P o -
tenz, Radix, Effizient. Über die griechischen
Wörter ,, Arithmetik, dekadisch, Basis", über die
künstliche Bildung , .Logarithmus", über die arabische
Bezeichnung ,, Algebra" ist bereits in dieser Wochen-
schrift ') gehandelt worden. Über die deutschen
Ausdrücke der „Bruch"rechnung endlich reden wir
im Zusammenhange ein andermal. Hier handelt
es sich also um die lateinische Terminologie.
Und es erhebt sich die doppelte Frage; I. VVie
kommt es, daß diese Ausdrücke nicht, wie die
Termini der Geometrie, griechisch sind ? II. Wie
und wann sind diese Ausdrücke innerhalb der
lateinischen Sprache entstanden oder gebildet
worden ?
I. Auf zwei Gebieten machen altgriechische
Lehrbücher einen völlig anderen Eindruck, als ihr
Titel nach unserem Sprachgebrauch vermuten läßt,
auf den Gebieten der Musik und der Arithmetik.
In den musikalischen Büchern der Griechen
findet man so gut wie nichts von Harmonielehre,
Formenlehre, Kompositionslehre, von Akkorden,
Stimmführung, Kontrapunkt, von Vokal- und In-
strumentalmusik ; es ist nur von Tönen, Tonleitern,
Tongeschlechtern, sozusagen von den technischen,
akustischen, mathematischen Elementen der Ton-
kunst die Rede. Ähnlich täuschen uns die Titel
der arithmetischen Bücher. Sie handeln gar
nicht von ,, Arithmetik" in unserem Sinne. Die
Lehre von der Algebra ist den Alten unbekannt.
Die Lehre von den Gleichungen steckt demnach
in den Kinderschuhen und ist sehr jung. Diophant
lebte nach -)- 300 ; seine „Arithmetik" behandelt
nicht die „Diophantischen", sondern sehr einfache
Formen von Gleichungen, in die er den Begriff
der Unbekannten einführte und diese durch das
Zeichen eines Schlußsigma andeutete. Auch die
Lehre von Potenzen und Wurzeln steckt noch in
den Anfängen. Von Brüchen kennt Euclid und
mit ihm fast das ganze Altertum eingehender nur
die Stammbrüche, aber auch diese ohne die mo-
derne Form der Bezeichnung und die daran an-
geschlossenen Regeln der Rechnung. Die Loga-
rithmen endlich sind erst 161 1 erfunden und so
benannt worden. Es bleiben die vier Spezies mit
ganzen Zahlen. Und gerade von diesen ist in den
„Arithmetiken" der Alten keine Rede. Bekanntlich
unterscheidet man heute niedere und höhere
Zahlenlehre. Jene (A) heißt Arithmetik und um-
faßt die Lehre vom Rechnen, also a) die 4 Spezies,
b) die Bruchrechnung, c) das Potenzieren und
Radizieren, d) die Proportionen, e) die Logarith-
men. Diese (B) heißt Zahlentheorie und umfaßt
die Lehre von den Zahlen, also a) die Prim- und
Sekundärzahlen, b) die Quadrat- und Kubikzahlen,
c) die Zerlegung in h'aktoren, und so weiter. A
nennen die Griechen, soweit sie ihnen bekannt
ist, also besonders das elementare Rechnen mit
ganzen, unbenannten Zahlen, „Logistik" = Rechcn-
lehre. B dagegen nennen sie „Arithmetik" = Zahlen-
lehre. Wer mithin in einer griechischen „Arith-
metik" die Regeln der Multiplikation oder das
Verfahren und die Schreibweise der Division sucht,
verfehlt das Ziel, weil er A gleich B setzt, d. h.
„Logistik" mit „Arithmetik" vermengt.
Über A gab es nun, soweit wir wissen, im
griechischen Altertum überhaupt keine Regelbücher
und keine Literatur. Man besaß wohl gewisse
praktische Kunstgriffe, manipulierte mit Rechen-
brettern und Rechensteinchen, übte sich im Zählen
und Rechnen mit Fingern und Armen, aber man
schrieb nicht Elementarbücher über das Rechnen
wie bei uns. Es gab in Altgriechenland keinen
Adam Riese, kein Einmaleins, keinen Stellenwert,
keine Nomenklatur. Man rechnete mühsam, un-
geschickt, mechanisch. Noch Diophant ') empfiehlt
denen, die seine Gleichungen kennen lernen wollen,
flotte Übung im Elementarrechnen, eine F'orde-
rung, die man bei uns als selbstverständlich und
bereits erfüllt voraussetzen würde. So ist denn
die Terminologie i. unfertig, 2. unsicher, 3. un-
vollständig; die Termini sind i. nicht klar, 2. nicht
einlieitlich, 3. nicht ausreichend, i. Man unter-
scheidet Eins (Monade) und Zahl (Arithmos); die
Monade ist keine Zahl, die Zahl ist aus Monaden
zusammengesetzt. Geht eine kleinere Zahl in einer
größeren ohne Rest auf, so „mißt" sie dieselbe,
ist ihr „Teil"; sie heißt aber „Teile" (im Plural),
wenn sie es nicht tut.-) 2. Addieren heißt bald
„zuzählen", bald ,, hinzusetzen", bald ,, zusammen-
stellen", bald „summieren". Ist nur von zwei
') Jahrgang igoi. Bd. XVII 103: Zur Tcirminologie der
elementaren Mathematik.
') Ausg. Tannery I 14: ■■<'i?.o>i exei evctQXofieroi' (indem
man geht an) ti-s TTQayfiarcins (die Behandlung, erg. der
Gleichungen) ovr&ioei. y.ni n^ihoeoEL y.al Tin'/.knTilaotaiiiiols
(Addition, Subtraktion, Multiplikation) }'iyl^/J^'äa!)^al■.
^) Euclid. VII init. : ^Io^'n^ soTti'^ aai)'' ?^v taiunov
rwr ofTcof 'ir /.lyernt. 'Agiitfios ät ro ex fioräScor ovyy.ei-
/xsrot' 7r/.r;d'os. Miooi toilf äotd'/nos ni'ii)'fior v ilätJatoi/
Tot' ftel^ot'Oi, uTttr yina/uTol toi' ^ei^oi'ft. Meojj Se, oznr
/.ilj y.aTauETtjl. Beispiel: 2 ist /jejjos (weil '/r. Stammbruch)
von lo, aber 4 ist f^eoi (weil %) von 10.
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
469
Zahlen die Rede, so sagt man auch „beide zu-
sammen".-Subtrahieren heißt bald„herunternehmen",
bald „fortnehmen". Gelegentlich heilot Subtraktion
einmal „Herabnahme". 3. Technische Ausdrücke
für „Summanden" und „Faktoren", „Produkt" und
,, Quotient" fehlen völlig. Für ,, Differenz" gibt's
einen Ausdruck: „Überschuß". Man hilft sich aber
oft mit der Bezeichnung „das Übrige".') So hat
die allgemeine Umgangs- und Literatursprache die
ihr begreiflicherweise anhaftende Unsachlichkeit
und Ungründlichkeit an die Stelle einer wohl-
durchdachten und wohldurchsiebten Kunstsprache
da gebracht , wo die letztere nicht ausgebildet
war. Dergleichen existiert auch bei uns. Auch
wir ersetzen das Wort „addieren" gelegentlich durch
,, zusammenzählen", wie das Wort „subtrahieren"
durch ,, abziehen". Bei uns aber tut das die ge-
wöhnliche Sprache neben, nicht statt der tech-
nischen. Diese ist klar und konstant. Tritt auch
einmal das aufdringliche Französisch in Form von
„Posten" und „Rest" in die wissenschaftliche Ter-
minologie ein, solche Fälle sind vereinzelt und
erfolglos und verdrängen weder die „Summanden"
noch die ,, Differenz". Die griechische Sprache
des Elementarrechnens aber konnte den Forde-
derungen einer mathematischen Fachsprache nicht
genügen. Dazu war sie der großartigen Einfach-
heit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit der geo-
metrischen Terminologie des Euclid nicht eben-
bürtig genug. So ist diese noch heute herrschend,
jene aber abgestorben. Damit erledigt sich die
erste jener beiden Fragen.
II. DielateinischenFremdwörterunsererSprache
zerfallen in zwei Arten, Klassische und Nach-
klassische. Die letzteren wiederum sind: Spät-
lateinische oder Moderne Bildungen. Jene lassen
sich wieder nach Altertum (a Silberlatein, ß Spät-
lateinj und Mittelalter unterscheiden. Unsere Ein-
leitung ergibt also drei Sorten lateinischer PVemd-
wörter: A. Klassische Vokabeln, d. h. Wörter,
die in derselben Bedeutung schon im guten Latein
bis zur Regierung des Augustus üblich gewesen
sind. B. Spätlateinische Vokabeln, d. h.
Wörter, die in dieser Form oder in diesem Sinn
zwar nach der Periode des goldenen Lateins, aber
a) noch im Altertum vor dem Absterben des leben-
den Lateins (-|-550). oder b) erst im Mittelalter
im Latein der Kirche, Klöster und Scholastik ge-
bildet oder gebraucht sind. C. Moderne Vo-
kabeln, d. h. Wörter, die in Wissenschaft, Industrie
und Handel in den letzten Jahrhunderten a) neu-
gebildet oder b) umgedeutet worden sind. Bei-
spiele für diese Schichten sind : A. Konsul, Offizin,
importieren ; Ba. Kombination , Kreatur , trivial ;
Bb. Messe, Transsubstantiation, Kloster ; Ca. Egois-
mus, Mimose, Magnesium; Cb. Datum, liberal,
Akkumulator.
*) J/oosaoii^u£li\ TTOoarid'h'iiij ovvrid'evat^ ovyy.stfnhttovi',
aui'n^(f6Ts^ot. '^(fatoEti'f aifatoett', xaTaXtjipis. Ti> Xoirröi'
(der Rest), /) VTieoox'j (»'. vTTSoey^etv überragen).
Nun ist klar: i. daß überall da, wo eine Kultur-
erscheinung oder Institution vom Altertum an
ohne Unterbrechung weiterläuft, auch die Vokabeln
weiterlaufen werden (A und B); 2. daß überall da,
wo eine Kulturerscheinung am Schluß des Alter-
tums abbricht, auch die lateinische Vokabel ver-
schwinden und eventuell später ersetzt werden
muß (C). Beispiele für Fall i: Der Titel
„Konsul" wurde allmählich in der Kaiserzeit der
Ausdruck für die obersten städtischen Beamten ;
solche gab es überall, auch nach der Völkerwande-
rung; so ging der Titel ohne Unterbrechung an
die städtischen Bürgermeister im Frankenreiche
über. „Den Arzt bezahlen" hieß Iwnorein dare
medico , woraus das Wort „Honorar" entstand;
die medizinische Tätigkeit ist natürlich nie unter-
brochen worden, so daß wir noch heute dem Arzte
ein „Honorar" zahlen. Gewisse Gehälter wurden
in der Kaiserzeit in Geld statt wie vorher in Salz
gezahlt und hießen darum ,, Salzgelder"; daß solche
Gehaltszahlungen nie abreißen, weil es stets Be-
amte gibt, ist natürlich; so zahlt man noch heute
,,Salair". Beispiel für Fall 2: Die Schau-
spieler erhielten von den Kaisern Gehälter, zur
Zahlung war die Forstkasse angewiesen; darum
hieß dies Gehalt liicar (v. hicus = Forst) ; in den
Wirren der Völkerwanderung und durch den Über-
gang der römischen Kultur auf germanische Völker
starb begreiflicherweise das antike Theaterwesen
ab, sonst erhielten vielleicht noch heute die Schau-
spieler, jenem „Salair" entsprechend, ihr „Lucair".
In welche Kategorie gehören nun jene Termini
der Rechenkunde.' Haben wir hier auch die
Arten A, B, C und die Fälle i und 2 zu unter-
scheiden ? Was man nach dem Gesagten erwarten
sollte, ist folgendes. Ausfallen muß so gut wie
ganz die Art C und der Fall 2. Gerechnet hat
man natürlich ohne LInterbrechung, auch in den
schlimmsten Zeiten der Völkerwanderung. Noch
kurz vor Geiserichs Ankunft (429) war Martia-
nus Capeila in Afrika Anwalt, ein Jahrhundert
später (525) ließ Theodorich der Große den
Boetius hinrichten, ein Jahr danach (526) ging
Theodorich's Geheimschreiber Cassiodor ins
Kloster. Alle drei schrieben über .Arithmetik. Des
Cassiodor Werk aber ging direkt als Lehrbuch
in die mittelalterlichen Klosterschulen über. Danach
bleibt nur der Fall i mit den Arten A und B
übrig. Wir vermuten also, daß die Fremdwörter
der arithmetischen Kunstsprache teils dem goldenen
Latein (A), teils dem silbernen und späteren Latein
(Ba) angehören , aber im ganzen vor dem Zu-
sammenbruch des Römischen Imperiums vollständig
vorliegen, daß dagegen das Klosterlatein und die
Gelehrtensprache des Mittelalters (Bb) ebensowenig
wie die moderne Kunstsprache (C) etwas Wesent-
liches wird hinzugefügt haben. Wir erwarten, unr
es anders auszudrücken, in der technischen -Sprache
unserer Arithmetik lebendiges , nicht aber totes
Latein. Liegt die Sache wirklich so?
470
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 30
Kleinere Mitteilungen.
Die Fette im Haushalt der Natur und des
Menschen , sowie ihre Beziehung zur Atmung
(Sammelreferat). — In allen natürlichen Fetten
sind zwei Anteile zu unterscheiden: der Glyzerin-
anteil oder das Glyzeryl und der Fettsäurerest.
Als Säurereste treten am häufigsten die Reste der
Ölsäure, Stearin und Palmitinsäure auf. Behandelt
man die Fette mit überhitztem Wasserdampf, so
vereinigt sich ein Teil des im Wasser enthaltenen
Wasserstoffs mit den Säureresten zu Fettsäuren, der
Wasserrest bildet mit dem Glyzeryl Glyzerin. Ein
ähnlicher Vorgang ist die V e r s e i f u n g. Ätznatron
besteht bekanntlich aus Natrium und einem Wasser-
rest: deshalb setzen sich die Fette, wenn sie mit
Ätznatron gekocht werden, derartig um, daß das
Natrium an Stelle des Glyzerinanteils tritt, der sich
seinerseits mit dem Wasserrest zu Glyzerin ver-
bindet. Das durch den Zusammentritt von Fett-
säure und Natrium gebildete fettsaure Natrium ist
die Seife.
Verseifungen oder verseifungsähnliche Prozesse
scheinen nun nach den neuesten Untersuchungen
überall da sich abzuspielen, wo in der Natur die
Fette in den Stoffwechsel eintreten. Die Fette
scheinen als solche die Zellwand nicht passieren
zu können. Um sie wanderungsfähig zu machen,
werden sie vor dem Transport in Glyzerin und
Fettsäuren oder fettsaure Salze gespalten. Das
geschieht z. B. in den Samen gewisser Pflanzen
des Mohns, des Rizinus, des Hanfs, der Sonnen-
blume u. a. Hier spielt das Fett die Rolle eines
Reserve Stoffs. Soll es im Frühling zur Er-
nährung des Keimlings dienstbar gemacht werden,
SO wird es durch gewisse „Fermente", welche
eigens zu diesem Zweck um diese Zeit in den
ölreichen Samen auftreten, auf die oben erwähnte
Weise verflüssigt. Aus Glyzerin und Fettsäure
kann die Pflanze leicht Zellmaterial, Zucker usw.
aufbauen oder Fette zurückbilden.
Die Technik macht nach einem neuerdings
patentierten Verfahren Gebrauch hiervon bei der
Seifenfabrikation. Anstatt, wie dies bisher üblich
war, die Fette zuerst durch Ätznatron in P'ett-
säure und Glyzerin zu spalten, um erstere dann
durch Behandlung mit Soda (kohlensaurem Natrium)
zu verseifen, zerlegt man sie mit den Fermenten
der sonst wertlosen Rizinusölpreßkuchen.
Auch im D a r m d e r T i e r e u n d M e n s c h c n
spielt die Verseifung, wie jetzt festgestellt ist, eine
große Rolle. Durch verseifende Fermente — Li-
pasen — werden die aufgenommenen P'ette im
Darmkanal verdaulich gemacht, d. h. in gelöste
F'orm übergeführt, so daß sie durch die Wände
des Dünndarms bzw. der Darmzotten in die Lymph-
gefäße aufgesogen werden können. Die abge-
spaltenen Fettsäuren oder an Natrium gebundenen
Fettsäurereste vereinigen sich nach dem Übertritt
in den Lymphgefäßen mit dem Glyzerin wieder
zu Fetten, die dann veratmet oder abgelagert
werden können , also Heizstoffe oder Reserve-
material abgeben. Die Wiedervereinigung der
Fettanteile in der Lymphe ist übrigens, wie Ben-
jamin Moore ganz neuerdings (Procedings of
the Royal Society 1903 vol. LXXII, p. 134— 151)
nachgewiesen hat, ausschließlich Eigenschaft des
lebenden Bluts. Das kreisende Blut schafft hier,
in Form chemischer Spannkraft, die Energie her-
bei, die nachher bei der „Verbrennung", d. i. Ver-
atmung der Fette, wieder als Wärme frei wird.
In letzter Linie erscheinen also die Fette in unserem
Körper als Träger bzw. Binder und Entbinder von
Energie.
Verseifungen von Fetten bzw. Zerlegung in
Fettsäuren und Glyzerin scheinen aber im Stoff-
wechsel noch allgemeiner zu sein. Wenigstens
läßt sich angesichts der neuesten Forschungen über
die tierische und pflanzliche Atmung von Stoklasa,
Jelinek, Vitek (Beiträge zur chep. Phys. und Path.
1903, Bd. III, S. 460 — 509) und Simäcek (Zentralbl.
für Physiol. 1903, XVII, S. 3) ohne eine derartige
Annahme eine einheitliche Atmungstheorie
nicht mehr aufstellen.
Die genannten Forscher haben nämlich die
anaerobe Atmung, die man früher als intra-
molekulare bezeichnete, in größerer Verbreitung
nachgewiesen, z. B. für die Runkelrübe, für den
Schweinepankreas usw. Das Wesen dieser Atmung
besteht, kurz gesagt, darin, daß bei Sauerstoff-
abschluß Zucker durch gewisse ,, Enzyme" in
Kohlendioxyd und Alkohol zerlegt wird. Die
Enzyme behalten die zerlegende Kraft auch außer-
halb der lebenden Zelle. Für die Hefe ist die
anaerobe Atmung die normale. Will man nun
nicht annehmen, daß ein so fundamentaler Lebens-
prozeß wie die Atmung bei verschiedenen Or-
ganismen in ganz verschiedenartiger Form verläuft,
so muß man die anaerobe Atmung als die primäre
ansprechen, die unter allen Umständen in jeder
lebenden Zelle eintritt. Die alte Dissoziationstheorie
nahm einen fortwährenden Zerfall der Eiweißstoffe
an und betrachtete diesen als den Ausgangspunkt
der Atmung. Vermutlich führt dieser Zerfall zu
steter Neubildung von Cymasen, die gewisser-
maßen den Zerfall auf den Zucker übertragen.
Die normale Atmung soll, so nimmt man an,
sich derart an die intramolekulare anschlielden, daß
bei Sauerstoffzutritt der Alkohol zur Neubildung
von Bestandteilen des lebenden Protoplasmas ver-
wandt wird. Chemisch steht er ja nach Fischer's
Untersuchungen den Kohlenhydraten nahe. Viel-
leicht wird er also in neuen Zucker umgewandelt.
Die Atmung hat hiernach den Zweck, die chemische
Spannkraft in lebendige Energie umzuwandeln.
Die Atmung der Fette paßt in diese Atmungs-
theorie nicht ohne weiteres hinein. Bisher glaubte
man doch, daß die Fette direkt zu Kohlenoxyd
und Wasser oxydiert werden. Will man die Ein-
heitlichkeit der Atmungsvorgänge aufrecht er-
halten, so muß man für alle Fälle eine Zerlegung
von Zucker in Alkohol und Kohlendioxyd als den
grundlegenden Prozeß für die Atmung festhalten.
Es liegt nun nahe, meine ich, hier an Zusammen-
N. F. III. Nr. -,o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
471
w i r k e n V o n L i p a s e n und C y m a s e n zu denken.
Dabei würden zunächst die Fette in Fettsäure und
Glyzerin gespalten. Letzteres kann, wie Fischer
gezeigt hat, durch Oxydation in Glyzerinaldehyd
und dieses durch Polymerisation in Traubenzucker
übergeführt werden. Der Traubenzucker würde
durch Cyniase in Alkohol und Kohlendioxyd ge-
spalten. Dr. Gustav Meyer, Oberlehrer in .Siegen.
Vor einigen Jahren wurden die ersten Mit-
teilungen über eigentümliche Leuchtorgane
australischer Prachtfinken veröffentlicht, aus
denen hervorging, daß die blauen Schnabelpapillen
der Nestjungen von rocphila Gouldiac im Dunkeln
leuchteten. Weitere sich teils widersprechende,
teils unvollständige Angaben folgten nach, bis es
nunmehr C. Chun gelungen ist, durch die Unter-
suchung eines 6 Tage alten, lebenden Nestjungen
die vorliegenden Verhältnisse näher aufzuklären.')
Die blauen Papillen , die zu je zweien am Mund-
winkel, dicht an dem hochgelb gefärbten Schnabel-
wulst liegen, leuchteten tatsächlich in der Dunkel-
kammer mit eigentümlichem Glühen, aber nur
dann, wenn der Laden der Dunkelkammer nicht
völlig geschlossen war, also im Halbdunkel. War
die Dunkelkammer völlig verdunkelt, so war keine
Spur von dem Leuchten zu beobachten, welches
indessen bei Zutritt von etwas Licht sofort wieder
in typischer Form auftrat. Es handelt sich also
hier nicht um eine wahre Phosphoreszenz, sondern
nur um eine durch ein Tapetum veranlaßte Reflex-
erscheinung. Und daraufhin weist auch der feinere
histologische .Aufbau. Es sind nämlich die halb-
kugelig sich vorwölbenden , an ihrer Basis von
einem schwarzen Pigmentring umgebenen blauen
Papillen in ihrem Inneren von einem Bindegewebs-
polster ausgefüllt , das in zwei Lagen zerfällt,
zwischen denen sich sternförmig verästelte Pigment-
zellen zur Bildung eines Tapetums einschieben.
Eigentliche Leuchtzellen fehlen also gänzlich ;
worauf der intensiv blaue Glanz beruht , bedarf
noch der näheren Untersuchung.
Die biologische Bedeutung dieser lebhaft ge-
färbten und im Halbdunkel leuchtenden Papillen
ist zweifelsohne darin zu suchen, daß sie der
fütternden Mutter im dunkeln Nest den Weg zum
Schnabel des Jungen weisen , womit in Einklang
steht, daß die Papillen bei flügge gewordenen
Prachtfinken schwinden. Die gleiche biologische
Aufgabe kommt übrigens auch ganz im allgemeinen
den auffällig hellgefärbten Schnabelwülsten junger
Vögel zu, die außerdem noch mit ihren zahlreichen
Tastkörperchen reflektorisch bei der Berührung
ein Offnen des Schnabels herbeiführen.
J. Meisenheimer.
') Zoolog. Anteiger. 27. Bd. 1903.
Tiere und Alkohol. — Obwohl auch heute
noch vielfach die .Ansicht vertreten wird, daß der
Alkohol , mäßig genossen , doch einen gewissen,
wenigstens indirekten Nährwert besitze, so ist man
doch seit alters von der Schädlichkeit sowohl des
zeitweiligen wie gewohnheitsmäßigen Übermaßes
im Alkoholgenuß allgemein überzeugt ; und immer-
mehr gewinnt die Überzeugung an Boden, daß er
selbst in den kleinsten Quantitäten für den mensch-
lichen Organismus ein höchst schädliches Gift dar-
stelle. Trotz dieser Einsicht ist die Zahl seiner
Anhänger auch heute noch eine sehr große. Aber
nicht bloß der Mensch zeigt eine mehr oder minder
starke Vorliebe für dies berauschende Gift, auch
im Tierreiche finden sich zahlreiche Anhänger
desselben. Ist es doch eine bekannte Erscheinung,
daß sich die Wespe an dem gegorenen Safte
faulender Früchte, besonders Kirschen, berauscht,
bis sie steif und unbeholfen, kaum imstande zu
kriechen, geschweige zu fliegen, auf der F"rucht
sitzen bleibt, bis der Rausch verflogen ist. Im
vorigen Sommer setzte ich ein Wespennest mit einer
Königin und zwei Wespen in eine mit einer Glas-
platte bedeckte Zigarrenkiste, um Beobachtungen
an den Tieren anzustellen. Sie wurden mit Zucker-
wasser gefüttert, gediehen prächtig, und bald
zählten die Insassen meines Kastens 20 — 30 Stück.
Da überrasche ich eines Tages einen Freund da-
bei, wie er, um mir einen Streich zu spielen, in
meiner Abwesenheit eine Dosis Spiritus in das
Zuckerwasser tröpfelte. Ich war neugierig, was
geschehen würde. Wir stellten den I'utternapf,
eine kleine sehr flache Porzellanschale, ein, und
nun ereignete sich folgendes; Sämtliche Wespen,
die Königin nicht ausgenommen, eilten zu dem
Futternapf, während sonst höchstens drei oder
vier sich gleichzeitig dort befanden, und verzehrten
mit Heißhunger den Inhalt, und bald lagen alle
steif und schwer berauscht um das leckere Mal
und einige in demselben. Letztere rettete ich
von dem Ertrinkungstode, lüftete den Kasten,
reinigte den Futterteller, und nach etwa drei
Stunden erholte sich die schwerkranke Gesell-
schaft, und alle gingen nach und nach, allerdings
äußerst langsam und träge, an ihre gewohnte Be-
schäftigung.
Ob unsere Fledermäuse ebenfalls auf geistige
Getränke reagieren, weiß ich nicht. Von einer
indischen aber, dem Fliegenden Hund, ist bekannt,
daß er mit Vorliebe die von den Eingeborenen
zum Auffangen des Palmweines an die Bäume ge-
hängten Schalen nächtlicherweile aufsucht. Nicht
selten findet man ihn am Morgen sinnlos berauscht
in diesen Gefäßen , und wenn dieselben gefüllt
waren, ist er öfters schon ertrunken.
Der Haushahn verzehrt Brot, welches in Schnaps
eingeweicht ist, mit dem größten Appetit, und bald
zeigt sein unaufhörliches Krähen und Flügel-
schlagen sowie sein mutiges, herausforderndes Be-
nehmen , daß ihm tatsächlich „der Kamm ge-
schwollen" ist. Ich verlebte meine Jugend in
einem Dorfe, und da gab's in jedem Frühjahr ge-
waltige Hahnenkämpfe, bis die Herren Harems-
besitzer sich über die Herrschaft geeinigt hatten
und dem Stärkeren für den kommenden Sommer
willig das Feld und die Schönen überließen. Wir
472
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. ^o
Jungen setzten unseren Stolz darein, daß unser Hahn
dem der Nachbaren „über" sein sollte. Da habe
ich denn auf den Rat eines alten, pfiffigen Onkels
gar oft unserem Gockel, wenn er geschlagen die
Flucht ergrift", auf obige Weise Schnaps eingeflößt.
Der Erfolg zeigte sich darin, daß er alsbald wieder
todesmutig auf den Kampfplatz eilte und stets
Sieger blieb. Oft kämpfte er gegen viel stärkere
Gegner und achtete dabei weder auf seine Wunden
noch auf ausgerissene Federn, setzte sogar einmal
den Kampf noch fort, als ihm sein Gegner ein
Auge ausgebissen hatte. Nur in einem einzigen
Falle versagte mein Mittel. Ich hatte nämlich die
Dosis zu stark bemessen, und der Gockel legte
sich schreiend und flügelschlagend auf die Seite,
taumelte ein paar Schritte, war aber nicht im-
stande, sich auf den Beinen zu halten, und mußte
ins Haus getragen werden, wo er sich bis zum
nächsten Tage von seiner Trunkenheit erholte.
Zum Alkoholgegner war er aber nicht geworden,
denn er verzehrte sofort wieder seine jetzt aller-
dings vorsichtiger abgemessene Portion.
Unter den Hunden gibt es solche, die man
geradezu als Alkoholiker bezeichnen könnte.
Mancher Studiosus hat seinen vierfüßigen Freund
durch Übung und gutes Beispiel in der Kunst des
Biervertilgens zu einer staunenswerten Leistungs-
fähigkeit gebracht. Auch Schnaps und Cognac
lieben viele Hunde, wie mancher Jäger weiß. Sie
husten und niesen zwar beim Genüsse derselben,
verzehren sie aber trotzdem und kommen immer
wieder, um ein paar Tropfen zu erhalten. In
meinen Flegeljahren gab ich einmal dem Spitz-
hunde eines Nachbars ein Quantum Branntwein,
in Brot und Kartoffeln gemischt. Erst probierte
er die Mischung mißtrauisch, fraß aber dann desto
begieriger alles bis auf das letzte Krümelchen auf
Er wurde nun bald äußerst rege, sprang wie be-
sessen im Kreise herum und bellte wütend, ob-
gleich kein Fremder in der Nähe war. Nach
einiger Zeit zeigte er große Mattigkeit, es trat Er-
brechen ein, und dann kroch er schwankend in
seine Hütte, aus der er während des ganzen Tages
nicht wieder hervorkam. Der Spitz hatte ent-
schieden mehr als einen „Spitz" abbekommen.
Wie sehr Pferde den Alkohol besonders in
Form von Bier und Wein lieben, davon weiß
jeder Besucher eines Hippodroms oder Rennplatzes
zu berichten. Einer meiner Verwandten, der als
Kavallerist 1870 den Feldzug in Frankreich mit-
gemacht hat, erzählte mir dazu folgendes Erlebnis :
„Wir hatten auf einem von seinen Bewohnern
verlassenen französischen Gute Quartier genommen
und unsere Pferde zum Teil in einer großen
Scheune untergebracht. Da entdeckten einige
Kameraden im anstoßenden Garten eine frisch um-
gegrabene Stelle, gruben nach und förderten ein
Fäßchen Wein zutage. In Ermangelung der nötigen
Gerätschaften wurde, nachdem der Fund in die
dunkelste Ecke der Scheune transportiert war, der
obere Boden ausgeschlagen, und wir schöpften aus
dem Vollen und ließen uns den köstlichen Trank
munden, ohne daß natürlich die in den Wohn-
räumen einquartierten Offiziere etwas merken
durften. Auch der am Abend aufziehenden Stall-
wache wurde, um eine übergroße Beteiligung zu
verhüten, nichts mitgeteilt, vielmehr das Fäßchen
mit Stroh lose bedeckt, und wir begaben uns zur
Ruhe. Am anderen Morgen hörten wir zwei
Schüsse fallen und sahen bei Hinzueilen zwei
Pferde erschossen am Boden liegen. Die Pferde
hatten sich losgerissen und wie besessen gebärdet.
Beißend und schlagend hatten sie die größte Ver-
wirrung angerichtet und die Scheune durchtobt.
Als es endlich gelungen, sie einzufangen, waren
alle Beruhigungsmittel fehlgeschlagen , und man
hatte sie auf höhere Anordnung erschossen. Unser
im Stroh verstecktes Weinfäßchen aber war leer
bis auf den Boden." Offenbar hatten sich die
Tiere unbemerkt losgerissen und den Inhalt des
Fäßchens vertilgt. Ihr ganzes Benehmen war also
nur das Zeichen eines starken Rausches.
Andere Haustiere, z. B. Rinder, Schafe, Ziegen
usw. fressen sehr gern frische Weintrester und
Abfälle der Brauereien und Brennereien und be-
rauschen sich daran, wenn sie zufällig das nötige
Quantum haben können, mehr oder minder schwer.
Auch bei ihnen zeigt sich dann der Rausch mit
seinen anfänglich erhöhten Lebensäußerungen und
der nachfolgenden Erschlaffung ganz wie beim
Menschen. Besonders soll sich in- diesem Falle
das Schwein seines Namens würdig zeigen.
Der unersättlichste Trinker im Reiche der
Tiere aber soll der Bär sein, und zwar liebt er
besonders den Branntwein in starker und stärkster
Form. Ich sah einmal, wie ein Bärenführer seinem
Petz das noch zur Hälfte mit Schnaps gefüllte
Schoppenglas vorhielt, welches derselbe mit allen
Zeichen des Behagens sofort leerte. Wie in seiner
Gestalt, so kommt auch im Trinken der Affe dem
Menschen am nächsten, indem er den Alkohol in
jeder Form liebt und sich, wenn er des Guten zu-
viel getan, so beträgt, daß die Redensart „einen
Affen haben" darin ihre gute Begründung findet.
Der größte Trinker — wenigstens körperlich größte
— im Tierreiche aber ist der Elefant. Er bevor-
zugt, wie auch die Großen der Menschheit, den
Wein. Diesen trinkt er mit Geschick und viel
Behagen, wovon sich jeder im zoologischen Garten
oder in Menagerien leicht überzeugen kann. Wie
der Rausch dieses Dickhäuters aussieht, vermag
ich nicht zu sagen. Der Versuch ist mir bei seinen
weitläufigen Magenverhältnissen ein wenig zu kost-
spielig.
Neben solchen Trinkern hat das Tierreich auch
seine Abstinenzler, und zwar gehört dazu das ganze
Geschlecht der Katzen, ein Beweis, daß Fleisch -
nahrung nicht immer zum Alkoholismus füiirt.
Bietet man der Hauskatze Alkohol in irgendeiner
Form, so zeigt sie den größten Abscheu vor diesem
„Teufelstrank", und bei ihren kleineren und
gröf5eren Verwandten ist es nicht anders. Mit
Recht bezeichnet man also den auf übermäßigen
Alkoholgenuß folgenden Zustand des Menschen,
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
473
in dem er — Trunkenbolde ausgenommen — alles
„geistige" \-erabscheut, mit dem Worte „Kater".
F. W. Brinkmann.
Durchtränkung des Sandes. — Zu der von
der Belgischen geologischen Gesellschaft in Brüssel
angeregten Verhandlung über das Wesen des
Schwimmsandes hat auch Prof. Spring in Lüt-
tich einen Beitrag beigesteuert (Mem. XVII I3 — 33),
der auf experimenteller Grundlage beruht und
von großem Gewichte für die behandelte Haupt-
frage ist, zugleich aber noch andere interessante
Verhältnisse, wie Osmose, Adsorption u. a. be-
rührt. Als Versuchsmaterial diente ein aus Lehm
(limon de Hesbaye) durch chemische Auflösung
der übrigen Bestandteile gewonnener und ausge-
waschener, darnach noch gebeutelter Sand von
der mittleren Korngröße von 5 bis 10 //. Bei
fester Zusammenpackung nimmt solcher trockener
Sand so lange Flüssigkeit auf, bis die von dieser
zwischen den Körnern ausgetriebene Luft einen
gewissen Druck erreicht, dessen Größe abhängt
wesentlich von der Kapillarkonstante der Flüssig-
keit und der Feinheit des Sandes; jedoch ver-
hindert der Einhalt in der Durchtränkung nicht
die Anfeuchtung sämtlicher Sandkörner. Ein
überraschendes Ergebnis stellte sich ein , als in
einer Tierblase eingeschlossener Sand der Durch-
tränkung mit Wasser ausgesetzt wurde, indem er
sich da zu einer kompakten Masse verfestigte,
welche sich mit dem Messer in Scheiben von
1 mm Dicke schneiden ließ; diese Scheiben sind
nicht biegsam, sondern zerbrechlich, und lösen
sich ins Wasser geworfen zu Schlamm auf; auch
schon, wenn man sie nur in randliche Berührung
mit einem Wassertropfen bringt, tritt ihr schritt-
weiser Zerfall ein und w^ird der Sand ,, schwim-
mend". Das Gewicht des von diesem gefesteten
Sand (der sich nach einer an anderer Stelle ge-
gebenen Mitteilung auch mittels der Luftpumpe
aus dem frei durchtränkten Zustande erzielen läßt)
aufgenommenen Wassers entspricht ziemlich genau
der Berechnung, wenn man annimmt, daß das
Wasser alle Hohlräume eines aus vollkommen
sphärischen Körnern aufgebauten Sandagglomerates
ausfülle; das von der Größe der sphärischen Kör-
per nach Van Aubel und Cuvelier ganz unab-
hängige Volumen dieser Hohlräume beträgt näm-
lich 26 "/„ des Gesamtvolumens. Diese Erfahrung
führte zu dem Lehrsatz , daß eine Masse aus
trockenem und losem Sande bei der Durchtränkung
mit Wasser ein Festigkeitsmaximum erreicht bei
einem nicht stabilen Gleichgewichtszustande, in
welchem die geringste Hinzufügung oder Ent-
ziehung von Flüssigkeit sofort eine Umlagerung
zur Folge hat, aber der Sand selber in feine, ihren
Zusammenhalt wahrende Scheiben zerschnitten
werden kann. Das Ausmaaß der einer Sandmasse
das Festigkeitsmaximum erteilenden Durchtränkung
steht in physischem Gleichgewichte mit dem-
jenigen der freien Wasseraufnahme von tierischen
Membranen. — Sand schlägt sich in sciiließlich
gleicher Aufschüttungsdichte nieder, ganz unab-
hängig von der chemischen Natur der Flüssigkeit,
in welcher der Niederschlag erfolgt , auch unab-
hängig von deren Kapillarkonstanten oder Mole-
kulargrößen; jedoch variiert die Niederschlags-
geschwindigkeit in ziemlichem Umfange, ohne
daß eine einfache Beziehung zu den physikalischen
Konstanten der Flüssigkeiten in die Augen fiele.
Innerhalb von Gasen ist das Niederschlagsverhalten
im wesentlichen dasselbe wie innerhalb von
Flüssigkeiten, insbesondere auch unabhängig von
deren chemischer Natur und der Gasdichte. —
Sand zerstört den Zustand der Übersättigung und
sogar der Sättigung in einer wässerigen Gaslösung;
er adsorbiert das Gas um seine Körner herum
dermaßen , daß er eine beträchtliche Menge des-
selben befreit. Die um die Sandkörner entstan-
denen Gashüllen bilden ein Hindernis für den
Niederschlag, das jedoch allmählich an Kraft ver-
liert und schließlich verschwindet, weil die Gas-
hüllen keinen stabilen Gleichgewichtszustand be-
sitzen. — Wenn man eine Lösung von zwei
Flüssigkeiten, welche für einander keine allzugroße
Affinität (wie etwa Wasser und Alkohol) besitzen,
mit Sand umrührt, so läßt sich ein Wechsel in
der Zusammensetzung der Lösung nachweisen, in-
dem der Sand diejenige Flüssigkeit um sich kon-
zentriert, zu welcher er größere Affinität besitzt,
während sich mit der anderen die vom Sande
entfernte Flüssigkeitspartie anreichert. Eine größere
Dichte als wie reines Wasser besitzt dasjenige
Wasser, in welchem Sand suspendiert ist und
zwar kann diese Differenz lO "/o überschreiten.
Ein Gemisch von Sand und Wasser verhält sich
wie eine besondere Flüssigkeit; ohne erheblichen
Verlust kann dasselbe sogar durch reines Wasser
hindurchgeschüttet werden. Wie die in den
Flüssigkeiten gelösten Gase den schnellen Nieder-
schlag von Sand hindern, tun dies auch, wenn-
gleich in geringerem Maße, die den Sandkörnern
anhaftenden Flüssigkeitshüllen und zwar um so
eher, je feinkörniger der Niederschlag ist, ohne
Zweifel deshalb, weil seine Festigkeit mit seinem
Volumenverluste wächst. — Sand, welcher in seine
Zwischenräume, unter Vertreibung der Luft aus
ihnen, Wasser aufnimmt, schwillt nicht auf, wenn
das Niveau des Durchtränkungswassers in gleicher
Höhe oder niedriger als die freie Sandoberflächc
liegt. Dringt dagegen ' das Wasser in den Sand
unter einem gewissen, wenn auch schwachen Drucke
ein, so findet Aufschwellung statt; vom Wasser
hängt es also ab, ob sich die Masse von Sand
und Wasser, die als einheitlicher Körper funktioniert
und deren Dichte diejenige von reinem Wasser
übertrifft, im Gleichgewichte befindet oder an-
schwillt. O. L.
Eine Art künstlichen Kometenschweifs
wurde von N i c h o 1 s und Hüll im Anschluß an
ihre neuerlichen, sehr sorgfältigen Versuche über
den durch Lichtstrahlung ausgeübten Druck inso-
fern erzeugt, als es gelang die abstoßende Wirkung
474
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 30
eines Kegels konzentrierten Lichts auf herabfallende
feinste Stäubchen zu demonstrieren (Astrophys.
Journal, Juni 1903). Die genannten Forscher be-
nutzten ein sanduhrähnliches Glasgefäß, pumpten
es unter Erhitzung bis an die Grenze der Er-
weichung des Glases aufs sorgfältigste luftleer,
saugten dann die Dämpfe siedenden Quecksilbers
eine Stunde lang hindurch, um möglichst alle
Reste von permanenten Gasen zu entfernen, und
beseitigten schließlich den Quecksilberdampf fast
völlig, indem sie nach dem Abschmelzen des Ge-
fäßes von der Luftpumpe das damit noch kom-
munizierende Ouecksilbergefäß in eine Mischung
von Äther und fester Kohlensäure eintauchten.
Nachdem diese Kältemischung von — 80" C etwa
eine Stunde lang die Kondensation und Erstarrung
des Quecksilbers besorgt hatte, wurde die Ver-
bindung mit dem Quecksilbergefäß gleichfalls
durch Abschmelzen unterbrochen, so daß nunmehr
neben einer zuvor eingebrachten Staubfüllung nur
noch ein sicherlich äußerst geringer Gasrest in
der Sanduhr vorhanden war. Die Staubfüllung
bestand aus einer Mischung von feinem Schmirgel-
pulver mit verkohlten Sporen einer Bovistart
(Lycoperdum), welche letzteren im Durchschnitt
nur 2 Mikrons (o,o02 mm) Durchmesser hatten
und sehr gleichartig waren.
Brachte man nun durch leichtes Klopfen die
Sanduhr zum Laufen und lenkte einen durch eine
Linse konzentrierten Strahlenkegel intensivsten
Bogenlampenlichts dicht unter die Einschnürung,
so wurden die verkohlten Sporen aufs deutlichste
nach der gegenüberliegenden Glaswand abgelenkt,
während das Schmirgelpulver ungestört senkrecht
herabfiel. Durch Rechnung wurde nun allerdings
festgestellt , daß diese abstoßende Wirkung des
Lichts viel zu stark war, um sie auf den Strahlungs-
druck allein zurückzuführen. Da nun die Wirkung
radiometrischer Kräfte bei der sorgfältigen Ent-
fernung des Gasinhalts wohl ausgeschlossen ist,
so meinen Nichols und HuU, daß die Hauptursache
der Ablenkung im vorliegenden Falle eine raketen-
artige Wirkung von Gasen sein mag, die sich
infolge der Bestrahlung aus den Kohlenstäubchen
entwickeln.
Jedenfalls hat die hier besprochene Iirscheinung
eine außerordentlich große Ähnlichkeit mit der
abstoßenden Wirkung der Sonnenstrahlen auf die
Teilchen der Kometenschweife. Die Wirkung der
Erdanziehung im oben beschriebenen Experiment
war nun freilich mehr als 1600 mal so groß als
die Sonnengravitation im Abstände der Erde, also
hätte beim Versuch der Lichtkegel 1600 mal so
hell sein müssen als Sonnenlicht, um kometarische
Wirkungsbedingungen zu realisieren. Es kann
uns daher nicht wundern, wenn in jener Sanduhr
neben dem Strahlungsdruck noch andere Kräfte
mitwirken mußten, um die starke Ablenkung der
fallenden Sporen zustande zu bringen. Ob nun
bei den Kometen der Strahlungsdruck allein aus-
reicht, um im Sinne von Arrhenius (vgl. N. F.
Bd. I, S. Ii4f) die Schweifbildung zu bewirken.
oder ob auch bei der Bildung der Kometenschweife
radiometrische oder gar raketenähnliche Wirkungen
mit im Spiele sind , das vermögen wir zurzeit
nicht zu entscheiden. Interessant ist aber, daß
wir gegenwärtig, weit entfernt davon, wie früher
die Abstoßung der Kometenschweife als eine
kaum erklärbare Erscheinung bezeichnen zu müssen,
eher durch die Mannigfaltigkeit der uns zur Ver-
fügung stehenden Erklärungsmöglichkeiten in Ver-
legenheit kommen. F. Kbr.
Über die Cellulose. (Ein Sammelreferat über
die neueren Arbeiten auf diesem Gebiete). —
Der Sonne, der Spenderin alles organischen
Lebens, unter deren Einfluß die Pflanze imstande
ist aus unorganischen Stoffen die kompliziertesten
organischen Veibindungen aufzubauen, verdankt
auch die Cellulose ihre Entstehung. So unerschö])f-
lich auch dieser Vorrat an Cellulose, namentlich
in unseren Waldungen, von der Natur gebildet
sich vorfindet und so uralt die Verwendung des
Holzes ist, so ist doch erst in neuester Zeit durch
eingehendere Forschungen das innere Wesen, d. h.
der Chemismus der Holzsubstanz unserem Ver-
ständnis näher gerückt worden. Die chemische
Technologie der Holzfaser beschränkte sich auf
die Herstellung von Kohlen, Kienruß, Teer, Pott-
asche etc. und auf die Produkte, welche bei der
trockenen Destillation des Holzes entstehen, wie
Leuchtgas, Holzessig, Holzgeist, Aceton, Kreosot etc.
Erst die Herstellung des Holzschliffs durch
Keller 1840 und die allgemeine Verwendung
desselben als Lumpensurrogat, ferner die Entdeckung
der Schießbaumwolle von Schönbein und Bot t-
ger im Jahre 1846 brachten neue Anregungen.
Der Holzstoff besteht aus der in Wasser un-
löslichen Masse des Holzes, die durch mechanische
Mittel in kurze Fasern zerteilt wurde. Die so er-
zeugte F"aser ist aber starr und unbiegsam, was
durch die in den Zellwänden eingelagerte in-
krustierende Substanz verursacht wird. Es war
daher von großer Bedeutung, als es im Anfange
der 70er Jahre gelang, die reine Holzfaser, die
Cellulose, aus dem Holze abzuscheiden und so
auf chemischem Wege der Papierfabrikation ein
Material zugänglich zu machen, welches als eben-
bürtiges Ersatzmittel des Hadernstofifs angesehen
werden muß.
Dieser neue Industriezweig hat sich in kurzer
Zeit zu einer außerordentlichen technischen Voll-
kommenheit entwickelt, so daß es jetzt möglich
ist, aus der rohen Holzfaser ein Material herzu-
stellen, das an Reinheit und Weichheit der Baum-
wolle kaum nachsteht. Zu dem älteren Natron-
verfahren und dem hauptsächlich von A. Mitscher-
lich ausgearbeiteten und auf seine jetzige, hohe
Entwicklungsstufe gebrachten Sulfitverfahren sind
neuerdings noch die Verfahren von C. Kellner
und P i c t e t getreten. Kellner verwendet solche
Chemikalien, welche in dampfförmigem Zustande
eine hydrolytische oder oxydierende Wirkung
auf die inkrustierenden Substanzen ausüben. Das
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
475
Holz wird z. B. unter Durchleiten des elek-
trischen Stromes mit einer Kochsalzlösung erhitzt.
Das entstehende Chlor und die unterchlorige Säure
bilden Salzsäure, die mit Natronlauge sich wieder
zu Kochsalz vereinigt, so daß also ein Kreislauf
stattfindet und die P'lüssigkeit lauge Zeit dienen
kann. Während man bei dem Sulfitzellstoffver-
fahren die zur Verwendung kommende schweflige
Säure durch Kalk absorbieren läßt, verwendet
Pictet eine Lösung von schwefliger Säure bei
niederer Temperatur. Der Stoff fällt jedoch etwas
weniger weiß aus, weil sich ein Teil der schwef-
ligen Säure leicht zu Schwefelsäure oxydiert, die
bräunend auf die Cellulose einwirkt. Außerdem
ist der hohe Druck, unter dem gearbeitet wird,
nicht unbedenklich.
Welche Rolle eine Verwertung oder Unschäd-
lichmachung der bei der Zellstoffabrikation ab-
fallenden Laugen spielt, geht aus folgenden, dem
Werke von Schubert über die Cellulose-Fabri-
kation entnommenen Daten hervor. Nach Schubert
sind in i Liter Ablauge ca. 90 g organische Be-
standteile, in I cbm daher 90 kg und in 60 cbm,
d. h. einer Kocherfüllung, die kolossale Menge
von 5400 kg organische Bestandteile! Dies Re-
sultat erklärt sich, wenn man bedenkt, daß zu
100 kg fertiger Cellulose beinahe 300 kg absolut
trockenes Holz erforderlich sind.
Diese großen Mengen nutzlos wegfließender
organischer Stoffe stellen natürlich, von national-
ökonomischem Standpunkte betrachtet, einen er-
heblichen Verlust dar. Sie sind aber auch die
Ursache der Verunreinigung und Verseuchung
vieler Flußläufe geworden, so daß sogar manche
Fabriken gezwungen wurden, ihren Betrieb ganz
einzustellen. Eine große Anzahl von Verfahren
sind in den letzten Jahren ausgearbeitet worden,
welche die Verwertung resp. Unschädlichmachung
dieser Abfallauge zum Gegenstand haben. Man
kann aber nicht sagen, daß diese wichtige Frage
bis jetzt eine wirklich befriedigende Lösung ge-
funden hätte, obgleich von selten einiger Fabriken
zum Teil sehr hohe Geldpreise ausgesetzt worden
sind. Von diesen Verfahren seien hier nur einige
erwähnt. So gewinnt Mitscherlich aus der
Ablauge einen billigen Klebstoff und einen Gerb-
stoff, Eckmann das sog. Dextron, welches zum
Beizen oder Schlichten von Textilstoffen verwendet
werden soll. Nach Frank soll jedoch das Be-
streben nur darauf gerichtet sein, die den Fluß-
läufen wirklich schädlichen Bestandteile der Lauge
zu entfernen , also schweflige Säure und deren
gelöste Verbindungen, die in der Lauge enthalte-
nen Aldehyde, welche ebenfalls Sauerstoff ent-
ziehend wirken, ferner die stickstoffhaltigen Pro-
dukte, welche die Gärung und Algenbildung
fördern, endlich die gelösten Harze, die bei späterer
Ausscheidung den Fischen und Pflanzen durch
Abschluß der Luft Nachteile bringen. Dagegen
sollen die anderen Bestandteile, wie Zucker, sowie
Amyloide, ferner die Aschenbestandteile der Hölzer
als unschädlich unberücksichtigt bleiben.
Auf die Chemie der Cellulose und auf die
neueren Arbeiten auf diesem Gebiete kann, bei
dem mir hier zur Verfügung stehenden Räume,
natürlich nur kurz eingegangen werden.
Die Cellulose bildet sich wahrscheinlich aus
den im Protoplasma vorhandenen Kohlenhydraten,
welche ihrerseits aus der Kohlensäure der Luft
durch Assimilation entstehen. Die Bildung der
Cellulose muß durch einen Fermentationsprozeß
des Zuckers in der Pflanze vor sich gehen. Bringt
man Baumwolle in eine Rohrzuckerlösung, so findet
eine weitere Bildung von Cellulose statt. E. D u r i n ,
von dem diese Versuche herrühren, will in dieser
Weise durch Diastase lösliche Cellulose erhalten
haben. Brownund Morris haben Beobachtungen
gemacht über eine Bakterienart, die Cellulose zu
bilden imstande ist. Reinkulturen dieses Bacterium
xylinum vermehrten sich in Lösungen von Lävulose,
Dextrose etc. unter Bildung von Cellulose. Diese
Versuche bedürfen alle noch der Bestätigung.
Immerhin scheinen die nahen Beziehungen, die
für Zucker und Stärke nachgewiesen sind, auch
zwischen Zucker und Cellulose vorhanden zu sein.
Pasteur erhielt bei der Vergärung von Zucker
mit Bierhefe unter anderem auch etwas Cellulose.
Umgekehrt ist die Zuckerbildung aus Cellulose
schon lange bekannt. Lindsey und Tollens
stellten aus Tannenholz durch längeres Erhitzen
mit Schwefelsäure unter Druck mehrere Prozente
reinen Traubenzuckers dar. Ferner soll Schieß-
baumwolle beim Stehen im Sonnenlicht, oder beim
Erwärmen, bis zu 14 "„ Zucker liefern. Begreif-
licherweise würden diese und ähnliche Reaktionen,
welche eine technische Gewinnung von Zucker
aus Holz ermöglichten, eine außerordliche national-
ökonomische Bedeutung besitzen, aber bis jetzt
sind die Versuche im großen noch immer an der
zu geringen Ausbeute gescheitert.
Vor kurzem ist es Gilson gelungen, die Cellu-
lose kristallisiert zu erhalten, indem er reine Cellu-
lose in Schweizers Reagenz langsam verdunsten
ließ. Die Eigenschaft der Gelatinierung der Cellulose
in Schweizers Reagenz hat auch eine wichtige in-
dustrielle Verwendung gefunden. Vegetabilische
Faser durch ein Bad von solchem Kupferoxyd-
Ammoniak gezogen, wird mit einem feinen Über-
zug gelatinierter Cellulose versehen , die beim
Trocknen Kupferoxyd zurückhält. Hierdurch werden
die Poren der Stoffe geschlossen und das Zeug
wasserdicht. Die Gegenwart von Kupfer ver-
hindert zugleich das Eindringen der Motten. In dem
gelatinierten Zustande lassen sich auch die Cellulose-
fasern in beliebige Formen pressen. Diese Fabrikate
werden nach den Patenten von Scoffern und
Wright hergestellt.
Ähnliche gelatinierte Cellulose erhält man nach
Cross und Bevan durch Einwirkung von Schwefel-
kohlenstoff auf mercerisierte, d. h. mit Alkalien be-
handelte, Baumwolle. Diese Alkali-Cellulose-Xan-
thate sind vollständig löslich in Wasser. Die be-
merkenswerteste Eigenschaft der Cellulose-Xan-
thate ist ihre leichte Zersetzlichkeit in Cellulose,
476
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 30
Alkali und Schwefelkohlenstoff. Beim Eintrocknen
hinterbleibt die Cellulose und stellt eine homo-
gene farblose Haut von großer Zähigkeit und
Elastizität dar. Die regenerierte Cellulose unter-
scheidet sich in verschiedenen Punkten von der
gewöhnlichen Cellulose. Ihr Wassergehalt ist
größer; die Hydroxylgruppen sind reaktionsfähiger;
sie läßt sich leicht acetylieren und hat größere
Verwandtschaft zu Farbstoffen. Wegen ihrer Fähig-
keit äußerst schleimige Lösungen zu bilden, be-
zeichnen die Erfinder dieses interessante Produkt
mit dem Namen Vi sc ose. Dieselbe ist einer
mannigfachen technischen Anwendung fähig; als
Ersatz des Collodiums und des Celluloids, als
Appretur- und Dichtungsmaterial, als teilweiser
Ersatz der Harzleimung in der Papierfabrikatioii etc.
Die aus der Lösung in Schwefelkohlenstoff re-
generierte Cellulose reagiert direkt mit Essigsäure-
anhydrid. Bei 120" C wird das entstehende Pro-
dukt zu einer Flüssigkeit von großer Viskosität
gelöst, die zur Herstellung von Films für photo-
graphische Zwecke dienen soll. Nach der Ana-
lyse scheint es ein Tetracetat zu sein. Aus der
Lösung in Chloroform erhält man das Tetracetat
in Form durchsichtiger Häutchen, die als Ersatz des
Collodiums verwendet werden sollen. Von den
Verbindungen der Cellulose sind bis jetzt die Nitro-
cellulosen die wichtigsten, von denen bekanntlich
die höheren Nitrate als Explosivstoffe und zu
rauchschwachenPulvern verarbeitet werden, während
die niederen unter den Namen Collodium,
C e 1 1 u 1 o i d , X y 1 o n i t etc. zu den mannigfaltigsten
Zwecken Verwendung finden. Der Aufsehen er-
regende Prozeß, der im Jahre 1894 in England
über die wichtigsten rauchlosen Pulver Balli-
st it und Cordit stattfand, hat gezeigt, daß unsere
Kenntnisse der Nitrocellulosen noch sehr mangel-
haft sind. Als noch nicht ganz beseitigter Übel-
stand der rauchlosen Pulver, die in raschem Sieges-
lauf das alte Schwarzpulver verdrängt haben, müssen
die stark elektrischen Eigenschaften, die Schwierig-
keit der Herstellung in Körnerform und die noch
nicht genau studierte chemische Veränderung bei
längerem Lagern angesehen werden.
Die Bemühungen, den Holzzellstoff als Roh-
material für die Darstellung von Nitrocellulosen
zu verwenden, dauern fort. Die nach einem solchen
verbesserten Verfahren von der Fabrik Wald-
hof in den Handel gebrachte wollartig feine
Cellulose ist aber noch etwas hoch im Preis.
Was das C e 1 1 u 1 o i d , bekanntlich eine Mischung
aus Nitrocellulose und Kampfer, anbetrifft, so hat
seit der Entdeckung desselben durch Hyatt die
P"abrikation außerordentliche Fortschritte gemacht.
Das Bestreben , die anfangs stark übertriebene
Feuergefährlichkeit des Celluloid herabzusetzen,
hat zu verschiedenen Produkten geführt, die als
Vegatalln oder Celluloid-Ersatz in den Handel
kommen. Den teueren Kampfer hat man ganz
neuerdings auch mit Erfolg durch andere Körper
ersetzt. Die vielseitige Verwendung des Cellu-
loids ist zu bekannt, um hier darauf einzugehen.
Eine neuere technische Anwendung ist die zur
Vervielfältigung von Holzschnitten.
Eine weitere sehr interessante Verwendung
haben die Nitrocellulosen in der Darstellung künst-
licher Seide gefunden. Während nach dem
Verfahren von C h a r d o n n e t , V i v i e r und Leh-
ner mehr oder weniger nitrierte Sulfit- oder Baum-
wollcellulose verwendet wird, sucht Langhans
durch Behandlung der Cellulose mit Schwefelsäure
zu einem geeigneten Grundstoff zu gelangen. Die
nitrierte Cellulose läßt man, in einer Alkohol-
Athermischung gelöst, aus einer feinen Öffnung
unter Druck ausfließen. Äther und Alkohol ver-
flüchtigen sich und ein der Seide ähnlicher, ja
dieselbe an Glanz noch übertreffender Faden bleibt
zurück, der an Festigkeit der natürlichen aller-
dings nachsteht. Um der künstlichen Seide ihre
allzuleichte Entzündlichkeit zu nehmen, muß die-
selbe denitriert werden. In dieser Denitrierung
hat man jetzt so große Fortschritte gemacht, daß
sie kaum noch leichter verbrennlich ist als Baum-
wolle. Eine Gefahr bei der Fabrikation bilden
die großen Äthermassen. So braucht man zur
Herstellung von 1200 kg Seide nicht weniger als
6000 kg Äther- Alkohol.
Werfen wir einen Rückblick auf das Vor-
stehende, so muß es auffallen, daß ein so großes
Gebiet wie die Chemie der Cellulose solange un-
bearbeitet blieb und zwar noch zu einer Zeit, als
die Chemie auf allen anderen Gebieten die raschesten
Fortschritte machte. Der Grund liegt darin, daß
die Cellulose sich gegen die meisten chemischen
Reagentien indifferent verhält. Da es aber jetzt
gelungen ist, lösliche und leichter angreifbare Cellu-
loseverbindungen zu erhalten, welche wir haupt-
sächlich den Arbeiten von Cross und Bevan ver-
danken, so werden jedenfalls auch neue inter-
essante Entdeckungen sich häufen. Bildet doch
die Holzsubstanz ein Rohmaterial, dem sich, an
Reichhaltigkeitderdarin vorkommenden chemischen
Verbindungen, höchstens der Steinkohlenteer an
die Seite setzen läßt.
Unterstützt durch eine genaue Kenntnis des
Rohmaterials ist die Industrie der Cellulose zu
ihrer jetzigen großen Bedeutung herangewachsen.
Wenn früher die Praxis der wissenschaftlichen
Forschung weit vorausgeeilt war, so hat diese
jetzt mit Riesenschritten das Versäumte nach-
geholt und die zukünftigen Fortschritte dieser In-
dustrie gehen Hand in Hand mit den Fortschritten,
welche auf wissenschaftlichem Gebiete gemacht
werden.
Dr. Edgar Odernheimer.
Wetter-Monatsübersicht.
Innerhalb des vergangenen März wechselte die Witterung
in Deutschland mehrmals ihren Charakter, jedoch herrschte
trockenes, ziemlich heiteres und mildes Wetter, namentlich im
Osten, entschieden vor. Der Monat begann überall mit Frost,
der in Norddeutschland , wie die beistehende Zeichnung er-
sehen läßt, etwa bis zum 7. an Strenge zunahm, während im
Süden von Anfang an eine ziemlich gleichmäßige Erwärmung
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
477
stattfand. Am kältesten war es in der Provinz Ostpreußen,
wo in der Naclit zum 7. März in Königsberg mit — 18" C
die tiefste Temperatur dieses Winters erreicht wurde.
Aber schon zwei Tage später hatte dort das Thermometer
den Gefrierpunlit um 4 Grade überschritten, im ganzen deut-
schen Binnenlande stieg es am 9. nachmittags auf mindestens
10", zu Fricdricbshafcn auf 17° C.
AliWcj's'Tertip^raturcti- einiger 0rte im Sßiin j901
BrriinprWefffTbureau
Längere Zeit hindurch ging die Erwärmung dann nicht
weiter vorwärts , vielfach sogar ein wenig zurück. Um die
Mitte des Monats traten neuerdings in den meisten Landes-
teilcn Nachtfröste auf, die den schneefreien Saaten in Ost-
preußen, Schlesien und einzelnen Gegenden Süddeutschlands
mehr oder minder erheblichen Schaden brachten. Erst seit
dem 20. März gab es wieder sehr schöne, sonnige Frühlings-
tage , am 28. ging die Temperatur in Frankfurt a. M. und
Bamberg bis ig" C in die Höhe, jedoch kamen dazwischen
und n.ichher noch recht kalte Nächte und auch einige ziem-
lich kühle Tage vor.
Im Monatsmittel lagen die Temperaturen Nordwest- und
Süddeutschlands ungefähr einen Grad unter ihren normalen
Werten, die hingegen nordöstlich der Elbe uro einen halben
Grad oder etwas mehr übertroffen wurden. Nach einer längeren
Reihe zu trüber Monate zeichnete sich der März in einzelnen
MiitltrtrWerl tur
Deuföchland
MünalssummcpMar:
». (II Oi Ol 00 1899
^ BgHiner Wetlartrmvau. ^
Gegenden wieder durch einen kleinen Überschuß an Sonnen-
strahlung aus. In Berlin betrug die Dauer des Sonnenscheins
im diesjährigen März 104 Stunden und kam dem Durchschnitte
der letzten 12 Märzmonate gerade gleich.
Ziemlich ungleich waren , sowohl auf die einzelnen Ab-
schnitte des Monats als auch auf die verschiedenen Gegenden
Deutschlands die Niederschläge verteilt, die in der ersten
Märzwoche fast nur als Schnee, später mehr als Regen fielen.
Am geringsten waren sie, wie aus der nebenstehenden Dar-
stellung hervorgeht, im allgemeinen während der Zeit vom
13. bis 21. März, doch kamen auch am Anfang und besonders
gegen Ende des Monats zwischen den Schnee- und Regen-
tagen mehrere trockene Tage vor. Die am weitesten verbrei-
teten und stärksten Regeniälle fanden am 29. und 30. März
statt. Sehr heftige, teilweise stürmische Südostwinde gingen
ihnen voran, und sie wurden in vielen Gegenden von Hagcl-
oder Graupelschauern, in einzelnen auch von Gewittern be-
gleitet. Die gesamte Nicdcrschlagshöhe des Monats betrug
für den Durchschnitt aller Stationen 33,4 mm, fast 13 mm
weniger als im Mittel der Märzmonate seit Heginn des vorigen
Jahrzehnts. Am wenigsten Niederschläge, durchschnittlich nur
22 mm, sind östlich der Elbe gefallen, etwas mehr als doppelt
so viel in Suddeutschland.
In der allgemeinen Anordnung des Luftdruckes traten im
Laufe des März gewohnlich nur langsame .Änderungen und
mehrfache Wiederholungen ein. Meistens lag ein sehr um-
fangreiches barometrisches Maximum im Innern Rußlands, das
dort am Anfang und gegen Ende des Monats 7^5 mm Höhe
überschritt, während sich Minima teils in der Nähe der Briti-
schen Inseln, teils auf dem Mittelländischen Meere aufhielten.
Für Mitteleuropa hatte diese Druckverteilung ein starkes
Vorherrschen östlicher Winde zur Folge , die bald kalte,
bald milde Luft mitbrachten, je nachdem das Maximum nörd-
licher oder südlicher gelegen war und die Minima uns fern
blieben oder etwas näher heranrückten. In Deutschland selbst
drangen in den ersten Märztagen von der Mittelmecrdepression,
später von den westlichen Depressionen einzelne Teilminima
ein und führten meist kurz vorübergehendes trübes, nasses
Wetter herbei. Ihnen folgte fast jedesmal ein neues Maximum
vom Atlantischen Ozean nach, das schnell ostwärts oder nord-
ostwärts weiterzog und dann längere Zeit in Rußland verblieb.
Das tiefste barometrische Minimum trat erst am 29. März
bei Schottland auf und breitete alsbald sein Gebiet über die
ganze westliche Hälfte Europas aus. Die Niederschläge waren
daher jetzt allgemeiner und in den meisten Gegenden reich-
licher als bisher. Namentlich kamen in Italien, wo der Monat
mit starken Schneefällen im Norden und heftigen Gewitter-
regen im Süden begonnen hatte , neuerdings furchtbare Un-
wetter vor, durch die die Ortschaften am Po und seinen
Ncbenllüssen vielfach überschwemmt wurden. Dr. E. Leß.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der 8. Internationale Geographenkongreß findet
vom 8. September 1904 ab in Washington, D. C, U. S. A.,
statt. — Adresse ist: The eighth international Geographie
Congress Hubbard Memorial Hall, Washington, D. C, U. S. A.
Bücherbesprechungen.
Franz Krasan, Cyinnasialprofessor in Graz, An-
sichten und Ci es p räche über die indi-
viduelle und spezielle Gestaltung in der
Natur. Leipzig, Verlag von VV. Engelmann.
1903. 280 Seilen. — Preis 6 Mk.
Der nicht nur in seiner Spezialwissenschaft , der
Botanik, sondern auch in Mineralogie, Geologie und
Paläophytologie sehr gut orientierte Verfasser bietet
uns im vorliegenden Werke eine ganze Reihe ein-
gehender Betrachtungen über die unendliche Zahl
der Möglichkeiten und tatsächlichen Komplikationen
478
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 30
im Reich der individuellen und spezifischen Variation
der Lebewelt. Zuweilen setzen seine Ausführungen
sehr breit und mit scheinbar trivialen, selbstverständ-
lichen Betrachtungen ein , dennoch erweist es sich
meist als lohnend , den weit ausholenden Gedanken-
gängen zu folgen , da sie sehr geeignet sind , den
Leser auf die unerwartet große Komplikation und die
Fülle oft unlösbarer — Schwierigkeiten hinzuweisen,
welche das Variationsproblem bietet, ob man nun
von der phylogenetischen oder auch nur von der
systematischen Seite herantritt. So warnen diese Be-
trachtungen den Systematiker und Biologen vor einer
ganzen Reihe versteckter Fallgruben , welche die
iNIaterie birgt, und zeigen, wie hier jeder Schritt sorg-
fältig geprüft und überlegt werden muß , wenn man
sich vor voreiligen Schlüssen und ungenauen Vor-
stellungen hüten will. Auch viele Bemerkungen, die
nicht neu , aber in Spezialwerken verstreut sind,
erhalten durch eine solche zusammenfassende Behand-
lung größeres Gewicht und die Grenzen ihrer Be-
deutung lassen sich klarer beurteilen. Eine INIenge
realer Beispiele und Beobachtungen verleiht den rein
theoretischen Erörterungen Plastik. Recht lebendig
und eigenartig wird das Buch dadurch , daß der
größte Teil in Dialogform geschrieben, gleichsam eine
Reihe ungezwungener, wissenschaftlicher Collo(iuia
darstellt. Dr. E. Meyer.
i) Dr. Crüger's Grundzüge der Physik. Aus-
gabe B. 28. Aufl., bearb. von Dr. Hildebrand.
Mit 371 Abbildgn. und einem farbigen Spektrum.
Leipzig, Amelang. 1903. 242 Seiten. — Preis
geb. 2,50 !\lk.
2) Dr. Rosenberg, Lehrbuch der Physik für
die oberen Klassen der Mittelschulen. Mit 615
Fig. und einer Spektraltafel, ^\'ien und Leipzig,
A. Holder. 1904. 488 Seiten. — Preis geb.
5,20 Mk.
3) K. Fufs und G. Hensold, Lehrbuch der
Physik. Mit 422 Abb. und Spektraltafel. 5. Aufl.
Freiburg i. B. , Herder. 1903. 542 Seiten. —
Preis geb. 5,75 Mk.
4) Prof. L. Pfaundler, Die Physik des täg-
lichen Lebens. Mit 464 Abbild. Stuttgart u.
Leipzig, Deutsche Verlagsanstalt. 1904. 420 S. —
Preis geb. 7,50 .Mk.
5) Schläpfer, N a t u r w i s s e n s c h a f 1 1 i c h e s R e p e-
titorium. 2. Aufl. Davos, H. Richter. 1903.
290 Seiten. — Preis geb. ^,40 Mk.
Nr. I ist eine verkürzte Ausgabe des Bd. I, S. 3S4
besprochenen Lehrbuchs desselben Verfassers. Die
dort gemachten Ausstellungen sind in der vorliegen-
den Ausgabe berücksichtigt. Das Buch dürfte für
den Anfangsunterricht recht brauchbar sein.
Nr. 2 ist eine bedeutsame Neuerscheinung auf
dem Gebiete der Schulbuchliteratur. Der Stoft' ent-
S].)richt den Vorschriften der österreichischen Gym-
nasien und umfaßt daher neben der eigentlichen
Physik auch Chemie und mathematische Geographie.
Die Darstellung ist durchweg gründlich durchgearbeitet
und angenehm lesbar, besonderer Wert wird auf die
Erreichung voller Sicherheit in den Grundbegriften
gelegt. So ist z. B. der Begriff des elektrischen
Potentials und des Potentialgefälles bei einem Strom
meisterhaft behandelt. Die zahlreichen Figuren zeich-
nen sich durch Klarheit aus. In der Benutzung
mathematischer Entwicklungen hat sich der Verf eine
angemessene Beschränkung auf das Notwendigste auf-
erlegt. Die den einzelnen Kapiteln angefügten Auf-
gaben sind zumeist ohne längere Rechnung lösbar.
Unkorrekt ist die Seite 231 über Passate und die
Buys-Bollot'sche Regel eingefügte Bemerkung, da die
Deviation der Winde bei ostwestlicher Richtung nicht
Null, sondern in jedem Azimut gleich groß ist.
Nr. 3 ist die den Fortschritten der Wissenschaft
angepaßte und zugleich auch didaktisch weiter ver-
vollkommnete Neuauflage eines bewährten, vorwiegend
die Bedürfnisse der Lehrerseminarien berücksichtigen-
den Lehrbuchs. Besondere Erweiterung haben in
der vorliegenden Ausgabe die Aufgaben erfahren,
denen die Ergebnisse durchweg beigefügt sind. "
Nr. 4 entspricht dem Titel insofern nicht ganz,
als die Bezugnahme auf das tägliche Leben kaum
stärker hervortritt als in irgend einem physikalischen
Sciiulbuch. Natürlich ist die Darstellung eine mehr
erzählende. Es liest sich in dem Buche recht ange-
nehm, so daß es als Geschenk für die Jugend sicher
zu empfehlen ist. Nur hätte unseres Erachtens
manches, z. B. die Dynamomaschine, der Prony'sche
Bremszaum etc., wegbleiben können , um für die Er-
scheinungen des täglichen Lebens mehr Raum zu
gewinnen. In der Mechanik wird auf die bei der
Eisenbahn und dem Fahrrad zu machenden Beobach-
tungen zu wenig Bezug genommen, das Kugellager
wird nicht erwähnt. Bei der Kapillarität werden
niedliche Kunststücke besprochen, die aber dem Leser
ganz unverständlich bleiben, während vom Lampen-
docht, dem Löschblatt, der Porosität der Mauersteine
etc. mit keinem Wort gesprochen wird. Vom Gas-
glühlicht ist in dem Buche nichts zu finden. Bei der
Besprechung der Öfen fehlt die Berücksichtigung der
jetzt so verbreiteten Dauerbrenner und ihre Beein-
flussung der Luftfeuchtigkeit. Auch wird eine Haus-
frau vergeblich zu erfahren suchen, warum der nasse
Koks besser anbrennt als trockener usw. Kurz, bei
einer zweiten Auflage könnte das Buch in vieler
Hinsicht seiner Bestimmung besser angepaßt werden.
Nr. 5 ist eine gedrängte Zusammenstellung der
wichtigsten Tatsachen sowohl der beschreibenden
Naturwissenschaften, als auch der Physik und Chemie.
Bei Repetitionen für Prüfungen wird das Buch gute
Dienste leisten können. F. Kbr.
Dr. R. Schweitzer, Die Energie und Entropie
der Naturkräfte. Köln a. Rh., J. P. Bachern. Ohne
Jahreszahl. — Preis 1,20 Mk.
Die wichtigsten Tatsachen zur Begründung des
Energiegesetzes und der Entropielehre werden in an-
regender, gemeinverständlicher Darstellung auseinander-
gesetzt. Im Schlußkapitel benutzt Verl', den nach
dem Entroi)iesatz zu postulierenden Anfangs- and
Endzustand des Weltlaufs zur Begründung eines
Scftöpferbeweises , der fiü- solche Naturen, die sich j
nicht mit der Erkenntnis des Seienden bescheiden ,/
N. F. III. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
479
wollen, sympathisch sein mag. Unseres Erachtens hat
die Erfahrungswissenschaft mit den mystischen Nei-
gungen des Menschen nichts zu tun, ihre Lehren
lassen sich weder für, noch gegen den Atheismus ins
Feld führen. F. Kbr.
i) Dr. Georg Hauberrifser, Wie erlangt man
brillante Negative und schöne Abdrücke.
13., vollst, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Mit 17 Abbildungen und 5 Tafeln. Leipzig 1904.
Ed. Liesegangs Verlag (M. Eger).
2) Photographischer Almanach für das Jahr
1904. 24. Jahrgang. Begründet von Dr. P. E. Liese-
gan g. Herausgegeben von Joh. Gaedicke,
Redakteur des Photographischen Wochenblattes.
Leipzig 1904. Ed. Liesegangs Verlag (M. Eger).
— Preis M. i, geb.i. M. 1,25.
3) Dr. J. M. Eder, Die Praxis der Photo-
graphie mit Gelatine-Emulsionen. Aus-
führliches Handlmch der Photographie. X. Heft.
(III. Bandes 2. Heft.) 5. vermehrte und verbesserte
Auflage. Mit 206 Abbildungen. Halle a. S. 1903.
Wilh. Knapp. — Mk. 8. (Einzeln käuflich.)
4) Dr. J. M. Eder, Die Photograi)hie mit
Chlors i ll)e r- Gelati ne. Ausführliches Handbuch
der Photographie. XI. Heft. (UI. Bandes 3. Heft.)
5. vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 20 Ab-
bildungen. Halle a. S. 1903. Wilh. Knapp. (Ein-
zeln kauflich.)
5) G. Pizzighelli, Die photographischen Pro-
zesse. Dargestellt für Amateure und Touristen.
Handbuch der Photographie. Band II. 3. ver-
besserte Auflage, bearbeitet von Gurt Mischewski,
früher langjährigem ersten Assistenten am photo-
chemischen Laboratorium der kgl. Technischen
Hochschule zu Berlin. Mit 221 Abbildungen im
Te.xt. Halle a. S. 1903. Wilh. Knapp. — Mk. S.
6) Arthur Frhr. v. Hübl, Die Ozotypie. Ein
Verfahren zur Herstellung von Pigmentkoi)ien ohne
Übertragung. Encyklopädie der Photographie.
Heft 47. Halle a. S. 1903. Wilh. Knapp. — Mk. 2.
7) Dr. F. Stolze, Chemie für Photographen.
Unter l)es()nderer Berücksichtigung des photographi-
schen Fachunterrichts. Encyklopädie der Photographie.
Heft 46. Halle a. S. 1903. Wilh. Knapp. — Mk. 4.
i) Der Liesegang'sche Verlag bringt in ■ dem
Hauberrißer'schen Büchlein eine vorzügliche Anleitung
auf den Markt, die auf den nur 54 Seiten mit über-
raschender Klarheit die zum Gelingen guter Bilder
zusammenwirkenden Faktoren und die Mittel zur Ver-
hütung \on Mil.5erfolgen darlegt. Für den Anfänger
auf dem Gebiete der Amateur-Photographie dürfte es
kaum einen zweckmäßigeren Leitfaden geben.
2) Der Photographische Almanach bietet neben
der reichen bildlichen Ausstattung, von der nur ein
Porträt des Hofrats Prof. Eder in Heliogravüre er-
wähnt sei, einen überaus mannigfachen Inhalt. Neben
dankenswerten photographisch-technischen Hinweisen,
wie die auf das Janas- und Doropapier, finden sich
auch Aufsätze von großem allgemeinem Interesse. So
behandelt J. Gaedicke das Gärtner'sche Verfahren der
Farbenphotographie, dessen zwar einigermaljen be-
schränkte aber verhältnismäßig bequeme Ausführung
ihm für den Amateur besondere Bedeutung geben.
Hervorgehoben seien noch ein Artikel \on E. Ruhmer
über Selenzündapparate und von A. Parzer-Mühlbacher
über das Poulsen'sche Telegraphen.
3) und 4) Das Eder'sche Handbuch ist so be-
kannt, daß ein kurzer Hinweis auf das Erscheinen
der beiden oben genannten Abschnitte in nunmehr
fünfter Auflage genügt. Die rasche Folge der Auf-
lagen hat es ermöglicht, in diesen beiden wichtigsten
Gebieten der Photographie dem Werke seinen Wert
als ausführliches Nachschlagebuch auch für die neuesten
Phasen der Entwicklung zu bewahren. Eingehende
Behandlung finden auch die Filmtechnik und die
orthochromatische Photographie, die dem photo-
graphierenden Naturwissenschaftler besonders nahe
liegen. Das zweite der angezeigten Hefte enthält
übrigens viel mehr als sein Titel besagt, so u. a. den
wichtigen Abschnitt über die Fehler beim Emulsions-
\erfahren, und einen sehr inhaltreichen Nachtrag.
5) Während das Eder'sche Werk schon seines
großen Umfanges wegen mehr für den Fachphoto-
graphen in Betracht kommt, ist das Pizzighelli'sche
Buch gerade für den Naturwissenschaftler, der sich
bis zum Umfange eines Handbuches in die Photo-
graphie vertiefen will, besonders empfehlenswert, zu-
mal in der Neubearbeitung die Leistungsfähigkeit der
Sensibilisatoren und die Chemie der Entwickler trotz
der notwendigen Kürze zu gebührender Geltung
kommen. Sehr ausführlich sind neben dem Silber-
druckverfahren die Koi)ierprozesse mit Platinsalzen,
der Pigmentdruck, der Gummidruck und die unten
noch zu erwähnende Ozotypie sowie die üblichen
Lichtpausverfahren beschrieben. Wenn diese Ab-
schnitte für den Naturwissenschaftler bei seiner photo-
graphischen Tätigkeit weniger in Betracht kommen,
da er mit einem einzigen .Silberdruckverfahren meistens
auskommt, so ist um so wichtiger für ihn der letzte
Abschnitt über die Bestimmung der Belichtungsdauer,
in der doch immer der Kernpunkt aller Schwierig-
keiten liegt.
6) Die Ozotypie, die Frhr. v. Hübl in einem
44 Seiten zählenden Büchlein weiteren Kreisen em-
pfiehlt , ist eine Abänderung des Pigmentdrucks, die
dessen Ausführung wesentlich vereinfacht. Die doppelte
tJbertragung des Pigmentbildes fällt fort, und die
Haltbarkeit der dazu verwandten präparierten Papiere
gibt die Möglichkeit, daß der Pigmentdruck sich in
dieser Form in Anbetracht seiner unnachahmlichen
Effekte auch in Amateurkreisen einbürgert. Jedenfalls
verdient das Verfahren das weitgehendste Interesse.
7 ) Das Stolze'sche Buch ist eine kurz gefaßte Chemie,
in die eine eingehendere Behandlung der in der
Photographie zur Verwendung kommenden Stoffe je-
weilig eingefügt ist. In erster Linie ist es demgemäß,
wie auch der Titel besagt, ein Buch für den pholo-
graphischen Fachunterricht und für diesen gewiß sehr
geeignet. Bei der nachgerade unübersehbaren Menge
von verschiedenartigen Körpern, die die Photographie
sich mit der Zeit dienstbar gemacht hat, nniß das nur
1 7 1 Seiten starke Bändchen sich natürlich meist mit
kurzen Bemerkungen über jeden begnügen. Deshalb
48o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. h\ m. Nr. 30
wird der Naturforscher, der sich beim Photographieren
über die chemiscfie Natur seiner Materialien infor-
mieren will, besser zu einem Lehrbuche der Chemie
und einem der oben genannten Handbücher greifen.
F. S.
Literatur.
Pfeffer, Prof. Dr. W. : Pflanzenphysiologie. Ein Handbuch
der Lehre vom Stoffwechsel u. Kraftwechsel in der Pflanze.
2. völlig umgearb. Aufl. II. Bd. Kraftwechsel. 2. Hälfte.
(XI u. S. 353 — 986 m. 60 Abbildgn.) gr. 8°. Leipzig '04,
W. Engelmann, — ig Mk. (II. Bd.: 30 Mk.; geb. in Halb-
frz. 33 Mk.)
Philippson, Alfr. : Das Mittelmecrgebiet, seine geographische
11. kulturelle Eigenart. Mit 9 Fig. im Te.vt , 13 Ansichten
u. 10 Karten auf ]5 Taf (VIII, 266 S.) gr. 8". Leipzig
'04, B. G. Teubner. — 6 Mk. ; geb. in Leinw. 7 Mk.
Schenck, Prof F., u. A. Gürber, DD.: Leitfaden der Phy-
siologie des Menschen f. Studierende der Medizin. 3. Aufl.
(VIII, 290 S. ra. 46 Abbildgn.) gr. 8". Stuttgart '04, F.
Enke. — 5,40 Mk. ; geb. in Leinw. 6,40 Mk.
Briefkasten.
Wir können nur solche Fr.agen behandeln , von denen
vorauszusetzen ist, daß ihre Beantwortung vom Fragesteller
nicht leicht durch selbständiges Nachsehen usw. zu erreichen ist.
Red.
Herrn M. L. in Luxemburg. — Literatur über die
Geologie der Ei fei ist die folgende.
Monographien: J. Steininger: Geognostische Beschrei-
bung der Eifel. Trier 1853. v. Dechen: Erläuterungen der
geolog. Karte der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen.
Kd. 11. Bonn 1884. R. Lepsius: Geologie von Deutsch-
land. 1. Stuttgart 1887 — 92.
Zeitschrift der deutsch, geol. (Jesellschaft: 1855. Bd. VII.
F. Roemer. p. 377. — 1871. Bd. XXIll. E. Kayser. p. 289ff.
Jahrbuch der Kgl. preuß. geolog. Landesanstalt: 1882/83
E. Schulz, Eifelkalkmulde v. Hillesheim. —
Verhandlungen des naturhistor. Vereins der preuß. Rhein-
lande und Westfalens. (Bonn); 1852. I.X. v. Dechen p. 289. —
1853. X. Weber p. 409. — 1861. XVIIl. v. Dechen p. 1. —
1865. XXII. V. Dechen p. 141. — 1870. XXVII. E. K.ayser,
Corresp. -Blatt p. 61. — 1874. XXXI. v. Dechen p. 170 (.Sitz.-
Ber.) — 1883. XL. E. Holzapfel p. 397. — 1884. XLI.
E. Holzapfel p. 400. Lassaulx. — 1891. XLVllI. Schulte
p. 174. Follmann p. 117. — 1882. XXXIX. FoUmann p. 129.
Palaeontographica III. Schnur.
Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie etc. 1894.
II. Bd. F. Sandberger. p. 90. — 1855. F. Roemer. p. 321.
Dr. Alex. Fuchs.
Anfrage: Was ist ,,B enoidg as". Die Redaktion
kennt den Namen nicht. Vielleicht kann einer der Leser
Auskunft geben.
Herrn Gartendirektor G. in Aachen. — Sie fragen nach
Lexicon generum Phanerogamarum von T. von Post und (I)tto
Kuntze. Darüber ist sehr schwer etwas kurz und bündig zu
sagen. Solange man das Buch, wie auch die früheren Bücher
O. Kuntze's, lediglich als Nachschlagewerk benutzt , um sich
über Datum der Veroftentlichung etc. zu orientieren , ist es
sehr brauchbar. .Allerdings muß man über die einzelnen
zitierten .Tutoren auch einigermaßen Bescheid wissen , denn
aus den Büchern ist oft nicht zu ersehen, wie ein solcher
,,Name" ursprünglich angewandt ist, außerdem sind natürlich,
wie immer bei solchen Namenmassen, ebenso wie bei den
von Kuntze so angegriffenen Autoren, Irrtümer und Abschreib-
fehler untergelaufen. — Die Hauptsache, die es für irgend-
welche praktischen Zwecke für jeden, der sich nicht speziell
mit systematischen Fragen beschäftigt, unbrauchbar macht, ist
die auch von Ihnen hervorgehobene höchst ur zweckmäßige
Nomenklatur. O. Kuntze will den ältesten Gattungsnamen
bis 1735 zurück gelten lassen gleichviel wo, wie oder von
wem er publiziert ist, also zurück bis zu einer Zeit, wo die
größte Mehrzahl der Schriftsteller noch gar nicht den Begriff
der ,, Gattung" in unserem Sinne hatte. Findet er eine erste
Beschreibung einer Pflanze, die mit irgendeinem eine Eigen-
schaft derselben bezeichnenden Worte anfängt, ist dies Wort
für ihn ,,Gattungs"name. Alle ganz obscuren z. T. seit über
hundert Jahren gern vergessenen Namen und Bezeichnungen
werden als ,, Namen" ausgegraben und werden mit einer
oft großen Willkür an Stelle alter bekannter, seit Linne's
Zeiten über die ganze Erde bekannter Namen gesetzt. Diese
Willkür und seine Emendationen nennt Kuntze ,, legal" und
trotz der mangelnden Anerkennung seine Nomenklatur ,, inter-
national". Er vergißt ganz, daß die Nomenklatur einschließ-
lich der Prioritätsfragen lediglich eine Frage der Zweck-
mäßigkeit zur internationalen Verständigung,
nicht eine Rechtsfrage ist. Die Umtaufungen Kuntze's,
die auch Ihnen unangenehm aufgefallen sind, werden sich nie
Eingang verschaffen. Richten Sie sich nur weiter nach Eng-
ler's Syllabus und wollen Sic ein Buch haben, welches in
einer vernünftigen Nomenklatur gleichfalls alle Phanerogamen-
gattungen (in der Reihenfolge des Syllabusl aufführt, so
kaufen Sie das von Kuntze so geschmähte, deshalb aber doch
ganz vorzügliche Buch von Dalla Torre und Harms
Genera Siphonogamarum (Leipzig, Wilh. Engelmann).
P. Gractmer.
Herrn P. D. in Forst (Lausitz). — Sie wollen eine Ex-
kursionsflora für Thüringen, speziell für das Schwarza-
tal, Rudolstadt, Ilmenau und die angrenzende Gegend haben.
Da ist schwer zu raten , denn neuere Floren gibts da nicht,
am besten sind noch Leonhard, Flora von Jena und
Vogel, Flora von Thüringen, letztere enthält aber nur Stand-
orte. Reiche, Flora des Saalkreises umfaßt dieses Gebiet
nicht mit. — Am besten scheint es noch eine neue Auflage von
Garcke's Flora von Deutschland, zur Hand zu nehmen, wenn
auch keine speziellen Standorte darin stehen, findet man doch
alles wichtige. P. Graebner.
Herrn Oberlehrer G. S. in Großenhain (Sachsen). —
l) Der Fehler bei der .Aussaat der Eq uisetumsporen (wenn
sie ganz frisch waren) dürfte darin liegen , daß Sie das Sub-
strat, also den Boden und d.as feuchte Papier, nicht sterilisiert
h.aben. Die Sporen erliegen dann meist den sich ansiedeln-
den Bakterien. Ist das Erziehen von Vorkeimen dieser Pflan-
zen schon einigermaßen schwierig, so ist das Heranwachsen
der entwickelten Pflanzen noch viel schwerer, da die jungen
Gebilde in der feuchten Luft oder auf dem feuchten Substrat
zu leicht verfaulen. Im Freien herrschen ganz andere Ver-
hältnisse und auch da kommt nur ein Minimum der reifenden
Sporen zur Entwicklung. 2) Arachis hypogaea wächst
im Warmhause sehr leicht und willig und, wenn sie lockeren,
luftigen, humoscn Boden hat, setzt sie reichlich Früchte an,
die in schweren Boden nicht gut eindringen. Am besten tun
Sie, die Pflanzen nebeneinander in einen tieferen Handkasten
setzen zu lassen. — .Auch im Mistbeetkasten gedeiht die
Pflanze leicht, nur fürs Freie ist es nichts, die Temperatur
unserer Sommer reicht nicht aus, die Pflanze bleibt ganz klein,
blüht zwar hin und wieder etwas, setzt aber kaum Frucht an.
Dr. P. Graebner,
Gr.-Lichterfelde-West (Berlin) Viktoriastr. 8.
Inhalt; G. Heilig: Konjugation und natürlicher Tod. — Prof Dr. Max C. P. Schmidt: Zur lateinischen
Terminologie der elementaren Arithmetik. I. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Gustav Meyer: Die Fette im Haushalt
der Natur und des Menschen. — C. C h u n : Leuchtorgane australischer Praclitfinken. — F. W. Brinkmann: Tiere
und .\lkohol. — Prof Spring: Durchtränkung des Sandes. — Nichols und Hüll: Eine Art künstlichen Kometen-
schweifs. — Dr. Edgar Odern heim er: Über die Cellulose. — Wetter-Monatsübersicht. — Aus dem wissen-
schaftlicfien Leben. — Bücherbesprechungen: Franz Krasan: Ansichten und Gespräche über die individuelle
und spezielle Gestaltung in der Natur. — Crüger, Rosenberg etc. : Physikalische Lehrbücher. — Dr. R.
Schweitzer: Die Energie und Entropie. — Dr. Georg Hauberrißer, Dr. F. Stolze etc.: Sammcl-Referat über
Photographie. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur ; Prof. Dr. H. P o t o n i c , Grofs-Lichterfelde- West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschlierslich der Zeitschrift „Dl6 NstUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 1. Mai 1904.
Nr. 31.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Meeresstudien und ihre Bedeutung für den Geologen.
[Nachdruck verboten. 1 Von Dr. W. Koert, Geologen an der
Im folgenden soll versucht werden, die Studien-
ergebnisse zusammenzustellen, welche an verschie-
denen Meeren von einem Geologen gewonnen
wurden.
In erster Linie interessiert den Geologen das
Meer als Bildungsstätte von Sedimenten. Der
Charakter eines Sediments hängt ja in der Haupt-
sache von folgenden Faktoren ab :
1. von den in der benachbarten Abrasionszone
bereits zerstörten oder in der Zerstörung be-
griffenen Gesteinen.
2. von dem durch Flüsse oder durch Strömungen
von weiter her zugeführtem Material,
3. von organischen Neubildungen,
4. von chemischen Prozessen.
Ferner gilt im allgemeinen, daß die Körnung
eines Sediments von dem Grade der Wasser-
bewegung bedingt wird. Von diesen Gesichts-
punkten aus wollen wir die Sedimentbildung in
einigen Meeren betrachten und mit Helgoland be-
ginnen, wo die Biologisclie Anstalt dank dem
Entgegenkommen ihres Leiters, des Herrn Prof
Heincke, dem Geologen Meeresstudien in jeder
Weise ermöglicht.
Kgl. Preuß. Geologischen Landesanstalt.
Die Insel Helgoland mit iiiren Klippenzügen
stellt bekanntlich einen Horst dar, an dessen Auf-
bau sich Schichten des Zechstein, der Trias und
der Kreide beteiligen. Wohl alle diese Schichten
waren zur Diluvialzeit vom Landeis bedeckt, denn
noch liegen auf dem Oberlande in den „Saps-
kuhlen" nordische Blöcke. An der Westseite der
Insel, da, wo die Brandung am heftigsten arbeitet,
kommt am Strande wenig Material zum Absatz,
denn hier wird nur zerstört. Wohl schon ein jeder hat
Abbildungen dieses Inselteils mit seinen Abrasions-
höhlen und den isolierten Felspfeilern gesehen. Man
beobachtet hier auch, daß die Zerstörung besonders
da Fortschritte macht, wo Querbrüche das Gestein
etwas gelockert haben. An der östlichen Insel-
seite dagegen weist der Strand an einigen Stellen
schöne Terrassen auf, hauptsächlich aufgebaut aus
platten Gerollen von Gesteinen des Inselfelsens,
aus oft kugelrund abgeschliffenen Feuersteinen und
massenhaften Tanganhäufungen. Von Konchylien
trifft man höchstens ein beschädigtes Buccinum
undatum oder eine Austernschale an, zartere Dinge
werden eben stets zermalmt. Die erwähnten
kugelrunden Feuersteine gleichen durchaus den
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 31
von Meyn (Zeitschr. d. deutsch, geol. Ges. Bd. 26
S. 51) beschriebenen Wallsteinen und beweisen,
daß in der Brandung sehr wohl Feuersteine rund
geschliffen werden können , ohne zu zerbrechen,
was Meyn glaubte bestreiten zu müssen.
Jenseits der Schorre, wie J. Walther den bei
Ebbe freiliegenden Teil des Strandes genannt hat,
wird die Abrasion auf Helgoland durch Organismen
wirksam unterstützt, vor allem durch bohrende
Mollusken, wie die Pholasarten und Zirphaea cris-
pata, dann aber auch, so sonderbar es klingt, durch
manche Tange. Die mehrere Meter langen Lami-
nariatange namentlich , welche mit ihrem Haft-
organ auf dem anstehenden Felsen oder auf Blöcken
aufgewachsen sind, rütteln, wenn die Wogen ihren
ausgebreiteten Thallus heben und senken , be-
ständig an ihrer Felsunterlage, bis der Block nach-
gibt und in die Zone des bewegteren Wassers ge-
worfen wird, wo die weitere Zerkleinerung vor
sich gehen kann. An der östlichen Inselseite findet
man denn auch nach Stürmen nicht selten schwere
Gerolle mit noch aufsitzender L.aminaria. Die
bohrenden Mollusken vergrößern einmal, wie leicht
verständlich ist, die Angriffsfläche, auf welche der
Wogendruck sich äußern kann, andererseits ver-
iTiindern sie die Festigkeit des Gesteins. Auch in
diesem Falle also besteht das Schlußergebnis im
Losbrechen und in der weiteren Zerstörung des
Gesteins. Welche Stoßkraft übrigens selbst dem
tieferen Wasser der Nordsee bei Helgoland zu-
kommt, dafür gibt uns Heincke (Wissenschaftl.
Meeresuntersuchungen, Neue Folge Bd. i S. 139)
einen schönen Beleg. Nach ihm kann man aus
Tiefen von 10 und mehr Metern Steine im Gewicht
von 2 kg und mehr herautholen, die allseitig mit
Pflanzenrinden, Bryozoen und Serpein, umkrüstet
sind, die also mehrfach durch die Gewalt des be-
wegten Wassers umgewendet sein müssen.
Da die einzelnen Gesteinschichten bei Helgo-
land von ganz verschiedener Härte sind, so ist
hiernach leicht einzusehen , warum die härteren
Gesteine noch bei Niedrigwaser als Klippen empor-
ragen können oder doch nur wenige Meter tief
liegen, während die weicheren bis zu ganz erheb-
lichen Tiefen hinab zerstört werden.
Auf die Schorre folgt also nach außen, wie wir
sahen, eine Region, die sich durch ihren Reich-
tum an Pflanzen auszeichnet. Den Geologen
interessiert besonders, daß im Sediment dieser
Zone, von Kalkalgen (Lithoderma) umkrustete
Gerolle, ferner von bohrenden Organismen durch-
löcherte Gesteine und schließlicli lose Fossilien
vorkommen, welche aus älteren Schichten ausge-
waschen sind, sich also auf sekundärer Lagerstätte be-
finden. Von solchen Fossilien sind Austern und
Belemniten zu nennen, welche den Kreideschichten
entstammen, ferner an gewissen Stellen des Nord-
hafens ziemlich wohl erhaltene Süßwasserschnecken
(Valvata , Bitliynia , Planorbis) , welche in einer
Schicht des dort lagernden diluvialen „Töcks",
reichlich vorkommen. Nordische Geschiebe sind
in dieser Zone ebenfalls recht häufig. Die hier
lebenden Mollusken werden z. T. weiter unten be-
sprochen werden.
Das zu äußerst verbreitete Sediment auf dem
submarinen Felsplateau von Helgoland ist von
Heincke') als die ,,Zone der pflanze n-
leeren Kiese und Gerolle" bezeichnet wor-
den, weil dies Sediment beständigen Verschiebungen
durch die Wellen unterliegt und deshalb das Auf-
kommen von Pflanzenkeimlingen verhindert. Gleich-
zeitig ist die Molluskenfauna recht spärlich. Ein
kalkreiches Sediment dieser Region stellt ein Bruch-
schill dar, welcher sich im Südhafen in 9 m Tiefe
vorfindet und fast ausschließlich aus Kreidebröck-
chen, Resten rezenter Seeigel, zertrümmerten Ser-
pularöhren , Balaniden und Muschelgrus besteht
mit verhältnismäßig spärlichen , wohlerhaltenen
Schalen lebender Schnecken (Trochus cinerarius,
Tr. zizyphinus, Nassa incrassata). Über die Ent-
stehung dieses Bruchschills wird weiter unten
Näheres mitgeteilt werden.
An das submarine Felsplateau legt sich im
N, O bis nach SSO die Sand faci es mit Wasser-
tiefen von 10 — 35 m an. Da diese Zone sich
nach N in die Sand- und Riffgründe fortsetzt,
welche die schleswigsche Küste umsäumen, so
liegt die Annahme nahe, daß sie aus der Zer-
störung diluvialer Schichten hervorgegangen
ist, von denen uns ja auf S^'lt, Amrum usw. noch
Reste erhalten sind. Entsprechend der dihnialen
Herkunft variiert die Bodenbeschaft'enheit dieser
,, Sandzone" von sehr steinigen Riffgründen bis zum
feinen Sand.
Im NNW, W bis nach S schmiegt sich an das
submarine Helgoländer Felsplateau die Schlick-
facies an, und zwar in Übergängen von Sand zum
Schlick oder als reiner Schlick. Es ist diese Facies
wesentlich die Ausfüllung der Helgoländer Rinne,
welche sich als ein .Ausläufer der tiefen Nordsee
mit Tiefen bis zu 55 m nach Helgoland erstreckt.
An der Bildung dieses Schlicks mögen einmal die
feinsten Abrasionsprodukte, dann die durch Elbe
und Weser, namentlich durch den Ebbestrom her-
beigeführten tonigen Teilchen und schließlich
noch die verschiedenen kalk- und kieselschaligen
Mikroorganismen, wie I-'oraminiferen, Bacillariaceen
und Radiolarien, beteiligt sein. Zum Niederfallen
des tonigen Sedimentes bedarf es also, wie das
Beispiel der Helgoländer Rinne zeigt, oft nur
einer Einsenkung des Seebodens um einige Meter.
Ein eigentümliches Sediment in der Helgolander
Rinne ist der „Pümpgrund", wie der Helgolander
Fischer den Grund nennt, auf welchem Kolonien
der Sabellaria alveolata, eines Röhrenwurms, ihre
Sandröhren bauen. Der Pümpgrund ist auch die
molluskenreichste Region bei Helgoland und da-
her von gewissen Grundfischen besonders gern
aufgesucht. Es ist das Verdienst von Heincke,
nachdrücklich auf die Rolle hingewiesen zu haben,
welche diese Fische bei der Bildung gewisser
Schalen- oder Schaltrümmersedimente spielen. Nach
') 1. c. S. 142.
N. F. III. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
483
Heiiicke zermalmen Schollen, Seewolf und Rochen
ihre Molluskennahrung, während Schellfisch und
Seezunge in Ermangelung eines kräftigen Gebisses
die Mollusken ganz verschlucken. Die Exkremente
der Msche häufen sich , von Grundströmungen
transportiert, an gewissen Stellen zu „Schill" an.
Diese Schillager kommen übrigens in sämtlichen
Sedimenten bei Helgoland vor, weiter oben wurde
bereits Bruchschill aus der Zone der pflanzenleeren
Kiese erwähnt. Daß auch in der Vorzeit Schill
sich auf die erwähnte Weise bildete, hat Verfasser
an einem oberoligocänen Sedimente nachzuweisen
versucht. ^)
Weit einfacher als bei Helgoland liegen die
Sedimentationsverhältnisse in der Umgebung von
Rovigno in Istrien, wo das Berliner Aquarium eine
zoologische Station unterhält. Auch hier erfreute
der Verfasser sich bei seinen Meeresstudien der
weitgehendsten Unterstützung des Direktors der
Station, des Herrn Dr. Hermes.
Das Felsufer der Gegend von Rovigno besteht
aus kretaceischen Kalken; Flüsse und Strömungen,
welche von weiter her Sediment herbeiführen
könnten, kommen hier nicht in Betracht. Der
Kalk des Ufers wird im Bereiche der Brandung
durch die im Meerwasser enthaltene Kohlensäure
augenscheinlich stark korrodiert, er bietet uns hier
eben solche zackige Oberfläche dar, wie sie die
Fig. 3 von einem älteren Rift'kalk an der ost-
afrikanischen Küste zeigt. An manchen Stellen
beobachtet man modellhaft schöne Karren-
bildungen auf der Gesteinsoberfiäche. Der Küste
sind zahlreiche Abrasionsinseln (Scoglien genannt)
vorgelagert, eine große Anzahl solcher Inseln ist
aber bereits der Abrasion zum Opfer gefallen und
gibt sich in zahlreichen Untiefen und Bänken zu
erkennen. Die Scoglien wie die Küste werden an
vielen Stellen von einem aus Blöcken und Ge-
röll gebildeten Sediment umgürtet, welches der
heftigen Brandung seine Entstehung verdankt, denn
an dieser Küste steht, zumal wenn der Scirocco
weht, eine gewaltige Brandung. Auch hier wird
wie in der Nordsee die Abrasion durch bohrende
Organismen (Lithodomus, eine Bohrmuschel, und
Vioa, einen Bohrschwamm) gefördert.
Auf den Block- und Geröllstrand folgt nach
außen eine Zone von Schalengrus, der wohl mit
dem Schill der Nordsee zu vergleichen ist und
wie dieser auf die Tätigkeit von Fischen, aber
außerdem noch von Krebsen und Seesternen zu-
rückgeführt werden kann. Es besteht dies Sedi-
ment vor allem aus Schaltrümmern, dann aber
auch aus zahlreichen unversehrten Schalen von
pflanzenfressenden Schneckchen, Kalkalgen, der
Koralle Cladocora caespitosa und Foraminiieren.
Während auf dem Blockstrand die Tange vor-
herrschen, wird die Schalengruszone vom See-
gras bevorzugt.
Wie in diese littoralen Sedimente auch Land-
schnecken in großer Zahl geraten können, dafür
bot sich auf der Rovigno benachbarten Insel
Bagnole ein schönes Beispiel dar. Hier lebt, wie
so häufig auf Kalkgestein, eine Menge von Land-
schnecken (Stenogyra decoUata, Cyclostoma elegans
u. a. m.), und zwar so reichlich, daß jede Hand-
voll Erde in einer Vertiefung oder in einer Fels-
spalte mit Gehäusen durchsetzt ist. Der Regen
schon genügt, um viele Schalen ins Meer zu spülen,
wo sie dem Littoralsediment beigemengt werden.
Angesichts dieser Verhältnisse wird der Geologe
doch an die bekannten Landschneckenkalke von
Hochheim a. Main erinnert, wo in marinen Schichten,
die sich durch ihren Reichtum an Cerithien usw.
als littorale Bildungen zu erkennen geben, ganz
ähnliche Landschnecken (Cyclostoma, Stropho-
stoma, Zonites) in Menge eingelagert sind.
Die Schalengruszone geht im allgemeinen in
größeren Tiefen durch Aufnahme von Schlick in
einen schlickigen Kalksand bis sandigen
Schlick über, ein Sediment, welches in der Adria
von Ro\'igno bis Pola und von da quer über den
Ouarnero auf die Insel Sansego zu ganz vorherr-
schend verbreitet ist und dessen besonderer Cha-
rakter durch das Vorwiegen von Resten der einen
oder der anderen Organismengattung bestimmt
wird. So gibt es z. B. in der Umgebung der Insel
S. Giovanni in Pelago in 30 — 40 m Tiefe ein
schlickiges Sediment, welches so reich an Bryozoen-
bäumchen (Myriozoum truncatum, Eschara) ist, daß
man hier von einer Bryozoenbank sprechen kann.
Eine andere Abart des Kalksand-Schlicksedimentes
zeichnet sich durch den hohen Gehalt an Kalk-
algen (Lithothamnium und Lithophyllum) aus.
Die Kalkalgen treten geradezu gesteinsbildend auf
den oben erwähnten felsigen Bänken und Untiefen
auf und zwar mit einer reichen Fauna von Krebsen,
Mollusken, Echinodermen und Bryozoen. Es liegen
also die Verhältnisse bei Rovigno in dieser Hin-
sicht ähnlich, wie im Golf von Neapel, von wo
J. Walther Kalkalgenlager auf submarinen Klippen
ausführlich beschrieben hat. ')
Der so weit verbreitete Kalksand der Adria
besteht in der Hauptsache aus zerbrochenen
kalkigen Organismen. Außer gewissen Fischen,
unter denen die mit Pflasterzähnen ausgerüstete
Goldbrasse (Chrysophrys aurata) besonders beteiligt
sein dürfte, tragen sicher noch die Krebse sehr
zur Bildung des Kalksandes bei, während die zahl-
reichen Seesterne wie manche Fische die Schalen
ihrer Molluskenbeute unversehrt herausgeben. Wir
kommen demnach für diesen Teil der Adria dazu,
gewissen Tierklassen eine ähnliche Bedeutung für
die Sedimentbildung zuzuschreiben, wie das Verrill -)
für das Gebiet des Golfstroms an den Küsten von
Neu-England und Heincke (1. c.) für die Nordsee
getan haben.
In dem Schlick des besprochenen Gebietes hat
man im wesentlichen wohl die feinsten tonigen
Abrasionsprodukte zu erblicken, denen natürlich
') Jahrb. d. kgl. prcuü. gcül. Landcsanstalt 1900 S. 197.
') Zeitschr. d. deutsch, geol. Ges. Bd. 37 S. 229.
^) American Journ. of sciencc Bd. XXIV S. 450.
484
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 31
noch, wie bereits vom SchUck der Nordsee er-
wähnt wurde, die Reste der verschiedensten kalk-
und kieselschaligen Organismen beigemengt sind.
Es könnte zunächst auffällig erscheinen, daß eine
hauptsächlich aus Kalken bestehende Küste auch
tonige Abrasionsprodukte liefern soll. Der Augen-
schein lehrt uns aber, daß selbst solche rein er-
scheinenden Kalke, wie die in der Gegend von Pola
bis Rovigno, noch einen beträchtlichen Tongehalt
haben müssen, denn ihr Verwitterungsboden ist
ein fetter roter Ton. In ähnlicher Weise geht
auch durch Korrosion der Kalke in der Brandungs-
zone ein toniger Rückstand hervor. Wo die
Möglichkeit gegeben ist, daß der tonige Ver-
witterungsboden in erheblicher Menge ins Meer
geführt wird, da kann sich am Seeboden die
reine Schlick facies bilden. Hierfür bietet der
nördlich von Rovigno sich tief ins Land er-
streckende Caoal di Leme ein schönes Beispiel
dar. Dieser schmale, von dünn bewaldeten Fels-
hängen eingefaßte Kanal ist in seiner ganzen
Daressalam einige Mitteilungen folgen, weil daraus
die Bedeutung von Meeresstudien für den Geo-
logen, welcher sich ein Bild von der Entstehutig
eines fossilen Schichtenkomplexes machen will, so
recht zu ersehen ist.
Das nebenstehende Profil soll zeigen, daß sich
der Ozean in einen älteren Riffkalk, der sich nach
dem Ozean zu auf der Leuchtturminsel bis 12 m
heraushebt, eine Brandungsterrasse hineingearbeitet
hat, aus welcher Abrasionsreste in Gestalt von
Inseln (hier die Leuchtturminsel Makatumbe) her-
vorragen. Die folgenden Bilder (Fig. 2 u. 3) mögen
eine Vorstellung von der Brandungsterrasse und
der eigentümlichen Gestalt der zahlreichen kleinen,
weiter nördlich belegenen Abrasionsreste liefern.
Fig. 3 läßt gleichzeitig die corrodierende Wirkung
der Brandung durch die rauhe zackige Oberfläche
des Felsens erraten. An der Südspitze der Insel
Ulenge bei Tanga hat die Brandung sogar ein
schönes Felsthor durch den älteren Riffkalk durch-
gebrochen (Fig. 4).^) Dem älteren Riffkalke sitzt,
Rds Tshokin
Leuchrtupm/nset
Mäkdfumbe
A/iedri^iv35sePspie^eL
Fig. I. Profil durch die Randlagunc nurdösllich Daressalam.
älterer Kiffkalk. b = ältere Lagunenbildungcn (Kunkurschichten). c = rezente Lagunenbildungen.
d =^ rezentes Korallenriff.
Länge und von über 30 m Wassertiefe an der Mün-
dung bis zu wenigen Metern Tiefe an seinem Ende
mit einem zähen Schlicke ausgefüllt, dessen graublaue
Farbe nach dem Ende zu in eine rotbraune über-
geht. Hier können wir also verfolgen, wie der
rote Verwitterungsboden der Karstkalke, sei es
nun durch Regenwasser, sei es durch einen unter-
irdischen Wasserlauf (wie solche ja im Karst
nichts Seltenes sind), in den Kanal eingeschwemmt
wird und wie die rote Eisenoxydfarbe durch die redu-
cierende Wirkung organischer Substanz allmählich
in die blaugraue Färbung, die Eisenoxydulverbin-
dungen eigen ist, übergeht. Da die Brandung in
den engen Kanal nicht eindringen kann, so stößt
diese Schlickfacies unvermittelt an die F"elswände
an. Von der hier lebenden typischen Schlainm-
fauna sind die Mollusken gekennzeichnet durch
düime, meist weißliche Schalen.
Es mögen jetzt noch über die Flachseesedi-
mente an der. deutsch-ostafrikanischen Küste bei
wie das Profil (Fig. 1) ferner zeigt, am Abfalle
zur Tiefsee das recente Saumriff auf, welches
in seiner Eigenschaft als Wellenbrecher auch die
Ursache dafür ist, daß die Brandung die Terrasse
nach dem Ozean zu nicht erheblich vertiefen kann.
Nach dem F'estlande zu begrenzt die Brandungs-
terrasse eine Randlagune, durch welche auch als
Fortsetzung des Daressalamer Krieks eine tiefere
Rinne ihren Weg in den Ozean nimmt. Das Ge-
biet dieser Lagune fällt bei Niedrigwasser, wie
man aus dem Profile sieht, mit Ausnahme jener
tieferen Rinne auf große Strecken trocken, gehört
also zum großen Teile zur Schorre. In der Hauptsache
besteht das Sediment in der Lagune aus einem
schlammigen, an Schalen und Schaltrümmern
reichen Sande, der nur in den zahlreichen Rinnsalen,
') Die Photographien, welche den Fig. 2, 3, 5 zugrunde
liegen, verdanke ich Herrn Prof. Dr. Uhlig in Daressalam, die
Aufnahme zu Fig. 4 ist von Herrn Landmesser Woelke in
Tanga freundlichst zur Verfügung gestellt.
N. F. III. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
485
wo Ebbe- und Plutstrom ihn schlämmen, oder an
Stellen mit bewegterem Wasser als schlammfreier
Sand entwickelt ist. Seegraswiesen und die Kalk-
alge Halimeda Opuntia bedecken weite Flächen
dieses Sediments. Die sandisjen und schlammigen
durch das einmündende Flußwasser in die Lagune
transportiert wird. Auf dem Schorregebiet voll-
ziehen sich gegenwärtig infolge chemischer Prozesse
Bildungen von gewissen festen kalkigen Schichten,
Der reinere Sand wird nämlich oft zu einem Kalk-
Fig. 2. Abrasionsreste von allerem Riff kalk auf der Brandungsterrasse bei Niedrigwasser. Gruppe
nordwestlich der Leuchtturminsel Makatumbe bei Daressalam.
Fig- 3-
Allerer Riffkalk mit Branduiigskrhle und Korrosionserscheinungen.
Makatumbe bei Daressalam.
Nordwestlich von
Bestandteile des Lagunensedimentes dürften einmal
von der Zerstörung des Steilufers am F"estland
herrühren — • von dem Betrage dieser Zerstörung
möge die Abbildung eines Teils vom Ras
Rongoni (Fig. 5) eine Idee geben — dann aber
auch von dem Sciilamme, der aus dem I lafen
Sandstein verkittet, der nach der See zu einfällt
und bisweilen von der Brandung wieder karren-
artig ausgefurcht wird. Solcher Kalksandstein
findet sich anscheinend nur in dem Schorregebiet.
Im schlammigen Sand dagegen kommt es zur
Bildung \on Konkretionen, die aus einem sehr harten
486
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 31
strukturlosen, einzelne Sandkörner einschließenden,
dichten Kalk bestehen. Mit einem Ausdrucke der
indischen Geologen möchte ich diese Kalkkonkre-
tionen Kunkur') benennen und bemerke, daß
solche Kunkurschichten eine bedeutende Rolle im
Schichtenaufbau der dortigen Küste spielen. Die
zur Entstehung der erwähnten festen Kalkbildungen
führenden chemischen Prozesse sind vielleicht nach
Analogie der von J. Walther -) für die Bildung ge-
wisser strukturloser Kalke gegebenen Erklärung
so zu denken, daß sich aus der Zersetzung der
in den Kalkalgen und Seegräsern ja reichlich
vorhandenen organischen Substanz Kohlensäure
entwickelt, welche vom Bodenwasser aufgenommen
wird und Kalkdetritus autlöst. Aus der Lösung
von doppeltkohlensaurem Kalk vermag sich da,
wo der Kohlensäure Gelegenheit zum Entweichen
geboten wird, also im Schorregebiet, welches ja
zweimal am Tage trocken fällt, der einfach kohlen-
saure Kalk auszuscheiden in Gestalt eines Binde-
mittels oder von Konkretionen. Die selbst bei
Niedrigwasser nicht leerlaufenden Rinnen und
Lachen der Lagune führen auch kleinere Korallen-
stöcke und Einzelkorallen (Galaxea, Pocillopora,
Porites, Fungia uswf.) und zwar um so reichlicher,
je mehr man sich dem Außenrande der Lagune
nähert. Hier macht die Sandfacies der Lagune
dem Rift'kalk Platz und gleichzeitig geht die Sand-
fauna in die Rififauna über.
In vieler Hinsicht ähnlich müssen die Sedi-
mentationsverhältnisse in älterer pleistocäner Zeit
gewesen sein, als sich bei einem höheren Meeres-
stande die im Profile und in den Abbildungen als
älterer Riffkalk und als Kunkurschichten bezeich-
neten Gesteine bildeten, und ich trage kein Be-
denken, in den Kunkurschichten, die bisweilen auch
durch gesteigerte Konkretionsbildung in förmliche
Knollenkalke übergehen können, Lagunenbildungen
der oben geschilderten Art zu erblicken. E. Werth,
welcher diese Kunkurschichten als einen „oberen
Rift'kalk beschrieb,'') hat offenbar dem Vorkommen
von Korallen zuviel Gewicht beigemessen, während
doch z. B. am Ras Tshokir die in den Kunkur-
schichten eingeschlossene reichhaltige Fauna den
Charakter einer Sand- bis Schlammsandfauna trägt,
wie sie wohl der Lagune, aber nicht dem Riffe
eigen ist.
In mannigfacher Hinsicht bemerkenswert für
den Geologen sind noch die Ablagerungen
welche sich an sandigen Stranden in der Hoch-
wasserlinie bei Daressalam finden, so z. B. an zahl-
reichen Stellen im Hafen von Daressalam. Hier
häuft sich das planktonische Material an, und zwar
schön blaue Schalen der Janthina (einer an der
Meeresoberflächeschwimmenden Schnecke), Schalen
von Bulla, Spirula und ganz selten auch wohl von
Nautilus, daneben Kopal , ein subfossiles Harz,
welches aus den Lehm- und Sandschichten der Küste
') Medlicott & Blanford : Manual of Ihe geology of
India Part. I p. 381.
') Zeitschr. d. deutsch, geol. (leselisch. 37 S. 22g.
') Zeitschr. d. deutsch, geol. (k-sellsch. Bd. 53 S. 587.
ausgespült ist, und schließlich in großer Menge
Bimstein. Dieser Bimstein dürfte von dem Aus-
bruche des Krakatau herrühren, wie auch Bau-
mann (Die Insel Mafia S. 10) und Bornhardt (Zur
Oberflächengestaltung und Geologie Deutsch-Ost-
afrikas S. 234) annehmen. Danach hätten die
Bimsteinauswürflinge einen Weg von ungefähr
7200 km, in gerader Linie gemessen, zurückgelegt,
ehe sie hier an den Strand geworfen wurden.
Bei der Besprechung der Sedimentbildungen
in verschiedenen Meeren liel3 es sich schon nicht
umgehen, gelegentlich biologische Beobachtungen
einzuflechten. Um aber die Wechselbeziehungen
zwischen Organismen und Bodenfacies noch deut-
licher hervortreten zu lassen, möchte ich der bio-
logischen Seite der Meeresstudien eine etwas ein-
gehendere Darstellung widmen und an den be-
schälten, bodenlebenden Mollusken auszuführen
versuchen, in welcher Weise ihnen von jeder
Bodenfacies Schutz und Nahrung, diese beiden un-
erläl.51ichen Lebensbedingungen, gewährt werden.
Es wird sich dabei auch herausstellen, bis zu
welchem Grade die Molluskenschale, welche ja
wegen ihrer Erhaltungsfähigkeit dem Geologen
besonders wichtig ist, als eine Funktion der Boden-
facies zu betrachten ist.
P"elsküste und Blockstrand bilden eine
biologische Einheit, indem an beiden die stärkste
Wasserbewegung herrscht und beide im allgemeinen
sich durch den Reichtum an Algen vor den übrigen
Regionen auszeichnen. Sonach ist leicht verständ-
lich, daß in dieser Region die pflanzenfressenden
Schnecken überwiegen, ohne damit sagen zu wollen,
daß fleischfressende fehlen. Betrachten wir erst
einmal diejenigen Schnecken , welche auf den
Algen selbst leben. Wir finden bald, daß ihnen
allen kleine, oft zarte Schalen eigen sind, die ihnen
für den Aufenthalt auf flottierenden Tangen natür-
lich am zweckdienlichsten sind. Zu solchen Tang-
bewohnern gehörte jene den littoralen Schalen-
grus der Adria zu einem beträchtlichen Teile zu-
sammensetzende Mikrofauna, wie das Cerithium
reticulatum , Triforis perversus , Xeritina viridis,
Phasianella pulla, die zahlreichen Arten von Rissoa,
von kleinen Trochiden und Patelliden. In dieser Re-
gion bieten sich ganz besonders augenfällige Beispiele
für eine Schutzfärbung der Mollusken dar, da ihnen
gegen ihre Feinde andere Hilfsmittel versagt sind.
Die kleine Patellide, Helcion pellucidus, welche
auf den Laminarien bei Helgoland lebt, hat z. B.
eine braune, mit schön blauen Punkten verzierte
Schale und ist dadurch von den braunen, unter
Wasser oft opalisierenden Laminarien nicht zu
unterscheiden. Pline andere Patellide bei Helgo-
land, die Acmaea virginea, welche die pfirsichblüt-
roten Kalkalgenkrusten abweidet, hat ihrem Aufent-
haltsorte entsprechend eine weißliche , rosa ge-
tüpfelte Schale.
Eine weitere Klasse pflanzenfressender Schnecken
in dieser Region nährt sich von den zarten Algen
auf dem Gestein und ist deshalb mit kräftigen
Schalen ausgerüstet, welche dem Wogenprall stand-
N. F. III. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
487
halten müssen. Dahin gehören in der Nordsee der Nordsee anzuführen Purpura lapillus, aus dem
u. a. die Littorina-Arten und Trochus cinerarius, im Mittelmeer Conus mediterraneus, Murex brandaris
Mittelmeer der Trochus turbinatus, das Calcar und trunculus, Cassidaria echinophora, aus dern
rugosum, das große Ceriihium vulgatum, die Pa- indischen Ozean jene schönen und zahlreichen
Fig. 4.
Abrasionstor in älterem Riffkalk.
Ulcnge bei Tanga.
^'^m
■^*^lw^'
Fig. 5. .\brasionssteilufer am Ras Rongoni bei Daressalam. Das Profil zeigt zu oberst roten
Lehm, der durch Verwitterung aus den darunter liegenden Kunkurschichten hervorgegangen ist.
In letzteren Brandungskehle und Abrasionshöhlen. Die freigelegten Baumwurzeln deuten auf
den großen Betrag der Abrasion in jüngster Zeit.
teilen, im indischen Ozean die Gattungen Nerita, Arten von Conus, Cypraea, Tritonium, Cassis,
Cerithium, Pterocera, Strombus. Von fleischfressen- Murex, welche namentlich auf den Riffen leben,
den Schnecken dieser Region, welche sich eben- Mannigfach sind die Einrichtungen, mit deren
falls durch starke Gehäuse auszeichnen, sind aus Hilfe die Muscheln in dieser Region den Wogen-
488
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 31
prall überwinden. Einige von ihnen bohren sich
in das Gestein ein, wie Lithodomus und Pholas,
andere heften sich mittels eines Byssus an, wie
die Tridacna auf den Riffen, schließen sich auch
wohl vielfach zu förmlichen Kolonien, mittels des
Byssusgeflechts zusammen, so Mytilus edulis in
der Nordsee. Endlich wachsen manche Muscheln
dem Gestein auf, z. B. Chama, Spondylus, Ostrea.
Alle Muscheln sind natürlich auf die im See-
wasser flottierenden Nahrungsstofife angewiesen,
ebenso, wie gewisse sessile oder nahezu sessile
Schnecken (Calyptraeiden und Vermetus).
Die Sand- und Kiesgründe sind dadurch
gekennzeichnet, daß auf ihnen die Algenflora er-
heblich zurücktritt, und daß sie bis zu einer ge-
wissen Wassertiefe höchstens noch von Seegräsern
durchsetzt sind. Auf den Seegräsern vermag des-
halb noch eine Anzahl der oben erwähnten
pflanzenfressenden Schneckchen fortzukommen, und
groß war meine Überraschung, als ich an den See-
gräsern beiDaressalam eine kleine grünliche Neritina
fand, die lebhaft an die im Mittelmeer unter ganz
ähnlichen Bedingungen lebende Neritina viridis
erinnerte. Gegenüber dem Felsstrand bietet dieSand-
facies den Mollusken ein neues Schutzmoment, näm-
lich die Möglichkeit sich einzugraben und im Sande
zu kriechen. Von der ersteren Möglichkeit machen
die meisten Muscheln auf dem Sandboden Gebrauch,
und da Sandgründe meist noch starken Verschie-
bungen durch die Wasserbewegung unterliegen, so
treffen wir hier, wie Heincke's Untersuchungen in der
Nordsee ergeben haben, vorzugsweise Muscheln an,
welche die längsten Siphonen besitzen, von den
Verschiebungen also in ihren l,ebensfunktionen
nicht gestört werden, hierher gehören die Telli-
niden, Mactriden, Soleniden und Anatiniden. Den
eingegrabenen Muscheln stellt nun eine Reihe fleisch-
fressender Schnecken nach, die, um an ihre Beute
zu gelangen, die Fähigkeit besitzen müssen, im
Sande zu kriechen. Dabei ist ihnen eine eiförmige
glatte Schale am dienlichsten , weil diese beim
Kriechen durch den Sand den geringsten Reibungs-
widerstand erfährt. Natica, Oliva und Ancillaria,
auch Cypraea, sind Beispiele für solche grabenden
Raubschnecken.
Während die Muscheln des Sandbodens durch-
weg eine derbe Schale aufweisen, sind den Muscheln
der Schlamm facies dünne Schalen so recht
eigen, denn mit schweren Schalen ausgerüstet
würden sie bald in dem weichen Sediment so tief
versinken, daß ihnen das Leben unmöglich würde.
Heincke *) macht darauf aufmerksam, daß auf den
Schlickgründen der Nordsee Zweischaler ohne oder
mit nur kurzen Siphonen die Hauptrolle spielen,
naturgemäß, da über diesen Gründen ja, wie wir
sahen, verhältnismäßig ruhiges Wasser steht und
demnach keine erhebliche Sedimentverschiebung
die Lebensfunktionen der Muscheln störend be-
einflußt. Von charakteristischen Schlammuscheln,
wie sie z. B. im Canal di Leme bei Rovigno vor-
kommen, seien Corbula gibba, Cuspidaria cuspidata,
Axinus flexuosus, Cultellus pellucidus genannt.
Auf den Schlammbänken in den Astuaren der
deutsch ostafrikanischen Küste sitzen Austern und
eine Pernaart den Mangrovenwurzeln und Stämmen
auf; wo Mangroven fehlen, schließt sich die Perna
mittelst ihres Byssus zu ausgebreiteten Kolonien
zusammen und liegt so dem Schlamme auf, ohne
einzusinken.
Zum Schlüsse möge zusammengefaßt werden,
welche Bedeutung Meeresstudien wie die obigen für
den Geologen besitzen. Man wird zugeben, daß
durch die gewonnene Anschauung ein viel klareres
Bild von der zerstörenden und neubildenden Tätig-
keit des Meeres und von ihren Gesetzen erzielt wird,
eine Kenntnis, die für manche stratigraphisch-
geologische oder topographisch-geologische Ar-
beiten doch unbedingt vorausgesetzt werden muß,
wo es gilt, sich ein Bild von den Meeren der Vor-
zeit zu machen. Der durch Meeresstudien ge-
schulte Geologe wird sich stets eine Meinung
davon zu bilden suchen, woher das Material einer
ihm vorliegenden Schicht stammt, und kann viel-
leicht aus unbedeutenden Anzeichen wichtige
Schlüsse ziehen, er wird ferner, wenn er aus Meeres-
studien nach der biologischen Richtung die Be-
ziehungen der Molluskenfauna zum Sediment er-
kannt hat, versuchen, die jeder Facies in jeder
Erdepoche eigentümlichen Mollusken und ihre
Lebensbedingungen festzustellen und dadurch oft
in den Stand gesetzt, schärfere Kritik an dem
Fossilinhalt einer Schicht zu üben, namentlich ob
nicht ein Teil der Fossilien auf sekundärer Lager-
stätte liegt, ein Fall, der häufiger zu sein scheint,
als man bisher geglaubt hat. Für diese Art, aus
Sediment und Fossilinhalt auf Grund von Meeres-
studien zu schließen, hat uns J. Walther ein schönes
Vorbild geliefert, als er aus dem Vorkommen der
schwerschaligen Megalodonten im Dachsteinkalk
folgerte, daß diese Muscheln in bewegtem Wasser
auf einer harten Unterlage gelebt haben müßten
und weiter, daß diese Unterlage im wesentlichen
von Kalkalgen gebildet wäre.')
So stellen die Meeresstudien dem Geologen
zwar neue Aufgaben, zeigen ihm gleichzeitig aber
auch die Wege zur Lösung mancher alten Probleme.
') 1. c. S. 144.
1) Zeitschr. d. deutsch, geol. Ges. 37 Bd. S. 253—255.
Kleinere Mitteilungen.
Aufforstungen in Tsingtau. — „Kahle Berge
und üppiger Anbau in Tälern und Ebenen, das
ist jetzt der Charakter von Schantung." ^) Die
Witterungsverhältnisse würden dichten Pflanzen-
') Fr. Rieh thofen, Schantung. Berlin 1898. Im übrigen
sind zu vergleichen die Denkschriften betreffend die Ent-
wicklung des Kiautschou-Gebietes 189g — 1904, herausgeg. v.
Reichsmarineamt, erhältlich bei D. Reimer (E. Vohsen), Berlin.
N. F. m. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
4S9
wuchs bis zu den Kämmen der Gebirge gestatten ;
denn im Sommer, wenn die Pflanzen des Wassers
bedürfen, herrscht feuchter Seewind, weil im Innern
des asiatischen Festlandes über den Steppen- und
Wüstenflächen sich ein Minimum des Luftdrucks
ausbildet. Im Winter allerdings wehen trockene
Winde aus dem Binnenland heraus ; dann ist die
Ausstrahlung des pflanzenarmen Bodens im inneren
Asien so stark, daß ein Maximum dort lagert im
Gegensatz zu dem geringeren Luftdruck über dem
Meer. Dann bedürfen aber die Pflanzen in ihrer
Winterruhe am wenigsten der Feuchtigkeit. Die
prächtigen Tempelhaine und das, was an Wald
noch in Schantung besteht, ist Zeuge, daß in der
Tat frühere Jahrhunderte hier wie in anderen
Gegenden von China reichlichen Waldwuchs ge-
kannt haben. Der Mensch hat jedoch die Bäume
sorglos verbraucht und, als es keine mehr gab,
auch die Sträucher vernichtet, sogar die Wurzeln
ausgegraben. Mit Harken aus Bambusstäbchen,
deren Enden krallenförmig abwärts gebogen sind,
werden selbst Gräser und Kräuter zur Feuerung
aus dem Boden gekratzt. Ob jemals in Schantung
ein geregelter Forstbetrieb bestanden hat, der dem
Brennholzbedürfnis der Gemeinden entsprach, ist
nicht mehr feststellbar. Eine Art von Waldpflege
gibt es auf Boden, der für Ackerwirtschaft durch-
aus unbrauchbar ist, noch jetzt, und zwar handelt
es sich um Nadelholzpflanzungen in regelmäßigem,
doch viel zu weitem Verbände ohne Nachbesse-
rung. Die Bestände sind lückenhaft und zeigen
krüppeligen Wuchs, weil die Bäume schon im
5. Jahre ihre unteren Zweige hergeben müssen.
Im 20. Jahre pflegt die lebensmüde Forstung ab-
geholzt und erneut zu werden. Für die dichte
Bevölkerung reicht dieser Betrieb nicht einmal
zur Beschaffung von Kochfeuerung aus. Im euro-
päischen Mittelmcergebiet , das im wesentlichen
zur Winterszeit Niederschläge, im Sommer da-
gegen, wenn die Pflanzen des Wassers benötigen,
Trockenheit besitzt, ist die Neuanforstung großen-
teils ein Ding der Unmöglichkeit, und traurige
Karstlandschaften kennzeichnen in der Gegenwart
die Waldzerstörung der Vergangenheit. In China
aber ist Anpflanzung wohl möglich, und die erste
umfassende Unternehmung zur Aufforstung ist
durch die deutsche Verwaltung in Tsingtau, dem
neu erblühenden Hafenorte des deutschen Kiau-
tschougebietes, mit Umsicht und anscheinend recht
gutem Erfolg bereits durchgeführt worden.
Mehrere Gründe veranlaßten die Verwaltung,
sofort nach der Festsetzung an der Kiautschou-
Bucht für die Anpflanzung eines Waldgebietes
Sorge zu tragen. Aus dem von sehr alter Kultur
durchtränkten Boden ist in China nur in Aus-
nahmefällen gesundes Wasser zu entnehmen. Um
keine Krankheitsherde entstehen zu lassen, galt
es also, eine Trinkwasserleitung von einem der
nahen Berge nach Tsingtau zu führen , an ihm
aber die Quellbildung und die Wasserführung der
Bäche durch Schaßung von Waldbedeckung zu
regeln. Der Wechsel von Trocken- und Regen-
zeit macht die mechanische und chemische Boden
Zersetzung und Gehängeabspülung an den kahlen
Bergen sehr groß. Die Flüsse schwinden im
Winter zu unansehnlichen Wasserfäden in breiten
Geröllbetten zusammen und nehmen während der
Regenmonate unter gewaltsamen Hochwasser-
erscheinungen Wildbachnatur an. Von ihnen war
eine unwillkommene Versandung der Küste zu
erwarten. Ins Gelände reißt das abstürzende
Wasser in kurzer Zeit tiefe Risse, durch die es
dem Meer zueilt und den angrenzenden Boden-
teilen die Feuchtigkeit entzieht. Viele Erdrutsche
sind die Folge. Um allen diesen Übelständen zu
begegnen, hat der Chinese die Gehänge terrassiert,
so daß die Geschwindigkeit des Wassers beim
Fall zur nächst tieferen Terrasse auf Null gebracht
wird. Doch nur durch Waldbedeckung, die schon
den fallenden Regen durch Verzögerung des Nieder-
gehens in den Blättern und durch Moosbedeckung
des Bodens regelt, den Boden dann durch das
Wurzelwerk der Bäume festigt, ferner durch alles
dieses den Grundwasserstand beeinflußt, kann
eine Linderung der Übelstände erzielt werden.
Wirklich sind in dem bereits angeforsteten Ge-
biete, wo noch 1901 die Niederschlagsmengen in
10 bis 12 Stunden abliefen, im Jahre 1903 4 bis
5 Tage vergangen, ehe der Boden trocken wurde,
obschon der Regenfall stärker war als zuvor. Be-
schaffung von gutem Brennholz nicht nur für die
europäische Niederlassung und die angrenzenden
chinesischen Gemeinden, sondern auch zum Ver-
handeln an der holzarmen Küste ließ von vorn-
herein auf leidlichen Ertrag der zunächst kost-
spieligen Anpflanzungen in der Zukunft rechnen,
und man bedachte auch , daß gute Gerbstoffe
einem lederbedürftigen Lande wie Nordchina, das
zugleich bisher ein ganz besonders schlechtes Leder
besessen hat, sehr not täten. In jedem Falle bot
der zu schaffende Wald dereinst eine reiche Arbeits-
gelegenheit für die arme chinesische Bevölkerung,
und für die ansässigen Europäer eine willkommene
.Stätte der Erholung, ein in Ostasien sonst ver-
mißtes Element landschaftlicher Schönheit, das
auf das Gedeihen der deutschen .Ansiedlung in-
sofern nicht ohne beachtenswerten Einfluß sein
wird, als mit steigendem Wohlbefinden der An-
siedler die Arbeitsfreudigkeit wächst. Tsingtau
ist bereits auf dem Wege, ein Sommeraufenthalt
und Badeort für Ostasien zu werden. Der Wald
wirkt dazu mit, Gäste heranzuziehen.
Anfänglich war die Aufforstung auf die Höhen
bei Tsingtau selbst beschränkt. Seit 2 Jahren ist
man aber dabei, die Auguste -Viktoria- Bai, an
welcher der Badestrand liegt und jetzt ein eigenes
Badehotel für Sommergäste erbaut wird, mit Wald
zu umgeben, und steigt mit den Anpflanzungen
ins Quellgebiet der Flüsse hinauf, besonders in
das des Haipo, der für die Wasserleitung wichtig
ist. Das Forstgebiet , zunächst auf 500 ha be-
rechnet, ist jetzt 850 ha groß und wird bereits
im Jahre 1907 soweit sicher gestellt sein, daß
größere Nachbesserungen nicht mehr nötig sind.
49°
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 31
Der Boden in diesen neuen Waldungen besteht
aus feldspathaltigem Granit mit zahlreichen Vor-
kommnissen von Porphyr und einigen schmalen
Basaltspalten. Häufig liegt der nackte Fels bloß;
sonst ist er mit grobkörnigem Grus bedeckt, aus
dem die feinen Nährbodenteile ausgeschlämmt sind.
So wünschenswert und in den verschiedensten
Richtungen notwendig die Aufforstung bei Tsingtau
von vornherein erschien, so schwierig ist sie doch
in mancher Hinsicht gewesen. Die Witterung,
das Gelände mit seinen Bodenverhältnissen, die
vorhandene Insektenwelt, die chinesische Bevölke-
rung, sie alle wollten nicht so einfach den Ein-
griff in den seit Jahrhunderten bestehenden Zu-
stand zugeben, und den deutschen Förstern und
Gärtnern standen nur beschränkte örtliche Er-
fahrungen zu Gebote; beispielsweise war bei der
Auswahl der anzupflanzenden Waldbäume erst
manche Probe zu bestehen, und man ist auch von
der einen oder anderen Hoffnung zurückgekommen.
So hatte man mit Recht angenommen, daß die
zunehmende Dürre der entwaldeten Berge die
einst wahrscheinlich weit verbreitete Pflege des
Eichenspinners eingeschränkt habe; aber nahe der
Küste wird sich, nach den inzwischen gemachten
Beobachtungen, diese Seidengewinnung doch wohl
nicht einbürgern lassen. Der Salzgehalt der sommer-
lichen Winde beeinträchtigt sie.
Die Witterung hat gerade bei den jungen An-
pflanzungen mancherlei Schwierigkeiten bereitet.
Zunächst wirkte die Dürre doch recht hinderlich.
Im Jahre 19C3 setzten die Niederschläge erst am
15. Juli ein, also viel zu spät für die Pflanzen.
Man muß für künstliche Bewässerung Vorsorgen
und hat in der Tat von vornherein in den Tal-
gerinnen kleine Stauweiher geschaffen. Schon im
Jahre 1900 wurden die jungen Schonungen während
des F"rühjahrs emsig begossen, indem eine Schar
von Kulis mit mehreren hundert leeren Petroleum-
kannen des Gouvernements Wasser herantrugen.
Nach der Trockenzeit beginnt dann der Regen
oft mit ungemeiner Heftigkeit. Vom 15. bis
18. Juli 1903 fielen 209,6 mm, in der Nacht vom
I. zum 2. August in 6 Stunden 105 mm, am
II. August in 7'.j Stunden 107 mm. Im ganzen
gingen in 23 kürzeren oder längeren Regenfällen
bis zum 16. September 621,9 rnni Niederschlag
nieder, also mehr als der Durchschnitt des Jahres
in Berlin beträgt (584 mml Doch nicht nur der
gesamte Witterungscharakter entbehrt der Mäßi-
gung und Ausgeglichenheit. Es treten einzelne
Stürme von verheerender Wirkung auf Schantung
wird von einer Taifun-Zugstraße berührt. So hat
einmal ein Taifun durch hygroskopische Wirkung
des Salzes Blätter und Nadeln der jungen Bäume
so stark welken lassen, daß im \'erein mit einer
damals gerade besonders frühzeitig eintretenden
Spätsommerdürre 150 ha der Schonungen zugrunde
gingen. Ein anderes Mal hat ein Taifun, der durch
stark herabströmende Güsse den Boden völlig
durchweichte, die Bäume in Mengen umgelegt.
Während der Trockenzeit schädigen Staubstürme
durch Uberschüttung des Laubes mit feinen Sand-
massen. Beispielsweise vernichtete ein Staubsturm
im Mai 1903 das frische Grün der Laubhölzer.
Doch gewöhnen diese sich daran , ihre Blätter
mindestens dreimal im Jahre zu erneuern.
Vor allem galt es, das für die Aufforstungen
bestimmte Gelände vor den Wirkungen der Boden-
abspülung zu schützen. Wasserrisse wurden durch
Steinwälle verbaut und da, wo die Grundverhält-
nisse es erlaubten, künstliche V\'asserstaubecken
erzielt, die im Winter zur Gewinnung von Natur-
eis für Krankenhäuser und Brauereien in Tsingtau,
im Frühjahr für die Bewässerung der Schonungen
Nutzen bringen und zugleich die Fortschlemmung
des Bodens verhüten sollten. Anfänglich wurde
durch das einlaufende Wasser hier und da solch
Staubecken sehr schnell zugeschwemmt, so daß
es wieder ausgebaggert werden mußte. Eine ganze
Reihe von großen und kleinen Stauweihern sind
jetzt im Betrieb; an anderen Stellen wünschte man
die Aufschlemmung, und als sie vollzogen war,
wurde die an Stelle des Abhangs getretene ebene
Fläche durch Weidenstecklinge gesichert, während
die Kraft des strömenden Wassers in ihr und
durch sie herabgemindert wnr. Steindämme und
Trockenmauern setzte man jedoch nicht bloß in
die einzelnen Abflußrinnen, damit das Gefall durch
einen Wechsel von kleinen ebenen Plächen und
Stürzen abgetreppt und möglichst unschädlich ge-
machtwurde, sondern man zog sie auch an geeigneten
Abhängen entlang, so daß zwar das abrinnende
Wasser durch die Fugen sickerte, die erdigen
Bestandteile jedoch zurückgehalten wurden. Diese
Steindämme haben sich gut bewährt, indem sie
auch Pflanzen hielten, die sonst aus ihren Löchern
geschwemmt wären. Vornehmlich aber diente
zur Bindung der Hangflächen ein Belag mit Gras-
streifen in etwa I m Entfernung voneinander,
parallel zu den Höhenkurven. Diese Grasplaggen
hielten das abrieselnde Wasser auf, zwangen es
in die Bodenrisse zu sickern und dort durch
mechanische Zertrümmerung und chemische Zer-
setzung, die besonders im feldspatreichen Granit-
fels schnell vor sich geht, zur I3odenbildung bei-
zutragen. Zugleich hielten die Grasstreifen das
Erdreich der Gehängeabspülung fest. Der Plaggen-
belag hatte in 4 bis 5 Jahren seine Schuldigkeit
getan; schon im Jahre 1902 konnte man mehr
und mehr auf ihn verzichten. Auf dem durch
ihn verfestigten oder geschaffenen Boden gedieh
sofort Eichensaat und Schonung zweijähriger Kiefern.
Man wandte jedoch auch andere Pflanzen an, um
das Erdreich zu binden, an steilen Böschungen
beispielsweise Akazien, deren Wurzeln sich weit-
hin verzweigen, an sandigen Stellen kalifornisches
Pampasgras , das aus übersandeten Internodien
immer neue Wurzeln treibt, und vor allem eine
Bohnenart, Pueraria Thurnbergii, welche die Bö-
schungen mit zähem, schönblättrigem Rankennetz
überspinnt. Freilich, so freundlich ihr blüten-
reiches Gewebe den Boden kleidet, dem auf-
wachsenden Forst wird ihre Üppigkeit leicht ge-
N. F. m-. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
491
fährlich; hat die Bohne ihre Schuldigkeit bei der
Bodenbindung getan, muß sie deshalb weichen, wird
jedoch als Kulturpflanze weiter gehegt werden.
In Japan gewinnt man aus dem W'urzelstock Stärke,
eine geringere Art, die vom armen Volke mit
Buchweizenmehl vermischt zu Klößen verkocht
wird, und eine bessere Sorte, die zur Kuchen-
bäckerei, Makkaroni- Verarbeitung und als Bei-
mischung zum Reisbrei benutzt wird, aber auch
als Kleister und getrocknet mit Fett als weiße
Schminke brauchbar ist. Die Ranken dienen schon
jetzt in China der Strickanfertigung. — Schließlich
bietet der Boden hier und da noch eine Gefahr
für den jungen Wald. Er hat sich stellenweis
und zeitweis als undurchlässig erwiesen. Dann
treten Pilzkrankheiten in den Baumschulen auf.
Starke Auf|)ackungen von Gras und geeigneten
Kräutern bewirkten bei ihrer Verwesung dann eine
starke Oxydation, welche den zu festen Untergrund
rascher verwittern ließ.
Schwer ist für den neuen Wald von Tsingtau
die Gefahr durch lebende Waldfeinde. Insekten
gibt es von einer Größe und Gefräßigkeit, zugleich
in einer Massenliaftigkeit, wie sie in der deutschen
Heimat nirgends bekannt ist. Vor allem stürzt
sich der Kiefernspinner aus den dürftigen chine-
sischen Schonungen mit wahrer Wollust auf den
jungen Forst. Die frischen Bestände können zur
Abwehr noch nicht geleimt werden, und die Ein-
lieferung von 6 Millionen Raupen im verflossenen
Jahre nützte gar nichts, da aus den chinesischen Ge-
meinden stets neue Falterschwärme herüberkommen.
Die Gemeinden wurden zwar auch zum Raupen-
sammeln angewiesen, vermochten ihre Aufgabe
aber nicht befriedigend zu lösen. Auch fand man
keine Unterstützung bei Insektenfeinden in der
Tierwelt; denn da größerer Wald bisher fehlte,
ist ihre Zahl beschränkt. Nur eine schwarzgraue
Drosselart stellte sich bald ein, ganz vereinzelt
auch der Kuckuck. Die in China sonst sehr
häufige Elster war nirgends zu erblicken. .Schlupf-
wespen (Ichneumonidae) und die Puppenräuber und
Raupenjäger (Calosama sycophanta und inquisitor)
waren nicht vorhanden. Es war klar, daß schon
aus dem Grunde des Falterfluges eine weise
Mischung der Baumarten im Forstgelände ein-
treten mußte, die den Tieren das Auffinden der
gesuchten Hölzer erschwert, daß vor allem die
Nadelholzbestände durch einen Schutzmantel von
Laubhölzern zu decken waren. Nistkästen und
strengster Vogelschutz werden hoffentlich die Vögel
allmählich in die jungen Schonungen ziehen, und
mit der Zeit stellen sich schon jetzt Raupen ver-
tilgende Insekten ein, die bei der überreichen
Nahrung sich rasch vermehren werden. Am meisten
sind bisher die ameisenartigen Buntkäfer (Cleridae)
aufgetreten ; doch auch Calosamen sind neuer-
dings schon vielfach beobachtet, und mit Genug-
tuung wurde eine Art der den Schlupfwespen ver-
wandten Kleinbauchwespen, Microgaster globulus,
begrüßt, die den Kiefernspinner-Raupen zu Leibe
geht. Der Daseinskampf im deutsch-chinesischen
Walde hat begonnen. Es lebt in ihm auch schon
von Wild. Die neu aufgezogene Bodendecke gibt
mancherlei Schutz, beispielsweise der Wachtel, die
im Winter von igo2 auf 1903 zum ersten Male
in der Kiautschou-Gegend überwintert hat, und
zwar im deutschen Forstgelände. Waldschnepfe,
Bekassine und andere Zugvögel treffen zeitweise
in Mengen ein, und Sumpf- und Wasservögel er-
freuen sich des Wildschutzes. Hasen gab es von
je viele in Schantung, trotzdem der Chinese ihnen
mit Fallen und Falken nachstellt, auch wildernde
Hunde sie verfolgen. Fuchs und Dachs finden
trefflichen Unterschlupf, da sie in ihren Felsbauten
nicht aufzustöbern sind, und nur Eisen und Treib-
jagd ihren Fang ermöglicht. Das Jagdrecht wird
nur durch die Behörden oder wenigstens nur unter
ihrer Aufsicht ausgeübt werden dürfen.
Zu den Waldfeinden gehörte auch der Chinese.
Anfänglich verleitete der Holzmangel zu fort-
währendem Diebstahl, zumal der Bevölkerung die
rechte Einsicht in das Wesen einer sorgsamen
Aufforstung abgeht. Es bedurfte strenger Maß-
nahmen und größerer Razzias, um einigermafSen
erzieherisch einzuwirken. Auch das Verbot des
Betretens der Schonung findet bereits Verständnis.
Die Zerstörung der Grasplaggen und Steindämme
durch unvorsichtigen Gang quer waldein ist zu
sichtbarlich nachteilig für den ganzen Betrieb, als
daß nicht auch der Chinese die Notwendigkeit
einsieht, sich auf den Wegen zu halten. Schwie-
riger ist es, ihm die Leichtfertigkeit abzugewöhnen,
mit der er das Feuer behandelt. Er raucht leiden-
schaftlich seine ungedeckte kleine Pfeife und kennt
die Gefahr des Waldbrandes nicht, weil in den
chinesischen lichten Beständen der Boden durch-
aus rein gehalten wird. Im Jahre 1903 fanden
an einem Tage 9 Waldbrände im deutschen Forst
statt; wäre nicht gerade eine Truppenabteilung
von der Felddienstübung vorübergezogen, so wären
die Förster und Gärtner nicht imstande gewesen,
Unheil zu verhüten. Die starke Dürre unterstützt
natürlich die Feuersgefahr.
Bei der Auswahl der anzupflanzenden Hölzer
muß in erster Hinsicht natürlich auf die Lebens-
fähigkeit und Nutzbarkeit der Bäume Rücksicht
genommen werden, in zweiter auf ihre Verwert-
barkeit zur Bodenfestigung, zum Gehängeschutz,
kurz für alle die Zwecke, welche die Aufforstung
geboten haben, in dritter auf das gefällige Aus-
sehen der Laubmischungen, der Baumformen, also
auf die Waldschönheit. Man hat 5 Eichenarten
ausgeprobt. Quercus serrata und dentata sind
heimisch und wachsen sicher, jene langsam, diese
rasch; jene gibt schlechtes, diese gutes Holz. Man
wird also q. dentata bevorzugen. Die in der
Mandschurei gedeihende q. mongolica würde für
die Eichenspinnerzucht wichtig sein; doch wächst
sie träge, und der Same ist schwer zu beschaffen.
Auch auf die schnellwüchsige, prächtig gedeihende
q. rubra aus Amerika wird man verzichten müssen,
weil mehrfach der Same auf dem Seewege ver-
dorben ist. Die Versuche mit der japanischen
492
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III, Nr. ^i
q. cuspidata sind noch zu jung, um ein Urteil zu
erlauben. Die Edelkastanie wuchs schon vor der
Inangriffnahme der deutschen Forstarbeiten in
Schantung, verlangt aber geschützte Standorte
und wird nur als eingesprengte Holzart, nicht in
größeren Beständen aufgezogen. Versuche mit
japanischem Samen sind fehlgeschlagen. Dagegen
gedeiht auf frischem, gutem Boden trefflich die
japanische Zelkowa keaki, die in Form und Be-
laubung schön ist und vorzügliches Nutzholz bietet.
Leider verbietet sich die Anpflanzung in großen
Beständen wegen der Abhängigkeit des Baumes
vom Erdreich. Ebenfalls aus Japan hat man 2
Weißerleii bezogen, Alnus japonica, die feuchte
Stellen liebt, und A. incana, die auch auf trockenem
Boden wächst und zur Unterbrechung der Nadel-
holzbestände brauchbar ist, da sie sich gegen
Winde als unempfindlich bewährt hat. Nur macht
auch hier der Bezug der Pflanzen Schwierigkeiten.
Deutsche Roterle ist ebenfalls angepflanzt. Schnell
wächst die einheimische Sterculia platanifolia an,
gibt aber nur mäßiges Holz und beansprucht
Windschutz. Vorzüglich gedeiht die gleichfalls
ortsansässige Ailanthus glandulosa, die prächtig
aufschießt, doch auch nur minderwertiges Holz
gibt. In Japan ist die in Ostasien heimische
Paulownia imperialis aus der F"amilie der Scrophu-
lariaceen wegen des Holzes, der Schnellwüchsig-
keit und der zur Lackherstellung verwerteten
Früchte sehr beliebt. Man hat im Tsingtau-Wald
jedoch erfahren, daß sie nur als Parkbaum brauch-
bar ist, weil sie zeitweise des Schutzes vor freier
Luft bedarf. Die japanische Esche Fraxinus pubi-
nervis gibt sehr gutes Holz und wächst auch
sicher an, nur sehr langsam und nur auf frischen
Stellen, dient also gleichfalls als Einsprengung.
Unter allen Laubhölzern erwies sich am dank-
barsten die aus deutschem Samen aufgezogene
Akazie, die auf leidlich tiefgründigem Boden schon
nach 2 Jahren 5 bis 6 m hoch aufgeschossen ist,
sich aber selbst mit schlechtem abfindet. Sie
wird flächenweise angebaut und auch zu Nach-
besserungen im Nadelwald verwertet. Da ihr Holz
leicht bricht, darf sie freilich nicht an Sturmseiten
der Gehänge stehen. — Unter den Nadelhölzern
hat man auf die Tanne bereits verzichtet. Trotz
drei Jahre lang wiederholter Versuche, Abies firma
aus Samen zu ziehen, blickte man nur auf Miß-
erfolge. Auch zeigt in Japan die Tanne ein so
schlechtes Holz, daß man für die chinesische Küste
nicht auf ein besseres zu hoffen wagt. Anschei-
nend wird die Pinie (Pinus pinca) gut gedeihen,
auch die verwandte Pinus insignis. Die Keime
gingen zu hoher Prozentzahl auf, und die Pflanzen
wuchsen schnell auf; nur bleibt es fraglich, ob
sie winterfest genug sind. Am sichersten ist bisher
Pinus Thumbergii fortgekommen. Thuja-Anpflan-
zungen sind nur streckenweise gelungen.
Die wichtigsten Erfahrungen und Proben hat
man nicht gleich im Forstgelände, sondern im
Pflanzgarten gemacht, der sich an Gehängen, die
nach Süden und nach Westen abdachen, von 25
bis 95 m Höhenlage hinaufzieht und 2 große und
4 kleine Stauweiher besitzt. Der Hauptgarten
am Iltisberg sollte nicht nur für den Wald, sondern
auch für Straßenbepflanzung und öffentliche An-
lagen Bäume und Sträucher ziehen, weil der Be-
zug von Samen und Pflanzen sich als kostspielig
und unsicher herausgestellt hatte. Neben ihm be-
stehen verstreute Saat-, Pflanz- und Baumschulen
in der unmittelbaren Nähe des Waldes oder in
ihm. Ist man sich über die Verwertbarkeit der
einzelnen Pflanzen klar und sind die wesentlichen
Ansprüche auf Baumlieferungen, die vorläufig noch
eine ständige Vergrößerung des Pflanzgartens er-
fordern, dereinst gedeckt, dann soll er in einen
botanischen Garten umgewandelt werden; deshalb
behält man jetzt schon von jeder erzogenen Pflanzen-
art in ihm Proben zurück. In den Baumschulen
von Tsingtau wird natürlich auch auf Obstzucht
Wert gelegt. Der Chinese mit seinem Fleiße und
seiner zähen Geduld ist der geborene Gärtner,
treibt deshalb auch viel Obstbau. Kronenerziehung
der Bäume und Okulierung sind in seinen Gärten
schlechthin musterhaft. Nur fehlt es ihm an edlen
Sorten und veredelnden Reisern. Die Forstver-
waltung versorgt daher umliegende Dörfer mit
Edelreisern. Anfänglich sträubten sich die Chinesen
gegen die Annahme; denn es war ihnen kaum
begreifbar zu machen, daß die Okulierung ihrer
Bäume durch deutsche Reiser nicht eine Besitz-
ergreifung ihres Eigentums durch die Deutschen
bedeuten sollte. Die europäischen Ansiedlungen
in Ostasien verbrauchen viel Edelobst, und aus
Tschifu wird dank der Bemühungen eines ameri-
kanischen Missionars bereits massenhaft eine durch
kalifornische Reiser veredelte Birne ausgeführt.
Man wünscht nun auch Tsingtau zum Obstausfuhr-
platz zu machen. Das Baumobst gedeiht so gut,
daß durch die gezogenen Reiser sich jährlich
etwa 5000 Stämmchen in den verschiedenen
Gärten in und um Tsingtau veredeln lassen.
Johannisbeeren kommen vorzüglich fort, Stachel-
und Himbeeren jedoch verkümmern. Die Obst-
lehrschule von Geisenheim am Rhein hat Steck-
linge heimischer deutscher Reben entsendet, die
reichen Ertrag gebracht haben. Von 75 Proben
steht es bei 15 bereits fest, daß sie einen trink-
baren Wein ergeben. Auch bei Tschifu gibt es
eine Weinbaugesellschaft. Allerdings wird man mit
Reblaus und vielen Insektenschädlingen zu rechnen
haben. Auch verlangen Wein- wie Obstgärten
geschützte Lagen. Insbesondere schädigt der
sommerliche Oststurm. Der Wind scheint die
Gewebeschichten zu zerdrücken und dann Saft zu
entziehen ; außerdem wirkt der starke Salzgehalt
dieser übers Meer kommenden Ostwinde nach-
teilig. Auch Maulbeer- und Eichenspinnerzucht
scheint in Seenähe nicht möglich, weil die salz-
haltige Luft das Laub in einer Weise beeinflußt,
die den Raupen nicht zusagt. Der Obst- und Wein-
anbau muß die Westabhänge aufsuchen. Versuche
mit anderen Nutzpflanzen haben ergeben, dal5
Ramie sich im I'^reien kräftig entwickelt, ohne von
N. F. III. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
493
der Winterkälte zu leiden, Tabak, der bereits viel-
fach in Schantung angebaut wird, freilich in recht
schlechten Sorten, sich unter Zuhilfenahme japa-
nischer Erfahrung gut veredeln läßt, daß die Lu-
pine das Klima nicht verträgt, Wicken sich aber
bewähren, daß Spargelanbau außerordentlich lohnt
und eine reiche Ernte feinschmeckender Pflanzen
ergibt. Auch Artischocken gedeihen trefl"lich. Merk-
würdigerweise entartet fast jedes Gemüse rasch,
so daß häufiger Bezug deutschen Samens not-
wendig wird. Am besten hat sich bisher die
Kartoffel eingebürgert. Es ist möglich, zweimal
jährlich zu ernten, und der Ertrag schwankt je
nach der Sorte bei i Zentner Aussaat zwischen
6 bis 14 Zentner Ernte. Die Chinesen haben den
Wert des Kartoffelanbaues sofort begriffen. Sie
versorgen bereits die Garnison mit ihrer Ernte.
Eine erstaunliche Menge von Tatkraft und Um-
sicht steckt in allen diesen Versuchen. Sie ver-
ändern rasch das Landschaftsbild , die Lebens-
bedingungen, zum Teil auch das Räderwerk der
ineinander greifenden Naturvorgänge in der Um-
gebung der deutschen Niederlassung von Tsingtau.
Der Anbau in den Tälern wird noch reicher, wenn
nicht an Masse so doch an Wert der Aufzucht,
und die Berge bedecken sich mit dem liebens-
würdigen Kleide nutzbarer Bäume, unter denen
ein bewegteres Tierleben sich abspielt, als seit Jahr-
tausenden die Provinz Schantung es gesehen hat.
Wieviel Ertrag aus diesen Unternehmungen dem
wirtschaftlichen Gedeihen des Schutzgebietes,
vielleicht gar dem deutschen Mutterlande erblühen
wird, das wird die Zukunft lehren.
Dr. F. Lampe.
Die Dysenterie in Konstantinopel. — Ätio-
logische, experimentelle und anatomische Studien
von Prof. Dr. D e y c k e und Assistenzarzt R e s c h a d
E f f e n d i in Rieder Pascha : Für die Türkei, Selbst-
gelebtes und Gewolltes. Jena 1904, G. Fischer.
p. 183-315. Bd. II.
Die Verfasser kommen an der Hand von 87
in den letzten 4 Jahren im Krankenhause Gülhane,
Konstantinopel , genau untersuchten Fällen von
Dysenterie zu beachtenswerten Resultaten, indem
sie der Ätiologie nach 3 verschiedene Formen
unterscheiden konnten, 2 stark abweichende ba-
zilläre und eine durch Amöben hervorgerufene.
Das lokale Gepräge der Erkrankungen äußerte
sich einmal darin, daß bei der selteneren 3. Form
überraschenderweise die ausschließlich Amöben
enthaltenden Stühle sich als nicht katzenpathogen
erwiesen, dann ferner in der Auffindung eines bis-
her unbekannten kulturell und biologisch wohl
charakterisierten Erregers, welcher zur Typhus-
Coli-Gruppe zu stellen ist. Dieser Bazillus, mit
Recht als „Typus Deycke" bezeichnet, erscheint
als kurzes Stäbchen, das sich gegen das Bacterium
coli durch seine Unbeweglichkeit, sein Unvermögen
Milch zu koagulieren und durch fehlende oder
äußerst geringe Säurebildung, gegen die echten
Shiga (-Kruse) 'sehen Ruhrbazillen jedoch durch
sein Gärvermögen, Indolbildung .sowie die Art
des Oberflächenwachstums auf Gelatine scharf
abgrenzt. Als besonders charakteristisch ist noch
seine Katzenpathogenität zu erwähnen, welche es
auch bei der konstatierten Gleichheit des patho-
logischanatomischen Prozesses im Dickdarm von
Katze und Mensch ermöglichte, die genaue Stufen-
folge in der Entwicklung der lokalen Veränderungen
festzulegen. Diese mehr sporadisch auftretende
Form der Dysenterie ist eine prognostisch ernst
zu nehmende Erkrankung, welche zu häufiger
Wiederkehr neigt und dann schwere Störungen
im Allgemeinbefinden zur Folge hat.
Neben der ebengenannten findet sich eine fast
stets akut und epidemisch verlaufende, dabei einen
durchweg benignen Charakter tragende Form,
deren Erreger mit dem Flexner'schen Ruhrbazillus
der Philippinen identifiziert werden konnte.
Dagegen kam die bekannteste durch den Shiga-
Kruse'schen Bazillus verursachte Dysenterie nicht
zur Beobachtung.
Als Infektionsmodus mußte auch hier oft Kon-
taktwirkung angenommen werden , doch konnte
noch vor Abschluß der Untersuchungen eine
t Übertragung durch infizierte Wasserleitung bakte-
riologisch exakt bewiesen werden.
Die Kürze des Referates verbietet es auf die
F'ülle von Einzelheiten einzugehen , so auf die
hygienisch interessante Erörterung der Wasser-
versorgungs- und Kanalisationsverhältnisse Kon-
stantinopels und dahin gehörige auch zur Ver-
hütung der Ruhr dienende Reformvorschläge,
ferner die speziellen Serum- und Toxinversuche
mit dem neuen Erreger. Erwähnt mag noch sein,
daß der Arbeit eine eingehende historische und
kritische Würdigung der Literatur voraufgeht.
Als wichtigstes Resultat der Untersuchungen
erscheint es, die schon anerkannte Dualität der
unter ähnlichen pathologischen und klinischen
Erscheinungen verlaufenden Dysenterieerkrankun-
gen noch weiterhin und zwar durch Beobachtungen
an einer Lokalität, in eine Multip lizität auf-
gelöst und damit neue Gesichtspunkte in der Be-
urteilung der Unität eines Krankheitsbildes eröffnet
zu haben.
Möglicherweise wird es bei den bazillären For-
men allerdings auf die endgültige Festlegung
eines Erregers hinauskommen, dessen Rassen
sich entsprechend biologisch, bakteriologisch und
klinisch als wechselnd abweichend erweisen.
Vorliegendes Referat ist der an die Türkei
gerichteten Denkschrift entnommen, in der es als
Spezialabschnitt zur Wiedergabe gelangte. Das
eine F'ülle von Einzeltatsachen, Vorschlägen und
Fortschritten enthaltende, zweibändige Werk legt
Zeugnis von der Bedeutung deutscher und speziell
eingehender ärztlicher Tätigkeit und Kulturarbeit
im Auslande ab. Dr. med. W. v. Gößnitz, Jena.
Über höchst eigentümliche sog. Ameisengärten
aus dem Urwaldgebiet des Amazonas berichtet
494
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 31
E. Ule. ^) Verf. machte nämlich die Beobachtung,
daß zahlreiche, auf Bäumen angelegte Ameisen-
nester stets von einigen epiphytischen Pflanzen
bewachsen waren, die hauptsächlich aus Brome-
liaceen, Gesneriaceen und einer Peperonia, seltener
aus Araceen und anderen sich zusammensetzen.
Dabei befanden sich gewöhnlich mehrere dieser
verschiedenen Epiphyten zugleich auf demselben
Nest und zwar in allen Entwicklungsstadien von
der jungen Keimpflanze bis zum völlig ausgebil-
deten Gewächse. Auffallend ist nun zunächst,
daß eine ganze Anzahl dieser Pflanzen ausschließ-
lich auf diesen Ameisennestern vorkommt, und
daß sie zugleich durch allen gemeinsame Merk-
male in Wurzelbildung und Belaubung ihre Ab-
hängigkeit von dem künstlichen Humusboden, den
die Ameisennester ihnen darbieten, erkennen lassen.
Das merkwürdigste aber ist, daß sogar die Ameisen
selbst die alleinigen Verbreiter und Pfleger dieser
Pflanzen sind, daß sie dieselben künstlich züchten,
ihnen durch die Humusansammlung ihres Nestes
die notwendigen Existenzbedingungen schaffen.
Sie schleppen die Samen ein, umgeben die zarten,
keimenden Würzelchen sofort mit Erde und ver-
größern ihrNest mit dem Heranwachsen derPflanzen.
Von der großen Zahl der auf jedem Nest einge-
pflanzten Epiphj'ten geht zwar ein beträchtlicher
Teil ein, der Rest jedoch gedeiht vortrefflich.
Der Vorteil, den die Ameisen von dieser Aus-
pflanzung haben, beruht einmal darauf, daß die
Wurzeln und Zweige der Epiphyten den Erdnestern
einen festen Halt gegen Regengüsse verleihen, und
weiter darauf, daß ihre Blätter Schutz gegen die
glühenden Strahlen der Tropensonne gewähren.
Selbst auf abgestorbenen Bäumen und Asten
können diese Epiphytenpflanzungen noch lange
weiter gedeihen. Das ganze Verhältnis zwischen
Ameisen und Pflanzen ist hier wohl eher als eine
Raumsymbiose, nicht als eine Schutzsymbiose
aufzufassen. J. Meisenheimer.
') E. Ule, Ameisengärten im Aniazonasgebiet. In: Botan.
Jahrb. für Systematik etc. 30. Bd. Beiblatt Nr. 68. iqoi.
Die biologische Bedeutung der Drüsen-
haare von Dipsacus silvestris hat Dr. R. Ro-
stock untersucht. Dipsacus silvestris hat gegen-
ständige Blätter, welche infolge der Verwachsung
ihres Grundes tiefe Tröge bilden, die oft mit
Regenwasser gefüllt sind. In dem Becken und
auf anderen Teilen der Blätter finden sich zwei
Arten von Drüsenhaaren, Köpfchendrüsen und
langgestreckte Drüsen vor; Fr. Darwin und Cohn
haben bereits Untersuchungen über diese Gebilde
angestellt. Die gereiften Drüsen zeigen gelbbraune
Färbung. Die Köpfchendrüsen unterscheiden sich
von den anderen dadurch, daß sie imstande sind,
ein schleimartiges Plasma auszuscheiden. 'Die
Bedeutung der Drüsen und ihrer Sekrete bringt
der Verf. in Zusammenhang mit der Bedeutung
der Wasseransammlung. Die interessanten Ex-
perimente Rostock's ergaben in bezug auf den
letzten Punkt, daß die Wasseransammlung nicht
dazu dient, ins Innere der Pflanze aufgenommen
zu werden. Zahlreiche Versuche im Freien führten
vielmehr zu dem Krgebnis, daß die Wasseransamm-
lung in den Trögen als ein Schutzmittel für die
ganze Pflanze (nicht nur für die Blüte, wie Kerner
meinte) gegen Schnecken- und Raupenfraß anzu-
sehen ist, ein Schutz, dessen Bedeutung aus dem
Standort und der saftigen Beschaffenheit der
Pflanze leicht erklärlich erscheint. Häufig fanden
sich Käfer, tote Raupen und Schnecken in der
Trogflüssigkeit. Biologisch interessant ist hierbei,
daß schon nach geringer Befeuchtung die Ober-
fläche der Blätter sehr glatt wird und so das
Hinabrutschen der Tiere in das mit Wasser ge-
füllte Becken begünstigt. Von der biologischen
Bedeutung der Wasserbecken ausgehend , unter-
sucht der V^erf. die Aufgabe der Drüsen und ihrer
Sekrete. Auf Grund angestellter Fütterungs-
versuche bezeichnet R. die Vermutung Fr. Dar-
win's, ^daß die Drüsen ähnlich wie bei Drosera,
im Dienste der Nahrungsaufnahme stünden, als
nicht zutreffend; vielmehr glaubt er durch zahl-
reiche Versuche erwiesen zu haben, daß die eigen-
tümlichen Drüsensekrete (Ballen, Klümpchen) die
Verdunstung des der Pflanze so nützlichen Trog-
wassers erheblich verlangsamen. Die in den
Wasserbehältern aufgehäuften Zerfallprodukte der
ertrunkenen Insekten haben sicher für die Pflanze
den V^orteil, daß sie durch das überlaufende Wasser
dem Boden und den Wurzeln als stickstoffhaltige
Nahrung zugeführt werden. F. Schleichert.
Kristallisierter Portlandzement. — Nach
einem Vortrag des Direktors Grauer in dem
Verein deutscher Portlandzementfabriken ist es
Dr.Schmidt undingenieur U nger in der Portland-
zementfabrik Lauffen am Neckar gelungen einen
kristallisierten Portlandzement zu erhalten.
Die Hauptschwierigkeit lag nach dem Vortragen-
den in der Konstruktion eines Ofens, der im elek-
trischen Lichtbogen kein Calciumcarbid liefert.
Nachdem es gelungen war einen brauchbaren
Ofen zu bauen, der einen genügend großen
Schmelzraum besaß, waren die Versuche von Er-
folg gekrönt. Ein Zement mit 60 v. H. Ätzkalk
schmolz zu einer glänzenden Masse zusammen; von
62 v. H. Ätzkalk an zeigten sich im Innern dieser
Masse Kristalldrusen und bei 66 v. H. hatte das
ganze Schmelzprodukt ein kristallinisches Gefüge.
Die größten Kristalle gehörten dem hexagonalen
System an und verhielten sich optisch anormal.
Sie enthielten Kalk und Kieselsäure im \'erhältnis
3 zu I, aufäerdem aber noch Tonerde und Eisen-
oxydul; tonerdefreie wurden niemals gefunden.
Die praktische Bedeutung der Versuche liegt in
dem Nachweis, daß hochkalkige Zemente durch
Schmelzen besser werden, die tonerdereichen
zeigen dagegen gesintert günstigere Eigenschaften.
Zunächst haben die Versuche vorwiegend theo-
retisches Interesse. Der gewöhnliche Zement ist
ungleichförmig, der kristallisierte soll gleichmäßig
N. F. m. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
495
sein und da es gelang Gemische zu erhalten , die
nur aus Kristallen bestanden , wurde der Name
„kristallisierter Portlandzement" gewählt. Natür-
lich soll damit nicht gesagt sein, daß es sich um
eine einheitliche Verbindung handelt, wie von
anderer Seite irrtümlicherweise diese interessanten
Versuche mißdeutet worden sind.
Dr. Odernheimer.
Himmelserscheinungen im Mai 1904.
Stellung der Planeten: Nur Saturn ist am Morgen-
himmel I bis I '/.> Stunden lang sichtbar.
Sternbedeckung: Am 21. findet eine Bedeckung von o
Leonis durcli den Mond statt. Der Eintritt erfolgt für Berlin
um 9 Uhr 57,4 Min. abends, der Austritt um lo tJhr 38,2
Min.
Algol -Minima lassen sich im Mai wegen der Sonnen-
nähe des Sterns niclit beobachten.
Ende Februar 1906 die unterzeichnete Direktion auf Vorschlag
einer von ihr noch zu ernennenden Prüfungskommission.
Frankfurt a. M., den I. April 1904.
Die Direktion
der Senckenbergiscben Naturforschenden Gesellschaft.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Die 76. Versammlung der (Gesellschaft Deut-
scher Naturforscher und Arzte wird vom 18. bis
24. September 1904 in Breslau stattfinden.
Die auf der Versammlung in Hamburg durchgeführte
Vereinigung mehrerer verwandter Fächer wurde auch in diesem
Jahre beibehalten. Die Gestaltung der Versammlung erfährt
nur dadurch eine geringe Änderung, daß nach dem Beschlüsse
des Vorstands der Gesellschaft die Abteilung für AgrikuUur-
chemie und landwirtschaftliches Versuchswesen wieder herge-
stellt werden wird. Es ergeben sich hiernach 14 Abteilungen
in der naturwissenschaftlichen und 1 7 in der medizinischen
Hauptgruppe. — Die allgemeinen Sitzungen der diesjährigen
Tagung sollen am 19. und 23. September abgehalten und in
denselben Gegenstände von allgemeinem Interesse behandelt
werden. — Für den 22. September vormittags ist eine Gesamt-
sitzung der beiden wissenschaftlichen Hauptgruppen geplant.
Es soll in derselben die Frage des mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Unterrichts auf den höheren Lehranstalten ein-
gehend erörtert werden. — Für den 22. September nach-
mittags sind für jede der beiden Hauptgruppen gemeinsame
Sitzungen vorgesehen. Für die medizinische Hauptgruppe sind
die Themata noch nicht fest bestimmt. In der naturwissen-
schaftlichen Hauptgruppe sollen sich die Vorträge und die
Verhandlungen auf die Eiszeit in den Gebirgen der Erde be-
ziehen. — Die Abteilungssitzungen sollen am ig. .September
nachmittags, am 20. und 21. September vor- und nachmittags,
sowie evtl. am 23. September nachmittags abgehalten werden.
Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Uhthoff ist I. Geschäfts-
führer, Geheimer Regierungsrat Prof. Dr. Ladenburg 2. Ge-
schäftsführer. — Die Geschäftsstelle befindet sich in Breslau X
Matthiasplatz 8 111.
V. Reinach -Preis für Paläontologie. — Ein Preis
von 500 Mk. soll der besten Arbeit zuerkannt werden , die
einen Teil der Paläontologie des Gebietes zwischen Aschaffen-
burg, Heppenheim, Alzei, Kreuznach, Koblenz, Ems, Gießen
und Büdingen behandelt; nur wenn es der Zusammenhang er-
fordert, dürfen andere Landesteile in die Arbeit einbezogen
werden.
Die Arbeiten, deren Ergebnisse noch nicht anderweitig
veröffentlicht sein dürfen, sind bis zum I. Oktober 1905 in
versiegeltem Umschlage, mit Motto versehen, an die unter-
zeichnete Stelle einzureichen. Der Name des Verfassers ist
in einem mit gleichem Motto versehenen zweiten Umschlage
beizufügen.
Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft hat
die Berechtigung diejenige Arbeit, der der Preis zuerkannt
wird, ohne weiteres Entgelt in ihren Schriften zu veröffent-
lichen, kann aber auch dem Autor das freie Verfügungsrecht
überlassen. Nicht preisgekrönte .'\rbeiten werden den Ver-
fassern zurückgesandt.
Über die Zuerteilung des Preises entscheidet bis spätestens
CaUandrean und P e r r o t i n f. In den letzten Wochen
liat Frankreich zwei namhafte Astronomen durch den Tod
verloren. Am 13. Februar starb O. CaUandrean, Professor
der Astronomie an der Ecole polytechnique und Titularastro-
nom der Pariser Sternwarte. Er hat sich in gleicher Weise
alt gewissenhafter Beobachter wie als bedeutender Theoretiker
einen Namen erworben. — Henry Per rotin, der im März
starb, war seit mehr als zwanzig Jaliren der Leiter der groß-
artig nach seinen Plänen angelegten , vom Bankier Bischofs-
heim gestifteten Sternwarte auf dem Mont Gros bei Nizza.
An den zahlreichen, wichtigen Entdeckungen, die von hier
ausgingen, hat Perrotin meist persönlichen Anteil gehabt.
Neben theoretischen Studien über die Ungleichheiten der
Bewegung der Vesta hat Perrotin namentlich Hervorragendes
in der Erforschung der Planetcnoberflächen geleistet; eine
seiner letzten, größeren Arbeiten war die Neubestimmung der
Geschwindigkeit des Lichts nach Fizeau's Methode (vgl. I!d. II,
S. 226).
Bücherbesprechungen.
Waldemar v. Wasielewski , Goetlie und die
Descendenzlehre. (Frankfurt a. M. Literar.
.^nstah Rütten & Loening, 1904). — Preis 1,80 Mk.
Obwohl sich die bisher über Goethe's Stellung zur
Descendenzlehre von Haeckel , Cohn , Kalischer,
Potonie, Wiesner, Sachs und anderen Autoren ge-
äußerten Anschauungen in eine fast vollständige Reihe
bringen lassen, die von unbedingter Bejahung
bis zur reserviertesten bloßen Andeutung reicht; ob-
wohl demnach auch das im allgemeinen zutreffende
Urteil bereits ausgesprochen worden sein muß, gab
es doch mancherlei (Gründe dafür, die Frage auf
Grund des umfassenden Materiales der Weimarer
.\usgabe einmal detailliert zu behandeln.
Einmal ist sie über das bloße naturwissenschaft-
liche Interesse hinaus von Bedeutung für einen Teil
von Goethe's Weltanschauung. Sodann reizten die
Widersprüche der bisherigen Ansichten zu dem Ver-
such, die allmähliche Entwicklung der Ideen
Goethe's über die Abstammung der Arten zu ver-
folgen unter Berücksichtigung aller von innen wie von
außen wirksamen Faktoren.
Diese historisch - psychologische Behandlungsweise
verlegt freilich den Schwerpunkt von einem kurz aus-
zusprechenden Schlußresultat weg und zielt vielmehr
darauf ab, „das Spiel der geistigen Kräfte zu be-
trachten", wie der Verfasser es am Schluß ausdrückt,
vom ersten Aufleuchten der Vorstellung einer Des-
cendenz bis hinan zu ihren letzten Entfaltungen.
Danach tritt die Idee kurz nach i 790 zum ersten
Male bei Goethe deutlich hervor, scheint um 1795 zu
einem gewissen Abschluß gebracht, über den für Goethe
wissenschafdich kaum hinauszukommen war, da seine
Vorstellung gesonderter Typen sich nicht mit der-
jenigen einer schrankenlosen Descendenz vereinigen
ließ. Es beginnt nunmehr ein eigenartiges Wechsel-
spiel zwischen der vordrängenden Idee und der noch
allzu unvollständigen, daher stets widerstrebenden Er-
fahrung. Dies erklärt die zum Teil sehr merkwürdigen
späteren Auslassungen Goethe''s über diese Dinge, er-
496
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 31
klärt vor allem, warum dieselben äußerlich, jedoch
nicht innerlich , einander bisweilen widersprechen.
Die P^inzelheiten hiervon müssen im Original nach-
gelesen werden.
Die Arbeit gliedert sich in drei Kapitel, von denen
das zweite die eigentliche Abhandlung bildet. Das
erste ist einer Aufzählung und Diskussion der früher
über die Frage geäußerten Ansichten gewidmet ; das
dritte bringt Beiträge zu Goethe's Stellung zur Theorie
überhaupt, soweit dieselben an diesem Ort zu weiterer
Klärung erwtinscht sein konnten. Sodann findet sich
dort noch ein Abschnitt über solche Stellen in Goethe's
naturwissenschaftlichen Schriften , die nach der An-
schauung des Verfassers in descendenztheoretischem
Sinne mißverstanden werden können. Eine derselben,
die von bedeutendem Interesse ist und von R. Steiner
zu einem Beweise für Goethe's bejahende Stellung
zur Descendenzlehre benutzt worden ist, erfährt dabei
eine genauere Analyse. (x.)
Literatur.
Rudorf, Dr. George: Das periodische System, s. Geschichte
u. Bedeutung f. die chemische Systematik. Vermehrte und
vom Verf. vollständig umgearb. deutsche Ausg. Die Über-
setzung unter Mitwirkung von Assist. Dr. Hans Ricsenfeld.
(XV, 370 S. m. II Fig.) gr. 8". Hamburg '04, L. Voß.
— 10 Mk.
Volz, Wilh.: Zur Geologie v. Sumatra. Beobachtungen und
Studien. Mit 12 Taf., 3 Karten u. 45 Abbildgn. im Te.xt.
(112 S.) Jena '04, G. Fischer. — 36 Mk.
Wundt, Wilh.: Einleitung in die Philosophie. 3. .\uH. .Mit
e. Anh. tabellar. Übersichten zur Geschichte der Philosophie
u. ihrer Hauptrichtgn. (XVIII, 471 S.) gr. 8". Leipzig
'04, W. Engelmann. — Geb. in Leinw. 9 Mk.
, Grundriß der Psychologie. 6. verb. .Aufl. (XVI, 408 S.
m. 22 Fig.) gr. 8". Leipzig '04, W. Engelmann. — Geb.
in Leinw. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn Prof. A. in Lausanne. — Lehrbücher über Metallo-
graphic sind die folgenden: v. Jüptner, Siderologie, 2 Bde.
thöfieres Nachschlagewerk über die Metallographie des Eisens.
K. Heyn, Die Metallographie im Dienste der Hüttenkunde,
Ciaz & Gerlach , Freiberg i. S. Preis i Mk. Zu empfehlen
für diejenigen, die sich rasch mit dem Geist der Sache ver-
traut machen wollen. Sauveur&Whiting, Boston, Testing
l.aboratory. Brieflicher Unterrichtskursus (Englisch u. Deutsch).
Im übrigen ist die Literatur in Zeitschriften verstreut.
E. Heyn, Professor.
Herrn M. Str. in J.
luantwortet.
Anonyme Anfragen bleiben un-
Herrn Prof F. — .Skioptikon-Diapositive, auch solche zur
bcilanischen .\natomie, erhalten Sie bei der Firma Romain
'i'albot in Berlin, Kaiser Wilhelmstr. 46.
Herrn H. — Über das Vorkommen des echten
ILiusschwammes an lebenden Bäumen schreibt Prof
P. Hennings-Berlin: Bereits im Jahre 1889 habe ich mit-
geteilt, daß ich im Februar 1885 reife Fruchtkürpcr des
Merulius lacrymans {= Serpula 1.), am Grunde und an
Wurzeln eines lebenden Kiefernstammes im Grunewald bei
Berlin beobachtet hatte. Infolge dieser Beobachtung, sowie
auf praktische Erfahrungen gestützt, fühlte ich mich veranlaßt,
die Ansicht auszusprechen, daß das Mycel des Schwammes die
Stämme bewohnt und mit dem frischen Bauholze aus dem
Walde in Neubauten eingeschleppt wird. Von R. Hartig und
Göppert war kurz vorher die Ansicht ausgesprochen und in
die verschiedensten Lehrbücher und Zeitschriften übergegangen,
daß der Hausschwamm eine Kulturpflanze sei, die zur Jetzt-
zeit nur noch in Gebäuden vorkomme und durch Sporen von
Haus zu Haus weiter verbreitet werde. Diese Annahme wird
von C. v. Tubeuf noch uneingeschränkt in der 1902 erschiene-
nen zweiten .Auflage von R. Hartig ,,Der echte Hausschwamm"
vertreten und es wird von ihm besonders bestritten , daß das
Mvcel des Schwammes parasitisch in lebenden Waldbäumen
vorkomme und mit dem frischen Bauholz seine Verbreitung
linde. Während der letzten Jahre sind nun aber bei uns noch
weitere Fälle von Hausschwamm an lebenden Stämmen be-
kannt geworden. Bereits früher wurde der Hausschwamm an
lebenden Nadelholzstämmen von Prof Ludwig in Greiz be-
obachtet, dann berichtet Prof. Rostrup, daß er Fruchtkörper
am lebenden Stamme einer echten Kastanie bei Charlottenlund
auf Seeland gefunden hat; ferner wurden von mir Frucht-
körper in Kiefernwurzeln im Grunewald gesammelt. Hiermit
war nun zwar immer noch nicht der e.xaktc Beweis geliefert,
daß das Mycel auch im lebenden Stamme vorkommt , denn die
Fruchtkörper vermögen sich nur aus dem von dem Mycel
bereits völlig zerstörten Holze zu entwickeln. Anfang Novem-
ber v. J. erhielt ich von Prof Möller in Eberswalde die Mit-
teilung, daß daselbst am Abhang eines Hügels zahlreiche
lebende und abgestorbene Kiefern- und Buchenwurzeln mit
reifen Fruchtkörpern des Hausschwammes reich bewachsen
seien, und daß er an dieser Stelle sich sehr weit ausgebreitet
häUe. Gleichzeitig erhielt ich von ihm eine Kiste mit Wurzel-
stücken von Kiefern und Buchen zugesandt, teils lebend, teils
abgestorben, die teilweise mit prächtigen Fruchtkörpern be-
haftet waren. Frische Wurzclstücke , die keine Fruchtkörper
zeigten, wurden von mir in Kultur genommen. Aus dem
Rande der Schnittfläche eines anscheinend gesunden Wurzel-
stUckcs einer Buche, sowie aus den Seiten mehrerer Kiefern-
wurzelstücken entwickelten sich im Kulturglase schon binnen
zwei Tagen sehr feine weißliche, filzige Mycelräschen. Die
mikroskopische Untersuchung dieser ergab , daß sie aus farb-
losen, mit Schnallenbildungen und Aussprossungen versehenen
Hyphcn bestehen. Letztere sind nach Hartig und Tubeuf das
liezeichnende Merkmal des Hausschwamm - Mycels. Hiermit
dürfte denn wohl der sichere Beweis gegeben sein, daß das
Mycel von Merulius lacrymans auch in dem Holze lebender ver-
schiedenartiger Bäume vorkommt. Durch mikroskopische
Untersuchung lebenden Holzes ist das Mycel jedenfalls schwer
und unsicher im Innern des Holzes nachweisbar, wohl aber
leicht durch Kultur zu entwickeln. In allen Fällen , wo der
Hausschwamm an lebenden Bäumen beobachtet worden ist,
treten seine Fruchtkörper aus den Wurzeln oder aus der
Slammbasis hervor. Es ist demnach anzunehmen, daß das
Mycel des Schwammes den Waldboden durchwuchert, von
hier aus in schadhafte Stellen der Wurzeln und schließlich
von diesen in den Stamm eindringt. Der lebende Stamm
vermag den Angriffen entsprechenden Widerstand entgegen-
zusetzen, aber es dürften sich zumal bei älteren Stämmen
doch immer Teile finden, die, in irgend einer Weise ange-
griffen , weniger widerstandsfähig sind und von denen sich
schließlich das Mycel weiter auszubreiten vermag. Wird nun
ein solcher Stamm gefällt, so erlischt jeder Widerstand und
das Mycel vermag sich alsdann , besonders unter günstigen
Umständen , so bei geschlossener Luft und Feuchtigkeit in
Neubauten , unbehindert auszubreiten und das Holz zu zer-
stören, (x.)
Snhalt: Dr. W. Koert: Meeresstudien und ihre Bedeutung
Aufforstungen in Tsingtau. — Prof. Dr. Deycke und
tinopel. — E. Ule: Ameisengärten. — Dr. R. Rosto
silvestris. — (irauer: Kristallisierter Portlandzement.
schaftlictien Leben. — Bücherbesprechungen: Wa
— Literatur: Liste. — Briefkasten.
für den Geologen. — Kleinere Mitteilungen: Dr. F. Lampe:
Assistenzarzt Reschad Effcndi: Die Dysenterie in Konstan-
ck: Die biologische Bedeutung der Drüsenhaare von Dipsacus
— Himmelserscheinungen im Mai 1904. — Aus dem wissen-
Idemar v. Wasielewski: Goethe und die Descendenzlehre.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Päti'sche Ttuchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „1316 JNatUr' (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 8. Mai 1904.
Nr. 32.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
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Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
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Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Zur lateinischen Terminologie der elementaren Arithmetik. IL
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Max C.
Unsere PIrwartung erfälirt eine ganz auffallende
Enttäuschung. Was die Sprache des \'erkehrs
an lateinischen Ausdrücken geschaffen hat, das ent-
zieht zieh zwar streng genommen unserer Kennt-
nis, muß aber doch am Ende irgendwo und irgend-
wann einmal auch in der Literatur zum Vor-
scliein kommen. Was aber diese Sprache der
Literatur betrifft, so hat sie unserer arith-
metischen Terminologie wohl vorgebildet, sie aber
in den seltensten Eällen wirklich ausgebildet.
Wir haben zunächst die einzelnen Fälle an Bei-
spielen vorzuführen, dann die Resultate zu-
sammenzufassen, um endlich für die Tatsachen eine
Erklärung zu suchen. Eine absolute Vollständig-
keit kann natürlich hier nicht erreicht werden.
Beispiele: I. Das Wort species heißt bei
Boetius nicht die Species, sondern wie überall
„Art" oder ,,Form". So spricht er von den ver-
schiedenen ,, Arten" der Ungleichheit {de speciebus
maioris qiiantitatis et minoris) oder vom Vielfachen
und seinen , .Formen" {de imdüplici eixisque specie-
bus). So nennt er Gerade und Ungerade zwei
„Formen" der Zahl {utrasque species nunieri). Aber
nie heißt es „Rechnungsart". Cassiodor nennt das
P. Schmidt in Berlin.
Wort nicht. — 2. Das Wort Summe {suinmd)
bedeutete zuerst „die oberste Reihe", bekam aber
bereits im klassischen Latein die Bedeutung der
auf die oberste Reihe gestellten „Summe", so daß
selbst Wendungen wie „eine Summe vermehren"
oder „ziehen" (siiiiwiam aiigcre, siibditcere) leben-
diges Latein sind. Boetius redet sogar von einer
„verkleinerten Summe" {demimtta summa), so daß
die Grundbedeutung des Wortes bereits im Munde
der alten Römer verblaßt war.^) — 3. Die Aus-
drücke Addition und addieren sind im Latei-
nischen freilich vorgebildet, aber nicht zu tech-
nischen Ausdrücken erstarrt. Man kann zu jeder
Menge, z. B. von Körnern, Wörtern, Tagen, einige
hinzulegen, also auch eine Sunmie addendo ver-
größern.-) Dem entsprechend heißt eine jede Zu-
fügung „Addition"; selbst der Körper des Menschen
bekommt so einen Zuwachs {corpori fit additio).
') Über Herkunft und Grundbedeutung des Wortes „Summe"
vgl. diese Wochenschrift, N. V. II 193 ff. (1903).
''■) Cicero (de off. I 59) sagt, wir müßten in allen Fragen
der Pflicht Feinfühligkeit erwerben, ut boni raliocinatores (Rech-
ner) offic'wnim ase fossbiius et addendo dediiceiidoijiie videre,
(juiii reliijui (des Restes) summa ßat.
498
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. l\ III. Nr. 32
Aber das „Summieren" oder „Addieren" wird auch
auf andere Weise bezeichnet; es werden bei Boetius
zwei Zahlen auch einmal „in eine zusammen-
gefaßt" (in iinuin colligantur) oder „verbunden"
{iuiiguiitiir) oder „gesellt" (congregantiir), „ange-
gliedert" [adgregaiitur), „angefügt" {adiciuntitr),
eine auf die andere „draufgesetzt" [sv.perpominiur).
— 4. Die übrigen Ausdrücke der Addition, zu-
nächst Posten und Summanden, sind völlig
unklassisch. Sie heißen einfach ,, Zahlen" {numeri),
das Fazit „Summe" {suinind). Das Wort ,, Posten"
(von positiis) ist in leiser Vorahnung angedeutet,
wenn Boetius die zu addierenden Zahlen ,,über
(einander) setzt" [siiper-positcro). Der Ausdruck
„Summand" aber kommt von einem Verbum
„summieren" [sunnnare) her, das seinerseits, vom
„Kompositum consuiitniare" abgesehen, nur aus
einer einzigen Stelle der sogenannten Scholia Bo-
biensia zu Cicero's Reden zitiert ist, also aus nach-
klassischen , vielleicht sehr späten Kommentaren
zu jenen Reden stammt. — 5. Die Ausdrücke
Subtraktion, Subtrahendus, Minuend us,
Differenz sind wieder im Lateinischen nicht ge-
läufig, zum Teil kaum vorhanden. Das häufige
Verbum „subtrahieren" [subtraliere) heißt sonst
soviel wie ,, unten (leise, heimlich) fortziehen, ent-
ziehen, weglassen"; Boetius freilich gebraucht es
in seiner Musik (soviel wir sehen, nicht in seiner
Arithmetik) auch für „abziehen" in arithmetischer
Beziehung. Das davon abgeleitete Gerundivum
{subtrahendus) kommt in der modernen Bedeutung
nie vor. Das Substantivum aber [subtractio) wird
nur einmal aus der Vulgata (nach -|- 400) in un-
mathematischer Bedeutung zitiert ; kommt aber
auch einmal bei Boetius, freilich neben synonymen
Vokabeln [retractio, detractio) in mathematischem
Sinne vor. Das Verbum „vermindern" (ininuere)
wird von jeder Art der Verkleinerung oder Ver-
ringerung, aber ganz vereinzelt und neben anderen
Ausdrücken [detralii tuinniquc) für unser „abziehen"
gebraucht. Endlich bedeutet ,, Differenz" [dijfercn-
tia) jede Form der „Unterscheidung" oder „Ab-
stufung". Die gewöhnlichen Wendungen aber für
„subtrahieren" sind im Lateinischen: „fortnehmen"
(aufcrre de^ex), „herabziehen" (detralicre de ^^
ex, deduccre), „herunternehmen" {deuiere de^=ex)\
die für „Difterenz" dagegen: „das Übrige" (reli-
quum), „was übrig bleibt" {qiiod relinqiiitur), „Rest-
summe" {siuiima reliqui). — 6. Sehr häufig ist das
Verbum multiplizieren (tmdtiplicare) und das
Substantivum Multiplikation {niultipUcaüo).
Schon der Architekt Vitruv (um — 14) spricht
von Zahlen, die sich durch Multiplikation («/«/-
üplicationibiis) nicht herausbringen lassen; 14 mit
sich selber multipliziert {mulüplicati) sei 196; die
Größenverhältnisse der Wurfmaschinen knüpfen
an einfache geometrische Konstruktionen und be-
kannte Multiplikationen {multiplicationes) an. So
sagt auch der agrarische Schriftsteller Columella
(um -|- 65), der Schritt als Maß sei das \^ielfache
des Fußes {multiplieatus pes) ; die beiden Summen
240 und 120 multipliziert {uiter se midtiplicatae)
ergeben 28 800 ; der Flächeninhalt eines Quadrats
sei, wenn man das Maß der Seite mit sich selbst
multipliziere {vudliplicantur in se), die aus^dieser
Multiplikation entstehende Summe {summa ex niul-
tiplicatione). Einmal multipliziert er gar eine Zahl
,,mit" einer anderen {inu/ti/>licare latitudinem cum
basi), ein andermal soll eine Summe „11 mal" ge-
nommen werden {hanc siimmam imdecies multipli-
cato). — 7. Auch andere Formen des Verbums
„multiplizieren" finden sich {multiplicatis, multipli-
cando, midtiplicato etc.), besonders zahlreich bei
Boetius. So mag denn auch irgendwo einmal die
Form des Gerundivums multiplicandns zu lesen
sein. In technischem Sinne aber gibt's bei den
Alten kaum einen Multiplikandus oder Mul-
tiplikator, sicher keine Faktoren oder Pro-
dukt e. Für multiplicandus kennen wir keine
Stelle. Der Ausdruck multiplicalor wird aus den
Briefen des Paulinus, des Bischofs von Nola (nach
+ 400), zitiert. Er begegnet uns noch einmal in
der Musik des Boetius, wo es heißt, daß Zahlen,
mit 3 multipliziert, dasselbe Verhältnis zueinander
bewahren, wie sie es hatten, ehe der nndtiplicator 3
hinzutrat. Er findet sich endlich wiederholt in
der Geometrie des Boetius, die aber im Mittel-
alter mindestens interpoliert, wo nicht ganz ver-
faßt ist, da sie die sogenannten Arabischen Ziffern
enthält. Das Wort factor bedeutet einen Arbeiter,
der etwas herstellt oder handhabt. Das Parti-
zipium productus heißt „in die Länge gezogen,
ausgedehnt, verlängert", sein Verbum producere
bedeutet „weiterführen, fördern, langziehen". Beide
Begriffe schillern in den verschiedensten Bedeu-
tungen. Für das Wort „Produkt" aber sagt der
Lateiner „Summe". — 8. Nicht viel anders liegt
die Sache mit den Wörtern Dividieren, Divi-
sion, Divisor, Dividendus. Wieder darf
die unechte Geometrie des Boetius nicht heran-
gezogen werden, die in dem Kapitel de divisioni-
bus sowohl den divisor wie den dividendus nennt.
Das lebende Latein kennt das Verbum dividere
und das Substantivum divisio in allen möglichen
Bedeutungen. Im technischen Sinne scheint es
aber erst in spätester Kaiserzeit vorzukommen.
Bei Vitruv (um — 14) wird freilich einmal „in
5 Teile geteilt", aber eine räumliche Länge. Boetius
gebraucht beide Wörter absolut in dem Sinne
„halbieren" und „Halbierung". Aus Augustinus
(um + 390) zitiert man das Exempel „150 in 3
zerlegen" {in tria oder itt tres partes dividere).
Im Capella aber (vor + 429) finden sich wohl
Wendungen, wie „9 in 5 und 4 zerlegen" oder
„in 2 Teile zerlegte Zahlen", aber keine Stelle für
unsere moderne Bedeutung. — 9. Die Adjektiva
positiv und negativ sind im lebendigen Latein
nicht vorhanden, weil den Alten die diesen Worten
zugrunde liegenden Begriffe fehlten. Die Aus-
drücke Fazit, Rest, Resultat, Quotient,
reell sind schon aus sprachlichen Gründen un-
möglich. Jene drei sind nicht Substantiva, sondern
Verbalformen (3. Pers. Sing.), die letzten beiden
haben rar eine unlateinische Endung. — 10. Das
N. F. III. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
499
Wort Exempel ist freilich altes Latein, doch
bedeutet exemplum jedes „Beispiel", nur nicht ein
Rechenexempel. Unsere Permutationen und
Kombinationen sind den Alten ebenso un-
bekannt wie die Begriffe imaginär, irratio-
nal, komplex; im Lateinischen bedeutet /«-;;/«-
tatio jeden , .Wechsel" oder ,, Tausch", coiithiuatio
„Vereinigung", irrationalis „vernunftwidrig" oder
„vernunftlos", imaginarhis jeden, der „ein Bild ent-
wirft" oder „einen Schein erweckt", complexus
endlich ,, umfassend" oder ,,in sich schließend".
Auch die Begriffe der Adverbien plus und minus
sind dem Lateiner fremd; plus und niiniis sind
Komparative und bedeuten ,,mehr" und „weniger".
— II. Zwei Adjektiva bleiben noch übrig, die
lebendes Latein sind: kommensurabel oder
inkommensurabel und der erste Bestandteil
des Wortes P r i m zahl. Griechen wie Römer
kennen die Zahlen, die sich in keinerlei Faktoren
zerlegen lassen, und nennen sie priini nuuuri
(nQwioi dytd-f(oi) weil diese die ursprünglichen
Bestandteile der anderen seien ; sie sind also die
Entdecker der Primzahlen. Größen aber, insbe-
sondere Zahlen, die „im Verhältnis zueinander
Primzahlen sind" d. h. kein gemeinsames Maß,
keinen gemeinsamen F'aktor haben, heißen bei
ihnen inconimcnsurabiles (üavtifiiT()oi). Und schon
Aristoteles (f — 322) nennt Seite und Diagonale
des Quadrats ') als ein Beispiel. Also ist das
Wort „inkommensurabel" mit nichten neulateinisch,
wie man öfter zu lesen bekommt. — 12. Die
\'erba p ot e nzi ere n und rad izieren erweisen
sich schon durch ihre Endung als unlateinisch.
Ihre Stammwörter Potenz und Radix sind im
Lateinischen vorhanden. Potenzen nennt der Grieche
dvvdfitii;; die Lateiner des Mittelalters übersetzen
das Wort mit potentiae. Die Pythagoreer bezeich-
neten die Anfangsglieder gewisser Zahlreihen, also
deren Grundzahlen, als nvO-ftirtg oder giCai ; die
Lateiner griffen das Wort auf und übersetzten es
mit radiccs. Hier liegt also der singulare Fall
vor, daß einmal arithmetische Termini mittel-
alterliche Übersetzungen aus dem Griechischen
sind. Das Wort Effizient ist das Partizipium
des Verbums efßcerc, das die Klassiker für die
Wendung „das Resultat ergeben" gebrauchen. Eine
Null kennt das Altertum nicht. Das Wort stammt
aus nullus = keiner. Vorgebildet ist der Begriff,
wenn z. B. Boetius die Aufgabe o -(- o so aus-
drückt: si nihil uulli iungas.
Resultate: A. Gutlateinische Wörter, die
schon bei Cicero vorkommen, gibt es in der ge-
samten Nomenklatur nicht, außer S u m m e. Vor-
gebildet und neben manchen anderen Wörtern in
Gebrauch ist das Verbum addieren. Alle übrigen
Rechnungen werden als Additionen betrachtet, ihr
Resultat steht immer wieder auf der obersten
Reihe, ist also wiederum eine suiiuna. So finden
sich die Zusammenstellungen summa rcliqui =
Rest, numeri viultiplicantur in summain und numeri
viulliplicati faciunt suminam. — Ba. Spätlateinische
Wörter der Kaiserzeit sind multiplizieren,
Multiplikation, Multiplikator, kommen-
surabel, inkommensurabel, Primzahl.
Vorgebildet sind mit einer gewissen Deutlichkeit
die Wörter Addition, subtrahieren, Sub-
traktion, dividieren, Division. Man sieht,
wie brüchig die zufällige Überlieferung oder der
wirkliche Bestand der Terminologie ist. Vermutlich
ist der Tatbestand, nicht bloß die Ungunst der Tradi-
tion daran schuld, wie das Folgende deutlich machen
wird. — Bb und C. Alles Übrige vom Sum-
mandus, Subtrahendus, Minuendus,Mul-
tiplikandus, Dividendus an, die Diffe-
renz und der Rest, das Produkt und der
Quotient, die Potenz und die Radix, die
Faktoren und die Posten, selbst die Spezies
und das t^xempel, sowie alle die anderen Aus-
drücke unseres modernen Rechnens mit Reihen
und Gleichungen, mit positiven und negativen Zahlen,
mit Null und Unendlich, all das ist nach dem
Zusammenbruch des Römerreiches gebildet worden.
Wieviel davon im Mittelalter, wieviel in der Neu-
zeit entstanden ist, was die katholischen Klöster,
was die weltlichen Gelehrten geschaffen haben,
das festzustellen geht über den Rahmen unserer
Untersuchung hinaus.
Erklärung: I. Bei den Römern war es wie
bei den Griechen. Ihre Rechenkunst {Loyiamä])
war äußerst simpel. Sie rechneten mit dem Rechen-
brett. Sie schoben und zählten die Steinchen.
Daher gab es keine eigentlichen Rechenregeln
oder Rechenbücher. Man kannte eben nur ein-
zelne Rechensteinchen {calculi), fügte zu vorhan-
denen neue hinzu {addcre), nahm gelegentlich
welche wieder herunter {demere) und setzte das
Resultat auf die oberste Linie {summa). So gibt's
eigentlich bloß ein Zufügen und Herunternehmen,
das Fazit ist immer eine „Summe", auch das
der Substraktion {summa reliqui), selbst das der
Multiplikation (summa multiplicationis). — II. Was
aber ihre Zahlenlehre (aiJtO-firjitxti) betrifft, so
ist sie völlig von den Griechen abhängig und oft
nach griechischen Originalen verflacht. Den Nico-
machos (um -|- 140) übersetzt zuerst Apuleius
V. Madaura (nach -j- 160), dann Martianus Capeila
(vor -j- 4291, dann Boetius (vor -|- 525), bis endlich
Cassiodor ') (nach + 526) einen dürftigen Auszug,
eine trockene Aufzählung von Definitionen daraus
macht. Diese Arbeiten würden aber wohl auch
dann, wenn es eine feste Terminologie gegeben
hätte, sie uns kaum klar und schlicht überliefern.
Denn diese Schriften sind nicht technischer, sondern
literarischer Natur. Sie sind nicht Werke der
wissenschaftlichen, sondern der schönen Literatur.
Sie folgen darum nicht den Gesetzen der Kunst-
') Cassiodor de artibus ac discipl. lib. litt. cp. 4 fin. :
') Arist. eth. Nicom. III 5* ^soi t^v ^t.rti.thToov y.ui t^*; arithmeticanj npiid Graecos Nicomachits dlligcnter exposiiit. Nunc
tzXevou'^, Vit dovftiiF-tooi. Andere Größen aber sind (nach prhintni i\]atUjurensis Apule'ms^ deinde viagnificits vir BoHius
Boet. aritlim, I 18): aliijtiü iiiensuru commensurabiUs. lat'mo sermcme translatum Romanis conlulit lectitandiim.
500
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 32
spräche, sondern denen der Sprachkunst. Jene
fordert eine Festigkeit der Terminologie, diese
einen Wechsel im Ausdruck. Jene, verlangt Klar-
heit, diese verlangt Schönheit. Jene strebt es an,
für jeden Begriff möglichst nur ein Wort und
für jedes Wort möglichst nur eine Bedeutung fest-
zulegen, um jedes Mißverständnis auszuschließen.
Diese strebt dahin, für jede Vorstellung eine reiche
Fülle von Worten zu schaffen und zu benutzen,
um jede Langeweile auszuschließen. Jene belehrt,
diese ergötzt. Ist z. B. auch das Gewand, in das
Martianus Capeila seine Arbeit kleidet , die
„Hochzeit der Philologie und des Mercur", außer-
ordentlich geschmacklos, so ist doch des Verfassers
Absicht eine künstlerische und sein Stil folgt rheto-
rischen Gesetzen. So wird mit dem Ausdruck
gewechselt und dieselbe Rechenoperation in dem-
selben Kapitel oft mit vier oder fünf Namen be-
zeichnet. — Nach alledem wird den Philologen,
der die klassische Literatur und ihre Eigenart
kennt, das Resultat, zu dem die Untersuchung
geführt hat, nicht allzu sehr in Erstaunen ver-
setzen. Den Mathematiker aber, der sich beim
Gebrauche seiner lateinischen Termini ihrer latei-
nischen Abkunft bewußt geblieben ist, wird es
geradezu verblüffen.
Kleinere Mitteilungen,
Über „Duftapparate bei Käfern" berichtet
Dr. G. Brandes (Halle) in Band 72 der Zeitschrift
für Naturwissenschaften (Stuttgart 1899). Die
Duftorgane der Insekten waren zuerst durch Fritz
Müller bei den Schmetterlingen bekannt geworden.
Von späteren Autoren , die sich mit den Duft-
organen der Lepidopteren genauer beschäftigten,
sind besonders Bertkau, Weißmann und Dalla
Torre zu nennen. Immerhin sind die genaueren
Verhältnisse noch keineswegs hinreichend geklärt.
Außer bei Schmetterlingen sind auch bei
Phryganiden und Blattlden Duftapparate beschrie-
ben worden. Bei den Käfern dagegen war man
über die Funktion gewisser Borstenflecke völlig
unklar. G. v. Seidlitz machte dann darauf auf-
merksam , daß diese Haarbüschel ausschließlich
den Männchen zukommen und verglich sie mit
den Duftapparaten der Lepidopteren.
An einem Mäimchen von Blaps mortisaga stellte
der Verf. seine Untersuchung des Borstenfieckes
an. Die Haarborsten liegen in der Mittellinie
zwischen dem ersten und zweiten Abdominal-
segmente. Eine Bewegung der Büschel wurde
nicht beobachtet. Bei mikroskopischer Unter-
suchung einiger abgetrennter Haare zeigte es sich,
daß sie feine Kapillarröhrchen vorstellten, die nach
außen münden und in ihrem Lumen winzige Tröpf-
chen einer anscheinend ölartigen Flüssigkeit ent-
halten. Auch außen _ an den Haaren fanden sich
Massen, die man für Überreste der ausgeflossenen
Substanz halten konnte. Diese Haare oder Borsten
sind nun die Ausführungsgänge der im Innern
des Insektenkörpers gelegenen Drüsen ; die Zotten
der letzteren sind jedoch nicht als stark ent-
wickelte Hautdrüsen anzusehen, sondern vielmehr
als beutelartige Einstülpungen, deren innerer Wand
die einzelnen Drüsenzellen aufsitzen.
Die ganze Anlage dieser Drüsen erinnert an
die Analdrüsen von Blaps, die Gilson als „glandes
odoriferes" oder „Stinkdrüsen" bezeichnet. Jedoch
wird bei diesen Stinkdrüsen das Drüsensekret durch
einen gemeinsamen großen Porus nach außen
entleert, und außerdem sind zwei geräumige Säck-
chen zur Ansammlung der Flüssigkeit vorhanden.
Der Verf. nimmt an, daß Analdrüsen und Duft-
organe dasgleicheDrüsenprodukt enthalten. Wenden
wir die etwas anthropomorphische Vorstellung an,
daß wohlriechende Stoffe in konzentrierter Form
unangenehm riechen können, so dürfen wir wohl
annehmen, daß das Drüsensekret in der feinen
Verteilung, die es durch die Borstenkapillaren
erfährt, für die Käfer wohlriechend ist. Damit ist
auch eine Erklärung für die Ausbildung des Duft-
apparates als männlicher Sexualcharakter möglich,
,,da ja das Ausgangsmaterial, die das riechende
Sekret produzierenden Drüsenzellen, in beiden Ge-
schlechtern als Mittel zum Schutze des Indivi-
duums schon vor der Ausbildung des besprochenen
Sexualcharakters vorhanden war."
Ernst Röhler.
Degenerieren Varietäten von Kultur-
pflanzen? — Diese schon vielfach behandelte
Frage wird durch einen Artikel in „The Gardeners'
Chronicle" vom 26. Sept. v. J. neu angeschnitten.
Bei dem regen Interesse, welches diesem Thema
zumal seitens der Vertreter der angewandten Bo-
tanik entgegengebracht wird, halten wir es nicht
für unpassend, die Darlegungen des (ungenannten)
englischen Autors hier möglichst getreu wieder-
zugeben und durch diverse Hinweise aus der über
diese Frage bereits bestehenden Literatur zu er-
gänzen.
„Die Meinung, so lesen wir im Chronicle, daß
Varietäten von Pflanzen, welche fortgesetzt un-
geschlechtlich durch Veredlung oder Stecklinge
vermehrt werden, im Laufe der Zeit degenerieren
müssen, ist sehr allgemein, obgleich es nicht immer
leicht ist, einen Beweis dafür zu erbringen. Die
angenommene Degeneration soll zuweilen eine
qualitative sein — indem etwa eine Blume an
Größe oder charakteristischen Eigentümlichkeiten
verliert, oder der Wohlgeschmack einer Frucht nach-
läßt ; doch die häufigere Ansicht geht dahin, daß
die Konstitution der Rasse sich schwächt, die
Sorte zärtlicher und für Krankheiten empfänglicher
wird. Unter Gärtnern wird als eines der ge-
wöhnlichsten Beispiele der Apfel „Ribston Pippin"
genannt, der heutzutage nachweisbar auf jedem,
außer dem allergünstigsten Boden, krebskrank wird ;
N. F. ni. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
501
des weiteren sollen die westindischen Zuckerrohr-
varietäten infolge der beständigen Vermehrung
durch Schößlinge empfänglicher für Pilzkrankheiten
und weniger produktiv geworden sein."
„Der Erste, welcher die Ansicht ausgesprochen
hat, daß Varietäten mit der Zeit degenerieren,
scheint T. A. Knight ') gewesen zu sein; erfand
eine Schwierigkeit darin, gesunde Pflanzen ver-
schiedener Apfelsorten, die er als alte Bäume in
den Obstgärten zu Herefordshire antraf, zu ver-
jüngen, selbst wenn er sie auf frische Pflanzen
pfropfte. Infolgedessen kam er zu dem Schlüsse,
daß die betreffenden Sorten gealtert und abge-
nutzt wären. Da alle die ungeschlechtlich ver-
mehrten Exemplare einer gegebenen Varietät nur
als Teile der Originalsamenpflanze betrachtet werden
dürften, vermutete Knight, daß jedes Individuum
eine Altersgrenze (begrenzte Lebensdauer) hat und
daß die einzelnen Teile davon, wie sie auch immer
vermehrt und verbreitet wurden, diese Grenze zur
selben Zeit erreichen."
Daß diese Ansicht nicht zutrifft, werden wir
später noch eingehend erörtern, lassen wir zu-
nächst dem englischen Autor weiter das Wort.
Er fährt fort:
„Man hat oft auf Darwin hingewiesen, daß er
durch das Gewicht seines Urteils diese Idee unter-
stützt habe, allein die einzige Stelle,-) welche wir
finden konnten, rechtfertigt dies kaum — Mehrere
ausgezeichnete Botaniker und gute Praktikerglauben,
daß eine lange fortgesetzte Vermehrung durch
Stecklinge, Ausläufer, Brutzwiebeln etc., unab-
hängig von einer üppigen Entwicklung dieser Teile,
die Ursache ist, daß einige Pflanzen im Blühen
nachlassen oder nur sterile Blumen bringen — es
ist als wenn sie die geschlechtliche P"ortpflanzungs-
fähigkeit eingebüßt hätten. Daß viele Pflanzen
bei einer solchen Vermehrung steril sind, darüber
kann kein Zweifel sein, aber darüber ob gerade
die lange Dauer dieser Art der Vermehrung die
wirkliche Ursache ihrer Sterilität ist, möchte ich,
aus Mangel an genügenden Beweisen, eine Mei-
nung nicht auszusprechen wagen« — ."
„Viel früher schon, im Jahre 1845, hat Lind-
ley dieselbe Annahme erörtert und sich gegen
Knight's Ansicht ausgesprochen. Aber da die
Sache von beträchtlicher praktischer Bedeutung
ist, dürfte es gut sein, das jetzt gültige Urteil zu
prüfen, besonders um Leute mit langer P>fahrung
über bestimmte Pflanzen anzuregen, andere Fälle,
die ihnen bekannt geworden, mitzuteilen und so
Material für eine sichere Entscheidung beizubringen."
„Gleich von Anfang an sollte daran erinnert
werden, daß kein Grund gefunden werden kann
für das Verschwinden von Varietäten, die zu ihrer
') Im Jahre 1831, in einer Abhandlung „Über die Mittel,
die Dauer schätzbarer Obstsorten zu verlängern" ; nach Dr.
C. F. W. Jessen, in seiner 1855 erschienenen Preisschrift;
„Über die Lebensdauer der Gewächse" (Verh. d. kais. Leop.-
Karol. Ak. d. Naturf. Bd. XXV, I. 63— 24S).
') In dem Buche : Variation of Animals and Plauts under
Domestication, 2. ed., 1885, Vol. II, p. 153.
Zeit berühmt waren, aus unseren Ausstellungen
und Katalogen. Der Forschritt des Gartenbaues
ist in jeder Hinsicht ein so rapider gewesen, daß
eine alte Varietät bald ausgemerzt und durch eine
Neuausführung ersetzt wurde, die in gewisser Hin-
sicht ,,a »beat« upon the old favourite" ist. In-
dessen kann auch eine alte Varietät, die genügende
Qualitäten besitzt, unübertroffen von ihren neuen
Rivalen bleiben. Das hängt eben davon ab, ob
die alte Varietät, während ihr Charakter in Frucht
oder Blüte unvermindert bleibt, ihre kräftige Kon-
stitution behält oder verliert."
„Ferner müssen wir von unserer Betrachtung
ausschließen die allbekannte Wuchskraft und
Üppigkeit, die alle Sämlinge, speziell Hybriden
und »wide cross-breeds« während des ersten oder
auch noch des zweiten Jahres ihrer Existenz zeigen.
In anderer Hinsicht erscheint ein Sämling etwas
unbeständig und zeigt nicht immer von Anfang
an seine wahren Eigenschaften. Die PVage ist
aber, ob ein Sämling, wenn er erst seine nor-
male Beschaffenheit erlangt hat, diese Charaktere
unbeeinträchtigt durch Alter und ungeschlechtliche
Vermehrung bewahren kann."
„Der Fall mit dem „Ribston Pippin" wurde
bereits zitiert; zweifellos besitzt diese Varietät
heutzutage eine mittelmäßige Konstitution; aber
war dies jemals anders ? Die frühesten Notizen,
die wir über den „Ribston Pippin" haben aus-
findig machen können, alle sagen sie, daß er
am Krebs leide und auf vielen Bodenarten nicht
fort wolle. Knight nennt den Apfel „Golden
Pippin" als einen, der schwächlich geworden sei
und den er durch Veredlung auf junge Unter-
lagen nicht wieder kräftigen konnte, allein Lind-
ley erklärte 1845, daß der „Golden Pippin" von
Frankreich nach England in üppiger Beschaffen-
heit zurückgebracht wurde; ebensowenig würde
es schwer halten, diesen Apfel gegenwärtig in
Westengland in gutem Gedeihen zu finden. Und
weiter werden heute noch Apfelsorten gezogen,
wie „Old Nonpareil" und „Catshead", deren Ur-
sprung bis zu Elisabeth's Zeiten zurückgeht, so-
weit wenigstens als man nach Beschreibungen und
Namen in den ältesten Büchern über Obst es nach-
weisen kann. Unter den Reben sind nicht nur
manche unserer heutigen Sorten von hohem Alter,
sondern es scheinen einige Weinsorten seit der
alten Römer Zeit bis zur Gegenwart ununter-
brochen in Kultur zu sein, ist doch Columella's
Vitis praecox mit der Sorte ,,Morillon noir hätif
oder „early black July" als identisch bestimmt.
Rosen waren größerem Wechsel unterworfen ; die
beständige Einführung neuerer Varietäten hat die
alten fortgeschwemmt ; doch müssen alle Banksia-
rosen abgeleitet werden von Kerr's und For-
tune's Einführungen in den Jahren 1807 und
1824, und die kupfrig und gelb blühenden Sträucher
wurden 1596 durch Gerard importiert. Apfel,
Reben und Rosen sind indes langlebige Indivi-
duen, so daß der Prozeß der Generation der Rasse
äußerst langsam verlaufen mag. Aber kann ein
502
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 32
anderes Ergebnis von krautigen Perennen abge-
leitet werden, deren Lebensdauer wahrscheinlich
kürzer ist? Lindley bespricht den Fall der
Jerusalem-Artischocke, welche, da sie hierzulande
niemals Samen reift, seit dem Jahre ihrer Ein-
führung, 161 7, durch Knollen vermehrt worden
sein muß."
„Unter den Blütenpflanzen besitzt die Tulpe
vielleicht die weitest zurückreichende beglaubigte
Geschichte, und wir finden in unseren Sammlungen
mehrere Sorten, die sicher über 100 Jahre alt sind.
„La Vandicken" erscheint in einem Kataloge von
1772 und wurde in diesem Jahre in guter Qualität
auf der „Northern Tulip Show" gezeigt. Sie ist
gewiß ein schwacher Wachser, aber dies scheint
ihr Charakter von Anfang an gewesen zu sein.
„San Josef" und „Heroine" oder „Triomphe Royale"
waren 1798 gut bekannt und sind heute noch
wüchsig und schön, obgleich B e n 1 1 e y in seinem
beschreibenden Kataloge ausführt: »das Alterscheint
sich bemerkbar zu machen und gute Exemplare
werden mit jedem Jahre rarer«. „Count" oder
„Comte de Vergennes" ist in England seit mehr
als 130 Jahren in Kultur und zeigt noch heute
sich als unverwüstlicher Wachser, trotz der Mängel,
die sie immer besessen hat. Aber ungeachtet
dieser und anderer Beispiele von Langlebigkeit,
welche erwähnt werden könnten, geht doch die
allgemeine Annahme dahin, daß Tulpen eventuell
in der Qualität zurückgehen. So sagt Bentley
an anderer Stelle: Wie so manche andere alte
Sache, scheint es seine Feinheiten eingebüßt zu
haben und bleibt in „a muddled flamed condi-
tion".«
„Unter den F"antasie-Nelken hat, wie nachge-
wiesen, die Sorte „Admiral Curzon" (Scarlet Bi- .
zarre) das erste Mal 1844 geblüht, und obgleich
sie niemals ein besonders üppiger Wachser ge-
wesen, hat sie in der Tat sich an der Spitze ihrer
Klasse all die 50 Jahre hindurch erhalten und hat
selbst jetzt nur einen Mitbewerber um den ersten
Platz in „Robert Houlgrave". In diesem Falle ist
also weder qualitativ noch in der Wuchskraft ein
Rückgang nachweisbar. — Es gibt ein oder zwei
Aurikel, deren Geschichte sogar noch weiter zurück-
reicht; Page's ,, Champion" wurde in Sweet 's
Florist's Guide von 1 827 abgebildet und in H o g g ' s
Manual 1824 erwähnt. Sie ist heute eine der
besten unter den ,,green - edges", obgleich ein
schwacher Wachser, was sie immer gewesen zu
sein scheint. Lancashire's „Hero" ist ein
anderer Blüher, der jetzt noch zu sehen. Diese
Sorte stand an der Spitze ihrer Klasse in den
40 er Jahren und bei ihr ist keine Spur von De-
generation oder Schwächung der Konstitution
nachweisbar. Andere Blütenpflanzen, wie Chrysan-
themen, sind einer so rapiden Verbesserung unter-
worfen worden, daß den älteren Varietäten keine
Chance zum Überleben blieb; das gleiche mag
von den Dahlien gelten."
,,In der Kartoffel besitzen wir ein ausgezeich-
netes Beispiel von einer Pflanze, die in sehr großem
Maßstabe ungeschlechtlich vermehrt wird, des-
gleichen von einer solchen, bei der aus Gründen
des Geschäftes auf kräftigen Wuchs und Qualität
der Varietäten sorglich geachtet wird; und hier
können wir deutlich die Degeneration mit dem
Alter nachweisen. Wir zitieren aus W. J. Mal-
den's Artikel über „Kartoffel-Züchtung" in dem
, .Journal of the Board of Agriculture" von März
1903: »Eine Varietät mag ihre Laufbahn mit
einem hohen Maße aller Qualitäten beginnen, es
werden doch im Laufe der Jahre eine oder alle
dieser Qualitäten degenerieren, so daß es nicht
länger profitabel ist, sie zu ziehen .... Die De-
generation aller Varietäten macht es notwendig,
daß neue Varietäten eingeführt werden .... Eine
schlechte Eigenschaft vieler dieser erschöpften
Varietäten ist, daß sie leicht Krankheiten erliegen.
Somit ist die nutzbringende Laufbahn einer Kar-
toffel von kurzer Dauer . . . >."
„Wir sind indes nach sorglicher Prüfung ge-
neigt zu glauben, daß die Qualitäten, welche eine
neue Kartoffelsorte charakterisieren und sie für
den Marktzüchter nur für einige wenige Jahre so
brauchbar machen, in nichts anderem bestehen,
als in der Wuchskraft, meist verbunden mit einer
gewissen Unbeständigkeit und Neigung zur Sport-
bildung, die wir bereits als zu den Eigenschaften
jedes Sämlings gehörend erwähnten. Nach einer
bestimmten Zeit reduzieren sich diese Eigenschaften
auf ein bestimmtes Maß und dann erleidet die
Varietät, wie an vielen wirklich alten Sorten, die
noch in Gärten gezüchtet werden, gezeigt werden
kann, keine weitere Degeneration, anders denn
die Neigung zur Aufspeicherung von Krankheits-
keimen, welche eine so empfängliche Pflanze wie
die Kartoffel zu besitzen scheint, schreitet fort,
bis es schwer hält, gesunde Knollen überhaupt zu
erhalten."
„Wenn wir nochmals das ganze uns zur Ver-
fügung stehende Material überblicken, so wird
das Endresultat der Meinung entgegengesetzt er-
scheinen, daß Varietäten mit der Zeit degenerieren
und abgewirtschaftet werden ; können doch so viele
positive Fälle für ihre Beständigkeit, selbst bei
kurzlebigen Pflanzen, nachgewiesen werden, wo-
gegen das beständige Verschwinden alter Sorten
durch das allmähliche Verdrängtwerden durch
neue Einführungen erklärt werden mag, die in
Qualität oder in Wuchskraft ihnen überlegen sind.
Aber es bleibt sehr wünschenswert, daß Leute,
die lange Zeit hindurch über besondere Pflanzen
Erfahrungen gesammelt haben, dazu angeregt
werden, einige entscheidende Fälle vorzubringen."
Soweit der englische Autor. Seine Darlegungen
haben, wie wir noch zeigen wollen, die Kenntnis
der Dinge nicht wesentlich gefördert. Bleibt er
doch zum Schluß dabei stehen, daß es der Zu-
kunft vorbehalten ist, das Rätsel endgültig zu lösen,
wenngleich er dahin neigt, die Frage der Degene-
ration zu verneinen.
Diese Frage muß auch in der Tat ver-
neint werden. Wir werden dies durch die
N. F. m. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
503
folgenden Mitteilungen begründen und dabei manches
oben Gesagte nochmals kurz beleuchten und er-
gänzen. Wir stützen uns dabei in der Hauptsache
auf die Angaben, welche Professor M. M ö b i u s ')
im zweiten Kapitel der zitierten Schrift über die
Folgen von beständiger vegetativer Vermehrung
der Pflanzen zusammengestellt hat.
Zunächst sei noch ein spezieller Fall besprochen,
der in den letzten Jahren wiederholt die Auf-
merksamkeit der Botaniker und Gärtner auf sich
gelenkt. Wir meinen, das „Absterben der Pyra-
midenpappeln." Graf von Schwerin hat über
dies Thema auf der vorletzten Jahresversammlung
der deutschen dendrologischen Gesellschaft einen
interessanten Vortrag gehalten. Dieser ist in den
„Mitteilungen" der Gesellschaft 1902 erschienen
und gibt uns genauen Aufschluß, wie es um die
angebliche „Altersschwäche" der Populus nigra
italica steht. Man hat seit Jahren die Beob-
achtung gemacht, daß — wenigstens in bestimmten
Gegenden Deutschlands — diese Pappelform ab-
zusterben beginnt. Referent dieses hatte selbst
Gelegenheit, diese Tatsache zu beobachten, konnte
aber gleichzeitig auch feststellen, daß von einem
allgemeinen Eingehen der in Mittel- und Nord-
europa stehenden Pappeln nicht die Rede sein
kann.
Man hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als das
Siechtum der italienischen Pappeln auf eine De-
generation infolge fortgesetzter ungeschlechtlicher
Vermehrung zurückzuführen. Es ist Tatsache, daß
alle diese Pappeln aus Stecklingen erzogen werden.
Wie nachgewiesen, wurde Populus italica
— so sei sie kurz genannt — 1758 nach England
eingeführt.'') In Deutschland ist sie vielleicht noch
länger in Kultur, denn nach Schwerin dürfte
der ursprünglich älteste, jetzt nicht mehr vor-
handene Baum in Wörlitz schon vor 1745 an-
gepflanzt worden sein. Von diesem Exemplar
sollen die meisten bei uns kultivierten Pyramiden-
pappeln abstammen. Wenn wir nun der, wie oben
zitiert, zuerst von Knight geäußerten Ansicht
beipflichten, daß ein Steckling auch nach seiner
Selbständigwerdung noch als ein Teil der Mutter-
pflanze anzusehen sei, und wenn wir dabei im
Auge behalten, daß eine Pappel normalerweise
nicht über etwa 150 Jahre alt zu werden pflegt,
so ist das allgemeine Aussterben infolge von
Altersschwäche leicht erklärt. Man muß sich
dabei eben vorstellen, „daß — um mit Möbius
zu sprechen — eine aus einem Keime, bei den
Blütenpflanzen also aus dem Samen, entstehende
Pflanze ein mit frischen Kräften ausgestattetes In-
dividuum sei und daß, wenn die Vermehrung
durch Samen erfolge, die Art in jeder neuen
') Möbius, Beiträge zur Lelire von der Fortptlanzung
der Gewächse. Jena. 1S97.
') Diese Pappelform stammt walirsclieinlicli aus dem
Himalaya, ist aber schon seit sehr langer Zeit in Südeuropa
eingebürgert und daher auch zuerst mit dem — eigentlich
unpassenden — Namen italica belegt worden.
Pflanze sich wieder verjünge und sich so unge-
schwächt forterhalten könne. Dagegen erfolge bei
der vegetativen Vermehrung keine Verjüngung,
sie sei nur eine Verlängerung des individuellen
Lebens und, wie das Leben des Individuums be-
schränkt sei, so müsse auch hier eine Grenze der
Weiterentwicklung bestehen." Demgegenüber „ist
daran zu erinnern, daß dasjenige, was als lebens-
fähig von einem Individuum zum anderen über-
geht, die embryonale Substanz ist, daß auf dieser
die Erhaltung der Art beruht. Dieselbe ist aber
nicht bloß in dem wirklichen Embryo vorhanden,
wie er, aus dem Ei hervorgegangen, in dem Samen
eingeschlossen ist, sondern auch in den Knospen,
zum mindesten in den Vegetationspunkten. Denn
zur vegetativen Vermehrung können eben nur
solche Pflanzenteile dienen, welche einen Vege-
tationspunkt enthalten , oder doch wenigstens
lebendige Zellen, die einen solchen bilden können,
wie die Blätter der Farne, auf denen sich Ad-
ventivsprosse entwickeln. Wenn aber in den
Knospen ebensogut wie in den Keimen embryo-
nale Substanz, die nicht der Vergänglichkeit des
Individuums unterworfen ist, enthalten, so braucht
bei der Vermehrung durch Knospen nicht eher
eine Altersschwäche einzutreten als bei der durch
Keime."
Von einer Degeneration der Varietäten infolge
vegetativer Vermehrung kann also nicht wohl die
Rede sein. Demgemäß muß auch das Siechtum
der Pyramidenpappeln in anderer Weise sich er-
klären lassen. „Welches sind nun aber die wirk-
lichen Ursachen des Absterbens unserer Pappeln ?"
fragt Schwerin. Seine Antwort lautet im wesent-
lichen wie folgt. Wir müssen zwischen verein-
zeltem Absterben und allgemeinem Hinsiechen in
ganzen Gebieten unterscheiden. Im ersten F"alle
„wird man oft den Untergrund verantwortlich
machen können. Wo die Wurzeln bald auf Felsen,
undurchlässige Letten- oder Tonschichten treffen,
da ist auch anderen Pflanzen als den Pappeln ein
kürzeres Leben beschieden, als sonst. Kommt
nun noch ein außerordentlich dürrer Sommer hin-
zu, so ist ein frühzeitiges Absterben erklärlich."
Vielfach wird es sich auch um w i r k 1 i c h e A 1 1 e r s-
sch wache handeln. Wir wiesen bereits darauf
hin, daß die Pappeln kaum über 150 Jahre alt
zu werden flegen. Da sie nun in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade massenhaft
angepflanzt wurden, ihr Habitus paßte zum Ge-
schmack der damaligen Gartenkunst, „so ist es
sehr wohl möglich, daß bei einem oder dem
anderen alten Exemplare schon die Altersschwäche
eine Rolle zu spielen beginnt."
„P'ür das allgemeine Absterben aller älteren
und der exponiert stehenden jüngeren Exemplare
kann der einzig wahre Grund nur im Auftreten
starker und später Frühlings froste gefunden
werden. Für die Temperaturgrade strengster
deutscher Winter ist unsere Pflanze nicht ge-
eignet" .... „und die Erscheinungen, die erst
anfangs der 80 er Jahre in Zeitschriften häufig be-
S04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 32
handelt wurden, wodurch Pocke ^) a. a. O. an-
nehmen zu müssen glaubt, daß sie sich damals
zum ersten Male gezeigt haben, werden auch
schon früher hier und da aufgetreten sein. Das
ist denn auch wirklich der Fall gewesen, denn
schon 1787 bezeichnet Burgsdorf unsere Pappel
als »zärtlich«."
„Dennoch kommt für uns in geringerem Grade
die wirkliche Winterkälte in Betracht" In
den weitaus meisten Fällen werden aber die späten
und heftigen Prühjahrsfröste eine schädliche Wir-
kung ausgeübt haben, ja mehr als das — für das
strichweise allgemeine Absterben sind sie
die richtige und einzige Ursache!"
Wir brauchen hier kaum darauf hinzuweisen,
daß es zahlreiche „wilde Pflanzen" gibt, die sich
ausschließlich oder vorwiegend ungeschlechtlich
fortpflanzen. Wie etwa Poa stricta Lindb.,
Acorus calamus L., Vinca minor L., Ra-
nunculusficariaL., Phragmites commu-
nis L., Elodea canadensis Rieh. u. s. w.
— Möbius hat a. a. O. daüber eingehend Be-
richt erstattet. Wir wollen ferner nur kurz be-
merken , daß eine ganze Anzahl von wichtigen
Kulturpflanzen ,,seit einem sehr langen Zeitraum
vegetativ vermehrt worden sind, ohne dabei ein
Zeichen von Altersschwäche zu geben." Der eben
zitierte Autor nennt unter anderen: Musa sa-
p i e n t i u m L. (Banane), Phoenix dactylifera
L. (Dattelpalme), Dioscorea batatas Dcne.
(Yamswurzel) und Ficus carica L. (Feige).
Aber es gibt eben auch Pflanzen, die a n -
scheinend degenerieren. Die Pappeln nannten
wir schon. Das Rätsel ihres Dahinsiechens scheint
gelöst. Wir brauchen auch nicht, was bei Möbius
noch als am wahrscheinlichsten bezeichnet wird,
eine Pilzkrankheit anzunehmen. In anderen Fällen
jedoch sind tatsächlich gewisse Parasiten die Ur-
sache. Und wir wollen zum Schluß unseres Re-
ferates noch den Fall der „Kartoffel" an der Hand
des von Möbius gesammelten Materials beleuchten,
da ihn auch der englische Autor in den Rahmen
seiner Betrachtung gezogen. Um so mehr, als
Maiden in dem oben zitierten Artikel die Frage
der Degeneration bei den Kartoffeln zu bejahen
scheint.
Möbius liefert zunächst den Nachweis, daß
es nicht wahr ist • — wie Jessen u. a. behaupteten
— daß die Kartoffel infolge unausgesetzter Ver-
mehrung durch Knollen für Pilzangriffe prädispo-
niert wird. Man hat experimentell gezeigt, daß
„Samenpflanzen der Krankheit -) ebenso erliegen,
wie aus Knollen gezogene Stöcke: es ist in ihrer
Widerstandsfähigkeit oder Hinfälligkeit kein Unter-
schied zu bemerken. Hierin dürfen wir wohl den
direkten Beweis für die Unhaltbarkeit der Ansicht
von der Prädisposition aus Altersschwäche sehen" . . .
Das einzige Mittel zur Verhütung der Krankheit
ist die Verwendung völlig pilzfreien Saatgutes.
Und de Bary, der dieser Krankheit 1861 eine
besondere Schrift gewidmet hat, sagt darin aus-
drücklich : „Wie man sich auch umsehen mag,
man findet immer nur Beweise dafür, daß durch
das Befallenwerden von Parasiten keinerlei Ent-
artung der Kartoffel oder einer anderen Kultur-
pflanze angezeigt wird, man muß daher, für unseren
Fall wenigstens, jene trostlose Annahme als aus
der Luft gegriffen zurückweisen."
Möbius schließt sein unserem Thema ge-
widmetes Kapitel mit folgenden Worten, die wohl
im wesentlichen das Richtige treffen , wodurch
alles , was nach dem englischen Autor noch
zweifelhaft scheint, beantwortet wird :
,,Daß die Altersschwäche der auf geschlechts-
losem Wege vermehrten Pflanzen nur in der Ein-
bildung gewisser Autoren und Züchter besteht,
aber nicht mit Notwendigkeit aus der Beschaffen-
heit der zur vegetativen Vermehrung dienenden
Organe hervorgeht, haben wir aus theoretischen
Gründen zu beweisen versucht. Wir bestritten,
daß die ganze ,, Sorte" als ein fortgesetztes Indivi-
duum zu betrachten ist und daß die Vermehrung
durch Stecklinge, Ableger, Knollen etc. eine un-
natürliche ist. Bei der Besprechung der unsere
Ansicht bestätigenden Verhältnisse haben wir zuerst
gezeigt, daß auch in der Natur viele Pflanzen auf
die Dauer sich vegetativ vermehren , ohne daß
sich nachweisen läßt, daß das Fehlen der sexuellen
Reproduktion eine minder kräftige Entwicklung
der Pflanzen bewirkt. Ferner wurde angeführt,
daß es Kulturpflanzen gibt, die seit sehr langer
Zeit ausschließlich vegetativ vermehrt werden und
einige, die nur so vermehrt werden können, nichts-
destoweniger aber noch vollkommen gesund und
kräftig sind. Von den kultivierten und vegetativ
fortgepflanzten Gewächsen aber , die von epi-
demischen Krankheiten zu leiden haben, konnten
wir fast überall den Nachweis liefern , daß die
Krankheit durch äußere Ursachen, meistens durch
Parasiten, hervorgerufen wird und daß wir diesen
Pflanzen auch keine Prädisposition zu Krankheiten
zuzuschreiben brauchen. Es wurde sodann darauf
hingewiesen , daß auf dieselbe Weise wie die
soeben angeführten Pflanzen auch die fortwährend
aus Samen gezogenen Kulturpflanzen von Krank-
heiten befallen werden und daß Epidemien selbst
bei wildwachsenden Pflanzen, einjährigen wie mehr-
jährigen , auftreten können. Demnach sind die
Erkrankungen der durch Knollen, Stecklinge etc.
vermehrten Kulturgewächse keine diesen eigen-
tümlichen Erscheinungen, sie treten nur aus leicht
begreiflichen Gründen bei ihnen auffallender her-
vor und verbreiten sich schneller."
C. K. Schneider.
Die vorläufigen Ergebnisse der Südpolar-
Expedition.') — Die deutsche Südpolar-Expedition
') In GartenzeiUmg 1883, S. 389.
^) Hervorgerufen durch den Pilz Phytophthora infestans.
') Die folgenden Mitteilungen sind dem Berichte des
Herrn Prof. von Drygalski über die Expedition (Zeitschr. d.
des. f. Erdk. 1904, Nr. l) und einem Vortrage des Herrn
Dr. Philippi in der Februarsitzung der Deutschen Geologischen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
50s
hat durch die Entdeckung von Kaiser Wilhelm II.-
Land die Frage, ob zwischen dem 60." und 100."
östlicher Länge von Greenwich ein weit nach
Süden , gegen den Pol zu reichendes Meer be-
stehe, oder, wie die Amerikaner auf Grund von
Wilke's Beobachtungen annahmen, eine geschlossene
Landmasse etwa in der Höhe des südlichen Polar-
kreises existiere, zugunsten der letzteren Ansicht
entschieden. Es ist hierdurch wahrscheinlich ge-
macht, daß zwischen Knox-Land unter etwa 104'^
östlicher Länge und Kemp-Land unter 60" öst-
licher Länge (beide in der Höhe des Polarkreises)
eine ununterbrochene Landverbindung besteht, wo-
(2280 m) bis nahe an 3000 m (2890 m) abstürzt.
Weiter gegen Norden hatte die Expedition Tiefen
von 4078 m (am 13. Februar igo2) und gegen
Nordwesten solche von 3789 m (am 10. April 1903)
und noch später 398G m gelotet.
Das Meer, welches diese antarktischen Gebiete
von den großen Kontinenten scheidet , zeichnet
sich durch seine häufigen, langandauernden, schweren
Stürme, die sämtlich aus westlicher Richtung
wehen, aus. Die Expedition hat nun festgestellt,
daß weiter nach Süden diese Westwinde allmählich
abflauen und in der Nähe der Landmassen von
östlichen Winden abgelöst werden. Dieser Einfluß
Fig. I. Umgebung des Gaußberges.
von Kaiser Wilhelm II.-Land ein Teilstück ist. Die
Ausdehnung dieses neuentdeckten Landes ist etwa
10 Längengrade weit verfolgt worden, seine Küste
hat einen annähernd ostwestlichen Verlauf und
hält sich in dem beobachteten Stücke annähernd
auf der Höhe des Polarkreises. Die Küste be-
gleitet ein mehr oder weniger breiter Flachsee-
saum (in dem Tiefen von 241 bis 690 m gelotet
wurden), dessen Boden gegen das Meer ziemlich
unvermittelt zu gewaltigen Tiefen von über 2000
Gesellschaft entnommen. Herr Prof. von Drygalski und der
Vorstand der Ges. f. Erdkunde zu Berlin hatten die große
Liebenswürdigkeit, uns die Verwendung der Klisches für die
obigen Abbildungen zu gestatten, wofür an dieser Stelle ver-
bindlichster Dank abgestattet sei.
auf die Richtung der Luftbewegungen spricht mit
für die Größe des neuentdeckten Landes.
Und dieser neuentdeckte Kontinent ist von
einem gewaltigen Eismantel überkleidet, vielleicht
dem gewaltigsten Inlandeise, das zurzeit existiert.
Vom Lande selbst sah die Expedition vom Schiffe
aus nichts, alles war unter Eis begraben; „doch
daß es Land war, ließen die P'ormen des Eises
zur Gewißheit erkennen. Denn gegen die Küste
hin sah man die einförmigen Flächen, die sich in
weiten flachen Wellen von Süden her hinabsenkten,
sich teilen und in Eisströme formen, welche von
den Formen einer festen Unterlage abhängig sind."
(Siehe Figur i.) Die Küste wurde von einer senk-
rechten, an Höhe wechselnden Eismauer gebildet,
^&^-^^^H^^^
Fig. 2. Oberfläche des Inlandeises westlich vom Gaußbeig (^Pliiliiijii pl
Fig. 3. Eisberg mit Stauzone an dem Ostrand des Scliollenfcldes, in wclclicni der GaiilS cingesclilosscn war (10. Olvtober 1902) (Pliilippi phot."!.
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Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
507
an der ein Landen unmöglich war. Weit im Osten die höchstwahrscheinlich über die Untiefen der
erhob sich das Inlandeis zu bedeutender Höhe Flachseezone nicht hinweg können; zwischen ihnen
„und stürzte in wilden Eiskaskaden zum Meere dehnen sich gewaltige festliegende Scholleneisfelder
hinab". Vor der Küste liegen, besonders nach aus, in deren nördlichem Teil der Gauß für ein
Westen zu, dichte Ketten riesiger alter Eisberge, Jahr eingeschlossen festlag (Fig. 2).
Fig. 4. Stauione des Mccrciscs an licm Ostraiul des Feldes, in welciiem tlei* .Gauü eingeschlossen war (lo. Oktober 1902)
(Pliilippi pliot.).
Fig. 5. Schwimmender Eisberg (Pliili|ipi phot.).
5o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 32
Im Osten grenzte an dieses festliegende Eis
das offene Meer mit seinem beweglichen Schollen-
eis und seinen Eisbergen. Die Grenzzone beider
Gebiete war der Schauplatz gewaltiger Stauungen,
wie sie die Figuren 3 und 4 veranschaulichen.
Der einzige eisfreie Punkt des ganzen Gebietes
wurde im März 1902 auf einer von Dr. Philippi,
dem zweiten Offizier R. Vahsel und dem Matrosen
Johannsen unternommenen Schlittenreise 90 Kilo-
meter südlich vom Winterlager des Gauß entdeckt,
es ist der 366 m hohe Gaußberg (s. S. 426), eine
jungvulkanische Kuppe, die auf dem Rande des
neuentdeckten Festlandes liegt. Der Gaußberg ist
ein aus jungvulkanischem, feinkörnigem bis glasigem,
blasenreichem Leucitbasalt aufgebauter Kegel, in
dessen Untergrund, nach Einschlüssen der Laven
zu urteilen, Gneiße und Granite anstehen müssen.
Terrassenspuren und Ausmodellierungen härterer
Teile sprechen dafür.
Merkwürdig sind zwei schmale Eisrücken, die
hoch an der Westseite des Berges emporreichen.
(Vgl, S. 506.)
■ Über seine Beobachtungen am Eise machte
Dr. Philippi in der oben genannten Sitzung der
Deutschen Geologischen Gesellschaft folgende Mit-
teilungen: Vom Inlandeise erstreckt sich wenige
Kilometer westlich vom Gaußberge eine breite Eis-
fläche weit nach Norden hin, die zum Unterschiede
als Westeis bezeichnet wurde. Während nun das Eis
am Gaußberge sich durch seine, wenn auch geringe
Bewegung, durch die Erzeugung von Eisbergen
und durch seinen Steilabsturz gegen das Meereis
als echtes Inlandeis erweist, zeigt das Westeis ab-
weichenden Charakter: es ist abgestorben, d. h.
Fig. 6. Teil eines Eisberges mit deutlicher Schichtung, nördlich vom Winterlager des Gauü.
(Philipp phot.).
Tuffe und andere Auswurfsprodukte fehlen; auf
Solfatarentätigkeit deuten die Schwefelauskleidungen
vieler Hohlräume der Lava. An dem steilen Nord-
hang zeigt die Lava in großen Dimensionen eine
mauersteinartige Absonderung, jeder Absonderungs-
klotz wieder einen radialen Aufbau. Die steile
Nordseite des Berges stößt unmittelbar an das
Meereis, auf den anderen Seiten ist er vom In-
landeise umgeben und wird hier von Moränen-
wällen begleitet. Das Material derselben besteht
meist aus archäischen Gesteinen und mischt sich
auf der Ost- und Südseite mit dem Schutte des
Gaußberges. Auf der Westseite des Berges fehlt
das archäische Material. Erratisches Material findet
sich an allen Gehängen des Berges und deutet
darauf hin, daß die Vereisung früher minde-
stens um 350 m mächtiger gewesen ist. Auch
die an den Berghängen mehrfach vorhandenen
bewegungslos, erzeugt keine Eisberge und dacht
sich ganz allmählich zum Meereise ab. Höchst-
wahrscheinlich schwimmt bereits ein großer Teil
dieses Westeises.
Unter den Eisbergen lassen sich zwei Typen
unterscheiden: die ursprünglichen, tafelförmigen
Berge von oft riesigen Dimensionen und die ge-
wälzten Eisberge. Die ersteren zeigten meist deut-
liche Firnschichtung und erwiesen sich, soweit be-
obachtet werden konnte, frei von Schuttmaterial
(Fig. 5 und 6). Die gewälzten Eisberge zeigten
dagegen oft Ansammlungen von Schuttmaterial
(Gesteinstrümmer aller Größen, bis zu mächtigen
Dimensionen), das in parallelen Bändern ange-
ordnet war, die bald mehr oder weniger gerad-
linig verliefen, bald merkwürdig gefaltet und ge-
bogen waren (Fig. 7). Schmilzt das schuttbeladene
Eis ab, so sammeln sich die Geschiebe oft in
N. F. III. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
509
großen Haufen in Mulden des Eisberges oder an
seinem Fuße an. Man kann aus diesen beobach-
teten Vorgängen auf manche Erscheinungen in
unserem Diluvium schließen , die sich mit Hilfe
jener leicht erklären lassen, z. B. die lokalen An-
sammlungen von Moränenschutt oder einzelnen
Blöcken auf oder in Bildungen, die ihrer Entstehung
nach geschiebefrei zu sein pflegen.
Unter den in den Eisbergen enthaltenen Ge-
schieben herrscht Gneis vor; nicht weniger häufig
wird auch Granit gefunden und nicht selten ein
schön braunvioletter Gabbro; von Sedimentär-
gesteinen kommt nur ein roter Ouarzit vor; da-
gegen scheinen versteinerungsführende und jung-
vulkanische Gesteine darunter zu fehlen. Einen
eigentümlichen Gegensatz zu den uns geläufigen
Geschieben aus dem Diluvium zeigen die Ein-
schlüsse der Eisberge. Während unsere diluvialen
Geschiebe doch sehr häufig allseitig abgeschliffen
und geschranmit sind, beschränkt sich diese Er-
scheinung bei den antarktischen nur auf wenige
F'lächen ; öfters wurden Kanten- und nicht selten
schöne Fazettengeschiebe gefunden.
Das erratische Gesteinsmaterial am Gaußberge
Fig. 7. Teil eines Eisberges mit deutlicher t'irnscliiclitung (Philippi pliut.]
510
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 32
unterscheidet sich petrographisch nicht von den
Einschlüssen der Eisberge und ist größtenteils
ebenfalls archäisch. Dr. Kaunhowen.
Versuch einer Erklärung des magnetischen
Sturms vom 31. 10. 1903 durch elektrische
Ströme. — Dr. H. Maurer schreibt in den
„Annalen der Hydrographie und maritimen Meteo-
rologie" im Anschluß an eine ausführliche Dar-
legung des Verlaufs der großen magnetischen
Störung vom 31. 10. 03 nach den Beobachtungen
zu Potsdam, Bochum und üccle: „Macht man den
Versuch, diese Störungen durch elektrische Ströme
sich hervorgerufen zu denken, so kommen hierfür
rein vertikal gerichtete Elektrizitätsbahnen in Be-
tracht, für deren Existenz uns die Nordlichter
einen Anhalt geben, und horizontal in der Erd-
rinde verlaufende Erdströme, die ebenfalls bereits
vielfach, besonders in Zusammenhang mit der
Telegraphie konstatiert worden sind. Vertikale
Ströme können die Deklinationsnadel beeinflussen,
wenn sie nicht symmetrisch zur vertikalen mag-
netischen Ost- Westebene verteilt sind; auf die
Vertikalintensität sind sie nicht von Einfluß. Von
den horizontalen Erdströmen wirken, soweit es
sich um breite über ausgedehnte Gebiete in glei-
cher Richtung und gleicher Stärke verlaufende
Strömungen handelt , die magnetisch nordsüdlich
gerichteten Komponenten auf die Deklinations-
nadel, die magnetisch ostwestlich gerichteten auf
die Horizontalintensitätsnadel. Auf das Vertikal-
instrument sind auch diese nicht von Einfluß.
Wohl aber wirken auf dies Instrument und auf
die anderen ebenfalls horizontale Erdströme, die
sich nicht durch eine Vertikalebene durch den
Beobachtungsort in 2 symmetrische Hälften zer-
legen lassen.
Mit diesen Betrachtungen stimmen die Tat-
sachen gut überein, daß die Deklinations und
Horizontalintensitätskurven , die von den großen
vertikalen und horizontalen Strömungen beeinflußt
werden, für weiter voneinander liegende Stationen
leichter identifizierbar sind als die Vertikalinten-
sitätskurven, die von jenen großzügigen Strömungen
weniger, dagegen stärker von den unregelmäßigen
horizontalen Lokalströmen beeinflußt werden.
Denken wir uns z. B. , um die Vorstellung zu
fixieren , positive Elektrizität besonders in der
Zone des Maximums der Nordlichter und dort
wieder am stärksten auf dem der Sonne zugewen-
deten Erdmeridian niedersteigend und von jenem
Aktionszentrum radial in der Erdrinde nach allen
Seiten abströmend, so würden solche Ströme am
Vormittag, wo dies Aktionszentrum im Nordosten
läge, die Deklinationsnadel nach Westen ablenken
und auf die Horizontalintensitätsnadel wie eine
Verminderung der Horizontalintensität wirken,
während sie das Vertikalintensitätsinstrument un-
beeinflußt ließen. Solches Verhalten der drei
Instrumente finden wir in der Tat bei den großen
Schwankungen vonD und H ') um 7*^ Vorm. und 10''
Vorm. bei gleichzeitigerRuhe des dritten Instruments
vor. Erst mit dem Nachmittag beginnen sich
stärkere Störungen von V zu zeigen, und zwar
ein Anwachsen von V zugleich mit Anwachsen
von H und D, welch letzteres genau um Mittag
verhältnismäßig geringere Schwankungen ausführt.
Es ließe sich dies wiederum durch nunmehr haupt-
sächlich im Nordwesten niedersteigende und von
dort in der Erdrinde verlaufende Strömungen er-
klären, wenn wir dazu annehmen, daß diese von
Nordwest nach Südost gerichteten Ströme nördlich
von der Station stärker als südlich von ihr wären,
was ja für den frühen Nachmittag plausibel er-
scheint. Erst nach weiterem Wandern des Aktions-
zentrums nach Westen werden diese Ströme süd-
westlich von der Station stärker als nordöstlich
von ihr sein , wodurch dann ein Abnehmen der
Vertikalintensität eintritt. Es ist sehr interessant,
daß in dem Moment, 2'' 30™'" Nachm., von dem an die
Vertikalintensität nach erreichtem Maximum fallende
Tendenz erhält, der in der Telegraphenleitung von
Antwerpen nach Paris beobachtete Strom seine
Richtung umgekehrt hat, und Analoges findet auf
der Brüsseler Nordlinie um i^" 30™'" Nm. und 2''
Nm. statt. In den Strömen in den isolierten Kabeln
werden zum Teil auch Induktionswirkungen zum
Ausdruck kommen, die in ihrer Richtung und
Stärke nicht von den Erdströmen selbst, sondern
von deren Stärkeschwankungen abhängen. Und
in der Tat finden wir die heftigsten Leitungsströme
zu Zeiten angegeben , wo die Schwankungen in
den Intensitätskurven, hauptsächlich der Vertikal-
intensität, am stärksten waren. In Antwerpen
z. B. nach „Gel et Terre" 1903 S. 421 um i'' N,
2h jo™'"! N zwischen s"" N und ö*" N; sie fehlen dort
nach 7^ N.
Selbstverständlich macht dieser Erklärungs-
versuch keinen Anspruch darauf, wirklich das
Wesen der Erscheinung wiederzugeben; er soll
nur noch zeigen, welcherlei Wirkungsweisen in
der buntesten Mannigfaltigkeit übereinander ge-
lagert ein solches Phänomen zustande bringen
könnten."
1) D = Deklination,
Vertikalintcnsität.
H
Horizontalintensität, V =
Bücherbesprechungen.
Dr. Fr. N. Schulz, a. o. Professor an der Universität
Jena, Die ( 1 r ö ß e des E i w e i ß m o 1 e k ü 1 s.
Jena. Verlag von Gustav Fischer. 1903. — Preis
2,50 Mk.
Die vorliegende Schrift bildet das zweite Heft
einer Sammlung von Monographien, betitelt , .Studien
zur Chemie der Eiweißstoffe'' von Fr. N. Schulz, deren
erstes Heft über „die Kristallisation von Eiweißstoffen"
ebenfalls im Jahre 1903 erschienen ist.
Die Frage nach der Größe des Moleküls erregt
bei den F'.iweiIJstofton deshalb besonderes Interesse,
weil das Eiweißmolekül bedeutend größer sein muß
N. F. III. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
511
als dasjenige irgend eines anderen bisher zur Unter-
suchung gelangten Stoffe?. Ein Beweis dafür ist vor
allem die große Mannigfaltigkeit seiner Verbindungen.
Zudem beruht auch die biologische Wirkung der
Eiweißstoffe größtenteils auf den durch die .Molekular-
größe bedingten Eigenschaften und auch unsere
mangelhafte Kenntnis bezüglich der bei der Erfor-
schung der Größe des Eiweißmoleküls auftretenden
Schwierigkeiten mag in dessen Größe ihre Erklärung
finden.
Das Heft enthält eine ausfuhrliche, kritische Dar-
stellung und Siclitung der bisher über dieses Kapitel
vorliegenden Literatur und der Stoff ist klar und an-
schaulich behandelt.
Der Verfasser gedenkt in gleicher Weise wie die
beiden erschienenen Monographien auch andere Haupt-
kapitel der Eiweißchemie in zwanglosen Heften er-
scheinen zu lassen. Mit Spannung dürfte man diesen
weiteren Publikationen entgegensehen. R. Lb.
Sektionen des Alpenvereins, 1 1 weitere Korporationen
(botanische und touristische Vereine) zu seinen Mit-
gliedern. Er erhielt bisher jährlich 1000 Mk. Sub-
vention vom Alpenverein. Mitglied des Vereins können
auch dem Alpenvereine nicht angehörige Personen
bei einem Jahresbeiträge von nur 1,50 Mk. werden.
(N.)
I., 2., 3 Bericht des Vereins zum Schutze und
zur Pflege der Alpenpflanzen (E. V.) Bamberg
1901, 1902, 1903.
Der Verein zum Schutze und zur Pflege der Alpen-
pflanzen (Fl. V.), dessen Gründung im Jahre 1900 in
Bamberg erfolgte, versendet jährliche Berichte über
seine Tätigkeit. Dieselben (I.-III.) geben ein an-
schauliches Bild über die vielseitige Tätigkeit des
Vereins und beweisen , daß das ideale Unternehmen
des Vereins auch in weiteren Kreisen Anklang ge-
funden hat. Die Ziele des Vereins dürften besonders
jetzt zeitgemäße genannt werden, nachdem die Be-
wegung zum Schutze der Naturdenkmäler, und zu
denen gehören die Alpenpflanzen zweifelsohne, sowohl
in Deutschland, als in Österreich begeisterte Fürsprecher
und tatkräftige Förderer gefunden. Die Berichte des
Vereins enthalten die Jahresberichte , Protokolle der
Generalversammlungen, Verwaltungsangelegenheiten,
aber auch wissenschaftliche Abhandlungen aus der
Feder berufener Botaniker: u. a. Prof v. Wettstein
(Wien) „Über die wissenschafüichen Ergebnisse des
alpinen Versnchsgartens an der Bremer Hütte im
Gschnitzfale" ; Prof G ö b e 1 (München) „Bericht über
den Schachengarten"; Prof. von Dalla Torre (Inns-
bruck) „Zur Genus-Nomenklatur der Alpenpflanzen".
Ferner finden sich Notizen über die Blütezeiten der
Alpinen ; Berichte über die vom Verein subventionierten
Alpenpflanzengärten am Schachen , auf der Ra.xalpe,
auf der Neureuth und an der Bremer Hütte. Ferner
enthalten die Berichte Zusammenstellungen über die
Flora bestimmter Gebiete: des Kaisergebirges von
Hofer, des Schachens von Ohr ist, der Umgebung
der Freiburger Hütte von Neumann, der ITmgebung
der Schlüterhütte im Vilnößtale von Ostermeyer.
Einen schweren Verlust hatte der Verein im Jahre
1903 zu beklagen durch den Tod des Mitbegründers
und begeisterten Förderers des Vereins, Herrn Direktor
Sacher in Krems. Einen Nachruf an den verstorbenen
Freund enthält der IIL Bericht vom Vorstande des
Vereins Apotheker Schmolz in Bamberg.
Der Verein zählt z. Z. 400 Einzelmitglieder, 76
Dr. Hermann Popig, Die Stellung der Süd-
ostlausitz im Gebirgsbau Deutschlands
und ihre individuelle Ausgestaltung in
Orographle und Landschaft. F'orschungen
zur deutschen Landes- und Volkskunde , Bd. XV,
Heft 2. Stuttgart 1903. ). Engelhurn. 88 Seiten.
— 7 Mk.
Das Buch behandelt die Zittauer Bucht und ihre
südwestliche Begrenzung, das Lausitzer und Jeschken-
gebirge ; sein Hauptwert besteht in sehr zahlreichen
Tabellen über Talrichtungen, Höhen, Boschungswinkel
u. dgl. m. Wenn man aber dem Titel nach gehofft
hat, eine eingehendere Darlegung über die Rolle dieses
( Gebietes in der mitteldeutschen Tektonik zu finden,
so wird man das Buch enttäuscht fortlegen : denn man
erfahrt im Grunde nur, daß die Südostlausitz zu den Sude-
ten gehöre. Der Verfasser drängt die Betrachtungen über
die Beziehungen zum übrigen Deutschland und Mittel-
europa auf die ersten i 2 Seiten zusammen, und wenn
er dabei nur die Lage in der geographischen Länge
und Breite unterscheidet , so läßt sich der Reichtum
unserer allgemeinen Mittelgebirgsgeographie allerdings
nicht auf ein solches Linienkreuz nageln. Auch die
Landschaftsbeschreibung leidet durch Schematismus
etwas, mehr durch eine Reihe störender Zitate, deren
Poesie wesentlich hinter der des Lausitzer Berglandes
zurücksteht. F. S.
Prof Dr. W. Ule, Niederschlag und Abfluß
in Mitteleuropa. Mit 12 Figuren. Forschun-
gen zur deutschen Landes- und Volkskunde. Bd. XIV.
Heft 5. Stuttgart, J. pjigelhorn. 1903. 82 Seiten.
— Preis 4,80 Mk.
Professor Ule hat hier den Forschungen von
Ruvarac und Penck u. a. über das gleiche Problem
eine sehr bemerkenswerte Arbeit hinzugefügt , in der
er auf Grund zwanzigjähriger Beobachtungen im Saale-
gebiet die Niederschlags- und Abflußverhältnisse dieses
Flußgebietes und im Anschluß daran diejenigen
Mitteleuropas überhaupt einer eingehenden Unter-
suchung unterzieht. Die Frage, um die es sich dabei
handelt, bietet ein außerordentlich vielseitiges Inter-
esse, teils theoretisch für den Meteorologen und Geo-
logen , wie überhaupt für unser Verständnis des
Wasserkreislaufs in der Natur, teils rein praktisch für
den Wasserbautechniker u. a. ; andererseits ist die
Aufgabe, die die Bearbeitung dem Theoretiker stellt,
sachlich so verwickelt und versuchstechnisch so
schwierig , daß der Ref. das , was er zu dem Buche
zu sagen hat, nicht im Rahmen eines kurzen Referates
begründen kann. Die Ule'schen Untersuchungen und
die daran geknüpften Folgerungen werden deshalb
demnächst eingehender in den Spalten der „Naturw.
Wochenschr." behandelt werden. F. S.
5i:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 32
Literatur.
Behrendt, Dr. Emil C, u. Waldem. Krühn: Kompendium d.
qualitativen Analyse. (132 S.) 8". Berlin '04, S. Calvary
& Co. — Geb. in Leinw. 3 Mk.
Dühring, Dr. E. : Robert Mayer, der Galilei des 19. jahrh.,
u. die Gelehrtenunt.atcn gegen bahnbrechende Wissenschafts-
größen. I. Tl.: Einführung in Leistgn. u. Schicksale. Nebst
Portr. in .Stahlst. 2., verb. u. venu. Aufl. (X, 267 S.) gr. S'\
Leipzig '04, C. G. Naumann. — 4 Mk. ; geb. 5 Mk.
Jahresberichte über die Fortschritte der Anatomie und Ent-
wicklungsgeschichte. Hrsg. V. Prof. Dir. Dr. G. Schwalbe.
Neue Folge. 8. Bd. Literatur 1902. 3 Abtlgn. (2^6, 304,
928 u. Will S.) gr. 8». Jena '03, G. Fischer. — Einzel-
preis 62 Mk. ; Subskr.-Pr. 50 Wk.
Briefkasten.
Fräulein St. E. in Pr. — Für Liebhaber der Astronomie,
die selbst beobachten wollen, empfehlen sich die Zeitschriften:
Mitteilungen der Vereinigung von Freunden der .Astronomie
und kosmischen Physik, redigiert von Prof. Dr. W. Förster
(Berlin, Ferd. Dümniler. Jährlich 10-12 Hefte für 6 Mk.,
für Mitglieder der ,, Vereinigung" kostenlos). — Sirius, heraus-
gegeben von Dr. H. J. Klein (Leipzig, E. H. Mayer). — Das
Weltall, redigiert von F. S. Archenhold (Berlin, P. Zacharias,
jährlich 24 Hefte für 8 Mk.)
Herrn Prof. Ph. — Eine ausgezeichnete Zusammenstellung
der Gestaltungen, die die Erdoberfläche bietet, finden Sie in
Peuck's ,, Morphologie der Erdoberfläche" (J. Engelhorn in
■Stuttgart, 1894). Es werden in dem Werk sowohl die ge-
staltenden Kräfte in ihrer Wirksamkeit als auch die einzelnen
Formenkomplexe nach ihrer Entstehung betrachtet. Das Werk
zerfällt in 3 ,, Bücher": 1. Allgemeine Morphologie, 11. Die
Landoberfläche, III. Das Meer.
Herrn Dr. H. in Bonn und Herrn C. N; in Ödernitz. —
Gute elementare Geologien sind: Fr aas, Geologie (Samm-
lung Göschen in Leipzig), Haas, Geologie, (Weber's illustr.
Katechismen in Leipzig"), umfangreich (2 starke, schön illustr.
Bände) ist Neuniayr's Erdgeschichte p5ibliographisches
Institut in Leipzig).
Herrn Professor A. S. in R. — i. Sie fragen nach einem
Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der. Wirbeltiere (und
wenn möglich auch der Wirbellosen) für die Prima einer
(lateinlosen) (.>berrealschule. Schmeil's Lehrbuch genügt
Ihnen für Ihren Zweck nicht. — Es scheint' als ob ein Lehr-
buch der genannten Art bisher nicht erschienen ist. Sie wer-
den sich also wohl nach einem geeigneten- Ersatz umsehen
müssen. — Um Ihnen und zugleich andern. Lehrern, welche
ein für sie geeignetes Lehrbuch suchen , diese Aufgabe zu er-
leichtern soll in einer der nächsten Nummern eine Übersicht
fast aller deutschen Lehrbücher, die für 'höhere Schulen in
Betracht kommen' können , gegeben werden. — Die meisten
vergleichend - anatomischen .Abbildungen gibt Matzdorff.
Außerdem könnten für Sie die Bücher' von Dalitzsch,
Kraepelin, Oels, Reichenbach, Vogel, Woldrich
und Zwick in Frage kommen. Das Nähere erfahren Sie aus
der zu gebenden Übersicht.
2. Sie wünschen ein Buch zu Ihrer Vorbereitung , eine
kurze vergleichende Anatomie, oder falls eine solche nicht
existiert, eine geeignete Zoologie. — Die Bücher von Claus,
Hertwig und Gegenbaur besitzen Sie. — Für diesen
Zweck kann Ihnen R. Wiedcrsheim, Vergleichende Ana-
tomie der Wirbeltiere, 5. Aufl. des Grundrisses der vergleichen-
den Anatomie, Jena 1902 (ca. 700 S. mit 379 z. T. farbigen
Te.xtbildern und einer Tafel, Preis l6 Mk.) empfohlen werden.
— .Äußerst wichtig für jeden Lehrer, aber leider vcrgriften,
i.=t C. Bergmann und R. Leuckart, Anatomisch-physiolo-
gische Übersicht des Tierreichs. Vergleichende .Anatomie und
Physiologie, Stuttgart 1855 (690 S. mit 438 Tc.xtbildern).
Dahl.
Zu dem in der .\. W N. F. III. Nr. 28 S. 448 erwähnten
Worte ,,mud" erlaube ich mir zu bemerken:
Das Wort ,,mud" kommt, wie Herr Müller-Schmalkalden
schreibt, nicht nur im Deutschen (und zwar im Nass;iuischen)
vor, sondern ist ein urdeutsches Wort, das sich, vom Nieder-
deutschen ausgehend, auch im oberdeutschen Sprachgebiet
findet. Es ist zwar für die Etymologen ein recht „böses"
Wort, denn die ,, Urgeschichte" desselben ist noch immer
dunkel.
Als älteste Form wird ssk. migh. = beträufeln, (It. mingere),
fgr. d)iii;-(], ssk. mighara = Nebel, Wolke, Dunst angenom-
men. Got. maihstus hat u. a. die Bedeutung von Mist. Je-
doch außer dieser Grundbedeutung erscheinen noch andere
sehr wahrscheinlich. Eine Reihe von Stämmen mit andern
Vokalen und auslautenden Konsonanten schließen sich an.
Einige derselben sind : mud, mut, smut (vapor, mucor, limus) ;
gael: smod (nebula, humida); altn. : möda (pulvis), mod (quis-
quiliae) mnd. : modder, mode, modde, mudde, moddich, mud-
dich ; niederl. ; modder, moder, moyer, raorc, moer (lt. limus,
coenum, mollius, lutum, volutabrum, faeces) ; engl, mud, mother.
Die Form ,, moder" tritt zuerst im 14. Jahrhundert auf in
der Bedeutung von Kot, späterhin Sumpfland, Moor. Die
hochdeutsche Form ist moter, motter; im 17. Jahrhundert
und später in der Bedeutung von Schleim, Kot auf der
Straße. Nachher tritt dazu der Begriff des ,, Faulenden". Es
sei liier an unser nhd. „Essigmutter" erinnert. (Vgl. gr. /ivSw"
= Aas).
Engl. ,, mother" = Mutter, Bodensatz, Hefe erklärt sich
wohl durch folgendes.
Ir. muimme (mudmjä) = Amme, muad = Wolke, kelt.
mend = netzen, saugen; gr. /uväo; = Nässe, Moder; m'^eir
= saugen; It. mulier; lett. mudet = schimmelig werden.
Über den allgemeinen Gebrauch von ,,mud" vergleiche
man Grimm D. W. VI. 2442 — 45, 2600 — Ol. Was den Ge-
brauch des Wortes in andern germanischen Sprachen angeht,
sei hingewiesen auf:
engl, to mud im Schlamme begraben.
dän.-schwed. mudder Schlamm, Morast, Kot, Moder.
dän. mudderagtig morastig, kotig.
dän. mudderfisk Moderfisch.
engl, muddle trübe machen.
schwed. muddra ausschlämmen etc.
Fritz Reuter sagt: ,,As en Moorbir utseihn" = wie ein
Schmutzfink aussehen.
Modd' (Moor') = Moder, Morast, Schmutz. Bir = Eber.
engl. ,,mud" in naturwissenschaftlicher Bedeutung = aus
abgestorbener Pflanzensubstanz entstandene Ablagerungen im
Meere. Mudlumps = kleine Schlammrücken an der Mündung
des Mississippi. C. Nellen, Seminarlehrer, Münstereifcl.
In Bezug auf die Erörterungen über „Mud", vgl. Nr. 29,
Briefkasten, ist vielleicht folgendes noch von Interesse. Hier
und in der näheren und ferneren Umgebung Hannovers, so-
weit sie mir bekannt, sind die Wörter: Die Mudde, Adj.
muddig allgemein im Gebrauch für feinen, in einer Flüssig-
keit schwebenden, Schlamm, nicht allein für den Kaffeesatz.
Man macht ausdrücklich den Unterschied von dem festen,
abgelagerten Schlamm , Schlick , den man auch wohl , aber
selten, Modder nennt. Auch dies Wort scheint etymologisch
mit dem Stamme Mud zusammenzuhängen. Das in Frage
kommende Wort wird also wohl ziemlich allgemein in einem
großen Teile des niederdeutschen Sprachgebietes verbreitet
sein. Wilh. Meyer.
Inhalt: Prof. Dr. M a .X C. P. Schmidt: Zur lateinischen Terminologie der elementaren Arithmetik. II. — Kleinere
Mitteilung'en : Dr. G. Brandes: Über ,, Duftapparate bei Käfern." — C.K.Schneider: Degenerieren Varietäten von
Kulturpflanzen? — Dr. Kaunhowen: Die vorläufigen Ergebnisse der Südpolar-Expedition. — Dr. H. Maurer:
Versuch einer Erklärung des magnetischen Sturms vom 31. 10. 1903 durch elektrische Ströme. — Bücherbesprechungen:
Dr. Fr. N. Schulz: Die Größe des Eiweißmoleküls. — I., 2., 3. Bericht des Vereins zum Schutze und zur Pflege der
Alpenpflanzen. — Dr. Hermann Popig: Die Stellung der Südostlausitz im Gebirgsbau Deutschlands und ihre indi-
viduelle Ausgestaltung in Urographie und Landschaft. — Prof. Dr. W. Ule: Niederschlag und .Abfluß in Mitteleuropa.
— Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redaltteur: i. V. Dr. F. Koerber, Grofs-Lichterfelde-We«! b. Berlin.
Druck von Lippert & Co, (G. Pätz'sche Ruchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DiC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin,
Redaktion: Professor Dr. H. Potoniö und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 15. Mai 1904.
Nr. 33.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5440-
Inserate: Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Neotenie bei den Amphibien.
[Nachdruck verboten.]
Das Wort Neotenie hat Kollmann eingeführt
und bezeichnet die Tatsache, daß einzehie oder
mehrere Organe eines Tieres auf einem frühen
Entwicklungsstadium stehen bleiben l<önnen, also
ihre volle .'\usbildung nicht erreichen. Es per-
sistieren Charaktere, die am erwachsenen Tiere
nicht vorkommen, dagegen in Jugendstadien auf-
treten (Kollmann, das Überwintern von europäischen
Frosch- und Tritonlarven. Verhdl. naturf Ges.
Basel. VII. 1883). Wenn dagegen ein Tier vor
dem Abschluß seiner Entwicklung geschlechtsreif
wird, später dann sich normal ausbildet, so kann
nicht von Neotenie gesprochen werden (Boas, Über
Neotenie, 1896). Diese Erscheinung ist im Tier-
reich weit verbreitet, am ausgeprägtesten tritt sie
jedoch bei den Amphibien auf Sie bietet auch
soviel Interesse, daß es sich wohl der Mühe ver-
lohnt, über die einschlägigen Tatsachen und die
Erklärungsversuche, welche sich daran knüpften,
zusammenfassend zu referieren.
In „Reproduction des Axolotl, Batraciens uro-
deles abranchies persistantes de Mexico, qui n'avaient
encore jamais ete vus vivants en Europe" (Compt.
rend. 1865) teilt Dumeril mit, daß Axolotl, die
Von Dr. K. Bratscher.
im Pariser Akklimatisations-Garten schon i Jahr
in Gefangenschaft gewesen waren, Eier legten und
das Weibchen hierbei gerade wie die Tritonen
diese an festen Körpern, Pflanzen und Steinen,
anheftete. 1867 gibt er ausführliche Mitteilungen
über seine weiteren Beobachtungen (Metamorphoses
des Batraciens urodeles . . . dits Axolotl, Ann. des
scienc. nat. Ser. 5. 1867. 7). Danach hat er noch
oft die Eiablage beobachten können. Dagegen
fiel ihm ein Exemplar der Nachkommenschaft da-
durch auf, daß es seine Kiemen, den Hautsaum
an Rücken und Schwanz verlor, die Kopfform
änderte und ein anderes Farbenkleid erhielt. Die
Untersuchung ergab dann ferner, daß zu diesen
äußeren Umwandlungen innere sich gesellt hatten:
die 3 hinteren Kiemenbogen gingen ein, nur der
vorderste blieb erhalten , die früheren Gaumen-
zähne verschwanden und neue traten an ihre Stelle;
die Konkavität der Wirbelkörper wurde geringer,
alles Veränderungen, wie sie bei der Metamorphose
der Urodelen schon längst bekannt waren. Dem
Beispiel dieses ersten folgten bald eine Reihe
anderer Individuen.
Diese Beobachtung mußte um so mehr Be-
514
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 33
achtung verdienen, als viele Zoologen den Axolotl
— es handelte sich um Siredon mexicanus —
als fertig entwickeltes Tier aufgefaßt hatten, sich
dagegen jetzt ergab, daß es nur als ein Jugend-
stadium von Amblystoma, als eine Larve, zu be-
trachten sei, welche beide Formen bisher getrennt
aufgeführt worden waren. In der Tat verursachte
die Feststellung von Dumeril bei den Zoologen
größtes Aufsehen.
Schon dieser Beobachter hatte versucht fest-
zustellen, ob und von welchen äußeren Umständen
der Übergang vom Larvenzustand in die Ambly-
stoma-Form abhängig sei. Zu diesem Zwecke
schnitt er mehreren Axolotln die Kiemen ab; sie
regenerierten sich mehrfach wieder. Auf 9 am-
putierte Individuen zählte er 3 Verwandlungen,
ein \'erhältnis, das ihm zu zeigen schien, daß der
Verlust der Kiemen günstig auf die Auslösung
der Metamorphose einwirkte; doch hielt er selber
weitere Untersuchungen über diese Frage für not-
wendig.
Fräulein v. Chauvin konstatierte (Weismann,
Über die Umwandlung des mexikanischen Axolotl
in ein Amblystoma. Z. f w. Zool. 25. Suppl. 1875),
daß die Verwandlung 12 — 14 Tage beanspruchte
und bei den einzelnen Individuen in verschiedenem
Alter erfolgte. Ferner tritt fast bei allen die
Metamorphose ein, wenn die 6—9 Monate alten
Larven in seichtes Wasser gebracht werden. Ge-
nauer verfolgte auch Weismann die Umgestal-
tungen des Körpers bei diesem Vorgang und er
fand, daß außer den bereits erwähnten ferner die
Kiemenspalten sich schließen, die Hautdrüsen un-
deutlich, die Augen vorstehend und die Pupillen
eng werden ; zudem erscheinen Lider, welche die
Augen ganz decken , während sie beim Axolotl
nur als schmale Ringfalte ausgebildet sind; die
Zehen werden schmäler und verlieren die Schwimm-
häute; im Unterkiefer verschwinden die Zähne der
Larve. Die Veränderung ist also, abgesehen vom
Auftreten von Lungen, derart, daß sie nicht als
bloße Wirkung der neuen Verhältnisse, des Luft-
lebens, und als Folgeerscheinung dieser neuen
Anpassung aufgefaßt werden können. Da nun
nach dem damaligen Stand der Kenntnis eine
Reihe anderer Arten regelmäßige Verwandlung
zeigen und nach dieser geschlechtsreif werden,
diese aber bei S. mexicanus nicht erfolgen sollte,
so faßte er sie als eine atavistische Form auf, die
auf der ph)'logenetischen Vorstufe des perenni-
branchiaten Stadiums stehen geblieben war.
Nach ihm früher wirkliche Ambl>-stoma, haben
sie aber nunmehr auf die Durchführung ihrer
ganzen Entwicklung verzichtet. Es sind nämlich
Bewohner der mexikanischen Seen, die sich durch
ihren flachen Boden auszeichnen und von einem
ausgedehnten Sumpfgebiet umgeben sind. So
hatten es nach de Saussure die Axolotl vielleicht
schwer, das Trockene zu gewinnen; ferner wird
gerade der Teil des Sees, in dem sie am häufigsten
vorkommen, durch Winde trocken gelegt und
würde dann den Amblystomen vi^eder Schlupf-
winkel noch Nahrung bieten, da der Boden salzig
und steril ist; dazu kommt die niedrige Tempe-
ratur des mexikanischen Winters. Noch wichtiger
erscheint Weismann die große Trockenheit der
Luft; sie namentlich hat die Axolotl genötigt, dem
andauernden Wasserleben sich anzupassen und die
Metamorphose einzustellen ; als in früheren Zeiten
die Seen größer, die Gegenden reicher bewaldet
waren, herrschten Verhältnisse, die ihnen ihre volle
Entwicklung gestatteten. So erweist sich der
Rückschlag als eine Anpassung an die allmählich
eingetretenen veränderten Existenzbedingungen.
Der Standpunkt von Weismann fand eine
weitere Stütze in dem Umstände, daß die in
Europa aufgetretenen Amblj'stoma nie in ge-
schlechtsreifem Zustand sich zeigten.
Als dann aber Spengel (Beobachtungen über
das Leben des Axolotl in Mexiko; Biol. Zentralbl.
1882. 2) nach dem mexikanischen Naturforscher
Velasco mitteilen konnte, daß diese Tiere daselbst
regelmäßig sich verwandeln, sobald das Wasser
anfängt abzunehmen und man später alle als
Amblystoma am Lande findet, konnte die Weis-
mann'sche Erklärung nicht mehr aufrecht erhalten
werden. Hatte vorher die Frage gelautet; „Unter
welchen Umständen kann die Verwandlung er-
folgen?", so lautete sie jetzt: „Welche Umstände
verhindern sie?" Tatsache bleibt dagegen, daß
der Axolotl in der Gefangenschaft nur ausnahms-
weise die Metamorphose eingeht, auch in Mexiko
im Axolotl- bzw. Siredon-Stadium sich fortpflanzt
und nach Velasco's Ansicht die Amblystomen eben-
falls geschlechtsreif werden. So findet Spengel,
es liege hier ein ausgesprochener Fall von
Paedogenesis vor, also eine Entwicklung der
Geschlechtsorgane auf einem Larven- resp. auf
einem frühen Entwicklungsstadium, wie sie bei
Mücken bereits bekannt war. Da handelt es sich
allerdings um eine Fortpflanzung durch unbe-
fruchtete Eier, während Siredon geschlechtlich
differenziert ist. Gleichzeitig konstatierte Velasco,
daß der Axolotl in anderen Seen heimisch sei,
als de Saussure mitgeteilt hatte, womit dann auch
die an jene Fundorte sich knüpfenden Folgerungen
hinfällig wurden.
Im Zool. Anz. 6, 1883 (Über die Fortpflanzung
von Amblystoma) machte Frl. v. Chauvin bekannt,
daß es ihr gelungen sei, 4 Axolotl während 3 Jahren
und 2 Monaten auf einer Zwischenstufe zwischen
Froschmolch und Amblj'stoma zu erhalten, indem
ihre Lungen genügend entwickelt waren, daß die
Tiere auch auf dem Lande hätten leben können.
2 wurden wieder zu vollständigen Axolotln um-
gebildet, I zur Amblystoma weiter geführt (das
vierte Objekt ging zugrunde), so daß diesen Tieren
eine merkwürdige P'ähigkeit innewohnt, sich den
jeweiligen Lebensbedingungen anzupassen.
Gleichzeitig mit den mitgeteilten Beobachtungen
über den berühmten Axolotl erfolgten diejenigen
über die Urodelen unserer europäischen Fauna.
Schon Schreibers hatte (Isis 1833) bemerkt, daß
die Larven des gefleckten Salamanders nicht nur
N. F. m. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
51S
im Freien als solche überwintern, sondern auch
ins zweite Jahr hinein in diesem Zustand ver-
bleiben, trotzdem die Metamorphose gewöhnlich
in 2 — 3 Monaten sich abspielt. So hatte er neben-
einander aus der gleichen Brut Larven und ent-
wickelte Tiere, jene 2 — 3 mal größer als diese und
gleich ihnen geschlechtlich differenziert. Es gelang
ihm oft, den Übergang aus dem Quappenzustand
in jenen des vollkommenen Tieres gewaltsam zu
verschieben.
De Filippi beobachtete 1861 in einem Tümpel
im Formazzatal (Oberitalien) viele Triton alpestris
in verschiedenen Stadien der Entwicklung. Auf
50 ausgewachsene traf er aber nur 2 kiemenlose,
während die anderen neben ihren larvalen At-
mungsorganen auch wohl entwickelte Geschlechts-
organe besaßen. Neben den Kiemen waren auch
die Lungen in Tätigkeit. Von anatomischen Merk-
malen ist zu erwähnen, daß die Wirbelkörper in
der Mitte eingeschnürt und wie bei Axolotl von
einem gleichmäßigen Chordastrang durchzogen
waren. Da er keiner älteren Exemplare habhaft
werden konnte, glaubt er, diese hätten sich zur
Überwinterung schon in den Schlamm verkrochen
und er zieht aus seiner Feststellung den Schluß,
daß bei den Amphibien die Geschlechtsreife nicht
durchaus als Kennzeichen des erwachsenen Zu-
standes gelten könne, wie sonst gewöhnlich an-
genommen wurde (Sulla larva del T. alpestris;
Archivio per la Zoologia 1861, übersetzt von
Siebold in Z. f. w. Zool. 28. 1877, wo er auf diese
Ausführungen besonders aufmerksam macht). 1869
fand Jullien bei Paris (Observations des tetards
de Lissotriton punctatus; C. r. Ac. sc.) 4 Larven
von Triton taeniatus mit völliger Entwicklung der
Geschlechtsorgane; die Weibchen besaßen wohl-
ausgebildete Eier, die Männchen dagegen waren
erst bis zur Bildung der Spermamutterzellen vor-
geschritten ; Spermatozoiden fehlten. Kurz nach-
her traf er solche Larven am Legen von Eiern ;
sie trugen noch die Kiemen und den Rückensaum,
wie auch der Kopf und die Füße noch Larven-
charakter aufwiesen.
1862 traf Fatio (Faune des vertebres de la
Suisse 1872 . . .) am Gotthardt überwinterte Tr.
alpestris-Ouappen, die jedoch nicht Geschlechts-
reife erlangt hatten.
Über Salamandra atra hat sodann wiederum
Frl. von Chauvin Versuche angestellt. Bekanntlich
ist diese Art lebendig gebärend. Sie entnahm
eine noch nicht völlig entwickelte Larve dem
mütterlichen Leibe und setzte diese ins Wasser.
Nun wurden die großen, fein gegliederten Kiemen
fallen gelassen und durch 3 Paar neue von un-
regelmäßiger, blasiger Form ersetzt. Während die
Altersgenossen dieses Tieres schon völlig ausge-
wachsen waren, verblieb es durch 14 Wochen im
Wasser und schickte sich dann endlich zur Meta-
morphose an, indem es zur Lungenatmung über-
ging, die Kiemen resorbierte, die charakteristische
runzliche Haut und einen gerundeten Schwanz er-
hielt. Also auch hier eine bedeutende Verlänge-
rung des Larvenlebens (Über das Anpassungsver-
mögen der Larve von S. atra; Z. f. w. Zool.
1877. 29).
Dasselbe konstatierte von Ebner an Triton
cristatus (Über einen Tr. cristatus mit bleibenden
Kiemen; Mitteil, naturwiss. Ver. Steiermark 1877).
Schon 186g war ihm eine Gruppe dieser Art mit
äußeren Kiemen und wohlentwickelten Hoden mit
reichlichen Spermatozoiden zu Gesicht gekommen.
Jetzt stieß er wiederum auf überwinterte Exem-
plare, die allerdings dann sich verwandelten. Im
Gegensatze zum Befunde von de Filippi, der gö^/j,
geschlechtlich entwickelte Quappen getroffen, han-
delte es sich hier nur um einzelne Tiere mit den
abnormen Verhältnissen. In einem 2150m hoch-
gelegenen See Tirols begegnete er noch spät, wie
jener, T. alpestris-Larven von normaler Größe und
Färbung, wiederum noch die Kiemen tragend.
Wenn diese Art also geneigt ist, in alpinen Wasser-
becken die äul3eren Atmungsorgane lange beizu-
behalten, so findet er nicht direkt in der Höhen-
lage den .Anlaß zum Aufschub der Metamorphose,
sondern er scheint ihm vielmehr eine Anpassung
an das Wasserleben zu sein, das für die Tritonen
hier von Vorteil ist. Auch darf der bloße Aufent-
halt im Wasser nicht als Hindernis der Meta-
morphose aufgefaßt werden, denn von einer An-
zahl Quappen des gefleckten Salamanders gingen
alle ein, weil ihre Verwandlung im Wasser er-
folgte und er sie nicht an die Oberfläche hatte
kommen lassen. Allerdings trat sie zu sehr ver-
schiedener Zeit auf: Objekte von der gleichen
Eiablage brauchten 9 — 120 Tage. Immerhin will
V. Ebner die Frage noch offen behalten, ob nicht
doch direkt äußere Einflüsse bei diesen Erschei-
nungen wirksam sind.
Gegen die Auffassung Weismann's, der in den
Abnormitäten im Larvenleben der Schwanzlurche
einen Rückschlag erblickt, wendet er ein, daß eine
dauernde Hemmung eines embryonalen Entwick-
lungsstadiums nicht als solcher, sondern vielmehr
als eine Bildungshemmung zu bezeichnen sei. Mit
jenem Ausdruck werden nur solche Erscheinungen
belegt, die in der ontogenetischen Entwicklung
vorkommen ; geschlechtsreife , kiementragende
Schwanzlurche müßten also eine phylogenetische
Vorstufe der heutigen Urodelen bilden, was ihm
nicht wahrscheinlich vorkommt. Da beim Axolotl
der ganze Organismus mit Ausnahme der Ge-
schlechtsorgane von der Bildungshemmung be-
troffen ist, so spielen~gewiß noch korrelative Ein-
flüsse mit, die ebenfalls den Charakter jener tragen.
Hamann (Über kiementragende Tritonen; Jena-
ische Zeitschr. 14. 1S80) hat ebenfalls kiemen-
tragende T. cristatus gefunden, deren Geschlechts-
organe noch nicht völlig entwickelt waren. Die
Lungen hatten normale Größe, waren mit Luft
erfüllt, daneben aber noch deutliche Kiemen vor-
handen. Die Gaumen- und Zahnbildung trug
Larvencharakter.
Auch Westhoff beobachtete eine Quappe von
T. taeniatus (Geschlechtsreife Larve von T. taeniatus;
516
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 33
Zool. Anz. 1893), welche die doppelte Größe der
normalen erlangt hatte, geschlechtlich differenziert
war und allerdings kleine äußere Kiemen besaß.
Ähnliche Beobachtungen machte ferner Dürigen
(Deutschlands Amphibien 1897).
Auch bei den Anuren kommen Verzögerungen
in der individuellen Entwicklung vor. Schon Fatio
sind Larven von Rana temporaria und esculenta
durch ihre Größe aufgefallen. Sie besaßen noch
keine Gliedmaßen, trotzdem in anderen Tümpeln
kleinere Quappen schon im Begriffe standen, ihre
Metamorphose abzuschließen. Solche große Larven
scheinen ihm in stehenden und warmen Gewässern
häufiger aufzutreten als in kalten und fließenden.
Doch ist er nicht sicher, ob solche in ihrer Ent-
wicklung rückständigen Tiere von späteren Ei-
ablagen herrühren möchten.
Die Riesenlarven von R. esculenta, von denen
Bruch (Der zoolog. Garten, 1864) berichtet, sind
nicht hier einzureihen , da er nur von abnormen
Größenverhältnissen spricht und keine zeitlichen
Verschiebungen in der Entwicklung erwähnt.
1878 sodann berichtet Wiedersheim (Über zwei-
jährige Alytes-Larven , Zool. Anz. l. 1878), daß
ihm Quappen der Geburtshelferkröte zukamen, die
im Mai 1876 das Ei verlassen hatten und bis zum
März 1877 im Wasser gehalten werden konnten.
Auch jetzt noch trugen sie den für die Larven
charakteristischen Hornschnabel, den Ruderschwanz,
den spiralig gerollten Darm und fand die Atmung
durch Kiemen statt, trotzdem sie bereits eine
Länge von 6 cm erreicht hatten. Ihm scheint hier
eine Entwicklungshemmung vorzuliegen.
Auf dem gleichen Standpunkt steht Brunk
(Ein neuer Fall von Entwicklungshemmung der
Geburtshelferkröte, Zool. Anz. V. 1882), der sogar
über 2V., Jahre alte Larven von fast 8 cm Größe
erhielt. Sie besaßen den Hornschnabel, wohl-
entwickelte Lungen, machten aber von der Ge-
legenheit, ans Land zu gehen, keinen Gebrauch.
Auch bei Pelobates fuscus verläuft die Ent-
wicklung ganz ungleich rasch, denn Pflüger (Das
Überwintern der Knoblauchkröte, Arch. f. Physiol.
31. 1883), traf noch im Februar unter dem Eise
kräftige Larven dieser Art, so daß ein Teil der
Kröten aus solchen überwinterten Quappen her-
hervorgeht. Als Ursachen, die eine Verzögerung
der Metamorphose herbeirufen können, führt er
schlechte Verhältnisse der Ernährung und des
Aufenthaltes, ferner aber auch mechanische Er-
schütterungen an.
In einem Referat über eine ausführliche Arbeit,
die in Atti Acad. Torino 1883/4 erschienen, kommt
Camerano (Ricerche intorno alla vita branchiale
degli Anfibi, Zool. Anz. 6. 1883) zu Sätzen, die
nach ihrem Inhalt kurz wiedergegeben werden
mögen. Die größte Verkürzung im Kiemenleben
der Amphibien zeigt die lebendig gebärende Sala-
mandra atra, die größte V^erlängerung Proteus,
Axolotl , Triton , indem beim ersten die Kiemen
immer und zeitlebens, beim letzten oft auch
im alten Tiere erhalten bleiben. In der Verlänge-
rung des Wasserlebens verhalten sich die Anuren
und Urodelen verschieden: jene vollziehen die
Metamorphose in der nächsten schönen Jahreszeit,
es handelt sich also um eine einfache Verzöge-
rung, oder diese erstreckt sich auf mehrere Jahre,
wobei das Skelett, das Nervensystem und die At-
mungsorgane der Form des entwickelten Tieres
wenigstens sich nähern, Geschlechtsorgane aber
nicht zur Ausbildung gelangen. Bei den Urodelen
hingegen tritt oft eine Anpassung an das Wasser-
leben ein, indem das Tier in diesem Medium ge-
schlechtsreif wird, so daß als Folge hiervon ein
Polymorphismus zur Geltung kommt: eine ge-
schlechtlich entwickelte Wasser- neben einer eben-
solchen Landform. Er würde also beide, ohne
Rücksicht darauf, ob Kiemen- oder Lungenatmung
vorliegt, als erwachsen bezeichnen. Die Tendenz,
die erstere beizubehalten, macht sich bei den ver-
schiedenen Gruppen der Amphibien in absteigen-
dem Maße geltend; bei Triton alpestris ist die
Lungenform noch die Regel , bei Axolotl bloß
häufig, während sie Proteus ganz aufgegeben hat.
1883 erschien die eingangs erwähnte Arbeit
von Kollmann (auch 1884: Hivernage des gre-
nouilles, Recueil zoolog. suisse), in der wieder
neue Gesichtspunkte geltend gemacht werden.
Auch er beobachtete an Pelobates fuscus die Ver-
längerung des Larvenlebens und bezeichnet die
Erscheinung als Neotenie, weil sie als eine eigen-
artige ähnlichen bisher bekannten gegenübergestellt
werden muß. Es kann hier weder von Rück-
schlag, noch auch von Entwicklungshemmung die
Rede sein, weil dieser eine pathologische Ursache
zugrunde liegt und sie sich nur auf einzelne Or-
gane oder Bildungen, wie Hasenscharte, Wolfs-
rachen und ähnliches erstreckt. Bei der Neotenie
dagegen handelt es sich um ein dauernd gewordenes
Entwicklungsstadium , das in einer der Larven-
form entsprechenden Richtung sich weiter um-
gestaltet. Man hat also wohl zu unterscheiden
zwischen dem ungeschlechtlichen Axolotl- und dem
geschlechtlichen Siredon-Stadium. Die ursprüng-
liche ontogenetische Entwicklung geht von jenem
zur lungenatmenden Amblystomaform und erst
nachträglich ist als Anpassung an äußere und
innere Umstände die Siredonstufe aufgetreten. Auch
die Tatsache, daß die innere Organisation der
äußeren in der Entwicklung vorauseilt, muß gegen
die Auffassung der Erscheinung als Entwicklungs-
hemmung ins Gewicht fallen. Die Anuren-Larven,
die überwintert haben, aber als solche nicht ge-
schlechtsreif werden, zeigen die Neotenie nur teil-
weise, bei den Urodelen dagegen liegt sie voll-
ständigTund^ausgesprochen vor, denn sie erstreckt
sich nicht nur auf die äußere Körperform, sondern
auf die gesamte innere Organisation, die Musku-
latur, den Darm, die Schädelbildung usw. In
„Die Anpassungsbreite der Batrachier und die
Korrelation der Organe" (Zool. Anz. 7. 1884) be-
tont der gleiche' Autor, daß nicht die Geschlechts-
organe den größten Einfluß auf die Ausgestaltung
des Körpers besitzen, denn bei ihrer Anwesenheit
N. F. III. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
51;
behält Siredon die jugendliche Axolotlform bei.
Ferner tragen die überwinterten Riesenlarven der
Anuren schon wohlentwickelte Lungen, die allerdings
zur Atmung noch nicht ausreichen. Solange also
Kiemenatmung besteht, verharrt der Körper auf
einer jugendlichen Entwicklungsstufe. Sobald aber
die Lungen wirklich in Funktion treten, ändert
sich die Sache sofort, indem eine Umgestaltung
der Muskulatur, der Knochen, das Darmes daran
sich knüpft: die volle physiologische Entwicklung
der Lungen hat alle diese — korrelativen — Ver-
änderungen im Gefolge.
Dürigen konstatiert seinerseits (Deutschlands
Amphibien und Reptilien, 1897), daß ungünstige
Herbstwitterung und früiizeitiger Winter, Mangel
an Licht und Wärme, Wasser- und Nahrungs-
mangel die Entwicklung und Metamorphose der
Amphibienlarven verzögern und hemmen. Gleichen
Einfluß haben auch steile Ufer und Einfassungen,
welche die Quappen zum Verbleiben im Wasser
nötigen. Die Neotenie „geht so weit, daß der
Organismus dieser Wesen einige der jugendlichen
Merkmale sogar mit in das Landleben hinüber
nimmt, wie sich überhaupt die verschiedensten
Zusammenstellungen ergeben. Bald ist es der Darm,
bald die Lungen oder Kiemen, bald die Körper-
form, die Färbung, die Haut und der Schädel,
bald mehrere von diesen Dingen , welche das
frühere Gepräge beibehalten."
In 2 Arbeiten kommt auch Boas auf die Am-
phibien und die neotenischen Erscheinungen zu
sprechen. Seine Untersuchungen „Über den Conus
arteriosus und die Arterienbogen der Amphibien"
(Morphol. Jahrbuch. 7. 1882) führen ihn zu dem
Schlüsse, daß die Perennibranchiaten Larvenformen
darstellen, welche die Fähigkeit der Umwandlung
verloren haben, folglich keine primitiven, sondern
abgeleitete Arten und neueren Datums sind. So
stellt er sich in geraden Gegensatz zu der ge-
wöhnlichen Auffassung, derzufolge jene die niederste
Stufe der Amphibien bilden würden. In der zweiten
Arbeit „Über Neotenie", 1896, betont er seinen
Standpunkt neuerdings und weist zugleich nach,
daß ,,die Persistenz einzelner oder mehrerer Charak-
tere, die bei Formen, von denen die betreffenden
Tiere abstammen, im jugendlichen Zustande, nicht
aber bei erwachsenen, geschlechtsreifen Tieren vor-
handen waren" eine im Tierreich weit verbreitete,
bisher allerdings wenig beachtete Erscheinung ist.
Plate endlich (Deszendenztheor. Streitfragen,
Biolog. Zentralblatt 1903) will nicht wie Boas die
Bezeichnung Neotenie auf alle Fälle angewendet
wissen, in denen einzelne Merkmale zur Zeit der
Geschlechtsreife noch den embryonalen Charakter
bewahren, sondern schränkt ihn wie Kollmann auf
diejenigen ein, der die Geschlechtsorgane allen
übrigen in ihrer Entwicklung vorausgehen, diese
also die jugendliche Form beibehalten; sie ist
eine besondere Form von Hemmungsbildung,
welche das Vorkommen fortpflanzungsfähiger
Larven in sich begreift.
Bei den Anuren im geringsten Maße auftretend,
steigern sich sonach in der Klasse der Amphibien
die neotenischen Erscheinungen bei den euro-
päischen Urodelen und noch mehr bei den ameri-
kanischen Amblystomen, um in der Unterordnung
der Perennibranchiaten endlich zu Formen zu
führen, die ihre definitive Plntwicklung gar nicht
mehr erreichen, sondern ausnahmslos auf einem
Jugendstadium, als Fischmolche, geschlechtsreif
werden und auf diesem stehen bleiben. Dieses
Stadium wäre demgemäß nicht als eine phylo-
genetische Vorstufe in der Entwicklung der Am-
phibien, sondern ähnlich den Insektenlarven in An-
passung an bestimmte Lebensbedingungen als
palimgenetische Formen aufzufassen.
Kleinere Mitteilungen.
Was sind Juden.' — Dr. C. H. St ratz
hat sich die Beantwortung dieser Frage durch
eine ethnographisch - anthropologische Studie
zur Aufgabe gemacht. Verfasser hat die Juden
nicht nur in Europa, sondern auch in anderen
Weltteilen kennen gelernt.
Die Urteile der verschiedenen Autoren über
die Juden gehen außerordentlich weit auseinander,
die meisten begnügen sich mit einer negativen
Behauptung, indem sie den Juden den Charakter
einer Rasse und den eines Volkes überhaupt ab-
sprechen, ohne zu beweisen, was die Juden denn
eigentlich sind. Nach der Meinung von St ratz
wird die große Verschwommenheit der Definition
über die Juden in den wissenschaftlichen Büchern
hauptsächlich dadurch hervorgerufen, daß der
ethnographische und der anthropologische Stand-
punkt der Beurteiler nicht streng genug geschieden
wird. Wir wissen vom ethnographischen Stand-
punkte aus, daß es vor 2000 Jahren ein jüdisches
Volk gab, das seine eigene Sprache und Kultur
hatte und als wichtigster Träger des monotheisti-
schen Gottesgedankens einen tiefgreifenden Einfluß
auf die geistige Entwicklung der heute am höchsten
stehenden Kulturvölker Europas ausgeübt hat. Vom
anthropologischen Standpunkt haben wir Europäer
uns einen bestimmten körperlichen Typus zurecht
gemacht, der mit Vorliebe der semitische ge-
nannt und in schroffen Gegensatz zum ger-
manischen Typus gebracht wird.
Als Volk haben die Juden vor etwa 2000 Jahren
ihre kulturgeschichtliche Mission erfüllt und dann
aufgehört zu bestehen. Alle späteren Stufen der
Entwicklung europäischer Völker fußen auf dem
alten Kulturschatz der Juden, den diese nach der
Zerstörung ihres Reiches in alle Länder hinaus-
trugen. Christentum und Islam sind entwicklungs-
geschichtlich begründete Umbildungen des jüdischen
5i8
Naturwissenschaftliche Woclieiischrift.
N. F. III. Nr. 33
Glaubens, indem die jüdische Bibel immer noch
die Grundlage aller herrschenden theologischen
Begriffe ist.
Wenn ein Jude daher seinen Glauben mit dem
christlichen oder muhammedanischen vertauscht,
so tritt er dadurch kaum aus seiner eigenen Sphäre
heraus. Da er in der neuen Umgebung dieselben
leitenden Gedanken wiederfindet, die seine Väter
dereinst beseelten, wird es „ihm leicht", sich dem
Volke anzuschließen, in dessen Mitte er lebt, ein
Erbe unter Erben seiner eigenen Vergangenheit.
Vom kulturhistorischen Standpunkt sind dem-
nach die Juden ein Volk gewesen. Ihr Kultur-
besitz ist heutzutage in die Hände der höchst-
entwickelten Völker übergegangen ; ihre Nach-
kommen haben sich zum Teil in diesen Völkern
aufgelöst, zum Teil innerhalb derselben ihre alte
Kultur in der ursprünglichen Form bewahrt. Heut-
zutage ist ein Jude kein Jude mehr, sondern ein
Deutscher, ein Franzose, ein Engländer oder Portu-
giese mosaischer Konfession. Hieraus ergibt sich,
daß der Glaube allein heutzutage zur Definition
der Juden nicht genügt. Betrachten wir die Juden
vom anthropologischen Standpunkt aus, so ge-
hören sie ihrer Abstammung nach der mittel-
ländischen, weißen, früher indogermanisch, kau-
kasisch oder arisch genannten Rasse an. Von den
asiatisch-indischen Stammsitzen aus hat sich diese
Rasse in drei Zweigen über die westlich gelegenen
Länder verbreitet, der nordische über Nordeuropa,
der romanische über die europäischen Mittelmeer-
länder und der dritte über die afrikanischen Mittel-
meerländer. Zu diesem dritten, nordafrikanischen
Zweige zählen auch die Juden. Bei ihrem Auf-
treten in der Geschichte waren sie bereits ein
sehr hochstehendes Kulturvolk, bildeten demnach
wie alle Kulturvölker keine reine Rasse im strengen
Sinne des Wortes, sondern ein Gemisch der ver-
schiedenen in ihnen aufgegangenen Urvölker. Was
das für Urvölker waren, ist ebensowenig bei den
Juden auszumachen, als bei der weißen Rasse
überhaupt.
Was in Europa als Judentypus angesehen wird,
ist im Grunde genommen nichts anderes, als der
Typus jenes dritten, nordafrikanischen Zweiges der
großen, weißen Rasse, von dem die Juden die
einzigen Vertreter innerhalb der anderen Rassen-
zweige geworden sind.
Charakteristisch für diesen Typus sind nament-
lich die etwas wulstigen Lippen, die von der
nigritischen Beimischung herrühren, ein mulatten-
hafter Zug und die großen, meist dunkeln Augen
mit stark entwickeltem oberen Augenlid. Diese
körperlichen Eigenschaften sind aber, wie unser
Autor durch eigene Anschauung betont, keines-
wegs ausschließlich jüdische. Dieses ergibt sich
sofort, wenn man von Europa aus in Gegenden
kommt, die in größerem Maße oder vorwiegend
vom dritten weißen Zweige bevölkert sind. So
finden sich in Spanien, im Norden Afrikas, im
Osten Europas auf der Balkanhalbinsel, in Klein-
asicn zahlreiche „jüdische" und ,, judenähnliche"
Gesichter.
Bei den europäischen Juden kommen die Merk-
male der weißen Rasse in ganz besonders scharfer
Weise zum Ausdruck. Neben schlanken Gestalten
finden sich zahlreiche andere, bei denen alles
plump, kurz, dick ist, welche Zweiteilung sich
wahrscheinlich bei allen Kulturrassen nachweisen
läßt.
Die europäischen Juden zeichnen sich aber
nicht nur durch einen stärker ausgesprochenen
Charakter der weißen Rasse im dritten Zweige
aus, sondern auch durch einen größeren Prozent-
satz von körperlich fehlerhaften Individuen sowohl
vor dem Volke, in dem sie leben, als auch vor
den nichteuropäischen Juden. AuI3er krummen
Beinen, platten Füßen, runden Rücken, flachen
Brustkasten finden sich bei ihnen erbliche kon-
stitutionelle Krankheiten, wie Gicht, Zuckerharn-
ruhr, rheumatische Leiden u. a. weit häufiger ver-
treten. Im Gegensatz hierzu sind ihre geistigen
Anlagen in ungewöhnlichem Maße entwickelt und
übertreffen im Prozentsatz weit diejenigen ihrer
Umgebung. Kranke und häßliche Juden sieht
man häufig, dumme fast nie. Dieses läßt sich nach
St ratz ungezwungen aus den sozialen Umständen
erklären, in denen die Juden seit Jahrhunderten
verkehrten. Durch eigenen Willen und durch
äußeren Zwang nahmen sie eine isolierte Stellung
unter den sie umgebenden Völkern ein, und waren
daher auf stärkere Inzucht angewiesen, die ein
immer stärkeres erblich werdendes Hervortreten
der individuellen Charaktere zur Folge hatte. Viele
Erwerbscjuellen, die einen kräftigen Körper ver-
langen, so namentlich Jagd, Landbau und
Kriegsdienst, waren ihnen verschlossen, so daß
sich ihre Zuchtwahl mehr und mehr auf Vervoll-
kommnung geistiger Eigenschaften verlegen mußte.
So hat sich im Laufe der Zeiten der eigentüm-
liche jüdische Typus gebildet, der in Europa als
für den Juden charakteristisch angesehen wird.
Es sind aber nicht nur Juden, die so aussehen,
vielmehr ist es Tatsache, daß sich der jüdische
Typus unter allen Rassen der Erde bei einzelnen
Individuen und P'amilien findet. Baelz fand u. a.
den semitischen Typus bei den Japanern, D e n i k e r
unter den in starker Inzucht lebenden Todas, von
den Steinen bei den Bakairi und St ratz selbst
bei nordamerikanischen Indianern, z. B. den Creeks
und Choctaws und bei den Indonesiern. Bei den
Papuas und bei den Kaffern ist ebenfalls semitischer
Typus konstatiert worden. Auch die alten Inkas
haben häufig den „jüdischen" Typus besessen.
St ratz kann aus eigener Erfahrung bezeugen,
daß er edle jüdische Gesichter nicht nur in java-
nischen F"ürstenfamilien, sondern auch in allen ur-
deutschen und urfranzösischen Aristokratenfamilien
sah und ebenso in alten niederländischen Familien.
Der eigentliche rein jüdische Typus unter-
scheidet sich demnach im wesentlichen nicht von
dem des nordafrikanischen Zweiges der mittel-
ländischen Rasse. Der in Europa als kennzeichnend
N. F. m. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
519
aufgefaßte Judentypus ist keine Eigentümhchkeit
der Juden allein, sondern findet sich mehr oder
weniger häufig unter sämtlichen Rassen der Erde.
Er ist weder ein Stammes- noch ein Rassen-
charakter, sondern lediglich eine durch starke jahr-
hundertelange Inzucht erblich gewordene Anhäufung
von individuellen Abweichungen, eine stärkere
Hervorhebung der Individualität im Gegensatz zu
den allgemeinen Rassenmerkmalen.
Dr. Alexander Sokolowsky.
Gigantische Spermien beschreibt Ballowitz
(Arch. f. mikrosk. Anatomie u. Entwicklungsgesch.).
Sie stammen von Discoglossus pictus Otth., einem
Batrachier, dessen Familie den Raniden ver-
wandt ist. Die Samenfäden haben eine durch-
schnittliche Länge von 2,5 mm, sind also etwa
50 mal so groß, wie die des Menschen. Aber
das merkwürdigste an ihnen ist doch ihre Gestalt.
Sie haben einen langgestreckten fadenförmigen
Bau und sind über ihre ganze Eänge spiralig ge-
dreht. Die vordere Hälfte gehört dem Kopf, die
hintere dem Schwanz oder Geißelfaden an. Letz-
terer ist stärker gedreht wie das Kopfstück und
ist umgeben von einem im gleichen Sinne spiralig
herumgewundenen Membranblatt, dessen Anhef-
tungslinie den Achsenfaden in flachen Spiralen
umläuft. Die freie Kante der Membran ist zu
einem Randfaden verdickt, der seinerseits gewisser-
maßen zu lang ist und dadurch die Membran wie
eine Krause gefältelt erscheinen läßt. Am hinteren
Ende des Samenfadens wird die Membran niedriger
und der Randfaden verschmilzt schließlich mit
dem Achsenfaden. Dagegen sind am vorderen
Ende des Samenfadens die Windungen des Kopfes
kürzer und höher und zugleich ist die Spitze des-
selben von harter, brüchiger Konsistenz, ausge-
zeichnet geeignet, um die Oberfläche des Eies
zu durchbohren. Aber mit dieser komplizierten
Spiraligkeit noch nicht genug! Am Verlötungs-
punkte des Schwanzes mit dem Kopfe befindet
sich ein dickeres \'erbindungsstück. ."^uch dieses
zeigt noch spiralige Anordnung. Es legt sich um
die Verbindungsstelle in i '/., bis 2 Windungen
herum. Die Verbindungsstelle zwischen Schwanz
und Kopf zeigt ebenfalls ein eigenartiges Ver-
halten. Das vordere Ende des Schwanzes ist zu
einem konischen Zapfen zugespitzt und in den
Kopf hineingesteckt, etwa wie die einzelnen Teile
einer Zeltstange ineinandergesteckt werden.
Leider sind wir noch sehr weit davon entfernt,
den Sinn aller dieser Vorrichtungen zu begreifen.
Denn nach dem Prinzip, daß die Natur ihre Ziele
auf die sparsamste Weise erreicht, muß jede ihrer
Erscheinungsformen im letzten Ende entweder
durch die Tätigkeit oder die Entwicklungsgeschichte
derselben bedingt sein. Ernst Rüge.
Blattformen von Quercus Hex L. — Wäh
rend bei zahlreichen Pflanzen die Blätter außer-
ordentlich einförmig und regelmäßig in der ihnen
eigentümlichen Art ausgebildet werden und nur
Größe und Dicke der Spreite einer gewissen
Variabilität unterworfen ist, gibt es wieder andere,
bei denen kein Blatt dem andern gleicht und
tausenderlei Modifikationen des
Grundplans dem aufmerksamen
Beobachter entgegentreten. Be-
kaimt ist diese letztere Erschei-
nung ja in erster Linie vom
Epheu. Hier unterscheiden sich
zunächst die Blätter der freistehen-
den blütentragenden Zweige durch
ihre einfache Form von den gelapp-
ten Blättern der kletternden Äste.
Wenn man aber unter diesen
beiden Hauptgruppen weitere Ver-
gleiche anstellt, so sieht man, daß
dieselben nicht scharf gesondert
sind, sondern durch zahlreiche
Mittelglieder ineinander übergehen.
Können wir auch als Ursache des
einfachen Dimorphismus die Ver-
schiedenheit der Beleuchtung resp.
der durch sie hervorgerufenen Transpiration er-
kennen, so scheint uns dieses Erklärungsprinzip
im Stiche zu lassen, wenn wir den Polymorphis-
mus ins Auge fassen.
Ein zweites Beispiel solcher Formenmannig-
Fig. I. Normal-
blatt von Qu. Hex
L. Montpellier.
Fig. la.
Fig. 2 a.
Fig- 3 a-
Fig. 1 b. Fig. 2 b.
Sonnenblätter von Qu. Hex L.
la — 3a von sonnigem Standort.
Ib-2b
schattigem Standort.
520
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 33
fahigkeit liefern gewisse Eichen, besonders die in
den Mittelmeerländern heimische Steineiche, Qucr-
cus Hex L. An den beigefügten Bildern ist er-
sichtlich, welchen Grad hier die Abweichungen
erreichen können. Wer nicht wüßte, daß wir es
hier mit ein und derselben Art, teilweise sogar
mit Blättern desselben Baumes zu tun haben,
untenstehende Sammlung sei im Jahr 120000 aus
einer fossilführenden quartären Schicht ausgegraben
worden und harre nun der wissenschaftlichen
Gruppierung und Benennung. Der gelehrte For-
scher wird die Abbildungen aller bekannten Eichen
— denn daß es Eichen seien , habe er glücklich
herausgefunden — aufschlagen und die ähnlichsten
Fig. 4 .1 c/.
Fig. 4a/5.
Fig. 5 a ff.
Fig. 5 a/?.
Fig. 3 b. Fig. 4 b. Fig. 5 b.
SchattenbläUer von Qu. Hex L. 4a — ja von sonnigem Standort
Fig. 6.
3b — 5b und 6 von schattigem Standort.
der würde hier eine ganze Sammlung verschiedener
Spezies vermuten müssen. Das Normalblatt, wie
es sich zumeist in Büchern und in den Köpfen
der Systematiker der „guten Arten" festgesetzt
hat, ist etwa das in der ersten Figur abgebildete.
Jeder Kenner der Eichen würde dasselbe sofort
richtig bestimmen.
Nun stellen wir uns aber einmal vor, die ganze
Formen heraussuchen. Er wird hierbei ungefähr
zu folgendem Resultat kommen :
1 a dürfte Qu. Oajacana Liebm. aus Mexiko sein,
oder Qu. reticulata H. u. B., eine auf den Bergen
von Arizona, Neu-Mex. , u. Mex. wachsende Art.
I b hat am meisten Ähnlichkeit mit Qu. cus-
pidata Thg., die in der zweitwärmsten Zone Japans
zu Hause ist.
N. F. III. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
521
2 a kann Qu. arizonica Sarg, aus Neu Mex. od.
dysophylla aus Mex. sein.
2 b hat etwelche .Ähnlichkeit mit gewissen
Formen von Qu. virens Ait; die von Costa Rica
bis N. Carolina in der Nähe der Küste gedeiht;
oder auch mit dilatata Lindl. aus dem östlichen
Himalaya.
3 a erinnert stark an Qu. Griesebachii Ky. aus
Albanien und an phillyreoides aus Japan.
3 b dürfte Qu. sclerophylla Lindl. aus N. -China
oder inversa aus N.-China, Hongkong und Japan,
xanthoclada aus Tonkin oder endlich glaberrima
Bl. aus Afghanistan sein. Auch Qu. hypoleuca
Englm. aus dem mexikanischen Gebirge u. Jung-
5 3/9 kann Qu. Aegilops L. aus Epirus, glabres-
cens Benth. von Orizaba, lusitanica Webb. vom
Libanon, oder segoviensis Liebm. aus Guatemala
sein.
5 b erinnert ebenfalls an Formen von Qu. Aegi-
lops aus Cilicien u. Syrien, oder an persica Ky.
aus Kurdistan u. .Sadleriana R. Br. aus dem Staate
Oregon.
6 endlich ist Qu. brachystachys Benth. aus
Guatemala, dilatata Lindl. aus Afghanistan, oder
eine Form von agrifolia Nee aus Californien oder
auch von semecarpifolia Wall, aus dem Himalaya.
Der gelehrte Forscher stände also vor der
schwierigen Frage, wie er ca. 35 Namen unter 13
Fig. 7- Blätter eines Baumes von Qu. falcata Mchx. a Sonnenblatt
Schattenblatt.
huhnii aus Java kommen dieser Form sehr nahe.
4a« ist unzweifelhaft die in Cypern endemische
Qu. alnifolia Poech.
4a/i? hat als nächste Verwandte: Qu. faginea
A. DC. aus Spanien, macedonica A. DC. aus Mace-
donien u. Dalmatien, incana Roxb. aus Kumaon
u. Nepal, Karduchorum Ky. aus dem Taurus u.
glandulifera Bl. aus den Bergen Japans.
4 b erinnert noch stark an 3 b und dürfte daher
ebenfalls als Qu. sclerophylla zu bestimmen sein.
5 a a entspricht am besten Qu. dumosa Nutt.
aus Californien, coccifera L. aus dem Mittelmeer-
gebiet, semecarpifolia Sm. aus der Baumgrenze des
Himalaya (Nepal, Kumaon), spinosa A. David aus
der chinesischen Provinz Hupeh, und chrysolepis
Liebm. aus der Küstenkette des westlichen Nord-
amerika.
Bewerber verteilen soll, denn ich fürchte, auch
wenn er der Übermensch in höchst eigenster Person
wäre, würde er schwerlich auf den allein richtigen
Ausweg verfallen. Wir können uns daher glück-
lich schätzen, nicht selber in diese Klemme ge-
raten zu sein, sondern alles als Qu. Hex L. be-
stimmen zu dürfen; denn daß auch 5aa und alle
übrigen sicher daher stammen, habe ich entweder
mit eigenen Augen gesehen, oder es wird mir
eben so sicher verbürgt durch den Namen von
Herrn Dr. H. Christ, der mir einen großen Teil
derselben zusandte. Nun ergibt sich aber aus dem
Überblick über alle Möglichkeiten der Benennung,
daß hier einzig solche Arten in Frage gekommen
sind, die ein dem mediterranen mehr oder weniger
klimatisch entsprechendes Gebiet bewohnen. Immer
kehren die Standorte Mexico, südl. Ver. Staaten,
522
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 33
Kalifornien, Kleinasien, Persien, Afghanistan, Teile
des Himalaya und Chinas, hie und da auch Japan
wieder. Dies kommt nun nicht etwa daher, weil
die Formen des Eichenblattes mit den hier an-
geführten wenigen Arten erschöpft wären, — die
200 übrigen weisen noch ganz andere Gestalten
auf — , aber diese letzteren bewohnen zum grötiten
Teil auch ganz andere Gebiete. Wir sehen also
daraus, daß das Klima den Spielraum der Variation
der Blattgestalt festlegt, und daß ein bestimmtes
Klima in einer gewissen Pflanzengruppe eine ganz
bestimmte Normalform erzeugt hat, welche die
verschiedensten Arten dieser Gruppe hier zu ver-
wirklichen streben. Nun sind aber an ein und
demselben Ort die klimatischen Faktoren manchen
Schwankungen unterworfen und es muß daher,
wenn der obige Satz richtig ist, von vornherein
zu erwarten sein, daf5 die kleineren Abweichungen
der Form auch diesen Klimaschwankungen parallel
gehen werden. Dies ist nun in der Tat bei Qu.
Hex in auffallender Weise der Fall. Der Serie A
unserer Abbildungen stellt Pflanzen von sonnigen,
die Serie B solche von schattigen Standorten, also
aus dichteren Beständen dar. i a — 3 a, sowie i b
bis 2 b sind .Sonnenblätter, 4 a — 5 a und 3 b — 6
Schattenblätter dieser Reihen. Was die Serie A
von B unterscheidet ist hauptsächlich die geringere
Größe der ersteren, die offenbar mit dem geringeren
Wassergehalt des Bodens und der erhöhten Trans-
spiration zusammenhängt. In beiden Serien sehen
wir aber mit dem Übergang vom Sonnen- zum
Schattenblatt zahlreiche Zähne oder kurze Lappen,
Stacheln und fadenartige Verlängerungen der
Sekundärnerven erscheinen. Die verminderte Wasser-
abgabe im Schatten, resp. der die Verdunstung
überwiegende Wasserandrang treibt die Sekundär-
nerven über den Rand des Blattumfanges heraus.
Am schattigen Standort vermag auch das zwischen
den Sekundärnerven gelegene Gewebe diesem
Wachstum zu folgen, während am sonnigen Stand-
ort hier doch die Transpiration die Entwicklung
hemmt, daher dort Fadenlappen, hier Zahnbuchten
entstehen. Dementsprechend sehen wir auch bei
den zur Vergleichung herbeigezogenen Arten die
Herkunft: Himalaya, China oder nördlichere Ge-
biete Amerikas besonders bei den Schattenblättern
ähnlichen Typen wiederkehren, was darauf hin-
weist, daß bei der Entstehung dieser Formen die-
selben physikalischen Ursachen wirksam gewesen
sein müssen wie hier. Ich habe in einer früheren
Arbeit den genaueren Vorgang dieser Lappen- und
Buchtenbildung an Hand von Experimenten be-
schrieben (Flora 1902).
Qu. Hex ist nicht die einzige Eichenart, die
diese Einflüsse klimatischer Faktoren auf die Blatt-
gestalt so schön studieren läßt. Ganz in gleicher
Weise reagieren auch die Blätter von Qu. chryso-
lepis Libm., dumosa Nutt., dilatata Lindl., seme-
carpifolia Sm. und spinosa A. David. Die Ver-
änderungen der Form entsprechen bei diesen Arten
ganz genau denjenigen von Qu. Hex und auch
hier gehen sie in gleicher Weise den Transpira-
tionsbedingungen parallel.
Daß sich die nördlichen Arten in Beziehung
auf den Einfluß gesteigerter Verdunstung in ge-
wissem Sinne umgekehrt verhalten, habe ich in
der oben erwähnten Arbeit schon gezeigt. Da
ich jedoch gerade ein sehr instruktives Beispiel
dieser Art von Herrn Prof Dr. R. E. B. Mc Kenney
in Washington erhalten habe, sei dies noch beigefügt.
Bei Qu. falcata Mchx. (Fig. 7) wird, wie bei allen
gelappten und fadenlappigen Formen, durch die
gesteigerte Transpiration die Ausbildung der Blatt-
substanz zwischen den hier weiter auseinander-
liegenden Sekundärnerven gehemmt und es ent-
stehen am Sonnenblatt die tiefen Buchten. Beide
Blätter stammen von demselben Baum.
Dr. W. Brenner.
Zur Systematik der Erdkunde. — Kürzlich
hat I"'. V. Richthofen in einer gedankenvollen
Rektoratsrede über „Triebkräfte und Richtungen
der Erdkunde im 19. Jahrhundert" von neuem
daraufhingewiesen, daß die Anfänge der Geographie
ungeschrieben sind, weil sie schon in vorgeschicht-
licher Zeit liegen. ,,Früh wendet sich der Geist
großer Denker dem höchsten Probleme des Wesens
der Dinge, der Anordnung des Universums und
der Gestalt der Erde zu ; .... aber auf den
meisten Gebieten der Erdkunde, zu denen auch
der Gesamtbereich der physischen Geographie ge-
hört, konnte wissenschaftliche Behandlung nur
wenig vor Beginn des 19. Jahrhunderts eintreten;
denn erst mußten andere grundlegende Wissen-
schaften derselben fähig sein." So ist die neuere
P>dkunde erst im verflossenen Jahrhundert an der
Berührungsstelle völkerkundlicher, geschichtlicher,
Staats- und volkswirtschaftlicher Wissensgebiete
mit fast der ganzen Reihe der Naturwissenschaften
erwachsen, und wie stets bei jungen Wissenschaften,
welche die Grenzen ihrer Forschung erst abstecken,
zeigt trotz des ehrwürdigen Alters der Erdkunde
die geographische Auffassung und Methode viel
subjektive Eigenart der Forscher, ein weites Aus-
einandergreifen der leitenden Gesichtspunkte, unter
denen die Tatsachen angeschaut werden. Diese
lebensvolle Mannigfaltigkeit derRichtun-
gen bei der Erkenntnis erdkundlicher Gegen-
stände ist von höchstem Reiz; aber es ist auch
notwendig, in der Gesamtheit der Forschungen
sich immer wieder der Einheitlichkeit der
geographischen Wissenschaft zu erinnern. Des-
halb ist jeder Versuch einer brauchbaren S>'Ste-
matik mit Dank zu begrüßen. Das neue umfang-
reiche Verzeichnis des großen Bücherbesitzes der
Berliner Gesellschaft für Erdkunde bietet solche
Systematik der Erdkunde. Sie ist vom Bibliotheks-
assistenten Herrn Dr. Dinse entworfen.
Selbstverständlich ist vor allem die „Allge-
meine Erdkunde" von der „Länderkunde"
geschieden. Hat diese es mit der Summe aller
Erscheinungen zu tun, welche die Eigenart eines
örtlich umgrenzten Gebietes ausmachen , so ver-
folgt jene unter sich gleichbleibenden Gesichts-
punkten gewisse Kräftewirkungen oder tatsächliche
Zustände über den ganzen Erdball hin, greift auch
N. F. III. Nr. 33
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
523
wohl über ihn hinaus ins Weltall. — Die Literatur,
welche sich mit allgemeiner Erdkunde beschäftigt,
teilt Dr. Dinse, wenn man von der Bibliographie,
den Sammel- und Festschriften, den Arbeiten über
Onomatologie absieht, in 8 Gruppen. Die ersten
beiden befassen sicii mit der Geschichte der
Erdkunde und mit der der Kartendarstellungen.
Die Unterabteilungen der Geschichte der Erdkunde
halten die Einteilung in Vorgeschichte (iVIythen),
Altertum, Mittelalter, Zeit der Entdeckungen,
Neuere Zeit (16. — 18. Jahrh.) und Gegenwart fest;
doch wird im einzelnen nicht rein zeitlich, sondern
auch sachlich angeordnet, beispielsweise im Ab-
schnitt ,, Zeitalter der Entdeckungen" der Weg
nach Süd und Ust \'on dem nach West und dem
nach Südwest geschieden. Die Geschichte der
Kartographie ist natürlich in Gruppen zerlegt, die
denen der Geschichte der Erdkunde entsprechen;
denn die zeichnerische Wiedergabe geographischer
Tatsachen ist zunächst an dieEntwicklung der Kennt-
nisse von ihnen gebunden. Was man unter die tech-
nischen und mathematisch-wissenschaftlichen F'ort-
schritte der Kartographie zu rechnen hat, gehört
einem anderen Abschnitt an. Die 3. und 4. Gruppe
befaßt sich mit Methodologie, zu der auch
der Unterricht gehört, und Enzyklopädie.
Vom überquellenden Reichtum erdkundlicher F^or-
schungen geben nun aber die folgenden 3 Haupt-
gruppen Zeugnis : Physische Geographie , Biogeo-
graphie, Anthropogeographie. Die physische
Geographie umfaßt Kosmologie, mathematische
Geographie mit ihren Unterabteilungen wie der
Ortsbestimmung, Geodäsie und Gradmessung,
Kartenkunde, ferner die physikalische Geographie
(Geophysik) mit ihren Untersuchungen über
Rotation, Schwere, Wärme der Erde und Magne-
tismus nebst Polarlichtern. Dann folgt nach den
Aggregatszuständen geordnet die Lehre von der
Atmosphäre, also Meteorologie und Klimatologie,
die von den Wassermassen (Ozeanologie) und die
von den Gesteinen (Geologie). Freilich wirken
Wind und Wasser gemeinsam oder für sich auf
die Gesteine und erzeugen gerade dadurch die
geographischen Formen. Deshalb reiht sich als
umfassendste Unterabteilung der physischen Geo-
graphie noch die Geomorphologie an mit sehr
ansprechender Systematik ■ im einzelnen. Hier
sind unterschieden die erdbildenden Kräfte von
der Zuständlichkeit der durch sie erzeugten Er-
scheinungen. Die Kräfte gruppieren sich in endo-
gene (Vulkanismus, Erdbeben, Gebirgsbildung) und
exogene (chemische und mechanische V^erwitterung,
Wirkung des fließenden Wassers, des festen Wassers
[Gletscher!], des Windes). Die beschreibende Be-
handlung der Formen auf der Erdoberfläche ist
dagegen Morphographie, die wieder viele Unter-
abteilungen aufweist: Potamologie, Limnologie,
Speleologie u.a.m. Einfacher zu überblicken ist
die Biogeographie; denn für den Geographen
kommt bei der Betrachtung des Tier- und Pflanzen-
lebens in Betracht außer der Paläontologie nur
die Scheidung der Tier- und Pflanzenwelt einer-
seits in die F'ormen auf dem festen Lande, anderer-
seits in die Meeresorganismen. Verwickelter zu
überschauen ist dagegen die Anthropogeogra-
phie. Hier stehen neben der allgemeinen und
vergleichenden Urgeschichte, Anthropologie und
Ethnologie die Lehren von der Bevölkerungsdichte
nebst der Siedelungskunde, die Wirtschaftsgeogra-
phie, zu der die Produktenkunde, Behandlung der
Wirtschaftsformen, Betrachtung der Kulturpflanzen
und Haustiere, Lehre vom Gewinn der Mineralien
und von der geographischen Verteilung der Indu-
strien und Gewerbe gehören, und schließlich die
wichtigen .•\bschnitte über Geographie des Handels,
politische Geographie, Kolonisation und medizini-
sche Geographie. Den Schluß bildet die ,, Geo-
graphie der politischen und wirtschaftlichen Völker-
geschichte, ein Zweig der allgemeinen Erdkunde,
der wie manche andere in den letzten beiden
Gruppen erst eben anfängt, wirklich wissenschaft-
liche Früchte zu tragen, obschon man sich, so-
lange es eine Geschichtsbeschreibung gibt , mit
dem geographischen Zustande von Ländern und
X^ölkern in vergangenen Zeiten beschäftigt hat.
Die Literatur, welche sich mit der Länder-
kunde befaßt, wird natürlich nach den Einzel-
gebieten eingeteilt. Die .•\bgrenzung der Erdräume
voneinander erfolgt im Bücherverzeichnis nach
politischen Grenzen, weil diese linear am schärf-
sten, zudem am wenigsten umstritten trennen und
zusammenfassen. Die wissenschaftliche Erdkunde
pflegt die Erdoberfläche im Anschluß an die Leit-
linien ihres Aufbaues nach den natürlichen Land-
schaften in kleinere und kleinste Einheiten zu zer-
legen, die mit den politischen Grenzen meist
wenig gemein haben ; aber viele Übergänge zwi-
schen diesen natürlichen Landschaftseinheiten sind
verwischt, erfolgen sehr allmählich und lassen
subjektiver Auffassung der Beobachter weiten Spiel-
raum. Dieser Teil der Arbeit von Dr. Dinse hat
mehr für Bibliothekare als nachahmungswerter
Anordnungsplan für Bücheraufstellungen Wert als
für eine allgemeine Systematik der erdkundlichen
Wissenschaft. Dr. F. Lampe.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — In dem großen Hörsaale der
Urania in der Taubenstraße hielt im /auftrage der
Gesellschaft am Freitag, den 8. Januar, abends
8 Uhr, der ständige Assistent an der kgl. Tech-
nischen Hochschule, Herr Dr. G. Naß, einen
prächtig ausgestatteten Experimentalvortrag über
„Die Entwicklung des Beleuchtungswesens". Aus-
gehend von der primitivsten Lichtquelle, mit der
Jahrtausende hindurch die Menschheit sich mühte,
das Dunkel zu erhellen, dem noch bis zum heutigen
Tage in den Bauernhütten des Sternberger Kreises
vielfach anzutreffenden Kienspan, streifte der Herr
Vortragende die im klassischen Altertum erschei-
nende Öllampe, neben der in den ersten nachchrist-
lichen Jahrhunderten die Wachskerze und geraume
524
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 33
Zeit später die Talgkerze auftaucht. Viele Jahr-
hunderte ruhte nun die Erfindertätigkeit, bis zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts auf Grund der
verdienstvollen Untersuchungen des französischen
Chemikers Chevreul über die Natur der Fettsäuren
dadurch ein großer Umschwung in der Kerzen-
beleuchtung eintrat, daß die natürlichen F'ette durch
nach besonderenVerfahren gereinigte ersetzt wurden.
De Milly in Paris war es, der in den dreißiger Jahren
die ersten Stearinkerzen fabrikmäßig herstellte. Aber
inzwischen war ein anderer gewaltiger Fortschritt
im Beleuchtungswesen erzielt worden. Im Jahre
1808 erschien zum erstenmal das Gas als Be-
leuchtungsmittel in den Straßen Londons, das
Fhilosophenlicht, wie es spottweise genannt wurde.
Paris folgte 181 5, Berlin 1826 und noch später
Städte wie Leipzig, Dresden, Frankfurt a. M. u. a.,
ja PVankfurt a. O. erst 1859. Eine nicht minder
wichtige Erfindung ging voraus, der Lampen-
zylinder, dessen Prinzip, erhöhte und gleichmäßige
Luftzufuhr und dadurch bewirkte vollständigere Ver-
brennung, bereits Leonardo da Vinci richtig er-
kannt hatte; erhöht wurde diese Wirkung noch
durch die Einführung des Argand'schen Rund-
brenners an Stelle des einfachen Schnittbrenners.
Allein die bedeutenden Herstellungskosten und
Vorurteile mannigfacher Art verhinderten anfäng-
lich die ausgedehntere Verwendung von Leucht-
gas zu Beleuchtungszwecken, so daß es in den
meisten Haushaltungen bei der Verwendung von
Öllampen, zumal nach dem allgemeinen Ersatz der
bis dahin üblichen Brennöle durch Petroleum in
den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sein
Bewenden hatte. Und auch die Technik legte die
Hände in den Schoß, obwohl vereinzelte Versuche
gezeigt hatten, in welcher Weise die durch ge-
eignete Luftzufuhr zwar heißer, aber wegen der
vollständigeren Verbrennung der glühenden Kohlen-
teilchen um so schwächer leuchtend gewordene
Flamme (Bunsenbrenner) zur Erzielung einer
hohen Leuchtkraft konnte verwertet werden. Man
brauchte in ihr nur gewisse Substanzen zur Weiß-
glut zu bringen, um ein intensives Licht zu er-
halten. So erfand Drummond das nach ihm be-
nannte Kalklicht; auch wurde 1848 bereits in
Leipzig ein Patent darauf genommen, durch Ein-
führung eines mit einer Mischung von Kalk und
Kreide überzogenen Gewebes in eine Spiritus-
flamme einen, allerdings nur recht schwachen
Lichteffekt zu erzielen. Allein es blieb bei diesen
vereinzelten Versuchen. Da kam mit Anfang
der achtziger Jahre das elektrische Bogenlicht
und bald darauf das Edison'sche Glühlicht. Nun
schien die Technik wie aus einem Schlaf zu er-
wachen. Erst tauchte 1885 der stärkste Konkurrent
des elektrischen Glühlichts, das Gasglühlicht des
Wiener Gelehrten Dr. Karl Auer Ritter von Wels-
bach auf, vorher schon kamen die bedeutenden
Verbesserungen der Gasbrenner, die Regenerativ-
brenner von Schülke und Friedrich Siemens, bei
denen nicht nur die zur Verbrennung dienende
Luft, sondern auch das zur Verbrennung kom-
mende Gas vorgewärmt wird und die bis zu
2000 Kerzen Leuchtkraft haben. Das Prinzip des
Glühstrumpfes beruht darauf, daß in der sehr
heißen, aber nicht leuchtenden Gasflamme ein
feinmaschiges Netz, welches aus sog. Erden, im
wesentlichen Thorerde, gebildet wird, zur Weißglut
erhitzt wird. Um solches Glühlicht auch Orten
zugänglich zu machen, die über Gas nicht ver-
fügen, hat man neuerdings mit Erfolg Spiritus-
und Petroleumglühlichtlampen hergestellt. Dabei
ist die Gasglühlichttechnik auch in der Ausstattung
und Anbringung der Lampenkörper genau den
Wegen der elektrischen Glühlichtbeleuchtung ge-
folgt und hat darin großartige Effekte erzielt. Es
sei hier nur der Gasglühlichtkerze von Spinn &
Sohn und des hängenden Glühlichts von Ehrich
& Grätz, Berlin, gedacht. Als neuer Konkurrent
aller Lichtarten erschien das Acetylengas, welches
sich bildet, wenn Calciumkarbid, durch Vereinigung
von Kalk und Kohle im elektrischen Lichtbogen
gewonnen, mit Wasser in Verbindung tritt. Das
starke Rußen der Flamme wird durch entsprechend
konstruierte Brenner beseitigt. Ein besonders hoher
Lichteffekt kam zustande, als Acetylengas durch
einen Bunsenbrenner geleitet, einen Auerstrumpf
ins Glühen brachte. Mit Erfolg hat man sich
eines Gemisches von 3 Teilen F"ettgas und i Teil
Acetylengas zur Beleuchtung von Eisenbahnwagen
bedient.
Den Beschluß des durch zahlreiche Experi-
mente und durch Vorführung einer großen An-
zahl seitens der verschiedensten Firmen freund-
lichst zur Verfügung gestellter Beleuchtungssysteme
reich illustrierten Vortrags bildete die Demon-
stration der verschiedenen Fernzünder, wobei be-
sonders die elektrischen Apparate der Firma
Schäffer u. Walcker Aufsehen erregten.
Am Dienstag, den 19. Januar, hielt im Bürger-
saale des Rathauses der kaiserl. Reg.-Rat Herr
Prof. Dr. Kossei einen Vortrag über ,, Serum-
therapie und Serumforschung".
Dem großen Aufschwung, so führte der Herr
Vortragende aus, den die Bakteriologie durch die
Entdeckungen Robert Kochs genommen hat, ist
es zu verdanken, daß es heute eine Serumtherapie
und Serumforschung gibt, war es doch Koch, der
vor etwa 20 Jahren durch die Entdeckung ge-
eigneter Methoden für die Beobachtung und Züch-
tung von Bakterien das genauere Studium dieser
Krankheitserreger ermöglichte. Seit jener Zeit
sind von ihm selbst und seinen Schülern die
meisten der zu den Bakterien gehörenden Erreger
der ansteckenden Krankheiten bei Menschen und
Tieren als solche erkannt und in ihren Eigenschaften
eingehend studiert worden. Die Züchtung auf den
von Koch angegebenen Nährböden und nach dem
von ihm angegebenen Verfahren gestattete erst
den Nachweis, ob und welche Bakterien in einem
bestimmten Medium in lebensfähigem Zustand vor-
handen sind, und gab damit erst die Möglichkeit
festzustellen, ob gewissen Stoßen eine Einwirkung
auf die Bakterien zukommt, ob sie imstande sind
N. F. m. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
525
Bakterien abzutöten (zu desinfizieren) bzw. sie in
ihrer Entwicklung zu hemmen, oder ob sie sonst
Bakterien zu beeinflussen vermögen.
Um zu ergründen, worauf die Unempfänglichkeit
gewisser Tiere gegen manche Bakterien beruht,
begann man nun bald auch die Körperflüssigkeiten
von Tieren zu jenen Untersuchungen heranzuziehen.
Gerade durch das Studium der natürlichen Im-
munität konnte man hoffen der Natur ihr Ge-
heimnis abzulauschen und eine Immunität auf
künstlichem Wege zu erzielen, ein Weg, der be-
reits von dem großen französischen Gelehrten
Pasteur mit Erfolg beschritten worden war.
Zunächst fragte man sich, wie es kommt, daß
im Gegensatz zu den krankheitserregenden oder
„pathogenen" Bakterien gewisse andere Bakterien,
die man als „saproph\'tische" bezeichnet, Tieren
in die Blutbahn eingespritzt werden können, ohne
daß diese krank werden und ohne daß bei einer
späteren Untersuchung des Blutes irgendeine
Spur von den eingespritzten Keimen sich finden
läßt. Der Versuch nach der Koch'schen Methode
lehrte, daß die beim Gerinnen aus dem Blut sich
abscheidende Blutflüssigkeit, das Blutserum, auf
manche Bakterien eine abtötende Wirkung ausübt.
Nach den verdienstvollen Arbeiten des verstorbenen
Münchener Hygienikers Buchner nahm Behring,
damals Assistent von Koch, der als Entdecker des
Diphtherieheilserums in aller Welt bekannte For-
scher, diese Untersuchungen mit Nachdruck auf.
In erster Linie suchte er festzustellen, ob das Blut
von Tieren, die gegen Bakterien, welche bei anderen
Tieren Krankheiten erzeugen, von Natur immun
sind, diesen Bakterien gegenüber eine abtötende
Wirkung erkennen läßt. In der Tat zeigte sich in
gewissen F"ällen ein solches Verhalten. Nun hatte man
gelernt, daß eine Immunität gegen Krankheitserreger
auch von einem Individuum erworben werden
kann, daß Tiere, die eine Infektion mit einem
pathogenen Bakterium durchgemacht hatten, ohne
Schädigung ihrer Gesundheit eine zweite Infektion
mit demselben Bakterium -überstanden, eine Er-
fahrung, die man ja auch bei gewissen Krank-
heiten des Menschen hatte machen können. Auch
hier konnte Behring nachweisen, daß das Blut-
serum des immun gewordenen Tieres bakterien-
tötende Eigenschaften, die es vorher nicht besaß,
aber immer nur der betreffenden Bakterienart
gegenüber, annehmen kann. Nun gelang Behring
auch der weitere Versuch, durch Übertragung des
Blutserums von einem immun gemachten Tiere
auf ein anderes dieses letztere gegen die in
Betracht kommende Bakterienart zu immunisieren.
Damit war die Grundlage gegeben für die Schutz-
impfung mittels Serum und die Serumtherapie,
welche eine so große Bedeutung für die Medizin
gewinnen sollte.
Die ersten Krankheiten, bei denen Behring und
seine Mitarbeiter die schützende Wirkung des
Blutserums immunisierter Tiere feststellen konnten,
waren der Wundstarrkrampf und die Diphtherie.
In beiden Fällen erzeugen die in den Körper ge-
langten Keime ein Gift, gegen welches sich das
Blutserum eines Tieres, das die entsprechende
Krankheit überstanden hat, als wirksames Gegen-
gift erweist. Ein Serum , welches derartige
Gegengifte enthält , nennt man ein a n t i t o x i -
seh es Serum. Allein es bedurfte noch vieler
und mühsamer Arbeit, ehe es gelang, die
durch den Tierversuch gewonnenen Erfahrungen
zum Nutzen der leidenden Menschheit zu ver-
werten. Daß diese xArbeit schließlich von so
schönem Erfolg gekrönt wurde, ist zum erheb-
lichen Teil ein Verdienst Paul Ehrlichs, der bei
Untersuchungen über das Ricin, das Gift der
Ricinussamen, und das .^brin, das Gift der Je-
quiritybohne, gefunden hatte, daß Tiere gegen
diese Gifte immunisiert werden können, wenn man
sie mit langsam steigenden Mengen behandelt, und
daß mit der Giftfestigkeit der Tiere in ihrem Blute
in immer steigenden Mengen Gegengifte in glei-
cher Weise wie beim Tetanus- und Diphtheriegift
auftreten. .Auf dieser Beobachtung beruht die
noch jetzt vorwiegend gebräuchliche Methode der
Gewinnung des Diphtherieserums von Pferden.
Das von einem in seiner Giftfestigkeit hochge-
triebenen Pferde gewonnene Serum besitzt sowohl
schützende als auch heilende Eigenschaften, und
schon seit etwa 9 Jahren wird überall in der
ganzen Welt die Einspritzung solchen antitoxischen
Diphtherieserums mit glänzendem Erfolg ausgeübt.
Freilich ist eine sorgfältige Kontrolle des Serums,
bevor es an die Apotheken abgegeben wird, not-
wendig, und diesem Zwecke dient das unter Ehr-
lichs Leitung stehende kgl. preußische Institut für
experimentelle Therapie in Frankfurt a. M. Auch
kann nicht genug betont werden, daß man bei
Diphtherie nicht zu lange mit der Anwendung des
Serums zaudern soll, damit nicht die Vergiftung
des Körpers zu weit vorgeschritten ist.
Nicht bei allen Infektionskrankheiten liegen die
Verhältnisse so günstig wie bei den eben er-
wähnten, indem es nicht immer gelingt, die spe-
zifischen Gifte in genügender Menge zu gewinnen,
um Antitoxine in dem Blute der Impftiere zu er-
zeugen. Bei gewissen Infektionskeimen kommt es
zur Bildung von nur schützenden, nicht aber heilen-
den Stoffen im Blutserum, indem wohl die krank-
heitserregenden Bakterien abgetötet, nicht aber
die von ihnen bereits abgesonderten oder in der
Bakterienzelle noch sitzenden Gifte aufgehoben
werden. Solche Sera, welche als bakterizide
von den antitoxischen wohl zu unterscheiden sind,
wirken also schützend, wenn sie vor der Infektion
oder allenfalls in den ersten Stadien der Infektion
in den Körper aufgenommen werden. Derartige
Sera hat man mit Erfolg angewandt bei manchen
Tierkranheiten , wie Schweinerotlauf, und durch
das von dem Leiter des hessischen Veterinär-
wesens Lorenz besonders ausgebildete Verfahren
der Schutzimpfung der Schweinebestände ist die
Landwirtschaft schon vor großem Schaden bewahrt
worden; auch bei anderen Tierkrankheiten, wie
Schweineseuche, Geflügelcholera, sowie dem Milz-
526
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 33
brand der Rinder werden neuerdings ähnliche
Methoden empfohlen. Ebenso scheint man gegen
die Beulenpest ein wirksames Schutzmittel ge-
funden zu haben; dagegen sind mit dem Cholera-
und dem Typhusserum, eben wegen des Mangels
an antitoxischen Stoffen, besondere Heilerfolge
noch nicht erzielt worden. Wohl aber besitzen
diese Sera sehr wichtige Eigenschaften, die sich bei
der Bekämpfung dieser Krankheiten verwerten
lassen.
Mit der Bildung von Antitoxinen und bakteri-
ziden Stoffen sind nämlich die Mittel, durch die
sich der Tierkörper gegen eine Bakterieninvasion
zu schützen sucht, noch nicht erschöpft. Gibt
man einem Tropfen einer Kultur der sehr lebhaft
beweglichen Typhusbazillen eine Spur von Typhus-
serum bei, so sieht man in kurzer Zeit die Bakterien
ihre Beweglichkeit verlieren und sich zu Haufen
zusammenballen. Man nennt diese Erscheinung
Agglutination, und ein Serum, welches eine solche
Wirkung ausübt, ein agglutinierendes Serum.
Da wie bei den Wirkungen der antitoxischen und
der bakteriziden Sera auch bei den agglutinieren-
den eine strenge Spezifität herrscht, so liegt ihre
Bedeutung für die Diagnose am Krankenbett auf
der Hand, spielt doch die bakteriologische Diagnose
bei der von Robert Koch eingeführten Methode
der Bekämpfung der Volkskrankheiten eine wesent-
liche Rolle.
Aber nicht nur gegenüber Bakterien, sondern
auch gegenüber einer ganzen Reihe anderer dem
Tierkörper eingespritzten Stoffe bilden sich im
Blute Gegenstoffe; so gibt es Serumantitoxine
gegen das bereits erwähnte Ricin und .Abrin, des-
gleichen gegen Schlangengift und auch gegen alle
möglichen anderen Stoffe, sofern diese selbst Ei-
weißkörper oder nahe verwandte Stoffe sind, denn
gegen anorganische Gifte und gegen Alkaloide
kommt es merkwürdigerweise nicht zur Antitoxin-
bildung im Tierkörper. Von den eiweißartigen
Giften haben diejenigen eine große Bedeutung
für die Serumforschung gewonnen , welche im-
stande sind, rote Blutkörperchen aufzulösen, weil
man mit ihnen Versuche im Reagenzglas an-
stellen kann. Nicht nur eine groi5e Zahl chemi-
scher und thermischer Einflüsse macht das Blut
lackfarben, sondern auch eine ganze Reihe von
Bakterien erzeugen derartige Hämolysine, ebenso
wirken Drüsensekrete von Tieren, wie Schlangen-
gift, Gift der Kreuzspinne hämolytisch, .^ber auch
das Blutserum mancher Tierarten übt auf die roten
Blutkörper anderer Tierarten eine solche hämo-
lytische Wirkung aus, so z. B. löst das Blutserum
eines mit Kaninchenblut injizierten Meerschwein-
chens die roten Blutkörper im Kaninchenblut auf,
aber auch nur diese, oder allgemeiner ausgedrückt :
Blut von einer Spezies A, welches mit^roten^Blut-
körperchen einer Spezies B vorbehandelt ist, er-
hält die Fähigkeit, die roten^BlutkörperchenJder
Spezies B aufzulösen. Wir haben also analog
dem bakteriolytischen hier ein hämolytisches
Serum.
In ähnlicher Weise kann man Sera gewinnen,
welche auf andere Körperzellen tötend wirken.
Diese zellentötenden Stoffe des Blutserums werden
alsCytotoxine bezeichnet. So kann man Sera
herstellen, die gegen Flimmerepithelien wirken,
ferner solche, die Spermatozoen beeinflussen, andere
wieder gegen Leukozyten, gegen Nierenepithelien,
gegen Leberzellen usw. Man hat sogar auf diese
Weise auf die Zellen bösartiger Neubildungen bei
Krebskranken abtötend einzuwirken versucht.
Bei den Versuchen im Reagenzglas hat man
noch eine andere Eigenschaft des Serums von
Tieren entdeckt, die mit Eiweif^stoffen vorbehandelt
sind. Es vermag Niederschläge in den Lösungen
der betreffenden Eiweißkörper hervorzurufen. Ein
solches Serum nennt man ein präzipitieren-
des Serum. Diese spezifisch eiweißfällende Eigen-
schaft stellt sich nun auch bei dem Blutserum
eines Tieres, z. B. eines Kaninchens ein, wenn man
diesem Bluteiweiß vom Menschen einspritzt. Durch
Zusatz dieses Serums zu einer selbst sehr stark
verdünnten Lösung von menschlichem Bluteiweiß
wird ein Niederschlag hervorgerufen, aber nicht
in Lösungen von tierischem Bluteiweiß. Diese
Tatsache ist von einer außerordentlichen Bedeutung
für die gerichtliche Medizin geworden , denn
selbst ganz alte, angetrocknete Blutflecken lassen
durch jene Methode ihre Herkunft erkennen. Eine
Vergleichung des Verhaltens der durch Injektion
von Bluteiweiß von verschiedenen Tierarten ge-
wonnenen Blutsera hat dabei zu der Feststellung
von allgemein naturwissenschaftlichem Interesse
geführt, daß die Eiweißkörper des Affen denen
des Menschen am nächsten stehen. —
Eine große Anzahl von Mitgliedern hatte sich
am Sonntag, den 31. Januar, im kgl. Museum für
Naturkunde eingefunden , wo der Kustos , Herr
Prof Dr. Tornier, biologische Demonstrationen
in der anatomischen und Kriechtiersammlung vor-
nahm. —
In den Räumen der kgl. Landwirtschaftlichen
Hochschule hielt in der Zeit vom 11. Januar bis
15. Februar für die Mitglieder der Gesellschaft
Herr Prof Dr. Börnstein einen Zyklus von
sechs Vorträgen über „Das Wetter und seine Vor-
hersage".
I. A.: Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
Berlin SO 16, Köpenickerstraße 142.
Bücherbesprechungen.
Meyers Grofses Konversations- Lexikon. Ein
Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste,
gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage,
^lit mehr als 1 1 000 Abbildungen, Karten und
Plänen im Text und auf über 1400 Illustrations-
tafeln (darunter etwa 190 Farbendrucktafeln und
300 selbständige Kartenbeilagen) sowie 130 Text-
beilagen. 6. Band (Erdessen bis Franzen). (Verlag
des Bibliographischen Instituts in Leipzig und
Wien.) 1904. — Preis geb. 10 Mk.
Einen großen Raum nehmen in dem vorliegenden
N. F. m. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
527
Bande die Artikel aus dem Gebiete der Elektrizität :
„Fernmeldeapparat", „Fernsprecher", „Fernphotograph",
ein. Unter dem Stichwort „Feuer" und den an-
schließenden Artikeln: „Feuerlöschmittel", „Feuer-
schutz" etc., sind die gegen Feuersgefahr vorhandenen
Schutzmittel ausführlich behandelt und durch mehrere
Tafeln veranschaulicht. .»^us dem Gebiete des .Ma-
schinenwesens greifen wir nur die Artikel ,,l''ahrrad",
„Faßbaumaschinen" , „Feldeisenbahn" , „Feuerluft-
maschinen", „Filterpresse", „Fördermaschinen" heraus.
Von weiteren Artikeln der Technik erwähnen wir:
„Ergograph", „Estrich", „Feder", „Festigkeit", „Feue-
rungsanlagen", „Filtrieren", „Flaschenzug", „Flußver-
messung". Die Naturwissenschaft ist wieder weitgeliends
berücksichtigt ; wir führen nur die Artikel : „Erd-
früchtler", „Erle", „Erzlagerstätten", „Esche", „Euca-
lyptus", „Eulen", „Euphorbiazeen", „Farne", „Fichte",
„Fische", „Flechten", „Fledermäuse", „Fortpflanzung"
an. In das Gebiet der Physik und Chemie, Geologie
und ^Mineralogie greifen die Artikel : „Erdgas", „Erd-
strom", „Erz", „Erzlagerstätten", ,,?>ssig", „Essigsäure",
„Fette", „Fluor", „Fluoreszenz", „Flußspat", „Foucault".
Die Länder- und Völkerkunde ist durch die Artikel :
„Erdkunde", „Eskimo", „Esthland", „Finnland", „Flan-
dern", „?'lorenz", „Florida", „Frankfurt a. M." sowie
die Sammelaitikel ,, Europa" u. „Frankreich" vertreten.
Besondere Beachtung verdienen die Tafeln , deren
Anzahl gegen die frühere Auflage eine bedeutende
Vermehrung erfahren hat. Wir führen namentlich die
farbigen Tafeln: „Euphorbiazeen", „Farne", „Fasanen",
„Prachtfische der südlichen Meere", „Flaggen", „Flech-
ten", „Fliegen- und Schneckenblumen", „Forstinsekten",
auf. Eine besondere Textbeilage: ,,Die wichtigsten
Erfindungen" wird in zweifelhaften Fällen gute Dienste
leisten.
Die Entwicklung des iederrheinisch - West-
fälischen Steinkohlenbergbaus in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bd. I. Geolo-
gie, Markscheidewesen. Berlin, Julius
Springer, 1903.
Der vorliegende i. Band des literarischen Sammel-
werkes über den Ruhrkohlenbergbau behandelt in
seinem umfangreicheren ersten Abschnitt die geologi-
schen Verhältnisse des Gebietes , im zweiten die
Markscheiderei. An der Bearbeitung waren der
verstorbene berggewerkschaftliche Geologe, Dr. Leo
C r e m e r , dessen Nachfolger Bergassessor Hans
M e n t z e 1 und Professor Dr. B r o o c k m a n n sowie
Älarkscheider Lenz beteiligt.
Auf eine allgemeine geographische und geologi-
sche Übersicht sowie einen kurzen Tgeschichtlichen
Rückblick auf die Fortschritte der geologischen
Forschung im Ruhrbezirk folgt zunächst eine Be-
sprechung der liegenden Schichten , des Devons,
Unterkarbons und flötzleeren Sandsteins. Den Haupt-
teil bildet naturgemäß die Beschreibung des flotz-
führenden Kohlengebirges, seiner Begrenzung und
stratigraphischen Gliederung, sowie seiner durch Fal-
tung, Überschiebungen und Sprünge bedingten gegen-
wärtigen Lagerungsverhältnisse.
Ein ferneres Kapitel ist dem Deckgebirge gewid-
met, das aus den erst vor wenigen Jahren festgestellten
Schichten der Dyas und Trias, vorwiegend jedoch
aus Gliedern der oberen Kreideformation, dem „Mer-
gel" des Ruhrkohlenbergraanns , und schließlich auch
stellenweise aus Tertiär sowie Diluvium besteht.
Mit Rücksicht auf die schon seit langem behaup-
tete Fortsetzung der karbonischen Sprünge in süd-
licher Richtung, wo sie im Kulm, Kohlenkalk und
Devon als Erzgänge auftreten , werden die einzelnen
^lineralvorkommen , besonders die Erze und Gang-
arten der Sprünge, in einem Kapitel zusammengestellt.
In erster Linie den praktischen Zwecken des
Bergbaues sollen die über die Wasserführung und die
Gasausbrüche im Ruhrkohlengebirge gesammelten No-
tizen dienen.
Zur Chemie der Steinkohle wird in einer Studie
über die einzelnen Gärungsvorgänge aus der Feder
von Prof Dr. Broockmann eingegangen.
Den Schluß des geologischen Abschnittes bildet
eine zeitlich geordnete Literaturzusammenstellung.
Der Abschnitt über Markscheidewesen be-
handelt die Entwicklung des Kartenwesens im Ruhr-
bezirk, die hier gebräuchlichen Instrumente und Meß-
methoden sowie die Hilfsmittel zur Beobachtung der
Deklinationsschwankungen.
Außer zahlreichen Textfiguren sind dem Bande
iS mehrfarbige Tafeln beigegeben worden. (x.)
Briefkasten.
Herrn K. in Dresden. — Lobolitlicn sind sphaeroidi-
sche bis unregelmäßig knollige Körper., deren äußere Ober-
riäche mit zahllosen polygonalen Kalktäfelchen bedeckt ist.
Im Inneren sind sie durcli Scheidewände, welche sich äußer-
lich durch Einschnürungen (Loben! erkennen lassen, in mehrere
unregelmäßige Kammern abgeteilt und besitzen auf der Unter-
seite eine Wurzel, welche mit einem bis meterlangen, geglie-
derten Süele (= Crinoidenstiel) zusammenhängt. Die Form
und die Beschaffenheit der Täfelchen, der Wurzel und des
Stieles , sowie der Umstand , daß sämtliche feste Skeletteile
der Lobolithen aus Kalkspath bestehen , spricht ganz ent-
schieden dafür, daß die I.obolithen zu den Echinodermen ge-
hören und sich insbesondere an die Crinoiden eng anschließen.
Die Lobolithen gehören zu den häutigsten Fossilien des
mittelböhmischen Obersilur und kommen dort gemeinschaft-
lich mit den Crinoiden (namentlich mit .Scyphocrinus) ins-
besondere in den Übergangsschichten zwischen den Stufen e,
und e, (nach meiner Bezeichnung e, ji) vor.
Der Name Lobolithus wurde von Barrande in Bigsby's
„Thesaurus siluricus" aufgestellt (1867?). Barrande hat die
Lobolithen für fossile Repräsentanten einer eigenen Familie
der Echinodermen gehalten.
James Hall hat 1880 Lobolithen aus dem amerikanischen
Lower Helderberg group [= Unterdevon) unter dem Namen
Camarocrinus beschrieben. Er hielt sie für modifizierte Cri-
noidenwurzeln und sprach die Vermutung aus, daß sie im
lebendigen Zustande in Form von gekammerten Blasen als
Schwiramapparate für Crinoidenkolonien gedient haben.
Fr. Frech führt Camarocrinus als das einzige in dem
grauen Plattenkalke am Wolayer Thörl in den Karnischen
Alpen gefundene Fossil an, also aus demselben Horizonte
(untere Grenze des Obersilur), in dem die Lobolithen im
mittelböhmischen Silur so häufig vorkommen.
Auch in dem oslböhmischen Paläozoikum (Eisengebirge)
kommt Lobolithus in demselben Horizonte (cj (^) vor.
Der Verfasser dieser Zeilen bearbeitet soeijen die Lobo-
lithen aus dem mittelböhmischen Silur, für die Fortsetzung des
Karrande'schen Werkes. Auf Grund des ihm vorliegenden,
reichhaltigen Materiales schließt er sich der morphologischen
Deutung Hall's an, die Lobolithen seien eine blasenförmige
528
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 33
Modifikation der Crinoidenwurzcln. Was aber die pliysiologi-
sche Funktion anbelangt , welche die Lobolithen ausgeübt
haben dürften , weicht seine Ansicht von der Hall'schen
wesentlich ab. Der Verfasser glaubt nämlich nicht, daß diese
Blasen etwa ähnlich wie bei den rezenten Medusen als
Schwimmapparate den Crinoidenkolonien zu dienen vermochten ;
dazu wäre das feste Kalkskelett der Lobolithen zu schwer,
dagegen ihre Luftkammern zu klein. Aus gewissen Erschei-
nungen, die er an dem ihm vorliegenden Materiale beobachtet
hat, die er aber — um seiner oben genannten Publikation
nicht vorzugreifen — heute weiter noch nicht auszuführen ge-
denkt, glaubt der Verfasser der vorliegenden Zeilen eher
darauf schließen zu dürfen, daß diese blasenförmig modifizierten
Wurzeln gewissen Crinoiden als Brutbehälter gedient haben.
Prof. J. J. Jahn in Brunn.
Herrn Prof. Dr. F. S. in T. — Frage: Gibt es Bücher,
welche über F'arbeinjektioncn des Gefäßsystems, besonders bei
niederen Tieren unterrichten, resp. welche Masse nimmt man
dazu? — Eine, freilich schon etwas ältere, Anleitung zur Her-
stellung zootomischer Präparate, welche in ausgedehntem
Maße das Injizieren behandelt und dabei überall praktische
Erfahrungen des Verfassers verrät, ist: H. Dewitz, Anleitung
zur Anfertigung und Aufbewahrung zootomischer Präparate
für Studierende und Lehrer (96 S. mit 12 Taf. Berlin, 1886.
Preis: 5 Mk.). Dewitz beschreibt in sehr ausführlicher Weise
auch die Herstellung der von ihm benutzten Injektionsflüssig-
keiten (1. c. p. 13 f.). Besonders benutzte er eine Gelatine-
lösung und eine Wachsmasse. Die Herstellung der ersteren
ist kurz folgende : Karmin wird in Salmiakgeist bis zur Sätti-
gung gelöst, dann Essigsäure hinzugefügt, bis eine Umfärbung
der ganzen Masse in Ziegelrot erfolgt ist, hierauf wird etwas
Wasser und dann im kochenden Wasserbade so viel weiße
Gelatine hinzugefügt als sich löst. Endlich wird die Masse
haltbar gemacht, indem man noch '/^ des vorhandenen Volu-
mens Glyzerin hinzusetzt. — Die Wachsmasse wird hergestellt,
indem man dem Wachs '/i des Volumens Terpentinöl zusetzt
und dann mit Mennige und Zinnober rot färbt. — In neuerer
Zeit benutzt man nach A. B. Lee und Paul Mayer (Grund-
züge der mikroskopischen Technik, Berlin 1898), bei der In-
jektion von Arachniden und Krustaceen auch lithographische
Tusche. Außerdem ist verwendet worden eine Lösung von
Gummi arabicum, der man eine Aquarellfarbe hinzufügte (vgl.
L. Jammes, Zologie pratique, Paris 1904, Preis: geb.
14,40 Mk.). Dahl.
Herrn Dr. K. in G. — Frage: Welche umfangreichere
Bearbeitung der Anatomie und Physiologie des Menschen ev. mit
Einschluß der Gesundheitslehre ist zur Vorbereitung des Leh-
rers, welcher über Anthropologie in der Untersekunda von
Realanstalten unterrichtet, empfehlenswert.' Selbstverständlich
meine ich weder rein medizinische Werke , noch solche , die,
wie F. Schmidt „Unser Körper", für Turner etc. bestimmt
sind. — Ein umfangreicheres Buch für die Hand des
Lehrers, welches zugleich die Anatomie, Physiologie, Gesund-
heitslehre, Ethnologie etc. behandelt, dürfte in neuerer Zeit nicht
erschienen sein. Am nächsten kommt einem solchen Buche viel-
leicht G. Broesike, der menschliche Körper, sein Bau, seine
Verrichtungen und seine Pflege nebst einem Anhang, die erste
Hilfe bei plötzlichen Unfällen mit besonderer Berücksichtigung
des Turnens gemeinfaßlich dargestellt (2. Aufl. 470 S. mit z.
T. färb. Abb. Berlin 1899, Preis: 8 Mk., geb. 9 Mk.) Doch
kenne ich dieses Buch dem Inhalte nach nicht. .^Is noch
kleineres Buch, aber doch speziell für die Hand des Lehrers
bestimmt, könnte noch genannt werden die Ausgabe A von
A. Fiedler und E. Hoelemann, Der Bau des mensch-
lichen Körpers. Kurzgefaßte Anatomie mit physiologischen
Erläuterungen für den Schulunterricht (8. Aufl. 156 S. mit 81
anat. Abb. im Text und den verkleinerten anatomischen Wand-
tafeln T — V in Farbendruck, Dresden 1903, Preis: geb. 1,75
Mk.). Sollten Ihnen diese Bücher zu wenig bieten, so müßten
Sic schon die .\natomie und die Physiologie getrennt nehmen.
Als Handbuch der Anatomie scheint mir für den Lehrer an
höheren Schulen sehr geeignet: C. Gegenbaur, Lehrbuch
der Anatomie des Menschen (7. Aufl. 2 Bde. 1898 — 99 resp.
1903, 496 u. 668 S. m. 734 z. T. farbigen Holzschn. Preis:
25 Mk. , geb. 30 Mk.). Die -Abbildungen sind in diesem
Buche äußerst klar, die Namen der Muskeln etc. den Figuren
unmittelbar eingefügt, überall sind kurze vergleichend-anato-
mische Ausblicke gegeben und am Schluß findet sich ein sehr
ausführliches Register. Namentlich das letztere scheint mir
für den Lehrer beim Nachschlagen unentbehrlich. Als Hand-
buch der Physiologie glaube ich Ihnen L. Hermann, Lehr-
buch der Physiologie (12. Aufl., Berlin 1900, mit 175 Abb.,
Preis: 14 Mk.) empfehlen zu können. Dahl.
Herrn J. U. in Düsseldorf — Zur Bestimmung
westdeutscher Moose gibt es kein Werk. Wenn Sie
sich in die Mooswelt einarbeiten wollen , so sei Ihnen das
kleine Werk von Kummer, Der Führer in die Mooskunde,
(Berlin, J. Springer) empfohlen, sowie für Lebermoose die
Werke von demselben Verfasser oder von P. Sydow. In-
dessen genügen diese Bücher den Ansprüchen von F'ortge-
schritteneren nicht mehr. Wir verweisen Sie auf das grund-
legende, allerdings teure, dreibändige Werk von Limpricht,
Die Moose Deutschlands in Rabenhorst's Kryptogamcnflora
(nur Laubmoose) (Leipzig, P. Kummer). Besondere Beachtung
verdient, weil sie auch für Westdeutschland in den meisten
Fällen ausreichend ist, die Kryptogamcnflora der Mark Branden-
burg, von der der i. Band (bearbeitet von C. Warnstorf,
Berlin, Gebr. Borntraeger) die Leber- und Torfmoose bringt.
Der 2. Band mit den Laubmoosen erscheint im Laufe dieses
Jahres. Zahlreiche instruktive Abbildungen unterstützen in
diesem Werke das Verständnis. G. Lindau.
Herrn C. B. in Hann.-Münden. — Der Kefir entsteht,
wenn Milch durch die in den sogenannten Kefirkörnern ent-
haltenen Mikroorganismen vergoren wird. v. Freudenreich
hat in diesen Körnern 4 Arten von Organismen nachgewiesen:
eine echte Hefe (Saccharomyces kefir), einen Bazillus (Bacillus
caucasicus) und zwei Streptococcusarten. Keiner der 4 Orga-
nismen kann allein eine typische Kefirgärung erzeugen, nur
wenn alle oder wenigstens die Hefe und die Streptococcen
vorhanden sind, entsteht Kefir. Der in der Milch enthaltene
Zucker wird durch die Gärtätigkeit der Milch nur zum Teil
verändert und zu Alkohol und Milchsäure vergoren. Dagegen
bleibt der größte Teil der Nährstoffe der Milch unverändert.
Daraus erklärt sich der hohe , an Milch streifende Nährwert
des Präparates und gleichzeitig, durch die Säure und den
Alkohol, der frische prickelnde Geschmack. Eine Erhöhung
des Nährwertes der Milch findet natürlich nicht statt, aber
durch die Verbesserung des Geschmackes ist der Kefir ange-
nehmer zu trinken als Milch. G. Lindau.
Herrn Prof B. — Die Frage, welche einzellige Alge die
Aquariumwände überzieht, läßt sich, ohne die Alge selbst ge-
sehen zu haben, nicht eindeutig beantworten. In vielen Fällen
werden es Arten von Scenedesmus (S. quadricaudatus) sein;
sie zeigen meist vier nebeneinanderliegende spindelförmige
grüne Zellen, von denen die beiden äußeren an beiden Enden
eine hyaline Borste tragen. Außer diesen Formen könnten
aber auch kuglige Protococcusarten oder gar blaugrüne Phyco-
chromaceen (z. B. Nostoc , Rivularia , Gloeocapsa etc.) in
Frage kommen. Ohne mikroskopische Untersuchung läßt sich
die Art nicht bestimmen. G. Lindau.
Inhalt; Dr. K. Bretscher: Die Neotenie bei den Amphibien. — Kleinere Mitteilungen: Dr. C. H. Stratz: Was sind
Juden? — Ballowitz: Gigantische Spermien. — Dr. W. B r en n e r : Hlattformen von Quercus Ile.\ L. — Dr. Dinse:
Zur Systematik der Erdkunde. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen : Meyers Großes Konversations-Lexikon.
— Die Entwicklung des Niederrheinisch- Westfälischen Steinkohlenbergbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
— Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Päu'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-'West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 22. Mai 1904.
Nr. 34.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten,]
Über die Konstitution der Materie.
Von Dr. A. Becker in Kiel.
Als das erste und nächstliegende Ziel aller
Naturforschung muß wohl dasjenige gelten, die
zahllosen Vorgänge in der Natur nicht nur einzeln
möglichst umfassend kennen zu lernen und sie
als Beispiele einer ungeheuren Mannigfaltigkeit auf-
zufassen, sondern sie alle in einen gewissen inneren
Zusammenhang miteinander zubringen, sie gewissen
allgemeingültigen Sätzen unterzuordnen , um so
nicht allein zu einer Kenntnis aller Vorgänge
sondern zu einer Erkenntnis der sie beherrschen-
den Gesetze zu gelangen. Ein Prinzip der Natur-
erklärung zu finden war schon die gemeinsame
Tendenz der vorsokratischen Philosophie. Die
Natur, das Sinnenfällige, Greif liehe war es, was
den Forschungsgeist zuerst reizte. Daß ihren
wechselnden Formen, ihren mannigfaltigen Er-
scheinungen ein erstes im Wechsel verharrendes
Prinzig zugrunde liegen müsse, vermutete man,
und die Beantwortung der Frage: welches ist der
Urgrund der Dinge? oder welches ist das Grund-
element ? bildete das Problem jener Naturphilo-
sophen. Wenn der eine das Wasser, der andere
die Luft oder ein dritter einen chaotischen Urstoff
dafür ansah, so kann das bei dem Mangel an
irgendwelchen Kenntnissen der Naturvorgänge in
jener Zeit nicht verwundern. Von Bedeutung ist
demgegenüber die Anschauung der Atomistiker,
die nicht wie Empedokles alle Bestimmtheit der
Erscheinungen von einer kleinen Zahl (qualitativ
bestimmter und voneinander unterschiedener Ur-
stoffe sondern aus einer ursprünglichen Unendlich-
keit der Qualität nach gleichartiger, der Gestalt
nach ungleichartiger Grundbestandteile ableiteten.
Diese ihre Atome sind unveränderliche, zwar aus-
gedehnte, aber unteilbare, nur der Größe nach be-
stimmte, zufolge ihrer Kleinheit nicht sinnlich wahr-
nehmbare Stoffteilchen, die durch den leeren Raum
gegenseitig abgegrenzt sind, und die Mannigfaltig-
keit der Erscheinungswelt ist nur aus der ver-
schiedenen Gestalt, Ordnung und Stellung der zu
Komplexionen verbundenen Atome zu erklären.
Weder die Erfahrungen der Zeitgenossen Demo-
krits noch die E.^iperimente der folgenden Jahr-
hunderte vermochten irgend etwas Wichtiges für
oder gegen diese Hypothese beizubringen. Erst
nach langen vergeblichen Bemühungen hat in der
Chemie die Analyse zur Überzeugung geführt, daß
man bei der Zerlegung aller in der Natur vor-
530
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 34
kommenden Stoffe stets zu einer Anzahl weiter
nicht zerlegbarer, der sog. Elemente, gelangt, deren
man bisher hat etwa 75 isolieren können. Jeder
Versuch einer weiteren Zerlegung derselben schei-
terte bisher, während sich umgekehrt aus ihnen
durch geeignete Operationen viele uns bekannten
Stoffe synthetisch herstellen lassen. Die neuere
Chemie gelangt so im Gegensatz zu der Auf-
fassung der alten Atomistiker zu einer Vielheit
qualitativ voneinander verschiedener Elemente;
aber die Übertragung der alten Atomhypothese
auf diese Elemente durch Dalton und Wollaston
ist am Anfang des letzten Jahrhunderts von größter
Bedeutung geworden zur anschaulichen Erfassung
nicht nur chemischer, sondern auch vieler physi-
kalischer Vorgänge. Im Sinne dieser Hypothese
erfüllt ein stoffliches Aggregat den von ihm ein-
genommenen Gesamtraum nicht kontinuierlich in
allen seinen Punkten, sondern es setzt sich zu-
sammen aus zwar sehr kleinen , aber endlichen
Massenteilchen , die mehr oder weniger vonein-
ander entfernt sind und Moleküle genannt werden.
Ein jedes Molekül wieder besteht aus einer vari-
ablen Anzahl von Atomen mit kleinen Zwischen-
räumen. —
Wenn trotz der grollen Fruchtbarkeit dieser
Anschauungen die Versuche nie aufgehört haben,
in den Atomen der Elemente selbst noch Kom-
plexe von Teilen einer allgemeinen Grundsubstanz
zu sehen, so waren dafür besonders 3 Gründe
maßgebend. Zunächst blieb es für manche sehr
schwer, sich mit dem Gedankea zu versöhnen,
daß die Zahl der Grundstoffe eine so große sein
sollte, was mit den Anschauungen des Monismus
in offenbarem Kontrast zu stehen schien. Des
weiteren wurde aber auch eine Reihe von Ge-
setzmäßigkeiten aufgefunden, denen die bekannten
Elemente unterworfen sind, und die kaum ver-
ständlich sind, wenn man nicht eine gewisse Ver-
wandtschaft der Elemente untereinander, herrührend
von allen gemeinsamen Bestandteilen , annimmt,
Gesetzmäßigkeiten, wie sie z. B. von Dulong und
Petit für die Atomwärme und von Mendelejeff
und Lothar Meyer im periodischen System der
Elemente festgestellt sind. Diese beiden Gründe
mögen die Veranlassung gegeben haben, daß bald
nach Bekanntwerden der Dalton'schen Gesetze
Prout (18 15) die Atome der verschiedenen Elemente
aus Wasserstoffatomen bestehend lehren wollte,
daß später Marignac diese Einheit halbierte, Dumas
sie durch vier teilte und Zängerle (1882) noch
^/looo des Wasserstoffatoms als Uratom betrachtete.
Der dritte und wichtigste Grund, der die An-
sicht über die Konstitution der Materie, daß die
verschiedenen Atome aufgebaut seien aus einerlei
Bestandteilen in verschiedener Zahl, besonders in
allerneuester Zeit nahelegte, ist durch die be-
deutenden, überwiegend physikalischen Forschungen
gegeben, die in der Tat intramolekulare Vorgänge
behandeln und dadurch gewisse sichere Schlüsse
über die Konstitution des Atoms selbst zu ziehen
gestatten. Es sind dies die Untersuchungen der
Spektren der Elemente und die neuesten Beob-
achtungen über Kathodenstrahlen.
Da es keinem Zweifel unterliegen kann, daß
das Emissionsspektrum auf das innigste mit der
Konfiguration und dem Schwingungszustand der
Moleküle und Atome einer leuchtenden Substanz
zusammenhängt, so darf man von einem Einblick
in die Gesetze, nach welchen einerseits bei einem
Element die Linien im Spektrum sich verteilen,
und andererseits diese Verteilung von Stoff zu
Stoff variiert, einen Aufschluß über die Fragen
nach der Beschaffenheit und dem Bewegungs-
zustand der Atome erhoffen. Bis jetzt ist man
auf diesem Gebiete allerdings erst zur Auffindung
einiger wichtiger Gesetzmäßigkeiten gelangt, ohne
daraus schon Schlüsse über die Atomkonstitution
ziehen zu können.
Demgegenüber hat in allerneuester Zeit das
Studium der Kathodenstrahlen durch Prof. Lenard
besonders diesen zu Vorstellungen über die Kon-
stitution der Materie geführt, die mit Zuhilfenahme
der allereinfachsten Grundannahmen nicht nur alle
auf einer Wechselwirkung von Materie und Elek-
trizität beruhenden Erscheinungen erklären, sondern
auch für eine Ausdehnung auf die übrige Erfahrung
geeignet erscheinen.
Schon im Jahre 1897 hat J. J. Thomsen ver-
sucht, die teilweise von ihm und teilweise von
anderen Beobachtern gefundenen Tatsachen, daß
die Kathodenstrahlen von der Kathode einer Ent-
ladungsröhre fortgeschleuderte negative Elektrizi-
tätsteilchen sind, daß ihre Geschwindigkeit und
das Verhältnis von Ladung zur Masse derselben
von dem Medium, in dem sie sich bewegen, un-
abhängig ist und daß die Absorption, die sie beim
Durchgang durch beliebige Körper erleiden, weder
vom Aggregatzustand noch von der chemischen
Beschaffenheit, sondern nur von der Masse oder
Dichte derselben abhängt, mit der Annahme zu
erklären, daß die Atome der verschiedenen che-
mischen Elemente verschiedene Komplexe von
Atomen einer ursprünglichen Substanz x wären,
die er Korpuskeln nennt. In der Nähe der Kathode
würden die Moleküle des Gases dissoziiert in Kor-
puskeln, die sich elektrisch laden und deshalb fort-
geschleudert würden. Würde man zwischen den
einzelnen Korpuskeln große Zwischenräume an-
nehmen, so könnte die Absorption als Kollision
eines fortfliegenden Korpuskels mit einem anderen
ruhenden eines Moleküls aufgefaßt werden, und
es würde deshalb die Zahl der Zusammenstöße
nicht der Zahl der Moleküle sondern der Zahl
Korpuskeln im Molekül , d. h. der Dichte , pro-
portional sein.
Daß eine solche Hypothese nicht geeignet sein
kann, unser Verständnis für den Bau der Atome
zu erhöhen, ist begreiflich, da dieselben Schwierig-
keiten, die zuvor mit der Vorstellung eines Atoms
verbunden waren, jetzt auf die Korpuskeln über-
tragen wären. Insbesondere wäre das Bild von
der Absorption der Kathodenstrahlen nach wie
vor ein unklares. Und gerade diese Erscheinungen
N. F. III. Nr. 34
Naiurwissenschaftliche Wochenschrift.
531
sind es, welche am ehesten eine Handhabe für
eine verständliche Hypothese der Atomkonstitution
bieten.
Ehe auf die Vorstellungen von Prof. I.enard
eingegangen werde, seien kurz die Beobachtungen
erwähnt, welche zu jenen führten, und wie sie in
VVied. Ann. 56, 1895 und Ann. d. Phys. 12, 1903
mitgeteilt sind. In der älteren Arbeit wurde ge-
zeigt, daß Kathodenstrahlen von etwa ^/g Licht-
geschwindigkeit beim Durchgang durch materielle
Medien eine Absorption erleiden , deren Größe
nahezu proportional ist der Dichte der betr. Medien
und gegeben ist durch den Koeffizienten a in der
Gleichung i = i„e ^ ""', worin i die Intensität der
eine Schichtdicke d verlassenden Kathodenstrahlen
von der ursprünglichen Intensität i,, ist. Es hatte
sich dabei schon gezeigt, daß die Größe der Ab-
sorption in sehr hohem Maße von der Strahl-
geschwindigkeit abhängig ist, indem eine Abnahme
der Geschwindigkeit um 2",, ihres Wertes die
Größe der Absorption um etwa lo"/,, erhöhte.
Die neuere Arbeit bildet eine Ergänzung des
Bisherigen, indem sie diese Abhängigkeit des Ab-
sorptionskoeffizienten bis zu den allergeringsten
verfolgbaren Strahlgeschwindigkeiten untersucht
und andererseits die äußerst schnellen, fast mit
voller Lichtgeschwindigkeit sich bewegenden
Strahlen , wie sie von Radiumverbindungen aus-
gehen, heranzieht, so daß sie eine vollständige
Übersicht über den Gang der Absorption mit der
Strahlgeschwindigkeit gibt. In beistehender Tabelle
sind die aus den Messungen für Wasserstoff, Luft,
Argon und Kohlensäure erhaltenen spezifischen
Absorptionsvermögen (Absorptionskoefhzienten für
den Druck i mm Quecksilber) zusammengestellt,
wo unter v die Strahlgeschwindigkeit in Bruch-
teilen der Lichtgeschwindigkeit ausgedrückt ist.
V Wasserstoff Luft Argon Kohlensäure
ca. '/.„o 44 30 2S 34
„ V.20 '4,6 27 26 32
„ % 6,0 1 21 20 28
„ V20 1.2 3.9 4.2 7
., Vio °.'9 0,85 1,3 2
„ '/a 0,00062 0.0050 — 0,0067
,, I 0,0000006 0,00000g 0,00001 0,00001
Es ergibt sich hieraus, daß für alle 4 unter-
suchten Körper die Absorption beim Fortschreiten
von den größten zu immer kleineren Strahlge-
schwindigkeiten wächst und zwar zunächst in
immer steigendem Maße. Sinkt die Geschwindig-
keit von der des Lichts auf ein Hundertstel der-
selben herab, so erhöht dies die Absorptionsver-
mögen auf mehr als das Millionenfache. Diese
Zunahme geht aber nicht über alle Grenzen hin-
aus, wenn die Geschwindigkeit sich der Null nähert,
sondern es tritt zuvor ein Wendepunkt ein, worauf
die Absorptionsvermögen gewissen Grenzwerten
zustreben.
Das Gesetz der Massenproportionalität bleibt
bis zu etwa ^l„„ Lichtgeschwindigkeit annähernd
bestätigt, indes nehmen die Abweichungen davon
mit abnehmender (ieschwindigkeit rasch zu, und
das individuelle X'erhalten verschiedener Materie
tritt mehr und mehr hervor. Besonders Wasser-
stoff zeigt seine Abweichung in solcher Vergröße-
rung, daß zuletzt sein Absorptionsvermögen das
der anderen Gase sogar übersteigt, obgleich er
das dünnste Gas ist. Auch Argon und Luft
wechseln bei den geringeren Geschwindigkeiten
ihre Plätze. So ist die Masse des Mediums, welche
bei großen Geschwindigkeiten in erster Annäherung
allein bestimmend ist für das Absorptionsvermögen,
bei kleinen Geschwindigkeiten nicht mehr maß-
gebend für dasselbe ; vielmehr scheint es dann die
vorhandene Molekülzahl zu sein, da sich die ver-
schiedenen Gase von gleichem Druck dabei nahe
einander gleich verhalten.
Wir schreiten nunmehr zur Wiedergabe der
auf die vorliegenden Erfahrungstatsachen gegrün-
deten Hypothese Lenard's, die nicht nur den ein-
fachen Gesetzmäßigkeiten, wie sie für schnelle
Strahlen erkannt sind, sondern auch den zuletzt
erwähnten Abweichungen soweit gerecht werden
muß, daß eine quantitative Verwertung der Mes-
sungsresultate berechtigt und aussichtsvoll erscheint.
Die vorliegende Hypothese besteht in der Annahme,
daß die verschiedenen Atome aller Materie auf-
gebaut seien aus einerlei Bestandteilen in ver-
schiedener Zahl , welche Lenard D y n a m i d e n
nennt und im folgenden mit gewissen, aus der
Erfahrung abstrahierten Eigenschaften begabt. Jedes
materielle Atom, dessen absolute Größe einem
Durchmesser zwischen iO~' und ic'^ cm ent-
spricht, ist danach aus einer seinem Gewicht pro-
portionalen Zahl gleich schwerer Dynamiden zu-
sammengesetzt, und auch jeder materielle Körper
besteht aus einer seinem Gewicht proportionalen
Zahl von Dynamiden, so daß zwei gleich schwere
Körper sich ausschließlich durch die verschiedene
Gruppierung der in gleicher Zahl in ihnen vor-
handenen Dynamiden unterscheiden, gleichgültig
ob die betreffenden Körper chemisch einfach oder
beliebig zusammengesetzt sind. Hiermit ist das
Massengesetz ohne weiteres verständlich. Da es
indes nur angenäherte Gültigkeit hat, wird es not-
wendig sein, die gemachten Annahmen weiter auf
ihre Richtigkeit zu prüfen.
Zunächst muß angenommen werden, daß die
Dynamiden viele freie Zwischenräume zwischen
sich lassen, weil ein genügend schnell bewegtes
Strahlquantum, d. h. ein Elementarteilchen reiner
negativer Elektrizität, als welches man jetzt all-
gemein ein Kathodenstrahlteilchen anzusehen hat,
frei Tausende von Atomen durchqueren kann, ohne
daß seine Geschwindigkeit nach Größe und Rich-
tung sich wesentlich änderte. Da dennoch bei
diesem Hindurchfahren durch die Materie jedes-
mal ein bestimmter Bruchteil der Quanten an
Atome festgelegt wird, so ist jeder Dynamide ein
gewisser absorbierender Querschnitt zuzuschreiben,
derart, daß die auf einen solchen Querschnitt
fallenden Quanten zurückgehalten, die neben ihm
vorbeigehenden mit nahezu unveränderter Ge-
schwindigkeit durchgelassen werden. Aus der
kinetischen Gastheorie folgt nun, daß der Bruch-
532
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 34
teil der Zahl sehr kleiner bewegter Teilchen, welcher
durch eine d cm dicke Schicht anderer, unregel-
mäßig angeordneter Teilchen, hier der Dynamiden,
hindurchdringt, ohne angestoßen zu haben , e"""'
ist, wenn a die auf die Volumeneinheit bezogene
Querschnittsumme jener Schichtteilchen darstellt.
Der Vergleich dieses Ausdrucks mit unserer früher
aufgestellten Gleichung zeii;t, daß die oben ver-
zeichneten spezifischen Absorptionsvermögen die
Summen der absorbierenden Querschnitte der in
I ccm der betreffenden Gase bei i mm Druck
vorhandenen Dynamiden in Quadratzentimetern
angeben. Man sieht, daß sonach der absorbierende
Querschnitt jeder einzelnen Dynamide in der Weise
von der Geschwindigkeit der Quanten abhängig
ist, daß größerer Geschwindigkeit ein kleinerer
Querschnitt entspricht. — Es wird dies begreif-
lich , wenn die Dynamiden als elektrische Kraft-
felder gedeutet werden, deren absorbierender Quer-
schnitt gerade der Querschnitt desjenigen Teiles
des Dynamidenfeldes wäre, in welchem die elek-
trischen Kräfte genügend groß sind, Quanten der
betreffenden Geschwindigkeit festzuhalten.
Der Wegfall der Massenproportionalität beim
Übergang zu den geringsten Geschwindigkeiten
und das damit zusammentreffende, verringerte An-
wachsen der Absorption kann dahin verstanden
werden, daß die mitabnehmender Strahlgeschwindig-
keit anwachsenden Dynamidensphären alsdann zu
gegenseitiger Deckung kommen. In den gemein-
samen Räumen mehrerer sich deckender Sphären
muß teilweise Vernichtung der sich geometrisch
addierenden Kräfte eintreten, so daß durch solche
Deckung absorbierender Querschnitt verloren geht.
Da die Deckung aber bei verschiedenen Atom-
sorten in verschiedenem Grade stattfinden muß,
je nach der Größe des Raumes, der für je eine
Dynamide im Atom zur Verfügung steht, so ist
die Abweichung von der Massenproportionalität
durch das Verhältnis zwischen Molekularvolumen
und Molekulargewicht der Substanzen gegeben.
Will man den elektrischen Kraftfeldern be-
sondere, mit undurchdringlichem Eigenvolumen
versehene Zentren zuschreiben, so wäre der Quer-
durchschnitt der letzteren jedenfalls kleiner als der
kleinste experimentell gefundene absorbierende
Querschnitt, d. h. sein Radius kleiner als 0,3 >; iO~"
cm, so daß sich das Volumen aller in einem Atom
befindlichen Dynamiden zum \'olumen des Atoms
wie I : I09 verhalten würde. In diesem Sinne ist
beispielsweise der Raum, in welchem ein Kubik-
meter festes Gold sich findet, leer in der Weise
wie etwa der von Licht durchzogene Himmels-
raum, bis auf höchstenfalls i Kubikmillimeter als
gesamtes, wahres Dynamidenvolumen.
Die Erscheinungen der Absorption werden nun
am leichtesten verständlich, wenn als Zentren der
Kraftfelder elektrische Quanten angenommen wer-
den, so daß die einfachste Vorstellung einer Dyna-
mide die eines elektrischen Doppelpunkts wäre,
bestehend aus einem positiven und einem nega-
gativen Elementarquantum, deren gegenseitiger
Abstand für die verschiedenen Stoffe als variabel
angenommen werden könnte, wodurch spezifische
Verschiedenheiten unter den Dynamiden bestimmt
wären. Auf diese Weise ist die Dynamide als
Ganzes elektrisch neutral, und die Absorption eines
negativen Kathodenstrahlteilchens geht derart vor
sich, daß dasselbe beim Eintritt in das Kraftfeld
der Dynamide vom negativen Punkt abgestoßen
und zum positiven hingezogen wird. Dabei ist
nun zunächst anzunehmen , daß jedes Quant des
Doppelpunkts in äußerst schneller Rotation um
seine eigene Achse begriffen ist (nach Lenard z. B.
etwa io-° Umläufe pro Sekunde), weil sonst un-
verständlich bliebe, daß sich die beiden entgegen-
gesetzt sehr stark geladenen Quanten in kleinem
Abstand voneinander halten könnten. Desgleichen
wird wohl jedes vom Kraftfeld festgehaltene Ka-
thodenstrahlteilchen schnelle Umläufe um den posi-
tiven Punkt ausführen oder Bahnen beschreiben,
deren Kenntnis von einer noch zu findenden Lösung
des Dreikörperproblems, das nicht nur anziehende
sondern auch abstoßende Kräfte berücksichtigt,
zu erwarten wäre.
In allerneuester Zeit hat Prof. Warburg ver-
sucht , die Erscheinungen der Absorption durch
Metalle durch eine eigene Theorie darzustellen,
welcher er die Annahme zugrunde legt, daß alle
Körperteilchen aus gewissen mit Masse belegten
Kraftzentren beständen, welche auf die Kathoden-
strahlteilchen abstoßend wirkten mit einer Kraft,
welche einer Potenz der Entfernung umgekehrt
proportional wäre. Es ist diese Vorstellung, die
also von der Existenz eines negativen und posi-
tiven Kraftpunktes absieht und nur den ersteren
als bestehend annimmt, zwar leichter der theo-
retischen Durcharbeitung zugänglich ; aber die Re-
sultate der Rechnung lassen sich in manchen Fällen
nicht in Einklang bringen mit den Tatsachen der
Erfahrung, was zu berechtigtem Zweifel an der
Richtigkeit der Grundvorstellungen führt.
Demgegenüber waren die Vorstellungen von
der Existenz des elektrischen Doppelpunktes voll-
ständig geeignet, alle Resultate der Beobachtung
nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ in
einfacher Weise zusammenzufassen, und es ist von
einem weiteren Studium der Absorption der
Kathodenstrahlen zu erwarten, daß es uns noch
weitere Mittel an die Hand geben werde, die ge-
zeichneten Kraftfelder noch näher kennen zu
lernen.
Kleinere Mitteilungen.
Über Rassenverschmelzung. — L. F. Ward
bringt im „American Journal of Sociology" ') einen
Aufsatz, in welchem er seiner Ansicht über die
fortschreitende Verschmelzung der Menschenrassen
') „American Journal of Sociology", vol. 8 p. 721 u. li.
N. F. III. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
533
Ausdruck verleiht. Nachdem in vergangenen Hnt-
wicklungsperioden des Menschengeschlechts, zu-
gleich mit dem Bestreben desselben, sich nach
allen Richtungen auszudehnen, die Tendenz zu
einer weitgehenden Differentiation der Rassen ob-
waltete, leben wir gegenwärtig in einer Periode
der Rassenverschmelzung. Die Tatsache der fort-
dauernden Verschmelzung der einzelnen Rassen
ei n er Rassengruppe ist allgemein bekannt. Ward
nimmt noch weiter an, daß auch eine Veredelung
der niederen Rassen durch sukzessive Verschmel-
zung mit den höheren, namentlich homo europaeus,
eintreten werde. Wie energisch auch eine superiore
Rasse dieser Tendenz widerstreben mag, so kann
doch dadurch der Verschmelzungsprozeß nur zeit-
lich ausgedehnt, nicht aber vollständig vermieden
werden. Es ist bekannt, daß die mittelländische
Rasse sich gern mit allen andern Rassen mischt,
mit welchen sie in Kontakt kommt ; die Revölke-
rung der spanisch-amerikanischen Republiken ist
eines von vielen Beispielen. Die nordeuropäische
Rasse hat bisher im allgemeinen bis zu einem
gewissen Grade der Verschmelzung mit Rassen
einer anderen als der europäischen Gruppe erfolg-
reich Widerstand geleistet, allerdings nicht voll-
kommen. Die amerikanischen Indianer, welche in
denselben Gebieten verblieben, die von Europäern
besiedelt wurden, sind nun durchwegs mit den
letzteren vermischt. So weist auch C. v. Ujfalvy ')
auf den Umstand hin, daß gewisse bartlose und
knochige Yankeegesichter viel mehr an Rothäute
als an die Söhne Albions erinnern. Obwohl die
Folgen derartiger Rassenmischungen in den Ver-
einigten Staaten wenig hervortreten, da die An-
gehörigen der europäischen Rasse bei weitem in
der Überzahl sind, so ist doch bereits ein Teil
der Indianerbevölkerung in dem europäischen Ele-
ment aufgegangen. Auch in den Indianerreser-
vationen, in welchen sich in letzter Zeit eine be-
deutende Anzahl europäischer Ansiedler nieder-
gelassen hat, geht eine rasche Blutmischung vor
sich. Den indianischen Bewohnern der \'ereinigten
Staaten ist durch Gesetz eine jährliche Rente in
bestimmter Höhe pro Person zugesichert; dies ist
oft die Veranlassung zu Mischehen, da aus dem
genannten Grunde indianische Frauen bei der
unteren Klasse der Ansiedler gesucht sind.
Die Mischung der europäischen Rasse mit den
Negern wird in den Vereinigten Staaten mit allen
Mitteln zu hindern versucht, jedoch nur mit teil-
weisem Erfolg. I{in Effekt der Sklaverei ist je-
weils die Mischung der freien mit der Sklaven-
bevölkerung; dies war auch in Amerika der Fall,
ungeachtet des Umstandes, daß die Sklaven einer
anderen Rassengruppe angehörten. Noch ehe die
Sklaverei abgeschafft wurde, war eine zahlreiche
Mischlingsbevölkerung vorhanden. Die Abschaffung
der Sklaverei hat den Mischungsprozeß zwar ver-
langsamt, aber nicht gänzlich unterbunden.
In Hinsicht auf die mongolischen Rassen —
außer den Indianern — scheint weniger Aussicht
auf eine Vermischung derselben mit Europäern
vorhanden. Obwohl in Asien eine Verschmelzung
der mongoHschen mit arischen und semitischen
Elementen vor sich ging, ist ein ähnlicher Vor-
gang in Amerika bisher nicht beobachtet worden,
trotzdem die mongolische Einwanderung in die
Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten
nicht unbedeutend war.
Ward meint, daß, wie groß auch die Hinder-
nisse, die sich der Rassenverschmelzung entgegen-
stellen, in manchen Fällen sein mögen, dennoch
dieser Prozeß so lange fortschreiten wird, bis alle
gegenwärtigen Menschenrassen in eine einzige
Rasse umgebildet sind. Das scheint etwas zu weit
gegangen ; seit der Kolonisation fremder Erdteile
mit Ansiedlern der nordeuropäischen Rasse ist nur
ein geringer Teil der eingeborenen Rassen durch
Verschmelzung in den neuen Ansiedlern aufge-
gangen; der größte Teil der früheren Einwohner
sowohl der Vereinigten Staaten wie Australiens ist
ausgestorben. Ein Beweis dafür, daß Mischlings-
völker die aus verschiedenen Rassengruppen her-
vorgingen, in der Entwicklung weit zurückbleiben,
sind die zentral- und südamerikanischen Re-
publiken,') sowie auch die Südstaaten der Union,
in welchen die Zahl der Mischlinge eine sehr
große ist. Fehlinger.
') Man vergleiche : „Ethnic Factors in Latin America"
in ,, Annais of thc .American Academy of Social and Pol.
Science", Sept. 1903.
') „Politisch-anthropologische Revue", II, pag. 794.
Über die Wanderungen verschiedener
Bartenwale gibt Gustav Guldberg im 23.
Bande des Biologischen Zentralblattes eine ein-
gehendere Darstellung. Neben ihrer weiten Ver-
breitung über alle Weltmeere lassen die Wale
sehr ausgeprägte, durch das Nahrungsbedürfnis
und den Fortpflanzungstrieb hervorgerufene Wan-
derungen erkennen. Nach den neueren Forschungen
sind die Wale im allgemeinen als Küstenbewohner
anzusehen ; die reiche, aus Planktonorganismen und
Ufertieren sich zusammensetzende Nahrung lockt
sie hierher. Ganze Tierschwärme häufen sich in
der Nähe der Küsten an und diesen folgen nun
in ihrem Hin- und Herströmen, ihrem periodischen,
jahreszeitlichen Auftreten die Wale auf ganz be-
stimmten Wegen. Weiter suchen die Weibchen
zur Zeit des Wurfes ruhige, seichte Gewässer auf,
auch dies vollzieht sich in regelmäßigen Wande-
rungen.
Der Grönlandwal (Balaena mysticetus), welcher
ausschließlich das arktische Polarmeer bewohnt,
zieht sich im Sommer in die Gewässer des höch-
sten Nordens zurück, während er im Winter an
der Ostseite Grönlands bis zum 65." n. Br. , an
der Westseite bis zum 58." nach Süden geht, sich
stets dabei am Südrande der Eisfelder aufhaltend,
wo seine aus Pteropoden und niederen Krebsen
bestehende Nahrung massenweise anzutreffen
ist. An der asiatischen Küste geht er im Winter
534
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 34
bis zum 53." n. Br. nach Süden, um im Sommer
weit nach Norden bis in das an die Beringstraße
angrenzende Eismeer zurück zu wandern. Ge-
legentlich gelangten ganze Scharen solcher wan-
dernder Wale zur Beobachtung, der Walfischfang
hat heuzutage indessen sehr stark unter ihnen
aufgeräumt.
Auch der Nordkaper (Eubalaena
glacialis) weist derartige jahreszeitliche
Wanderungen auf, im Winter besucht
er die wärmeren Küsten des biskayischen
Meerbusens, im Sommer ist er an den
Küsten Islands, des nördlichen Nor-
wegens und Amerikas anzutreffen. Er
geht südlich bis zu den Azoren und
Bermudas Inseln, nördlich bis zu den
Bäreninseln. In der nördlichen Hälfte
des pacifischen Ozeans wird er durch
eine nahe verwandte Form, den Japan-
wal (Eubalaena japanica), vertreten, der
ganz entsprechende Wanderungen unter-
nimmt. Und der gemäßigten Zone
der südlichen Hemisphäre endlich ge-
hört der Kapwal (Balaena australis) an,
die wärmere Jahreszeit treibt ihn nach
Süden in die antarktischen Meere, die
kältere nach den wärmeren Meeren im
Norden.
Einer anderen Familie gehört der
Grauwal (Rachianectes glaucus Cope)
an , der den Stillen Ozean nördlich
vom Äquator als echter Küstenbewohner
des nordamerikaiiischen Kontinentes
bevölkert. Von November bis Mai hält
er sich an den Küsten Kaliforniens auf
wo die Weibchen in stillen Buchten ihre
Jungen werfen , mit Anfang Sommers
begeben sich dann Männchen, Weibchen
und Junge auf die Reise nach Norden,
meist nahe der Küste entlang schwim-
mend, und sammeln sich schließlich in
der Beringsee und im Ochotskischen Meere in
Scharen an. J. Meisenheimer.
Griffel von außerordentlicher Länge. Bei der mir
eingelieferten Pflanze zeigte die Anordnung der
Blüten wesentliche Abweichungen. Staubblatt-
und Fruchtblattblüten waren beide gipfelständig
und saßen an einer gemeinsamen Achse. Die zahl-
reichen Staubblattbüten befanden sich an dem
unteren Teil, die in geringerer Anzahl vorhande-
Eine abnorme Blütenbildung beim Mais.
— Im September v. J. wurde mir von einem
meiner Schüler eine Maispflanze gebracht, die eine
sonderbare Abweichung von der gewöhnlichen
Blütenbildung zeigte. Wie bekannt, ist der Mais
im Gegensatze zu unseren einheimischen, ange-
bauten Gräsern ein einhäusiges Gewächs. Die
zahlreichen Staubblattblüten sind, zu einer Rispe
angeordnet, endgipfelständig; die Stempelblüten,
gleichfalls in zahlreicher Menge vorhanden, finden
sich weiter unten am Stengel in den Blattachseln
vor. Sie stehen dicht gedrängt um die fleischig
verdickte Blütenachse, den Kolben, herum und
sind zu ihrem Schutze von mehreren Hüllblättern
umgeben, die sich in zarter Längslage um die
Fruchtblattblüten legen. Da der Mais nun zu den
windblütigen Pflanzen gehört und aus diesem
Grunde die Narben freiliegen müssen, so sind die
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Abnorme Maispflanze.
nen P'ruchtblattblüten anschließend darüber. Die
Blütenachse war in der Region der letzteren etwas
verdickt, die Griffel standen in bezug auf Länge
hinter derjenigen normaler Pflanzen zurück. Die
Hüllblätter fehlten und waren nicht einmal ansatz-
weise vorhanden. Eine genauere LIntersuchung
ergab, daß bereits eine Befruchtung stattgefunden
hatte, was in der Abbildung 2 deutlich zutage
tritt. An einzelnen Blütenständen war der P'rucht-
ansatz bereits so weit vorgeschritten, daß man die
Anlage schon mit unbewaffnetem Auge deutlich
erkennen konnte. Obwohl ich mir, einmal auf-
merksam gemacht , redlich Mühe gegeben habe,
in den hier zahlreichen kleineren Maisfeldern eine
ähnliche Abnormität zu entdecken, so ist es mir
dennoch nicht gelungen. Es wäre von Interesse
gewesen, festzustellen, ob einige der Fruchtansätze
zur vollen Entwicklung gekommen wären, ob die
Samen keimfähig gewesen wären und ob die Nach-
saat eine Prädisposition zu derartigen Abweichungen
in der Blütenbildung auf Grund der Vererbungs-
N. F. III. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
535
kraft gezeigt hätten. Vielleicht kann jemand der
Leser diesbezügliche Beobachtungen mitteilen.')
Schulz- Herford i. W.
') Die schwammige , diclie Achse des weiblichen Mais-
kolbens ist vielleicht eine durch die Kultur gefestigte Bildungs-
abweichung, während die Vorfahren des Mais (die Pflanze ist
nur im kultivierten Zusande bekannt und stammt wohl aus
dem tropischen Amerika) dünnere Achsen besessen haben
dürften wie die obige „Abnormität", die daher zum Teil wohl
atavistische Momente enthält. Von der einen Maissorte, dem
,, Balgmais" sagt Haeckel (in den Natürlichen Pflanzenfamilien
II. 2, Leipzig 1887, p. 20), daß sie sich u. a. in Bezug
auf ,,die seltene .Auflösung des Kolbens in mehr oder weniger
getrennte Ähren mit Andeutung von Gliederung in Bezug auf
den Blütenstand der Stammform" nähern dürfte. — P.
Ein Übergang zwischen Kreide und Tertiär.
— Die (irenzen, die wir zwischen zwei geologi-
schen Formationen zu ziehen pflegen, haben nur
eine beschränkte Bedeutung. Die Abschnitte, in
welche durch sie die Erdgeschichte zerlegt wird,
stehen untereinander nicht ohne Verbindung da.
Als man im Beginn der geologischen Forschung
glaubte, daß die Tierwelt eines jeden Schichten-
systems ihr Dasein einem besonderen Schöpfungs-
akt verdankte und später durch katastrophenartige
Ereignisse ganz und gar vernichtet sei, mußte man
jede Information als eine Einheit betrachten, die
durch keine Übergänge mit anderen verknüpft sei.
In der Tat sind diese Grenzen zwischen den For-
mationen und Systemen dort, wo man sie zuerst
zog, vielfach so scharf ausgeprägt, daß sie gerade-
zu von der Xatur gegeben scheinen. Daß man
z. B. bei uns mit den marinen Ablagerungen des
untersten Lias, die sich auf die terrestrischen Bil-
dungen des Keupers legen, eine neue, die Jura-
formation, beginnen ließ, war eine durchaus be-
rechtigte Einteilung. Man darf nur nicht ver-
gessen, daß der Schnitt , der hier in der Erdge-
schichte zu liegen scheint, keine allgemeine, sondern
nur eine lokale Bedeutung hat. Je mehr sich die
Kenntnis der geologischen Beschaffenheit der Erde
erweitert hat, desto mehr Übergänge zwischen
den Formationen sind aufgefunden. Theoretisch
muß man diese Übergänge für die ganze Erd-
geschichte erwarten, seitdem es zur Gewißheit ge-
worden ist, daß diese ebenso unter dem Zeichen
der allmählichen Entwicklung steht, wie die Ge-
schichte der Organismen. Die geologische Wissen-
schaft gebraucht jetzt die Namen der Formationen,
Perioden usw. mit dem Bewußtsein, daß dieselben
konventionellen, aber nicht natürlichen Abschnitten
der Entwicklungsgeschichte unseres Planeten ent-
sprechen, deren man aber nicht entraten kann,
um das Buch dieser Geschichte zuzuschreiben.
Die Methode, welche die Geschichtsschreibung der
Menschheit anwendet, ist ja ganz dieselbe.
Wenn wir also auch nicht daran zweifeln, daß
sich ununterbrochen im Meer Absätze gebildet
haben, die die Tierformen ihrer Bildungszeit ein-
schlössen, so wissen wir doch andererseits, daß
diese Sedimentation nicht an einer einzelnen Stelle
der Erde ohne Unterbrechung vor sich gegangen
ist. Zwar haben wir die Erfahrungen, auf die wir
uns bei diesen Behauptungen stützen, nur auf dem
festen Lande gemacht. Was der heutige Meeres-
grund an Gesteinen aus früheren Zeiten birgt,
wird unserem Wissen wohl für immer verborgen
bleiben. Von dem uns zugänglichen Teil der Erd-
kruste wissen wir aber, daß kein Punkt immer
Land oder immer Meer gewesen ist. Die beiden
Elemente haben sich vielmehr in beständigem
Kampfe die Gebiete ihrer Herrschaft streitig ge-
macht und erorbert und wieder eingeräumt. Nur
die marinen Ablagerungen sind aber die für die
Erdgeschichtsschreibung brauchbaren Dokumente.
War nun zu irgend einer Zeit aus einem Gebiet,
das heute Land ist, damals aber von Wasser be-
deckt war, das Meer in eine Region, die auch
heute vom Meer bedeckt ist, zurückgewichen, so
sind die Schichten, die sich damals bildeten, der
Erforschung nicht zugänglich. Es klafft also jetzt,
wenn das Meer nun wieder in das verlassene Ge-
biet eindrang, eine der Epoche der Trockenlegung
entsprechende Lücke zwischen zwei Meeresabsätzen.
Es hat eine Unterbrechung in der Sedimentation
stattgefunden, und hat sie lange gedauert, so
können während derselben Veränderungen der
Lebewelt stattgefunden haben, die durch die Fos-
silien der Ablagerungen kund werden.
Bis vor kurzer Zeit war z. B. die Lücke zwischen
Perm und Trias unüberbrückt. Erst in neuerer
Zeit hat man in Vorderindien Schichten kennen
gelernt, die einen ganz allmählichen Übergang
zwischen diesen beiden Formationen und demnach
zwischen Paläozoikum und Mesozoikum darstellen,
so daß es Schwierigkeiten macht, eine Grenze
zwischen ihnen zu ziehen. Ferner geht z. B. in
manchen Teilen der Alpen die Juraformation in
der ,,Tithon-Stufe" in geologischer und faunistischer
Hinsicht so allmählich in die Kreide über, daß
das Problem, wo die Grenze gelegt werden muß,
kaum zu lösen ist.
Eine Lücke gab es aber immer noch, die sich
nicht schließen wollte; es ist die zwischen Meso-
zoikum und Tertiär. Schichten, die einen Über-
gang aus der Kreide ins Eocän darstellen, sind
bisher noch nicht gefunden. Früher glaubte man
wohl, solche zu kennen. So galt die „Chico-Tejon-
P'ormation" in Kalifornien als eine solche Ab-
lagerung. Die genaue Prüfung der wenigen Be-
weise, die für diese Behauptung beigebracht waren,
hat aber gezeigt, daß die Chico- und die Tejon-
Gruppe durch eine Diskordanz voneinander ge-
trennt sind. Erstere gehört der Kreide, letztere
dem Eocän an. Das P'ehlen dieser Übergangs-
schichten ist wohl so zu erklären, daß das Ver-
hältnis zwischen Festland und Meer beim Beginn
der Tertiärzeit dem heutigen sehr ähnlich war. Von
den ältesten Zuständen der Erde ausgehend, finden
wir, je mehr wir uns der Gegenwart nähern, die
Verschiebungen zwischen Wasser und Land immer
geriifsfer werden, und immer weniger treffen wir
Ablagerungen des tiefen Meeres an. Aus der
Tertiärzeit kennen wir fast ausschließlich Bildungen
536
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 34
des seichten Wassers, die durch unbedeutende
Niveauveränderungen über die Meeresoberfläche
herausgehoben und in Land verwandelt werden
konnten. In Süßwasserablagerungen kommt der
Übergang aus dem Mesozoikum ins Tertiär dagegen
vor, so in der Laramie- Group Nordamerikas. Da ja
auch nur ein Bruchteil der zugänglichen Erdober-
fläche geologisch erforscht ist, so darf man die Hoff-
nung nicht aufgeben, daß spätere Entdeckungen
diese Lücke in der Erdgeschichte schließen werden.
Jüngst hat Noetling hierzu einen Beitrag geliefert
(Zentralbl. f. Min., Geol., Pal. 1903 Nr. 16). Er be-
schreibt aus den Marri Hills im östlichen Balu-
tschistan eine Schichtenfolge, die aus der Kreide
ins Eocän hinüberführt. Das von ihm mitgeteilte
Profil zeigt gleichmäßig übereinander lagernde
Schichten, die eine schwache Aufrichtung erfahren
haben. Über sehr mächtigen, weichen, blaugrauen,
fossilleeren Tonen folgen dunkle Kalke und Tone
in reicher Wechsellagerung, welche sämtlich durch
das Vorkommen von Gryphaea vesicularis als
Senon (obere Abteilung der ob. Kreide) gekenn-
zeichnet werden. Auch die darüber folgenden
Schichten, die nach oben vielfach braune und
rote Farben annehmen, müssen noch zur Kreide
gerechnet werden, da in ihnen ein Ammonit,
IndocerasBelutschistanensis, gefunden wird. (Dieser
Ammonit — vielleicht der jüngste Vertreter dieser
Molluskenordnung — gehört zu den „Kreidecera-
titen", sogenannt, weil diese Formen ebensolche
gezackte Loben haben wie die Gattung Ceratltes
des Muschelkalks , ^) mit der sie aber nicht zu-
sammenhängen.) Über einer Bank von Kalksand-
stein, deren Fauna leider eine Altersbestimmung
nicht zuläßt, folgen dann dunkelschwarze Schiefer-
tone von etwa 100' Mächtigkeit, die nach oben
fester werden und in einer Kalkbank endigen, die
u. a. zahlreiche kleine Nummuliten und Alveolinen
enthält. Durch diese P'oraminiferen wird das ter-
tiäre Alter der Schicht bekundet. Darüber liegen
noch mitteleocäne Tone und Knollenkalke mit
vielen Nummuliten. Die Mächtigkeit der Ablage-
rungen von unsicherem xAlter zwischen zweifelloser
Kreide und zweifellosem Tertiär beträgt nur 1 50'
engl. (= etwa 45 m).
Leider fehlen also gerade in den Übergangs-
schichten deutliche Versteinerungen, und selbst,
wenn wirklich an dieser Stelle von der Kreide-
in die Tertiärzeit hinein ununterbrochen Sedimen-
tation stattgefunden hat — der ersehnte Übergang
von Mesozoikum ins Tertiär ist diese Schichten-
folge doch noch nicht. Denn von diesem erhoffen
wir vor allem eine reiche Fauna, die uns Auskunft
über die Art und Weise gibt, wie die z. T. so be-
deutenden Veränderungen der Lebewelt vor sich
gegangen sind, die uns mit dem Beginn des Ter-
tiärs entgegentreten. Was ist z. B. aus den Am-
moniten geworden? Was wird aus diesen im
Mesozoikum so überreich entwickelten Tierformen
mit dem Schluß der Kreidezeit? Warum finden
wir von ihnen in tertiären Ablagerungen keine
Spur? Diese Fragen sind noch nie befriedigend
beantwortet. ^) Anhaltspunkte für die Beantwortung
könnte man wohl arn ersten aus der Untersuchung
einer Fauna von Übergangsschichten zwischen
Kreide und Tertiär zu finden erwarten. Das Vor-
kommen in Balutschistan läßt also noch viele
Fragen offen ; aber dieser Fund erweckt von neuem
die Hoffnung, daß doch noch eines Tages durch
eine glückliche Entdeckung der Riß zwischen
Mesozoikum und Tertiär geschlossen werden wird.
Dr. Otto Wilckens.
') Vgl. auch den Aufsalz von Solger. Nat. Wocb. N. F.
Bd. I pag. 94.
') Die Abbildung einer solchen Lobenlinie findet man
Nat. Woch. N. F. Bd. 1 pag. 93 Fig. 11.
Über den Dopplereffekt im elektrischen
Funken. — Es ist bekannt, daß beim Überschlagen
des elektrischen Funkens zwischen zwei Elektroden
Teilchen von letzteren losgerissen und zum Leuch-
ten gebracht werden, so daß die prismatische Zer-
legung des Funkenbildes die Spektrallinien des
Elektrodenmaterials liefert. Zur Feststellung der
Geschwindigkeit dieser leuchtenden Partikel, deren
Größe für die Kenntnis der komplizierten Vor-
gänge im Funken von Wichtigkeit ist , wurden
schon einige Untersuchungen angestellt, die aber
je nach der angewandten Methode mehr oder
weniger voneinander abweichende Resultate liefer-
ten. Schuster und Hemsalech ließen (1900)
den Funken längs des Spalts eines Spektralapparats
springen, während sie die die Spektrallinien auf-
fangende photügraphische Platte am Ende des
Beobachtungsfernrohrs rasch senkrecht zur Spalt-
richtung bewegten. Dann wurden die Spektral-
linien keine Geraden sondern Kurven, und die
Gestalt derselben ergab unter Berücksichtigung
der Geschwindigkeit der Platte für die Geschwin-
digkeit der leuchtenden Teilchen Zahlen von
einigen Hundert Metern bis 2000 ™'sec. Schenk
hat (1901) die Geschwindigkeit des abgeschleuder-
ten Metalldampfs annähernd berechnet, indem er
bei seinen Versuchen die Periode der Funken-
entladung zu io~^ sec. bestimmte. Da nun in
dieser Zeit der Metalldampf schon bis über die
Mitte der P'unkenstrecke leuchtet, so muß man
schließen, daß in dieser Zeit von den Elektroden
Metalldampf bis dorthin geschleudert worden ist.
Nimmt man für diese Strecke etwa 0,5 cm an, so
ergibt sich eine Geschwindigkeit von 5000 "/sec.
Eine andere Bestimmungsmethode ist durch die
Benutzung des Doppler'schen Prinzips gegeben,
das sowohl in der Akustik als auch in der Astro-
physik zur Bestimmung von Sterngeschwindig-
keiten im Visionsradius vielfach verwandt wird.
D o p pl er^machte nämlich schon im Jahre 1841
darauf aufmerksam', daß die Höhe eines Tones
oder die Farbe eines Lichteindrucks sich erhöhen
oder erniedrigen müsse, wenn der tönende oder
leuchtende Körper sich dem Beobachter nähert
oder sich von ihm entfernt. Im ersteren Falle
N. F. III. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
537
wird nämlich das Sinnesorgan innerhalb einer
Sekunde von einer größeren, im letzteren Falle
von einer kleineren Anzahl Wellen getroffen, als
wenn die Ton- oder Lichtquelle stillsteht. Stellen
wir uns nun vor, daß wir in der Richtung eines
elektrischen Funkens blicken , in dem leuchtende
Teilchen von der einen Elektrode gegen die andere
hinfliegen, so müßte das von ihnen ausgesandte
Licht entweder mit etwas größerer oder kleinerer
Schwingungszahl ins Auge gelangen und infolge-
dessen durch ein Prisma stärker oder schwächer
gebrochen werden als das von ruhenden Teilchen
ausgesandte; die Spektrallinien des Elektroden-
metalls müßten also verschoben sein.
Angström war (1855) der erste, welcher
das Doppler'sche Prinzip auf die Vorgänge bei
elektrischen Entladungen anwandte. Aber weder
er noch andere Beobacliter konnten eine Bewegung
der leuchtenden Gasteilchen nachweisen. Später
(1902) stellte Mohler eine Funkenstrecke senk-
recht gegen den Spalt eines Spektralapparats und
photographierte deren Spektrum mit einem Konkav-
gitter; dann drehte er den Funken um 180" und
photographierte auf dieselbe Platte. Die Ver-
schiebungen entsprachen dann der doppelten Ge-
schwindigkeit der leuchtenden Partikel und ergaben
hierfür etwa 740 ™/sec. Diese Methode hat neuer-
dings Hagenbach (Ann. d. Phys. 13, 1904) in
der Weise vervollkommnet, daß er gleichzeitig
zwei Funkenstrecken übereinander aufstellte, welche
beide nach dem Spalt hingerichtet waren. Beide
wurden vom selben Induktionsapparat
gespeist, so daß der Strom durch die
Funkenstrecken nacheinander, aber im
entgegengesetzten Sinn, ging. Dadurch
waren kleine Verschiebungen infolge zu-
fälliger Erschütterungen bei den langen
Expositionszeiten unschädlich gemacht.
Die spektrale Zerlegung erfolgte ein-
mal mit einem Stufen- , das andere
Mal mit einem Konkavgitter. Die sorg-
fältigen .Ausmessungen der photographischen Auf-
nahmen ergaben eine äußerst minimale Verschie-
bung der Spektrallinien gegeneinander, und es
kann der Schluß gezogen werden, daß die obere
Grenze für die möglichen Geschwindigkeiten der
leuchtenden Gasteilchen im Funken nicht weit
über 280 "/sec liegen kann.
Daß dieser Wert bedeutend kleiner ist als er
sich besonders aus der oben mitgeteilten Rech-
nung ergibt, läßt die Annahme berechtigt erscheinen,
daß der Metalldampf wohl mit großer Geschwin-
digkeit in die Funkenstrecke geschleudert wird,
daß er aber erst dann unter den Oszillationen
energisch zum Leuchten gebracht wird, ohne
weitere wesentliche mechanische Verschiebung zu
erleiden. Dann aber ist jede optische Methode
zur Geschwindigkeitsbestimmung der Metallteilchen
ungeeignet. Dr. A. Becker.
Zum Rüstzeug des Naturforschers und
Naturfreundes gehören nicht in letzter Linie
gute Einschlag- resp. T a s c h e n 1 u p e n.
Merkwürdigerweise war es damit — wenigstens
soweit stärkere Vergrößerungen in Frage kamen
— in bezug auf deutsches Fabrikat nicht zum
Besten bestellt. Wie die Firma Carl Zeiß, Jena,
hinsichtlich der Mikroskope bahnbrechend vorge-
gangen , so hat sie nunmehr auf Anregung hin
bereitwilligst die weitestgehenden Wünsche betreffs
tadelloser und auch in der Fassung praktischer
Lupen befriedigt. Während die früheren aplana-
tischen Zeiß'schen Lupen von 10 facher Vergröße-
rung namentlich in der nebenstehenden, besonders
Fig. a. Niit. Größe.
für Entomologen praktischen Fassung (Fig. a) im
wesentlichen nach dem Steinheil'schen Typus ge-
baut waren und daher aus drei Linsen bestanden,
weist die neue Doppellupe von 16- und 27 facher
Vergrößerung einen ganz anderen aus vier Linsen
bestehenden Typus auf (Fig. b). Trotz der starken
Vergrößerung ist das Sehfeld vollständig astig-
matisch korrigiert, so daß die Lupen als an-
astigmatische zu bezeichnen sind. Die Brenn-
weite der 16;- Lupe ist ca. 15 mm, die der 27X
ca. 9 mm. Ich habe diese neue Lupe, die auch
mit 20X27 facher Vergrößerung geliefert wird,
einer gründlichen Prüfung unterzogen und finde
alle meine Erwartungen übertroffen. Überraschend
groß ist der freie Objektabstand. Die zugespitzte
Fassung ermöglicht ein nahes Heranbringen mit
großer Sicherheit. Während früher sehr oft das
Mikroskop in Tätigkeit gesetzt wurde, um feinere
Einzelheiten klar zu legen, ist die Klarstellung
jetzt sofort event. schon auf der Exkursion er-
ledigt. Das Sehfeld ist ein auffällig großes und
von hervorragender Lichtfülle. Die Fassung be-
steht aus Neusilber, so daß das Unansehnlich-
werden, wie es bei den vernickelten Lupen nach
längerem Tragen stets eintritt, vermieden wird.
Dr. v. Büttel.
538
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 34
Wetter-Monatsübersicht.
Der diesjährige April \var_am Anfang und Ende in ganz
Deutschland kühl und weit überwiegend trübe, während sich
die Mitte des Monats durch sehr^ freundliches , warmes Früh-
lingswetter auszeichnete. Bis [zum 12. hielten sich, wie die
beistehende Zeichnung ersehen'läßt, die mittleren Temperaturen
meist in der Nähe von 5 "_ C. Während der ersten Nächte
^ifffcrcTcmpcrafuren sima«rÖrfcim.?IpriI 190'^.
1. April - - - - *
Eerliner Welterbure^u .
gab es in vielen Gegenden leichten Frost. Dann aber riefen
trockene Südostwinde und heller Sonnenschein in Nordwest-
und Süddeutschland eine außerordentlich starke Erwärmung
hervor. Am Nachmittag des 14. wurden zum erstenmal in
diesem Jahre im Binnenlande 25" C überschritten, an den fol-
genden Nachmittagen an einzelnen Orten, z. B. in Cassel,
Karlsruhe, Stuttgart 29" C erreicht, und auch in den Nächten
dazwischen kühlte sich dort die Luft nicht unter 10" ab.
Nordöstlich der Oder stiegen die Temperaturen erst etwas
später und weniger bedeutend an , namentlich waren die
Nachtfröste in den Provinzen Ostpreufsen, Pommern und
Schlesien noch sehr häufig. Hier schritt daher auch die
Vegetation verhältnismäßig langsam vorwärts, während im
übrigen Deutschland um Mitte April die meisten Obstbäume
schon in voller Blüte standen.
Jedoch in der zweiten Hälfte des Monats trat auch im
Nordwesten und Süden eine neue Abkühlung ein , und erst
in seinen letzten Tagen wurde es wieder wärmer. Die
Durchschnittstemperaturen des .April übertrafen in Norddeutsch-
land um einige Zehntelgrade ihre normalen Werte, die sie in
Süddeutschland knapp erreichten. Ebenso wich die .Sonnen-
strahlung nicht sehr erheblich von ihrer gewöhnlichen Dauer
ab; beispielsweise wurden zu Berlin im letzten April 155
Stunden mit Sonnenschein verzeichnet und 169 Stunden im
Mittel der 12 vorangegangenen Aprilmonate.
Die Niederschläge waren, der nachstehenden Darstellung
zufolge, bis zum 12. April in allen Teilen Deutschlands recht
ergiebig.
In West- und Mitteldeutschland führte sich der Monat
mit einzelnen Gewittern und Hagelfällen ein, die sich dann
während der ganzen Osterwoche sehr häufig wiederholten.
Auch der Regen fiel gewöhnlich in .Schauern, zwischen denen
sich der Himmel immer wieder für kurze Zeit aufklärte , so
daß das Wetter sehr auffällig den unbeständigen Charakter
zeigte, wie er dem Monat .Xpril eigentümlich ist. .'\m 6. und
7. April herrschten äußerst heftige West- und Nordwest-
stürme, die an vielen Stellen, besonders der Nordseeküste,
unheilvolle Sturmfluten zur Folge hatten. Weniger schwere
Stürme schlössen einige Tage später diese Zeit der raschen
Witterungswechsel ab.
S b 1-S-s g-3 ä| d.s • Hig^.S
3:U)£2cz2c< «sozSoim SsiTLtm^
1. bis 12. April.
illiiliuiu
II
Deutschland.
^onalssumnienimÄpril
I90t 03.02. Ol. 00.1899,
^ BeHintfWetlerbiffwu
Vom 13. bis 21. April herrschte im allgemeinen trockenes
Wetter vor, wurde jedoch mehrmals, besonders am 17. und
18. in Süd- und Mitteldeutschland, durch starke Gewitterregen
unterbrochen. Gegen Ende des Monats fanden wieder häufi-
gere und länger anhaltende Regenfälle statt, die aber nur in
Nordostdcutschland , Bayern und Württemberg große Wasser-
mengen lieferten. Sein Gesamtertrag an Niederschlägen belief
sich für den Durchschnitt aller Stationen auf 52 Millimeter,
5 Millimeter mehr, als die Aprilmonate seit Beginn des vorigen
Jahrzehntes im Mittel ergeben haben.
Obwohl im Laufe des April mehrere sehr tiefe barometri-
sche Minima vom atlantischen Ozean nach Europa gelangten,
so vermochten sie doch nur unter bedeutender Verflachung in
den Kontinent einzudringen, da der größte Teil von Rußland,
wie schon im März, gewöhnlich von einem widerstandskräftigen
Hochdruckgebiete bedeckt wurde. Die erste tiefe Barometer-
depression gebrauchte beinahe den halben Monat, um über
das europäische Nordmeer, Skandinavien und Finland bis zum
weißen Meere vorzurücken, entsandte dabei jedoch zahlreiche
Teilminima weit nach Süden hin. Nachdem dazwischen ein
enger begrenztes Maximum von Südwest nach Mitteleuropa
geschritten war, trat am 13. .^pril ein neues Minimum bei
Irland auf, das das erste noch an Tiefe übertraf. Bei seiner
Annäherung stiegen die Temperaturen in Frankreich, Belgien,
Holland und Deutschland äußerst rasch empor, bis ein Teil-
minimum mit zahlreichen Gewittern im Norden vorüberzog.
In der zweiten Hälfte des Monats führte ein flacheres
Barometerminimum, das längere Zeit auf dem mittelländischen
Meere verweilte, in Mitteleuropa feuchte, kühle Nordostwinde
herbei. Doch seit dem 22. April rückten gleichzeitig ein um-
fangreiches Hochdruckgebiet vom biskayischen Meer und eine
mäßig tiefe Depression von Schottland mehr und mehr nord-
ostwärts vor und breiteten allmählich über die ganze westliche
Hälfte Europas eine wärmere Südwestströmung [aus, so daß
der Monat mit ziemlich freundlichem, mildem Wetter endigte.
Dr. E. Leß.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Unter Führung des Herrn Prof.
Dr. L. Plate wurde am Sonntag, den J.Februar,
vormittags 11 Uhr, dem Berliner Aquarium ein
Besuch abgestattet.
Am Mittwoch, den 17. Februar, hielt im Rat-
haussaale Herr Prof. Dr. Z u n t z einen durch Wand-
N. F. m. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
539
tafeln veranschaulichten Vortrag über den „Blut-
kreislauf und die Ernährung der Organe".
Der Vortragende, welcher eine gewisse Kennt-
nis des Kreislaufs und der Herztätigkeit als be-
kannt voraussetzt, erläutert zunächst die Methoden,
mit Hilfe deren die Spannung des Blutes in den
Abteilungen des Herzens, im Arterien- und Venen-
system gemessen wird, ferner die Methoden zur
Messung der Stromgeschwindigkeit des Blutes in
den einzelnen Gefäßprovinzen. Es wird dargelegt,
wie sich aus dem Geschwindigkeitsunterschiede in
den großen Arterien und in den Kapillaren ab-
leiten läßt, daß der Gesamtquerschnitt der Kapil-
laren etwa 400— 500 mal größer ist als der der
Aorta. Hieraus und aus dem bekannten Durch-
messer der einzelnen Kapillare wird die Zahl der
Kapillaren im menschlichen Körper auf 2 Milliarden,
ihre gesamte Oberfläche auf über 300 Quadrat-
meter berechnet. Aus dieser gewaltigen Ober-
flächenentwicklung erklärt sich die enorme
Schnelligkeit, mit der sich alle Konzentrations-
difFerenzen, alle Ungleichlieiten der chemischen
Zusammensetzung auf dem Wege des osmotischen
Stoffaustausches zwischen Blut und Geweben aus-
gleichen. — Als Beispiel wird erwähnt, daß die
Aufnahme des Sauerstoffs ins Venenblut bis zum
vollen Ausgleich der Spannungen beim Passieren
der Lungenkapillaren in einer Sekunde erfolgt,
während dazu beim heftigsten Schütteln von Blut
mit Luft Minuten gehören. Das kommt daher,
daß die Tropfen, in welche die Flüssigkeit beim
Schütteln zerstäubt, immer noch sehr geringe
Oberfläche bieten im Vergleich zu der Feinheit
der Verteilung des Blutes im Kapillarstrom. Im
letzteren liegen die Blutkörperchen einzeln aufgereiht
hintereinander; im Radius eines beim Schütteln
entstehenden kleinen Tropfens haben wir noch
eine Schicht von 400 — 500 von der Oberfläche
bis zum Mittelpunkt. Es wird dargetan, daß ge-
rade das Bedürfnis der Zellen nach Sauerstoff und
die Notwendigkeit der Ausscheidung der im Stoff-
wechsel gebildeten Kohlensäure die beim Säuge-
tier vorhandene, schnelle Zirkulation des Blutes
nötig macht; den übrigen Bedürfnissen der Er-
nährung würde auch ein sehr viel langsamerer
Umlauf der Nährflüssigkeit genügen. Dies zeigt
das Verhalten der durch Tracheen den Zellen
direkt Luft zuführenden Gliedertiere, deren Stoff-
wechsel ebenso lebhaft ist wie der der Säugetiere,
die aber trotzdem mit einer geringen Menge
träge umlaufenden farblosen Blutes auskommen. —
Zum Schlüsse wird noch die dem Bedürfnisse an-
gepaßte Regulation der jeweiligen Blutzufuhr
zu den einzelnen Organen besprochen und die
Bedeutung der Ringmuskeln der Arterien und des
sie beherrschenden Nervensystems für diese Regu-
lation an einigen Beispielen erläutert. —
In der an den Vortrag sich anschließenden
Diskussion kommt auf Anregung des Vorsitzenden
die Bedeutung der weißen Blutkörperchen als
„Freßzellen" kurz zur Darlegung. —
Am Freitag, den 26. Februar, sprach im
Theatersaal der alten Urania Herr Privatdozent
Dr. E. P h i 1 i p p i unter Vorführung zahlreicher
Lichtbilder über seine „Erlebnisse auf der deut-
schen Südpolarexpedition."
Nachdem der Herr Vortragende kurz die Fahrt
von Kiel bis Kapstadt gestreift hatte, auf der man
ein größeres ozeanographisches Programm zur
Ausführung brachte, beschäftigte er sich zunächst
mit den drei subantarktischen Inseln des süd-
indischen Ozeans (Possession-Insel aus der Crozet-
Gruppe, Kerguelen und Heard-Insel), welche die
Expedition auf der Ausreise berührte. Die Inseln
sind sämtlich vulkanischen Ursprungs, basaltische
Gesteine wiegen vor. Die ältesten Eruptivgesteine
scheinen auf Kerguelen vorzukommen, wo Basalt-
laven mächtige und sehr ausgedehnte Decken
bilden, die jüngsten vulkanischen Erscheinungen
weist die Heard-Insel auf. Die Possession-Insel
ist wahrscheinlich nie vergletschert gewesen , auf
Kerguelen dagegen begegnet man allenthalben
den Spuren einer früheren, alles bedeckenden
Vergletscherung, während sich die heutigen Eis-
ströme ins Innere der Insel zurückgezogen haben;
auf der Heard-Insel endlich erreichen die Gletscher
des etwa 2000 m hohen Kaiser Wilhelm - Berges
bereits die Küste. Die Fauna und P'lora ist auf
allen drei Inseln nahezu die gleiche. Besonders
auf der Heard-Insel traf man große Herden der
riesigen Elefantenrobbe und unzählige Esels- und
Lockenhaarpinguine. Auf den Kerguelen ist der
berühmte antiskorbutische Kerguelenkohl durch
die Kaninchen, die die „Challenger"-Expedition
aussetzte, fast vernichtet; die häufigsten Blüten-
pflanzen sind dort die rasenbildende Umbellifere
Azorella und die kleine Rosaceen-Staude Acaena.
Am I4. Februar 1902, also genau ein halbes
Jahr nach seiner Abreise aus den heimischen
Gewässern, erreichte der „Gauß" den Packeisrand.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es,
zwischen dem 18. und 20. Februar den Packeis-
gürtel zu durchbrechen, und am 21. Februar stand
man vor der langgestreckten Eismauer des völlig
von Inlandeis überdeckten „Kaiser Wilhelm II.-Land".
Leider wurde bereits in der folgenden Nacht der
„Gauß" in einem heftigen Schneesturme vom Pack-
eis eingeschlossen und blieb nahezu für ein Jahr
dort gefangen. Das Eis, in welchem der Gauß
lag, war völlig bewegungslos und erlaubte daher
die Anlage einer wissenschaftlichen Station, mit
deren Aufbau sehr bald nach dem Einfrieren be-
gonnen wurde, ebenso wie auf festem Lande. Auch
wurden bereits im Südherbste 1902 Schlittenreisen
unternommen, auf denen das etwa 80 km ent-
fernte Inlandeis erreicht und die basaltische Kuppe
des „Gaußberges" entdeckt wurde. Leider blieb
der „Gaußberg" der einzige eisfreie Punkt. Der
Winter verging ohne Unfall, brachte aber durch
seine fortgesetzten Schneestürme viele Beschwerden.
Leider ging die Hoffnung, bereits Anfang des
Sommers freizukommen, nicht in Erfüllung; der
Sommer verging, ohne daß das Eis aufbrach.
Endlich, am 8. Februar, als man bereits alle Hoff-
540
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 34
nung auf Befreiung aufgegeben hatte, brach das
Eis. Nun trieb der „Gauß" noch zwei volle Monate
im losen Packeise, meist nach Nordwesten. Wieder-
holte Versuche, eine zweite Überwinterung zu er-
zwingen, scheiterten, weil sich das stets von der
Dünung bewegte Eis nicht zusammenschließen
wollte. Am 8. April wurde die Rückfahrt ange-
treten, nicht wegen Mangels an Proviant oder
wegen des Zustandes von Schiff und Mannschaft,
sondern lediglich weil eine Überwinterung an dem
Außenrande des Packeises unmöglich erschien.
Auf der Rückfahrt wurden noch die unbewohnten
Inseln St. Paul und Amsterdam angelaufen, am
31. Mai 1903 traf der Gauß auf der Reede von
Durban ein. Vom Kaplande aus wurde die Er-
laubnis, den ,,Gauß" noch einmal in die antark-
tischen Gewässer zurückzuführen, erbeten, aber
leider nicht gewährt.
Die Resultate der Expedition liegen haupt-
sächlich auf rein wissenschaftlichem Gebiete und
werden ganz erst nach der Bearbeitung des um-
fangreichen Materials zu überblicken sein. —
Für die Mitglieder der Gesellschaft wurde in der
Zeit vom 18. Februar bis zum 22. März ein Vortrags-
kursus über die Leichtmetalle in dem chemischen
Hörsaal des Dorotheenstädtischen Realgymnasiums
durch Herrn Prof Dr. H. Böttger abgehalten.
Am Sonntag, den 6. März, nachmittags i Uhr,
wurde der ständigen Ausstellung für Arbeiter-
wohlfahrt in Charlottenburg ein Besuch abgestattet.
Die Führung hatte in liebenswürdigster Weise der
Direktor der Anstah, Herr Prof Dr. Albrecht,
übernommen.
In der .Aula des Lette -Vereins sprach am
Mittwoch , den 9. März , der Direktor der photo-
graphischen Lehranstalt des genannten Instituts,
Herr Schultz- Hencke, über das Thema: „Die
Photographie, experimentelle Erläuterung der
photographischen Prozesse."
Der nächste Vortragsabend fand statt am
Mittwoch, den 23. März, im großen Hörsaale der
Königl. Landwirtschaftlichen Hochschule. Zu Be-
ginn der Sitzung gedachte der Vorsitzende, Herr
Geh. -Rat Kny, mit warmen Worten des am Tage
vorher nach schmerzvoller Krankheit verschiedenen
langjährigen Ausschußmitgliedes der Gesellschaft,
des Kustos am Königl. Botanischen Museum, Herrn
Prof. Dr. Karl Schumann, der sich der Inter-
essen der Gesellschaft stets aufs wärmste ange-
nommen und noch im verflossenen November
einen Vortragscyklus über das System der Blüten-
pflanzen gehalten hatte. Um das Andenken des
Verstorbenen zu ehren, erhoben sich die Anwesen-
den von ihren Sitzen.
Hierauf nahm Herr Prof Dr. Scheibe das
Wort zu dem von ihm angekündigten Vortrag
über: „Natürliche und künstliche Edelsteine".
Diamant, .Smaragd, Rubin, Saphir, Spinell, so
führte er aus, sind kostbare Edelsteine, deren
hoher materieller Wert die Versuche ihrer künst-
lichen Darstellung eben so sehr immer von neuem
angeregt hat wie das rein wissenschaftliche Streben,
iiire Bildung in der Natur klar zu stellen. Wie
und unter welchen Umständen gewisse Minerale
entstanden sein mögen, ob unsere Anschauung
von der Entstehung eines Minerals, die wir uns
aus seinem'jVorkommen, aus geologischen Gründen
gebildet haben, richtig ist, diese Fragen sind es,
die man durch künstliche Darstellung von Mine-
ralien mit zu beantworten hofft. Wir erwarten
vom Experiment eine Aufklärung über geologische
Vorgänge. Bei den Edelsteinen kommt die Aus-
sicht auf materiellen Gewinn hinzu, den die künst-
liche Darstellung verspricht , wobei diese nicht
etwa als Nachahmung in Glas oder irgend einer
Substanz gedacht ist, die nur den Eindruck der
Echtheit erwecken, sondern das Mineral mit all
den Eigenschaften , die uns das freie natürliche
Gebilde zeigt, liefern soll, mit der gleichen Farbe,
Härte, Schwere, Lichtbrechung, Beständigkeit und
stoftlichen Zusammensetzung.
Bei den Versuchen der künstlichen Darstellung
von Mineralien wird uns aber umgekehrt wieder
das genaue Studium ihres Vorkommens am ehe-
sten den Weg andeuten können, auf dem wir bei
der Nachbildung erfolgreich sein werden. Daß
wir ihn oft nicht und meist nicht genau einhalten
können, ist erklärlich, da uns nur ein Laboratorium
und unsere menschlichen Kräfte, nicht die so viel
großartigeren der freien Natur zur Verfügung
stehen und — was ins Gewicht fällt — alle die
Nebenumstände, die in der Natur die Bildung be-
einflussen, von uns nicht nachgeahmt werden
können. An deren Wirkung, an dem charakte-
ristischen Gepräge, das sie dem Mineral aufdrücken,
sind wir aber gerade oft imstande zu entscheiden,
ob der fertige, vielleicht schon geschliffene Edel-
stein natürliches oder künstliches Ergebnis ist.
Es sind feinere Strukturformen, Einschlüsse und
dergl., um die es sich handelt. An den gewählten
Beispielen würde das zu erläutern sein.
Vom Diamant schildert Vortragender die
Eigenschaften und das natürliche Vorkommen an
primärer Lagerstätte im blue ground Südafrikas.
Er weist auf die Versuche seiner Nachbildung hin,
die in der Regel problematisch waren, bis Moissan
zuerst Erfolge erzielte. Ihm gelang es, aus flüssi-
gem Eisen , in dem bei sehr hoher Temperatur
Kohle gelöst worden war, durch schnelle Abküh-
lung die Abscheidung des Kohlenstoffs wenigstens
z. T. in Form von Diamantkörnchen zu erzielen.
Ihn hatte das Vorkommen von Diamant in dem
meteorischen Eisen von Canon Diablo angeregt.
Nach kritischen Bemerkungen über die behaupteten
Nachweise von Diamant in Stahl- und Eisensorten
gewisser Herkunft wurden die interessanten Ver-
suche Ludwigs erwähnt, denen zufolge Kohlenstoff
bei sehr hoher Temperatur und genügend hohem
Druck (wenigstens etwa 1 500 Atm.) vor der Ver-
flüchtigung schmelze und sich dabei in Diamant
umwandle, der allerdings leicht wieder in Graphit
übergehe.
Auf das natürliche Vorkommen in Olivinfelsen
nehmen die \'ersuche B. Friedländer's Rücksicht,
N. F. in. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
541
der zeigte, daß geschmolzener Olivin Kohle auf-
löst und beim Erstarren sie z. T. in Form winzig-
ster (Viooo — Vioo "^"^ großer) trüber Diamant-
kriställchen wieder ausscheidet.
Endlich stellte neuerdings v. Haßlinger Dia-
manten dar. In einer mittels des Thermitver-
fahrens erzeugten Schmelze, deren Bestandteile
denen des südafrikanischen Muttergesteins (blue
ground) im wesentlichen entsprechen und in der
etwas Kohlenstoff aufgelöst worden war, hatten
sich beim Erstarren klare Diamantoktaeder von
'/21, mm Größe ausgeschieden.
Der künstlich dargestellte Diamant ist bisher
in zu kleinen Individuen und unter zu großen
Kosten hergestellt worden, als daß er praktische
Bedeutung erlangen könnte.
Anders ist das beim Rubin. Seine Heimat
sind kontaktmetamorphe Kalke und Dolomite in
Slam , Birma u. a. Orten , z. B. kommt er ent-
sprechend auch in dem metamorphen Dolomit
des Campolungopasses im Kanton Tessin vor.
Mit der Art des Vorkommens wurden die Methoden
der künstlichen Darstellung verglichen. Rubin ist
oft künstlich dargestellt worden (von Gaudin,
Senarmont, Ebelmen, St. Claire-Deville, Debray,
Hautefeuille und anderen P"orschern). Die schön-
sten Ergebnisse erzielte Fremy, als er in porösen
Chamottetiegeln ein Gemisch von Tonerde und
Fluorbaryum (oder Fluorcalcium) mit etwas kohlen-
saurem Kali und ein wenig chromsaurem Kali bis
auf 1500" erhitzte und 8 Tage lang auf dieser
Temperatur erhielt , während feuchte Ofengase
dauernd zum Inhalt des Tiegels Zutritt hatten.
Aus den erhaltenen Rubinkristallen konnten über
millimetergroße Schmucksteine geschliffen werden.
Durch Paquier in Paris und andere Fabrikanten
werden , wohl nach dem Fremy'schen Verfahren,
wenn auch vielleicht mit kleinen geheim gehaltenen
Abänderungen, jetzt über erbsengroße Rubine her-
gestellt, die geschliffen prachtvolle Steine geben,
welche in allen Eigenschaften den natürlichen
nicht nachstehen. An ihrer Strukturlosigkeit und
den Gasbläschen, die sie führen, sind sie von den
natürlichen Rubinen aber noch zu unterscheiden,
da diese fast nie völlig rein sind, regellos verteilte
oder gesetzmäßig gereihte Einschlüsse und dergl.,
deren Natur wenig bekannt ist, aufweisen.
Kurz wurde dann Saphir und Spinell be-
rührt, deren künstliche Darstellung praktisch we-
niger von Bedeutung ist, eingehender "wieder der
Smaragd behandelt.
Smaragd kommt u. a. in Glimmerschiefer
im Ural, Südägypten, auch im Pinzgau , in Kalken
in Colombien vor. Seine künstliche Darstellung
durch Ebelmen aus Beryllpulver, das er mit Bor-
säure und etwas chromsaurem Kali lange bei sehr
hoher Temperatur geschmolzen erhielt , wie die
durch Hautefeuille, der die Bestandteile des Berylls
mit Überschuß eines Schmelzmittels (saurem
molybdänsaurem Kali) und etwas Chromoxyd
schmolz, bieten keine Beziehungen zu dem natür-
lichen Vorkommen dar. Die natürlichen Smaragde
sind gleich den Rubinen in der Regel unrein.
Neben unregelmäßig gestalteten Einschlüssen ver-
schiedener Art, aber kaum bekannter Natur, ent-
halten sie regelmäßig Reihen von Flüssigkeits-
einschlüssen, in denen Gasbläschen und z. T.
würfelige Kriställchen eingeschlossen sind.
Durch eine Reihe von Projektionsbildern wur-
den die Einschlüsse und die Strukturformen des
natürlichen Rubins und Smaragds und die Gas-
blasen eines künstlichen Rubins demonstriert. In
aufgestellten Mikroskopen waren die hauptsäch-
lichsten Originalpräparate dazu zu sehen. Eine
größere Anzahl von Mineralschaustücken, rohen
und geschliffenen Edelsteinen, dienten zur Veran-
schaulichung des Vorkommens und der Eigen-
schaften der behandelten Edelsteine.
I. A. : Dr. W. Greif, I. Schriftführer,
SO 16, Köpeaickerstraße 142.
Bücherbesprechungen.
Natur und Staat, Beiträge zur naturwissenschaftlichen
Gesellschaftslehre. IV. ^) Natur und Gesell-
schaft, eine kritische Untersuchung der Bedeutung
der Deszendenztheorie für das soziale Leben von
Dr. jur. et phil. Albert Hesse, Privatdozenten
der Nationalökonomie an der Universität Halle a. S.
Verlag von (iustav Fischer in Jena, 1904. 234 S. 8".
Mit dieser Schrift befinden sich nunmehr außer
der mit dem ersten Preis gekrönten Schallmeyer'schen
Abhandlung alle drei mit zweiten Preisen ausgezeich-
neten .Arbeiten in den Händen der Leser. Die Lehr-
sätze, zu denen Hesse gelangt, bestehen in der
Hauptsache darin . daß die Deszendenztheorie nicht
die Bedeutung eines das soziale Leben beherrschen-
den Naturgesetzes habe, da das soziale Leben auf
menschlichen Willensäußerungen beruhe, die sich
nicht unter den Begriff gesetzmäßiger Kausalität bringen
lassen, daß aber trotzdem die Deszendenztheorie eine
große Bedeutung für das soziale Leben besitze. An-
derer Ansicht ist bekanntlich H. Matzat in seiner
..Philosophie der Anpassung" , die ebenfalls einen
zweiten Preis erhielt. Nach ?ilatzat ist einfach alles
.\npassung. Wie aus Obigem hervorgeht, arbeitet
Hesse mit der Kant 'sehen Erkenntnistheorie. Kaum,
Zeit und Kausalität sind ihm a priori gegebene Kate-
gorien, wie das Sittengesetz in uns ebenfalls a priori
gegeben ist. Das war vor 100 Jahren modern, heut-
zutage ehrt man aber Kant am meisten , wenn man
annimmt , er würde , wenn er nach Darwin gelebt
hätte, seine Lehre mit der Deszendenztheorie in Ein-
klang gebracht haben. Raum , Zeit und Kausalität
müssen wir doch anders auffassen, als Kant tat und
tun durfte. In der kürzlich erschienenen Abhandlung
von Prof. H. E. Ziegler (Jena) ,, Entwicklungslehre
oder Apriorismus? Haeckel oder Kant?" ist die
naturwissenschaftliche, auf der Lehre Darwin's be-
ruhende Auffassung im Gegensatz zu dem Kant'schen
Apriorismus klar dargestellt , jedoch möchte ich mir
') Bericht über I., II. und IIl. siehe Nr. 3 und 14 der
Naturw. Wochenschr.
542
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 34
die Bemerkung erlauben , daß Ziegler den ersten
Autor, der den Gegensatz richtig erfaßt hat, über-
sehen zu haben scheint. Er nennt Haeckel und
Bütschli, deren bezügliche Äußerungen nicht weiter
als bis 1899 zurückgehen. H. Potonie hat aber
schon 1891, und zwar in Nr. 15 dieser Zeitschrift
vom 12. April, das Problem in seinen Grundzügen
ganz richtig hingezeichnet. Hier seien nur einige
Sätze Potoniö's aneinandergereiht : „Die Prinzipien des
Darwinismus gelten nicht nur für die körperliche,
sondern auch für die geistige Entwicklung der
Organismen.. . Die sämtlichen Denkformen sind
ebenso entstanden im Kampfe ums Dasein wie die
Formen der organischen Wesen. . . Was man aprio-
ristische Anschauungen nennt, sind ererbte, schon
von den denkenden Urorganismen notwendig ge-
brauchte , uns daher jetzt zwar ohne weiteres in der
Anlage gegebene, aber dennoch ursprünglich aus der
Erfahrung gewonnene. Ohne Erkenntnis von Raum
und Zeit z. B. ist keine Handlung möglich , daher
die Vorstellung von ihnen wohl die älteste, also b e-
sonders aprioristisch erscheinende ist. . . Wenn
die Autoren die Logik behandeln , nehmen sie den
Inhalt derselben stets als gegeben an : sie untersuchen
nur die jetzt gegebenen Formen des Denkens , ohne
nach ihrer Herkunft, nach dem Werden derselben zu
fragen." Potonie hatte Recht zu sagen, diese Wahr-
heiten brauchten bloß ausgesprochen zu werden, um
die Zustimmung der Naturforscher zu finden. Solche
ist ihm auch reichüch zuteil geworden , aber merk-
würdigerweise hat die Philosophie wenig Notiz von
jener Abhandlung genommen, die wieder in Ver-
gessenheit geriet. Heute erregt es kein bedauerndes
Achselzucken, wenn ein Verf. mit dem aprioristischen
Charakter der Denkformen schweres Geschütz aufzu-
fahren glaubt , um die Deszendenztheorie in engere
Schranken zurückzutreiben ; er operiert ahnungslos mit
Erzeugnissen der Naturzüchtung, um die Naturzüchtung
zu widerlegen ! Man wundert sich auch nicht, wenn
solche Bücher Preise bekommen , und zwar zweite,
während eine Abhandlung wie die Woltman n 'sehe,
der man keine solche Rückständigkeit nachsagen
kann, mit einem dritten Preis bedacht wurde. Hesse's
Arbeit ist zum größten Teil angefüllt mit erkenntnis-
theoretischen und methodologischen Erörterungen, und
es begreift sich , daß diese nicht sehr anziehend auf
den Leser wirken, der mit der Grundlage nicht ein-
verstanden ist ; der Stil ist zwar klar, aber fesselnd ist
er auch nicht. Der naturwisjenschaftliche Teil mußte
etwas zurücktreten, doch enthält er eine ausreichende
und richtige Darstellung der Befruchtungs- und Ver-
erbungstatsachen und der darauf gegründeten Lehren.
Hesse handelt auch von dem An- und Abschwellen
der höheren Begabung in mehreren Geschlechter-
folgen einer Familie ; leider vermißt man in diesem
scheinbaren Rätsel das erlösende Wort , das nur im
Anschluß an die Wahrscheinhchkeitstheorie von
Gauß gesprochen werden könnte. Immer ge-
winnt bei Hesse die Flaumacherei die Oberhand :
es kann so sein, es kann aber auch anders sein.
Damit kommt man nicht weit; das ist kritisch, aber
nicht schöpferisch. Von der bloßen Kritik haben wir
schon mehr als genug. Deswegen dürfte das Hesse-
sche Buch der Sozialwissenschaft nicht die Dienste
leisten, die der Stifter des Jenaischen Preisbewerbs
hat anregen wollen. Um Gerechtigkeit zu üben, sei
betont, daß einige Abschnitte immerhin von Wert
sind, z. B. im großen und ganzen die Hervorhebung
der Unterschiede zwischen dem Kampf ums Dasein
und dem sozialen Wettbewerb innerhalb der Gesell-
schaft, wozu jedoch zu bemerken wäre, daß alles
soziale Geschehen aus natürlichen Ursachen entspringt,
also auch die Einschränkungen des Wettbewerbs durch
ethische Beweggründe und Gesetze ihre natürlichen
Wurzeln haben. Daß der Wettbewerb eine soziale
Schichtung der Individuen nach dem Überwiegen der
einen oder der andern Rassenbegabung hervorbringt,
wird von Hesse nicht erwähnt, und nach der ganzen
Art seines Buches würde er die Richtigkeit einer
solchen Behauptung schwerlich zugeben. Überhaupt :
,,Rasse"! Was ist ihm Rasse! Ebensowenig wie
einige seiner Mitbewerber und die Mehrheit der Preis-
richter legt der Verf. der Verschiedenheit der Seelen-
anlagen von Germanen, Semiten, Mongolen, Negern,
Indianern, Papuas usw. irgend welche Bedeutung für
das soziale Leben bei, obwohl die Tatsachen sozu-
sagen in die Augen springen. Es ist fast tragikomisch,
daß Hesse's Abgott, Kant selbst, in seinem Ausspruch
über „das Sittengesetz in uns" sich bewußt oder un-
bewußt auf den Rassenstandpunkt gestellt hat, denn
kein anderes Sittengesetz hat er gemeint, als dasjenige,
das der Indogermane in sich trägt. Wie man früher
geozentrisch und anthropozentrisch dachte, so denkt
man (sit venia verbo!) auch ariozentrisch, und
dieses mit gutem thund, denn der Arier war überall
der Schöpfer und Bringer der höheren Kultur und der
höheren Ethik. Soviel zur Theorie. Wie man auf ver-
schiedenen Wegen das nämliche Ziel erreichen kann,
so sind trotz obiger Ausstellungen die praktischen
Folgerungen Hesse's nicht zu verwerfen : „Ein Staats-
wesen, in dem jedem der Arbeitsplatz zugewiesen ist,
der seinen Fähigkeiten entspricht, es ist ein Ideal,
und keinem goldenen Zeitalter wird es beschieden
sein, es zur vollen Wirklichkeit zu gestalten
So muß denn die Rücksicht auf die Allgemeinheit
jeden einzelnen dazu führen , dem Platz sich anzu-
passen, auf den ihn das Leben gestellt hat. ¥,s darf
die Frage, ob er am richtigen Platze stehe, ihn nicht
abhalten, die Aufgaben, die ihm zugewiesen sind, nach
bestem Vermögen zu erfüllen, und es muß die Mei-
nung, daß eine andere Stelle im sozialen Leben ihm
gebühre (die oft eine bloße Einbildung ist! Ref.),
zurücktreten hinter dem (?) Pflichtbewußtsein: tue mit
deiner ganzen Kraft, was deine Hand zu tun findet."
Das sind gesunde Lebensregeln, zu denen man auch
auf anderem V\'ege gelangen kann, die aber jeden-
falls freudig begrüßt zu werden verdienen.
Otto Ammon-Karlsruhe.
Albert I., Fürst von Monaco , Eine See-
manns- Laufbahn. Autorisierte Übersetzung
aus dem Französischen von Alfred H. Fried. Boll
und Pickardt, Berlin. — Preis 6 Mk.
Es handelt sich um Schilderungen seemännischer
N. F. III. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
543
Erlebnisse des Verfassers, der bekanntlich der zoo-
logischen Meeresforschung ein so groläes Interesse
entgegenbringt, daß er sich selbst mit seiner Yacht
in den Dienst dieser Forschung stellt. In dem vor-
liegenden Buch läßt der Verfasser in einzelnen Bil-
dern sein Leben an uns vorüberziehen. Er beschreibt
seine erste Seemannszeit in der spanischen Marine.
Ihr folgt die Erwerbung einer eigenen Yacht, auf der
er seine Reisen zunächst nur seiner großen Liebe
zum Meere wegen unternimmt; und erst allmählich,
besonders nach Anschaffung der neuen , gröl3eren
Yacht „Princesse Alice", tritt die reine Meeresforschung
mehr und mehr in den Vordergrund, der er dann
einen Hauptteil seines Lebens widmet.
Schwierigkeiten , lehrt Vorsicht und — — — Be-
scheidenheit.
Ein sehr sorgfältiges Verzeichnis der Publikationen
Schleiden's, das dem Buch angehängt ist , wird dem
Botaniker gelegen sein.
Prof Andrew Gray, Lehrbucli der Physik.
Autorisierte deutsche Ausgabe von Prof Dr. F.
Auerbach. I. Bd. Allgemeine und spezielle
Mechanik. 837 Seiten mit 400 Abbild. Braun-
schweig, F. Vieweg u. Sohn. 1 904. — Preis geb.
21 Mk.
Das groß angelegte Werk des -Amtsnachfolgers
des Lord Kelvin, dessen erster Band hiermit in guter
Übersetzung vorliegt, wird sicherlich auch beim deut-
schen Gelehrtenpublikum die gebührende Beachtung
finden, vermag es doch durch die spezifisch englisciie
Methodik auch denjenigen in hohem Grade zu fesseln,
der bereits ähnliche Werke deutscher Autoren studiert
hat. Besonderes Gewicht wird vom Verf auf die
Anwendungen der Mechanik gelegt. Die Kreisel-
theorie und im .Anschluß daran die Präzession, sowie
die gyrostatischen Wirkungen bei Maschinen werden
breit dargestellt, auch die Mondtheorie elementar an-
gedeutet. Besondere Kapitel sind ferner gewidmet
der graphischen Statik, der Gravitation und Potential-
theorie, der astronomischen Dynamik, der Bestimmung
der Gravitationskonstante und Erddichte, den Gezeiten,
der Elastizität, Kapillarität und schließlich den Mes-
sungen und Meßinstrumenten. Die Reichhaltigkeit des
Inhalts ist, wie hieraus hervorgeht, eine außerordent-
liche und neben den theoretischen Entwicklungen ist
auch der beschreibenden Darstellung in ausreichender
Weise Raum gelassen. Den ferneren Bänden des
Werkes darf demnach mit Spannung entgegengesehen
werden. F. Kbr.
M. Möbius, Matthias Jacob Schieiden. Zu
seinem 100. Geburtstage. Mit einem Bildnis Schlei-
dens und zwei Abbildungen im Text. Wilhelm
Engelmann in Leipzig. 1904. — Preis 2,50 Mk.
Die vorliegende , sehr gut ausgestattete Schrift
beschäftigt sich vorwiegend mit der Vorführung von
Schleiden's wissenschaftlichen Leistungen, der Lebens-
abriß nimmt nur wenige Seiten (p. 2 — 10) ein.
Schieiden gehört zu denjenigen, die die Bahn für die
heutige Naturforschung mit haben frei machen helfen,
und das Interesse an seiner Person und seinen Taten
ist daher verständlich. Es ist für jeden ratsam , der
sich an der Weiterentwicklung der Naturwissenschaft
beteiligt, gelegentlich einen Blick rückwärts zu tun:
er hebt besser hervor was geleistet ist , zeigt die
Literatur.
Andrae, .\lb. : Hilfsmittel zu e. allgemeinen Theorie der line-
aren elliptischen Differentialgleichung 2. Ordnung. Diss.
(ill S.) gr. 8". GöUingen '03, (Vandenhocck & Ruprecht).
— 2,40 Mk.
Beck, Heinr., und Ilerm. Vetters, DD.: Zur Geologie der
kleinen Karpaten. Eine stratigraphisch.-lekton. Studie. Mit
I geolog. Karte, 2 Profiltaf. u. 40 Te-xtfig. [Ans: „Beiträge
z. Paläontologie u. Geologie".] (106 .S.) Imp. 4". Wien
'04, W. Braumüller. — 12 Mk.
Benedikt, I'rof. Dr. Mor. : Kristallisation u. Morphogenesis.
Biomechanische Studie. (68 S.) gr. 8". Wien '04, M.
Perles. — 2 Mk.
Brafs, Kmil : Nutzbare Tiere Ostasiens. Pelz- und Jagdticre,
Haustiere, Seetiere. (VIII, 130 S.) gr. 8". Neudamm '04,
J. Neumann. — 5 Mk. ; geb. in Leinw. 6 Mk.
Conwentz, Prof. Dr. : Die Heimatkunde in der Schule. Grund-
lagen und Vorschläge zur Förderg. der naturgeschichtl. u.
geograph. Heimatkunde in der Schule. (X, 139 S.| gr. 8".
Berlin '04, Gebr. Borntraeger. — Geb. in Leinw. 2,40 Mk.
Dabl, Prof. Dr. Frdr. : Kurze Anleitung zum wissenschaftl.
Sammeln u. zum Konservieren v. Tieren. (59 S. m. 17 Ab-
bildgn.l gr. 8". Jena '04, G. Fischer. — 1 Mk.
Freidenfelt, T. : Der anatomische Bau der Wurzel in seinem
Zusammenhange m. dem Wassergehalt des Bodens. (Studien
üb. die Wurzeln kraut. Pflanzen II.) (IV, 118 S. m. 7 Fig.
u. 5 Taf.) gr. 4". Stuttgart '04, E. Nägele. — 20 Mk.
Hess, Gymn.-Prof. Dr. Hans: Die Gletscher. Mit 8 Voll-
bildern, zahlreichen .\bbildgn. im Te.xt u. 4 Karten. (XI,
426 S.) gr. 8". Braunschweig '04, F. Vieweg & Sohn. —
15 Mk. ; geb. in Leinw. 16 Mk.
Sohns, Frz.: Unsere Pflanzen. Ihre Namenserkiärg. u. ihre
Stetig, in der Mythologie u. im Volksaberglauben. 3. Aufl.
m. Buchschmuck v. J. V. Cissarz. (\T, 178 S. ) 8". Leipzig
'ü4, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 2,60 Mk.
Briefkasten.
Herrn H. H. in Bonn. — Plaßniann's „Himmelskunde"
haben wir bereits mehrfach als ein vorzüglich zum Erwerb
gründlichen Verständnisses der Himmelskunde geeignetes und
zugleich sehr reich und gut illustriertes Werk empfohlen.
Benoidgas ist ein durch künstlich angefachte Ver-
dunstung von Petroleumdestillaten (Pentan und Hexan) er-
zeugtes, brennbares ,, Luftgas'', das die gleiche Verwendung
wie Leuchtgas zuläßt und mit Hilfe kleiner Apparate mit
Gewichtsantrieb an jedem beliebigen Orte auf gefahrlose Weise
hergestellt werden kann. In Orten ohne Gasanstalt (Land-
häusern etc.) hat sich die Verwendung des Benoidgases wegen
der Einfachheit der Bedienung der Apparate , sowie auch
wegen der billigen Betrieb.<ikosten vielfach bewährt, wie man
aus .Anerkennungsschreiben ersehen kann, die der von der
Firma Thiem & Tüwe in Halle a. S. (Magdeburgerstraße 35)
kostenfrei an Interessenten abgegebene Prospekt enthält. Auch
in betreft" weiterer Einzelheiten sei auf diesen Prospekt ver-
wiesen.
Herrn E. S. in Montjoie. — Frage I : Sind Ergebnisse
von Versuchen bekannt, in denen der Löffler'sche Mäuse-
typhusbaziUus gegen .\rvicola amphibius angewandt wurde ?
Ich hatte keinen Erfolg damit. — Wie es scheint, liegen Ver-
suche der genannten Art bisher nicht vor, wenigstens scheint
darüber nichts veröffentlicht zu sein. — Aus Ihrem Mißerfolg
dürfen Sie übrigens nicht zu weitgehende Schlüsse ziehen, da
es nach den bisher gemachten Erfahrungen auch eine lokale
Immunität zu geben scheint. Ich empfehle Ihnen und jedem,
der sich mit der Mäusevertilgungsfrage beschäftigt, ein Itleines
544
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 34
Buch von S. A. Poppe „Über die Mäuseplage im Gebiete
zwischen Ems und Elbe und ihre Verhinderung" (Separ. Abh.
Ver. Naturk. Unterweser, Bremerhaven 1902, Preis: 1,50 Mk.),
da man in dieser Schrift eine sorgfältige Verarbeitung fast
der gesamten einschlägigen Literatur findet. In bezug auf
den Mäusetyphusbazillus (Bacillus typhi-murium Löffler) gebe
ich, da dieser Spaltpilz das Interesse weiterer Kreise auf sich
gezogen hat, hier im wesentlichen einen kurzen Auszug aus
jener Schrift. ■ — ■ Entdeckt wurde der Bazillus im Jahre 1892:
Als unter den im hygienischen Institut zu Greifswald gehalte-
nen Mäusen ein großes Sterben auftrat, fand Löffler bei
den toten Tieren den genannten Spaltpilz. Die Reinkulturen
desselben auf Nährgelatine erwiesen sich bei seinen und
späteren Versuchen an Kaninchen, iSIeerschweinchen, Katzen,
Hunden, Schweinen, Schafen, Hühnern, Tauben, kleinen Sing-
vögeln und selbst an der Wanderratte und der Brandmaus
als völlig wirkungslos, während sie bei Hausmäusen, bei
Arvicola agrestis, A, glareolus und namentlich bei der Feld-
maus, Arvicola arvalis und einer nahe verwandten Art in
Thessalien A. guentheri in 8 — 14 Tagen den Tod herbei-
führten. — Bei den Versuchen ist nach den bisher vorliegen-
den Erfahrungen folgendes zu beachten: i) Es muß eine ge-
nügende Menge von Krankheitsenegern in den Körper der
Tiere gelangen, da schwache Lösungen nicht nur unwirksam
sind, sondern scheinbar sogar immunisieren. 2) Die Kulturen
müssen frisch und virulent sein. 3) Die Kulturen müssen vor
Sonnenlicht geschützt werden. 4) Das Mittel darf nicht bei
feuchtem Wetter im Freien angewendet werden. 5) Das
Mittel muß, wenn möglich, schon zu einer Zeit angewendet
werden, wo noch Mangel an Nahrung ist. 6) Es muß über
ein größeres, zusammenliängendcs Gebiet gleichzeitig vorge-
gangen werden, damit Neueinwanderung ausgeschlossen ist. —
Der Erfolg bei Anwendung des Mäusetypliusbazillus im Freien
war in Thessalien, in verschiedenen Teilen I )sterreichs, in Frank-
reich, Sachsen und verschiedenen Teilen Preußens ein günstiger,
oft sogar vorzüglich. Nur aus einigen Teilen Österreichs und
namentlich aus Oldenburg und Ostfriesland lauten die Berichte
durchaus ungünstig und man hat deshalb, besonders aus den
letztgenannten Mißerfolgen, auf eine lokale Immunität ge-
schlossen. Da Laboratoriumsversuche mit der Feldmaus stets
Erfolg hatten , scheint die Frage indessen noch nicht völlig
entschieden. — Das Verfahren ist folgendes: Ein Liter Wasser
wird mit einem Theelöfl'el voll Salz gekocht und nach dem
Erkalten die Reinkultur eines Reagensgläschens auf die Flüssig-
keit verteilt. Alsdann tränkt man in ihr Würfel von altem
Weißbrot und schiebt dieselben möglichst tief in frische Mäuse-
löcher. Die toten Mäuse darf man nicht entfernen, da sie von
anderen Mäusen gefressen werden und diese infizieren. — Die
Reinkulturen kann man von Schwarzlose Söhne, Berlin SW,
Markgrafenstr. 29 beziehen.
Frage 2 : Welche Säugetiere sind es, als deren Urheimat
Südamerika, die Neogäa gilt? — A. Kirch hoff sagt in
seiner Pflanzen- und Tierverbreitung (Wien 1899, p. 277):
,, Urheimisch ja eigentlich ursprünglich nur südamerikanisch
ist die Ordn,ung der Zabnlücker oder Edentaten." — Die palä-
ontologischen Grundlagen dieser .\nnahme sind freilich vor der
Hand noch sehr lückenhaft. Besonders sind Asien und Afrika
geologisch noch viel zu unvollkommen durchlbrscht, um weit-
gehende Schlüsse zu gestatten. Drei Gruppen der Edentaten,
die Ameisenbären (Myrmecophagidae), die Gürteltiere. (Dasy
podidael und die Faultiere (Bradypodidae) sind in der
Jetztzeit und ebenso auch in altern Formationen fast völlig
auf Amerika beschränkt. Im Süden Südamerikas treten die
Edentaten seit der Kreidezeit außerordentlich artenreich auf
(vgl. Greve in : Sitzungsber. Naturf.-Ges. Univ. Jurjew [Dorpat]
Bd. 13, 1901, S. 77 ^■)- ^^^ ^^^ Kreide sind von dort 14
Arten, aus dem Eocän 1 10 Arten, aus dem Oligocän 40 Arten,
aus dem Miocän 14 Arten, aus dem Pliocän 95 Arten und
aus dem Pleistocän 57 Arten bekannt. — Nordamerika lieferte
bisher aus dem Pliocän 4 Arten und aus dem Pleistocän 17
Arten; Europa aus dem Eocän 3 Arten (Frankreich), aus dem
Oligocän 4 Arten (Frankreich) und aus dem Miocän 1 Art
(Samos). Asien aus dem Miocän i Art (Persien), aus dem
Pliocän 1 Art (Indien) und aus dem Pleistocän I Art (Indien) ;
Madagaskar aus dem Pleistocän I Art. — Es kommt hinzu,
daß die in der alten Welt fossil und rezent gefundenen Eden-
taten fast alle den in Amerika von jeher fehlenden Schuppen-
tieren (Manidae) angehören, einer Familie, die nach W. H.
Fl o wer (Proc. Zool. Soc. London v. 1882, p. 358) allen
andern Edentaten scharf gegenübersteht. Die Tatsachen, welche
uns die geographische Verbreitung dieser Gruppe liefert, würden
also der oben wiedergegebenen Annahme kaum hinderlich
gegenüberstehen. Eine Schwierigkeit bietet allein das Vor-
kommen eines Gürteltieres (Necrodasypus) im Oligocän Süd-
frankreichs. Freilich ist von diesem Tier nur der Panzer be-
kannt (Ann. Sc. nat. Zool. (8) 16, p. 136, 1894). — Nur ein
Autor scheint bisher die Ansicht vertreten zu haben, daß auch
die Edentaten aus der alten Welt stammen, es ist A m e gh i n o. —
Koken und Palacky treten jenem aber mit aller Ent-
schiedenheit entgegen (Sitzungsber. böhm. Ges. Wissensch.
Prag math.-nat. Gl., 1901, XIll, S. 5). Auf jeden Fall darf
man sich auf der vorläufig noch recht lückenreichen paläonto-
logischen Basis nicht zu sicher fühlen.
Frage 3: In , .Weltall und Menschheit" lese ich, daß das
in der Anlage vorhandene Centrale der Handwurzel des
Menschen mit dem Radiale verwachse. In einer Arbeit von
Dr. Braun heißt es: Das Centrale verwächst mit dem 3. Hand-
wurzelknochen (im distalen Bogen der Handwurzel). Was ist
richtig? — Es war Cuvier, welcher die Entdeckung machte,
daß gewisse Affen , z. B. der Orang-Utan einen Handwurzel-
knoclien mehr besitzen als der Mensch (Legons d'anatomie
comp.aree, 2. ed., Paris 1835, S. 425). Später beobachtete
man diesen ,, überzähligen" Knochen bei vielen Wirbeltieren
und zwar an der vorderen sowohl als an der hinteren E.>Ltre-
mität. Wegen seiner centralen Lage zwischen den beiden
Knochenreihen nannte man ihn Os centrale. Cuvier glaubte,
daß sich das Centrale vom Capitatum {= Os carpale = Os
magnum) abgliedere (demembrer). Nachdem man aber er-
kannt hatte, daß das Centrale bei fast allen höheren Wirbel-
tieren und beim Menschen während des embryonalen Lebens
als Knorpel angelegt wird und oft auch beim erwachsenen
Menschen erhalten bleibt, wurde man auf seine höhere phylo-
genetische Bedeutung aufmerksam. Man fand , daß ursprüng-
lich nicht nur einer, sondern sogar zwei Knochen angelegt
werden können, die aber niemals beide sich erhalten (vgl.
Gegenbaur, Vergl. Anatomie der Wirbeltiere, Bd. I, Leipzig
1898, S. 520 ff.). Über den Verbleib des Centrale beim
Menschen sind verschiedene Ansichten ausgesprochen. Der
Franzose Leboucq schließt sich in einer sehr eingehenden
Arbeit (Archives Biologie Tome 5, 1876, p. 78) Owen an
und behauptet, daß das Centrale mit dem Scaphoid (oder
Radiale) verwachse. Wiedersheim (Grundriß der Vergl.
Anatomie der Wirbeltiere, 3. Aufl., Jena 1893), der sich gleich-
falls dieser Auffassung anschließt, faßt, wie seine Figur 161
zeigt, u. a. den Kopf des Capitatum als das 2. Centrale auf und
diese Auffassung hat vielleicht den Anlaß zu der von Ihnen
genannten Angabe gegeben. Gegenbaur spricht übrigens
(Lehrbuch d. Anatomie d. Menschen, 4. Aufl., i.Bd., Leipzig
1890, S. 275) von einer Rückbildung und nicht von einer
Verwachsung. Es scheint also, als ob die Forscher, die auf
diesem Gebiete als erste Autoritäten gelten können, über den
Verbleib auch jetzt noch nicht völlig einig sind. — Nachträg-
lich möchte ich noch auf ein soeben bei G. Fischer in Jena
erschienenes Werk von M. Weber ,,Die Säugetiere" ver-
weisen, in welchem Sie auf S. 102 f. ausführliche Angaben
über das Centrale finden. Dahl.
Inhalt; Dr. A. Becker: Über die Konstitution der Materie. — Kleinere Mitteilungen: L. F. Ward; Über Rassenver-
schmelzung. — Gustav Guldberg: Wanderungen verschiedener Bartenwale. — Schulz: Eine abnorme Blüten-
bildung beim Mais. — Noetling: Ein Übergang zwischen Kreide und Tertiär. — Schuster, Hemsalech und
Hagenbach: Über den Dopplereffekt im elektrischen F'unken. — Dr. v. Büttel: Zum Rüstzeug des Naturforschers
und Naturfreundes. — Wetter-Monatsübersicht. — Vereinsviresen. — Bücherbesprechungen: Albert Hesse:
Natur und Gesellschaft. — Albert I., Fürst von Monaco: Eine Seemanns-Laufbahn. — Prof Andrew Gray:
Lehrbuch der Physik. — M. Möbius: Matthias Jacob Schieiden. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,DiC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Koerber
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 29. Mai 1904.
Nr. 35.
Abonnement: M.in abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgeld bei der Post
15 I'fg. extra. Postzeitungsliste Nr. 544*^-
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstrafle 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten.
Die Entstehung der Gliederung des Tierkörpers.
Von Dr. Karl Camillo Schneider, Privatdozent a. d. Universität Wien.
Die Frage nach der Entstehung der Gliederung
des Tierkörpers hat in den letzten zwanzig Jahren
die Zoologen stark beschäftigt, ohne bis jetzt zum
Abschluß gelangt zu sein. Mannigfache andere
Fragen von großer Bedeutung verknüpfen sich mit
ihr, so daß einer uinfassenden Darstellung wohl
auch allgemeineres Interesse entgegengebracht
werden dürfte. Gerade in letzter Zeit ist von dem
bekannten vergleichenden Anatoin Arnold Lang
neuerlich Stellung zu dem Problem genommen und
in dankenswerter Weise das vorliegende Material
an Befunden und Ansichten zusammengestellt und
kritisch gesichtet worden. Wesentlich neue Ge-
sichtspunkte wurden von ihm nicht vorgebracht.
Er hat sich, unter Aufgabe eines früheren eigenen
Standpunkts, der jetzt beliebtesten Anschauung an-
geschlossen und sie im einzelnen weiter ausge-
arbeitet. Ich habe mich bereits im vorvorigen Jahre
in meinem Lehrbuch der vergleichenden Histologie
der Tiere gegen diese Anschauung ausgesprochen
und muß auch heute bei einer ablehnenden Stellung-
nahme verharren. Man wird sehen, daß es an
Gründen dafür nicht mangelt; es wird zugleich
aber auch ein Punkt hervorgehoben werden, dessen
Bedeutung weit über die hier zu behandelnde
Spezialfrage hinausgeht. Es handelt sich um einen
Einwand gegen die ganze Art und Weise, wie
heutzutage, unter dem Einflüsse der physiologischen
Entwicklungslehre, morphologische Probleme an-
gefaßt und beurteilt werden, eine Art und Weise,
die als unzulängliche und irreführende bezeichnet
werden muß.
Betreffs der Entstehung der Gliederung des
Tierkörpers gibt es zwei Theorien. Die eine
nimmt an, daß gegliederte Formen aus Tierstöcken
hervorgegangen sind (Kormentheorie, Kor-
mus = Tierstock), die zweite behauptet die Abstam-
mung von ungegliederten Formen durch sekun-
däre Segmentation (Segmentationstheorie).
Man hat die Kormentheorie nicht so zu verstehen,
daß ursprünglich getrennte Individuen einer Art
sich zu einem geineinsamen Ganzen zusammen-
gefügt hätten ; in dieser Weise kommt auch kein
Tierstock, an dem die Individualität aller Teile
deutlich erkennbar ist, zustande. Vielmehr ent-
steht ein Kormus durch Knospung und unvoll-
ständige Teilung aus einem einzigen, durch ge-
schlechtliche oder ungeschlechtliche P'ortpflanzung
546
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 35
entstandenen Individuum und die Knospen wachsen
zu ganzen Personen aus, die aber den Zusammen-
hang nicht aufgeben und meist auch nicht sämt-
lich völlig gleichwertig gebaut, sondern an diffe-
rente Funktionen angepaßt sind. Die Kormen-
theorie nimmt nun an, daß die Segmente einer
gegliederten Form z. B. eines Regenwurms, eines
Flußkrebses oder eines Fisches, ebenfalls nichts
anderes als sehr unvollständige Einzelpersonen
sind, während die Segmentationstheorie in der
Segmentation eine sekundäre Gliederung ursprüng-
lich einheitlicher Organismen erkennt und daher
die gegliederten Tiere von den Tierstöcken aufs
schärfste unterscheidet.
Eine Fülle von Fragen sind zu berücksichtigen,
wenn wir jetzt prüfen wollen, welche von beiden
Theorien die berechtigte ist. Zunächst erscheint
es nötig, einige Tierstöcke genauer kennen zu
lernen, damit die Möglichkeit eines eingehenden
Vergleichs überhaupt gegeben ist. Stockbildung
finden wir besonders bei festsitzenden Tierformen.
Die Schwämme bilden sehr häufig Stöcke, bei
denen es meist überhaupt nicht möglich ist, die
einzelnen Individuen scharf gegeneinander abzu-
grenzen. Das gelingt dagegen ohne weiteres bei
den Polypen, wo zahlreiche Polyppersonen ent-
weder von einem gemeinsamen Wurzelwerk oder
Stamme entspringen. Bei der bekannten Hydra,
dem Süßwasserpolyp, knospen junge Tiere direkt
am Polypkörper, geben aber rasch den Zusammen-
hang auf, der dagegen bei den marinen Formen
gewahrt wird und eben die Stockbildung ver-
mittelt. Hier beobachten wir auch Arbeitsteilung
zwischen den Stockpersonen, indem die einen, die
eigentlichen Polypen, die Ernährung versorgen
(Nährtiere), während die anderen Geschlechtszellen
entwickeln, also wesentlich zur Erhaltung der Art
beitragen (Geschlechtstiere). Sie lösen sich ent-
weder als Medusen (üuallen) los, vermögen dann
sich selbst zu ernähren und erscheinen so als völlig
selbständige Individuen , deren Lokomotion die
Ausbreitung der Geschlechtszellen über ein mög-
lichst großes Territorium vermittelt, oder siebleiben
am .Stocke haften, entbehren des Mundes und sind
nichts weiter als Behälter der Geschlechtszellen,
die durch die Polypen ernährt werden (rudimen-
täre Geschlechtspersonen). Bei einzelnen Stöcken
gibt es auch Schutztiere, die reich an Nesselzellen
sind und gleichfalls des Mundes entbehren. Von
den Polypenstöcken leiten sich ferner ab die frei-
schwimmenden Siphonophoren, diese wunderbaren,
Guirlanden vergleichbaren Tierstöcke, an denen die
Arbeitsteilung außerordentlich weit vorgeschritten
ist. Man unterscheidet Nährtiere (Polypen), Ge-
schlechtstiere (bald Medusen, bald rudimentär)
Schutztiere von höchst kompliziertem Bau (Nessel-
knöpfe), Taster, Deckstücke, Schwimmglocken und
Schwimmblasen (Pneumatophoren). In den Siphono-
phoren finden wir eins der wenigen Beispiele frei-
beweglicher Kormen ; ein anderes sind gewisse
Tunikaten (Manteltiere), z. B. die Salpenketten und
Feuerwalzen (Pyrosomen). Für beide ist die phylo-
genetische Ableitung von festsitzenden Stöcken
offenkundig; dagegen kennen wir keine Stöcke,
die bei primär freilebenden Formen sich entwickelt
hätten.
Während in den genannten Beispielen, zu denen
noch die Korallen- und Bryozoenstöcke hinzu-
kommen, die Gleichwertigkeit der Personen meist
leicht ersichtlich ist, da alle selbständig neben-
einander, entweder nur in ziemlich loser Verbin-
dung (Salpenketten) oder an einem gemeinsamen
Tragapparat (Rhizom, Stamm) befestigt vorkommen,
liegen die Verhältnisse wesentlich anders bei anderen
Stöcken, nämlich bei den Schirmquallen und bei
den Bandwürmern. Die Schirmquallen sind von
den erwähnten Medusen oder Saumquallen scharf
zu unterscheiden; sie nehmen eine Mittelstellung
zu den Korallentieren ein. Man beobachtet bei
ihnen eine eigentümliche ungeschlechtliche Fort-
pflanzung, die nur vorübergehend zur Stockbildung
führt. Aus dem Ei entsteht eine polypenartige
sterile Form, die sich mit dem Scheitelpole fest-
heftet, für gewöhnlich nur ein Rhizom und andere
Polypen, zu gewissen Zeiten aber auch am freien
Mundpole durch Quergliederung einen Satz von
jungen Quallen, sog. Ephyren, entwickelt, von
denen die distalste die älteste ist. Diese lösen
sich sukzessive los und wachsen zu großen Schirm-
quallen, welche die Geschlechtsprodukte bilden,
heran. Man bezeichnet den Polypen mit den
jungen Ephyren als Strobila und den Vorgang
der Ephyrenabstoßung als S t r o b i 1 a t i o n. Ganz
ähnlich liegen die Verhältnisse bei den Band-
würmern. Aus dem Ei entwickelt sich direkt
oder durch Vermittlung der Finne ein oder viele
sterile Hafttiere (Scolices), die mit dem einen
Pole sich im Darm des Wirtes, unter Entwicklung
von Sauggruben, Saugnäpfen und Haken anheften
und am anderen Pole die Bandwurmglieder (Pro-
glottiden), die als Geschlechtstiere den Quallen
vergleichbar sind, durch Knospung erzeugen. Auch
hier sind die distalsten Proglottiden die ältesten,
lösen sich los, vermögen sich selbständig zu be-
wegen und nicht selten noch längere Zeit zu leben.
Sie entbehren ebenso wie die Scolices eines Mundes
und Darmes, doch erscheint dieser Unterschied
gegenüber der Strobila von nebensächlicher Be-
deutung, da die Nahrung im Darm des Wirts durch
die gesamte Haut resorbiert wird. Von Bedeutung
erscheint nur folgendes Moment. Man nimmt in
Rücksicht auf verwandte Wurmformen (Saugwürmer
oder Trematoden) an, daß der Haftpol des Scolcx
dem rudimentär gewordenen Munde entspricht;
es würde demnach die Knospung, die zur Stock-
bildung führt, beim Bandwurm am Hinterende des
Scolex, bei der Strobila aber am Vorderende statt-
finden. Indessen muß, wie aus verschiedenen hier
nicht näher zu diskutierenden Befunden (siehe
jedoch die spätere speziellere Besprechung der
Wurmorgane) hervorgeht, der Mund der Strobila
als Urmund nicht allein einem eventuell am Haft-
pol rückgebildeten sekundären Mund des Scolex,
sondern überhaupt dessen einer ganzen Längsfläche,
N. F. III. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
547
die als Bauchfläche (Urmundfläche) zu bezeichnen
wäre, gleichgesetzt werden. Der Unterschied zur
Strobila bestünde dann nur darin, daß bei dieser
der Urmund realiter ganz dem sich ablösenden
Quallentier, beim Bandwurm aber allen Personen
des Stockes virtuell zukäme. Der Scheitelpol der
Strobila wäre beim Scolex dicht am \'^orderende
zu suchen und auch bei der Strobila selbst als
Vorderende zu bezeichnen; die Knospung würde
also in beiden Fällen am Hinterende stattfinden.
über die Auffassung des Bandwurms als Stock
oder Person ist schon viel gestritten worden. Für
die Personennatur spricht zunächst der Gegensatz
zwischen Kopf (Scolex) und Gliedern (Proglottiden),
der die Einzelstücke zu Organen zu stempeln
scheint. Auch an der Strobila ist das Muttertier
von den sich ablösenden Quallen verschieden ge-
baut, aber die vorliegenden Unterschiede sind doch
keine wesentlichen und wir kennen einerseits
Schirmquallen, die gleich den Polypen sich fest-
zuheften vermögen (Lucernarien), andererseits ist
die Qualle hoch differenziert und zu selbständiger
Ernährung befähigt, so da(3 sie unmöglich als frei-
gewordenes, nur die geschlechtliche Fortpflanzung
besorgendes Organ gedeutet werden kann. Zwischen
Scolex und Proglottis sind die Differenzen viel er-
heblicher. Zwar kann auch, wie schon bemerkt,
die Proglottis durch längere Zeit sich selbständig
lebend erhalten, ja sie löst sich in manchen Fällen
noch vor der Geschlechtsreife ab und vermag sich
sogar im Wasser schwimmend fortzubewegen ; aber
im wesentlichen ist sie doch nur äußerst niedrig
differenziert und nichts anderes als ein Geschlechts-
zellbehälter, was sich jedoch auf ihre parasitische
Lebensweise zurückführen läßt. Übrigens hat
Luhe in Haifischen (Acanthias) einen Bandwurm
(Urogonoporus armatus) gefunden, der nur
aus einzelnen Proglottiden besteht, welche aber
am Vorderende einen beweglichen, mit kräftigen
Stacheln besetzten Haftlappen tragen, mittels dessen
sie sich festzusetzen vermögen. Diese Form zeigt
also Scolexcharaktere am Geschlechtstier, die ver-
mutlich durch Regeneration, nach Ablösung von
einem echten Scolex, entstanden sind und würde
dadurch die bloße Organnatur der Proglottis
schlagend widerlegen.
Ein zweiter Grund für die Personalität des
Bandwurms wird darin gesehen, daß es Formen
gibt, die äußerlich nur undeutlich (Triaeno-
p h o r u s) oder gar nicht ( L i g u 1 a ) gegliedert sind,
bei denen sich nur die Geschlechtsorgane im Innern
regelmäßig wiederholen. Die Amphiliniden und
Caryophyllaeiden sind auch innerlich unge-
gliedert, erscheinen daher ganz wie einfache Per-
sonen. Indessen dürfen wir, in Hinsicht auf die
bei Saug- und Bandwürmern (z. B. Entstehung
zahlreicher Scolices in den Finnenblasen bei Taeiiia
coenurus und e c h i n o c o c c u s) so verbreitete
ungeschlechtliche Vermehrung, die als Anpassung
an die parasitäre Lebensweise zu betrachten ist,
wohl eher auf eine sekundäre Verschmelzung
schließen und hätten von diesem Gesichtspunkt
aus die Personennatur der L i g u 1 a und des C a r y o -
phyllaeus nur als eine scheinbare aufzufassen,
ebenso wie bei Siphonophoren auch sekundäre
innige Verschmelzungen differenter Individuen vor-
kommen, die deren Personalität stark oder völlig
verwischen. Man wird daher, welche Ansicht ja
auch die verbreitetste ist, den Bandwurm als eine
Tierkette oder einen Tierstock (Kormusj aufzu-
fassen haben.
Strobila und Bandwurm erscheinen als Kormen
von ganz anderer Natur als die früher erwähnten
Polypen- , Korallen- , Bryozoen-, Ascidien- und
-Salpenkolonien, nämlich nur als vorübergehende
Zustände, denen immer, außer bei Ligula und ver-
wandten Formen (siehe oben), ein Zerfall in die
Einzeltiere folgt. Die Stockbildung dient hier aus-
schließlich der ungeschlechtlichen Fortpflanzung;
sie begünstigt die Ernährung der zahlreich und
fast gleichzeitig entstehenden, sich geschlechtlich
differenzierenden Individuen, ist demnach nur ein
Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck, was da-
gegen für die ersterwähnten Kolonien mit zahl-
reichen Nährtieren gilt. Noch schärfer tritt dies
Moment bei anderen ungeschlechtlich sich fort-
pflanzenden Formen hervor. So gibt es Würmer
des Meeres (Syllideen) und des Süßwassers (Micro-
stoma, Naideen u. a.), die sich regelmäßig unge-
schlechtlich vermehren, indem sie an einer oder
mehreren Stellen des Körpers Regenerationszonen
entwickeln und von diesen aus die entsprechen-
den Stücke des Wurmes zu ganzen Tieren er-
gänzen. Bei Microstoma regeneriert die ge-
nannte in der Einzahl vorhandene Zone am vorderen
Körperteil ein Hinterende, am hinteren Körperteil
ein Vorderende, das mit Gehirn und Augen aus-
gestattet ist. Ehe beide neuen Tiere sich trennen,
treten an ihnen bereits wieder neue Regenerations-
zonen auf, was sich mehrfach wiederholen kann,
so daß Ketten von mehr als 8 Individuen ent-
stehen können. Später erfolgt aber immer eine
Trennung und das gleiche gilt für alle Fälle der-
artiger Regenerationen, die in mannigfacher Hin-
sicht variieren können. Wird nur am vorderen
Peilstück ein Hinterende regeneriert, so dient das
reigewordene , des Kopfes entbehrende hintere
Feilstück nur der Ausbreitung der Geschlechts-
organe, die in ihm zur Entwicklung kommen
(z. B. beim Palolowurm: Eunice viridis, bei
Haplosyllis unter den .Syllideen, bei Clisto-
mastus unter den Capitelliden); der Fall erinnert
also einigermaßen an die Proglottidenbildung, nur
ist das hintere Teilstück segmentiert gebaut. Die
Regeneration von Köpfen erscheint an den Mangel
der Geschlechtsreife gebunden ; sie kann stark ver-
zögert sein und ein Wurm sich simultan oder fast
;;imultan in eine Anzahl von regenerationsfähigen
Stücken teilen, deren mittlere weder einen Kopf
noch auch ein Schwanzstück besitzen und bis-
weilen scheinbar nur aus einem Segment bestehen.
Bei Autolytus und Myrianida sind, wie bei
einer Strobila, die hinteren Teilstücke die ältesten
und lösen sich erst nach vollendeter Regeneration
S48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 35
und bei Geschlechtsreife ab, während vorn immer
neue Tiere entstehen. Teilen sich dagegen die
hinteren Teiistücke auch wieder, so kommen Ketten
gleichalter Tiere zustande, die sich spontan von-
einander trennen. Von großem Interesse ist das
Verhalten von Ctenodrilus pardalis, dessen
Regenerationszonen segmental auftreten, so daß
aus einzelnen Segmenten des Muttertieres Tochter-
tiere hervorgehen. Ein Tier mit 14 Segmenten
kann 6 Regenerationszonen aufweisen ; hier er-
scheint die ungeschlechtliche Vermehrung der
Segmentbildung sehr eng verwandt, indessen ist
sogleich zu erwähnen, daß die Regenerationszonen
nicht an den .Segmentgrenzen, sondern im Seg-
ment, dessen Vorderrand genähert, liegen, also ein
Teilstück zwar nur segmentlang, aber nicht identisch
mit einem Segment ist.
Nachdem wir derart uns über die ungeschlecht-
liche Fortpflanzung unterrichtet haben, kann nun
an die Beurteilung des Gliederungsproblems heran-
getreten werden. Man bezeichnet die Ouergliede-
rung eines langgestreckten Körpers als Meta-
merie, im Gegensatz zur Längsgliederung, welche
bei den niederen Tieren sehr verbreitet ist und
neuerdings von Lang als Cyclomerie be-
zeichnet wurde. Cyclomerie finden wir bei radial-
strahlig gebauten Tieren und sie bedeutet, daß
sich im Umkreis der Längsachse identische Stücke
mehrfach wiederholen, so z. B. die Tentakel und
Septen bei den Polypen und Korallen, die Arme
bei einem Seestern. Metamerie kommt nur den
bilateralsymmetrischen Tieren mit Rücken- und
Bauchfläche, mit Vorder- und Hinterende zu und
hat sich aus der Cyclomerie durch ungleiche Aus-
bildung der Nebenachsen des Körpers, unter be-
sonderer Begünstigung der einen, die zur Haupt-
und Längsachse des langgestreckten Körpers wird,
entwickelt. So ist z. B. eine Wurmlarve zunächst
radialsymmetrisch gebaut; aber indem die ür-
mundfläche zur Bauchfläche wird und in die Länge
wächst, wird die ursprüngliche Längsachse unter-
drückt und eine neue entwickelt sich, längs welcher
die Ouergliederung eintritt. Diese metamere Gliede-
rung ist entweder nur eine innere oder zugleich
auch eine äußere; das letztere trifft zu für die
Gliederwürmer (Anneliden), die Gliederfüßer (Ar-
thropoden) und für die Wirbeltiere (Vertebraten).
Wir werden uns hier nur mit der Metamerie der
ersteren Gruppen beschäftigen, da hinsichtlich der
Wirbeltiere Eigentümlichkeiten bestehen, die die
Beurteilung ihrer Metamerie wesentlich erschweren.
Bei den Anneliden ist die Metamerie eine gleich-
artige (homonome), insofern der Rumpf aus über-
einstimmend beschaffenen Segmenten besteht. Bei
den Gliederfüßern ist sie dagegen heteronom (un-
gleichartig), wodurch es zur Bildung differenter
Körperregionen kommt. Indessen völlig homonom
ist auch die Gliederung der Würmer, selbst in den
einfachsten P"ällen, nicht; immer ist ein kurzes
vorderes Stück (Prosoma) und ein kurzes hinteres
(Endsegment) vom mittleren (MetasomaoderRumpf)
fundamental verschieden. Das erstere, auch Kopf-
segment genannt, enthält dorsal das Gehirn und
ventral den Mund, das letztere dagegen, auch Py-
gidium genannt, den After. Die Segmente des
Rumpfes entbehren aller drei Gebilde; in ihnen
finden sich dagegen der Darm (aus Schlund, Mittel-
darm und Enddarm bestehend), die Leibeshöhle
(Cölom), die in jedem Segment zwei selbständige
paarige Kammern bildet, die Längsmuskulatur,
welche die schlängelnde Lokomotion vermittelt,
das nervöse Bauchmark, das vorn im Umkreis des
Schlundes mit dem Gehirn durch die Schlund-
konnektive zusammenhängt; die segmental und
paarig geordneten, die Cölomkammern mit der
Außenwelt verbindenden Nierenkanäle (Segmental-
organe) und die Geschlechtsprodukte, die in der
Wandung des Cöloms entstehen. Die Blutgefäße
sind allen drei Abschnitten gemeinsam ; ein Paar
Nierenkanälchen kommt übrigens auch dem Kopfe
zu (Kopfniere) und sekundär erstreckt sich auch
das Cölom in den Kopf, während es dem Pygidium
selbständig zukommt. Die borstentragenden Ruder-
füße der marinen Anneliden (Chaetopoden) sind
auf den Rumpf beschränkt und finden sich zu je
einem Paar an jedem Segment; andere Anhänge
(Taster, Cirren , Fühler) finden sich dagegen viel-
fach auch am Kopfe und gelegentlich auch am
Pygidium.
Die Kormentheorie nimmt nun an, daß auch
die Gliederung des Annelidenkörpers (von der sich
phylogenetisch die der Arthropoden ableitet, so
daß wir sie hier nicht weiter zu berücksichtigen
brauchen) durch ungeschlechtliche Fortpflanzung
mit unterdrückter Teilung und stark eingeschränkter
Regeneration entstanden sei. Jedes Körpersegment
soll einem ganzen Tier eines beliebigen Kormus
der Anlage nach gleichwertig (homolog) sein ; doch
haben diese vom primären, aus dem Ei hervor-
gegangenen Individuum durch Knospung gebildeten
sekundären Individuen nicht das Vermögen sich
abzulösen und selbständig zu existieren ; es sind
stark reduzierte Geschlechtstiere, die auch durch
andere wichtige Differenzierungen dem Gesamt-
körper (Kormus) von Wichtigkeit sind, so vor
allem durch ihre Längsmuskulatur, Ruderfüße und
durch das Bauchmark. Als Primärindividuum be-
trachtet man die aus dem Ei entstehende Larve,
die zum Kopf des Wurmes wird. Diese Larve
ist von sehr charakteristischem Baue und wird,
nach Hatschek's Vorgang, weil sie mit Wimper-
ringen vor und hinter dem Munde ausgestattet ist,
als Trochophora (Trochus^ Wimperring) be-
zeichnet. Sie zeigt auffallende Verwandtschaft zu
den Rädertieren (Rotatorien), besonders zu einer
bestimmten Form derselben, der Trochosphära;
man betrachtet daher die Rotatorien als Stamm-
form der Anneliden, die in der Larve (Trocho-
phora) rekapituliert wird und nimmt an, daß am
Hinterende dieser Stammform das eigentliche Anne-
lid (Rumpf desselben) durch Knospung entstanden
sei. Entsprechend dieser Hypothese spricht man
N. F. m. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
549
auch von einer Trochophoratheorie, um die ver-
mutliche Abstammung der Anneliden von einer
ungegliederten Form, durch ungeschlechtliche Ver-
mehrung derselben, bei Wahrung des Zusammen-
hangs aller Teilstücke anzudeuten. Die Trocho-
phoratheorie ist also mit der Kormentherie iden-
tisch, spezialisiert sie nur in Hinsicht auf bestimmte,
jetzt noch lebende Vorfahren, die Rotatorien.
Unstreitig handelt es sich um eine äußerst
geistvolle Hypothese, die viele Freunde, auch noch
in neuester Zeit, gefunden hat. Sie besticht da-
durch, daß es ja, wie wir gesehen haben, Tier-
stöcke gibt, die aus ungleichen Personen bestehen ;
wie der Bandwurm bereits im ganzen als Indivi-
duum erscheint und ja auch von manchen Autoren
als solches aufgefaßt wird, so soll sich in den
Anneliden eine noch höhere Stufe der Einheitlich-
keit ausprägen, die die Abstoßung von als Ge-
schlechtsträger funktionierenden Körperteilen ganz
unterdrückt zeigt. Wie ferner die Bandwurm-
proglottis, bei ihrer Deutung als Person, in allen
oder fast allen Fällen (siehe oben) unvermögend
ist einen Scolex zu regenerieren, so vermag auch
in keinem P'alle ein Rumpfmetamer der Anneliden
den Kopf neu zu bilden. In dieser Hinsicht sind
die erwähnten Befunde ungeschlechtlicher P"ort-
pflanzung bei Anneliden sehr bedeutungsvoll und
wurden deswegen hier auch ausführlich besprochen;
sie lehren daß em Rumpfsegment nicht gleich-
wertig einem zwischen zwei Regenerationszonen
gelegenen Rumpfstück ist, selbst wenn es nur
segmentale Länge besitzt (siehe oben das Beispiel
von Ctenodrilus). Ein Metamer ist ein regene-
rationsunfähiges Individuum ; neue Rumpfsegmente
zu bilden vermag nur eine einzige Stelle des
Körpers, wie beim Bandwurm nur eine Stelle
neue Glieder treibt. In der Regenerationsfähigkeit,
wie wir sie bei vielen Würmern neben der allen
Formen gemeinsamen Segmentbildung beobachten,
zeigt sich uns nur eine Steigerung des ungeschlecht-
lichen Fortpflanzungsvermögens im allgemeinen.
Oder man kann auch sagen : die ungeschlechtliche
Fortpflanzung ist das umfassende Grundphänomen,
aus dem sich die Metamerenbildung als spezieller
Fall herausentwickelt hat, dessen ursprüngliche
Form aber bei vielen Würmern außerdem noch
bestehen blieb und sich ferner auch im Regene-
rationsvermögen bei Verletzungen des Körpers,
das allen Würmern in hohem Maße zukommt,
erhielt.
Indessen ist die Kormentheorie in keiner Weise
aufrecht zu erhalten. Ungeschlechtliche Fortpflan-
zung und Metamerenbildung haben nur das eine
gemeinsam, daß sie Wachstumserscheinungen sind;
im übrigen sind sie ganz unvergleichbare Pro-
zesse. Das lehrt zunächst schon folgende Be-
trachtung. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung
der Würmer und Schirmquallen (Strobilation) dient
in letzterlnstanz überhaupt nicht der Kormenbildung,
wie es z. B. für die ungeschlechtliche Fortpflanzung
der Polypen, Siphonophoren, Korallen, Bryozoen,
Ascidien und Salpen gilt, sondern allein der indivi-
duellen Vermehrung, und die bei dieser Gelegen-
heit auftretenden linearen Stöcke sind nur vor-
übergehende (Strobila) oder durch besonders gün-
stige Ernährungsbedingungen (vor allem Band-
würmer) bedingte Bildungen, in denen sich eine
Verzögerung des Ablösungsprozesses oder eine
überschnelle P'ortpflanzung dokumentiert. Wie
Lang mit Recht betont, wären lineare Stöcke
auch die denkbar ungünstigst geformten, da sie
nur einen Mund aufweisen, der die ganze Kolonie
speisen muß. Bei Parasiten, die überhaupt des
Mundes nicht bedürfen, kann sich ein solcher
Kettenstock dauernd behaupten und bedeutet so-
gar einen Vorteil gegenüber zahlreichen Einzel-
individuen oder nur zwei- bis dreigliedrigen For-
men (Taenia echinococcus), da an sterilen
Haftindividuen (Scolices) gespart wird und die für
die Arterhaltung wichtigeren Geschlechtsindividuen
(Proglottiden) begünstigt erscheinen. In den Fällen
echter Stockbildung ist aber in erster Linie die
Zahl der Nährindividuen begünstigt, da von ihnen
die Erhaltung des Kormus abhängt; zugleich ver-
mögen die Geschlechtstiere bei weitem nicht in
allen Fällen sich abzulösen und selbständig zu
existieren, ein Zustand, in dem die Anstrebung
einer höheren Individualität angebahnt erscheint.
Wie mächtig hier die Interessen der Gesamtheit
über die der Individuen überwiegen, das zeigen
am deutlichsten die Siphonophoren mit ihrer aufs
höchste gesteigerten mannigfaltigen Differenzierung
der Personen und deren Anpassung aneinander.
Während es bei den niedrigeren Formen noch zu
einer Ablösung der ältesten Stammgruppen kommt,
welche als Eudoxien frei zu existieren vermögen
und gewissermaßen eine kompliziertere Art von
Geschlechtstieren repräsentieren, entfällt diese Er-
scheinung bei den höheren Formen vollständig
(ausgenommen Velella und Porpita) und die
Einheitlichkeit des Gesamtbauplans tritt immer
deutlicher hervor.
Ferner erscheint speziell die Ableitung des ge-
gliederten Wurmkörpers von den ungegliederten
Rotatorien durch Knospung an deren Hinterende
durchaus unhaltbar. Mit Lang muß man den
Gedanken , daß eine leicht bewegliche winzige
Tierform, wie es die Rotatorien sind, durch un-
geschlechtliche Fortpflanzung sich mit dem langen
Rumpfe eines Gliederwurms belastet haben sollte,
zurückweisen, besonders da die heute lebenden
Formen auch nicht die Spur solch terminalen
Wachstums, das sie zum Schwimmen unvermögend
gemacht hätte, zeigen. Es gibt zwar gewisse
Anneliden, die sich im Wasser freischwimmend,
durch Schlängelung des Körpers ziemlich schnell
bewegen können (Alciopiden), aber ganz im all-
gemeinen sind die Würmer Bewohner des Grundes
und in sehr vielen Fällen wühlen sie im Sand
und Schlamme, oder hausen gar in selbst produ-
zierten Röhren. Man denke vor allem an die
Regenwürmer und an die seßhaften Röhrenwürmer
des Meeres (Spir ograph is u. a.). Gegen diese
Argumentation wird eingewendet, daß ja tatsäch-
550
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 35
lieh an der freischwimmenden Wurmlarve (Trocho-
phora), die einem Rotator gleicht, der lange ge-
gliederte Wurmkörper entsteht. Aber erstens ist
dieser ontogenetische Vorgang gar nicht für die
Phylogenese beweisend und zweitens handelt es
sich, wie wir gleich sehen werden, dabei gar nicht
um eine Fortpflanzung, sondern um ein eigen-
artiges Wachstum. Die Gegner der Kormen-
theorie haben aus dem ontogenetischen Vorgang
gerade das Gegenteil geschlossen wie die Anhänger
derselben. Sie sagen: nicht die Trochophora re-
kapituliert die uralte Rotatorienstammform , an
welcher einst durch eine Laune des Zufalls das
Annelid sproßte, vielmehr sind die Rotatorien
von der freischwimmenden Larvenform, die sich
selbständig, wie wir das bei Larven so häufig
sehen, einer besonderen Lebensweise anpaßte, ab-
zuleiten und stellen nichts anderes als geschlechts-
reif gewordene Wurmlarven vor. Dieser ketzerische
Gedanke, der doch der einzig berechtigte ist,
macht aus dem uralten Feudaladel, welchen die
Rotatorien bei den Kormentheoretikern repräsen-
tieren sollten, plötzlich ein modernes Parvenu-
gesindel (Lang); die Ahnen des großen Glieder-
tiertypus werden zu „neotenischen" (Kollmann)
Abkömmlingen demselben. In diesem Sinne sprechen,
außer den vorgetragenen Erwägungen, die Befunde
an gewissen Wurniformen, die aus wenigen Seg-
menten bestehen, geschlechtsreif werden und dabei
vollen Larvencharakter bewahren, der sich vor
allem im Persistieren des Wimperkranzes (Tro-
chus), beziehentlich sogar in segmentaler Wie-
derholung desselben ausdrückt (Dinophilus,
Ophryotrocha). Die Rädertiere mit ihrem
komplizierten Wimperapparat entbehren jeder Spur
einer inneren segmentalen Gliederung; sie knüpfen
daher direkt an die noch ungegliederte junge
Trochophora an, an die sie sich auch in Hinsicht
auf den Darm und die nur lokal bewimperte Haut
viel enger anschließen als an die niederen unge-
gliederten Strudelwürmer (Turbellarien), von denen
man sie sonst ableitet.
Nun kommen wir aber zu weit schwerer wiegen-
den Einwänden gegen die Kormentheorie. Es
handelt sich um den genaueren Vergleich erstens
der Metamerenbildung mit der oben geschilderten
ungeschlechtlichen Fortpflanzung, zweitens der
Metameren selbst mit der Trochophora, an der sie
entstehen. Die Metamerenbildung zeigt einen auf-
fallenden Unterschied zur Fortpflanzung. Bei
letzterer liegt die Regenerationszone, falls sie über-
haupt eine einheitliche ist, am Hinterende des
knospenden Muttertieres, also beim Bandwurm
am Hinterende des Scolex und bei der Strobila
dicht am Munde, den wir, wie schon erwähnt,
nicht als Vorderende auffassen dürfen. Im Ver-
hältnis zu den knospenden Individuen liegt die
Zone aber vorn. Auch bei den ungeschlechtlich
sich fortpflanzenden Anneliden liefert vor allem
die vordere Körperregion die Regenerationszonen,
womit auch im Einklang steht, daß bei Ver-
letzungen die vordere Region immer reparations-
fähiger ist als die hintere; die letztere pflanzt sich
nur fort oder regeneriert nur, wenn sie noch nicht
geschlechtlich ausgereift ist. Doch sind letztere
Tatsachen für unsere Frage viel weniger wichtig
als das Verhalten bei der Strobila und dem Band-
wurm, das ja für die Knospung von Metameren
am Rotatorienkörper vorbildlich erscheinen muß.
Indessen sehen wir die Bildungsstätte der Meta-
meren nicht vorn am Kopf des Annelids gelegen,
sondern im Gegenteil hinten, dicht vor dem After,
an der Grenze von Rumpf und Pygidium. Hier geht
aus undifferenziertem Materiale während des Anne-
lidenwachstums die Anlage des Rumpfes hervor,
die sich von vorn nach hinten zu sukzessive gliedert,
was bedeutet, daß die vordersten, hinter dem Kopf
gelegenen Segmente, die ältesten und die hinter-
sten, an der Bildungszone gelegenen, die jüngsten
sind. Dieser Gegensatz zur Strobila ist in die
Augen springend. Berücksichtigen wir ferner, daß
das Pygidium den Larvenafter enthält, also sich
direkt vom Larvenkörper ableitet, so ergibt sich
sehr bezeichnend, daß von einer terminalen Knos-
pung bei der Metamerenbildung gar nicht die
Rede sein kann, es sich vielmehr nur um einen
Wachstumsprozeß im Bereiche des Larvenkörpers
selbst handelt, der in seiner spezifischen Art un-
vergleichbar mit der ungeschlechtlichen P'ortpflan-
zung ist.
Daß dies der Fall ist, lehrt ferner ein Ver-
gleich der Rumpfsegmente mit dem Kopfe, d. h.
mit dem eigentlichen Larvenkörper. Wenn es
auch nicht als notwendig angesehen werden muß,
daß Kopf und Metameren, abgesehen von Sterilität
und geschlechtlicher P'ruchtbarkeit, identisch gebaut
sind, da uns ja auch die Strobila und der Band-
wurm bedeutende Differenzen im Bau des Mutter-
tieres und der Tochtertiere zeigen, so muß docli
wenigstens die Rückführung beider Arten von
Körperabschnitten auf eine Grundform möglich
sein. Kopf und Metamer sind aber gänzlich un-
vergleichbar. Verständlich ist der Mangel der
Gonade im Kopf, ferner der Mangel des Mundes
an den Metameren; in Hinsicht auf das Cölom,
die Muskulatur und Nephridien liegen überhaupt
keine wesentlichen Differenzen vor und auch die
Ausbildung differenter äußerer Anhänge und von
Sinnesorganen am Kopf kann, bei dessen Bedeutung
als Leittier des Wurms, nicht befremden. Voll-
kommen unverständlich bleibt aber, wie Lang
mit Recht betont, der Unterschied in der Aus-
bildung des Nervensystems. Dem Kopf kommt
das dorsal gelegene Gehirn, den Rumpfmetameren
das ventral gelegene Bauchmark zu; wie dieser
Unterschied sich bei morphologisch primär gleich-
artigen Individuen entwickelt haben soll , dafür
fehlt jede Spur einer Erklärung. Betreffs des
Hauchmarks hat man allerdings eine Erklärung
versucht. Man hat das vorderste Bauchmarkganglion,
das sog. untere Schlundganglion, zum Kopfe ge-
rechnet und bei den Rotatorien, die des Bauch-
marks entbehren, nach einem Äquivalent desselben
gesucht. In der Tat fand Zelinka bei dem
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Rädertiere Discopus ein unter dem Schkind
gelegenes Ganghon, dessen Nervenfasern die Schlund-
muskulatur innervieren. Indessen geht aus diesem
Innervationsbefund die Unvergleichbarkeit des ge-
nannten Ganglions mit dem Unterschlundganglion
hervor, da letzteres bei den Anneliden den Schlund
nicht innerviert, dieser vielmehr seine Nerven vom
Gehirn oder von den Schlundkonnektiven oder
von besonderen , vom Gehirn sich ableitenden
Pharyngealganglien erhält. Das unter dem Schlund
gelegene Ganglion von Discopus ist also gar
kein Unterschlundganglion, sondern ein sekundär
gesondertes Phar_\-ngealganglion. Da nun auch
das Unterschlundganglion nicht zum Kopfe, sondern
zum Rumpfe gerechnet werden muß, so besteht
völlige Unvergleichbarkeit von Kopf und Meta-
meren schon in Hinsicht auf das Bauchmark, noch
viel ausgesprochener aber in Hinsicht auf das Ge-
hirn, das einen uralten, ererbten Wurmcharakter
bildet und von dem deslialb irgend welche Reste
in den Metameren, wenigstens in einzelnen Fällen,
angetroffen werden müßten, was jedoch nirgends
der Fall ist.
Gegen die Kormentheorie S[)rechen noch ge-
wisse gelegentliche Befunde abnormer einseitiger
Vermehrung der Metameren. C o r i und M o r g a n
zeigten, daß nicht selten bei Anneliden einem
Segment der einen Körperscite zwei der anderen
Seite entsprechen, und sie erklärten diese Ano-
malie mit Recht aus einseitiger Verdoppelung der-
jenigen Anlagen, welche für die Ausbildung der
Segmente bestimmend sind (vor allem Cölomanlage).
Man wird an einen Zustand unregelmäßiger Gliede-
rung erinnert, wie wir ihn noch, als Ausgangs-
punkt der Annelidmetamerie, zu besprechen haben
werden. Gegen diese Beweiskraft des Cori-Mor-
gan'schen Befundes wurde eingewendet, daß auch
bei Bandwürmern ähnliche Anomalien vorkommen,
man z. B. einseitig anscheinend halbe Glieder in
die Kette eingekeilt oder auch Glieder mit dop-
pelten Geschlechtsöffnungen findet. Immer aber
handelt es sich bei diesen Abnormitäten um mehr
oder weniger starke Verkünnnerung einzelner
ganzer Glieder, die auch von anderen unvollständig
gesondert erscheinen können; nicht aber sind es
Gliedhälften, vergleichbar den Segmenthälften der
Anneliden, und demnach sind die Befunde auch
nicht für die Kormentheorie verwertbar.
(Schluß folgt.)
Kleinere Mitteilungen.
Automatismus. — In der Nr. I vom 4. Ok-
tober 1903 der Naturwissenschaftlichen Wochen-
schrift hat mir Prof H. J. Kolbc vorgeworfen, ich
hätte einen Irrtum begangen , hidem ich die In-
stinkte als Automatismen bezeichnet hätte. Da
dieser Vorwurf, wie es scheint, weiter abgedruckt
wird, fühle ich mich zu folgenden Erläuterungen
veranlaßt.
Automatismus kommt von ßcrdf'ftTOC (spontan).
Unter Automat versteht man eine durch Federn
bewegte Maschine, deren einander folgende Be-
wegungen ein lebendes Wesen nachmachen und
umgekehrt auch ein lebendes Wesen, dessen Be-
wegungen maschinenartig, wie von einer Feder
ausgelöst, immer in der gleichen Weise vor sich
gehen. Der Ausdruck automatisch oder Auto-
matismus bezieht sich somit rein auf die starre,
unabänderliche Art, wie eine Kette von Bewegungen
oder Handlungen vor sich geht, also auf die Art
ihres Geschehens und nicht auf die tiefere Ursache
oder Genese der Sache.
Das tierische Nervensystem zeigt nun in seiner
Tätigkeit zwei, zwar genetisch grundverschiedene,
in ihrer Erscheinung jedoch ungeheuer ähnliche
F"ormen automatischer Tätigkeiten, den Instinkt
und die Gewohnheit. Beide unterscheiden sich
gemeinschaftlich von den plastischen Gehirntätig-
keiten eben durch die zwangsmäßige, starr ma-
schinenmäf3ige Art ihres Geschehens. Wenn auf
die Feder gedrückt wird , geht die ganze Kette
immer in gleicher Weise , wie mechanisch , vor
sich. Dieses ist sogar beim Instinkt noch ausge-
sprochener, als bei der Gewohnheit. Im Gegen-
satz dazu habe ich als plastisch diejenigen
Handlungen bezeichnet, die, mehr oder weniger
leicht, modifizierbar sich den äußeren Umständen
anschmiegen, oder auch durch innere Reibungen
und Kombinationen der Hirnkräfte in der Form
neuer, ungewohnter Zusammenstellungen auftreten.
Ich habe dabei stets betont, daß viele Über-
gangs formen zwischen Automatismen und
plastischen Tätigkeiten vorkommen, und daß beide
sich mannigfach in unseren Handlungen kom-
binieren und mischen.
Der Unterschied zwischen Instinkt und Ge-
wohnheit ist sehr einfach; Die Instinkte sind er-
erbte Automatismen, deren Tätigkeitsbahnen
(Neurokymbahnen) in den Keimesenergien bereits
vorgezeichnet sind. Die Gewohnheiten dagegen
sind die Folgen im Leben häufig wiederholter plasti-
scher Tätigkeiten. Die häufige Wiederholung einer
jeden Nerventätigkeit pflegt ihre Nervenbahnen zu
schleifen und daher jene Tätigkeit progressiv immer
automatischer, d. h. immer gleichmäßiger wieder-
holt, zu gestalten. Daher hat man mit vollem
Recht die Instinkte als primäre oder erbliche, die
Gewohnheiten dagegen, als sekundäre Automatis-
men bezeichnet.
Darwin und die ersten Darwinisten, die noch
an eine ziemlich naiv aufgefaßte Epigenese glaubten,
meinten, die Instinkte seien ererbte Gewohnheiten.
Dieser Standpunkt ist durch weitere Forschungen
unhaltbar geworden. Wir müssen vielmehr an-
nehmen , daß in den phylogenetischen Trans-
formationsprozessen der Arten die Anlage des
Nervensystems in kumulativer Art, sei es selek-
552
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
N. F. ni. Nr.
35
lorisch, sei es auf sonst noch unbekannte Weise,
die molekularen Energien zu vorgezeichneten,
automatischen Tätigkeiten, bald in dieser, bald in
jener Detailrichtung ausbildet. Statt darüber halt-
lose Hypothesen aufzustellen, begnügen wir uns
am besten damit, die Tatsache zu konstatieren
und auszudrücken, bis unsere Kenntnisse uns weiter
bringen. Wir sollen unumwunden gestehen, daß
die Phylogenese des histinkts noch rätselhaft ist.
Das alles hindert uns aber keineswegs, den
Ausdruck Automatismus, als Bezeichnung für die
maschinenartigen, zwangs- und gesetzmäßig erfol-
genden Ketten von Nerventätigkeiten zu gebrauchen,
die in zeitlichen Reihen einander folgen, gleich-
viel, ob sie instinktiv ererbt oder durch Gewohn-
heit erworben worden sind. Es wird im Gegen-
teil durch die Unterscheidung zwischen primären
(ererbten) Automatismen oder Instinkten und
sekundären (erworbenen) Automatismen oder
Gewohnheiten, die ganze Sachlage recht klar vor
Augen geführt, indem einerseits die Identität des
Geschehnisses und anderseits die Grundverschie-
denheit der Entstehungsart vor Augen gefüiirt
werden.
Ein alter .Spruch sagt: „die Gewohnheit ist
eine zweite Natur", das heißt so viel, wie: ,,die
Gewohnheit ist ein zweiter Instinkt." Denn unter
„Natur" versteht man eben in diesem Falle die
Gesamtheit der ererbten oder instinktiven .'\nlagen.
Freilich gibt es beim Menschen wenig fertige
Instinkte, um so mehr jedoch dafür erbliche An-
lagen. Eine erbliche Anlage ist aber nichts ande-
res, als ein unfertiger, nur teilweise ausgebildeter
Instinkt. Durch etwas Übung des betreffenden
Individuums schlüpft er dann rasch heraus und
wird nunmehr viel leichter automatisch, als solche
Dinge, für die wir nicht veranlagt sind. Man sieht
also, wie die Gewohnheit den unfertigen Instinkt
ergänzt und wie beide Formen der automatischen
Nerventätigkeit sich in uns kombinieren. Umge-
kehrt können plastische Modifikationen, (sogenannte
intelligente Anpassungen), sowohl die Abwicklung
einer Instinktkette etwas modifizieren oder stören,
als auch den Gang alter Gewohnheiten teilweise
wieder abändern. Die Plastik hat immer etwas
primäres, reibungs- oder schokartiges an sich.
Sie ist die neue Resultante simultan einander
teilweise entgegenwirkender Kräfte. Sie bildet
die Initiative im Gegensatz zur schlendrianartigen
Wiederholung des Automatismus. Im Verlauf der
in unserem Einzelleben erworbenen geistigen
Fähigkeiten und Tätigkeiten ist dieser Prozeß
leicht zu erkennen. Schwieriger dagegen gestaltet
sich die Sache für die dunkle Geschichte der
Phylogenese. Ich glaube jedoch, daß auch hier
die erbliche Angliederung von Energien, die den
Instinkten zugrunde liegt, ein sekundäres Produkt
ist und daß ihr primär plastische Geschehnisse
im Protoplasma zugrunde liegen. Letzteres glaube
ich freilich, ohne es beweisen zu können. Unter
plastischen Tätigkeiten verstehe ich natürlich so-
wohl die elementaren geistigen (nervösen) An-
passungen niederer Organismen als die kom[)li-
zierten Anpassungen der menschlichen Intelligenz
und Piiantasie. Grad- und Komplikationsunter-
schiede sind keine prinzipiellen Unterschiede.
Ich meine, jetzt müsse doch jedem Kinde klar
sein, daß der Irrtum nicht auf meiner Seite, son-
dern auf derjenigen meines verelirten Kritikers
liegt, und, daß ich vollauf berechtigt bin, den
Ausdruck Automatismus für den Instinkt zu ge-
brauchen.
Prof Kolbe bringt seinerseits irrtümlicherweise
den Begrift" des Bewußtseins, d. h. der rein subjek-
tiven Introspektion in diese Frage. Ich kann hier
nicht auf das Detail eingehen und verweise auf
meine diesbezüglichen Arbeiten: Die psychi-
schen Fähigkeiten der Ameisen, München,
E. Reinhard, 1901 und der Hypnotismus,
4. Aufl., Stuttgart, Enke, 1902. — So viel jedoch
sei hier bemerkt, daß ein alter Schlendrian, ohne
den Schatten eines Beweises, mit dem Wort ,,u n -
bewußt" das Bewußtsein, d.h. die Introspektion,
allen denjenigen Nerventätigkeiten abspricht , die
wir nicht mit der apperceptiven Kette unserer
Großhirntätigkeit (Oberbewußtseinsinhalt) asso-
ziieren oder, die wir sofort wieder „vergessen",
d. h. zu wenig assoziiert haben. Diese Konfusion,
der ich in den genannten Arbeiten entgegengetreten
bin, hat in der Psychologie und der Psychophysio-
logie ungeheuer viel Verwirrung gestiftet.
Dr. A. Forel, vorm. Prof in Zürich.
Der Blitz als Waldverderber. — In dem
beträchtlichen Verlustinventar, das die deutsclie
Forstwirtschaft trotz ihres rationellen Betriebes
nicht vermeiden kann, nahm bisher die Wald-
zerstörung durch Blitzschlag eine ganz nebensäch-
liche Stelle ein. Ist auch die Beschädigung von
Bäumen durch Blitz eine so auffällige Erscheinung,
daß sie wohl jedem geläufig ist, so ereignet sie
sich doch relativ so selten, daß der Blitzschlag
gegenüber den sechsfüßigen oder mikroskoiiischen
Waldverderbern fast gar nicht in Betracht kommt.
Dies scheint jedoch nach neuesten Untersuchungen
nicht ganz richtig zu sein. Wenigstens hat man
im vergangenen Jahre in der Umgebung von
München , ebenso in einzelnen Teilen Frankens,
hauptsächlich bei Fichten, Kiefern und Lärchen
ein sehr auffälliges Abdorren der Baumwipfel in
ausgedehntem Maße beobachtet, wodurch die
baj-rischen Privat- und Staatswaldungen in sehr
empfindlicher Weise geschädigt wurden ; die Ur-
sache dieser Gipfeldürre blieb längere Zeit unbe-
kannt, bis sich endlich herausstellte, daß ausge-
dehnte , sogenannte „Flächenblitze" diese gefähr-
liche Nadelholzerkrankung hervorrufen.
In diesen Blättern wurde zwar bereits gleich
nach Veröffentlichung der ersten Nachrichten über
diese merkwürdige Erscheinung eine kurze Notiz
gebracht.') In jenem ersten Stadium der Unter-
suchungen war es noch zweifelhaft, ob diese
') In Nr. 44 des XVIII. Bandes der Naturw. Wochenschr.
N. F. III. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
553
Gipfeldürre in Bayern durch Borkenkäfer oder
elektrische Kntladungen verursacht wurde; da je-
doch seitdem die F'orschungen über diese Frage
bereits zu einem befriedigenden Abschluß gelangt
sind, wobei viele , in mehrfacher Beziehung inter-
essante Tatsachen aufgedeckt wurden , dürfte es
wohl angebracht sein, hier nochmals auf diese in
forstwirtschaftlichen Kreisen Aufsehen erregenden
Untersuchungen etwas eingehender zurückzu-
kommen.
Die Gipfeldürre kommt im bayrischen Hoch-
lande gewöhnlich an freistehenden Pichten, aber
auch an anderen Nadelhölzern, wenn auch seltener,
vor; an Laubbäumen wurde sie noch nicht be-
obachtet. Ein derartig beschädigter Baum ge-
währt folgenden Anblick (Fig. i): Gewöhnlich
Fig. I. Durch Flächenblitze gipfeldürr gewordene Fichte in
der Umgebung Münchens. (Nach der Natur).
ist das oberste Drittel der Krone getötet, gebräunt
und dürr geworden. Untersucht man den Stamm,
so findet man an demselben noch einige Meter
unterhalb des abgedorrten Kronenteiles Spuren
von Verletzungen, zahlreiche Risse in der Rinde,
und stellenweise abgestorbene Rinden- und Kam-
biumteile. Im sonstigen sind die grünen Aste
vollkommen gesund, ebenso wie der untere Teil
des Stammes und die Wurzel. Da sich die Knos-
pen an dem dürren Gipfel stets noch im Winter-
zustande befanden , konnte daraus geschlossen
werden, daß die Beschädigung noch im Laufe des
Winters erfolgt war. Prof v. T u b e u f , welcher
die in Rede stehende Erscheinung auf das ein-
gehendste studierte ',) , folgerte aus allen diesen
Anzeichen, namentlich aber aus der Übereinstim-
mung der Rindenrisse mit den von dem berühmten
Forstbotaniker Hart ig seinerzeit festgestellten
„Blitzspuren", daß auch in diesem Fall, die merk-
würdige Gipfeldürre eine Folge von elektrischen
Ausgleichungen zwischen den Baumgipfeln und
den Wolken sei. Es macht keine Schwierigkeiten,
solche elektrische Entladungen auch für den Winter
anzunehmen, da wir ja oft genug Wintergewitter
beobachten können. Gerade diese bestehen eben
zumeist aus Flächenblitzen, welche sich als bloßes
Aufleuchten kundgeben und eine schwächere Form
der elektrisclien Entladung darstellen, die etwa
zwischen dem P.;imsfeuer und dem wirklichen
„groben Blitz" rangiert, welch letzterer, wenn er
einen Baum trifft, die Äste abreißt, die Rinde zer-
fetzt oder gar den Stamm zersplittert. Sehr zu-
gunsten der .Annahme, daß Flächenblitze diese
ausgedehnten Waldbeschädigungen verursachen,
spricht auch, daß besonders exponierte Bäume an
Felskuppen, Gratrücken, wetterscitigen Hängen
dieser Gipfeldürre ausgesetzt sind, ebenso wie im
geschlossenen Waldbestande stets nur die höheren
Bäume von ihr befallen werden.
Diese Untersuchungen Tubeuf's erregten in
weiten Kreisen Interesse, aber auch Widerspruch.
So hatte namentlich J. M ö 1 1 e r in der L^mgebung
Münchens die Gipfeldürre der Fichten ebenfalls
studiert und war zu dem Resultat gekommen, daß
dieselbe durch den Fraß der Raupe des Fichten-
rindenwicklers (G r a p h o 1 i t h a p a c t o 1 a n a) her-
vorgerufen wurde, da er diese Raupen an den kranken
Fichtengipfeln fand. Dies veranlaßte nun Tuben f,
durch Experimente festzustellen, ob ein, auf junge
Fichten und Kiefern wirkender elektrischer Funken-
strom ähnliche Erscheinungen wie die Gipfeldürre
zum Gefolge hat, was ja den überzeugendsten
Beweis für die Richtigkeit seiner Anschauungen
liefern konnte. Und dieser Beweis wurde tat-
sächlich erbracht.'-) Auf sinnreiche Weise wurden
die eingetopften Versuchspflanzen durch einen
Induktor während einiger Sekunden mit zahl-
reichen, schwachen Funken überschüttet und da-
durch die Wirkung eines schwachen Flächenblitzes
nachgeahmt. Binnen einigen Wochen machten
sich bereits die Folgen bemerkbar. Fig. 2 stellt
den Gipfel einer solchen Versuchspflanze dar und
liefert dadurch den Beleg für eine künstlich durch
') C. V. Tubeuf, Die Gipfeldürre der Fichten. (Natur-
wiss. Zeitschrift für Land- u. Forstwirtschaft, 1903) und: Über
den anatomisch-pathologischen Befund bei gipfeldürren Nadel-
hölzern. (Ebendort).
^) C. V. Tubeuf und Zclindcr, Über die pathologische
Wirkung künstlich erzeugter elektrischer Funkenströme auf
Leben und Gesundheit der Nadelhölzer. (Mit 2 Tafeln.)
(Naturwissenschaftl. Zeitschrift für Land- und Forstwirtschaft.
1903).
554
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 35
Elektrizität erzeugte Gipfeldürre, deren Symptome,
sowohl äußerlich als auch anatomisch, genau mit
den in der Natur erhaltenen Befunden überein-
stimmten. Der Gipfel war von oben herab voll-
ständig abgestorben und im VVinterzustande ver-
blieben. Es zeigten sich sowohl die Rindenrisse,
als die charakteristischen toten Kambium- und
Rindenstellen.
Damit war in befriedigender Weise der Nach-
weis erbracht , daß schwache Blitze den Bäumen
ebenfalls in empfindlicher Weise schaden können
und das Vorhandensein der Mottenräupchen und
Borkenkäfer in den dürren Gipfeln erklärte sich
nun ungezwungen durch späteren Befall. P2s war
Fig. 2. Gipfel einer jungen Ficlile , un welcher durch elek-
trische Entladungen künstlich die ,, Gipfeldürre" hervorgerufen
wurde. (Nach Tubeuf).
ja schon von früher her bekannt, daß an Nadel-
hölzern, die nur leicht vom Blitz gestreift wurden
und keinerlei äußere Verwundung aufwiesen, den-
noch stets Terpentintropfen austreten und deren
Geruch lockt Borkenkäfer und sonstige Baum-
schädlinge von fernher an.
Es ist kein Zweifel, daß nach dem Bekannt-
werden dieser interessanten Tatsachen die Art von
Gipfeldürre der Nadelhölzer nun an inehreren Orten
konstatiert werden wird und damit wird in zahl-
losen Fällen der Schlüssel des Verständnisses
für ein bis dahin unbegreifliches Dahinsiechen
vieler, gerade der schönsten Waldriesen gegeben
sein, dem wir aber bei diesem Sachverhalt natür-
lich machtlos gegenüberstehen. R. France.
Wasserdurchlässigkeit von Sand, Lehm
und Ton. — Über diese Verhältnisse, welche
hauptsächlich für die Geologen von größter Be-
deutung sind, deren Kenntnis, insbesondere die-
jenige der Durchlaßgeschwindigkeit, aber auch der
Techniker nicht entbehren kann , hat der durch
den Nachweis der Zusammenschweißbarkeit starrer
Mineralpulver berühmt gewordene Lütticher Prof.
W. Spring eine große Reihe systematisch ge-
ordneter Versuche ausgeführt, deren Ergebnisse er
im 28. und 29. Bande der Ann. d. geol. Gesellsch.
für Belgien in Lüttich mitteilte. Für den Hin-
weis, daß die hierbei berührten Fragen auch noch
andere Wissenschaftszweige angehen und allge-
meines Interesse verdienen, dürfte die Erinnerung
genügen , daß die Ernährung der unterirdischen
und quellenspeisenden Wasseransammlungen durch
von der Erdoberfläche aus hinzusickerndes atmo-
sphärisches Wasser sehr ernstlich und auf Grund
anscheinend exakter Versuche bestritten worden ist.
Für die Durchlässigkeit kommt natürlicher-
weise zunächst der Sand in Betracht, dessen Durch-
laßgeschwindigkeit sowohl in horizontaler als auch
in senkrechter Richtung geprüft wurde. Zu den
benutzten Apparaten dienten hauptsächlich Glas-
röhren von 2 cm lichter Weite; der Sand, der
zu den in den Röhren aufgeschütteten Plltern ge-
nommen wurde , war zuvor mit Salzsäure ge-
waschen worden und wurde dann, um den Ein-
schluß störender Gasblasen zu vermeiden, in Ge-
stalt eines mit kochendem Wasser hergestellten
Schlammes in die Röhren eingeführt. Das Er-
gebnis mehrerer Versuchsreihen für die horizontale
Durchlässigkeit war, daß das Wasser nicht mit
einer zur Breite (horiz. Länge) des Filters umge-
kehrt und dem motorischen Drucke direkt ent-
sprechenden Geschwindigkeit verläuft. In sehr
breiten Filtern verwischt sich die Wirkung des
Druckes mehr und mehr und das Wasser rückt
nur im Wege der Durchtränkung (Imbibition) vor.
Die von Poiseuille für das Gesetz des Flüssigkeit-
ausflusses aus Kapillarröhren aufgestellte Formel
zeigt sich nicht brauchbar für den Fall von quer
durch erheblich breite Sandmassen hindurchdringen-
dem Wasser. Verstärkt man den Bewegungsdruck,
so tritt die Verringerung der Filtriergeschwindig-
keit mit zunehmender Ulterbreitc noch deutlich
hervor, doch erlischt die Wirkung des Druckes
bald und setzt das Wasser seinen Lauf fort, als
ob seine Bewegung vom Druck ganz unabhängig
wäre. Der in einer gegebenen Gegend innerhalb
einer Sandschicht herrschende Druck wird mithin
eine merkliche Wirkung (auf die Filtriergeschwindig-
keit) nur bis auf einen kaum in Betracht zu ziehen-
den Abstand hin äußern können.
Bei der senkrechten F"ilterung erhält man über-
einstimmende Ergebnisse nur in dem Falle, daß
die Sandkörner gleich groß sind. P^nthält der Sand
verschieden große Körner und daneben vielleicht
auch noch Glimmerblättchen, so bewirkt das durch-
sickernde Wasser nach und nach eine (classierende)
Umlagerung, indem die groben Sandkörner in die
N. F. m. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
555
Tiefe dringen und die feineren (mit dem Glimmer)
an der Oberfläche zurücklassen ; obwohl letztere
nur eine ganz dünne Schicht bilden, stören sie
doch die Filtergeschwindigkeit. Diese Beobachtung
ist entschieden von geologischem Interesse, indem
sie einmal lehrt, daß in der Natur, wo reiner, aus
ganz gleich großen Körnern bestehender Sand
äußerst selten, oder man darf wohl sagen gar nicht,
vorkommt, das Durchsickern des Wassers keinem
einfachen , in einer mathematischen Formel aus-
drückbaren Gesetze folgen kann, andererseits das
Versinken der gröberen Konstituenten in losen
Materialablagerungen und dafür die Anhäufung der
feinkörnigen an der Oberfläche als eine sekundäre,
vom Sickerwasser bewirkte, nicht durch die Ent-
stehung der xAblagerung bedingte Erscheinung auf-
zufassen ist; den Wasserleitungs-Technikern aber
wird es interessant sein zu erfahren, daß sich ihr
„rationelles Filter" also in gewissem Maße auto-
matisch bildet. — Daraufhin wurden die Versuche
mit Sand fortgesetzt, dessen Körner von gleicher
Größe und Art waren. — Dabei zeigte sich nun
als zunächst störender Umstand die verschiedene
Ablagerungsdichte (tassement), welchem Einflüsse
man am ehesten dadurch begegnet, daß man die
Sandfüllung, anstatt auf einmal, in nur einigen
Zentimeter Höhe entsprechenden Partien nach-
einander in die Röhren einführt; in diesem Falle
allein zeigten die vertikalen F'ilter eine im um-
gekehrten Verhältnisse zu ihrer Dickenzunahme
abnehmende Durchlässigkeit; im übrigen gilt das
Gesetz von Poiseuille über die Ausflußgeschwindig-
keit aus Kapillarröhren nur für dünne Filter. Einen
anderen störenden Faktor stellt der in der Natur
wohl stets vorhandene Gasgehalt des Sickerwassers
dar; bei einem Versuche mit von erkennbaren
Luftblasen freiem Wasser, das durch Sand in einer
4 m hohen Glasröhre sickerte, trat nach einigen
Stunden eine Verlangsamung des Wasserabflusses
ein, und zeigte sich zu gleicher Zeit die Flüssig-
keitssäule in halber Höhe unterbrochen, indem
sich um gewisse Sandkörner Gasblasen gebildet
hatten ; durch diese Unterbrechung war der nutz-
bare Filterquerschnitt eingeschränkt worden. —
Die unter Vermeidung der angeführten störenden
Umstände ausgeführten Versuche ergaben, dal3 die
Ergiebigkeit eines senkrechten Filters nur dann
(umgekehrt) proportional zur P^ilterdicke zu stehen
scheint, wenn der das Wasser bewegende Druck
eine gewisse (nahezu einer Wassersäulenhöhe von
I m entsprechende) Grenze überschreitet; bei
schwächerem Drucke dagegen nimmt die Er-
giebigkeit mit der Mächtigkeit des Filters zu (bei
0,005 ni Wasserdruck z. B. erhielt man mit einem
0,085 m mächtigen Filter in derselben Zeit nur
iOi33 g Wasser, in welcher ein 1,800 m mäch-
tiges 14,10 g gab), weil da das Gewicht der Wasser-
säule zur vorwiegenden Geltung gelangt. Die Ge-
schwindigkeit des Versickerns von Oberflächen-
wasser wird also nicht notwendig durch die Mächtig-
keit der zu durchsickernden Schicht vermindert.
Dies hatte schon Biot durch ein Experiment zu
zeigen versucht , indem er ein mit Wasser ge-
sättigtes Sandfilter vorführte, das freiwillig an
seinem unteren Ende kein Wasser mehr entließ;
ließ er aber einen Tropfen auf die freie Ober-
fläche des Sandes fallen, so tropfte sofort auch ein
solcher vom unteren Ende ab. Eine Wiederholung
dieses Experimentes lehrte aber, daß es nur bei
dünnen Sandschichten von weniger als 30 bis 40 cm
Mächtigkeit gelingt, weil bei mächtigeren .Schichten
der Wasserablauf nicht gleich aufhört, sobald der
Wasserspiegel bis zur Sandoberfläche gesunken
ist; die Wassersäule sinkt da vielmehr unter ihrem
eigenen Gewicht noch tiefer ein ; fügt man als-
dann oben Wasser zu, so tropft unten nicht eben-
soviel ab, weil aus den Zwischenräumen der Sand-
körner in den oberen Schichten das Wasser zuvor
schon wieder von der Luft verdrängt worden war,
welche das neu eindringende Wasser hemmt.
Bei solchem frei gesättigtem Filter aus gewöhn-
lichem Sande ließ sich das Volumen des in den
Zwischenräumen der Sandkörner enthaltenen Was-
sers auf 49,29 " ij des Gesamtvolumens berechnen ;
durch Austrocknung reduziert sich jenes auf 28,074 '7„
für den feuchten Sand, kommt also dann dem
für die Zwischenräume von aus gleich großen,
sphärischen Körpern aufgebauten Aggregate be-
rechneten (von 26"/||) ziemlich nahe. Diese Volumen-
dififerenzen legen, insoweit sie nicht durch die Un-
regelmäßigkeiten in den Gestalten der Sandkörner
erklärt werden können, die Annahme nahe, daß
bei einem frei mit Wasser gesättigten Sande die
Körner von einander durch Wasserwände getrennt
werden , deren Dicke für die ganze Masse nicht
ohne Belang ist, und die auch auf seine Beweg-
lichkeit großen Einfluß ausüben müssen. Es ist
also wohl zu unterscheiden zwischen mit Wasser
frei gesättigtem und nur feuchtem Sande, welcher
letztere das Wasser nur auf den gegebenen
Hohlräumen, nicht überdies noch welches durch
Flächenadhäsion oder Kapillarität festhält und sich
deshalb auch fester erweist als jener. Diese Unter-
schiede steigern sich noch mit der Feinheit der
Sandkörner, denn während ein aus feinen Körnern
von 5 bis 10 fi Korngröße bestehender feuchter
Sand durch die in seinen Hohlräumen einge-
schlossene Feuchtigkeit zu einer mit dem Messer
schneidbaren und mit dem Spatel modellierbaren
Masse wird, in welcher das Wasservolumen nach
obigem Gesetze auch nicht viel mehr als 26 "/o
des Gesamtvolumens bildet, beträgt jenes bei der
freien Wasserdurchtränkung 52,28%, weil eben
die kleinen Körner eine viel größere Flächen-
entwicklung besitzen als die größeren, also auch
stärkere Adhäsionskräfte entwickeln können (wes-
halb auch aus feinerem Sande bestehende Schichten
schwieriger auszutrocknen gehen als solche aus
gröberem ; jene werden auch leichter ins Schwimmen
kommen als diese).
Von wie großer Bedeutung die Menge des
durchtränkenden Wassers ist, führt insbesondere
folgendes Experiment vor Augen: Aus einer senk-
rechten, an ihrem unteren Ende mit Mltersieb ver-
S56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 35
sehenen und mit im Wasser ausgewaschenen Sande
gefüllten Röhre läßt man den Überschuß von
Wasser austropfen und entfernt darnach das am
unteren Ende angebrachte Sieb, das dem Sande
während des Filterns zum Hak diente; alsdann
bleibt die über i m hohe Sandschicht in der Röhre
haften und selbst ein auf deren Oberfläche aus-
geübter Druck von mehreren Kilogramm vermag
nicht, sie zur Röhre unten hinauszuführen, wohl
aber und binnen wenigen Augenblicken vermag
solches die Zugabe von ein wenig Wasser.
Die Einwirkung der Temperatur auf die Filter-
geschwindigkeit wurde mittels eines Thermostaten
in Intervallen zwischen 19 und 60" (bei weiterer
Temperatursteigerung wirkte die Entwicklung von
Luftblasen störend ein, welche den Sand zerteilen
und eine Verzögerung bewirken) untersucht; es
ergab sich, daß Temperatursteigerung den P'ilter-
ausfluß steigert in gleichem Maße, als sie die
innere Reibung der Flüssigkeit verringert. Der
Filterausfluß ist der doppelte bei einer um etwa
30" gesteigerten Temperatur. Damit wird die
Annahme vieler Geologen gefestigt, daß auf die
Versickerungsgeschwindigkeit des Oberflächen-
wassers die Temperatur einen großen Einfluß aus-
übe; für der Erdoberfläche nahe Schichten kann
man also mit einer Beschleunigung der Versicke-
rung in der Tiefe rechnen.
Die Wasserdurchlässigkeit des Lehms ist ein
geologisch sehr wichtiger, aber auch heftig be-
strittener Punkt in Anbetracht der weit ausge-
dehnten Lehmdecken. Wer den Lehm für un-
durchlässig erklärt, ist zu der Behauptung ge-
zwungen, daß das unterhalb der Lehmdecken an-
getroffene Wasser, insoweit es nicht etwa auf bis
zur Erdoberfläche reichenden Gebirgsspalten ver-
sunken wäre, von außerhalb der Lehmdecke liegen-
den Landstrichen seitlich hinzugetreten ist oder
aber, wie einige Geologen wollen, aus „Bergfeuchtig-
keit" (deren Gegenwart noch besonders zu erklären
wäre) zum tropfbarflüssigen Zustande kondensiert
worden sei. Und diese Undurchlässigkeit schien
gar nicht mehr eriaubt anzuzweifeln einerseits in
Rücksicht eines Experimentes, bei welchem das
in eine 12 cm weite und 85 cm hohe Röhre ge-
füllte Gemenge von Gartenerde und zuvor an der
Sonne getrocknetem Ziegelton von oben mit einer
die jährliche Niederschlagsmenge in der Gegend
(für den Röhrenquerschnitt berechnet) weit über-
ragenden Quantität von Wasser angenäßt wurde,
von welchem nichts bis in das untergestellte Ge-
fäß gelangte, und andererseits der während jeder
Jahreszeit anzustellenden Beobachtung, das selbst
nach anhaltenden Niederschlägen sich das Wasser
in Wald- oder Feldboden im allgemeinen nur bis
zu unbeträchtlicher Tiefe eingesickert findet. Dabei
ist aber übersehen worden, daß dem tieferen Ein-
dringen in den Boden nur die in den Zwischen-
räumen der Mineralteilchen befindliche Luft ent-
gegenwirkt, weshalb bei Füllung eines frischen
Bohdoches mit Wasser in diesem zahlreiche Luft-
blasen aufsteigen. Sorgt man dagegen, wie bei
den von Spring mit Lehm (oberem Limon de
la Hesbaye) in bis zu 8 m langen Röhren aus-
geführten Versuchen geschehen ist, daß weder die
im Lehm noch die im Wasser enthaltene Luft
störend einwirkt, so erweist sich auch der Lehm
durchlässig und zwar bis auf vermutlich 8 m über-
steigende Tiefe. Diese Durchlässigkeit zeigte bei
den Versuchen eine sich bald bemerkbar machende
Abnahme, infolge deren sogar das Abtropfen am
unteren Ende zum Stillstand kam; da aber am
oberen Ende der Lehmsäule trotzdem zu beobachten
war, daß täglich je nach der Temperatur noch
eine (gegen Verdunstung geschützte) Wassersäule
von 12 bis 15 mm Höhe (gegen Ende einer zwei-
monatigen Beobachtungszeit noch 5 bis 6 mm)
verschluckt wurde, muß man annehmen, daß die
Versickerung auch dann noch andauert, aber der-
maßen veriangsamt, daß es nicht mehr zur Tropfen-
bildung am unteren freien Ende kommt, sondern
das Wasser daselbst verdunstet. Dieses andauernde
Verschlucken von Wasser ist trotz der geringen
Menge des letzteren von wenigen Millimeter Höhe
in 24 Stunden, für die Frage der Ouellenbildungen
nicht ohne Belang, denn es ist zu bedenken, daß
schon bei nur i mm Höhe der verschluckten
Wassersäule für jedes Hektar 10 cbm Wasser dem
L^ntergrunde zugeführt werden.
Mit der Durchlässigkeit des Tones hat sich
Spring zu wiederholten Malen beschäftigt. Eine
auf ein Sandfilter in einer vertikalen Röhre auf-
gebrachte 6 cm dicke Schicht aus mit Wasser
gesättigtem Ton ließ das Wasser andauernd hin-
durchsickern, trotzdem der Versuch über einen
Monat ausgedehnt wurde; allerdings geschah solches
ungemein langsam, etwa 680 mal langsamer als
im Sand, hörte aber doch nie völlig auf; ließ man
nun auf die durchlässige Tonschicht, noch während
die Röhre voll Wasser stand, einen Druck von
1,033 kg/qcm von oben wirken, was durch Her-
stellung eines luftleeren Raumes am unteren Röhren-
ende erzielt wurde, so trat zunächst zwar eine
Beschleunigung des Filterausflusses ein, welcher
jedoch mit der eintretenden Verdichtung der Ton-
schicht bald nachließ und nach einigen Stunden
ganz aufhörte; die in ihrem oberen Teile noch
schlammige Tonmasse war dabei nach unten zu
immer dichter geworden, so daß die dem Sande
aufruhende Schicht mit dem Wasser zerschneidbar
war. Durch eine Reihe anderer Versuche zeigte
Spring, daß der Ton nur Wasser aufnimmt und
zugleich für Wasser durchlässig ist, wenn er sich
frei ausdehnen kann. Wenn eine Substanz bei
ihrer Auflösung in Wasser oder auch nur, wie dies
beim Ton der Fall ist, bei ihrer mechanischen
Wasseraufnahme an Volumen zunimmt, so muß
jene Auflösung oder diese Durchtränkung unter-
bleiben, sobald es der Substanz an dem dazu
nötigen Räume fehlt. Es liegen da osmotische
Erscheinungen vor. Ein Tonlager im Gebirgs-
verbande, das um so mehr beengt ist, eine je
größere Last von übergelagerten Schichten es zu
tragen hat, wird also nur bis zu einer beschränkten
N. F. III. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5S7
Tiefe Wasser in sein Inneres eintreten lassen, bis
nämlich durch das Anschwellen und Aufquellen
des vom Wasser berührten Tones aller verfügbare
Raum erfüllt ist. Die Aufquellkraft des mit Wasser
in Berührung gebrachten Tones ist schwer zu be-
stimmen und wird geringer als 2 kg/qcm geschätzt ;
nimmt man die Dichte des Tones je nach seiner
Austrocknung zu 2,6 bis 2,o an, so wird in ein
von Spalten nicht durchsetztes Tonlager das Wasser
nicht tiefer als etwa 0,4 oder höchstens I m ein-
dringen können.
Die Ergebnisse seiner Versuche faßt Spring
schließlich dahin zusammen , daß das Versickern
des meteorischen Wassers im Boden nicht regel-
mäßig und entsprechend dem Aufbau aus einander
im allgemeinen parallelen Schichten erfolgen kann.
Die im Boden eingeschlossene Luft, welche dem
Wasser zunächst Platz machen muß, bedingt, daß
das Versickern nur an beschränkten Stellen statt-
findet, während die übrigen als Kanäle für die
entweichende Luft dienen. Im übrigen wird ein
erhebliches Versickern nur in denjenigen Land-
strichen vor sich gehen, wo die Oberfläche in ge-
nügender Mächtigkeit von fließendem oder rieseln-
dem Wasser, von einer ruhenden Wasserschicht
oder schmelzendem Schnee bedeckt ist. Gelingt
es dann aber dem Wasser, sich einen Weg zur
Tiefe zu bahnen, so wird sein Versinken um so
rascher erfolgen, je größere Höhen seine, in ge-
wissem Maße von der Mächtigkeit der Schichten
bestimmte Säule erreicht. Das Wasser wirkt dabei
vorzugsweise durch sein Gewicht; hiermit führt es
eine wirkliche Austrocknung der oberen Schichten
herbei, infolge deren letztere von Wasser bis auf
die durch Kapillarkräfte gefesselte Feuchtigkeit
entleert werden. O. L.
Neues vom Pupin'schen System zur Ver-
besserung der telephonischen Fernleitungen.
— In Nr. 19 dieser Zeitschrift vom 8. Februar
1903 (N. F. II pag. 226) wurde über die außer-
ordentliche Bedeutung der Erfindung des Professors
Michael J. Pupin in New- York berichtet, wel-
che für das System des Telephotiierens auf weite
Entfernungen eine vollständig neue Epoche herauf-
zuführen schien. Durch Erhöhung der Selbst-
induktion der Leitungen vermittelst eingeschalteter
Selbstinduktionsspulen kann man sowohl die
Strecken, auf welche ein Fernsprechen überhaupt
möglich ist, auf die 4- bis 5-fache Entfernung
gegenüber der älteren , bisher üblichen Methode
vergrößern, als auch die Kosten einer neugeplanten
Anlage bei gegebener Entfernung außerordentlich
stark verringern. Indem in bezug auf Einzelheiten
der hochbedeutsamen Erfindung auf den älteren
Artikel verwiesen wird, sei heut kurz auf die
Fortschritte des Systems im Laufe des letzten
Jahres hingewiesen.
Die hohen Erwartungen, welche der Erfinder
und die mit ihm liierte Firma Siemens &
H a 1 s k e , die Besitzerin seiner außeramerikanischen
Patente, an die Erfolge der neuen Pupin-Tele-
phonie knüpften, haben sich in jeder Beziehung
vollauf erfüllt; konnte vor einem Jahr nur von
einer Kabellinie mit Pupin- Ausrüstung, Berlin —
Potsdam, und einer ebensolchen Freileitungslinie,
Berlin — Magdeburg, berichtet werden, so sind jetzt
innerhalb Deutschlands verschiedene neue Linien
hinzugekommen oder in Aussicht genommen, von
denen bisher Berlin — Stralsund und besonders
Berlin — Frankfurt a. M. am wichtigsten sind.
Weitere noch größere Linien dürften im Laufe
des Jahres 1904 hinzukommen.
Auch im .Ausland regt sich das Interesse für
die neue Erfindung kräftig. Sind auch bisher nur
zwei kürzere Strecken wirklich mit Pupinspulen
bereits ausgerüstet und fertiggestellt worden, näm-
lich eine Freileitung Lissabon — Oporto und ein
Kabel Merida — Progreso (Yucatan), so sind doch
die Staatsbehörden nahezu sämtlicher Kulturstaaten
eifrig bestrebt, die Vorteile der neuen Erfindung
demnächst praktisch zu erproben , und daß die
Resultate überall dazu führen werden, daß im
Gebiete der Ferntelephonie das neue Pupinsystem
nach und nach die Alleinherrschaft erlangen wird,
kann kaum einem Zweifel unterliegen.
Wie außerordentlich überlegen die Ausrüstung
einer Linie mit Pupinspulen gegenüber allen anderen
Methoden zur Verbesserung der F"ernsprechleitun-
gen ist, geht besonders klar aus einem neueren
Aufsatz hervor, den die Herren Dr. Dolezalek
und Dr. Ebeling in Nr. 38 der „Elektrotech-
nischen Zeitschrift" veröffentlicht haben. Unter
den bisherigen Methoden, die Selbstinduktion eines
Kabels merklich zu erhöhen, war die weitaus
wirksamste die Umhüllung der Kupferleiter mit
Eisenhüllen in Form von Eisenrohren oder von
spiralförmig herumgewickelten Eisendrahtspiralen ;
doch wurde dabei der erzielte Gewinn durch die
gleichzeitig unvermeidliche Erhöhung der Kapazität
im technischen Endergebnis wieder stark getrübt,
und die praktisch erreichbare Selbstinduktion be-
trug daher selbst im günstigsten Falle nur die
Hälfte der theoretisch berechneten. Die Verfasser
zeigen nun auf theoretischem und rechnerischem
Wege in eingehender Darlegung, daß auch diese
günstigste unter den bisher bekannten Methoden
zur Erhöhung der Selbstinduktion und zur Ver-
besserung der Sprechwirkung durch das neue
Pupinsystem an Güte mindestens um das
Dreifache übertroffen wird. Gleichzeitig mit
dieser außerordentlichen technischen Vervollkomm-
nung werden aber durch die Einschaltung der
Selbstinduktionsspulen der Aufwand an Material
und demnach auch die Kosten sehr bedeutend
verringert. In einem bestimmten Falle, den die
Verfasser näher berechnen, bedarf die bisher beste
Methode der Eisenumhüllung unter günstigsten
Umständen pro Kilometer Doppelleitung 38 kg
Eisendraht, während das Pupinsystem auf die
gleiche Leitung nur 0,7 kg Eisen und 0,4 kg
Kupfer gebraucht, um ein vierfach besseres Resultat
zu erzielen !
Dieses Resultat ist verblüffend genug, um jeden
558
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 35
Zweifel zu beseitigen , daß dem Pupinsystem die
Ferntelephonie der Zukunft gehören muß. Nach-
dem obendrein der hitzige Patentstreit, der um das
besonders wichtige deutsche Pupinpatent entbrannt
war, kürzlich beigelegt ist und mit einer Erteilung
des nachgesuchten Patentes in vollem Umfange
definitiv geendet hat , ist zu erwarten , daß die
Segnungen des neuen Systems sich jetzt , nach
Erledigung der formalen Vorfragen, erst zur vollen
Blüte entfalten werden und daß die Zukunft noch
oft und viel von großartigen Erfolgen des „Pupin-
systems" berichten wird. H.
Die Wertigkeit der Elemente. — In unseren
Lehrbüchern der Chemie findet sich vielfach die
Ansicht vertreten, daß gewisse Elemente in ver-
schiedenen Verbindungen verschiedene Wertigkeit
besitzen, daß z. B. Stickstoff drei- und fünfwertig,
ja sogar ein- und vierwertig auftrete. Ein und
demselben Elemente verschiedene Wertigkeit zu-
zuschreiben, widerspricht aber den Grundsätzen
von der Unveränderlichkeit der Atome und von
der absoluten Gleichheit aller Atome jedes ein-
zelnen Elements. In einer der letzterschienenen
Nummern der Chemiker -Zeitung diskutierte A.
Pfannen stiel diesen Widerspruch und erörtert
dabei die Frage, ob wir auf Grund der Erfahrungstat-
sachen überhaupt berechtigt sind, von einer Wertig-
keit der Elemente und zwar in dem einzig mög-
lichen Sinn einer unwandelbaren Valenz, zu sprechen,
oder ob wir den Begriff der Wertigkeit fallen
lassen müssen.
Ohne Zweifel wird man die Frage im ersteren
Sinne bejahen müssen. Denn wenn wir keine
Verbindungen KCU, KSO^ und CaCl, Ca2S04,
sondern nur die Verbindungen KCl, K„S04 und
CaCU, CaSO^ kennen, so muß man annehmen,
daß diese Eigentümlichkeit in der Natur der Atome
begründet ist, und füglich können wir dieses ver-
schiedene Verhalten von K und Ca als Eigen-
schaften der Elemente selbst ansehen. Wir sagen
also K ist einwertig, Ca zweiwertig. Wie in diesen
Beispielen, so können wir auch bei den übrigen
Elementen eine jedem eigentümliche und un-
wandelbare Wertigkeit annehmen, und dem-
gemäß die Wertigkeit der Elemente folgender-
maßen definieren : Ein Element ist n-wertig, wenn
sein Atom die Kraft besitzt, n Atome Wasserstoff
oder eines ihm gleichwertigen Elementes zu binden.
Es entscheidet also über die Wertigkeit eines
Elements die höchste Zahl der Atome ein-
wertiger Elemente, die in den uns bekannten Sub-
stanzen mit dem Atom jedes Elementes zu einer
bestimmten Verbindung vereinigt sind.
Es erscheint nun durchaus nicht notwendig,
die Wertigkeit eines Elements irgend welcher Ver-
bindung niedriger anzunehmen, als man aus einer
anderen gezwungen war.
So nennen wir das Eisen drei-, den Kohlen-
stoff vierwertig, weil wir keine Verbindungen
kennen, in denen ein Atom Eisen mit mehr als
3 Atomen eines einwertigen Elements, oder ein
Atom Kohlenstoff mit mehr als 4 Atomen Wasser-
stoff verbunden ist. Und doch kann die Ver-
bindung F"eCl, von dem bezeichneten Standpunkt
aus die Dreiwertigkeit des Eisens nicht in Frage
stellen, wenn wir uns in ihr eine ungesättigte
Verbindung vorstellen, eine Verbindung also,
bei der die gesamte Bindekraft eines Atoms fremden
Atomen gegenüber nicht völlig erschöpft ist. Solche
ungesättigten Verbindungen, deren wir namentlich
in der organischen Chemie ja eine ungezählte
Menge kennen, zeichnen sich vor den gesättigten
durch ihre Unbeständigkeit aus. Sie zeigen das
Bestreben , leicht in Verbindungen überzugehen,
in denen die Bindekraft des Atoms erschöpft ist.
Wenn aber Pfannenstiel diese Tatsache allein schon
als eine Warnung vor der Annahme einer wech-
selnden Wertigkeit gewisser Elemente angesehen
wissen will, so dürfte dies etwas weit gegriffen sein.
Über die Konstitution solcher ungesät-
tigter Verbindungen kann man sich zwei
Vorstellungen bilden. Man kann entweder an-
nehmen, daß die nicht gebundenen Affini-
tätseinheiten einfach noch vakant sind,
aber leicht durch hinzutretende Atome vertreten
werden können, wie sich etwa beim Eisenoxydul
durch die Formel : — Fe = O ausdrücken ließe.
Die Annahme würde durch das Verhalten des
künstlich unter besonderen Vorsichtsmaßregeln
dargestellten Eisenoxyduls, welches bereits an der
atmosphärischen Luft unter Feuererscheinung und
unter Bildung von Eisenoxyd Sauerstoff aufninunt,
gerechtfertigt. Lind diese gesättigte Verbindung
Fe = O
Eisenoxyd der Formel O <^ p^ ^ q ist nunmehr
beständig.
Eine so große Unbeständigkeit wie dieses Eisen-
oxydul zeigen jedoch nur wenige der ungesättigten
Verbindungen. Schon in dem Eisenoxyduloxyd
Fe.;04 (Hammerschlag, Magneteisenstein) haben
wir einen durchaus beständigen derartigen Körper.
\'om Standpunkte der Lehre von der unveränder-
lichen Valenz würde diese Verbindung etwa nach
O
A c , T7 / O - Fe
d ;m Schema — r e < q p
O
aufgebaut sein
und ihre Konstanz wäre dadurch zu erklären, daß
zwei solcher Molekeln sich unter gewöhn-
lichen Verhältnissen zu Doppel molekeln ver-
einigt haben:
0 = Fe — 0^„ „ ^O — Fe==0
O = Fe - O > f^e - Fe < o - Fe = O
Solchergestalt würde man sich eine Sättigung
möglich denken können.
Diese zweite Hypothese von der Konstitution
ungesättigter Verbindungen hat bereits in der
Chemie der Kohlenstoffverbindungen Aufnahme
gefunden. Also warum sollte man ihre Anwendung
nicht auch auf das Gebiet der anorganischen
Chemie ausdehnen? Sie läßt sich vollkommen auf
Kosten der ersten Annahme halten, und auch das
sehr aktive Eisenoxydul könnte man nach ihr als
Doppelmolekel O : - Fe — Fe = O auffassen. Das
Bestreben des Doppelmolekels, mehr oder weniger
N. F. m. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
559
leicht an der schwachen Stelle gesprengt zu werden,
wäre dann eben als bei den verschiedenen Ver-
bindungen verschieden groß anzusehen.
Es besteht sonach kein Grund, die Wertigkeit
eines Elements niedriger anzunehmen, als man aus
einer bestimmten Verbindung zu schließen berechtigt
ist. Wie steht es aber mit dem Gegenteile ? In der
Regel pflegt man den Stickstoff als drei- und
f ü n f wertig zu bezeichnen. Die Verbindung NH^Cl
ist kein Gemenge von Ammoniak und Salzsäure,
sondern eine wohlcharakterisierte einheitliche che-
mische Verbindung. Sie vermag demgemäß die
Fünfwertigkeit des Stickstoffs darzutun. Denn
wie wäre eine Verkettung von N = Hg und H — Cl
möglich, wenn man ihn als dreiwertig auffassen
wollte ? Es ist sonach ungezwungen das Einfachste,
den Stickstoff als fünfvvertig, und deshalb das
Ammoniak als ungesättigte Verbindung anzu-
nehmen. Spricht doch sein ganzes Verlialten dafür,
z. B. sein begieriges Verschlucken von Wasser
unter Bildung von NH^(OH), wie selbst Spuren davon
mit Salzsäure Salmiaknebel erzeugen. Und daß
es trotzdem selbständig existieren kann, wider-
spricht unserer Annahme durchaus nicht, wenn
wir es als aus Doppelatomen zusammgesetzt be-
trachten von der Formal Hg II N = N I^ Hg. So
wäre es also eine „provisorische, ungesättigte Ver-
bindung", ausgezeichnet durch eine gewisse Be-
ständigkeit. Selbst dem Avogadro'schen Gesetze
würde eine solche Hypothese nicht widersprechen,
können sich doch Doppelatome bezüglich des
Volumens wie zwei einfache Molekeln von halber
Größe verhalten. Wollte man aber auch in An-
sehung der zuerst dargelegten Annahme NHg
einfach als ungesättigte Verbindung ansehen, so
könnte man von ihm doch noch nicht ein Recht
ableiten, den Stickstoff als dreiwertig zu bezeichnen.
— Ob es Pfannenstiel gelingen wird, durch seine
Abhandlung die bisherigen Anschauungen über die
Möglichkeit verschiedener Wenigkeiten bei einem
und demselben Elemente zu verdrängen , mag
dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber haben meines
Erachtens seine Ausführungen Anspruch beachtet zu
werden. Solange aber die Lehre von der Valenz
der Atome noch Hypothese, und solange sie nicht
zum unumstößlichen Naturgesetze herangereift ist,
wird man sich nach Gutdünken der oder jener
Anschauung zuwenden müssen. Dr. R. Loebe.
Himmelserscheinungen im Juni 1904.
Stellung der Planeten : Von den Planeten sind nur
Jupiter und Saturn am Morgenhimmel sichtbar, und zwar
am Schluß des Monats ersterer 1^/4 Stunden lang, letzterer
bereits während s'/j Stunden.
Algol -Minima lassen sich im Juni wegen der Sonnen-
nähe des Algol nicht beobachten.
Ein neuer Komet wurde am 16. April von Brooks im
Herkules entdeckt. Derselbe glich am 17. April einem Stern
8. — 9. Größe und bewegt sich nach dem Drachen. Da seine
Helligkeit jedoch nach Fayet's provisorischer Ephemeride be-
reits im Abnehmen begriffen ist, unterlassen wir es, hier ge-
nauere Positionen anzugeben.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Prof. Dr. J. H. van't Ilofl iiat das ihm zukommende
Redaktionshonorar für den Band 46 (Jubelband für W. Ost-
wald) der Zeitschrift für physikalische Chemie zur Stellung
folgender Preisaufgaben bestimmt: ,,Es soll die Literatur über
katalytische Erscheinungen in möglichster Vollständigkeit ge-
sammelt und systematisch geordnet werden." Die zur Be-
werbung bestimmten Arbeiten sind bis zum 30. Juni 1905 bei
der Redaktion der Zeitschrift für pliysikalische (Chemie, Leip-
zig, Linnestrefie 2, in der üblichen Form (mit dem Kennwort
und dem Namen des Verfassers in verschlossenem Umschlag)
unter der Aufschrift ,,Zur Preisbewerbung" einzureichen. Der
Preis beträgt 1200 Mark und wird ganz oder gefeilt vergeben
werden. Preisrichter sind die Professoren Dr. J. H. van't
Hoff, Dr. S. Arrhenius, Dr. W. Ostwald.
Die mathematisch-naturwissenschaftliche Sektion der Fürstl.
Jablonowskischen Gesellschaft in Leipzig hat für die Jahre
1904 — 1907 folgende Preisaufgaben gestellt;
1. Für das Jahr 1904: Kritische Erörterungen über die
bisherigen Versuche, die Vorgänge bei der chemischen Diffe-
renzierung der Gesteinsmagmen zu erklären , sowie weitere
Untersuchungen, welche geeignet sind , unter Berücksichtigung
der natürlichen Vorkommnisse die mannigfachen, auf diesem
Gebiete noch offen stehenden Fragen ihrer Lösung näher zu
führen.
2. Für das Jahr 1905 : Eine kritische Untersuchung über
die Ursachen , die Mechanik und die Bedeutung der Plasma-
strömung in den Pflanzenzellen.
3. F'ür das Jahr 1906: Eine Untersuchung der den Ber-
noullischen Zahlen analogen Zahlen, namenÜicli im Gebiete
der elliptischen Funktionen , welche die komplexe Multipli-
kation zulassen.
4. Für das Jahr 1907 : Eingehende und einwandfreie ex-
perimentelle Untersuchungen , die einen wesentlichen Beifrag
zur Feststellung der Gesetze der lichtelektrischen Ströme
liefern.
Der Jahresbericht , der ausführlichere Mitleilungen über
die gestellten Preisaufgaben enthält , ist durch den Sekretär
der Gesellschaft, Geh. Hofrat Prof. Dr. Wilhelm Scheibner
in Leipzig, Schlefterstraße 8, zu beziehen.
Der Preis für jede gekrönte Abhandlung beträgt 1000 Mk.
Bücherbesprechungen.
Prof. R. Neumeister, Dr. med. et phil., Betrach-
tungen über das Wesen der Lebens-
erscheinungen. Ein Beitrag zum Begriff des
Protoplasmas. 107 S. Jena 1903, G. Fischer.
— Preis 2 Mk.
Verf. vertritt den Neo-Vitalismus, nach welchem
die Lebenserscheinungen nur durch Mitwirkung von
transzendenten, außerhalb des Gesetzes von der Er-
haltung der Energie stehenden Kräften und Vorgängen
zu erklären seien. Allen Lebewesen kommen psy-
chische Funktionen zu, die allerdings an dasselbe ge-
bunden sind, denn es ist „kein seelischer Prozeß
denkbar ohne einen ihm entsprechenden physio-
logischen Vorgang". Damit ist aber ein Studium
des „Wesens der Lebenserscheinungen" als unmöglich
erklärt und wir beschränken uns daher auf diese
kurze Bemerkung.
Privatdozent Dr. Georg Kampffmeyer, Halle,
Marokko. Gr.-Oktav 8 Bg. mit einer Karten-
beiiage. 2,20 Mk. (Zugleich 7. und 8. Heft der
„Angewandten Geographie" und kostet für deren
Abonnenten 2 Mk.) Gebauer-Schwetschke, Druckerei
und Verlag m. b. H., Halle a. S. 1903.
Auf HO Seiten bietet das Kampffmeyer 'sehe
560
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 35
Buch eine trotz der großen Tatsachenfülle sehr wohl-
gelungene Übersicht über die natürlichen und politi-
schen Verhältnisse Marokkos. Bei dem Mangel zu-
sammenfassender kürzerer Darstellungen dieses Gebietes,
das trotz Hereroaufstand und japanischem Krieg noch
immer im höchsten Maße gerade in Deutschland das
allgemeine Interesse verdient, werden alle diejenigen,
denen die Zeit zum Durchlesen großer Reisewerke
fehlt, gern zu dem Büchlein greifen, das sich teils
auf gründliches Literaturstudium, teils auf eine in
Theobald Fisch er 's Gesellschaft gewonnene, per-
sönliche Kenntnis des Landes stützt, und auch über
die eingehendere Literatur eine sehr gut orientierende
Übersicht gibt. Eine Angabe des Hauptinhalts ist
hier nicht möglich, denn schon das Buch selbst sagt
kein Wort zmäel. Besonders bemerkenswert ist der
Abschnitt über das Atlas vo rland, das mit seinen
überaus günstigen klimatischen Bedingungen, besonders
in seinem südlichen Teil, zusammen mit dem Süs-
Gebiet (dem Küstengebiet südlich des Hochatlas) in
erster Linie für eine Ausdehnung der schon jetzt
nicht unbedeutenden deutschen Interessen in Betracht
kommt (in Saft sind 40 7„ der Ausfuhr in deutschen
Händen, in Mogador 27 7o)- "^^^ können der Schrift
nur weiteste Verbreitung wünschen. F. S.
Dr. Edgar Dacqu6, Der Deszendenzgedanke
und seine Geschichte vom Altertum bis
zur Neuzeit. Ernst Reinhardt in München 1903.
— Preis 2 Mk.
Wieder eine Schrift zur Geschichte der Deszendenz-
lehre! Und zwar diesmal eine, die vollständig sein,
wenigstens das Wesentlichste aus der Gesamtgeschichte
des Gegenstandes vorführen möchte. Freihch gereift
sind alle Schriften derart immer noch nicht. Denn
wenn auch in sonstigen Gebieten der Forschung die
Berücksichtigung der Gesamtliteratur sehr schwierig
ist und man es bei der Überhäufung schriftstelle-
rischer Produktionen nicht mehr übel nehmen kann,
wenn ein Forscher, der wirklich etwas Neues oder
Zweckdienliches vorzubringen hat, dies und das un-
absichtlich übersieht, so verlangt man doch von dem
Historiker, dessen Studien ja doch gerade literarische
sein müssen, eine so gut wie vollständige Kenntnis
der Literatur seines Gegenstandes. Verfasser hat das
leider nicht hinreichend beherzigt, so hat er z. B. die
eingegangene, von dem verstorbenen naturwissen-
schaftlichen Schriftsteher Ernst Krause (Carus Sterne)
herausgegebene Zeitschrift „Kosmos", die speziell dem
Darwinismus gewidmet war, nicht ausgenutzt. Eben-
sowenig andere Zeitschriften, die wichtige Nachrichten
zur Geschichte des Gegenstandes bringen, unter denen
z. B. nur die Österreichische botanische Zeitschrift ge-
nannt sei, die in einem ihrer Bände vor wohl ca. 15
bis 20 Jahren eine lange Liste von „Vorgängern
Darwins" bringt usw. Wer sich aber ungefähr über
die Gedanken zur Deszendenztheorie und Selektions-
theorie (:= Darwinismus) orientieren will, der wird
durch die Zusammenstellung Dacque's im ganzen einen
richtigen Eindruck erhalten.
Literatur.
Hübner, Oberstleutn. z. D. Ma.\: Eine Pforte zum schwarzen
Erdteil. Die Gestade, Steppen u. Wüsten Französisch-Nord-
afrikas. Moderne Wanderziele zwischen Marokkos Ost-
grenze u. Tripolitanien. Mit 42 (meist Orig.-)Photographien
S. I Karle im Text, 8 färb. Bildertaf. u. I Orig.-Karlen-
skizze des Gesamtgebietes. (VII, 313 S.) gr. 8». Halle
'04, Gebauer-Schwelschke. — Geb. in Leinw. 7 Mk.
Kolbe, Oberlehr. Bruno: Einführung in die Elektrizitätslehre.
I. s'taüsche Elektrizität. 2. verb. Aufl. (VIII, 164 S. mit
76 Fig.) gr. 8». Berlin '04, J. Springer. — 2,40 Mk. ; geb.
in Leinw. 3,20 Mk.
Lübsen, H. B.: Ausführliches Lehrbuch der ebenen u. sphä-
rischen Trigonometrie. Zum Selbstunterricht m. Rücksicht
auf die Zwecke des prakt. Lebens bearb. 18. Aufl., neu
bearb. v. Prof. Dr. A. Donadt. (V, 146 S. m. 64 Fig.)
gr. 8». Leipzig '04, F. Brandstetter. — 2,40 Mk.; geb.
2,90 Mk.
Meyer, Prof. Dr. Hans: Anleitung zur quantitaüven Bestim-
mung der organischen Atomgruppen. 2., verm. u. umgearb.
Aufl. (XI, 202 S. m. Fig.) gr. 8». Berlin '04, J. Springer.
— Geb. in Leinw. c, Mk.
Möbius, M. : MaUhias'jacob Schieiden. Zu seinem 100. Ge-
burtstage. Mit I Bildnis Schleidens u. 2 Abbildgn. mi Text.
(III, 106 S.) gr. 8". Leipzig '04, W. Engelmann. — 2,50 Mk.
Paulsen, Prof. Frdr. : Einleitung in die Philosophie. 11, Aufl.
(XVIII, 466 S.) gr. 8°. StuUgart '04, J. G. Cotia Nachf.
— 4,50 Mk. , geb. in Leinw. 5,50 Mk. ; in Halbfrz. 6 Mk.
Perkins, Dr. I.: Frai;menta florae Philippinae. Contributions
of the florä of the Philippine islends. Fase. I. (IV, 66 S.)
gr. 8°. Leipzig '04, Gebr. Borntraeger. — 4 Mk.
Runge Prof. Dr. C. : Theorie und Praxis der Reihen. Mit
S Fig. (2C6 S.) 8». Leipzig '04, G. J. Göschen. — Geb.
in Leinw. 7 Mk.
Briefkasten.
Das Wort „Mud" kommt in der Schreibweise „Moth"
auch in der deutschen naturwissenschaftlichen Literatur vor.
Rohr gebraucht in der 1732 von ihm herausgegebenen
2 Auflage der „Sylvicultura oeconoinica" des Hans Carl
von Carlowitz (Teil I, Kap. XI, S. loo, § 7) Moth im Sinne
von Holzerde. Er sagt: „Man findet in denen Wäldern gantze
Flecke gute Erde und Moth, so von Holtz sich gesammlet,
und dahero Holtz-Erde genennet wird, weil für alters Brüche
Idurch Wind etc.] daselbst geschehen, daß das Holtz über-
einander gefallen, und also verfaulet . . .". v. Carlowitz starb
als Oberberghauptmann in Freiberg, J. B. v. Rohr war Land-
kammerrat in Merseburg und starb 1742 in Leipzig. Weiteres
über dieses sächsische „Moth" (Muthworf für Maulwurf im Erz-
gebirge u a. m.) kann an der bereits im Briefkasten S. 512
zitierten Stelle in Grimms Deutsch. Wörterb. 6, 2600 nach-
gesehen werden. Prof. Dr. Fr. Thomas in Ohrdruf.
Schließlich sei noch erwähnt, daß der Berliner von mu-
digen Birnen spricht, für solche, die im Beginn der Zersetzung
begriffen, teigig geworden sind. f-
,„ha.t: Dr. Karl Camillo Schneider: Die Entsteh^g der Gliederung cles ^^^f^^^i^^^^^^^^
""'■ S 'd°i:hm u"n7TÖr- Mich ae JPupin Neu s v^, Pupin'schen System z'ur Verbesserung der telephoni-
von Sand, Lehm und Ton. Michael . ^ P Elemente. - Himmelserscheinungen im Juni 1904. -
sehen F"°l".t"°g'="- -,^•^^'^7°'°'''' BücLrbesnrechuneen: Prof R. N eumeister: Betrachtungen über das
Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bucherbesprecnungen . MTmkkn — Dr Ed^ar Dacque:
Wesen der Lebenserscheinungen. - Privatdozent Dr. ^e or g Kam p ff m e y er . Maiokko /^'l_^ ^^^ J^^^j J_
Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte vom Altertum bis zur Neuheit. - Literatur: Liste. Briefkasten.
VerantwortUcherRedakt=ur: Prof. Dr. H. Potonie^, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippen S Co. (H . Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliehe Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 5. Juni 1904.
Nr. 36.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgeld bei der Post
15 l'fg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender R.ibalt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinseratc durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Entstehung der Gliederung des Tierkörpers.
Von Dr. Karl Camillo Schneider, Privatdozent a. d. Universität Wien.
[Nachdruck v»rboteQ.j (Schl
Da die Kormentheorie unhaltbar ist, haben wir
nun zu untersuchen, ob die Segmentations-
t h e o r i e bessere Dienste zur Erklärung der Meta-
merie leistet. Die Segmentationstheorie, die von
A. Lang stammt, nimmt an, daß der gegliederte
Annelidkörper aus dem ungegliederten Körper
niederer Würmer, speziell der Strudelwürmer (Tur-
bellarien), hervorgegangen sei. Wir treffen bei
gewissen Turbellarien eine vielfache Wiederholung
innerer Organe, die in einzelnen Fällen, vor allem
bei Gunda segmentata, zur äußerst regel-
mäßigen wird und direkt als innere Metamerie
bezeichnet werden kann. Die Form von Gunda
ist eine lang gestreckte, bandförmige, ohne jede
Spur äußerer Gliederung. Für die innere Gliede-
rung kommen in Betracht Darm, Gonade, Niere
und Nervensystem. Der aus drei Schenkeln —
einem vorderen und zwei hinteren, die vom in
der Mitte der Bauchfläche gelegenen Schlund aus-
gehen — bestehende Darm zeigt eine regelmäßige
Abzweigung von Seitendivertikeln, die bis gegen
den Rand des Tieres hin verlaufen. Zwischen
zwei Divertikel jeder Seite schiebt sich ein Hoden-
uß)
bläschen und ein Abschnitt des Dotterstocks, der
zur weiblichen Gonade gehört ; die Ovarien kommen
nur in einem Paar vor und liegen ganz vorn hinter
dem Gehirn. Die vom Gehirn nach hinten laufen-
den zwei Hauptnerven des Tieres geben, ent-
sprechend den Darmdivertikein, in regelmäßiger
Weise Seitenzweige ab und stehen auch, im gleichen
Niveau dieser Zweige, untereinander durch Kom-
missuren in Verbindung. Die Nieren sind ver-
zweigte Kanäle, welche sich vorwiegend in den
Seitenregionen des Körpers ausbreiten, innen blind
mit eigenartigen Wimperzellen (Terminalzellen)
beginnen und durch eine Anzahl von dorsal, paarig
und segmental, d. h. entsprechend den Darm-
divertikein gelegenen Öffnungen (Nephroporen)
nach außen ausmünden. In Abhängigkeit von den
Darmdivertikein ist auch die vom Rücken zum
Bauch verlaufende, sog. dorsoventrale Muskulatur
querseptenartig angeordnet, da sie nur zwischen
den Divertikeln Raum zur Entfaltung hat.
Wir haben nun im einzelnen zu prüfen, wie
der geschilderte Zustand einer inneren Metamerie
bei Gunda segmentata zur inneren und äußeren
562
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 36
Metamerle der AnneUden in Beziehung gebracht
werden kann. Wenn wir das charakteristische
Moment der Annelidgliederung hervorsuchen, ist
als bestimmender Faktor wohl in erster Linie die
Ausbildung des Cöloms (Leibeshöhle) in Form von
paari'Ten segmentalen Kammern in Betracht zu
ziehen. Das Cölom entsteht typischerweise an
der Trochophora aus paarigen Zellstreifen (Meso-
dermstreifen), die vor dem After in zwei großen
Polzellen (Teloblasten) beginnen, nach vorn zu an
Volumen zunehmen und sich nach und nach in
einzelne Abschnitte (Somiten) gliedern, deren je
einer eine Cölomkammer mitsamt den zugehörigen
Orcranen liefert. Ein Paar solcher Kammern ent-
spricht einem Segment; die Kammern erweitern
sich zu selten des Darmes und treten in mehr
oder weniger innige Berührung miteinander, so
daß sie zuletzt nur durch eine zarte doppelwandige
Lamelle über und unter dem Darme (dorsales und
ventrales Mesenterium) geschieden sind. Vom vor-
ausgehenden und folgenden Kammerpaar trennt
sie eine derbere, gleichfalls doppelwandige Lamelle,
ein Dissepiment (Querseptum). Somit ist das
Körperinnere vorwiegend Hohlraum, nämlich Darm
im Zentrum und in dessen Umgebung Leibes-
höhle. Während die innere, zarte Colomwand,
die sich dem Darm anschmiegt (viscerales Blatt)
nur schwache Muskulatur (Darmmuskeln) liefert,
ist die äußere (parietales Blatt), die sich der Haut
anlegt, Bildungsstätte der starken Langsmusku-
latur des Körpers, welche die Bewegung in erster
Linie vermittelt. Sie entsteht, entsprechend den
Cölomkammern, segmental, sondert sich aber rasch
von den Kammern und durchläuft nun den Korper
der Länge nach ohne Rücksicht auf dessen Gliede-
runo- Die Colomwand erscheint nach Abgabe der
Muskulatur als dünnes Epithel (Peritoneum), aus
dem lokal die Nierenkanälchen, die Genitalzellen
und Lymphzellen hervorgehen. Gesonderte Ge-
schlechtsorgane fehlen; die im Perhoneum ent-
stehenden Genitalzellen reifen in der Leibeshohle
und gelangen nach außen entweder durch Ruptur
der Körperwand oder durch besondere Genital-
kanäle, die bei der Geschlechtsreife auftreten, oder
auch durch die Nierenkanäle.
Unabhängig von der Cölomanlage entsteht das
Bauchmark aus dem ventralen Epithel der Larve
in Form einer medianen, gegen innen zu vor-
springenden Längsleiste, der außen ein Wimper-
streifen entspricht (Bauchwimperung). Die Leiste
ist paariger Anlage und liefert zwei meist dicht
nebeneinander gelegene Nervenstränge, welche seg-
mentweise gangliöse Anschwellungen (Bauchgan-
glien) zeigen; die Hälften eines Ganglions stehen
durch Kommissuren in Verbindung und geben
außerdem Seitennerven ab. Bald liegt das Bauch-
mark dauernd dem Körperepithel an, bald sinkt
es in den Hautmuskelschlauch ein oder kommt
bei den Regenwürmern sogar frei in die Leibes-
höhle zu liegen, natürlich von dessen Peritoneum
umkleidet. — Unabhängig von der Cölomanlage
ist auch die Entstehung der segmentalen äußeren
Ruderfüße, die, als Borstenträger (Chätopodien),
gleichfalls Differenzierungen der Haut sind und
um so selbständiger erscheinen, als die Langs-
muskulatur gar keine Beziehungen zu ihnen hat,
wogegen die in sie eintretende und an den Borsten
sich Tn mannigfaltiger Weise anheftende Ring-
muskulatur wahrscheinlich nicht von der Colom-
wand stammt, sondern von der Haut wahrend
der larvalen Entwicklung, in noch wenig genau
erforschter Weise, gebildet wird.
Vergleichen wir dies Organisationsbild mit dem
der Turbellarien, so liegen bedeutungsvolle Unter-
schiede vor, die der Reihe nach diskutiert werden
sollen. Zunächst sei die Haut berücksichtigt. Völlig
neue Bildungen sind die Ruderfüße der Anne-
liden mit ihren Borsten; mit ihnen erscheint ein
wichtiger Komplex von Organen eingeführt, dem
sich die allgemeine Cu ticular Isieru ng des
Körperepithels, die Umhüllung mit einer oft derben
Membran, anschließt. Die Borsten sind nichts
anderes als spezifische Cuticularbildungen. Bei den
Arthropoden steigert sich dieser Charakter zur
Entwicklung eines dicken, manchmal (viele Krebse)
verkalkten Chitinpanzers, dem starre hohle Borsten
und Stacheln ansitzen. Bei den Turbellarien finden
wir dagegen ein weiches Flimmerepithel am ganzen
Körper, welcher Charakter bei den Anneliden nur
der Larve und auch dieser nur lokal (Wimperringe,
Bauchwimperung) zukommt. — Ein weiterer
neuer Charakter ist das Bauch mark. Indessen
besteht über die phylogenetische Entstehung des
Bauchmarks Meinungsverschiedenheit. Wahrend
die meisten Trochophoratheoretiker es als völlige
Neubildung bei der angenommenen Knospung des
Annelids an der ungegliederten Rotatonenstamm-
form entstehen lassen, führen die Segmentations-
theoretiker es auf die erwähnten Hauptnerven der
Gunda segmentata und aller Turbellarien
überhaupt zurück. An diesen verteilen sich die
Nervenzellen gleichmäßig über die ganze Nerven-
länge, es fehlen also gesonderte Ganglien, die tur
das Bauchmark bezeichnend sind. Indessen gibt
es bei niederen Anneliden auch eine gleichmäßige
Zellverteilung am Bauchmark (Poly gordius),
zweitens können beide Bauchmarkanlagen weit
voneinander getrennt verlaufen (Saccocirrus, Spiro-
graphis z. B.)' und drittens erscheint bei einzelnen
Turbellarien (Planarien z. B.) die Ganglienbildung
durch reichere Anhäufung der Nervenzellen an den
Abcrangsstellen der Kommissuren und Nerven an-
gebahnt. Wichtiger ist der Unterschied in der
Anlache. Die Hauptnerven der Turbellarien wachsen
vom "Gehirn nach rückwärts aus, das Bauchmark
entsteht aber in situ in der Haut des Rumpfes.
Auch sollen den Hauptnerven der Turbellarien
an der Trochophoralarve stark entwickelte, zum
After ziehende Zweige des Gehirns entsprechen,
so daß also tatsächlich das Bauchmark etwas ganz
Neues wäre. Aber auch diese Beweise lassen sich
entkräften. Die Natur des Larvennervensystems ist
noch nicht genau genugfestgestellt, um die erwähnten
Nerven den Hauptnerven der Turbellarien homo-
N. F. in. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
563
logisieren zu können; wenn wir bedenken, daß
bei den niederen Würmern noch andere Längs-
nerven (bei Bandwürmern bis zu 8) außerdem vor-
handen sind, so erscheint Vorsicht in der Beurteilung
geboten. Ferner ist nach Lang die Anlage der
Hauptnerven bei den Turbellarien zunächst vom
Gehirn gesondert und verschmilzt mit diesem erst
sekundär, wobei sie jedoch immer eine dorsale
Anlage bleibt. Vollständig gesondert entstellen
jedoch die Ilauptnerven der Nemertinen (Schnur-
würmer), die, wie wir sehen werden, auch in
anderer Hinsicht den Übergang von den Tur-
bellarien zu den Anneliden vermitteln. Hier ist
die Verwandtschaft zum Bauchmark um so deut-
licher, als auch die Regeneration der Hauptnerven
(Seitenstämme), nach Verletzungen, an Ort und
Stelle von der Haut aus erfolgt. Übrigens ist
interessant, daß bei Gehirnentnahme bei Regen-
würmern die Regeneration desselben vom Bauch-
mark aus konstatiert werden konnte. Somit er-
scheint die am jungen Annelid vom Gehirn völlig
unabhängige Entstehung des Bauchmarks niciit als
prinzipieller Unterschied zur Entstehung der Haupt-
nerven bei den Turbellarien und beider Homolo-
gie wohl möglich.
Man hat den Unterschied vielleicht in Be-
ziehung zur differenten Entwicklung der Bauch-
fläche zu bringen. Die niederen Würmer (Plathel-
mintlien) entbehren bekanntlich eines Afters. Bei
ihnen kann der Mund an jeder beliebigen Stelle
des Bauches liegen, bald ganz vorn (Saugwürmer),
bald meist in der Mitte oder auch hinter derselben,
beziehentlich dicht vor dem Hinterende (Turbel-
larien). Somit erscheint die ganze Bauchfläche als
Mundfläche; in diesem Sinne ist sie aber noch
weit schärfer bei den Anneliden aufzufassen. Ein
eklatantes Beispiel liefert die Entwicklung des
Peripatus, einer Übergangsform von den Anne-
liden zu den Arthropoden, bei der sich der Ur-
mund des Keimes lang schlitzförmig beim Wachs-
tum des Tieres auszieht, und bis auf eine vordere
(Mund) und hintere (After) Öffnung nahtförmig
verwächst. Wenn auch in keinem anderen Falle
derart aus dem Urmunde Mund, After und Bauch-
fläche direkt hervorgehen , vielmehr der After
sekundär selbständig entsteht, so läßt sich doch
die erwähnte Bauchwimperung, längs welcher die
beiden Bauchmarkhälften des Annelids an der
Larve entstehen, als Rudiment eines schlitzförmigen
Urmundes auffassen und wir können ganz im all-
gemeinen sagen, daß die Bauchfläche der Glieder-
tiere aus den Seitenrändern des Urmundes hervor-
gegangen ist. In dieser vom Urmund abhängigen
Entstehung der Bauchfläche bei den Anneliden,
die bei den Turbellarien nicht vorzuliegen scheint,
ist vermutlich die Ursache für die neuartige Bil-
dung des hinter dem Gehirn gelegenen Teils des
Nervensystems zu suchen.
Betrachten wir nun die inneren Organe. Am
wenigsten Zweifel kann über die phylogenetische
Ableitung der Nierenkanäle der Anneliden von
denen der Turbellarien bestehen. Bei vielen Pla-
thelminthen (Saug- und Bandwürmer, sowie bei
manchen Turbellarien) wird die Niere von zwei
verzweigten Längskanälen gebildet, die gemeinsam
hinten oder vorn oder an anderer Stelle ausmünden.
Bei Gunda und anderen Turbellarien (Planarien
z. B.) fehlt eine gemeinsame Ausmündung und es
finden sich zahlreiche Nepliroporen, die sich bei
Gunda sogar segmental verteilen. Bei den Anne-
liden besitzt jedoch jedes Segment ein paar selbst-
ständig entstehender Kanäle, die immer getrennt
nach außen münden. Dieser Selbständigkeit hat
man früher große Bedeutung zugeschrieben, weil
sie mit einem anderen Charakter gepaart erschien ;
während nämlich, wie schon erwälint, die Kanäl-
chen der Turbellarien innen blind in wimpernde
Terminalzellen auslaufen, öffnen sich die Segmental-
organe der Anneliden in die Leibeshöhle durch
sog. Nephrostomen (Nierentrichter). Nur am Larven-
körper treten Nieren mit Terminalzellen, die sog.
Kopfnieren, auf, die später verschwinden. Indessen
hat sich gezeigt, daß Nieren vom Typus der
Kopfnieren auch bei ausgebildeten Anneliden sehr
verbreitet sind und die Beziehung zur Leibeshöhle
eine sekundäre Erscheinung ist. Ferner fand man
bei Oligochaeten Zusammenhänge zwischen den
Kanälen der verschiedenen Segmente, die zwar
als sekundäre Verschmelzungen erscheinen, da
aber die Entstehung des Kanalsystems bei den
Turbellarien noch nicht bekannt ist, vielleicht doch
auf Beziehungen zu diesen hinweisen.
Die Leibeshöhle der Anneliden fehlt den
Turbellarien gänzlich. Trotzdem sie somit als
völlig neue Anlage erscheint, hat man sich doch
schon seit langem bemüht, sie von Organen der
Turbellarien abzuleiten. Zuerst hielt man sie für
gesonderte Teile des Darmsystems (Lang), dessen
zahlreiche seitliche Divertikel (siehe oben bei
Gunda) den Cölomkammern verglichen wurden.
Diese Anschauung erwies sich als gänzlich unhalt-
bar, da die von Lang behauptete Ausmündung
der Divertikel durch die Nierenkanäle nach außen
auf einer irrtümlichen Beobachtung beruhte, und
da ferner bei den Anneliden die Anlage des Cöloms
gar nichts mit dem Darme zu tun hat. Eine
andere Anschauung sucht in der Leibeshöhle eine
akzessorische Bildung der Nierenkanäle zu erkennen.
Man beobachtet nämlich bei Peripatus, bei den
Krebsen und bei Mollusken, angegliedert an die
innere OfTnung der Nierenkanäle ein geschlossenes
Bläschen, dessen Epithel für die Exkretion von
Wichtigkeit ist. Dies Bläschen ist sicher als ein
gesonderter Leibeshöhlenraum aufzufassen und man
schloß daraus, daß auch die gesamte Leibeshöhle
bei ihrem ersten Auftreten bei den Anneliden
exkretorischer Funktion sei und sich deshalb vom
Nierensystem der niederen Würmer ableiten lasse.
Indessen ist diese Anschauung gleichfalls gänzlich
unhaltbar. Denn wenn aucii das Annelidencölom
lokal exkretorisch funktionierende Epitiielstrecken
entwickeln kann, so handelt es sich doch eben
nur um eine lokale Erscheinung, die ohne weiteres
die Ablösung kleiner Cölomabschnitte und deren
564
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 36
direkte Angliederung an die Nierenkanäle ver-
ständlicli macht, aber in keiner Weise das Auf-
treten der Leibeshöhle im allgemeinen mit ihrer
Beziehung zur Gonade und zur Muskulatur zu er-
klären vermag.
Am meisten beliebt ist neuerdings die von
Hatschek zuerst aufgestellte und dann besonders
von E. Meyer und R. ßergh ausgearbeitete
Hypothese einer Ableitung der Cölomkammern
von den (ionadenbläschen der Turbellarien. Wir
sahen oben bei Besprechung des Baues von Gunda
segmentata, daß die Hodenbläschen und Dotter-
stockabschnitte, entsprechend den Darmdivertikeln,
ziemlich regelmäßig segmental angeordnet sind,
was für andere Turbellarien nicht gilt. Diese
Gonadenbläschen sollen sich nun ausgeweitet und
außer dem Vermögen der Genitalzellbildung auch
das der Muskelbildung gewonnen haben. Sie sollen
zu den Nierenkanälen in Beziehung getreten sein
und sich lokal zu exkretorischen Organen differen-
ziert haben. Man sieht , diese Hypothese tritt
kühn genug auf. Sie stützt sich auf Befunde an
den bereits erwähnten Nemertinen, welche regel-
mäßig segmental geordnete Genitalkammern
zwischen seitlichen, kurzen Darmdivertikeln besitzen.
Diese Kammern gleichen den Gonadenbläschen
der Turbellarien insofern, als sie von geringer
Größe sind und keine Muskulatur entwickeln, aber
auch den Cölomkammern der Anneliden, insofern
sie nicht, wie bei den Turbellarien, durch gemein-
same Gänge, sondern segmental und gesondert
nach außen ausmünden und auch in vielen Fällen
bestehen, wenn keine Genitalzellen gebildet werden,
was für die Turbellariengonaden nicht gilt. Nun
kann es meiner Ansicht nach allerdings keinem
Zweifel unterliegen, daß die Gonadenbläschen der
Turbellarien und die Genitalkammern der Nemer-
tinen in gewissem Sinne Vorläufer der Cölom-
kammern der Anneliden sind, da sie eben im
Mesoderm auftretende und teilweis identisch funk-
tionierende Hohlräume sind. Indessen lehrt die
Beziehung der Cölomkammern zu den Nieren-
kanälen und zur Muskelbildung, sowie ihre Per-
sistenz ganz unabhängig von Exkretion, Genital-
zell- und Muskelbildung, daß es sich hier um ein
besonderes Organsystem handelt, dem eine ganz
selbständige Bedeutung zukommt. Das beweisen
vor allem die Arthropoden, wo die Gonaden und
Nieren völlig von der Leibeshöhle gesondert sind.
Die Gonocoeltheorie, wie der Ableitungs-
versuch der Leibeshöhle von den Gonaden ge-
nannt wird, stützt sich vor allem auf ontogene-
tische Befunde. Wie schon bemerkt, gehen die
Cölomkammern mit ihren Derivaten hervor aus
den Mesodermstreifen, die sich wieder von zwei
Polzellen dicht vor dem After der Larve ableiten.
Diese Polzellen hat bereits Hatschek als Ur-
genitalzellen gedeutet, die bei vielen Tierformen
sehr früh in der Entwicklung gesondert auftreten
(Nematoden, Sagitta, gewisse Arthropoden). Man
betrachtet es als eine besondere Eigenschaft der
Anneliden, daß diese Urgenitalzellen hier nicht
nur die eigentlichen Genitalzellen (Gonade), sondern
auch noch andere Organe zur Entwicklung bringen.
Lang hat sich darüber näher ausgesprochen. Er
setzt auseinander, daß Fortpflanzungs- und Körper-
zellen Verwandte sind, unter denen aber immer
die ersteren „alle Rechte und Privilegien der Erst-
geburt" wahren. Von den Genitalzellen lassen
sich nach ihm die Abortiveier, die Dotterzellen,
Follikelzellen, Lymphzellen und schließlich auch
die Muskelzellen ableiten, so daß die mannigfache
Differenzierung der Gonocoelwand nichts Befrem-
dendes an sich hätte. Schließlich versteigt er
sich, im Anschluß an Galton und Weismann,
zu der Behauptung, daß das Heer der somatischen
Zellen (alle Köriierzellen mit Ausnahme der Ge-
schlechtszellen) „nur eine temporäre, schützende
und verproviantierende Eskorte ist, welche die
Keimzellen eine Strecke weit begleitet, um nach-
her zurückzubleiben und durch eine andere ersetzt
zu werden" (bei der Fortpflanzung). „Die Kom-
plikation der Organisation, ihre .Anpassung an die
verschiedenen Existenzbedingungen, die höchste
Leistungsfähigkeit des Soma nach den verschieden-
sten Richtungen hin, sie sind unter dem Gesichts-
winkel der verbesserten und den Umständen an-
gepaßten Organisation, Verwaltung, Leitung, Ver-
proviantierung etc. der Keimzelleneskorte zu be-
trachten. Alles dreht sich um die Sorge für die
Nachkommenschaft."
Wer so paradoxe Behauptungen aufstellt, muß
erwarten, daß man ihm energisch widerspricht.
Es heißt geradezu ein Spiel treiben, wenn man
die Organisationsdifferenzen der Tiere nur als
differente Mittel für die Erhaltung der Geschlechts-
zellen auffaßt; die einzig richtige Beurteilung ist
doch die, daß die Geschlechtszellen zur Erhaltung
der bestimmten Organisation, also der Art, dienen.
Wie sehr wären die Organismen zu bedauern, die
an sich gar nichts bedeuten, sondern nur wegen
ihrer Geschlechtszellen einigen Wert besitzen
und daher auch nur für diese zu leben und zu
sterben haben ! Unsere geistige Befähigung wäre
nur aus dem Gesichtswinkel unseres Geschlechts-
lebens zu beurteilen und somit erschiene volle
Hingabe an die Gedankenwelt, die „leider" so oft
unserer Genitalzellen uns vergessen läßt, nicht als
etwas Anstrebenswertes, sondern direkt als Selbst-
mordversuch, und man sollte alle Menschen streng
bestrafen, die nicht fortwährend an die Fort-
pflanzungsgeschäfte denken. Welch ein niedriger
philosophischer Standpunkt und auch welch eine
kurzsichtige Beurteilung biologischer Probleme
spricht aus den oben mitgeteilten Sätzen ! Daß
sie in Hinsicht auf die Ableitung des Mesoderms
von den Genitalzellen falsch sind, das ergibt sich
ohne weiteres. Denn mit demselben Recht, wie
man die mannigfaltigsten Gewebsarten auf früh-
zeitig gesonderte Genitalzellen zurückführt, kann
man sie auch auf das Ei selbst, aus dem der ganze
Keim entsteht, zurückführen, denn das Ei ist ja
auch eine Genitalzelle. Was hat man aber da-
durch erreicht? Nichts anderes als eine Um-
N. F. m. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
565
Schreibung der Tatsache, daß sich der Organismus
überhaupt aus einer Genitalzelle entwickelt ! Sobald
aber diese Entwicklung beginnt, hört die Genital-
zelle eben auf eine Genitalzelle zu sein und wird
Mutterzelie des Keims; sondern sich nun während
der Ontogenese zeitig die Genitalzellen des in
Entwicklung begriffenen Tieres, so ist das ein
interessanter Spezialfall, nicht aber kann man in
die Ontogenese eine zweite Ontogenese einschachteln,
wie das die Gonocoeltheoretiker tun, da außerdem
die Urgenitalzellen als solche gar nicht zur mannig-
fach differenzierenden Vermehrung betähigt sind,
sondern eben nur Genitalzellen und höchstens noch
Dotter- und Follikelzellen liefern. Die Polzellen
der Mesodermstreifen enthalten zwar die Urgenital-
zellen, sind diese aber nicht selbst; es sind viel-
mehr äußerst reich veranlagte Keimzellen, wie wir
sie z. B. bei Hirudineen in mehrfacher Zahl und
als Ausgangspunkte des Mesoderms, des Bauch-
marks und sogar der Haut vorfinden, und es
dokumentiert sich in ihrem Auftreten nur das
Streben nach Vereinfachung der Ontogenese.
Die Gonocoeltheorie ist daher vollkommen un-
haltbar, was sich auch schon daraus ergibt, daß
z. B. bei den Arthropoden , wo das Mesoderm,
mit Cölom und Niere, aus gesonderten Polzellen
oder wenigstens aus einheitlichen Mesodermstreifen
hervorgeht, die Gonade selbständig zu entstehen
vermag und dann erst sekundär zum Mesoderm
in Beziehung tritt. Die genetische Beziehung der
Gonade zur Cölomwand bei den Anneliden gilt
z. B. auch für die eng verwandten Mollusken nicht.
Ebenso als Besonderlieit der Anneliden (und Ar-
thropoden) ist die Beziehung der Längsniuskulatur
und Niere zum Cölom anzusehen. Es ist zu be-
tonen, daß sich die übrige Körpermuskulatur der
Anneliden nach E. Meyer, mindestens in vielen
Fällen, unabhängig vom Cölom und von den Meso-
dermstreifen überhaupt, wie es scheint vom Epithel
der jungen Larve aus, entwickelt, in einer Art, die
an die Bildung der Muskulatur bei den Turbel-
larien erinnert. Die teilweise Übertragung der
Muskelbildung an die Cölomwand ist übrigens
ohne weiteres verständlich. Denn wenn wir einen
Querschnitt durch ein Annelid mit dem durch
ein Turbellar vergleichen, so ergibt sich folgende
Betrachtung. Das lymphhaltige Cölom entspricht
dem lockeren parenchymatösen Bindegewebe, das
sich bei den Turbellarien im Umkreis des Darms
befindet und vielfach schon Neigung zur Entwick-
lung flüssigkeitshaltiger Lückenräume zeigt. Bei
den Nemertinen sind die als Vorstufe des Cöloms
zu deutenden Genitalkammern , die auch bei
Mangel an Genitalzellen persistieren, noch vom
Parenchym umgeben ; indem dieses bei den Anne-
liden ganz schwindet und das Cölom sich mächtig
ausdehnt, schließt sich seine äußere Wand innig
an den Hautmuskelschlauch an und übernimmt
nun auch bei der Entwicklung das Material zum
Teil, aus dem er hervorgeht. — In dem erwähnten
Parenchym liegen bei den Turbellarien die Gonaden,
deren Eingliederung in die Cölomwand daher auch
nichts Überraschendes bietet und bereits bei den
Nemertinen gegeben ist. Das Cölom selbst ist
aber in erster Linie nichts anderes als Hohlraum,
der aus dem Parenchym der niederen Würmer
hervorgegangen und jedenfalls auch pli_\'siologisch,
nämlich in Hinsicht auf die Lokomotionsfähigkeit
des Körpers, von großer selbständiger Bedeutung
ist. Ich habe die Leibeshöhle in meinem Lehr-
buch der vergleichenden Histologie der Tiere direkt
als L o k o m o t i o n s h ö h 1 e funktionell charakteri-
siert, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel und
ergibt sich ja auch aus der vergleichenden Be-
obachtung, daß ein hohler, nur von leicht ver-
schiebbarer Flüssigkeit erfüllter Körper bewegungs-
fähiger ist, als ein solider, parenchymatöser Körper.
Diesen Hinweis auf die physiologische Be-
deutung des Cöloms gebe ich nur beiläufig und
lege Gewicht allein auf den morphologischen Ab-
leitungsversuch, der, wie mir scheint, der einzig
haltbare ist. Mit physiologischen Erklärungsver-
suchen kann man gar nicht vorsichtig genug sein.
Wenn man z. B. bei E. Meyer liest, daß es die
schlängelnden Schwimmbewegungen der turbel-
larienartigen Vorfahren der Anneliden gewesen
sind, die zur Umbildung der Gonaden und zur Ent-
wicklung der Körpergliederung geführt haben sollen,
so wundert man sich nur über das eine, warum
es überhaupt noch sich schlängelnde Turbellarien
gibt, da sie doch alle sich zu Anneliden hätten
entwickeln müssen. Immer und überall begegnet
man dem unglückseligen Bestreben, die in der
Phylogenese nachweisbare fortschreitende Differen-
zierung des Körpers rein funktionell erklären zu
wollen, was doch ganz aussichtslos ist, da eben
ein Organismus nur die Funktionen verrichtet,
denen er auf Grund seines Baues angepaßt und
gewachsen ist. Damit ein Fortschritt sich voll-
ziehen kann, muß zuerst der Körper neue morpho-
logische Qualitäten entwickeln, denen untrennbar
auch eine besondere P\mktionsweise entspricht. In
diesem Sinne ist es völlig verfehlt, alle Organe
höherer Tiere auf bereits vorhandene niederer
zurückführen zu wollen, also eben das Cölom auf
Gonaden oder auf Nierenteile. Man übersieht ganz
die Möglichkeit, daß etwas völlig Neues in der
Phylogenese hervortreten kann, und wird zu künst-
lichen Umdeutungen gezwungen, die früher oder
später sicher über den Haufen geworfen werden.
Andererseits verfällt man aber auch in den ent-
gegengesetzten Fehler, den Wald vor Bäumen nicht
zu sehen, und bestreitet Homologien aus ganz un-
haltbaren Gründen. So hinsichtlich des Nerven-
systems und der Muskulatur. Weil das Bauch-
mark und die Längsmuskulatur der Anneliden
anderer Entstehung sind als die Haupilängsnerven
und die Längsmuskulatur der Turbellarien, werden
sie für unvergleichbare Bildungen erklärt, in Über-
schätzung der Bedeutung von Entwicklungsstadien,
die ja auch zu solch unhaltbarer Anschauung, als
es die Kormentheorie ist, Veranlassung gegeben
hat. Hier, wo sich die funktionelle Gleich-
wertigkeit ohne weiteres aufdrängt, wird docJi
566
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 36
eine morphologische Gleichwertigkeit bestritten,
weil der veränderte Entwicklungsmodus der höheren
Form seine eigenen Wege einschlägt, die jedoch
ohne Schwierigkeit als sekundäre Anpassungen,
sogar als Vereinfachungen (einheitliche Entstehung
des Mesoderms aus den Polzellen), gedeutet werden
können. Es ließen sich zahlreiche Beispiele an-
führen, in denen aus ungleicher Entstehung auf
morphologische Unvergleichbarkeit geschlossen
wird; doch ist hier nicht der Platz zur weiteren
Diskussion dieser Fragen.
Zum Schluß bleibt noch die Entstehung des
Blutgefäßsystems der Anneliden zu be-
sprechen. Den Turbellarien fehlen Blutgefäße ganz.
Man hat nun neuerdings den Versuch gemacht
(Lang), den Blutgefäßen gewissermaßen über-
haupt jeden morphologischen Wert abzusprechen.
Lang erklärt sie als Lücken, die zwischen der
Cölom- und Darmwand, bzw. zwischen den beiden
Cölomlamellen der Mesenterien und Dissepimente,
durch Ansammlung von Lymphe auftreten und
jeder eigenen Wandung entbehren. Die an den
Hauptgefäßen nachweisbare Muskulatur, die ja be-
sonders für das Herz so charakteristisch ist und
die Blutzirkulation vermittelt, soll Bildung der
Cölomwand sein, sich also auch von den Tur-
bellariengonaden ableiten. Um diese Hypothese
aufrecht erhalten zu können, muß Lang erstens
alle Befunde einer endothelialen Auskleidung der
Gefäße als unrichtige erklären und zweitens die
E. Meyer'schen wichtigen Befunde, nach denen die
Muskulatur des Darms, der Dissepimente und
Mesenterien, sowie der Ringmuskulatur des Haut-
muskelschlauches niclit von derCölomwand, sondern
von der Haut aus selbständig entsteht, in Zweifel
ziehen. Indessen vermag er doch nicht die Endo-
thelien der Wirbeltiergefäße in Abrede zu stellen
und hält daher die Gefäße der Vertebraten für
morphologisch unvergleichbar mit denen der Everte-
braten. Aber die Hypothese wird sofort entwurzelt
durch die Befunde an den Nemertinen, bei denen
das Blutgefäßsystem in der Tierreihe zum ersten
Mal auftritt. Hier stehen die im Parenchym ver-
laufenden Blutgefäße in gar keiner Beziehung zur
Wand der Genitalkammern, von der sie also ihre
Muskulatur nicht beziehen können, und besitzen
andererseits ein leicht nachweisbares Endothel.
Ferner lehrt genaues Studium der Anneliden, daß
ein Endothel weit verbreiteter ist als man im all-
gemeinen annimmt; es kommt ferner auch den
Gefäßen der Mollusken zum großen Teil zu und
fehlt nur den Arthropoden vollständig. Daran ist
aber weiter kein Anstoß zu nehmen, denn epi-
theliale Auskleidung kann auch in anderen hohlen
Organen, so z. B. in der Leibeshöhle und zwar
speziell auch bei den Arthropoden, sekundär ver-
schwinden. Aus zahlreichen Befunden über den
Bau der Blutgefäße bei Wirbellosen geht hervor,
daß typischerweise alle Gefäße aus einer doppelten
Wandung bestehen, daß also die von Lang be-
•strittene eigene Wandung gerade in hervorragender
Weise vorhanden ist. Die äußere Wandung ist
die Muskelschicht, deren Zellen aber an den feinsten
Kapillargefäßen der Muskelfasern entbehren und
hier nur plattenförmig, als einfache, undifferenzierte,
dicht aneinander schließende Wandungszellen ent-
wickelt sind. Die innere Endothelschicht kann
lokal fehlen und zeigt überhaupt eine lockere Aus-
bildung. Typischen Epithelcharakter besitzt sie
nur bei den WirbeltiergefäfSen, die aber auch, ent-
gegen früheren Angaben, selbst an den feinsten
Kapillaren, der äußeren Wandungsschicht nirgends
entbehren. Somit sehen wir in den Blutgefäßen
Organe durchaus selbständiger Natur, die sich, wie
die Nemertinen lehren, aus dem parenchymatösen,
von Muskelfasern durchsetzten Bindegewebe der
Turbellarien ebenso selbständig herausdifferenziert
haben wie das Cölom.
Überblicken wir das hier Mitgeteilte, so er-
kennen wir einen Versuch, die phylogenetischen
Beziehungen zweier verwandten, aber ungleich
hoch differenzierten Gruppen möglichst genau dar-
zustellen. Daß ein solcher Versuch in hohem
Maße lehrreich ist, leuchtet von selbst ein, wenn
er auch noch weit entfernt davon ist, als ein ab-
schließender gelten zu dürfen. Nichts ist für das
Verständnis der Tierorganisationen wichtiger als
die klare Erfassung der einzelnen morphologischen
Charaktere und Charakterkomplexe. Nur wenn
wir genau erkennen, was sich in der Phj-logenese
wiederholt, was Neues hinzukommt und altes ver-
schwindet, gewinnen wir eine sichere Grundlage
zur Erforschung der Ursachen, welche die phylo-
genetische Entwicklung anregen. In dieser Weise
ist bis jetzt noch viel zu wenig exakt gearbeitet
worden. Man hat den ontogenetischen Befunden
und kühnen physiologischen Hypothesen größeren
Wert eingeräumt als einer rationellen Morpholo-
gie und ist dadurch zu so unhaltbaren Anschau-
ungen gekommen, wie sie sich in der Kormen-
theorie und in der Gonocoeltheorie so sprechend
ofil'enbaren.
Kleinere Mitteilungen.
Eine Schilderung des gröfsten fliegenden
Lebewesens gibt S. P. Langley') und E. A.
Lucas") Veranlassung zu einigen allgemeineren
Betrachtungen über das Wesen des Flugvermögens
überhaupt, denen wir im folgenden etwas ein-
gehender folgen wollen , um sodann am Schlüsse
jenen gewaltigsten aller fliegenden Organismen,
einen Pterodactylen der Kreidezeit (Or nit ho-
st oma), gleichfalls näher kennen zu lernen.
Um fliegende Gegenstände, Flugmaschinen wie
') S. P. Langley, Tlie greatest Hying creaturc. Aniuial
Rep. Smitlionian Institution for 1901. Wasliington 1902.
-) ¥. A. Lucas, Tlie greatest tlying creature, tlie great
Pteroilactyl Ornithostoma. Ebenda.
N. F. ra. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
567
lebende Organismen , miteinander vergleichen zu
können, ist es nötig, dreierlei festzustellen, einmal
den Iniialt der tragenden Fläche, zweitens das
Gewicht des getragenen Körpers und drittens die
Anzahl Pferdekräfte, welche die Bewegung hervor-
bringen. Letztere gewinnen wir annähernd bei
den fliegenden Organismen durch die Annahme,
daß sie ungefähr in direkt proportionalem Ver-
hältnis zur Ansatzfläche der Flugmuskeln stehen.
Vergleichen wir nun an der Hand des beigefügten
Schemas etwas näher eine F'lugmaschine und eine
Reihe fliegender Organismen hinsichtlich des Ver-
hältnisses dieser drei Größen miteinander. Eine
auf die drei Rechtecke der zweiten Reihe zeigt
uns sofort, wie außerordentlich viel sparsamer die
Natur zu arbeiten vermag, eine beträchtlich ge-
ringere Flugfläche und ein sehr bedeutend geringerer
Kraftaufwand ist nötig, um das gleiche Gewicht
zu tragen. Gehen wir weiter zu dem größten
lebenden Organismus, dem Kondor, die Werte
sind hier für die Flugfläche 10 Quadratfuß, für
das Gewicht 17 Pfund, für die Pferdekräfte fast
0,05, also im ganzen genommen, ein etwas un-
günstigeres Verhältnis als bei Ornithostoma. Diese
beiden Organismen gehören zu den fliegenden
Formen, welche sich in schwebendem oder segeln-
Tragflächc in Quadrcitfuß
I QuadratzoU = 25 Quadratfuß
Gewicht in Pfund
1 Quadratzoll = 15 Pfund
Pferdekraft
I Quadratzoll = 0,75 Pferdekräfte.
54
30
1.5
Flugniaschine.
0,036
< »rnithos oma.
0,043
Kondor.
2,65
|o,026|
Wildgans
Taube.
Flugmaschine aus Stahl , die '4 bis ^/, Meile
zurücklegen konnte, besaß eine tragende Fläche
von 54 Quadratfuß, ein Gewicht von 30 Pfund,
und entwickelte i '/., Pferdekräfte. Diese drei
Größen sind nach ihrem Verhältnis durch die
drei Rechtecke der ersten Reihe gekennzeichnet.
Als zweites Beispiel nehmen wir Ornithostoma. Die
Oberfläche seiner Flügel mag 25 Quadratfuß be-
tragen haben, sein Gewicht schätzt man auf etwa
30 Pfund, die treibende Kraft dagegen berechnet
sich noch nicht auf 0,04 Pfeidekräfte. Ein Blick
dem Fluge fast ohne Flügelschlag in der Luft zu
halten vermögen, wir wollen nun noch einige Ver-
treter desjenigen Typus hinzufügen , der seinen
Flug unter unablässigem Schlagen der F"lügel aus-
führt. Hierher gehört z. B. die Wildgans (Bernicla
canadensis), die drei Werte sind für sie 2,7 Quadrat-
fuß Tragfläche, 9 Pfund Gewicht und 0,026 Pferde-
kräfte, und weiter sei noch angeführt die Taube
mit den Werten 0,7 Quadratfuß, i Pfund und
0,012 Pferdekräfte. Letztere Beispiele weisen einen
verhältnismäßig größeren Kraftverbrauch auf als
568
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 36
die segelnden Formen, wie es namentlich bei der
Taube recht deutlich hervortritt.
Berechnet man nun vergleichend, wieviel in
den genannten Fällen eine Pferdekraft tragen
würde, so erhalten wir unter der Voraussetzung,
daß das Verhältnis von Tragfläche zu Gewicht
bei den einzelnen Formen konstant sei, folgende
Werte :
während also im ersten Falle auf i Pfund i Quadrat-
fuß Fläche kam, ist es jetzt nur noch '/o Ouadrat-
fuß für je I Pfund. Es müßte also nach diesem
Gesetz sehr bald die Grenze erreicht sein, über
die hinaus die Größe eines fliegenden Wesens
nicht anwachsen kann. Nun finden wir aber in
der Natur das oben genannte Gesetz nur insofern
bestätigt, als tatsächlich dem größeren Vogel nur
Es vermag zu tragen :
Pferdekraft
bei einer Flugfläche von
Es kommen
Pfund ' mithin auf I Pfund
an Quadratfuß
bei der Flugmaschine
bei der Wildgans
bei der Taube
I
I
I
36 Quadratfuß
10 1 Ouadratfuß
58 Quadratfuß
20
346
83
h7S
0,29
0,7
Aus den beiden letzten Beispielen würde dann
weiter zu folgern sein, daß, je größer ein Organis-
mus ist, er eine um so kleinere relative Tragfläche
und bewegende Kraft nötig habe zum Erheben
seines Gewichtes. Nun gilt indessen das mathemati-
sche Gesetz, daß die Oberfläche eines Körpers im
Quadrate, sein Gewicht aber im Kubus zunimmt,
OrnUhostoma
eine geringere Flugfläche zur Verfügung steht, aber
diese geringere Mugfläche genügt nichtsdesto-
weniger in der vollkommensten Weise, und daraus
geht hervor, daß hier noch mancherlei nicht ge-
nügend aufgeklärte Verhältnisse mit hinein spielen.
Die größten Flieger unter den Vögeln stellen
wohl Kondor und Albatroß dar, sie wurden auch
und es ergibt sich daraus ohne weiteres, daß, je
größer ein fliegender Organismus oder eine Flug-
maschine ist, eine um so kleinere relative Trag-
fläche er besitzt. Nimmt ein segelnder Vogel von
2 Pfund Gewicht und mit 2 Quadratfuß Plugfläche
um das Doppelte zu, so würde er nun 16 Pfund
wiegen und nur 8 Ouadratfuß Flugfläche besitzen,
Kondor
während der vergangenen Erdperioden kaum von
ihresgleichen übertroffen, wohl aber von fossilen
fliegenden Reptilien, von Pterodactylen, die wäh-
rend der Kreidezeit die Küsten des Golfes von
Mexiko, das Mississippital und die nordwestlich
davon gelegenen Gebiete bis Kansas hin bewohn-
ten. Der größte derselben ist Ornithostoma
N. F. m. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
569
i n g e n s , zum Vergleiche ist sein Skelett auf der
nebenstehenden Figur neben dasjenige eines Kon-
dors gestellt. Seine Schwingen waren je 9 Fuß
lang, die Hinterextremitäten dagegen waren nur
schwach entwickelt und dienten lediglich als
Stützen der Flughaut. Die Haut war wahrschein-
lich nackt oder höchstens mit kleinen Schuppen
bedeckt. Auffallend ist vor allem die Kleinheit
des Körpers, der nur 25 — 30 Pfund wog, im Ver-
hältnis zu den langen Schwingen, dagegen besaß
der Kopf die beträchtliche Länge von 4 Fuß. Er
lief nach vorn in einen zahnlosen Schnabel aus,
an dessen Grunde sich wahrscheinlich eine kleine
Tasche wie bei unseren Kormoranen befand, um
Fische, welche wohl ihre Hauptnahrung waren,
darin aufzunehmen. Die Art des Fluges war ein
Segelflug, wie es die langen, schmalen Flügel und
das schwach entwickelte Brustbein wahrscheinlich
machen. Sehr erleichtert wurde Ornithostoma das
Fliegen durch sein im Verhältnis zur Größe außer-
ordentlich geringes Gewicht, seine Knochen waren
noch leichter als Vogelknochen , von einer fast
papierartigen Konsistenz. Und so haben wir in
diesen ausgestorbenen Wesen wohl die speziali-
siertesten Vertreter der fliegenden Organismen
aller Zeiten vor uns. J. Meisenheimer.
B. Schröder, Über den Schleim und seine
biologische Bedeutung. — Biologisches Zentral-
blatt, Bd. XXIII. Die Mehrzahl der im Wasser
oder in feuchter Luft lebenden Organismen ist
auf ihrer Körperoberfläche ganz oder teilweise
mit Schleim überzogen. Auch bei echten Land-
pflanzen und -tieren kommt, allerdings mehr im
Innern des Körpers, Schleimbildung vor, wie z. B.
bei den Liliaceen, den Knollen der Orchideen u. a.,
wo schleimführende Schläuche vorhanden sind,
oder wie bei den Beeren der Mistel , der Quitte
usw.; bei den Wirbeltieren sind, wie bekannt, be-
sonders die Körperhöhlen mit Schleim absondern-
der Haut ausgekleidet , die Mundhöhle , die Luft-
kanäle , der Darmtraktus usw. Bisher hat man
dem Schleim geringe Beachtung geschenkt, mit
Ausnahme von demjenigen der Speicheldrüsen ;
daher ist über seine physikalischen und chemischen
Eigenschaften noch wenig bekannt.
Die Schleime zeigen zumeist hyaline Beschaffen-
heit, sind bisweilen aber auch milchweiß oder
opaleszieren oder sind durch Metallox-yde ver-
schieden gefärbt. Häufig sind sie, besonders bei
Mikroorganismen , so durchsichtig , daß sie nicht
ohne weiteres wahrgenommen werden können.
Durch Einlegen in ein Medium von anderem
Brechungskoeffizienten, als ihn das Wasser besitzt,
oder durch Zusatz geeigneter Färbungsmittel läßt
sich der Schleim in solchen Fällen aber mehr oder
weniger leicht sichtbar machen.
Gewöhnlich besitzt er halbflüssige, klebrige
oder fadenziehende Beschaffenheit, erstarrt an
der Luft und in älteren Stadien und wird zähe
bis knorpelig. In letzterem Zustande wird er auch
als Gallerte bezeichnet. Er enthält stets sehr viel
Wasser und wenig (oft nur V-2 bis V.-j "/o) organi-
sche Substanz. Seine Ouellbarkeit ist aui3erordent-
lich groß, wenn er, frisch sezerniert, mit Wasser
in Berührung kommt.
In chemischer Hinsicht, woraufhin namentlich
der von den Schnecken abgesonderte und andere
tierische Schleime sowie der Schleim aus Dios-
corea-Knollen untersucht wurden , enthalten die
Schleime außer anderen organischen Verbindungen
Eiweiß und Kohlenhydrate. Die Analyse ergibt
meist einen Gehalt an Schwefel von 17 "/„ und
einen solchen an Stickstoff von 13,5 "/n-
Der Schleim kann auf zweifache Weise ent-
stehen, entweder durch Absonderung aus dem
Plasma oder von der Membran der Zellen. Der
vom Protoplasma sezernierte Schleim gelangt durch
Poren in der Membran nach außen ; bei den Mem-
branschleimen wird die Zellwand teilweise oder
gänzlich in Schleim umgewandelt. Als Beispiel
für plasmatischen Schleim sei die Schleimbildung
bei den Desmidiaceen genannt. Der Schleim wird
in wasserfreiem Zustande abgeschieden und ver-
quillt an der Oberfläche der Zelle unter Wasser-
aufnahme zu Schleimhüllen oder -Stielen. Auch
die Absonderung des Schleimes aus Drüsen und
durch Schleimhäute, wie sie im Tierreich sehr
verbreitet ist, gehört hierher.
Die Bildung der Membranschleime kommt bei
Pflanzen ungleich häufiger vor als bei Tieren. So
zeigen viele Algen (Ulothrix, Conferven u. a.) diese
Art der Schleimbildung; auch das bekannte Ver-
schleimen der Samenschale von Linum und von
Salvia hormium beruht hierauf. Unter den Meeres-
algen besitzen vor allem die Fucaceen Schleim-
membranen. Die collenchymatischen Verdickungen
derZellhaut in den Sprossen höhererPflanzen gehören
gleichfalls zu den membranschleimartigen Bildungen.
Die biologische Bedeutung der Schleime ist
eine sehr verschiedene. In erster Linie stellen sie
Schutzeinrichtungen gegen das Austrocknen und
gegen Verletzung durch Druck und Stoß dar.
Dieses Resultat ergaben z. B. Untersuchungen, die
an Froschlaich angestellt wurden. Hier zeigt sich
der Schleim auch noch als Schutzmittel gegen das
Gefressenwerden durch größere Tiere, wie Fische
und Krebse. Außerdem wirkt die Gallerthülle
der Froscheier auch noch wie eine Sammellinse,
die die Sonnenstrahlen und die durch diese zuge-
führte Wärme konzentriert. Demnach ist sie
einem kleinen Treibhause oder einem Brutapparate
zu vergleichen, in dem die Eier zu rascherer Ent-
wicklung gelangen.
Starke Schleimhüllen finden sich ferner bei
Bakterien, Flagellaten, Algen usw., die im Wasser
leben, und dienen hauptsächlich zum Schutze gegen
chemische oder physikalische Änderungen des sie
umgebenden Mediums. Besonders bei der Algen-
kultur tritt häufig ihre große Empfindlichkeit gegen
Veränderungen der Nährlösung zutage. So können
z. B. Diatomeen durch Wassermangel und die da-
durch hervorgerufene Konzentration der im Wasser
570
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 36
gelösten Nährstoffe leicht zur Bildung von Gallert-
hüllen gezwungen werden.
Die Schleimhüllen erschweren die Diffusion
gewisser giftiger Stoffe oder machen sie gänzlich
unmöglich, wie an Zygnema nachgewiesen wurde,
bei welcher sich im Wasser gelöste anorganische
Gifte im Schleim ablagerten , ohne die Alge zu
schädigen. Besonders kommt dieser Schutz in
Betracht, wenn Protoplasma aus den Zellen in das
umgebende Wasser hinaustritt, wie dies bei dem
Kopulationsakte der Diatomeen oder der Des-
midiaceen oder bei der Auxosporenbildung der
ersteren der Fall ist; hier wird das austretende
Protoplasma durch Schleimhüllen vor der unmittel-
baren Berührung mit dem Wasser geschützt.
Der Schleim der an der Luft lebenden Bakte-
rien und Algen hat vielfach die Fähigkeit, Wasser
aufzusaugen, das bei Regen oder bei Überrieselung
mit ihm in Berührung kommt. So kann man
öfter das kolossale Aufquellen der Nostoc-Alge
während eines längeren Landregens beobachten.
Die Schleimhülle bildet hier also gleichsam ein
Wasserreservoir, das die dem Luftleben angepaßten
Mikroorganismen vor zu starker Transpiration oder
vor dem Austrocknen bewahrt. In der gleichen
Weise sind ja bekanntlich die Amphibien und
Schnecken geschützt , deren mit Schleim über-
zogene Epidermis sie dauernd gleichsam in eine
Wasserschicht einhüllt.
Außer als Schutzmittel dient der Schleim ferner
auch zur Befestigung. So schließen sich viele
einzellige Organismen, Schizophyceen, Conjugaten
u. a. durcli Schleimhüllen zu faden- oder flächen-
artigen Verbänden aneinander. Andere heften
sich mittels Schleimfäden, -Stielen oder Polstern an
eine Unterlage an; so z. B. manche Diatomeen
und Infusorien. Gewisse Algen und Pilz- und
Flechtensporen verbreiten sich auf die Weise, in-
dem sie sich an Wasserinsekten anheften. Auch
den Schnecken dient der Schleim als Haftmittel,
besonders an senkrechten Gegenständen. Die mit
Haftscheiben versehenen Zehen des Laubfrosches
sondern ebenfalls Schleim ab, der dem gleichen
Zwecke dient. Mittels Schleimfäden befestigen
sich auch die Spinnen, manche Raupen und eine
Schneckenart (Helix nigrocinerea) an hohen, frei-
hängenden Gegenständen und vermögen sich daran
herabzulassen. Mit Schleim kitten die Insekten
auch ihre Kokons zusammen, verkleben die Schwal-
ben allerlei Körper (Strohhalme usw.) beim Bau
ihres Nestes. Die sogenannten eßbaren Schwalben-
nester der an den steilen Felsenküsten auf den
Sundainseln und Molukken nistenden Salanganen
bestehen aus schleimigen Meeresalgen , die mit
Speichel durchsetzt an die Felsen geheftet werden.
Unter Umständen kann die Schleimbildung auch
zur Fortbewegung der Organismen, z. B. bei den
Desmidiaceen , dienen (vgl. Naturw. Wochenschr.
vorig. Jahrg. S. 480). Als ein die Ortsbewegung
förderndes Mittel kommt der Sclileim auch bei
Regenwürmern, Schnecken und Fischen in Betracht,
bei denen der Reibungskoeffizient ihres Körpers
mit dem Substrat oder umgebenden Wasser durch
die Schleimbildung in den viel geringeren Koeffi-
zienten des Körpers mit dem Schleime umgewan-
delt wird. Bei den Wirbeltieren ist der Verdauungs-
traktus mit Schleim ausgekleidet, damit der Darm-
inhalt leicht hindurchgleiten kann.
Endlich dient die Schleimbildung vielen im
Wasser freischwimmenden Mikroorganismen , den
sogen. Planktonorganismen , zur Erhöhung der
Schwebefähigkeit. Se.
Über leuchtende Hutpilze. — Bereits in
früherer Zeit sind Pilze, welche im Dunkeln ein
phosphorisches Leuchten verbreiten, mehrfach be-
kannt geworden und kennen wir jetzt besonders
aus tropischen Gebieten eine große Anzahl der-
selben. Plinius erwähnt (Histor. natur. XVI,
8, 13) schon einen in der Dunkelheit leuchtenden
Baumschwamm , welcher wahrscheinlich der in
Südeuropa verbreitete Pleurotus olearius sein
dürfte, dessen phosphoreszierende Eigenschaft be-
kannt ist. Von Rumphius wird ein leuchtender
Agaricus igneus von der Insel Amboina be-
schrieben. Gardner entdeckte einen Hutpilz
in Goyaz (Brasilien) auf abgestorbenen Palmen-
blättern , den Pleurotus Gardner i Berk.,
welcher dort als „Flor de Coco" bekannt, von
den Kindern abends als Laterne herumgetragen
wird. Die vonGardner ins Zimmer gebrachten
Exemplare leuchteten so stark, daß er bei ihrem
Lichte zu lesen vermochte. Auch bei uns sind
derartig leuchtende Pilze mehrfach bekannt ge-
worden, doch sind es hier meist die Mycelien oder
Sclerotien , welche phosphoreszieren. Die be-
kannten Rhizomorphen des Hallimasch (Armillaria
mellea) verbreiten im Dunkeln an den jungen
farblosen Mycelspitzen ein weißliches Licht. Die
Phosphoreszenz derselben wurde nach A. v. H u m -
boldt zuerst von Freyesleben 1796 in Berg-
schächten bei Freiberg beobachtet. Wenn man
derartige Rhizomorphen in einem Glase kurze
Zeit kultiviert, so daß aus diesen junge Triebe
und weiße Fadenbüschel hervorwachsen, so zeigt
sich an diesen im Dunkeln das Leuchten.
Dieses ist auch bei den Rhizomorphen der an
Baumstümpfen sehr häufigen Xylaria Hypo-
xylon der Fall, ebenso leuchtet das mit den My-
celien des Pilzes durchsetzte morsche Holz mit
gelbgrünlichem Licht. Die Sclerotien einzelner
heimischer Collybien-Arten, so: C. tuberosa,
C. cirrhata, phosphoreszieren im Dunkeln.
Von Professor V o 1 k e n s wurde bei seiner An-
wesenheit auf J a V a 1 892 im botanischen Garten von
Buitenzorg auf Rotangpalmen ein selbstleuchten-
der Hutpilz beobachtet und mitgebracht, welcher
gruppenweise hoch oben an den Stämmen sitzt
und bei Nacht in einem zauberhaften, grünlichen
Lichte erstrahlt. Die Stämme erschienen wie mit
Kerzen bedeckt. Die ins Laboratorium gebrachten
und zerschnittenen Pilze leuchteten unter dem
Mikroskop noch so hell, daß man deutlich die
Umrisse ihres Baues erkennen konnte. Die zwi-
N. F. III. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
571
sehen den Fingern zerriebenen Pilze übertrugen
das phosphorische Leuchten auf diese. Erst etwa
10 Minuten nach dem Zertjuetschen der Hüte ver-
schwand das Licht. Die frischen Hüte sind auf
der Oberseite mit einem klaren Schleim über-
zogen, von dem das Leuchten ausgeht.
Der Pilz ist eine zu den Agaricineen gehörende
My cena-Art, die ich als M. illuminans be-
schrieben habe. Der etwa 5 — 13 mm breite, ge-
wölbte, in der Mitte etwas genabelte Hut ist
weiiälich , nach dem Scheitel zu bräunlich , radial
gestreift und gefurcht, frisch mit farblosem Schleim
überzogen. Der Stiel ist röhrig, gekrümmt, blaß,
S — 12 mm lang, kaum I cm dick, an der Basis
scheibenförmig aufsitzend, verdickt. Die blassen
Lamellen sind buchtig angeheftet, in der Mitte
bauchig, nach den Enden zu verschmälert. Die
Sporen sind kugelig, farblos.
Ein ebenfalls leuchtender kleiner Hutpilz, den
ich früher als Omphalia Martensii be.schrie-
ben habe, wurde von Prof E. v. Martens auf
der preuß. Expedition nach Ostasien im März
1863 an der Westküste Borneos bei Bcngkajang,
im Flußgebiet des Sambas auf Wurzeln gesammelt.
Der Pilz machte sich durch sein phosphorisches
Leuchten im Dunkeln sehr bemerkbar.
Von den Gebr. Sa ras in wurde aufCelebes
bei Tomahon im Juli 1894 auf altem Holze ein
zierlicher Hutpilz gesammelt, den ich als Locel-
lina illuminans beschrieben habe. Der Pilz
leuchtet prachtvoll grün, so hell, daß man die
Uhr danach ablesen kann, wie Herr Sarasin
schreibt. Das Leuchten scheint von den Lamellen
auszugehen. Wenn man den Pilz von oben be-
trachtet, sieht man den Stiel als schwarzen Kreis
im leuchtenden Felde, er selber leuchtet nicht.
Wie der verstorbene L Kärnbach mir erzählte,
so beobachtete er bei Finschhafen auf Neu-Guinea
auf dem Waldboden einen kleinen Pilz, wahr-
scheinlich eine Marasmius-Art, welcher abends
ein so starkes Licht verbreitete, daß der Boden
wie mit Kerzen beleuchtet erschien. Außerdem
sind zahlreiche Leuchtpilze aus den subtropischen
Ländern bekannt geworden, meist verschiedenartige
Agaricineen, so Pleurotus noctilucens Lev.
von Manila, PI. Prometheus Berk. von Hong-
kong, PL illuminans Müll, et Berk., PL Lam-
pas Berk., PL nidiformis Berk., PL phos-
phorus Berk. aus Australien. Bei Clitocybe
illudens Schwein, aus Nordamerika soll nach
Prof Atkinson das Hymenium phosphoreszieren.
Von V. Lager heim wurde ein Polyporus
noctilucens aus Angola als Leuchtpilz beschrieben.
Von mehreren Seiten ist die Ansicht geäußert
worden, daß durch das Leuchten die Insekten aus
der P"erne herbeigezogen werden sollen, um durch
Übertragung der Sporen für die Ausbreitung der
Art zu sorgen. — Bisher ist durch Untersuchung
über die Leuchtstoffe der betreffenden Pilze nichts
Sicheres bekannt geworden, möglicherweise beruht
die Phophoreszenz bei verschiedenen Arten auf
verschiedenen Ursachen, jedoch nicht auf Anwesen-
heit von Leuchtbakterien. P. Hennings.
Das Problem früheren Landzusammen-
hanges auf der südlichen Erdhälfte. — Zu
interessanten paläogeographischen Itrgebnissen,
welche die Beachtung weiterer Kreise \erdienen,
ist auf Grund mehrjähriger L'ntersuchungen in den
chilenischen Anden der schweizer Geologe Dr.
Karl Burckhardt gelangt. Er hat seine Be-
obachtungen in einer Reihe wissenschaftlicher Ar-
beiten niedergelegt, von denen hier seine „Traces
geologiques d'un ancien continent paci-
fique" (Rev. Mus. de La Plata, 1900) sowie seine
„Beiträge zur Kenntnis der Jura- und
Kreide formation der Kor diller e" (Palä-
ontographica, 1903) namentlich genannt seien. Die
Ansicht, daß auf der südlichen Erdhälfte in alter
Zeit, jedenfalls bis weit ins Mesozoische hinein,
größere Landmassen bestanden haben, ist keines-
wegs neu. Bereits Neumayr hat einen brasil o-
äthiopischen Kontinent angenommen, der zur
Jurazeit das östliche Südamerika mit Afrika ver-
band, und wiederholt ist sowohl von paläonto-
logischer, als auch von zoologischer und botanischer
Seite die Ansicht laut geworden, daß ehemals auch
ein ausgedehnter südpazifischer Kontinent be-
standen haben müsse. Das Verdienst Burckhardt's
ist es nun, die geologischen Belege hierfür er-
bracht zu haben.
Zunächst haben die Untersuchungen Burck-
hardt's eine bedeutende P'aziesverschiedenheit der
westlichen und östlichen Kordillere ergeben.
Während im oberen Lias und unteren Dogger die
westliche Zone durch ammonitenreiche Kalke und
Tonschiefer, also durch küstenferne Ablagerungen
gebildet wird, treten in der östlichen Zone klastische
Gesteine, namentlich bivalvenreiche , zum Teil
sogar Landpflanzen führende Sandsteine auf. Diese
Faziesunterschiede bestätigen uns in schönster
Weise die auf anderen Erwägungen beruhende
Annahme Neumayr's, daß das andine Jurameer im
Osten durch einen brasilo-äthiopischen Kontinent
begrenzt gewesen sei. Denn es ist wohl unzweifel-
haft, daß wir in diesen bivalvenreichen und Land-
pflanzen führenden Ablagerungen eine Litoralzone,
die Ostküste des andinen Jurameeres vor uns
haben. Und das überaus interessante, durch Kurtz
nachgewiesene Vorkommen liassischer Landpflanzen
am Atuel und bei Piedra pintada gestattet uns
sogar, diese Ostküste ^mit ziemlicher Genauigkeit
festzulegen. Sie fiel offenbar mit dem heutigen
Ostrand der Kordillere zusammen und lag etwas
östlich vom 70. Längengrad. Ferner haben die
Untersuchungen Burckhardt's gezeigt, daß die
fossilführenden Doggerschichten fast durchweg von
Gypsen überlagert werden. Über diesen Gypsen
nun türmen sich in den westlichen und zentralen
Teilen der Kordillere ungeheure -Massen von Por-
phyritkonglomeraten auf, überlagert von ammo-
nitenreichen Kalken des obersten Kimeridgien und
unteren Portlandien. Trotzdem diese Konglomerate
572
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 36
im wesenthchen aus vulkanischem Material be-
stehen, sind sie doch sicherlich sedimentären Ur-
sprungs, da sich in ihnen marine Fossilien einge-
schlossen finden. Burckhardt ist der Ansicht, daß
diese Konglomerate nur in einer Uferzone gebildet
worden sein können, da sie aus sehr groben und
gut gerundeten Gerollen bestehen und kohlige
Schichten und fossile Baumstämme enthalten. Je
weiter man sich nach Osten entfernt, desto mehr
nimmt die Mächtigkeit der Konglomeratmassen
ab, bis sie schließlich in den östlichen Teilen der
Kordillere ganz aufhören und bunte, vorwiegend
rote und grüne Sandsteine und wenig mächtige
Mergelschichten an ihre Stelle treten, welche ihrer-
seits wiederum von den ammonitenreichen Kalken
des Kimeridgien und Portlandien überlagert werden.
Aus dieser Verteilung der Sedimente schließt
Burckhardt, daß das andine Jurameer auch im
Westen von einer Küstenlinie begrenzt war, die
annähernd mit der heutigen Ostküste des pazi-
fischen Ozeans zusammenfiel, daß sich hier also
ein Festland, eben jener südpazifische Kontinent,
nach Westen zu , vielleicht gar bis nach Neu-
seeland und Australien hin erstreckte. Seit wann
bestand dieser Kontinent? Die Tatsache, daß in
den westlichen und zentralen Teilen der Kor-
dillere die Porphyritkonglomerate, wenn auch in
geringerer Mächtigkeit , so doch bereits an der
Basis der Gypse auftreten, scheint dafür zu sprechen,
daß der südpazifische Kontinent bis in die obere
Doggerzeit hinabgereicht habe, daß somit bereits
zur Doggerzeit das andine Meer zu einem schmalen
Golf, ungefähr von der Breite der heutigen Kor-
dillere, reduziert und sowohl im Osten als auch
im Westen von großen Landmassen begrenzt war.
Augenscheinlich ist dann zu Beginn der Ober-
juraperiode der andine Meeresarm durch tektonische
Vorgänge für kurze Zeit zum Festland erhoben
worden. In den zurückgebliebenen Binnenseen
konnten sich unter der Herrschaft eines Wüsten-
klimas mächtige Gypsmassen niederschlagen. Aber
vermutlich nur relativ kurze Zeit währte diese
Festlandsperiode, denn nirgends kam es zur Stein-
salzbildung und schon die mächtigen Porphyrit-
konglomerate, noch mehr aber die im Hangenden
auftretenden Kimeridgekalke sprechen dafür, daß
sehr bald ein neuer Einbruch des andinen Meeres
erfolgt sein muß, offenbar begleitet von gewaltigen
unterseeischen Eruptionen, welche die Anhäufung
so mächtiger Konglomeratschichten ermöglichten.
E)s ist überaus interessant, daß diese paläo-
geographischen Ergebnisse Burckhardt's durch
seine faunistischen Ergebnisse vollauf bestätigt
werden. In der argentinisch chilenischen Jura- und
unteren Kreideformation lassen sich nämlich, von
einigen spezifisch südamerikanischen oder allge-
mein verbreiteten Typen abgesehen, drei Faunen-
elemente unterscheiden und zwar: das west-
europäische Faunenelement, mitteleuropäische
und alpin-mediterrane Formen umfassend, das süd-
afrikanische Faunenelement, in der unteren
Kreide durch nahe Verwandte mehrerer charakte-
ristischer Trigonienarten Südafrikas vertreten, und
schließlich das russisch -asiatische Faunen-
element, durch Macrocephalen im Callovien, die
Beziehungen zu indischen Formen erkennen lassen,
ferner durch die sehr interessanten, zum ersten-
mal in der Kordillere nachgewiesenen russischen
Virgaten, sowie durch zentralasiatische Spitiformen
repräsentiert. Die faunistischen Beziehungen zwischen
dem südamerikanischen und westeuropäischen Lias
und Dogger lassen sich nur durch die Annahme
erklären, daß das andine Meer zur Lias- und Dogger-
zeit mit einem atlantischen Äquatorialmeer in
offener Verbindung stand, in welchem längs der
Nordküste eines brasilo - äthiopischen Kontinents
ein reger faunistischer Austausch zwischen Süd-
amerika und Westeuropa stattfinden konnte, und
das südafrikanische Faunenelement spricht dafür,
daß das andine Meer zu Beginn der Kreidezeit
auch mit einem südatlantischen Meer in offener
Verbindung stand, welches sich längs der Süd-
küste eines brasilo-äthiopischen Kontinents hinzog
und Meerestieren als Wanderstraße gedient hat.
Somit muß auch aus faunistischen (iründen zur
Lias-Doggerzeit und zur Neokomzeit die Existenz
eines brasilo-äthiopischen Kontinents angenommen
werden, dessen Küsten im Süden von einem süd-
atlantischen Meer, im Norden von einem atlan-
tischen Äquatorialmeer bespült wurden. Dieses
Letztere scheint jedoch zur Oberjurazeit nicht mehr
existiert oder wenigstens in keiner Verbindung
mit dem andinen Golf gestanden zu haben, da
sich nicht nur sehr wenige westeuropäische Arten
im oberen Jura der argentinisch-chilenischen Kor-
dillere wiederfinden, sondern die reiche Tithonfauna
von Andalusien der andinen Tithonfauna sogar ganz
fremd gegenübersteht. Vielmehr führen uns die
nahen Beziehungen zwischen andinen Oberjura-
fossilien und Formen der russischen Virgaten-
schichten, des Rjasanhorizonts und der Spiti shales
zu der Annahme, daß eine direkte Meeresverbin-
dung zwischen dem andinen Golf und dem russisch-
asiatischen Oberjurameer bestanden haben muß,
daß sich also ein oberjurassisches, pazifisches
Äquatorialmeer an der Nordküste eines südpazi-
fischen Kontinents hinzog, längs welcher der rege
faunistische Austausch zwischen Südamerika einer-
seits, Zentralasien und Rußland andererseits be-
werkstelligt wurde. Mit Burckhardt gelangen wir
somit auf zwei ganz verschiedenen Wegen in über-
raschendster Weise zu demselben Ergebnis.
Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß
verschiedentlich auch Stimmen gegen die Ansichten
Burckhardt's laut geworden sind, die sich nament-
lich gegen die weite westliche Ausdehnung des
südpazifischen Kontinents gewandt haben. So z. B.
hat gegen diese Annahme Burckhardt's der be-
kannte australische Malakologe Charles Hedley
die zoogeographische Tatsache ins Feld geführt,
daß zwischen der heutigen Fauna des Zentral-
pazifik und der Westküste Südamerikas keine oder
nur wenig Beziehungen erkannt werden können.
Aber wir werden wohl Burckhardt Recht geben
N. F. III. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
573
müssen, wenn er darauf erwidert, daß man von
Kontinentalmassen, die, wie der südpazifische Kon-
tinent, wahrscheinlich bereits in der Kreidezeit
wieder untergesunken sind, kaum einen Einflui.3
auf die geographische Verbreitung rezenter, wohl
aber auf die Verbreitung fossiler, etwa jurassischer
Meeresfaunen erwarten dürfe. Und daß solche in
der Tat vorhanden sind, das haben uns die inter-
essanten Untersuchungen Burckhardt's gezeigt.
Egon P"r. Kirschstein.
Neuerdings in der Sahara gefundene Nitrat-
lager. — In den letzten Jahren sind durch fran-
zösische Gelehrte und französische Offiziere sehr
wesentliche I<"ortschritte in der Erforschung der
Sahara gemacht worden, die sich ganz besonders
auf die Gegenden der vor zwei Jahren von der
Republik in Besitz genommenen, sogenannten Süd-
oasen Tuat, Gurara und Tidikelt beziehen.
Zunächst glückte es dem Kommandanten
Laquicre , der als Chef des affaires indigenes der
Kolonne des Generals Servieres angehörte und
der mit dieser im Jahre igoi im Tidikelt und
Tuat stand, wichtige Salpeterlager bei der kleinen,
auf dem Wege von Adrar über Deldoul nach
Timimun gelegenen Oase Guerara aufzufinden.
Nach den vom Chemiker Trapet in Algier ange-
stellten Untersuchungen der eingeschickten Proben
soll es sich um abbauwürdige Lager handeln, wie
denn dieselben auch schon seither von den Ein-
geborenen zur Salpetergewinnung für die Schieß-
pulverfabrikation ausgenutzt wurden. Der Name
Guerara dürfte eine Zusammenziehung aus den
arabischen Worten Gueraa und Hamra sein , von
denen ersteres ein tief gelegenes Gelände, letzteres
aber ,,rot" bezeichnet. Es liegt um so näher, an
die Bezeichnung des ,, Rotliegenden" zu denken,
als in der Nähe der der devonischen Schicht an-
gehörenden Fundstätte aller Wahrscheinlichkeit
nach auch Steinkohlenformationen zutage treten.
Bis zum Auffinden dieser Lager kannte man nach
den Berichten des obengenannten Chemikers nur
kleinere Fundstätten von Salpeter in Algerien,
nämlich bei Ksar el Baroud in der Nähe von Messad
und bei (^ulad en Nahe in der Nachbarschaft von
Sebdou.
Neuerdings nun hat der Kommandant Deleuze
von den saharischen Tirailleuren, dessen Arbeiten
auch die in der beigefügten Skizze angegebenen
Höhenzahlen in Metern zu verdanken sind, weitere
Stellen, an denen Salpeter gewonnen wird, ge-
funden und es unterliegt keinem Zweifel, daß die
hauptsächlichsten derselben , die bei der ostsüd-
östlich von Timimun gelegenen Oase Feggaguira
— dem Foggara-el-Out des deutschen Reisenden
Gerhard Rohlfs — bemerkt wurde, mit der Fund-
stätte des Kommandanten La(|uiere zusammen den
von Südwesten nach Nordosten gerichteten Ver-
lauf eines großen devonischen Lagers kennzeichnen,
dessen volle Ausdehnung durch Sondierungen noch
festzustellen bleibt. Mit den bezüglichen Arbeiten
ist der Professor der Geologie Flamand, bekannt
als wissenschaftlicher Begleiter des Hauptmanns
Pein auf der Expedition nach Insalah, zur Zeit
beschäftigt, wie der genannte Gelehrte auch der
Frage näher getreten ist, welche Beziehungen
zwischen den im Nordwesten der Sebkha von
Timimun bei Oulad Said aufgefundenen Salpeter-
lagern und den der Steinkohlenformation ange-
hörenden Schichten bei Igli und an der Zousfana
bestehen. Auf das Vorkommen der letzteren
wurde besonders durcii Leutnant Barthelemy,
Major Barthal und den Militärarzt Dr. Romary
aufmerksam gemacht. Man glaubt , daß man es
bei Feggaguira mit einer mitteldevonischen Schicht
zu tun hat, für die das Vorkommen von Spiriferen,
von Atrypa reticularis usw. spricht, während man
i
l ^f S-«
Tateitleja.
bei Oulad Said allem Anschein nach auf eine
ältere, unterdevonischc, der Steinkohlenformation
näher liegende Schicht gestoßen sein dürfte.
Die höchst wichtigen l'unde sind aber durch-
aus nicht unerwartete, denn schon durch frühere
Reisende, so durch Overweg, de Bary, Duveyrier,
Oskar Lenz, Roche und Flatters ist auf die Wahr-
scheinlichkeit des Vorkommens ausgedehnter de-
vonischer Schichten in jenen Teilen der Sahara
aufmerksam gemacht worden.
Die Sahara selbst verliert immer mehr ihren
früheren Charakter eines unüberwindlichen Hinder-
nisses, das sich tretmend zwischen nord- und
zentralafrikanische Besitzungen Afrikas legte und
immer mehr und mehr gestaltet sie sich zu einem
Bindeglied zwischen diesen schönen und reichen
574
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 36
Uberseebesitzungen der französischen Republik
aus.
Um die neugefundenen mächtigen Lager nutz-
bringend abbauen zu können, wird man vor allen
Dingen für ihre Verbindung mit dem Norden
Algeriens , für ihren Eisenbahnanschluß an einen
Hafen des Mittelmeeres sorgen müssen. Im Hin-
blick auf den bereits weit vorgeschrittenen Bau
der von Oran über Saida, Ain Sefra, Zoubia-
Duveyrier, Djenan el Dar führenden Trans Senegal-
bahn, die ich im Vorjahr bis in die uiimittelbaie
Nachbarschaft der Oase Figig bereiste, wird dies
nicht schwierig sein. Es wird voraussichtlich
keine großen Schwierigkeiten machen, von dieser
nach den neuen F"undstätten abzukreuzen , jeden-
falls wird man letztere über Igli am Zusammen-
fluß von Zousfana und Guir zur Saoura leichter
als etwa quer durch den Erg über Tabelkoza er-
reichen. Letzterer Weg ist vollständig wasserlos
und hat den Franzosen in früheren Zeiten, als sie
auf ihm ihre Kolonnen noch zum Süden führten,
jederzeit sehr große Schwierigkeiten bereitet. Die
Trans-Senegalbahn gewinnt somit für P'rankreich,
im besonderen aber für dessen Nordafrikakolonie,
eine erhöhte Bedeutung und mit doppeltem Eifer
wird man für die endliche Beruhigung der Linie
Zoubia — Igli, für vollständige Niederwerfung der
aufständigen Stämme der Oulad Djerir, der Beni
Gull und der Doui Menia Sorge tragen müssen,
man wird bestrebt sein bei Kenadsa und Bechar
eine nach Norden vorgeschobene Stellung zu ge-
winnen, die das Übergreifen jener Stämme nach
der Linie der Trans-Senegalbahn in Zukunft aus-
schließt und unmöglich macht. — Die französische
Regierung wird es sich aber angelegen sein lassen
müssen , einer Überproduktion vorzubeugen , wie
sie zur Zeit bezüglich der reichen Phosphatlager
bei Gafsa festzustellen ist: für diese hat man in
den letzten Jahren bei Gafsa, bei Metlaoui, bei
Tebessa, dem römischen Theveste und am Kalaat
el Senam zu viele Konzessionen erteilt, so daß
die Produktion nicht mehr dem Markt, der zu
klein blieb, entspricht. Infolgedessen hat nicht
mehr Tunesien die Vorteile von jenen reichen
Bodenschätzen, sondern lediglich der fremde Kauf-
mann, hauptsächlich Engländer und Italiener, ge-
nießen dieselben. —
Die weitere Erforschung der Südoasen nach
den Nitratlagern verspricht die günstigsten Resul-
tate für Algerien, die Berichte über dieselben, die
vor allem der geographischen Gesellschaft von
Algier zu verdanken sind , werden mit Interesse
aufzunehmen sein.
Oberstleutnant z. D. Hübner.
Braunkohlenhölze;r. Zwar gelingt es auch häufig
bei der nötigen Übung und Geschicklichkeit (von
der Schleifmethode sehe ich hier ganz ab), von
versteinten (verkieselten oder verkalkten) Hölzern
durch Absplittern für das Mikroskop einigermaßen
brauchbare Präparate zu erlangen, jedoch haben
diese, schon wegen ihrer meist ganz geringen
Größe nur einen sehr fragmentarischen Wert ; über-
dies ist, um gute Splitter zu bekommen, eine
Beschaffenheit des versteinten Holzes notwendig,
welche die Natur der Versteinerung durchaus nicht
so oft mitgibt, und die Beurteilung eines Stückes
darauf hin, ob es die Splittermethode erfolgreich
erscheinen läßt, ist rein Sache der Erfahrung;
überdies bedürfen selbst die erhaltenen Splitter oft
noch einer weiteren Präparation, je nach der Be-
schaffenheit des Materials.
Weit besser kommt man mit Braunkohlen-
hölzern zum Ziel , und hier insbesondere daim,
wenn es sich (wie in den allermeisten Fällen) um
Gymnospermenhölzer handelt, die infolge der großen
Gleichheit der Holzelemente, der Hydrostereiden,
die zugleich Festigungs- und Leitungselemente
darstellen, eine im ganzen Holz relativ gleich-
mäßige Zersetzung und Vermoderung erfahren,
während die dicotylen Hölzer • — wenn sie nicht
echt versteinert werden — infolge der Ungleich-
heit der Holzelemente, die z. T. gar nicht, z. I'.
recht widerstandsfähig gegen den Vermoderungs-
prozeß sind, dementsprechend auch mit ungleicher
Schnelligkeit zersetzt werden, so daß die am
längsten sich haltenden Bast(-Libriform)-Elemente
sehr bald infolge des Schwindens der sie ver-
bindenden Parenchymelemente den Zusammenhang
verlieren und nun ebenfalls um so leichter der
Zerstörung anheimfallen. Man findet daher auch
nur verschwindend wenige dicotyle Hölzer braim-
kohlig erhalten, obwohl ihre Zahl, wie die Blatt-
reste lehren, sicher recht groß gewesen sein muß.')
Von den Gymnospermenhölzern lassen sich
mit Hilfe des Rasiermessers Radial- und Tangen-
tialschnitte oder wenigstens einer von diesen meist
ohne weiteres erlangen.'-)
Man braucht das Holz nur ordentlich mit
Wasser zu durchtränken und die Schnittfläche recht
feucht zu halten; man bekommt dann auf die ge-
Über die Präparation von Braunkohlen-
hölzern zur mikroskopischen Untersuchung. —
Für denjenigen, der die Struktur fossiler Hölzer
mikroskopisch studieren will, bieten die geeignetsten,
weil am leichtesten und schnellsten herzurichten-
den Objekte die in der Braunkohlenformation aller
Länder der Erde in unzähliger Menge gefundenen
') Es ist daher ein Trugscliluß, behaupten zu wollen, daß
nur, oder größtenteils Coniferenhölzer an der Zusammensetzung
der Braunkohle beteiligt seien, wenn man keine Laubhölzer
findet. Diesem Trugschluß sind z. B. Kobbe (foss. Holz. d.
Meckl. Braunkohle, 1887 p. 54) und noch mehr Gell hörn
(Die Braunkohlenhölzer i. d. Mark Brandenburg 1894 p. 7)
erlegen. Letzterer glaubt nachgewiesen zu haben, ,,daß die
Braunkohlen im nördl. Teile der Mark Brandenburg nur aus
Nadelhölzern gebildet sind."
-) Zur Untersuchung von Hölzern stellt man bekanntlicli
.Schnitte in drei aufeinander senkrechten Richtungen her. Der
für die Gymnospermenhölzer wichtigste Radialschnitt geht
vertikal durch das Stammzentrum und läuft den Markstrahlen
parallel, der Tan ge n t i alschnitt steht senkrecht auf dem
vorigen und wird ebenfalls vertikal geführt, der Querschnitt
oder Horizontalschnitt steht senkrecht auf den beiden
vorigen, durchschneidet das Holz wagerecht; er dient u. a.
auch zur Erkennung der Verhältnisse der Jahrringe.
N. F. m. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
575
wöhnliclie Weise mit dem Rasiermesser meist
schon brauchbare Präparate. Eine gänzliche Durch-
tränkung des Holzes mit Wasser ist darum nötig,
weil die Hölzer das Wasser meist sehr begierig
einsaugen und man ohne diese Vorsichtsmaßregel
kaum imstande ist, die Schnittfläche genügend
lange feucht zu halten.
Nicht so bequem ist die Sache für den (Quer-
schnitt. Bei fast allen Braunkohlenhölzern, die ich
bisher zu untersuchen hatte, zerfällt der Ouer-
schnitt, wenn man ihn in der obigen Art des
Radial- (bzw. Tangential-) Schnittes herzustellen
sucht, in ganz kleine Teile, oft direkt zu Pulver,
das unter dem Mikroskop entweder gar nichts,
oder höchstens einige zusammenhängende Zellen
erkennen läßt, die zu einer genaueren Untersuchung
von gar keinem Nutzen sind. Am schlimm-
sten ist es in dieser Beziehung mit dem Holz
aus der Wurzel oder den unteren Stammpartien
bestellt, bei denen die weitlumigen, dünnwandigen
Frühzellen unvermittelt an dieradial-plattgedrückten,
dickwandigen Sommerholzzellen ') anstoßen, indem
beim Schneiden, selbst mit einem scharfen Messer,
an der Grenze zwischen F'rüh- und Sommerholz
der Schnitt regelmäßig zerreißt. Die Zellen des
P'rühholzes zerfallen übrigens beim Schneiden fast
regelmäßig zu Pulver, und wenn dann, wie so un-
geheuer häufig, die Mittellamelle (Interzellular-
substanz) der Holzzellen auch noch mehr oder
weniger zerstört ist, so erhält man nicht einmal
die Sommcrzellen in Zusammenhang.
So bequem also häufig von Braunkohlenhölzern
Radial- und Tangentialschnitte herzustellen sind,
so schwierig ist dies beim Querschnitt. Diese
Schwierigkeit ist schon oft von denjenigen em-
pfunden worden, die sich mit dem Studium von
Braunkolilenhölzern befaßten. J. Schmalhausen ')
empfahl zum Erhalten brauchbarer Querschnitte,
das Holz mehrere Tage in Gummilösung zu legen,
zu der Glyzerin zugesetzt war. Es gelang ihm
so einigermaßen, das Gewünschte zu erreichen,
jedoch bemerkt er ausdrücklich, daß die erhaltenen
Querschnitte „übrigens doch sehr leicht ausein-
ander fielen." Die Schnitte wurden mit dem
Rasiermesser hergestellt. Die Methode beansprucht
offenbar ziemlich viel Zeit, zumal da das Trocknen
der durchtränkten Stücke infolge der wasser-
anziehenden Eigenschaften des Glyzerins sicher
auch noch wieder einige Tage dauert.
Eine andere Methode, die sicher gute Resultate
liefert, wurde von R. Triebel'*) befolgt, der die
Stücke mit Kanadabalsam durchtränkte , diesen
erhärten ließ und dann Dünnschliffe davon her-
') Den oft gcfbrauchtcn Ausdruck Herbstholzzcllen ver-
meide ich wegen seiner Inkonsequenz, da die letzten Zellen
des Jahrringes im allgemeinen bereits im Spätsommer (Ende
August) vom Kambium abgesondert werden (H u r g e r s t ei n ' s
,, Spätholz").
*) Tertiäre Pllanzen der Insel Neusibirien in Mcm. de
l'Acad. Imper. des Sciences de St. Petcrsbourg 1890. Vll"
Serie. T. X.X.WII. No. 5, p. 18.
') Siehe diese Zeitschrift 1889. Band IV', p. 245.
Stellte. Die Notwendigkeit des Dünnschleifens
allein schon macht diese Methode sehr zeitraubend
und umständlich. Beide Verfahren habe ich darum
nicht angewandt.
Da ich vielfach Untersuchungen von Braun-
kohlenhölzern auszuführen habe , so suchte ich
schon lange nach einer anderen brauchbaren und
schnell zum Ziel führenden Methode, und ich will
nun im folgenden eine solche mitteilen, die mir
bisher selbst in den verzweifeltsten Fällen die
ausgezeichnetsten Dienste geleistet hat und zudem
durch die Einfachheit der Anwendungsich empfiehlt.
Man schneidet sich für die Untersuchung ein kleineres
Stück von dem Holz ab, das natürlich wenigstens
mehrere Jahrringe umfassen muß. Das Ende, von
dem man den Querschnitt abzunehmen wünscht,
taucht man einige Zeit (ca. 2 — 4 Minuten) in ab-
soluten Alkohol, der es bald vollständig durch-
tränkt, und stellt nun zunächst mit einem scharfen
Messer eine glatte Schnittfläche her. Hierauf
bringt man das Stück mit dem alkoholgetränkten
Ende unmittelbar aus dem .Mkohol in geschmolzenes
Bienenwachs und beläßt es längere Zeit (ca. 5 Mi-
nuten) in diesem unter stetem, gelindem Weiter-
erwärmen. Der Alkohol entweicht nebst der Luft
unter Brausen aus dem Holz und dieses wird mit dem
Wachs durchtränkt. Die Durchtränkung braucht
nicht eine sehr tiefe zu sein, da man ja doch meist
nur einige Schnitte von der Oberfläche abnimmt.
Man stellt nun das Erhitzen ein und läßt das
Holz in dem Wachs erkalten; erst sobald
dieses so fest geworden ist, daß beim Heraus-
nehmen des Holzes eine dünne Wachsschicht daran
haften bleibt (also ungefähr bei Butterweiche), darf
man es herausnehmen. Nach kurzer weiterer Ab-
kühlung ist das Holz schnittfertig (die ganze
Prozedur erfordert also nur ca. 1 5 Minuten). Man
nimmt mit dem Rasiermesser ohne weitere Be-
feuchtung die gewünschten Schnitte ab; dieselben
rollen sich zwar ziemlich stark, doch gleicht man
dies beim Aufbewahren des Präparats aus. Man
bringt die Schnitte auf dem Objektträger in
Glyzerin, dem man etwas Alkohol zusetzt; den
Rest der Aufrollung beseitigt man durch An-
drücken des Deckglases.
Auf diese Weise erhält man sehr leicht Quer-
schnitte, die sich über mehrere Jahrringe erstrecken
und deren Beurteilung in ausreichendem Maße er-
lauben. Selbst bei Hölzern, bei denen die Zellen
bis zur Unkenntlichkeit zerstört sind, hält das ge-
schmeidige Wachs das Ganze in genügender Weise
zusammen, man darf nur das Holz nicht zu früh
aus dem Wachs herausnehmen. Ist die Zerstörung
des Holzes so stark, daß auch nach gewöhnlicher
Methode keine Radial- und Tangentialschnitte
mehr erhalten werden können, so ist man auch
für diese auf diese Methode angewiesen. Es mag
noch hinzugefügt werden, daß diese auch bei der
Untersuchung rezenter, in stark vermodertem Zu-
stande befindlicher Hölzer dieselben guten Dienste
leistet. Walter Gothan.
576
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 36
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. Friedr. Dahl, Kurze Anleitung zum
wissenschaftlichen Sammeln und zum
Konservieren von Tieren, mit 17 Abb. im
Text, Jena, G. Fischer, 1904, 59 Seiten. —
Preis I Mk.
Die kleine Schrift verfolgt den Zweck, dem Natur-
freunde und Forscher in möglichster Kürze das für
ein wissenschaftliches Sammeln Unentbehrliche zu
bieten. Ganz besonders wichtig erschien eine über-
sichtliche Darstellung der Fundorte der verschiedenen
Tiere, mit andern Worten , eine Übersicht der zahl-
reichen Lebensgemeinschaften oder Biokönosen, da die
Berücksichtigung der Fundorte bei einem gründlichen
Sammeln unbedingt erforderlich ist. Eine eingehende
Übersicht derselben war um so mehr erwünscht, da
selbst umfangreiche Sammelanleitungen diesen wich-
tigen Punkt völlig vernachlässigen. In zweiter Linie
wird gezeigt, wie und mit welchen Geräten Tiere der
verschiedenen Gruppen an den genannten Ortlich-
keiten erbeutet werden können. An dritter Stelle
gelangen dann die Präparations- und Konservierungs-
methoden zur Besprechung. — Um den Umfang des
Buches nicht zu sehr anschwellen zu lassen, sind nur
diejenigen Geräte und Methoden genannt , welche
dem Verfasser bei seiner langjährigen Sammeltätigkeit
teils in Deutschland, teils auf Reisen in den Tropen
als die brauchbarsten erschienen. Die Schrift dürfte
nicht nur dem Sammler, sondern auch dem Lehrer,
der bei seinen Exkursionen dem Schüler möglichst
Verschiedenartiges zeigen will , ein geeigneter Leit-
faden sein. Dahl.
Max Eyth, Im Strom unserer Zeit. Aus Briefen
eines Ingenieurs, i. Band: Lehrjahre. 3. neu
bearb. Aufl. des Wanderbuchs eines Ingenieurs. —
Preis 5 Mk. — 2. Band: Wan derjahre. 3. neu
bearb. Auti. des Wanderbuchs eines Ingenieurs. —
Preis 5 Mk. Carl Winters Universitätsbuchhand-
lung Heidelberg. 1904.
Das angenehm lesbare Werk ist mit schwarzen
und farbigen Bildern nach Zeichnungen des Verfassers
geschmückt. Schon 1869 ist das „Wanderbuch eines
Ingenieurs" erschienen, dessen Neubearbeitung das vor-
liegende Werk ist. Es hat nicht nur geschichtliches
Interesse, da das frisch, von einem kenntnisreichen
Mann mit offenem und weitem Blick geschriebene
Werk nicht allein eine Anschauung von dem
Werden der deutschen Technik gibt, sondern auch
auf Vieles auf interessanten Reisen Begegnende an-
regend einzugehen versteht. Verfasser selbst nennt
seine Aufzeichnungen ein „Stimmungsbild", „eine Aus-
wahl von Skizzen aus seinem Wanderbuch".
G. Coym, Geometrie der Ebene. 2 Teile.
67 -f- 62 Seiten. Leipzig, 1903/4. F. Schneider.
— Preis geb. je i Mk.
Der Verf beabsichtigt, in der vorliegenden Schrift
ein Hilfsmittel zu bieten, um Volksschüler in einem
zweijährigen Lehrkursus mit den wichtigsten plani-
metrischen Tatsachen bekannt zu machen und sie zu
einiger Fertigkeit im Konstruieren zu bringen. Im
ersten Teil, dem Anschauungskursus, werden keine
Beweise gegeben , die Eigenschaften der Dreiecke
und Vierecke werden vielmehr durch Messung an
selbstkonstruierten Figuren ermittelt , wie man dies
wohl allgemein im vorbereitenden, den Gebrauch von
Zirkel und Lineal einübenden Lehrgang tut. Der
zweite Teil beginnt mit den Kongruenzsätzen und
leitet daraus die wichtigsten Eigenschaften der Drei-
ecke und Vierecke, sowie einiges vom Kreise in kurzen
Beweisen ab. Die sehr zahlreichen Figuren sind über-
aus klar und lassen alle Hilfsbögen etc. deutlich er-
kennen. Im Interesse der logischen Schulung muß
allerdings bedauert werden, daß die scharfe Hervor-
hebung der Voraussetzung und Behauptung vermißt
wird, wie denn überhaupt der strenge Aufbau des
mathematischen Wissens nach dem althergebrachten
Verfahren bei systematischem Unterricht sicherlich
jedem Experimentieren mit neuen Methoden vorzu-
ziehen sein dürfte. F. Kbr.
Dr. E. Dennert, Das chemische Praktikum.
2. Aufl. 58 Seiten mit Schreibpapier durchschossen.
Hamburg und Leipzig, L. Voß, 1903. — Preis
geb. I Mk.
Der Leitfaden enthält kurzgefaßte Anweisungen
zu chemischen Schülerversuchen und hat sich bei den
praktischen Übungen am Pädagogium in Godesberg
seit einer Reihe von Jahren trefflich bewährt. In
drei Jahreskursen sollen die Übungen bei wöchent-
lich I — 2 Stunden leicht zu absolvieren sein. Der
erste Kursus gibt in 135 Versuchen die übliche pro-
pädeutische , allgemeine Orientierung. Der zweite
Kursus bereitet durch die Vorführung der Erkennungs-
reaktionen auf die (jualitative Analyse einfacher Ver-
bindungen vor, die den Gegenstand des dritten Kursus
bildet. Die Versuche sind nach Angabe des Verf.
sämtlich mit den einfachsten Mitteln ohne Gefahr
ausführbar. Beim Selbstunterricht ist die nebenher-
gehende Benutzung eines methodischen Lehrbuchs
nötig; Verf. lehnt sich an die bekannten Arendt'schen
Leitfäden an. Kbr.
Literatur.
Schlesinger, Prof. Dr. Ludw. : Einführung in die Theorie der
Ditfcrenüalglcichungen m. e. unabhängigen Variabcln. 2.,
rev. .\ufl. (320 S.) 8". Leipzig '04, G. J. Göschen. —
Geb. in Lcinw. 8 Ml;.
Inhalt: Dr. Karl CamiUo Schneider: Die Entstehung der Gliederung des Tierkörpers. (.Schluj3.) — Kleinere
Mitteilungen: S. P. Langley und F. A. Lucas: Größtes fliegendes Lebewesen. — B. Schröder; Über den Schleim
und seine biologische Bedeutung. — Hennings: Über leuchtende Hutpilze. — Karl Burckhardt: Das Problem
früheren Landzusammenh.angcs auf der südlichen Erdhälfte. — Hübner: Neuerdings in der Sah.ara gefundene Nitrat-
lager. — W. Gothan: Über die Präparation von Braunkohlenhölzcrn zur mikroskopischen Untersuchung. — Bücher-
besprechungen: Prof. Dr. Friedr. Dahl: Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Konservieren
von Tieren. — Max Eyth: Im Strom unserer Zeit. — G. Coym: Geometrie der Ebene. — Dr. E. Dennert: Das
chemische Praktikum. — Literatur: Liste.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,t)ie NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 12. Juni 1904.
Nr. 37.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg- extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei gröl3ercii
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Goblis, Bluraenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Mammut in der Vergangenheit Sibiriens.
Vortrag, gehalten im Verein für Erdkunde zu Dresden am 28. Februar 1902.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Richard Pohle.
Wenn ich in dieser Besprechung den Versuch
mache, das Wichtigste aus unserem jetzigen Stande
der Kenntnis über ein ausgestorbenes Riesensäuge-
tier in Sibirien mitzuteilen, so geschieht dasein
der Überzeugung, daß der Schleier des Rätsel-
haften, der solange über der Mammutfrage hin-
gebreitet war, heute geschwimden ist.
Es existiert in der Tat eine gewaltige Literatur
über dieses eine Tier; es hat eine ganze Zeitlang
die Gemüter osteuropäischer Gelehrten gewaltig
erregt. Viel Papier und Druckerschwärze sind
verbraucht und die widersprechendsten Hypothesen
darüber aufgestellt worden, in welcher Weise eine
Elefantenart in die eisigen Gefilde Nordsibiriens
gelangt sein könnte.
Wenn wir die Mammutfrage jetzt als in ihrem
Kerne gelöst betrachten können, so ist das eine
Eolgeerscheinung der Fortschritte hauptsächlich
der Geologie und Pflanzengeographie; nicht zum
wenigsten fällt dabei ins Gewicht, daß die in
Europa bei intensivem Studium des Glazialphä-
nomens der jüngst vergangenen Erdperiode ge-
wonnenen Gesichtspunkte in folgerichtiger Weise
bei der Erforschung des nördlichen Sibiriens zur
Anwendung kamen. Und so verdanken wir denn
jenen Forschern, die, versehen mit umfassender
naturwissenschaftlicher Schulung, in der zweiten
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts unter Müh-
salen und Strapazen, zuweilen in Lebensgefahr die
Lagerstätten ausgestorbener diluvialer Säugetiere
untersuchten, Licht und Aufklärung über die Exi-
stenzbedingungen der gigantischen Dickhäuter. Von
der ganzen Frage liefert eigentlich nur noch der
zoologische Teil Probleme; nach dieser Seite hin
ist sie der weiteren Aufklärung bedürftig. Es
kann sich also noch darum handeln , genauere
Kenntnis über die Einzelheiten der äußeren und
inneren Organisation der Mammute zu erlangen ;
mit dem Fortschritte der Kultur in Sibirien, mit
der Vervollkommnung des Transport- und Nach-
richtenwesens werden sich in Zukunft Mitteilungen
über Funde wohlerhaltener Kadaver leichter den
Zentren der Wissenschaft übermitteln lassen; ent-
sprechend leichter werden die mit der Bergung
beauftragten Gelehrten ihre Beute in Sicherheit
bringen können.
578
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 3;
Zum Schlüsse dieser einleitenden Worte wollen
wir daran erinnern, daß uns unser Thema gerade
jetzt recht zeitgemäß erscheint, wo in allen Tage-
blättern davon die Rede ist, daß es Otto Herz,
Konservator des zoologischen Museums der Aka-
demie in Petersburg, gelungen, ein zum größten
Teile wohlerhaltenes Exemplar in Ostsibirien zum
Transport nach Petersburg abzufertigen.') Wir
werden am Ende des Vortrages noch einmal auf
diesen Gegenstand eingehen; nur wollen wir nicht
unterlassen , schon hier zu betonen , wie dieser
neueste und vollständigste Fund die bisher müh-
selig gewonnenen grundlegenden Anschauungen in
der Mammutfrage mit einem Schlage aufs glän-
zendste bestätigt.
Es sei uns nun gestattet, einiges Feststehende
über die ,, Person" des Mammut zu sagen — und
es dürfte erlaubt sein, sich dieses Ausdruckes bei
einem so ,, berühmten großen Tiere" zu bedienen
— denn es ist uns ja besser als irgend ein anderes
ausgestorbenes Tier in historischer Treue als Eis-
mumie durch Jahrtausende im Eisboden Sibiriens
überliefert. In dieser „ewig gefrorenen" Erde er-
scheinen die Kadaver, wenn sie bloßgelegt werden,
so frisch erhalten, daß das Fleisch noch blutet,
dann aber, wie stets gefroren gewesenes Fleisch,
schnell in Fäulnis übergeht. Weithin verpestet
der Verwesungsgeruch die Luft und lockt Eisbären,
Wölfe, Füchse und X^ielfraße zum leckeren Mahle
an reich gedecktem Tische.
Das Mammut, Elephas primigenius Blumb., lebte
in der Postpliocänzeit oder Diluvialperiode — auch
Quartär- oder Eiszeit genannt — als wanderndes
Herdentier weitverbreitet über Nord- und Mittel-
europa, Sibirien, Nordwestamerika. (Pliocän, von
pleion = mehr und kainos = neu, = jüngster Ab-
schnitt der Tertiärzeit. Postpliocän = Posttertiär ^=
Quartär.) Wir wissen, dal3 es damals zusammen
mit dem Ren ebensowohl an der Stelle des heutigen
Zürich, wie auf den jetzigen neusibirischen Inseln,
wie auch auf Alaska am Fuße der Gletscher seiner
Nahrung nachging — eine Elefantenart, versehen
mit einer dicken subkutanen Fettschicht und dichtem
Pelze, angepaßt einem kalten Klima und imstande,
Ouecksilbergefrierfröste zu ertragen. Dem indischen
Elefanten nahe verwandt, unterscheidet sich das
Mammut durch bedeutendere Größenverhältnisse.Be-
haarung, stark gewundene Stoßzähne und schmälere
Schmelzjoche der Backenzähne. Die Behaarung,
von rostbrauner bis beinahe schwarzer Farbe, be-
stand in 5 bis 10 cm langem Wollhaar, sowie in
Borsten, stärker als Roßhaar, die Fußlänge und
noch mehr erreichten. Von der Schulter wallte
eine lange Mähne herab. Die Stoßzähne wurden
10 bis 15 Fuß lang bei einem Gewichte bis zu
250 Pfund. Auch über die Nahrung können wir
uns ein Bild machen. Die bisher in Zahnhöhlen
und in den F"alten der Backenzähne gefundenen
') Wie bekannt sein dürfte, ist das Mammut bereits seil
einiger Zeit am Bestimmungsort eingetroffen und man ist eifrig
beschäftigt, die einzelnen Teile zu präparieren.
Speisereste sind von Brandt und Tscherski mikro-
skopisch untersucht worden. (Joh. Friedr. v. Brandt,
Zoologe, Mitglied der Akademie der Wissenschaften
in Petersburg, gestorben daselbst 1879. — J. D.
Tscherski, Geologe, machte viele Reisen in Sibirien,
gestorben 1892 auf einer Reise in Ostsibirien.) Es
waren Zweige von Nadelhölzern, hauptsächlich
Lärchen, ferner von Birken, Ellern und Weiden.
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir annehmen,
daß das Mammut etwa in der Art wie der Elch
in der Hauptsache im Sommer von saftigem Laube,
im Winter von Zweigen und Rinde der erwähnten
Hölzer äste. Wenn nun auch bis in die neueste
Zeit in Nordsibirien Naturforscher fast immer zu
spät kamen, wo es sich um die Rettung wohl-
erhaltener Tiere handelte, so liegt dieses in der
Natur und Kultur des Landes begründet. Von
nomadisierenden Wilden dünn bevölkert, bietet es
in seinen ungeheuren Sümpfen und Einöden, in
seinen Gebirgen zu viele Verkehrshindernisse. Wenn
dennoch eine verhältnismäßig große Zahl von
Mammutfunden vorliegt — im Vergleich zu den
anderen diluvialen Säugern — so ist der Grund
in dem Umstände zu suchen, daß das Elfenbein
eine so wichtige Handelsware bildet. Man nimmt
nämlich an, daß in den letzten zwei Jahrhunderten
durchschnittlich im Jahre die Stoßzähne von 200
Individuen auf den Markt gelangten. Es wird nun
meine Aufgabe sein, des weiteren die wichtigsten
Funde mit den daran geknüpften Schlußfolgerungen
in chronologischer Reihenfolge bekannt zu geben.
Zuvor muß ich aber noch kurz abschweifen, in-
dem ich einige notwendige Erläuterungen über
den Terminus Eisboden mitteile.
Unter Eisboden versteht man den bis zu einer
gewissen Tiefe gefrorenen Boden , der auch im
Sommer gefroren bleibt. Die Tiefe der gefrorenen
Schicht ist verschieden und dürfte lOO m kaum
überschreiten ; das Maß des Auftauens an der
Oberfläche im Sommer ist einerseits von der
Sommerwärme und deren Dauer, andererseits von
der Bodenbeschaffenheit abhängig. Sand erwärmt
sich am meisten , Torf sehr wenig (kaum über
20 cm Tiefe). In Beresow am Ob wird das Erd-
reich im Mittel i bis l '/a m tief erweicht , in
Jakutsk höchstens einen Meter. Die Südgrenze
des Eisbodens in Europa und Sibirien bildet eine
gebrochene Linie; sie beginnt — von Westen nach
Osten gerechnet — bei Mesen in der Provinz
Archangel und senkt sich allmählich nach Südost,
erreicht nach mehrmaligem Auf und Nieder ihren
tiefsten Stand östlich vom Baikalsee unter 47 Grad
nördlicher Breite und erhebt sich sodann in nord-
östlicher Richtung, bis sie die Küste des ochots-
kischen Meeres in der Bucht von Ajan (57 Grad
nördlicher Breite) trifift.
Im Jahre 1799 entdeckte ein Tunguse an der
Küste des Eismeeres, östlich vom Lenadelta, auf
der Halbinsel Bj'kow unter 72 Grad nördlicher
Breite und 130 Grad östlicher Länge ein mit Haut
und Haaren und allen Weichteilen erhaltenes
Mammut. Erst 7 Jahre später, 1806, konnte man
N. F. m. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
579
zu seiner Bergung schreiten. Als die Akademie
in Petersburg den Naturforscher Adams, Professor
der Botanik, zu diesem Zweck an die Lenamündung
sandte, traf derselbe allerdings einen schon arg
verstümmelten Körper an ; die Jakuten hatten ihre
Hunde mit dem Fleische gefüttert und Raubtiere
waren über den Kadaver hergefallen. Es war ein
männliches Exemplar mit langer Mähne. Der
Kopf war noch mit trockener Haut bedeckt; ein
Ohr, die Augen und das Gehirn zeigten sich er-
halten; die Füße konnten noch ihre Sohlen auf-
weisen. Drei Viertel von der Haut des Leibes,
mit rötlichen Haaren und schwarzen Borsten be-
setzt, wurden nach Petersburg gebracht, doch
gingen auf der langen Reise alle Haare verloren.
Zum Glück war das Skelett bis auf den einen
Vorderfuß vollständig vorhanden. Es ist im zoo-
logischen Museum in Petersburg aufgestellt. Mit
seinen riesenhaften Dimensionen erfüllt es den Be-
schauer mit Bewunderung und andächtigem
Staunen.
Adams Beute lag, 60 Schritte vom Meere ent-
fernt, inmitten gefrorener Lehmschichten, die
wiederum von mächtigen Eisblöcken umgeben
waren. Die Schlüsse, die er selbst aus seinen
Untersuchungen gezogen hat, sind nun folgende:
Die Eisblöcke entstammten seiner Ansicht nach
dem Meere und das Mammut sollte von den Wogen
auf das Eis hinaufgespült sein, nachdem eine den
ganzen Norden beherrschende Flut den Untergang
des Tieres verursacht und den Körper nach langem
Hin- und Hertreiben an der Küste der Halbinsel
Bykow zum Stranden gebracht hatte. Dabei machte
ihn allerdings die Behaarung stutzig. Folgerichtig
schloß er aus derselben, daß die Tiere auch im
Norden gelebt haben könnten, doch war er seiner
Sache nicht sicher und konnte zu keiner fest ab-
gegrenzten Meinung gelangen.
Die vorstehende Deutung des Falles kann uns
nicht weiter wundernehmen; sie entspricht eben
völlig dem damaligen Stande der Naturwissen-
schaften. Leider aber war der Bericht über die
tatsächlichen Verhältnisse der Lagerung, das Bild
von der Stratigraphie der Schichten und Hori-
zonte sehr unklar gehalten; er trug dem Bericht-
erstatter lebhaften Tadel ein und dessen Prestige
hat in der Folge sehr gelitten. Auf Grund des
Berichtes entspann sich ein hitziger Streit der
Meinungen, besonders inmitten der Glieder der
Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Der
Kampf hat Jahrzehnte hindurch fortgedauert und
Männer wie Karl Ernst von Baer und Middendorft
haben großen Anteil an demselben genommen.
Eine Klärung in der Frage der Lagerung hat aber
erst die neuere Zeit gebracht. Nachdem Dr. Bunge
1883 die Halbinsel Bykow einer genaueren Be-
obachtung unterworfen hatte, konnte Baron Toll
an der Hand von dessen Schilderung endlich in
entscheidender Weise aussprechen, daß jene Eis-
blöcke Steineis, und zwar fossile Gletscher seien.
Den Terminus Steineis, das ist fossiles Eis als
Felsenmasse, hat Toll in die Wissenschaft ein-
geführt. Wir werden später noch mehrfach der
fossilen Gletschergebilde zu erwähnen haben.
(K. E. V. Baer, Zoologe mit umfassenden Kennt-
nissen und weitem Blick für die gesamte Natur-
wissenschaft. Professor der Zootomie und Mit-
glied der Akademie der Wissenschaften in Peters-
burg, der bedeutendste Naturforscher Rußlands;
gestorben 1876 zu Dorpat.
A. Th. von Middendorft' Dr. med., Zoologe,
Mitglied der Akademie in Petersburg; berühmter
Sibirienreisender, Verfasser eines grundlegenden
Reisewerkes über Natur und Bevölkerung von
Nord- und Ostsibirien; gestorben 1894 in Nord-
livland. Alexander Bunge, Dr. med., Marinestabs-
arzt in Kronstadt, reiste im polaren Sibirien und
nahm teil an mehreren Expeditionen nach Spitz-
bergen. 1882 bis 1884 stationiert als wissenschaft-
licher Beobachter zu Sagastyr im Lenadelta.
Baron Eduard Toll, Geologe, machte mehrere
Reisen im polaren Sibirien, befindet sich zurzeit
als Leiter einer Polarexpedition an der Küste von
Nordsibirien.)
An dem Gedanken, daß die Kadaver auf dem
Wasser nach Nordsibirien transportiert seien, hat
man noch lange festgehalten, bis Friedrich Schmidt
(Geologe und Botaniker, Mitglied der Akademie
der Wissenschaften zu Petersburg) ihm zu Anfang
der siebziger Jahre ein P^nde bereitete. Midden-
dorff's Anschauung ging z. B. dahin , daß die
Mammute die sibirischen Ströme hinabgeschifft
und im Mündungsgebiete an sekundärer Lager-
stätte eingeschwemmt worden wären. In der Tat
waren die Reste, die er auf seiner großen Reise
im Taimyrlande gesehen hatte, durch Wasser eine
Strecke weit fortgebracht worden ; sie lagen auch
an einer Stelle, die früher Meeresboden gewesen
war, denn das Eismeer hat sich im älteren Quartär
weit ins Land hinein erstreckt.
Nun hatte man in der Zeit, als Middendorff
jener Ansicht Raum gab, noch keinen positiven
Nachweis über die Veränderung der nordischen
Flora seit der jüngst vergangenen Erdperiode, aus
der die Möglichkeit der Ernährung der Mammute
im Hochnorden hätte begründet werden können.
Auch war damals die Kenntnis des Landes östlich
der Lena allzu gering. Die „Schwemmtheorie"
konnte überhaupt nur für die F'lußgebiete des
Jenissei, der Anabara, Chatanga und Lena geltend
gemacht werden, die teils nach Süden, teils nach
Südwesten offen sind; das Gebiet der Jana hin-
gegen ist im Westen, Süden und Osten von hohen
Gebirgen abgeschlossen und die weiter östlich
dem Eismeere zufließenden Ströme wie Chroma,
Indigirka, Alaseja, Kolyma, sind im Süden von
Gebirgen begrenzt.
Im Februar des Jahres 1866 sandte die Aka-
demie in Petersburg den Mag. Fr. Schmidt in das
untere Jenisseiland, wo ein Kadaver in der Gyda-
tundra am Nelgatosee unter 707.1 Grad nördlicher
Breite liegen sollte. Schmidt fand nur noch Reste
vor, aber jedenfalls in ursprünglicher Lagerung.
Der größte Teil des Körpers war bereits aus der
5 So
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 37
Wand einer Schlucht in den See gestürzt. Es
konnten jedoch die Knochen eines Vorderbeines,
ein Schulterblatt, ein Unterkiefer und mehrere
Hautfetzen gehoben werden, zudem eine so große
Menge Haare, daß man, nach dem Bericht, alle
europäischen Museen damit hätte versorgen können.
Die Knochen waren in vortrefiflichem Erhaltungs-
zustande und wie frisch, stellenweise noch mit
Spuren von Bändern versehen. Das Lager war
nun so beschaffen, daß zu unterst mariner Ton
mit arktischen Meermuscheln (Yoldia arctica z. B.)
die Sohle bildete, auf der Süßwasserablagerungen,
bestehend aus sandigem Lehm mit den Knochen-
und Vegetationsresten, Wurzeln der Lärche (Larix
sibirica), Zweigen der Zwergbirke (Betula nana),
von Weidenarten, Wassermoose (Hypnum), ab-
gesetzt waren. Schmidt sprach auf Grund sehr
genauer stratigraphischer Untersuchungen und einer
guten Kenntnis der Umgebung seine Meinung
dahin aus, daß der Körper in schon ziemlich auf-
gelöstem Zustande am Ufer eines Tundrasees ge-
legen habe und dort mit Sand, Lehm und Vege-
tationsresten eingeschwemmt worden sei, und zwar
durch eines der kleinen in den Tundrasee mün-
denden Rinnsale. Ein Transport durch L'lüsse war
ausgeschlossen, weil der See von allen Seiten mit
marinen Ablagerungen, die die Höhe der Tundra
einnehmen, umgeben ist, während die mit Mammut-
resten versehenen Süßwasserschichten in Einsen-
kungen auftreten. Wenn wir nun noch hinzufügen,
daß Schmidt untrügliche Beweise dafür erbrachte,
daß der Nelgato früher noch innerhalb der Wald-
grenze belegen war (durch Auffinden von Stämmen
der Fichte, Picea excelsa Link, mit Zapfen in den
Mooren der Tundra u. a. Anzeichen), so verstehen
wir vollkommen, daß er seine Folgerungen nur
so aussprechen konnte, wie ich sie im Wortlaute
— aus den Denkschriften d. Akad. d. Wiss. VII. Serie,
Teil XVIII, Nr. i. Petersburg 1872 — hier an-
führe: „Ich nehme an, daß bei solchen günstigen
Verhältnissen die Mammute, wenn nicht ständig
im hohen Norden lebten, so doch sommerliche
Wanderungen dahin unternahmen, wie noch jetzt
die Rentiere, und ich glaube, daß in solchem
Falle neben den Nadelhölzern die saftigen Weiden-
gebüsche an den See- und Flußufern ihnen eine
zusagende Nahrung geboten haben . . ." „Die
Ansicht, daß das Mammut wirklich im Norden
gelebt habe, wird noch bestärkt dadurch, daß wir
wissen, daß vielfach Knochen, namentlich Hörner,
vom Bison und Moschusochsen unter gleichen
Umständen in Nordsibirien gefunden wurden, wie
Mammutstoßzähne" . . . „Ob die Mammute in
früherer Zeit wirklich bis auf die neusibirischen
Inseln vorgedrungen sind, das kann nur eine er-
neute Lokaluntersuchung nachweisen. Finden sich
auch dort Spuren einer Baum- und Strauchvege-
tation und zugleich vollständige Skelette unter
ähnlichen Umständen, wie das meinige, so müßten
wir wahrscheinlich eine frühere Verbindung dieser
Inseln mit dem Festlande annehmen, und die
Mammute sind dann bis auf die jetzigen Inseln
vorgedrungen." Seine in den beiden letzten Sätzen
zitierten Vermutungen sind durch die Resultate
der Reise von Bunge und Toll in den Jahren
1885 und 1886 Wort für Wort bestätigt worden.
Wir wenden uns nun zu dem östlich der Lena
liegenden Teile von Nordsibirien und betrachten
zunächst einige Untersuchungen, die Toll im Jana-
lande ausführen konnte. Und zwar handelt es
sich im ersteren Falle um die Lagerstätte eines
Nashornes, Rhinoceros tichorhinus, das, gleichfalls
behaart, in Sibirien als steter Begleiter des Mammut
auftritt. Das Nashorn wurde 1877 im Bassin des
Bytantei, eines linken Nebenflusses der Jana, am
Ufer eines kleinen Zuflusses Chalbui, etwa unter
68^/., Grad nördlicher Breite von Jakuten entdeckt.
Während der Rumpf liegen blieb, um, leider!, von
den Frühjahrsfluten des folgenden Jahres fort-
geschwemmt zu werden, wurde der Kopf von den
Findern abgehauen und blieb der Wissenschaft
erhalten. Dieser Kopf weist noch vollständige
Behaarung auf; die Farbe ist rotbraun und weiß
gescheckt. Eine Abbildung desselben ist in mehreren
populären Werken, u. a. in Neumayr's Erdgeschichte
(II. Band), wiedergegeben. Das Lager wurde von
Toll im Jahre 1885 auf die Schichtenfolge und
Zusammensetzung der einschlemmenden Substanzen
genau untersucht, indem ein Augenzeuge, der Sohn
des Entdeckers, den Führer machte. Es konnte
zuverlässig festgestellt werden , daß der Kadaver
auf dem Eise eines „Aufeistales" gelegen hatte
und sodann von wechsellagernden sandigen Allu-
vionen und Eisschichten eingehüllt worden war.
Auch in dem zweiten Falle, von dem uns Toll
Kunde gibt, handelt es sich bei der Lagerung um
ein Aufeistal (von den Eistalbildungen Sibiriens
wird später noch die Rede sein). Der Fundort
liegt, östlich von der Jana, im Bereich des Tschen-
doksystemes, das nach Süden durch ein von meso-
zoischen (der Triasformation angehörigen) Schichten
aufgebautes Gebirge abgeschlossen ist. Die Lokali-
tät, wo 23 Jahre vor der Besichtigung ein alter
Tunguse ein Paar Mammutstoßzähne mit einem
Teile des wohlerhaltenen Kopfes aus dem ge-
frorenen Erdreich hervorragen sah, wird von Allu-
vionen des Flüßchens Bor-üräch gebildet. Hier
ließ Toll nachgraben, und es gelang ihm, eine
Anzahl von Knochen in so frischem Zustande
zutage zu fördern, daß die erhaltenen Sehnenfasern
den Appetit eines arbeitenden Lamuten beständig
reizten. Dieser konnte sich nicht enthalten, ab
und zu daran zu naschen, wie denn überhaupt bei
allen nordasiatischen Völkern rohe Sehnen, nament-
lich vom Rentier, zu den gesuchtesten Lecker-
bissen gehören. Außer den Knochen waren Haare
und vertrocknete Fleischreste in der Uferböschung
eingebettet. Sie lagen innerhalb von Schichten,
die aus Sand, Lehm und dünnen Eislagen zusamm.en-
gesetzt waren. Das Mammut war, so sagt Toll,
auf die Eisdecke eines Eistales zu liegen gekommen
und dann durch Hochwasser in gefrierende Sand-
und Lehmmassen eingeschlemmt worden.
Als interessanteste und wissenschaftlich wich-
N. F. m. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
581
tigste Fundstätte der Reste diluvialer Säugetiere
ist nun die unter dem Namen Neusibirien be-
kannte, im Norden des Janalandes gelegene Insel-
gruppe hervorzuheben. Und wir wollen gleich,
weil sie zu dem wertvollen Material die reichste
Ausbeute') geliefert hat, die südlichste der Inseln,
GroßLjächow, in allererster Linie nennen. In dem
Berichte des Landmessergehilfen Chwoinow aus
Jakutsk, der 1775 mit der Aufnahme einer Karte
der Insel beauftragt war, heißt es: ,,Die ganze
Insel besteht, drei bis vier unbedeutende Fels-
massen ausgenommen, aus Sand und Eis, und
sowie die Sonne das Eis an den Küsten auftaut,
entdeckt man Mammutknochen in Menge". Die
in diesen wenigen Worten enthaltenen wahrheits-
getreuen Angaben nach den Forschungsresultaten
der beiden Reisenden näher auszuführen, wird nun
unsere Aufgabe sein.
In der Tat wußte man bis zum Jahre 1886
wenig mehr über Neusibirien zu sagen, als daß
dort Mammulstoßzähne und Knochen in Menge
zu finden seien. Diese Nachricht konnte man
Jahr für Jahr von den professionellen Elfenbein-
sammlern, meist Jakuten, bestätigen hören. Die
Reisenden beobachteten nun auf der großen Ljächow-
Insel ganz kolossale Eismassen von einer Mächtig-
keit, wie man sie weder vorher noch nachher
in Sibirien gesehen hat. Besonders an der Süd-
küste hatte die Erosion des Meeres schöne Profile
biosgelegt; dort stiegen Eiswände senkrecht empor,
stellenweise bis zu 70 Fuß Höhe anwachsend.
Von dieser homogenen Eismasse konnte leider
das Liegende, d. h. die darunter befindliche ältere
Schichtenfolge, nicht beobachtet werden, weil von
oben hinabstürzende Erdmassen sich unten an-
böschen und die Sohle verbergen. Das Hangende
jedoch, nämlich die überlagernden jüngeren Schich-
ten, bestand aus gefrorenen Süßwasserablagerungen,
Sanden, Lehmen und dünnen Eisschichten, nach
oben durch eine dünne Torflage und die jetzige
Vegetationsdecke abgeschlossen. Dieser obere
Horizont überdeckt nicht nur das Eis, sondern
füllt auch die Spalten, Klüfte und Höhlungen im
Eise aus. Er ist reichlich durchsetzt mit vege-
tabilischen und animalischen Resten von Flora und
Fauna der jüngeren Ouartärzeit. Im Laufe des
Sommers tauen die Profile teilweise ab, P>dmassen
fallen von oben hinunter oder fließen als dicker
Brei, einem Lavastrome gleich, dem Meere zu und
Bäche von Schmelzwasser spülen sie weiter. Zu-
weilen ist intensiver Fäulnisgeruch bemerkbar, es
treten nicht nur Knochen und Elfenbein, sondern
auch Weichteile quartärer Säugetiere zutage. Tritt
nun bei Ostwind niedriger Wasserstand ein , so
kommt der Meeresboden in großer Ausdehnung
zum Vorschein und die Elfenbeinsammler halten
reiche Ernte. Diese fällt noch ganz besonders
gut aus, wenn sich das Meer in einem günstigen
') Die von Bunge und Toll von der Lenamündung, dem
Janalande und den neusibirischen Inseln heimgebrachte Samm-
lung, bestehend in Schädeln, Knochen, Hörnern, Haaren, Haut-
fragmenten und Weichteilen, zählt 2518 Nummern.
Sommer ganz vom Eise befreit und einem niedrigen
Wasserstande bei Ostwind ein hoher Stand bei
Westwind und starkem Wellengang vorangegaogen
ist, der den Einsturz der Ufer beschleijnigt und
die Knochen auswäscht.
Baron Toll gelangte sehr bald zu der Über-
zeugung, daß es sich bei den Eismassen der
Ljächow Insel nur um eine Äußerung des glacialen
Phänomens handeln konnte. Und tatsächlich ist
bis jetzt kein P^all beobachtet worden, der in so
klarer Weise Zeugnis für eine ehemalige Ver-
gletscherung eines Teiles von Nordsibirien ablegen
konnte, wie jene hohen Eiswände. Es sind Stein-
eismassen, tote Gletscher, Reste einer Decke von
Inlandeis, die durch überlagernde Erdschichten vor
schnellem .Abschinelzen bewahrt werden.
Doch noch weiter führen uns die Berichte der
Expedition. In dem gefrorenen Erdreich, das, aus
süßem Wasser abgelagert, Spalten und Hohlräume
des alten Gletschers anfüllt, fand man mit Süß-
wasserkonchylien und den Überbleibseln der großen
Säuger auch Reste von Birken, Weiden und Ellern.
Und zwar ist von besonderem Werte die sibirische
Grünerle, Alnaster fruticosus Ledb., ein Hoch-
strauch, der von Westgrönland über Nordamerika
durch das nördliche Sibirien bis an das Ostufer
des weißen Meeres verbreitet, in den Alpen durch
eine sehr nahe verwandte Art, Alnus viridis DC,
vertreten ist. Während letztere einen niederen
Strauch vorstellt, erreicht die sibirische Art in
ihrem Bereich normalen Wachstums über 6 m
Höhe. Und Exemplare v-on dieser Größe fand
Toll auf den neusibirischen Inseln fossil, aber mit
Wurzeln und Früchten völlig erhalten — als un-
abweisbare Zeugen einer früheren reicheren Vege-
tation über den Gletschern, wo heute nur arktische
Pflanzen mit Mühe dem rauhen Klima stand halten,
wo von strauchartigen Gewächsen nur Zwergbirken
und arktische Weiden, auf dem Boden hinkriechend,
kümmerlich gedeihen. Die sibirische Grünerle aber
erreicht ihre Nordgrenze zurzeit unter 70 Grad
nördlicher Breite, also um vier Breitengrade süd-
licher als in der Mammutzeit, wo sie im Bereiche
der Gletscher in dichten Buschwaldungen die jetzt
verödete Natur Neusibiriens belebte. Daß eine
üppige Vegetation über dem Gletschereise vor-
handen war, braucht uns nicht in Erstaunen zu
setzen. Dafür finden sich in jetziger Zeit lebende
Beispiele in Alaska. So gibt es , um nur eins
herauszuheben, in der Umgebung des Kotzebue-
Sundes am Kowak River (ungefähr 66 Grad nörd-
licher Breite) „Eisklippen", d. h. fossiles Eis, von
38 bis 46 m Höhe, mit 2 bis 3 m Erde bedeckt
und reich bewachsen mit Büschen und hoch-
stämmigen VValdbäumen.
Wenn wir nun noch hinzufügen, daß als weiteres
Resultat jener wichtigen Reisen unweigerlich an-
zunehmen ist, daß eine Hebung Neusibiriens in
der vergangenen jüngsten Epoche nicht zu ver-
zeichnen, daß im Gegenteil der jetzige Archipelagus
damals einen Teil des nordasiatischen Festlandes
bildete, so haben wir damit die Bewahrheitung
S82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 37
der früher erwähnten Vorhersage Pr. Schmidt's
ausdrückhch festgestellt.
Und nun wollen wir gemäß den bisher auf-
gezählten wichtigsten Tatsachen die notwendigen
Schlußfolgerungen in einigen kurzen Sätzen zu-
sammenfassen, in ähnlicher Weise wie das Baron
Toll in seinem Werke: „Die fossilen Eislager und
ihre Beziehungen zu den Mammutleichen" (Denk-
schriften d. Akad. d. Wiss. VII. Serie, Teil XLII,
Nr. 13. Petersburg 1895) getan hat. Das Mammut
hat dort gelebt, wo seine Reste gefunden werden ;
es ist infolge physikalisch-geographischer Verände-
rungen seines Wohngebietes allmählich umge-
kommen. Die Leichen der ohne Katastrophe zu-
grunde gegangenen Tiere sind teils auf Fluß-
terrassen (Aufeistäler 1), teils an Ufern von Seen
oder auf Gletschern bei niedrigen Temperaturen
aufgelagert und eingeschlemmt worden; ihre Eis-
mumien konnten sich, dank der ausdauernden und
zunehmenden Kälte, bis heute im gefrorenen Erd-
reich erhalten. Das Mammut lebte in einem
milderen Klima, so zwar, daß die Baumgrenze bis
an die Küste des Eismeeres reichte und hohe
Sträucher bis 74 Grad nördlicher Breite gedeihen
konnten — und doch schon in einer Zeit des
Eisbodens und der Aufeistäler.
Von den wichtigeren Zeitgenossen des Mam-
muts ist das behaarte Nashorn gleichfalls ausge-
storben , der Moschusochse ist aus Sibirien ver-
schwunden und in seinem Vorkommen auf Grinel-
land und Teile Grönlands beschränkt, während
das Ren noch große Flächen der nördlichen Hemi-
sphäre bewohnt.
Wir gehen nun dazu über, eine Beschreibung
und Erklärung der Aufeistäler zu geben und folgen
dabei in der Hauptsache der meisterhaften Schilde-
rung in Middendorff's großem Werke über seine
sibirische Reise. Aufeistäler kommen nur im Be-
reiche des Eisbodens vor und es besteht eine
ganz feste Relation insofern, als die Hauptbedingung
zur Entstehung eine Bodentemperatur ist, die dem
Gefrierpunkte nahe steht. Ferner ist strenge
Winterkälte nötig, Quecksilber- Gefrierfröste und
andauernde Wasserzufuhr, die voraussetzt, daß. der
Fluß von im Winter offenen Quellen oder einem
See gespeist wird. Wenn der Wasserzufluß unter
der Eisdecke zu stark, oder aber der Abfluß zu
sehr behindert ist (durch Grundeiswälle, ange-
häufte Baumstämme, Felsenmassen), so wird das
Eis zum Bersten gebracht oder es birst, indem
ein Teil der Decke unter der Last angehäufter
Schneemengen zusammenbricht. Dann breitet sich
das Wasser über der Talsohle aus, gefriert und
bildet eine neue Eisdecke, bedeckt sich wieder
mit Aufwasser und gefriert wieder; auch Sand-,
Lehm- und Grusschichten werden auf dem Eise
abgesetzt. Es entstehen immer wieder offene
Stellen und neue Eismassen, die Schichten über-
höhen sich und eine jede dringt vom Flusse in
horizontaler Richtung weiter landeinwärts. Durch
breite .Spalten dringen Wasserströme an die Ober-
fläche und ziehen als geschlängelte Bäche über
die Eisdecke hin , in dem sie ihrerseits wieder
Eis an ihren Ufern absetzen, dieselben verengen
und erhöhen. Lagernde Schneemassen werden
durch solche Bäche unter einer schnell sich bil-
denden Kruste verhüllt und bleiben erhalten. Wenn
schwächere Strahlen durch engere Spalten hinauf-
gedrückt werden , so bilden sich um den Spalt
Ringwülste, die allmählich zu wirklichen Eiskrateren
auswachsen und dann Eishügel bis zu 2 m Höhe
darstellen. Eine Möglichkeit der steten Berieselung
gewähren Winterquellen, die namentlich an den
Uferwänden im Gebirge hervortreten. Sie werden
durch Schnee- und Eismassen vor der Einwirkung
des Frostes geschützt, d. h. diesen F.isschutz bilden
sie beim Hinausdringen kontinuierlich von selbst;
es ist klar, daß sie Aufeis erzeugen müssen, wenn
sie das Eistal beständig überrieseln. Middendorft
sagt, er habe die Oberfläche mancher Eistäler
stellenweise schlüpfrig gefunden bei Temperaturen,
die vom Quecksilber-Thermometer nicht mehr an-
gezeigt wurden.
In der Weise wachsen die Eismassen zu immer
größerer Mäciitigkeit an und greifen an manchen
Stellen weit in die Wälder ein, so daß oft alte
Nadelbäume tief im Eise stecken. Dieses zeigt
natürlich große Ähnlichkeit mit geschichtetem
Gestein; Schichten blauen, klaren Eises wechsel-
lagern mit .Schnee, Sand, Lehm und Grus und
Lagen körnigen, trüben Eises.
Eistäler gedeihen nie zur Reife und kommen
auch nie dazu, sich miteinander zu vereinigen,
sondern sie sind in ihrer Erscheinung immer an
eine bestimmte, passende Lokalität gebunden, wo
gerade alle Entstehungsbedingungen erfüllt werden.
Die meisten Aufeistäler verschwinden im Sommer;
wo aber die Eisscholle dem Boden fest aufge-
froren ist, so daß sie von unten her nicht abtauen
kann, da ist die Möglichkeit der Erhaltung ge-
geben, wenn sie, von Sand und Grus überdeckt,
der Sonnenwirkung entzogen wird. Toll beschreibt
uns aus dem Janalande ein Eistal des Flusses
Dodoma. Dasselbe befand sich zur Zeit seines
Besuches bereits im Rückgang, hatte aber früher
größere Mächtigkeit besessen. So ließen sich alte
Eismarken an den Lärclicnbäumen der Uferböschung
30 Fuß über dem heutigen Flußspiegel konstatieren.
Der notwendige Wasserdruck kam dadurch zu-
stande, daß das Wasser durch eine plötzliche Win-
dung des Flusses an einer hervorragenden, 50 Fuß
hohen Felswand Widerstand fand und wie an
einem Wehr aufgestaut wurde. Das Aufeistal
heißt im Jakutischen Taryn, ein Wort, das in den
Namen mancher Flüsse und Bäche wiederkehrt.
Wir hoffen damit eine genügende Erklärung
dafür gegeben zu haben, wie es möglich war, daß
sich Kadaver in Flußterrassen Jahrtausende hin-
durch erhalten konnten.
Es erübrigt nun noch, so gut das eben mög-
lich ist, etwas über das relative Alter der Mam-
mutperiode zu sagen; das absolute Alter läßt sich
mit Sicherheit nicht feststellen, doch dürfte es
kaum weniger als 6000 Jahre zählen.
N. F. III. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
583
Daß die Mammutreste in Sibirien dem jüngeren
Postglazial angehören, wurde schon bemerkt. Lang-
sam ist die Erkenntnis des Glazialphänomens von
Westen nach Osten vorgedrungen. Während für
einen Teil Europas mehrere Glazial- und Inter-
glazialzeiten (entsprechend dem Vorrücken und
Zurückweichen des Inlandeises) anzunehmen sind,
lagen die Verhältnisse in Nordostrußland ganz
anders. In den Becken der Dwina und Petschora
hatte man glaziale Geschiebe (Bruchstücke von
Gestein, von Gletschern transportiert), in marinem
Ton eingeschlossen gefunden und wußte lange
nicht, was damit anzufangen. Erst in dem letzten
Viertel des verflossenen Jahrhunderts brach sich
die Erkenntnis Bahn , daß das postpliocäne Eis-
meer sich weit nach Ostrußland hinein erstreckt
hatte und bei dieser Transgression die Moränen
zerstört, die Geschiebe ausgewaschen und von
neuem eingebettet hatte. Ganz analoge Verhält-
nisse herrschen in Westsibirien , wo Middendorff
und Schmidt in Taimyrland und Jenisseitundra
Geschiebe entdeckt hatten. Auch in diesem Falle
wurde der richtige Sachverhalt erst spät erkannt.
Toll konnte nun beim Vergleich der Horizonte
nachweisen, daß die marinen Tone des Jenissei-
landes gleichen Alters mit dem Steineise Neu-
sibiriens und dem älteren Postglazial zuzurechnen
seien. Demgemäß bestände das jüngere Post-
glazial in der Jenisseitundra aus den Süßwasser-
schichten und Wassermoosen, Larix- und Mammut-
resten, auf den neusibirischen Inseln aber ent-
sprechend aus Süßwasserablagerungen mit Erlen,
Birken und Weiden und Knochen diluvialer Säuge-
tiere.
Während in Sibirien östlich der Lena von einer
Meerestransgression nichts zu bemerken ist, haben
sich dagegen die Anzeichen einer ehemaligen Ver-
gletscherung beinahe von Jahr zu Jahr vermehrt.
Toll entdeckte eine Moräne am Anabarbusen,
Tscherski kurz vor seinem Tode Gletscherspuren
auf der Wasserscheide zwischen Indigirka und
Kolyma. P'ossile Gletscher fand Baron Maydell
zwischen Indigirka und Alaseja; wir wissen heute,
daß die von Wrangel seinerzeit am Anjui ge-
sehenen Eismassen Reste von Inlandeis sind; ja
dieselben greifen sogar nach Alaska bis zum
Kotzebue-Sund und der Eschholtzbai hinüber.
(Baron Gerhard Maydell unternahm im Auf-
trage der Regierung und der Kais. Geogr. Gesell-
schaft mehrere Reisen in Ostsibirien , deren Er-
gebnisse in dem Werke: „Reisen und P'orschungen
im Jakutskischen Gebiet Ostsibiriens", Beitr. zur
Kenntn. des Russ. Reiches, Petersburg 1893 und
1 896, niedergelegt sind ; gestorben 1894 in Bad Ems.
Baron Ferdinand Wrangeil nahm teil an mehreren
Reisen um die Welt und untersuchte die Eismeer-
küste von Ostsibirien auf Schlittenreisen, war dann
eine Zeit Generalgouverneur von Russisch-Amerika
und später Verweser des Marineministeriums; ge-
storben 1870 zu Dorpat.)
Kleinere Mitteilungen.
Beiträge zur Frage nach dem wirtschaft-
lichen Werte der Vögel bringt G. Rörig in
Band IV, Heft i, 1903 der „Arbeiten aus der
Biologischen Abteilung für Land- und Forstwirt-
schaft am Kaiserl. Gesundheitsamte". Zwei um-
fangreiche Arbeiten veröffentlicht der Verfasser
darin: I. Studium über die wirtschaftliche Be-
deutung der insektenfressenden Vögel. 2. Unter-
suchungen über die Nahrung unserer heimischen
Vögel, mit besonderer Berücksichtigung der Tag-
und Nachtraubvögel; ferner noch: Über den
Nahrungsverbrauch einer Spitzmaus.
In einer lehrreich geschriebenen Einleitung
gibt der Verfasser seinen Standpunkt zu der viel-
umstrittenen Frage nach der sogenannten „Nütz-
lichkeit" oder „Schädlichkeit" der Tiere kund. Er
warnt mit Recht eindrücklichst davor, etwa aus
Einzelbeobachtungen voreilige Schlüsse auf die
Gesamtheit zu ziehen, sowie die lokale wirt-
schaftliche Bedeutung eines Tieres in falscher
Interessenpolitik als maßgebend hinzustellen. Zur
richtigen Beurteilung irgend einer Vogel- oder
sonstigen Tierart ist es notwendig „ihr ganzes
Verhalten, die Lebensäußerungen in ihrer Gesamt-
heit" kennen zu lernen; sonst verlieren wir uns
in Einzelheiten.
Nachdem hierauf die Bedeutung der nützlichen
Insekten und ihre Bedrohung durch die Vögel
behandelt worden ist, kommt der Verfasser zu
dem wichtigsten und interessantesten Teile der
ganzen Broschüre, zu dem Berichte über die mit
größter Gründlichkeit und Sachkenntnis angestellten
Fütterungsversuche. In der richtigen Voraus-
setzung, daß der um die wirtschaftliche Bedeutung
unserer insektenfressenden Vögel entbrannte Streit
nicht durch die „Häufigkeit der Wiederholung von
Behauptungen, sondern durch neue Tatsachen bei-
gelegt werden kann", bringt der Verfasser Tat-
sachen, und zwar solche, denen man nicht mit
irgend einer in der Natur gemachten Einzel-
beobachtung widersprechen darf, sondern die man
hinnehmen muß als erworben und festgestellt
durch eingehende lange Versuche und zwar vor-
genommen unter Bedingungen, die den natürlichen
Verhältnissen möglichst entsprechen.
Zunächst werden die Versuchsgerätschaften,
nämlich die auf dem Versuchsfelde Dahlem höchst
praktisch eingerichteten Flugkäfige , sowie die
Futterapparate und Futtermittel näher beschrieben.
Es soll nicht versäumt werden, die Vogelwirte
auf diesen Abschnitt, aus dem sie vieles lernen
können, besonders hinzuweisen. Durch die Ver-
suche will der Verfasser fürs erste feststellen, ob
die Vögel durch ihre Nahrungsaufnahme überhaupt
imstande sind, einen merkbaren Einfluß auf den
vorhandenen Insektenbestand auszuüben. Es wird
584
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 37
also zunächst die Frage aufgeworfen: Wieviel
verzehren die insektenfressenden Vögel } Wir
müssen erstaunt sein über die Futtermengen, die
ein so kleiner Organismus, wie ihn etwa eine
Meise darstellt , verarbeitet. Der Verfasser gibt
nicht die Nahrungsmasse an sich an , sondern
deren Trockensubstanzgehalt, den er wiederum in
Beziehung zum Körpergewicht des Vogels stellt,
so daß wir eine klare Übersicht gewinnen und
leicht Vergleiche anstellen können. Das vom
Verfasser schon früher aufgestellte Gesetz, daß ein
Vogel um so mehr Nahrung aufnimmt, je kleiner
er ist, wird wiederum bestätigt und weiter ge-
funden, daß der Nahrungsverbrauch im Sommer
viel stärker ist wie in den kurzen Wintertagen.
So gebraucht z. B. ein Rotkehlchen im .Sommer
20,0 % seines Körpergewichtes an Trockensubstanz,
im Winter nur 13,4"/',,, oder ein Schwarzblättchen
im Sommer 19,2 "/o, im Winter 10,0%; ein Wald-
kauz dagegen nur 5 */„ , eine winzige Spitzmaus
aber 20%. — Kurz, die Versuche liefern den
Beweis, daß wir an den insektenfressenden Vögeln
höchst wichtige , ja unentbehrliche Beschützer
unserer Kulturpflanzen haben , denn wenn auf
Seite 34 der vorliegenden Broschüre angegeben
wird, daß 20 Meisen, das ist etwa i Paar mit
seiner Nachkommenschaft, jährlich etwa einen
halben Zentner Trockensubstanz, also wenigstens
I */., Zentner lebende Insekten, deren Eier, Larven
oder Puppen verbrauchen, so kann gewiß niemand
leugnen, daß diese respektable Leistung im I laus-
halte der Natur merklich mitspricht.
Wie interessant sind ferner die Versuche, die
der Verfasser mit dem Verfüttern von schädlichen
Insekten selbst anstellt. Da werden Eier, Raupen
oder Puppen unserer gefürchtetsten Forst- und
Gartenschädlinge in die mit Meisen und Gold-
hähnchen bevölkerten Flugkäfige gebracht und
hier den Vögeln in möglichst natürlicher Weise
dargeboten. Wenn wir dann lesen , mit welcher
Gier die gefiederten Waldpolizisten über diese
ihnen wohlbekannte Nahrung in den meisten
Fällen herfallen und welche Unmengen sie davon
in kurzer Zelt vertilgen, so müssen die berechtigten
Schlüsse, die wir daraus für die freie Natur ziehen
dürfen , gewiß günstig für die insektenfressende
Vogelwelt ausfallen. Recht instruktive Abbildun-
gen verdeutlichen das von den geschickten Meisen
an den infizierten Stämmen oder Zweigen vorge-
nommene Zerstörungswerk.
Die zweite Arbeit bildet die Fortsetzung von
bereits früher über diesen Punkt vom Verfasser
veröffentlichten Berichten. Es handelt sich um
Magen- und GewöUuntersuchungen. Mit recht
stattlichen Zahlen wird uns teilweise aufgewartet.
Vom Mäusebussard liegen z. B. 784 Einzelbeobach-
tungen vor, vom Turmfalken 362. Die unbedingte
Nützlichkeit dieser beiden Mäusevertilger wird
durch die ausgeführten Untersuchungen wieder
schlagend bewiesen, und ihr Schutz allen Jägern
und Landwirten ans Herz gelegt. Mit Bussard,
Turmfalk, Waldkauz und Steinkauz wurden auch
Fütterungsversuche angestellt, die manche inter-
essanten Aufschlüsse über die Menge der aufge-
nommenen Nahrung sowie über Gewöllbildung
und -Ausstoßung zutage förderten. Diese letztere
hält mit dem Kröpfen nicht gleichen Schritt, son-
dern kann zuweilen recht lange auf sich warten
lassen. Hervorgehoben soll noch werden, daß es
dem Verfasser bei seinen Magen- bzw. GewöU-
studien durch Auffindung der betreffenden Schädel
gelungen ist, wieder drei neue Fundorte für die
in Deutschland sehr seltene nordische Wühlratte
(Arvicola ratticeps) nachzuweisen. Dieselben ver-
teilen sich auf Ostpreußen, Pommern und Mecklen-
burg.
Die Arbeiten Rörigs bedeuten einen willkom-
menen Fortschritt auf dem Gebiete der Erforschung
des wirtschaftlichen Wertes der heimischen Vogel-
welt. J. Thienemann,
Leiter der Vogelwarte Rossitten.
Über den Einflufs der Nahrung auf die
Länge des Darmkanals teilt Edw. Babak im
Biologischen Zentralblatt (23. Bd. 1903) interessante
Experimente mit. Es ist allgemein bekannt, daß
die Länge des Darmes in erster Linie von der
Qualität der Nahrung abhängt, insofern wir bei
den Pflanzenfressern den längsten Darmtractus
antreffen, bei den F"leischfressern den kürzesten,
während die Omnivoren in der Mitte zwischen
beiden Extremen stehen. So beträgt beispiels-
weise die Länge des Darmes bei Schaf und Ziege
27 Körperlängen, beim Rind 20, beim Schwein
14 — 15, beim Kaninchen 10, beim Hund 6 und
bei der Katze nur 4. Diesen tatsächlichen Be-
funden der vergleichenden Morphologie steht nun
nur eine geringe Zahl von Beobachtungen und
Experimenten gegenüber, die einen direkten Ein-
{\uß der Art der Nahrung auf die Beschaffenheit
des Darmkanals zu erweisen suchen, und zudem
sind die meisten derselben mehr oder minder
stark angezweifelt worden. Am vorteilhaftesten
werden derartige Versuche mit Omnivoren ange-
stellt, da bei ihnen ein Wechsel von Pflanzen- und
Fleischnahrung auf die geringsten Schwierigkeiten
stößt, und Verf wählte deshalb zu seinen Expe-
rimenten Kaulquappen von Fröschen, die sowohl
tierische wie pflanzliche Nahrung zu sich nehmen
und am besten bei gemischter Nahrung bestehen.
Einseitige Ernährung hatte nun höchst bemerkens-
werte Modifikationen des Darmkanals zur F'olsre.
a
Schemutische Darstellung des Darmknäuels von Froschlarven.
a bei Pflanzennahrung, d bei Fleischnahrung.
N. F. III. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
585
Wurden die Larven mit Fleisch genährt, so wies
der Darm nur einige wenige Spiraltouren auf,
wurde dagegen Pflanzennahrung gereicht, so wuchs
die Zahl der Windungen ganz beträchtlich , und
während weiter das Gesamtvolumen des Darm-
knäuels im wesentlichen bei beiden das gleiche
blieb, war der Durchmesser des Darmes bei den
Pflanzenfressern um das 2 — 3 fache geringer als
bei den Fleischfressern. (Vgl. Fig. a und b.) Bei
gemischter Nahrung bildete sich im wesentlichen
der Typus der Pflanzenfresser aus, nur war der
Durchmesser des Darmes etwas größer. Die
Länge des Darmtractus (von Speiseröhre bis After
gemessen) betrug vor der Metamorphose bei den
Pflanzenfressern sieben Körperlängen , bei den
Fleischfressern 4,4 Körperlängen, und diese Unter-
schiede blieben während der ganzen Larvenperiode
bestehen. Erst gegen das Ende der IVIetamorphose
verkürzt sich der Darmtractus sehr bedeutend,
und zwar ungleich schneller und beträchtlicher
bei den Pflanzenfressern als bei den Pleischfressern,
so daß der jung ausgebildete Frosch stets die
gleiche Darmlänge von i — 2 Körperlängen be-
sitzt, gleichviel ob er bei reiner Pflanzen- oder
reiner Fleischnahrung seine Metamorphose durch-
machte. Erwähnt sei noch , daß bei frei in der
Natur aufgewachsenen Kaulquappen eine Darm-
länge von nicht weniger als 16 Körperlängen fest-
gestellt werden konnte, wäiirend dieselbe bei den
mit reiner Pflanzenkost in Gefangenschaft aufge-
zogenen Individuen im Maximum nur 8,4 erreichte.
Unterschiede in der Beschaffenheit des Darmtractus
bei pflanzlicher und tierischer Nahrung ergab
weiter noch die mikroskopische LIntersuchung,
insofern bei l'leischfressern die Muskellagen der
Darm Wandung stark verdickt erscheinen, bei den
Pflanzenfressern sich dagegen auf eine äußerst
zarte und dünne Schicht reduzieren. Aus den
oben angegebenen Dimensionen des Darmtractus
geht ferner hervor, daß die Verdauungsfläche im
Verhältnis zum kubischen Inhalt des Darmes bei
den Pflanzenfressern ungefähr zweimal so groß ist
wie bei den Fleischfressern , wie es die geringe
Ausgiebigkeit der Pflanzenkost notwendig macht.
Über das kausale Verhältnis zwischen Nahrung und
Beschaffenheit des Darmkanals lassen sich nur Ver-
mutungen äußern, es könnten in Betracht kommen
einmal mechanische Einwirkungen der Pflanzennah-
rung, sei es infolge ihrer voluminöseren Beschaffen-
heit oder infolge der Reibung ihrer einzelnen härteren
Teilchen, und dann chemische Reize, veranlaßt
durch den verschiedenen Gehalt an Proteinstoff'en,
an Kohlehydraten und an anorganischen Stoffen.
J. Meisenheimer.
Überzählige organische Bildungen. — Schon
seit alter Zeit haben überzählige Bildungen das Inter-
esse weiterer Kreise erregt. Meist wurden sie als Miß-
bildungen oder „Difformitäten" gesammelt und be-
schrieben ; doch konnte ihr gelegentliches, seltenes
Auftreten bislang zu einer befriedigenden Erklärung
kaum führen, da die Untersuchungen auf einzelne oder
nur wenige Stücke beschränkt blieben. Auf Grund
eines nach dieser Richtung hin äußerst umfang-
reichen und mannigfaltigen Materials aus deii Reihen
der Wirbellosen und besonders der Wirbeltiere
hat jetzt Prof. Tornier das Entstehen solcher
überzähligen Bildungen nach einheitlichen Ge-
sichtspunkten zu erklären versucht. Er behandelt
die Bildung überzähliger Schwanzspitzen bei Eid-
echsen, überzählige Gebilde an den Gliedmaßen,
überzählige Wirbelpartien und Doppelköpfe, Doppel-
gesichter und Zwillingsbildungen.
Die Untersuchungen zeigten überall, daß „über-
zählige Bildungen nur aus Wunden durch falsche
Verwendung der Regenerationskraft des Organis-
mus" entstehen. Solche Wunden entstehen aber
durch technische Kräfte wie Druck, Zug, Ver-
biegung und Knickbeanspruchung, so daß nach
ihrer Einwirkung ganz charakteristische Verbil-
dungen entstehen, aus denen noch im Alter des
Tieres zu erkennen ist, wie sie entstanden sind.
Die Richtigkeit seiner Ansichten konnte Tornier
experimentell für eine Anzahl der in der Natur
vorkommenden überzähligen Bildungen beweisen.
Die zwei- und dreizinkingen Gabelschwänze
der Eidechsen entstehen durch Einwirkung biegen-
der Kräfte. Triftt dabei der Scheitel der Ver-
biegung mit der Stelle zusammen, an der zwei
Wirbel sich berühren , so entsteht dort an der
Zugseite eine klaffende Rißwunde im Schwänze,
die zwei Wundflächen zeigt, während an der An-
griffsstelle der biegenden Kraft der Schwanz ab-
bricht und bald eine Ersatzspitze regeneriert. Das
Verhalten der beiden Scheitelwundflächen aber ist
davon abhängig, ob sie dicht aneinander liegen
oder auseinanderklaffen. Im ersten Fall wird eine
überzählige Schwanzspitze angelegt , die jedoch
unentwickelt bleibt, im anderen Falle werden je
nach der Breite des Risses eine oder zwei Skelett-
röhren gebildet, so daß eine zwei- bzw. dreiteilige
Schwanzwirbelsäule entsteht. Letzteres braucht
äußerlich nicht hervorzutreten; denn meist wachsen
die beiden Skelettröhren parallel nebeneinander und
werden von einer gemeinsamen Hauthülle um-
geben (vgl. Fig. I u. 2). — Eine Zusatzspitze
Fig. I. Überzählige Schwanzspitze mit einer Skelcttröhre (jj).
2s Zugscheitcl , a/i Schvanzwirbelsäule, ts WirbelteilsteUe,
J> Richtung der biegenden Kraft, es Ersatzspitze,
586
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 37
kann ferner am Anfange eines Schwanzregenerates
oder aus einem solchen heraus entstehen.
Auch an den Gliedmaßen können überzählige
Bildungen auftreten (Poly- oder Hypermelie). Einige
Hauptformen sollen kurz angeführt werden :
Fig. 2. Überzählige Schwanzspitze mit zwei Skclctlröhrcn
(ss' u. ss^) aus einer sehr weitklaffenden Wunde entstanden.
Buchstabenbezeichnung wie in Fig. I.
Bei Schweinen treten an der Gliedmaßen-
innenseite ein oder zwei überzählige Zehen auf
Ihr Entstehen muß auf ein Zersprengen des inneren
Fußwurzelknochens der unteren Reihe, des bei
den Schweinen vorhandenen Carpale i, zurück-
geführt werden (Fig. 3). Klafft die Wunde sehr
M',
D-,
D, D,
Fig. 3. Fuß des Schweines mit überzähliger Zehe. {D\ A/4).
C Carpale, N Hamatum. M Metacarpale, D Finger.
weit, so entstehen zwei überzählige Zehen; bei
geringerer Entfernung der Wundränder entsteht
nur eine. — Ähnlich verhält es sich bei den
Cerviden. Hier ist es das Carpale 3, das bei
Zersprengung zur Bildung überzähliger Zehen
führen kann. Doch können auch Doppelhufe sich
ausbilden, ohne daß die zu dem Hufe gehörigen
Knochen beteiligt sind. Hervorgerufen werden
solche Verbildungen im embryonalen Leben des
Tieres durch mechanische Einwirkung des Amnions,
was gerade an dem erwähnten Doppelhufe des
Rehes von Tornier klar und überzeugend nach-
gewiesen ist.
Das Entstehen gegabelter Gliedmaßen, das in
der Natur besonders bei Laufkäfern beobachtet
ist, wird auch in analoger Weise durch Verbiegung
erklärt: aus einer durch Biegung hervorgerufenen
Scheitelwunde bildet sich ein einzelner (oder bei
weit klaffender Wunde zwei) Gliedmaßenabschnitt
heraus. Durch Bruch des Ober oder Unterschenkels
entstehen — genau wie bei den Käfern — auch
bei den Wirbeltieren in der Embryonal- oder Jugend-
zeit überzählige Gliedmaßenabschnitte. Derartig
verbildete Gliedmaßen wurden von Tornier an
Larven von Triton cristatus und Axolotl
experimentell hervorgerufen.
Ganze überzählige Gliedmaßen sind bei Fröschen,
Enten und Hühnern beobachtet; sie entstehen
aus Wunden, die ein Schulter- oder Beckengürtel
durch Verbiegung einzelner seiner Partien erhält.
Ein Exemplar Rana esculanta besaß an der
rechten Körperhälfte 3 Gliedmaßen, von denen
also zwei überzählig waren. In der frühesten Jugend
des Tieres war das Schulterblatt in seinem Halse
durchbrochen, und da weit getrermte Wundflächen
auf diese Weise entstanden waren, so hatte jede
,,den von der Wunde peripher liegenden Teil des
Schultergürtels mit der zugehörigen Gliedmaße
su]ierregenetisch ausgebildet." Hühner und Enten
mit überzähligen Gliedmaßen besaßen außer letzteren
noch ein bis zwei Blinddärme mehr als sie nor-
malerweise besitzen, ja, noch mehr; ihr Darm
gabelte sich vor seinem Ende in zwei Kloaken,
von denen jede für sich in einem After endete.
Auch hier lag eine Sprengiuig des Beckengürtels
dem Auftreten der überzähligen Gebilde zugrunde.
Überzählige Wirbelpartien entstehen dann, wenn
bei einem Embryo die Wirbelsäule bzw. ein Teil
derselben über ein bestimmtes Maß verbogen
wird, ohne daß dabei Haut- oder Weichteileinrisse
entstehen. Tritt aber letzteres ein, so entsteht
eine weit bedeutendere Regeneration: zwei Köpfe
bilden sich bei einem Risse in die Weichteile des
Halses und die Halsvvirbelsäule, zwei Gesichter
bei einem Längsrisse durch die Weichteile einer
Gesichtshälfte und der Gesichtsknochenanlagen,
Zwillingsformen bei Rissen in den Steißabschnitt
oder die Brustregion der Embryonalanlagen.
Bezüglich der Ausbildung der Regenerate fand
Tornier, daß ,,ein Regenerat von seiner Nachbar-
schaft derart beeinflußt wird, daß diese den Sym-
metriecharakter bestimmt, den das Regenerat an-
nehmen muß", da sie es zwingt, mit ihm ein
Synimetrieverhältnis einzugehen (Zupassungs- oder
Symmetriegesetz).
Tornier sucht also die Art und Weise zu er-
klären, nacii der ein Organismus sich nach physi-
kalisch-technischen Gesetzen aufbaut, und zu er-
forschen, welche Fähigkeiten er im Anschluß daran
entwickelt. Er nennt diese Lehre — analog zu
dem schon früher aufgestellten Ausdrucke „Bio-
chemie" — ,, Biotechnik"; denn „jeder lebende
Organismus ist ein Organismus, der sich selbst
aufbaut und zwar durch chemische Prozesse und
nach den Gesetzen der menschlichen Technik."
Ein Grundgesetz der Biotechnik (durch Zug wird
N. F. m. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
587
das Gewebe im Wachsen gefördert) ilkistriert Tor-
nier folgendermaßen: Reibung — eine aus Zug
und Drucl< kombinierte Bewegung, in welcher stets
der Zug überwiegt — muß an der Stelle, wo sie
auf den Organismus einwirkt, eine Gewebswuche-
rung hervorrufen, woraus dann weiter folgt, daß
z. B. Schwimniliäute am Körper dort entstehen,
wo die Luft oder das Wasser beim Vorbeistreifen
am stärksten reibt, d. h. an den Seiten der Finger
und des Körpers. Dr. Rabes.
Die Forschungen über die Spezialisierung
der Rostpilze liaben in den letzten Jahren eine
solclie Fülle von neuen Tatsachen ergeben, daß
es nicht überflüssig erscheint, darüber einen kurzen
Überblick zu geben.')
Die älteren Pilzsj'Stematiker unterscheiden die
einzelnen Arten der Rostpilze nach ihren morpho-
logischen Merkmalen. Waren also zwei Uredinecn
in ihrer äußeren Gestalt gleich, so wurden sie zu
einer Art verbunden, selbst wenn sie verschiedene
Nährpflanzen bewohnten. Diese Anschauungen
wurden aber seit der Zeit erschüttert, wo der
Wirtswechsel gewisser Uredineen bekannt wurde
und der Nachweis gelang, daß von zwei morpho-
logisch gleichen Aecidien auf ein und derselben
Nälirpflanze das eine nur diese, das andere nur
iene Pflanze zu infizieren vermag. Alle Bemühungen,
die Infektion wechselseitig zu machen, schlugen
fehl und so wurde man mit Folgerichtigkeit darauf
geführt, daß zu zwei verschiedenen Teleutosporen-
pilzen zwei morphologisch nicht unterscheidbare
Aecidien gehören können. Damit war für die Unter-
scheidung der Arten der wirtswechselnden Rost-
pilze ein neues Prinzip an die Stelle der rein
morphologischen Unterscheidung gesetzt.
Als erstes Beispiel für zwei derartige Pilze
wurde durch de Bary Aecidium abietinum auf
Fichten bekannt. Dieser Autor hatte nachgewiesen,
daß zu dem Aecidium im Hochgebirge Chryso-
myxa rhododendri auf Rhododendron gehört.
Auffällig erschien ihm nun, daß das Aecidium im
Tieflande auftritt, wo der Zwischenwirt Rhodo-
dendron nicht vorhanden ist. Da gelang es, die
zu dem Tiefland-Aecidium gehörige Teleutosporen-
form in Chrysomyxa ledi nachzuweisen. Erst nach
dieser Erkenntnis wurde es dann möglich, einige
ganz geringe morphologische Unterschiede zwischen
den beiden Aecidien aufzufinden, die aber kaum
wahrnehmbar sind.
Ganz ähnlich, aber ungleich verwickelter liegen
die Verhältnisse bei den Blasenrosten der Kiefer
(Peridermium pini). Diese äußerlich kaum zu unter-
scheidenden Formen vermögen sehr verschiedene
Nährpflanzen zu infizieren. So lassen sich nach
den Teleutosporenwirten unterscheiden : Coleo-
sporium senecionis auf Arten von Senecio, C. sonchi
auf Sonchus- Arten, C. inulae auf Inula- Arten, C.
tussilaginis auf Tussilago farfara, C. petasitis auf
Petasites officinalis, C. campanulae auf Campanula-
Arten (wahrscheinlich mehrere .Arten), C. euphrasiae
auf Alectorolophus und Euphrasia officinalis, C.
melampyri auf Melampyrum, C. pulsatillae auf
Pulsatilla vulgaris und pratensis. Werden also
Sporen von einem Peridermium auf Kiefernadeln
auf die genannten Nährpflanzen übertragen, so ent-
steht nur bei einer eine Infektion und erst aus
diesem Erfolge läßt sich beurteilen, mit welcher
Peridermium-Art man es zuerst zu tun hatte.
Diese Beispiele ließen sich noch beliebig ver-
mehren, indessen genügen die angeführten, um die
behaupteten Tatsachen zu zeigen.
Man hat nun diese sich lediglicli durch die
Wahl des Wirtes unterscheidenden Pilze als speziali-
sierte Formen mit Eriksson bezeichnet. Ursprüng-
lich sollte diese Bezeichnung derartige P'ormen in
Gegensatz zu morphologisch unterscheidbaren Arten
bringen, sie sollte anzeigen, daß die Unterscheidung
nur nach biologischen Gesichtspunkten möglich
sei. Diese Grenzen hat man nicht immer ein-
halten köimen, und es wird darum jetzt eine große
Zahl von spezialisierten P'ormen als wirkliche Arten
angesehen.
Gegen diese Vermehrung der Arten ließe sich
kaum etwas einwenden — denn daß bei zunehmen-
der Kenntnis der Einzelheiten die Arten immer
mehr gespalten werden müssen, ist selbstverständ-
lich — aber es schließen sich doch daran viele
Fragen an, von deren Lösung die eigentliche Be-
antwortung des Problems, ob die spezialisierten
Arten Formen oder wirkliche .Arten sind , ab-
hängig ist.
Man kennt nämlich aus der Natur und aus
zahlreichen Kultur\crsuchen mehrere Arten, welche
in ihrer Spezialisierung schwankend sind, sei es,
daß sie in der einen Gegend sich diese, in der
anderen sich jene Wirtspflanze auswählten, sei es,
daß sie in der Kultur bei der Infektion der ein-
zelnen Pflanzen sich launisch zeigen. Ein glänzen-
des Beispiel dafür bilden die Puccinien auf Phalaris,
zu denen Aecidien auf Polygonatum, Convallaria,
Majanthemum und Orchisarten gehören. Während
es bisweilen nur gelingt, einen einzigen Aecidien-
wirt mit den Teleutosporen zu infizieren, werden
oft wieder auf sämtlichen möglichen Wirten In-
fektionen erzeugt. Klebahn hat nun gezeigt,
daß bei sehr langer Kultur von Phalarispuccinien
mit dem alleinigen Zwischenwirt Polygonatum
die Fähigkeit, die übrigen .Aecidienwirte zu in-
fizieren , allmählich abnimmt oder ganz erlischt.
Dieses eine Beispiel gibt uns den Schlüssel für
das Verständnis der sehr verwickelten Verhältnisse.
Wir müssen nämlich annehmen, daß die Rost-
pilze zuerst plurivor ') waren, d. h. daß sie bei
Auswahl ihrer Wirte nicht wählerisch waren. All-
mählich aber beschränkten sie sich im Laufe der
') Die nachfolgenden Zeilen gründen sich auf das soeben
erschienene vortreffliche Buch von H. Klebahn: Uie wirls-
wechselnden Rostpilze. Berlin (Uebr. Bornträgerj. Preis 20 Mk.
') Auf die sich an diese .'\nschauung Ed. Fisch er's an-
schließenden Hypothesen und Bedenken kann hier nicht ein-
gegangen werden.
588
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 37
phylogenetischen Entwicklung auf einzelne Wirts-
pflanzen , also ursprünglich . weite Formenkreise
spalteten sich in viele einzelne Arten, die sich
auch morphologisch different gestalteten. Dieser
Prozeß der Spaltung der Arten ist noch nicht ab-
geschlossen, sondern dauert auch in der Gegen-
wart noch fort, ohne daß bereits in jedem F'alle
rnorphologische Differenzierungen stattgefunden
haben. Jetzt wird auch das Verhalten der Phalaris-
puccinien deutlicli. Wir haben hier einen P'ormeii-
kreis vor uns, dessen auseinandergehende Formen
biologisch noch nicht gehörig gefestigt, noch nicht
genügend spezialisiert sind, um als wirkliche Arten
zu imponieren. Wir werden uns bei solchen Pilzen
mit der Bezeichnung „spezialisierte Formen" oder
„Gewohnheitsrassen" begnügen müssen. K 1 e b a h n
sagt in seinem Buche von diesen Formen sehr
richtig, so daß man seinen Worten nichts hinzu-
setzen kann : ,,Dem guten Takt des Beobachters
wird es in vielen Fällen überlassen bleiben müssen,
die Grenzen zwischen Art und Form zu ziehen.
Weitere Untersuchung wird daran noch manches
ändern, bald Zusammenziehungen, bald weitere
Zersplitterungen für notwendig erweisen. Man
sollte sich zwar tunlichst bemühen, die zersplitterten
Formen in Gruppen zusammenzufassen, aber darum
doch die Zersplitterung selbst nicht scheuen, denn
sie ist fast überall mit der wachsenden Erkenntnis
verknüpft gewesen und der beste Beweis für die
genauere Untersuchung der betreffenden Pilze."
G. Lindau.
Der geologische Bau der Hohen Tauern.
— Als Material tler ,, kristallinen Zentralzone" der
Alpen, die das Gebirge wie ein Rückgrat seiner
ganzen Länge nach durchzieht, werden auf unsern
geologischen Übersichtskarten außer Granit meist
kurz ,,Gneiß und Glimmerschiefer" angegeben.
Mit diesem Ausdruck werden aber ganz heterogene
Dinge zusammengefaßt. Die Erforschung der
Zentralzone befindet sich noch in ihrem Anfangs-
stadium, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Einmal ist die Petrographie, die wichtigste dabei
in Betracht kommende Hilfswissenschaft, wenig-
stens in ihren modernen , verfeinerten Unter-
suchungsmethoden, noch sehr jung. Die Gesteine
der kristallinen Massive befinden sich durchgehend
nicht mehr in ihrem ursprünglichen, sondern in
einem sehr veränderten Zustande, und es ist klar,
daß die Wissenschaft erst in der Kenntnis der
normalen Gesteine Erfahrungen gesammelt haben
mußte, ehe sie an die Untersuchung der veränder-
ten mit Erfolg herantreten konnte. Ferner ist die
Zahl der petrographisch ausgebildeten Geologen
keine große. Die durch ihre Fossilführung der
Altersbestimmung und damit auch der Erklärung
ihrer Tektonik leichter zugänglichen Schichtgesteine
der nördlichen und südlichen Kalkalpen haben
eine größere Anzahl von Forschern angelockt, als
die Gesteine der kristallinen Zentralzone. Wenn
man endlich daran denkt, welche Schwierigkeiten
dem Geologen in der wilden Hochgebirgswelt
entgegentreten, wie kurz die Sommermonate sind,
in denen das Arbeiten in jenen Höhen über-
haupt nur möglich ist, so versteht man leicht, daß
für uns in den geologischen Verhältnissen der
Zentralmassive noch viel Rätselhaftes liegt. Nur
an einige der Fragen , die sich bei der Unter-
suchung der kristallinen Zone der Alpen aufdrängen,
sei hier erinnert, vor allem an das schwierige
Problem der Gesteinsmetamorphose, an die geo-
logisclie Erscheinungsform der Tiefengesteine, an
die Lakkolithenfrage, die Entstehung der Fächer-
struktur in manchen Massiven und schließlich an
das Problem, ob die granilischen Massen der
Zentralalpen aktiv oder passiv an der Erhebung
des Gebirges teilgenommen haben. Auch hier
bestätigt sich aber immer wieder die Erfahrung,
daß eine sorgfältige Detailuntersuchung der einzige
Weg ist, um die Lösung dieser zunächst fast un-
lösbar erscheinenden Probleme erfolgreich anzu-
bahnen. In der Geologie hat die peinlich genaue
Durchforschung eines kleinen Gebietes stets dauern-
dere (wenn auch nicht momentan glänzendere)
Resultate gezeitigt, als kühne Profilentwürfe über
weite Strecken, die nur im Fluge durcheilt wurden.
Zweifellos sind verschiedene Stücke der Zentral-
zone von sehr verschiedenem Aufbau. Im folgen-
den wollen wir ein solches, das auf den Übersichts-
karten auch als „Gneiß und Glimmerschiefer" er-
scheint, ein wenig näher betrachten, nämlich den
westlichen Abschnitt der Hohen Tauern, von dem
der ,, Führer für die Exkursionen im westlichen
und mittleren Abschnitt der Hohen Tauern" von
Becke und Löwl eine Beschreibung gibt. (Führer
für die Exkursionen in Österreich, herausgegeben
vom Organisationskomitee des IX. Intern. Geol.-
Kongr. Wien. 1903. Nr. VIII und IX.)
Die Hohen Tauern grenzen im Norden längs
einer O — W streichenden Störungslinie an die
Zone einförmiger PhylHte, die sich vom Unterinn-
tal bis an die Enns erstreckt. Die eigentlichen
Tauern bestehen aus schiefrigen Gesteinen , in
welche granitische Massengesteine eingedrungen
sind. Man hat diese „Zentralgneiß", jene die
„Schieferhülle" genannt.
Die granitischen Gesteine treten in Form von
Kernen auf, um die sich die Schiefer herum-
schmiegen. Fünf solche Kerne lassen sich in den
Tauern unterscheiden , die man nach den Haupt-
gipfeln, die in ihrem Gebiet liegen, als Hochalm-,
Rathaus-, Sonnblick-, Granatspitz- und Venediger-
kern bezeichnet hat. Das Gestein ist vorwiegend
Granit, zum Teil aber auch Tonalit (d. i. ein
Ouarzdiorit, dessen Gemengteile Plagioklas, dunkel-
grünlich schwarze Hornblende, brauner Biotit und
reichlicher (Juarz sind). Meist ist es aber so stark
geflasert und geschiefert, daß es seinem Äußeren
nach den Namen Gneiß verdient. In seinen rand-
lichen Partien ist das Gestein des Venedigerkernes
aplitisch, d. h. die farbigen Gemengteile treten
gegen Feldspat und Quarz stark zurück. Man
findet diese Erscheinung oft am Rande intrusiver
Massen und sie ist somit beweisend für die intru-
N. F. III. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
589
sive Natur des Venedigergesteines. Diese wird
auch noch durch andere Merkmale angezeigt, von
denen das Auftreten aplitischer Gänge in der Schiefer-
hülle erwähnt sein mag. Der „Zentralgneiß" führt
eine Reihe von Mineralien, die sich als Neubildun-
gen kundtun und ein Resultat chemischer Um-
wandlungen in dem Gesteine sind. ' So finden sich
Calcit, Epidot, Granat u. a.
X.
Höchst bemerkenswert ist es, daß an den drei
großen streichenden Dislokationen, nämlich den
beiden Grenzlinien der Tauerngesteine und der
Pustertaler Verwerfung, SciiolJen von mesozoi-
schen Gesteinen in Grabenbrüchen eingeklemmt
sind. Es sind Glanzschiefer, Dolomite, Kalke, z.
T. mit Fossilien, welche die Altersbestimmung er-
möglichen , sowie Gips. Da diese vorwiegend
gr.-initischc, resp. tonalitische Intrusionen \
„SchieferhüUe" j
Pinzgauer _und Pustertaler Phyllite
archäischer Glimmerschiefer
Tauerngesteine
Dislokationen, z.
Teil mit einge-
klemmten Schol-
len mesozoischer
Gesteine.
Schematisches Profil durch die Hohen Tauern, nach den Angaben und der Karte von Becke und Löwl.
Die Schieferhülle hat eine sehr mannigfaltige
Zusammensetzung. Unten liegen Glimmerschiefer,
Ouarzite, Hornblendeschiefer und einzelne Kalk-
lager; darüber folgt eine Wechsellagerung von
Kalkphylliten und kalkarmen Schiefern, die aus
tonigen und mergeligen Sedimenten hervorgegangen
sind. Besonders diese obere Abteilung ist reich an
Einlagerungen von Chloritschiefern (umgewandel-
ten basischen Eruptivgesteinen) ; auch Serpentin-
stöcke mit prachtvollen Kontakterscheinungen
(von Weinschenk beschrieben!) kommen darin
vor. — Die Kristallinität dieser Schiefergesteine
erreicht ihren höchsten Grad in der Nähe der
Granitkerne, besonders wo diese, wie das am Ost-
und Westende des Venedigerkernes der Fall ist,
Ausläufer in die Schieferhülle hineinschicken,
zwischen denen dann Keile der letzteren sitzen.
Nach Becke darf aber gleichwohl eine plutonische
Kontaktmetamorphose wegen des h'ehlens der
charakteristischen Kontaktmineralien für den heu-
tigen Zustand der Gesteine erst in zweiter Linie
verantwortlich gemacht werden. Derselbe ist viel-
mehr im wesentlichen durch allgemeine Metamor-
phose verursacht.
Südlich von dem Gebiet der Tauerngesteine
und von ihm durch eine Dislokation getrennt, liegt
eine Zone archäischen Glimmerschiefers von großer
Einförmigkeit, der vielerwärts auf die Kalkphyllite
der Tauern hinaufgeschoben ist. Einige Intrusiv-
massen tonalitischer Gesteine und alter Granit-
gneiße kommen in diesen Glimmerschiefern vor.
Nördlich vom Pustertal zieht sich die Grenze
dieser Zone in westöstlicher Richtung dahin und
südlich schließen sich an sie den Pinzgauern ähn-
liche Phyllite an. Auch diese Grenze ist eine
Störungslinie.
triadischen Ablagerungen auch in ungleichför-
miger Lagerung auf der Schieferhülle liegen, so
ist das vortriadische Alter dieser letzteren zweifel-
los. Andererseits sind die Tauernschiefer wahr-
scheinlich jünger als die Pinzgauer Phyllite, die
z. T. dem Öbersilur angehören. Sie dürften dem-
nach ziemlich sicher paläozoisch sein. Die Intrusion
der Granite und Tonalite ist vielleicht während
der Carbonzeit erfolgt, einer Epoche, in welcher
gebirgsbildende Vorgänge und Intrusionen in be-
sonders hohem Maße stattfanden.
Ein in Nord-Süd Richtung durch die Hohen
Tauern gelegtes Profil, das aber ganz schema-
tisch gehalten ist, möge die verschiedenen Zonen
verdeutlichen. Man sieht daraus, daß die eigent-
lichen Hohen Tauern einen Graben darstellen.
So paradox es klingt — der höchste Kamm deS
Gebirges mit den höchsten Gipfeln gehört einem
versenkten Teil der Erdkruste an.
Dr. Otto Wilckens.
Kristallisierter Portlandzement. — Den
Ausführungen des Herrn Dr. Odernheimer in
Nr. 31 (S. 494) über kristallisierten Portlandzement
ist entgegenzuhalten, daß den Versuchen von Dr.
Schmidt und Ingenieur Unger nicht der Wert bei-
gemessen werden darf, den ihnen Herr Dr. Odern-
heimer gern beilegen möchte. Der sogenannte
kristallisierte Portlandzement der Genannten be-
steht, wie die Analysen deutlich ergeben haben,
aus weiter nichts als verunreinigtem Tricalcium-
silikat oder einer Verbindung, die dem Tricalcium-
silikat mindestens sehr nahe steht und etwa der
von Toernebohm aufgestellten Formel entspricht.
Dies ist ganz natürlich , da das Tricalciumsilikat
oder die ihm nahestehende Verbindung der Haupt-
590
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 37
bestandteil des Portlandzementes ist und natürlich
aus der geschmolzenen Masse herauskristallisiert,
geradeso wie etwa F"eldspatkristalle in Hohlräumen
im Granit auskristallisieren. Von kristallisiertem
Portlandzement kann ebensowenig die Rede sein
wie von kristallisiertem Granit oder dgl. , und
weim Herr Dr. Odernheimer meint, daß die Ver-
suche von anderer Seite irrtümlich mißdeutet
worden sind, so geht daraus nur hervor, daß ihm
die Antwort auf die Frage , warum es kristalli-
siertes Portlandzement überhaupt nicht geben kann,
trotz ihrer Einfachheit bisher noch nicht klar ge-
worden ist. Hätte Herr Dr. Odernheimer die Ein-
wände in der Literatur gegen die Bezeichnung
„kristallisierter Portlandzement" mit Verständnis ge-
lesen, so würde er nicht zu seinem Schlußsatze
haben kommen können. Dr. Fiebelkorn.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Natur liistorisc he Museen in den Vereinigten
Staaten. — Das New -Yorker Staatsmuseum hat eben eine
Publikation herausgegeben (Natural History Museums in the
United States and Canada. New York State Museum Bulletin
Nr. 62. Albany, 1903. 233 Seiten), in welcher alle in den
Vereinigten Staaten und Canada bestehenden naturhistorischen
Museen verzeichnet sind. Es wird hierin Auskunft geboten
über den Sitz und die leitenden Persönlichkeiten dieser Insti-
tute, die Art und den Umfang der wissenschaftlichen Arbeiten
sowie der Sammlungen usw. — Ende Juli 1903 bestanden in
den Vereinigten Staaten insgesamt 243 naturhistorische Museen,
in Canada, einschließlich Neutundland, deren 22. Die größte
Anzahl davon weist der Staat New-York auf (27), weiters
folgen Pennsylvanien (17), Illinois (13) und Massachusetts (12).
Viele dieser Museen sind den verschiedenen Staats- und Privat-
universitäten und anderen Hochschulen angeschlossen. — Von
den bedeutendsten Instituten sind zu nennen: das American
Museum of Natural History in New-York, das Vereinigte
Staaten Nationalmuseum in Washington , das Field Columbian
Museum in Chicago, das Harvard-Universitätsmuseum in Cam-
bridge (Massachusetts) etc. Das Buch wird jenen, die sich
über die naturwissenschaftlichen Museen und Sammlungen in
Nordamerika orientieren wollen , sicherlich von Nutzen sein.
Fehlinger.
Bücherbesprechungen.
Meyer's Historisch-Geographischer Kalender für
1904. VIll. Jahrgang. Mit 12 Planetentafeln und
354 Landschafts- und Städteansichten, Porträten,
kulturhistorischen und kunstgeschichtlichen Dar-
stellungen, sowie einer Jahresübersicht (auf dem
Rückdeckel). Zum Aufhängen als Abreißkalender
eingerichtet. \'erlag des Bibliographischen Instituts
in Leipzig und Wien. — Preis 1,75 Mk.
Historische und geographische Bilder aus allen
Landen, Völkertypen, Landschaften, Werke der Natur
und Kunst, Reproduktionen alter schöner Holzschnitte
und anderer Kunstblätter und moderner Photographien
ziehen , mit Begleitworten versehen, an uns vorüber.
Planetentafeln geben Aufschluß über die Erscheinungen
des Himmels.
Wilhelm Bölsche, Die Abstammung des
Menschen. Mit zahlreichen Abbildungen von
Willy Planck. S". (104 Seiten.) Stuttgart. Kosmos,
Gesellschaft der Naturfreunde. — Preis i Mk.
W^er eine kurze, gut geschriebene Darstellung über
die wichtigsten Punkte zu lesen wünscht, die in der
Frage zur Abstammung des Menschen , soweit die
Naturwissenschaft Antwort gibt, in Betracht kommen,
dem kann Bölsche's Schrift durchaus empfohlen wer-
den. Er sagt im Vorwort zutreffend : „!\Iag man den
Wert dieser Dinge anzweifeln — vor allem muß man
sie kennen ; ohne das ist jede Diskussion unnütz."
Verfasser hat sich mit Erfolg bemüht, den Gegenstand
in volkstümlicher Sprache vorzubringen.
Die Annales mycologici (editi in notitiam
.'>cientiae myculogicae universalis) redigiert von H.
Sydow (Berlin, Kommissionsverlag Friedländer u. Sohn),
haben sich die Aufgabe gestellt, eine Übersicht zu
gewähren über sämtliche Erscheinungen auf dem Ge-
biet der Mykologie. Bei dem enormen und noch
fortwährend wachsenden Umfang der mykologischen
Literatur ist ein derartiges Organ gewiß zu begrüßen.
Der vorliegende erste Band der A. m. (bestehend aus
6 Heften) Jahrgang 1903, 570 S. und 11 Tafeln,
zeigt , in welcher Weise der Herausgeber dem Ziel,
welches er sich gesteckt hat, gerecht zu werden
sucht. Einen sehr bedeutenden Raum nehmen
Original arbeiten ein (in deutscher, französischer,
italienischer und englischer Sprache) , unter welchen
wieder die meisten die Systematik der Pilze zum
Gegenstand haben. Aber auch .Arbeiten morphologi-
schen, entwicklungsgeschichtlichen und pathologischen
Inhalts sind vertreten. Die meisten haben speziell
mykologisches Interesse. Hier sei nur auf die Haupt-
ergebnisse einiger weniger Untersuchungen von all-
gemeinerer Bedeutung hingewiesen :
Van Hall beschreibt die Ursache des Absterbens
der Stöcke von Johannes- und Stachelbeeren, welche
in der \\'irkung eines parasitischen Pilzes C y t o -
sporin a Ribis zu suchen ist (die Krankheit tritt
besonders in Nordholland, stellenweise aber auch in
Norddeutschland auf), Matruchot beschreibt eine
nur Conidien bildende Mucorinee aus dem französi-
schen Sudan (sinnreich ist die Methode des Verf.,
trotz des Mangels höherer Fruktifikationsorgane die
systematische Stellung des Pilzes zu ermitteln. Er
fand nämlich, daß auf diesem Pilz eine andere Muco-
rinee: Pipto cephalis Thieghemiana schma-
rotzt; da diese aber gewissermaßen als Reaktion auf
bestimmte Unterabteilungen der INIucorineen gelten
kann , so schließt Verf. aus dem Auftreten dieses
Parasiten auf die systematische Zugehörigkeit des nur
Conidien bildenden Pilzes). H. und P. Sydow weisen
nach , daß die sogen. Mikrosporen des Lebermooses
Anthoceros dichotomus nichts anderes sind
als die Spuren eines parasitisch auf dieser Pllanze
lebenden Brandpilzes (Tille tia). Wehner beschreibt
den bei der Hanfröste tätigen Schimmelpilz (Mucor
hiemalis), Marsha'l Ward macht Mitteilungen
über die Spezialisierung des Parasitismus der auf
B r o m u s arten lebenden P u c c i n i a formen usw.
Etwa gleichen Raum wie die Originalarbeiten
nehmen die Referate und kritischen Besprechungen
ein. Ein besonderes Gewicht ist hier darauf gelegt,
N. F. m. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
591
den Leser über die umfangreiche ausländische (bes.
französische, englische und italienische) mykologische
Literatur zu orientieren. Wertvoll ist ferner der Ab-
schnitt „neue Literatur". Endlich sei bemerkt , daß
auch die Flechten berücksichtigt werden, was bei der
weiten Verstreuung der lichenologischen Literatur
recht zu begrüßen ist. Möchten sich die Annales
Mycologici , welche heute schon für jeden, der sich
mit dem Studium der Pilze und Flechten beschäftigt,
unentbehrlich sind , in der begonnenen Weise weiter
entwickeln und sich neue Freunde erwerben !
Neger (Eisenach).
Dr. Richard Lepsius, Prof etc. in Darmstadt, G e o-
logie \on Deutschland und den angren-
zenden Gebieten. 2. Teil : Das östliche
und nördliche Deutschland. Lief I (Bogen
I — 16). Mit den Profilen i — 58. Wilhelm Engel-
mann in Leipzig 1903. — Preis 8 Mk.
Die Lieferung bespricht den Ostteil des hercyni-
schen Gebirgssystems Nord- und Mitteldeutschlands
und zwar zunächst in einer generellen Übersicht, um
sodann auf das Erzgebirgssystem , das Fichtelgebirge,
das sächsische Granulitgebirge, das Eibsandsteingebirge
und die Lausitzer Granitplatte und das ostthüringische
Schiefergebirge näher einzugehen.
Dr. Alfred Grund, Die Karsthy drographi e.
Studien aus Westbosnien, (.^bh. VII. 3.) Mit 14
Abbildungen im Text und auf 3 Tafeln. (200 S.)
gr. 8. Geographische .'\bhandlungen herausgegeben
von Prof Dr. Albrecht Penck in Wien. B. G.
Teubner in Leipzig, 1903. — Preis 6,80 Mk.
Der Verfasser versucht es in dieser Arbeit, der
Gesetzmäßigkeit der Karsthydrographie nachzuspüren,
um für die verwirrende Zahl von Einzelerscheinungen
ein einfaches einheitliches Gesetz aufzustellen, in wel-
chem alle Erscheinungen Platz finden. Er bietet
hierfür reiches Beobachtungsmaterial aus dem west-
bosnischen Karst, den er bei mehrmaliger Bereisung
kennen lernte und über den er zahlreiche neue geo-
logische Beobachtungen mitteilt.
Nicht der „Fluß", sondern die „Quelle" ist nach
dem Verf die Ursache der eigentümlichen Erschei-
nungen der Karstländer. Die im Karst beobachteten
Überschwemmungen sind nicht Flußüberschwemmungen
mit unzureichendem Abfluß, sondern leiten sich von
Grundwasserschwankungen ab.
Leo Frobenius, G e o g r a p h i s c h e K u 1 1 u r k u n d e.
Eine Darstellung der Beziehungen zwischen der
Erde und der Kultur nach älteren und neueren
Reiseberichten zur Belebung des geogra[)hischen
Unterrichts. 4 Teile; Afrika, Ozeanien, Ame-
rika und Asien. XIV und 919 Seiten, mit iS
Tafeln Abbildungen und 42 Kartenskizzen. Leipzig,
Friedrich Brandstetter, 1904." — Preis für jeden Teil
2.50 Mk.
Es ist eine gute Idee, Leseproben aus berühmten
und auch minder bekannten Reisewerken zu geben.
und die vorliegende Ausführung dieser Idee ist als
erster Versuch in der Richtung recht brauchbar und
wird um so leichter Beachtung finden, als die ein-
zelnen Lieferungen durch den wirklich billigen Preis
von nur 2,50 Mark für jeden Teil von je über 200
Seiten Stärke die Anschaftung sehr erleichtern. Vor-
wiegend handelt es sich um wesentlich ethnographische
Abschnitte aus den Werken der Reisenden, die Fro-
benius durch eingeschaltete Kapitel und durch die
Einleitung miteinander zu verknüpfen bemüht ist.
Literatur.
Berthold, Prof. Dir. Dr. G. : Untersuchungen zur Physiologie
der ptlanzlichen Organisation. 11. Tl. I.Hälfte. (IV, 257 S.)
gr. 8". Leipzig '04, W. Engelmann. — 6 Mk.
Gutberiet, Dr. Const. : Lehrbuch der Philosophie. (3. Bd.)
Die Psychologie. 4., verm. u. verb. .'\utl. (XIV, 383 S.)
gr. 8". Münster '04, Theissing. — 4 Mk.
Haller, Prof. B. : Lehrbuch der vergleichenden Anatomie.
2. Lfg. (VIll u. S. 425-914 m. 466 Abbildgn.) gr. &<>.
Jena '04, G. Fischer. — 12 Mk.
Klaatsch, Prof. Dr. Herrn.: Grundzüge der Lehre Darwin's.
Allgemein verstandlich dargestellt. 3. durchgesehene .Aufl.
(175 S. m. I Bildnis.) 8°. Mannheim '04, J. Bensheimer's
Verlag, — 1 Mk. ; geb. 1,50 Mk.
Penzig, (>., und P. Saccardo: Icuues fungorum javanicorum.
Mit 80, z. T. kolor. Taf. in Photozinkotypie. (VI, 1 24 -S.)
gr. 8". Leiden '04, Buchh. u. Druckerei vorm. C. [, Brill.
— 48 Mk.
Pelz, Alfr. : Geologie des Königr. Sachsen in gemeinverständ-
liclier Darlegung. (VII, 152 S. m. 121 Fig. u. 1 Karte.)
gr. 8". Leipzig '04, E. Wunderlich. — 3 Mk. ; geb. 3,60 Mk.
Röhmann, Prof. Dr. F. : .\nleilung zum chemischen .arbeiten
f. Mediziner. 2. Aufl. (VI, 98 S. m. 32 Abbildgn.) gr. 8».
Berlin '04, S. Karger. — Geb. in Leinw. 4 Mk.
Schwalbe, Prof. Dr. Jul.: Grundriß der praktischen Medizin.
Mit Einschluß der Gynäkologie (bearb. v. Dr. A. Czempin),
der Haut- u. Geschlechtskrankheiten (bearb. v. Dr. M. Jo-
seph). Für Studierende u. Arzte. 3., verm. Aufl. (XIX,
570 S. m. 65 Abbildgn.) gr. 8". Stuttgart '04, F. Enke.
— 8 Mk. ; geb. in Leinw. 9 Mk.
Schmidt, Prof. G. C. : Die Kathodenstrahlcn. Mit 50 eingedr.
Abbildgn. (VII, 120 S.) Braunschweig '04, F. Vieweg &
Sühn. — 3 Mk. ; geb. 3,60 Mk.
Weber, Prof. Dr. Ma.\ : Die Säugetiere. Einführung in die
.Anatomie u. Systematik der rezenten u. fossilen Mammalia.
(XII, 866 S. m. 567 Abbildgn.) gr. 8». Jena '04, G. Fischer.
— 20 Mk. ; geb. 22,50 Mk.
Briefkasten.
Herrn M. G. — Ein treffliches Buch über Blütenökologie
ist gerade im Erscheinen begriffen, nämlich: Kirchner, Loew
und Schröter: Lebensgeschichte der Blütenpflanzen Mittel-
europas (Eugen Ulmer in Stuttgart). Die andere Frage bitte
zu wiederholen.
Herrn E. — Über „Schwarzwässer" linden Sie Auskunft
in Josef Reindl ,,üie schwarzen Flüsse Südamerikas" (Theodor
Ackermann in München 1903). In einer der nächsten Num-
mern der Naturw. Wochenschr. soll infolge Ihrer Frage eine
Auseinandersetzung über diese Wässer mit Bezugnahme auf
das genannte Buch erfolgen.
Herrn K. B. in Hildesheim. — Es sind in dem Satz
Schwendener's die Ansichten gemeint, die nicht auf natur-
wissenschaftlichem Boden gewachsen sind. Ein besonderes
Werk, das alle Theorien und Ansichten wiedergibt, die die
Natur rein ethisch und spekulativ-philosophisch betrachten,
gibt es nicht; am besten ist eine Geschichte der Philosophie,
592
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 37
insbesondere das Kapitel über Schelling und Hegel einzusehen,
z. B. in Zeller's Geschichte der deutschen Philosophie.
Herrn E. B. in Einbeck. — Literatur zum Bestimmen
von Käfern finden Sie in der Naturwiss. Wochenschrift vom
6. Sept. 1903 p. 588.
Herrn C. G. in Neuwied (Rhein). — Unter Drahtwurm
versteht man die „drahtförmige" Larve des Käfers Agriotes
segetis, die an verschiedenen Kulturpflanzen Schaden anrichtet.
Als wirksames Gegenmittel empfiehlt man u. a. das Kalken;
36 — 72 Ztr. Kalk pro Hektar mit der Saat untergeeggt, be-
wirkte, daß diese Felder 5 — 6 Jahre vom Drahtwurm ver-
schont blieben. Ebenso hat der im Boden frisch und fein
verteilte Kalk Steckrüben , Kopfkohl und Runkelrüben vom
Wurm freigehalten. — Vergl. Sie im übrigen das Büchclchen :
,, Pflanzenschutz" von Frank und Sorauer.
Herrn R. in Brüssel. — In Deutschland durch Hermann
Paetel, Berlin W 30, zu beziehen: International Catalogue of
Scientific Literaturc. Preis des Jahrganges: £ 18. Der erste
Jahrgang enthält folgende Bände : A) Mathematik I ^ Sh.,
B) Mechanik 10,6 Sh., C) Physik, L Teil 21 Sh., IL Teil
15 Sh., D) Chemie, I. Teil 21 Sh., IL Teil 18 Sh., E) Astro-
nomie 21 Sh., F) Meteorologie 15 Sh., G) Mineralogie 15 Sh.,
H) Geologie 15 Sh., 1) Geographie 15 Sh., K) Paläontologie
10,6 Sh., L) Allgemeine Biologie 10,6 Sh., M) Botanik, 1. Teil
21 Sh., IL Teil 18 Sh., N) Zoologie 37,6 Sh., O) Anatomie
des Menschen 10,6 Sh., P) Physische Anthropologie 10,6 Sh ,
Ql Physiologie, I. Teil 21 Sh., IL Teil iS Sh., R) Bakterio-
logie 21 Sh. Zu dem Preise der Bände kommt noch das
Porto für die Zustellung. Außerdem erscheint ein Band , der
die Titel der Zeitschriften und periodischen Erscheinungen
enthält, die im Kataloge bearbeitet sind. Preis; 10,6 Sh.
nebst Porto. .Subskribenten auf den vollständigen ersten Jahr-
gang (Band A— R) sind zum unentgeltlichen Bezüge dieser
Zeitschriftenliste berechtigt, welche übrigens auch allein zu
haben ist.
Herrn Prof. G. — Über die Kultur der Pflanzen-
zwerg formen der Japaner gibt O. Drude in der
Garlenflora-Berlin (1889 p. 594 — 595) die folgende Auskunft:
Um dem japanischen Geschmack mit seiner Vorliebe für
ganz klein gehaltene und dabei im Wuchs verdrehte Pflanzen
zu entsprechen, für welchen die Nadelhölzer Juniperus sinen-
sis, Thujopsis dolabrata , Chamaccyparis obtusa , Cupressus
Corneyana, Pinus japonica und densiflora, Podocarpus nageia
und macrophylla, Gingko, dann von Laubhölzern die Apo-
cynee Trachelospermum jasminoides, die Pomacee OstcOmeles
anthyllidifolia, die Berberidee Nandina domestica, das bekannte
Pittosporum Tobira , Ternstroemia japonica, und die Ahorn-
arien Acer palmatum und japonicum hauptsächlich (und am
meisten die Nadelhölzer) in Verwendung kommen, werden in
möglichst kleinen Töpfen sehr alte E.xemplare gehalten, denen
in steter Obhut und Pflege eine veränderte Wuchsform erteilt
wird. Unter den ausgestellten Wachholdern hatten einige ein
Alter von 130 Jahren, waren unter I m hoch und kosteten
bis 600 Fr. Unter den Laubhölzern besitzen dagegen viele
nur dicke, stummelartige Stämme und Pfropfäste.
Das Verfahren der Japaner zur Erzielung einer solchen
— wie die Franzosen es nennen — ,,Nanisation" ist kurz
folgendes: Die Hauptsache ist die Kultur in äußerst geringen
Mengen von Erde. Die jungen Pflanzen schon werden in so
kleinen Töpfen erzogen, daß ihre Wurzeln bald das ganze Erdreich
erfüllen, und, nach weiterer Nahrung suchend, oberflächlich
austreten ; dann erhalten die Pflanzen etwas größere Töpfe, in
welchen sich aber alsbald dasselbe Bild des Nahrungsmangels
wiederholt, und so fort ihr ganzes Leben hindurch. Zu die-
sem geringen Quantum Erdreich gibt man den Pflanzen außer-
dem gerade nur so viel Wasser, als sie zum Bestehen durch-
aus nötig haben. Dabei verkümmert sogleich die Pfahlwurzel,
und auch die Seitenwurzeln entwickeln sich weder genügend
schnell noch genügend zahlreich für ein kräftiges Wachstum
der Pflanze, so daß das ganze Leben sehr verlani^samt wird ;
verschnitten werden übrigens die Wurzeln nicht. Durch das
Hervorbrechen derselben nach oben wird der dicke und un-
förmlich kurze Stamm allmählich in die Höhe gehoben und
erscheint wie auf Luftwurzeln gestützt.
Die andere Seite der Kultur liegt im Verändern des
natürlichen Wuchses durch Zweigunterdrückung. Die Japaner
verknüpfen frühzeitig die Aste unter sich oder mit dem Stamm
in einer möglichst verkrümmten und zickzackförmigen Weise
und bedienen sich dabei zum Anbinden der Bambusfasern.
Dadurch wird eine das Wachstum in sicli selbst unterdrückende
Form erzielt, so daß der Stamm nacli 50 — 100 Jahren erst
4 — 7 cm Durchmesser und die zehnfache Höhe besitzt. Wo
ein verkrUmmter Ast abstirbt, wird er abgeschnitten und durch
einen unterhalb des Schnittes hervorsprießenden neuen Ast
ersetzt ; dadurch wird oft der Anschein eines künstlichen Zu-
schnittes hervorgerufen.
Die Koniferen ertragen dies Nanisations -Verfahren viel
leichter als die Dicotyledonen , welche durch ihre unverwüst-
liche Kraft, Seitenknospen anzulegen und austreiben zu lassen,
die ganze Geduld selbst eines japanischen Gärtners heraus-
fordern ; denn alle jungen Zweige müssen in gleicher Weise
verkrümmt und angebunden werden. Dabei bringt man den
Hauptstamm öfter durch Anbringen an Stammstücke von einem
Baumfarn (Cyathea) oder an Stücke eines tuft'artigen Gesteins
oder Korallenstücke dahin, sich um diese herum in kurzen
Bogen zu winden oder an ihnen entlang zu krümmen. Sterben
alle verkrümmten Äste ab , so werden neue auf den Stamm
aufgepfropft, so bei den Nandina-E-xemplaren.
Herrn L. R. in Moskau. — Zu dem Ausdruck ,, experi-
mentelle Morphologie" schreibt uns Herr Prof. Dahl : Den
Ausdruck ,, experimentelle Morphologie" habe ich genau so
in zoologischen Schriften nicht finden können, will aber damit
nicht sagen, daß er nicht trotzdem oft so gebraucht worden
ist. Roux spricht in der Einleitung des ersten Bandes der
von ihm redigierten Zeitschrift für Entwicklungsmechanik (1895)
von einer kausalen Morphologie , die er seiner Entwicklungs-
mechanik gleichstellt. Bei der Methodik dieses Gebietes nennt
Roux an erster Stelle das Experiment. Hier handelt es sich
also offenbar um denselben Gegenstand. Auch von einer
,, experimentellen Physiologie" spricht Roux in jener Einleitung.
Tornier , dessen Hauptarbcitsfeld gerade dieser Zweig der
zoologischen Wissenschaft ist, wußte auch nichts Bestimmtes
über jenen Ausdruck anzugeben, hielt ihn auch für recht un-
glücklich.
Es hat wenig Wert, die Literatur daraufhin durclizusehcn,
wer den Ausdruck experimentelle Morphologie zuerst gebraucht
hat. Zu diesem Gegenstande vergleichen Sie Goebel's ,,Or-
ganographie" und Potonie's Schrift ,,Ein Blick in die Ge-
schichte der botanischen Morphologie" (beides bei G. Fischer
in Jena erschienen).
Herrn P. W. in Jerusalem. — Auf die .Anfrage erwidere
ich, daß es eine deutsch oder französisch geschriebene Flora
von Palästina meines Wissens nicht gibt, ebensowenig eine
Flora der Mittelmeerländer. Wohl aber gibt es eine englisch
geschriebene Flora of Syria , Palestine and Sinai von George
Post M. D. in Beirut, die allerdings einen ziemlich hohen Preis
hat (ich glaube 22 Mk.), aber sehr wohl empfohlen werden kann,
da sie das Gebiet viel eingehender behandelt als Boissier's 5-
(oder mit dem .Sup]ilement 6-) bändige Flora Orientalis und durch
441 eingedruckte Abbildungen die Bestimmung erleichtert.
P. Ascherson.
Inhalt: Richard Fohle; Das Mammut in der Vergangenheit Sibiriens. — Kleinere Mitteilungen: G. Rörig:
Beiträge zur Frage nach dem wirtschaftlichen Werte der Vögel. — Edw. Babak: Über den Einfluß der
Nahrung auf die Länge des Darmkanals. — Tornier: Überzählige Bildungen. -=- G. Lindau: Die Forschungen
über die Spezialisierung der Roslpilze. — Dr. Otto Wilckens: Der geologische Bau der Hohen Tauern. — Dr.
Fiebelkorn: Kristallisierter Portlandzemcnt. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen:
Meyer's Historisch-Geographischer Kalender. — Wilhelm Bö Ische; Die Abstammung des Menschen. — H. Sydow:
Annales mycologici. — Dr. Richard Lepsius; Geologie von Deutschland und den angrenzenden Gebieten. — Dr.
Alfred Grund: Die Karsthydrographie. — Leo Frobenius: Geographische Naturkunde. — Literatur: Liste. —
Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonic, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge 111. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 19. Juni 1904.
Nr. 38.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgeld bei der Post
15 Pfg. e.\tra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
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einliunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
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Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten.]
Natürliche und künstliche Erzeugnisse.
Von Georg Heuser, Köln.
In folgenden Beispielen möge ."Xnmerkungen
zu einer „Philosophie der Technik" Raum gegönnt
werden, wie sie Kapp vor 25 Jahren begann und
andere in einigen anderen Schriften fortsetzten.^)
In Figur i sei als natürliches Erzeugnis eine
Blattfläehe mit der Verzweigung ihrer vortretenden
Rippen dargestellt. Wie das Knochengerüst den
Tieren den Halt gibt und die Adern das nährende
Blut fördern, so dienen die Rippen zur Absteifung
des Blattes und zugleich als Leitungsbahn des für
das Wachsen der Pflanze erforderlichen Wassers
und Baustoftes.
Die Hauptrippen sind durch feinere, sich ver-
ästelnde Seitenadern miteinander verbunden, welche
das zwischen ihnen sich ausdehnende Zellengewebe
zum Auffangen des Sonnenlichts durchgehends ver-
spannen und ernähren.
Dem öfter von Naturforschern gemachten Ver-
gleiche folgend, betrachtet Kapp das riesige Netz
der Schienenwege, welches die Erde zunehmend
') Zur philosophischen Begründung der Technik. K. v. Engel-
raeyer. Dingler, polytechn. Journal 1899 — 1900. Natur und
Technik. Über den Bautrieb. G. Heuser. Zeilschr. Die Natur
1900 u. 1901.
umspannt, als ein Abbild der Blutaderverzweigung
des menschlichen Körpers, ebenso wie die Tele-
graphenlinien als eine künstliche Nachbildung, eine
„Organprojektion", des Nervensystems anzusehen
sind.
Hier ist beizufügen, daß viele zweckmäßige
Vorrichtungen auch bei der Pflanze ihr natürliches
Vorbild finden und die in einer Ebene sich ver-
breitenden Leitstränge eines Baumblattes gleichen
jedenfalls ebenso wie das Adernetz des Tieres der
Verästelung der verschiedenen Rohrleitungen und
Eisenbahnstränge, welche der Menschheit gleich
der Pflanze zur Zufuhr der Subsistenzmittel dienen.
Figur 2 gibt ein Beispiel der oft wunderbar
künstlichen Erzeugnisse der Insekten. Hier werden
durch die Fäden einer Spinnraupe zwei Blätter
zusammen gehalten, um für das Puppenkleid eine
schützende Hülle zu gewinnen. Die vorhin be-
schriebenen Verbindungsadern des Blattes ent-
standen durch die Triebkraft von Pflanzenzellen;
allerdings zu viel weiteren Zwecken und inner-
halb einer vollen Fläche. Hier sind es die Drüsen-
zellen eines Tieres, welche für die frei gespannten
Fäden den Baustoff liefern. Das Zellen bildende
S94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 3 g
Plasma besitzt eine erstaunliche Anpassungsfähig-
keit an äußere Lebensbedingungen. Durch Ab-
sonderung der umschließenden Haut dient es or-
ganischen Wesen in mannigfaltiger Weise. Sie
wächst als Haar- oder I'ederkleid , Stachel- und
Schuppenpanzer, als Hörn- und Kalkgehäuse vielen
Tieren auf den Leib. Andere haben besondere
Zellen, durch deren Sekrete eine Wohnung oft
mit größtem praktischen Geschick hergestellt wird,
so von vielen Raupenarten und Spinnen.
Die Technik nimmt in der Natur ihren Anfang
unter den verschiedensten Formen und es erscheint
oft zweifelhaft , wo der Übergang stattfindet von
den natürlichen zu den künstlichen Erzeugnissen,
von den Organen zu ihren Projektionen.
Im Tierreich beginnt die Technik vielfach bei
unmittelbarer Mitwirkung des Protoplasma, mit der
als Naturtrieb bezeichneten Tätigkeit. Gleiche
Zwecke werden erfüllt mit und ohne Muskelarbeit
das Plasma sogar der
Kammer der Wurzel-
Naturgeschichte der Technik
und durch Hilfe von Sekreten sowohl wie mit
anderweitigen Baustoffen. Bei einzelligen Lebe-
wesen schon bedient sich
Fremdkörper, so bei der
füßer.
Wer sich mit der
befaßt, darf den eigentlichen Träger des Lebens,
das bauende Plasma, nicht außer acht lassen. Zu
der Zeit, da das Buch von Kapp erschien, hatte
die mikroskopische Forschung noch nicht die Fülle
\'on Beobachtungen gemacht und so findet das
Plasma darin keine Erwähnung. Gleich einer Naht
frei gezogene F'äden, wie hier bei dem Machwerk
der Spinnraupe, sind uns in der Pflanzenwelt und
auch allgemein als natürliches Produkt, als Teil
eines Organismus unbekannt, während absteifende
und zugleich leitende Verbindungslinien wie am
Baumblatte vielfach sichtbar sind. Vielleicht aber
findet man auch Nähte als Naturprodukt, ebenso
wie von Meyer die Zug- und Drucklinien von
Eisenbahnkonstruktionen im Knochengewebe ent-
deckte und Schwendener hh förmige und Bogen-
versteifungen bei den Rippen der Pflanzen.
Verspannende Verbindungslinien wie die Blatt-
rippe findet man auch an den Flügeln der In-
sekten. Eine auffallende Ähnlichkeit mit Blättern
gewinnen durch Mimikry die aneinander liegen-
den Flügel des „wandelnden Blattes", einer ost-
indischen Gespenstschrecke.
H. Potonie hat in seinen „Paläophytologischen
Notizen" (Naturw. Wochenschr. 1903 Nr. 37) die
fortschreitende Entwicklung von der Fächeraderung
der Blätter zu der zweckmäßigeren Maschenaderung
in lehrreicher Weise erörtert. Wie er das bei
Blättern vorgenommen , so würde es auch sehr
interessant sein, einmal in Flügelspreiten lebender
Insekten Einschnitte zu machen , um den ver-
schiedenen Wert der Rippensysteme in bezug auf
Ernährung und Versteifung kennen zu lernen.
Mit den Leitungen der Blätter und Flügel und
ebenso den Adern tierischer Körper vergleichbar
erzeugen verschiedene Tiere Systeme von Rohr-
gängen sogar als technisches Produkt. So sind es
die Termiten , welche aus ihrem Sekret Röhren
zusammenkitten, um unter ihrem Schutz der Nah-
rung nachgehen zu können.
Wie durchgehends die Insekten, so folgen auch
die Raupen besonders wechselnden Trieben. Manche
verpuppen sich nur durch Häutung, viele befestigen
dabei, mit technischer Tätigkeit beginnend, die
Puppe durch einige Spinnfäden, wie in unserer
Abbildung. Bei manchen Arten findet die Häutung
eine Ergänzung durch allerlei Fremdkörper, wie
PIrde, Holz und Haare, viele aber spinnen aus ihrem
Sekret ein schützendes Gehäuse, wie die Seiden-,
Kiefern- und Schwammspinner.
Bei dem hier gezeichneten Machwerk der Spinn-
raupe lassen sich drei Teile unterscheiden. Es
besteht aus dem Fremdkörper, den umschließenden
Blättern, aus der Verbindungskonstruktion und der
eigentlichen Hülle. Blätter und Hülle sind Er-
gänzungen, Organprojektionen der Haut und dienen
N. F. III. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
595
wie diese als ein Schutzmittel gegen äußere Einflüsse.
Das Tier übt bei dieser einer Örtlichkeit sich an-
fügenden Vorrichtung eine technische Arbeit. Es
zieht zunächst die Blätter zusammen und ordnet
sodann seine Spinnfäden in Schlangenwindungen
zu seiner eiförmigen Wohnung.
Durch Figur 3 sei das Nest des Schneider-
vogels zur Anschauung gebracht, der, wie Brehm
berichtet, mit einem „selbstgedrehten" oder auf-
frefundenen Faden näht.
i-'ig- 3-
Hier ist es also nicht mehr Plasma-Ausscheidung
mit welcher das Tier arbeitet, vielmehr wählt und
holt es die nötigen Baustoffe, macht vorher Bind-
fäden sogar zum Gebrauch geeignet und benutzt
den Schnabel als Werkzeug. Das Nest besteht
aus äußerer Wand und innerem Ausbau ; es wird
mit Baumwolle, Wolle und Pferdehaaren dicht aus-
gefüttert.
Ein Produkt der Plasmatätigkeit sind die Hüllen
des Inhalts unseres Nestes, die Schalen der Eier,
welche gleich dem Kokon der Raupe das sich
entwickelnde Leben schützen. Die Membran,
welche die Zellen in vielartiger Zusammensetzung
und Festigkeit ausscheiden, gestaltet sich bei den
auszubrütenden Eiern zu einer widerstandsfähigen
Schale.
Es sei daran erinnert, daß indische Schwalben-
arten auch iiire eßbaren Nester ganz aus Drüsen-
absonderung bereiten und die einheimischen kleben
bekanntlich mit iiircm Speichel Erde zu haltbarem
Wandmörtel zusammen. So geht bei den Vögeln
wie auch bei den Insekten die Bauart aus Zellen-
sekret vielfach über zu der mannigfaltigen mit
Hilfe von Fremdkörpern.
Kapp will es „über sich gewinnen", alle den
Tieren beigelegten Eigenschaften und Geschicklich-
keiten zuzugeben, aber er führt keine Beispiele an,
in denen sie ihre Organe durch künstliche Werk-
zeuge projizieren , ergänzen und unterstützen.
Solche benutzen sie allerdings zur Bautätigkeit
sehr selten. Die Ameisenbären jedoch schleudern
Sand auf ihre Opfer, auch die Affen benutzen ver-
schiedene Wurfgeschosse und lernen in der Ge-
fangenschaft manches „Hand"- Werkzeug gebrauchen.
Sinnreiche Einrichtungen, wie die Falltür der
Minierspinne zum Einfangen der Beute, oder das
schwimmende Blatt mit dem Gehäuse für die
Eier des Wasserkäfers kann man wohl als Werk-
zeuge bezeichnen. Zwar ist kein Fall bekannt,
daß ein Tier vorher Instrumente herstellt, um sich
die Ausführung solcher Baukonstruktionen zu er-
leichtern ; indessen dreht doch der Schneidervogel
zunächst den F"aden zurecht, um ihn nachher zum
Bau seines Nestes zu verwenden. —
In Figur 4 ist eine Verschnürung mit säumen-
den Ziernähten zur Anschauung gebracht, wie man
sie in wechselnder Form in ethnographischen Wer-
ken abgebildet findet.
l-'ig- 4-
Auch der Mensch hat sich beim Spinnen von
Fäden und Seilen ehedem nicht selten des Drüsen-
sekrets, seines Mundspeichels, bedient, während
gegenwärtig Garn und Naht sogar ohne Zutun der
Hände mit höchster Sciinelligkeit durch Maschinen-
technik angefertigt werden. Bei der Drehung des
Fadens durch Bewegung unserer leiblichen Organe,
der Fingergelenke, fanden diese zuerst durch ein
einfaches Werkzeug, die Handspindel eine tech-
nische Ergänzung, dann folgte das Spinnrad, welches
sich später zu großen Spinnmaschinen, den Sei-
faktors, erweiterte.
Die Fülle solcher und anderer Arbeitsmaschinen
wurde erst möglich, als Menschen und Wasserrad
durch weitere Motoren und namentlich die Dampf-
maschine ersetzt wurden. Diese ist nicht nur be-
596
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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wunderungswürdig durch die vielen Projektionen or-
ganischer Gelenkverbindungen, der metallenen üreh-
flächen, Arme, Hämmer, Hebel und Kolben, sondern
ebenso wunderbar ist auch , wie Kapp hervorhebt :
„dieSpeisungderMaschine,dieUmsetzungderBrenn-
stoffe in Wärme und Bewegung, kurz der eigen-
tümlich dämonische Schein selbsteigener Arbeits-
leistung". Die Stoffe indessen, welche wir technisch
so vollkommen für unser Kleid spinnen, sind doch
immer ein Produkt der Plasmatätigkeit. Die Zellulose
der Pflanze und das Chitin oder Protein der Tier-
zellen schützen in Form von Flachs, Baumwolle
und Wolle unseren Körper vor äußeren Einflüssen,
und das kostbarste Gewand, welches der Mensch
trägt, webt er aus den F"äden, welche die mikro-
skopisch kleine organische Spinnmaschine liefert,
die Spinndrüse der sorgsam gezüchteten Seiden-
raupe. Man behandelt dieselbe gleich einer Be-
triebseinrichtung, welche zur Erzeugung eines ge-
wünschten Fabrikats als Rohmaterial eine ent-
sprechende Menge geeigneter Maulbeerblätter be-
darf. —
Nicht nur bei Kulturmenschen, sondern selbst
bei vorgeschichtlichen und wilden Völkerscliaften
geht die notwendige Naht bald in eine freie Kunst-
form über.
In seinem berühmten Werk über den Stil in
den technischen und tektonischen Künsten
widmet Semper der Naht ein besonderes Kapitel.
Das Gesetz, aus der Not eine Tugend zu machen,
tritt bald auch bei der Naht auf, und aus dem
Flickwerk wird dann ein geschmackvolles Stick-
werk.
So werden Verbindungssclmüre, wie sie die
Seidenraupe oder der Schneidervogel nur in not-
dürftiger Weise herstellen, an der Brust von Männer-
und PVauengewändern wie auch an der Fuß-
bekleidung in allen Ländern durch sorgfältige An-
ordnung zu einem Gegenstand des Schmuckes
ähnlich dem hier dargestellten. —
Überblickt man nunmehr die besprochenen
Beispiele, so ist in der Tat zu erkennen, daß eine
einfache Konstruktion , wie die von einem zum
andern Angriffspunkt gehenden Adern und Fäden
sowohl durch das Wachstum der Pflanze wie durch
die Tätigkeit des Tieres erzeugt werden, daß man
bei der Pflanze die Entstehung der mechanisch
wirksamen, oft mit den Leitbündeln verbundenen
Skelettstränge nur auf den Bautrieb des Proto-
plasma zurückführen kann, während bei Tieren
Übergänge von der Sekretausscheidung zu tech-
nischer Arbeit stattfinden. Bei dem Schneider-
vogel beginnt sogar eine höhere Bautätigkeit mit
Hilfe herbeigeholter und vorbereiteter Fremdstoffe.
Der Mensch gestaltet aus der Zweckform der Naht
eine Zierform; das technische Erzeugnis wird zum
künstlerischen. Es kann demnach zwischen Natur
und Technik, zwischen Technik und Kunst eine
scharfe Grenze nicht gezogen werden. —
Kapp behandelte keine Machwerke wie die
hier aufgezeichneten, deren sich zu einer „Philo-
sophie der Teclinik" noch manche zusammen-
stellen ließen. Dieselbe wird eine ganz andere
Behandlung erfahren durch Verfasser, die durchaus
auf dem Standpunkte des Monismus stehen. Er
gelangte nicht dazu. Pflanze, Tier und Mensch ein-
heitlich zu betrachten und hat nur Organprojek-
tioiien beleuchtet, welche der Mensch hervorbringt,
lediglich im Hinblick auf künstliche Nachbildungen
unserer eigenen Leibesbeschaffenheit.
Ist es auch schwierig, seine Ausführungen stets
in Übereinstimmung zu bringen, so muß man doch
anerkennen, daß er grundlegend und sehr gewissen-
haft viele zugehörige Arbeit zusammengetragen hat.
Gleich iiim wird jeder, der seiner Neigung
folgt, über die Natur der Dinge zu philosophieren,
bald durch Rätsel in Verlegenheit gesetzt werden
und kann in anderer Richtung zu Irrtümern ge-
langen. So mag auch dieser kleine Beitrag zu
seinem Buche nicht bei jedem Leser Zustimmung
finden, zumal Gegenstände so verschiedener Fächer
in Betracht zu ziehen waren.
Das Verhalten der Vorkerne nach der Befruchtung.
[Nachdruck verboten.]
Von K. Kliem.
Bereits im Jahre 1895 erschien eine Unter-
suchung Rückert's,') die sich mit der Frage
beschäftigte :
Wie verhalten sich die Substanzen
von Ei- und Samenkern nach erfolgter
Befruchtung innerhalb der Kerne des
sich entwickelnden Eies?
Rücke rt führt aus, daß man naturgemäß der
Frage bis zu dem Zeitpunkte keine Beachtung ge-
schenkt hatte, wo die Ansicht herrschend war, daß
Ei- und Samenkern zu einem ruhenden „ersten
') J. Rückert, Über das Selbsländigbleiben der väterlicheu
und mütterlichen Kernsubstanz während der ersten Entwicklung
des befruchteten Cvclops-Eies. Archiv für mikroskop. Ana-
tomie. Bd. XLV, 1895.
Furchungskern" konfluieren, und somit keine Ana-
lyse möglich war.
Sobald aber van Beneden für Ascaris me-
galocephala nachgewiesen hatte, daß Ei- und Samen-
kern, ohne zu verschmelzen, sich in die Chromo-
somen der ersten Furchungsspindel verwandeln,
und eine Vermengung des väterlichen und mütter-
lichen Chromatins vor Ablauf der ersten Furchungs-
teilung nicht stattfindet, war die oben aufgestellte
Frage aktuell geworden. Rückert studierte darauf-
hin die ersten Entwicklungsstadien der Eier von
Cyclops strenuus.
Figur I zeigt den ersten Furchungskern in
Teilung. Die den Vorkernen entsprechenden Hälften
der Tochterplatten sind durch einen Spalt ge-
N. F. m. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
597
trennt. Beim IJbergang zur Ruhepause verwandeln
sich die Furchungskerne in eine Anzahl heller
Bläschen, in deren Wand das Chromatin verteilt liegt.
\w
Fig. I.
Durch Verschmelzung katin schliel.Mich ein
Ruhekern mit einigen vereinzelten Einkerbungen
entstehen. Die oben genannten Bläschen sind um-
gewandelte Chromosomen. Rückert denkt sich
Fig. 2.
diese Umwandlung folgendermaßen. Die Chroniatin-
schleifen biegen sich ringförmig zusammen, und
dieser Ring sendet feine, miteinander anastomo-
sierende Fortsätze ins Innere. Sobald sich diese
Fi"
Ausläufer nicht auf die Ebene des Ringes be-
schränken, ist die Anlage eines körperlichen Ge-
bildes gegeben. Die Hauptmasse des Chromatins
liegt an der Oberfläche (chromatische Kernmem-
bran\
Figur 2 zeigt einen Tochterkern der ersten
Furchungsteilung in Rekonstruktion. Die den
2 Vorkernen entsprechenden .Abteilungen sind als
getrennte Stücke wahrnehmbar.
Der Doppelbau ist am klarsten bei nahezu
vollendeter Verschmelzung (Fig. 3). In dem läng-
lichen Kern beobachtet man eine durch einen
Teil des Chromatingerüstes gebildete Scheidewand.
Fig. 4-
Durch eine doppelte oder einfache Einkerbung
erscheint der Kern zuweilen biskuit- oder bohnen-
förmig.
Mgur 4 zeigt das Spiremstadium der zweiten
Furchungsteilung. Der Doppelbau zeigt sich in
der Trennung des Knäuels in zwei Hälften. Um
in die definitive Lage zu kommen , müssen die
Kerne eine Einksdrchung ausführen, h'igur 5 zeigt
die vollendete Drehung.
Im weiteren Verlauf der Furchung nehmen die
Fig- 5-
zweiteiligen Chromatinfiguren ab. Der Doppelbau
ist in diesen Stadien nur im Ruhezustand deutlich
(Fig. 6), läßt sich aber bis zur Zeit der Keimblätter-
bildung verfolgen.
Das Ergebnisseiner Untersuchungen faßtRückert
dahin zusammen; DieVermengungder väter-
lichen und mütterlichen Kernhälfte
findet in der ersten Entwicklungszeit
mindestens bei einem Teil der Kerne
nicht statt und ist daher für die nor-
male Entwicklung nicht nötig.
S98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 38
Eine zweite Abhandlung, die die obige Frage
behandelt, ließ Haecker^)in demselben Jahre er-
scheinen. Da der Verfasser auf diese Verhältnisse
in einer kürzlich erschienenen Untersuchung noch-
mals ganz speziell eingeht, kann ich mich darauf
beschränken, auf die oben genannte Untersuchung
hinzuweisen.
Ich wende mich daher sofort der neuesten
Untersuchung H a e c k e r ' s -) zu.
Fig. 6.
Haecker geht davon aus, daß vor der weiter-
gehenden theoretischen Verwertung der in den
früheren Schriften mitgeteilten Befunde 3 Fragen
näher untersucht werden mußten:
1. Dauert die Doppelkernigkeit bis ins Keim-
bläschenstadium fort? (Rückert). S. Anat.
Anz. XX, 1902.
2. Wie verhalten sich die elterlichen Kern-
anteile unmittelbar vor der Befruchtung?
3. Handelt es sich um sporadische Vorkomm-
nisse oder um eine allgemeine Erscheinung
im Tier- und l'flanzenreich ?
Mit der Beantwortung dieser Fragen beschäftigt
sich die vorliegende Arbeit.
I.
Untersuchungsmaterial.
Das Untersuchungsmaterial waren die pela-
gischen Copepoden des Titisees:
Cyclops strenuus J Cyclopiden
Heterocope saliens
Diaptomus laciiiiatus
denticornis
Centropagiden
(Calaniden).
IL
Zur Entwicklungsgeschichte der
Centropagiden.
Die Entwicklung der Eier von:
Diaptomus denticornis schließt sich an
die des Cyclopseies an.
') V. Haecker, Über die Selbständigkeit der väterliclien
und müUerliclien Kernbestandteile während der Embryonal-
entwicklung von Cyclops. Archiv für mikroskop. Anatomie
Bd. XLVl. 1895.
^) V. Haecker, Über das Schicksal der elterlichen und
großelterlichen Kernanteile. Verlag v. G. Fischer, Jena.
Zwei Punkte sind jedoch genauer hervorzu-
heben :
1. Die Bildung von Dauereiern,
2. die histologische Differenzierung der Keim-
bahnzellcn.
Die Bildung von Dan er eiern.
In der Geschwindigkeit der Entwicklung zeigen
die beiden Diaptomusarten einen wesentlichen
Unterschied.
D. lacinatus hat seine Fortpflanzungszeit
vom März bis Mai. Schon Ende Juli treten die
geschlechtlich differenzierten Jungen auf, die dann
langsam während des Herbstes und Winters zur
vollen Reife heranwachsen.
Die Hauptvermehrung von :
D. denticornis fällt in den August. Ge-
schlechtlich differenzierte Junge treten aber erst
im folgenden Juni (nach 10 Monaten) auf; es er-
folgt dann eine rasche Entwicklung zur vollen
Reife innerhalb zweier Monate.
Es fragt sich, in welchem Stadium die Denti-
cornis-Brut überwintert. Im Anfang der Ver-
mehrungszeit findet man in den Eisäcken wesent-
lich die älteren Embryonalphasen (Nauplius),
wenige Wochen später fast nur Furchungs- und
Gastrulationsstadien.
Die Erklärung ist folgende:
D. denticornis produziert zweierlei Eier:
I. Subitaneier, im ersten Teil der Ver-
mehrungsperiode. Diese entwickeln sich
im Eisack bis zum Naupliusstadium.
Fig. 7. D. d. Stadium IV — VIII. Die Keimbahnzelle ist in
der Teilung um einen Schritt zurück hinter den übrigen Zellen
(Phasendifferenz). Körnchenabscheidung in der somatischen
Tochterzelle.
2. Daiiereier, im zweiten Teil der V'er-
mehrungsperiode. Diese entwickeln sich
zunächst nur bis zu einem von einer dop-
peltenChitinkapsel umgebenen Dauerstadium
(Fig- 15)-
Histologische Differenzierung der
K e i m b a h n z e 1 1 e n. ' )
Die Keimbahn (d. h. die vom befruchteten Ei
bis zur Gonadenanlage führende Zellenfolge) ist
durch folgende Merkmale ausgezeichnet:
I. Durch die Autonomie (Selbständigkeit)
der Kernhälften (s. später),
') In den Figuren durch dunklere Färbung angedeutet.
N. F. III. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
599
3-
durch die zunehmende Verlangsamung der
Teilungsgeschwindigkeit (zunehmende
Phasendifferenz) (Fig. 7),
durch das Auftreten von Außeiikörn-
c h e n (Ectosomenj.
Fig. 8. D. d. Stadium XVI— XXXII. Ektosomale Abscliei-
dungen an einem Pole des Keimbahnkernes.
Die Außenkörnchen treten zuerst bei der Dia-
kinese als einseitig dem einen Kernpol aufgelagerte
Masse hervor (Fig. 8). Sie rücken dann in Gestalt
kleiner Körnchen in die Umgebung des Spindel-
pols (Fig. 9) und liegen zu Beginn des Ruhe-
Fig. 9. D. d. Stadium XVI — XXXII. a, i, c aufeinander
folgende Ph.isen in der Anordnung der Nukleolen.
B
Fig. 10. D. d. Stadium (XXX -f- A + B) — (LX -j- A
-[- B). A Stammzellc , B Schwesterzelle der Slammzelle mit
reichlicher, dem Kern angelagerter ektosomalcr Substanz. Die
Blastodermkerne zeigen den sechsten Teilungsschritt. Die
Dyaster links und rechts zeigen den gonomeren, die Tochter-
kerne oben den idiomeren Zustand.
Stadiums als wurstähnliche Masse dem Kern an
(Fig. 10).
Verfasser hält sie für temporäre, nicht struk-
turierte Abscheidungen oder Zwischenprodukte
des Kern-Zellestoft'wechsels.
Die Außenkörnchen werden nicht in die neue
Keimbahnzelle (Boveri's „Stammzelle"), sondern in
die kleine fast rudimentär erscheinende Schvvester-
zelle (B) aufgenommen, um hier während des
Kernruhestadiums aufgelöst zu werden.
III.
Die Autonomie der Kernhälften während der
Furchung und Gastrulation.
(Diaptomus, Cj-clops, Crepidula.)
Beim Cyclopsei ist die Trennung der Kern-
hälften nicht nur im Ruhestadium, sondern auch
während der Teilung (Knäuelstadium, Dyaster,
Rekonstitution der Tochterkerne) zu beobachten.
Entsprechend sind die Verhältnisse bei Dia-
ptomus. Besonders hervorzuheben sind Astern
in Polansicht, deren Chromosome sich durch
einen Durchmesser in 2 Gruppen von je 16 Chromo-
somen zerlegen lassen. (F'ig. 11).
Fig. II. D. d. Polansicht der Asteren des Stadiums IV bis
VIII. Die 32 Chromosomen lassen sich durch einen Durch-
messer ohne Rest in zwei Gruppen voTi 16 teilen.
Verfasser nimmt eine membranartige Scheide-
wand an, die bei der angewandten Konservierung
allerdings unsichtbar bleibt.
Verhalten der Kerne während
R u h e s t a d i u m s.
des
Während des Übergangs dazu wandeln sich
die an die Pole gerückten Chromosome in chromo-
somale Teilbläschen (Idiome ren) um.
Diese verschmelzen bald zu 2 gleichgroßen,
dicht nebeneinander geschmiegten Bläschen (Gono-
m e r e n), die zweifellos der väterlichen und mütter-
lichen Kernhälfte entsprechen.
Die Idiomeren sind helle Bläschen, deren
färbbare Substanz der Innenfläche der Wand an-
gelagert ist (Fig. 12).
Die Gonomeren zeigen ein fadenförmiges
Gerüstwerk ohne deutliche nukleoläre und chromo-
somale Differenzierungen (Fig. 8, rechts).
Beim Cyclopsei ist der Doppelbau (G o n o-
m e r i e) der Kerne während des Ruhestadiums
persistierend; bei Diaptomus bildet er nur
eine Übergangsperiode, indem beide Gonomeren
zu einem zunächst ovoiden, später kugeligen
Kern verschmelzen.
6oo
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 38
Der Doppelbau der Kerne ist dann nur noch
an einer Symmetrie der Nukleolarsubstanz
erkennbar.
Nacli der Verschmelzung der Gonomeren treten
an dem dem Spindelreste zunächst gelegenen Pole
2 symmetrische, anfänglich gleichgroße Nukleolen
auf (Fig. 9 a). Sic rücken ins Kerninnere (Fig. 9 b),
legen sich aneinander (Fig. 9c) und können schließ-
lich verschmelzen.
\
l\
¥
Fig. 12. D. d. Stadium I — II. Idiomerie der Tochtcrkernc.
Körnclienabscheidung in der somatisclien Zelle. Zwischen den
beiden Zellen der zweite Richtungskörper.
Bei älteren Furch ungsstadien zeigt sich
ein etwas anderes Verhalten. Beim Rücken der
Nukleolen ins Innere bildet sich ein erheblicher
Größenunterschied aus , der sich vor der
Verschmelzung wieder ausgleicht.
Das Nukleolenpaar zeigen am schönsten:
a) die S t a m m z e 1 1 e n und ihre Schwester-
zellen (Fig. 10),
b) später die sekundären Ur-|
g e n i t a 1 z e 1 1 e n , I ^'f^
c) die zentralen Entodermzellen. J
14.
Bedeutung dieser Symmetrie.
Das Nächstliegende ist, anzunehmen, daß die
Symmetrie der Nukleolarsubstanz im Zusammen-
hang mit der vorher beobachteten Autono-
mie der elterlichen Kernhälften steht.
Eine Ergänzung und Stütze erhält dieser Satz
durch die Beobachtungen bei :
Cyclo ps brevicornis und
Crepidula plana (Conklin).
Zusammenfassung der Resultate :
I. Cyclo ps, jüngste Furchungsstadien.
In den Idiomeren treten vor der Vereini-
gung zu Gonomeren zahlreiche kleine Nukle-
olen auf.
II. Cyclo ps, mittlere Furchungsstadien.
Nach Bildung des gonomeren Kernzustandes
überwiegt in jedem Gonomer ein Nukle-
olus an Größe, diesem schließen sich die
früher und später gebildeten an.
III. Cyclops, spätere Furchungsstadien und
Crepidula.
Nach Eintreten des gonomeren Kernzu-
standes bildet sich sofort in jeder Kern-
hälfte je ein primärer Nukleolü-s. .
Dazu können noch „adventive" Nukle-
olen kommen, oder die beiden primären
können zu einem sekundären ver-
schmelzen.
IV. Diaptomus.
Erst nach Verschmelzung der Gonomeren
treten die beiden primären Nukleolen
hervor. Häufig tritt Verschmelzung zu
einem sekundären ein.
Wir sehen, daß die Symmetrie der Nukleolar-
substanz von Stufe zu Stufe schärfer hervortritt.
Fig. 13. D. d. Stadium (CXXVIII— CCLVI). Die achte
Teilung ist im Ablauf begriffen. Nur die großkernigen Ento-
dermzellen (£) machen noch keine Anstalt zur Teilung. Im
Zentrum des Eies die primäre Urgenitalzelle (dunkel). Dm Dotter-
mcmbram, CA, erste Chitinkapsel.
IV.
Die
Autonomie der Kernhälften bis zur
Bildung der Keimmutterzellen.
(Diaptomus, Heterocope.)
handelt sich jetzt um die Beantwortung
der Einleitung aufgeworfenen ersten TVage:
„Ist eine Weiterverfolgung der Auto-
nomie der Kernhälften bis zur Bildung
der Fortpflanzungszellen (also von den
Es
der in
Fig. 14. U. d. Die Blastodermkernc haben großenteils den
neunten, die Entodermkerne den achten Teilungschritt voll-
endet. Die primäre Urgenitalzelle hat sich in die beiden
sekundären Urgenitalzellen (dunkel) geteilt. jOw Dottermembran.
C/;,, Ch^ erste, E zweite Chitinkapsel.
N. F. in. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
601
Großeltern bis zur En k el ge n era t io n)
m ö g 1 i c h r"
Schon während der Furchung und Gastrulation
zeichnen sich die Keiiiibahnzellen durch die Sym-
metrie der Nukleolen aus (Fig. 10). Auch die
primäre Urgenitalzelle (Fig. 13) und die
2 sekundären (definitiven) Urgenitalzellen (Fig. 14)
zeigen dasNukleolenpaar. Im Dauerstadium (Fig. 15)
verschmelzen die Nukleolen.
Fig. 15. D. d. Dauerstadiura des Di.ipto mus-Eies.
Beide Cliitinkapseln und eine innerhalb derselben gelegene
zarte Membran haben sich vom Ei abgehoben. Die Blasto-
dermkerne sind nach innen gerückt. Im Innern des Eies liegen
die eine kompakte Masse bildenden entodermalen und geni-
talen Elemente.
Erst bei der G o n a d c n b i 1 d u n g tritt der
Doppelbau wieder hervor. Bei jungen Diaptomus-
larven liegt die Gonadenanlage zwischen Ver-
dauungstraktus und Herz.
Bei der Larve mit 2 Schwimmfuß-
paaren liegen die 2 sekundären Urgenitalzellen
symmetrisch nebeneinander (Fig. 16). Der Außen-
fläche liegen einzelne, linsenförmige Zellen auf,
während an der Kernmembran Brocken einer
amorphen Substanz zu beobachten sind. In den
Kernen liegt je ein gioßer Nukleolus.
Die G() nadenbild u n g erfolgt im Stadium
mit 3 S c h wi m m f u ß p aa r e n.
Erst teilt sich eine der beiden Urgenitalzellen,
und die eine oder beide Tochterzellen setzen sich
vor die ungeteilte (Fig. 17). Die Tochterkerne
besitzen 2 symmetrisch gelagerte Nukleolen. Die-
selbe Beobachtung kann man in den folgenden
Stadien machen : Junge Kerne enthalten 2
kleinere Nukleolen, ältere, schon länger
in Ruhe befindliche, einen einzigen großen.
Fig. 17. D. 1. Zwei Schnitte durch die dreizellige Gonaden-
anlage.
Dieselben Erscheinungen treten auch nach er-
folgter geschlechtlich er Differenzierung
zutage.
Die männliche Gonade zeigt eine größere
Zahl und gleichmäßigere Beschaffenheit der Keim-
zellen.
Die weibliche Gonade charakterisiert sich
durch frühzeitiges Auftreten typischer Keim-
bläschen (Fig. 19 kb).
Tt-t^Ji^Px:^
•7 b
Fig. 16. D. 1. Querschnitt durch eine Larve mit 2 Schwimm-
fußpaaren. Zwischen Herz /( und Darm m die beiden sekun-
dären Urgenitalzellen i^g).
Fig. 18«,^. D.I. Zwei Querschnitte durch eine junge
Hodcnanlage.
F"igur 18 zeigt Querschnitte durch eine ganz
junge Hodenanlage von Diapt. lacin.
i8a in den 2 älteren Kernen je ein Nukleolus,
in dem jüngeren 2 kleinere.
i8b zeigt Biskuitform. Kerne mit regelmäßig
verteilten Nukleolen.
Während der Entwicklungs pause (An-
fang Oktober) findet man ausschliel31ich Kerne mit
6o2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 38
einem Nukleolus, beim Beginn der Ausreifung
der Hoden und ISildung der Spermatozoen (An-
fang Januar) finden sich in den sich rascli ver-
mehrenden Ursamenzeilen 2 gleich große
Nukleolen.
Ergebnis: Die Spuren des Doppelbaues der
Kerne lassen sich also in den jungen Hoden bis
zu den jungen Samenmutterzellen verfolgen.
Fig. 19. D. 1. Teil einer ganz jungen Ovarialanhigc.
kb-
Fig. 20. D. 1. Frontalschnitt durch ein junges Ovarium.
kb Keimbläschen.
Fig
H. s. Zwei Schnitte durch den Anfangsteil der
Verwandlungszone des Hodens.
Ältere Hoden zeigen diese Verhältnisse wegen
langsamerer Vermehrung der Ursamenzeilen weniger
deutlich.
Dasselbe gilt von den Ovarien, da die Teilung
der Ureiz eilen nicht so simultan stattfindet,
wie bei den Ursamenzeilen. Doch zeigen sowohl
die jungen Ureizellen (Fig. 19, unten) als auch die
Keimbläschen (Fig. 20) noch den Doppelbau, der
sich also auch hier bis zu den Ei m u 1 1 e rzel 1 e n
verfolgen läßt.
V.
Das Verhalten der elterlichen Kernbestandteile
während der Reifungsteilungen.
a) Verhältnisse im männlichen Geschlecht.
Hoden von jungen Heterocope-Männchen.
Figur 21 zeigt ganz junge, eben aus der
2. Reifungsteilung hervorgegangene Samenzellen(sp),
sie weisen ein fädiges Gerüst und mehrere
Nukleolen auf, die die Tendenz zur Ansamm-
lung an 2 Punkten haben und schließlich zu je
einem großen Nukleolus verschmelzen.
Figur 21 sp' zeigt ältere Samenzellen, mit
häufig 2 gleich großen Nukleolen, die schließlich
zu einem fast den ganzen Kernraum erfüllenden
Kernkörper verschmelzen.
b) E i b i 1 d u n g.
Cyclops brevicornis.
I . R i c h t u n g s t e i 1 u n g.
I. Hauptphase: Gegenüberstellung der
Vierergruppen.
Die Ovidukteier unmittelbar vor ihrem Austritt
zeigen in der Mitte die „provisorische Teilungs-
figur". Die 12 Chromatinelemente sind zu je 6
in 2 parallelen Ebenen angeordnet.
a b
LO
Figur 22
Fig. 22. C. b. Zentral gelegene ,,p roviso r isc h e Teilungs-
figur" im Oviduktei. Gegenüberstellung der Vierergruppen,
a Seitenansicht, b Polansicht der einen Gruppe von Vierer-
gruppen. Außer den Vierergruppen findet sich noch ein
Düppelpünktchen unbekannter Herkunft.
a) Seitenansicht, b) Polansicht. Außerdem ein ab-
seits gelegenes Doppelpünktchen, dessen Bedeutung
unklar ist. Jedes Element hat, wie wir sehen
werden, den Wert einer ganzen Vierergruppe.
a b
M
l>'
Etwas älteres Stadium.
Figur 23 zeigt ein ausgetretenes, besamtes Ei.
An der Peripherie liegt ein linsenförmiges Bläs-
chen mit einer Membran (,,sek u n däres Keim-
bläschen"). Längsdurchmesser parallel der Ei-
N. F. m. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
603
Oberfläche. Die 6 Chromatinelemente liegen zu
beiden Seiten einer L ä n g s s c h e i d e w a n d. Jedes
ist durch eine Querkerbe halbiert und durch einen
Längsspalt geteilt (Fig. 23 b).
Die Scheidewand ist zwischen 2 einander
opponierten Chromatinelementen in 2 Lamellen
gespalten (vielleicht Reagentienwirkung wie die
hellen Höfe in 22 a). Außerdem beobachtet man
polwärts ziehende Streifen und zwar;
Einfache Linien zwischen Pol und einge-
kerbter Mitte der Chromatinelemente, und
Doppellinien von Fol zu Pol zwischen den
benachbarten Chromosomen.
Das sekundäre Keimbläschen erscheint dadurch
in eine den Chromosomen entsprechende Zahl von
Keilen (oder vielmehr Halbkeilen) zerlegt, die in
2 Kränzen übereinander angeordnet sind.
Figur 24. Späteres Stadium, zeigt den Beginn
Fig. 24.
C. b. Umwandlung zur definitiven ersten Richtungs-
figur.
der Spindelanlage; die Streifung ist dichter,
Scheidewand undeutlicher geworden.
(Schluß folgt.)
die
Kleinere Mitteilungen.
Zahlenmäfsige Bestimmung der Holzhärte.
— Unter den technischen Ligenschaften der Hölzer
spielt neben der F'estigkeit, Elastizität, Biegsamkeit,
Schwere und anderen die Härte eine große Rolle,
d. h. der Widerstand, welchen ein Holz dem Ein-
dringen in seine Oberfläche entgegensetzt. Von
ihr hängt es zum großen Teil ab, ob ein Holz
schwerer oder leichter mit Messer und Säge zu
bearbeiten ist. Die Praxis hat daher ein erheb-
liches Interesse an der genaueren Erforschung der
Härte der einzelnen Holzarten und es existiert
eine Reihe von Zusammenstellungen der letzteren
nach der Härte, wie sie sich aus ihrem Verhalten
bei der Bearbeitung in der praktischen Erfahrung
ergeben hat.
Alle diese Zusammenstellungen haben indessen
den Mangel, daß sie keine zahlenmäßige Vor-
stellung von den vorhandenen Härteunterschieden
geben. Um wieviel, um z. B. Nördlinger's Aus-
drücke für die Härte zu gebrauchen, „steinharte"
Hölzer härter sind als ,, beinharte", ,, etwas harte",
„weiche" oder „sehr weiche", darüber sagen sie
uns nichts.
Eine Anfrage aus der Praxis gab mir Anlaß
zu einem Versuch, diese Lücke auszufüllen. Ich
benutzte dazu einen an anderer Stelle (Ztschr. f
Forst- u. Jagdwesen) abzubildenden Apparat, der
es ermöglichte, durch Gewichte eine etwa 5 mm
lange Slahlnadel ohne jeden Stoß ganz allmählich
in Holz einzutreiben. Die Nadel trug in einer
Entfernung von 2 mm von der Spitze eine Marke
und es wurde nun untersucht, wie viel Gramm
Belastung nötig seien, um die Nadel bis zur Marke,
also 2 mm tief, in verschiedene Hölzer einzustechen.
Diese Belastung konnte dann als Maß für die
Härte benutzt werden. Allerdings ist dabei ein
Umstand zu beachten. Holz ist keine homogene
Substanz wie etwa ein Metall, sondern besteht aus
sehr verschiedenartigen Elementarteilen, die der
eindringenden Nadel einen sehr ungleichen Wider-
stand entgegensetzen. Eichenholz z. B. läßt auf
dem Querschnitt schon mit bloßem Auge die von
großen Gefäßen erfüllte Anfangszone der Jahres-
ringe, das aus kompakten Fasergruppen nebst sehr
engen Gefäßen bestehende Spätholz und die breiten
Markstrahlen unterscheiden. In jede dieser Partien
wird die Nadel bei gleichbleibender Belastung ver-
schieden tief eindringen. Es muß also jede der-
selben für sich untersucht werden.
Dann aber kann man unter Berücksichtigung
des Anteils, den i. die großen Gefäße, 2. die
Fasermassen mit den kleinen Gefäßen und 3. die
Markstrahlen an dem Eichenholz inne haben, eine
mittlere Belastung angeben, die als Maßstab für
die Härte des untersuchten Eichenholzes verwend-
bar ist. In der Regel genügt es, durch oft wieder-
holtes Einstechen eine Minimalzahl und eine Maxi-
malzahl zu ermitteln, durch deren Kombination,
wenn dies erwünscht erscheint, eine Mittelzahl ge-
wonnen werden kann. Extreme Minima und
Maxima sind dabei zu vernachlässigen.
Auf die beschriebene Weise wurde eine größere
Anzahl lufttrockener Holzproben aus der Samm-
lung der Forstakademie in Hann. Münden auf ihre
Härte untersucht. Außer dem Querschnitt prüften
wir jedesmal einen bald mehr bald weniger radial
oder tangential verlaufenden Längsschnitt, wobei
dieser in den meisten F'ällen dem Plindringen einen
größeren Widerstand entgegensetzte als jener. Aus
den gewonnenen Zahlen sind im folgenden einige
mitgeteilt. Eine ausführliche Darstellung der ganzen
Untersuchung, die sich auf über 200 Holzarten
erstreckte, erscheint in der Zeitschrift für Forst-
und Jagdwesen (Berlin, J. Springer). Als Ausdruck
für die mittlere Härte ist in der kleinen Tabelle
die mittlere Querschnittshärte, um bequemere
Zahlen zu erhalten durch loo geteilt, angegeben.
Die weiten Lücken zwischen den Zahlen der
obigen Skala werden z. T. durch ausländische
Holzarten ausgefüllt. Namentlich die wärmeren
Länder liefern eine große Anzahl von Hölzern der
höheren Härtegrade. Will man aus obigen Zahlen
6o4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 38
Name der Holzart
Sali.\ alba
Pirrus strobus
Picea excelsa
Populus nigra
Tilia grandifolia
Pinus silvestris
Alnus glulinosa
Ulmus campestris var. vulg.
Betula alba
Eiche
Pirus communis
Fraxinus excelsior
Acer pseudoplatanus (Bergahorn)
Fagus silvatica
Prunus domestica
Robinia pseudacacia
Juglans regia
Carpinus betulus
Cornus sanguinea (Hartriegel)
Buxus sempervirens
Eisenholz
Pockholz (Guajacum sp.)
Quebrachoholz
Afrikan. Grenadillaholz (Dalbergia melano-
xylon)
Querschnittshärte Min. u.
Maxim.
Langsschnittharte Mm. u. ,,■.., ^ 1 •.. 1 ■■ .
'^ nT • Mittlere Ouerschnittshartc
Maxim. ^
300—500
700 — 900
4
400 — 900
1000—2500
6,S
400 — 900
1000 — 2500
6,q
700 — 900
1000 — 1900
8
900 — 1 000
1000— 1400
9,5
300 — 1 900
600 — 2700
II
1000 — 2000
1900 — 2000
15
900—2400
2800
16,5
1500 — 1900
2500—3000
17
(400 — )iooo — 3000
3000 — 6000
20
2000 — 2500
2500 — 3000
22,5
2500—3500
2500—4000
30
3000 — 4000
4000 — 4500
35
3000 — 4000
5000
35
3000 — 4700
4000 — 5000
38,5
looo — 7000
6000 — 7000
40
4000—5000
5000 — 6000
45
5000
7000 — 8000
50
5000 — 6000
6000 — 6500
55
8000
—
80
7000 — lOOOO
ca. 12000
85
9000
10500
90
1 1000 (Kern)
I 1000 — 12000
110
14000 (Splint 5000)
7000 (Splint) — 16000 (Kern)
140
arte I
sehr weich ')
„ II
weich
„ III
etwas hart
„ IV
ziemlich hart
V
hart
>. VI
sehr hart
„ VII
beinhart
„ VIII
steinhart
SO könnte dies
I — 10 unserer Skala.
-20
eine einfache Härteslola bilden ,
etwa so geschehen :
Härtegrade I-
II-
21—30
31—40
41—50
51—60
61—70
,, über 70 ,, ,,
Es ist selbstverständlich, daß die bei unseren
Versuchen gefundenen Zahlen zunächst nur für
die untersuchten Holzproben gelten. Man weiß,
daß verschiedene Individuen einer Holzart je nach
ihrer Wachstumsweise ganz verschiedene Härten
zeigen können. Auch wird die Härte in den
verschiedenen Teilen des Baumes verschieden sein.
Im großen und ganzen entsprechen die Zahlen in-
dessen den durch anderweitige Erfahrungen ge-
wonnenen Vorstellungen von der Härte der Hölzer,
was genügen mag, die Anwendbarkeit der Methode
darzutun. M. Büsgen (Hann. -Münden).
') Vgl. Nördlinger, Eigenschaften der Hölzer, p. 235.
Konjugation und natürlicher Tod. — Nacli-
dem ein Aufsatz von G. Heilig in Nr. 30 der
„Naturw. Wochenschr." dieses Thema behandelt
hat, dürfte es die Leser vielleicht interessieren, die
Errungenschaften der Wissenschaft der letzten Jahre
auf diesem Gebiete kennen zu lernen, die Heilig
offenbar unbekannt geblieben sind. Es handelt
sich hauptsächlich um Arbeiten von Calkins und
Richard Hertwig.
Heilig's Ausführungen stützen sich hauptsäch-
lich auf die Arbeiten Maupas', der auf Grund seiner
Züchtungsversuche der Lehre Weismann's von der
Unsterblichkeit der Protozoen entgegentrat mit der
Behauptung, auch die Protozoen seien, ebenso wie
die vielzelligen Tiere, dem Alter und dem Tode
verfallen, und nur ein „Rajeunissement karyoga-
mique", eine Verjüngung der Zelle durch Kon-
jugation, könne die gealterten Tiere vor dem .'ab-
sterben und damit die Art vor dem Untergange
retten. Calkins wies nun an Paramaecium cau-
datum zunächst nach, daß die von Maupas be-
schriebene Degeneration der Infusorien nach einer
Reihe von Generationen nicht, wie dieser meinte,
gleich zum Untergange der Kultur führen müsse,
wenn nicht Konjugation eintrete.
Diese Degeneration oder „Depression", wie
Calkins den Zustand nennt, der sich durch Ab-
nahme resp. Aufhören der Nahrungsaufnahme und
Vermehrung kennzeichnet, tritt nicht, wie Maupas
meinte, einmal nach so und so viel Generationen
in einer Kultur ein, als ein definitives, nur durch
,, Verjüngung" wieder zu behebendes Altwerden
der Zellen. Die Depressionen treten wiederholt in
schwankenden Zwischenräumen auf und werden
durcli innere Kräfte der Zelle, ohne äußere Ein-
wirkung, wieder gehoben. Dabei werden im Laufe
der Zeit diese Depressionen immer intensiver, folgen
in kürzeren Pausen aufeinander und führen schließ-
lich, wenn nicht auf irgend einem Wege Abhilfe
erfolgt, zum Untergange der Kultur. Der Lebens-
lauf einer Protozoenkultur läßt sich also nach
Calkins, wie auch Hertwig bestätigt hat, graphisch
durch eine aufsteigende, dann wellenförmig ab-
steigende Linie darstellen, wobei die Wellentäler,
die die einzelnen Depressionen anzeigen, immer
tiefer werden. Eine Rettung der Tiere vor diesem
Schicksal, eine „Verjüngung" kann nun auf ver-
schiedenem Wege erreicht werden. Einmal durch
Encystierung, die immer mit einer intensiven Re-
organisation des Kernapparates verbunden ist,
ferner durch hinreichend frühzeitige Konjugation
zweier Individuen (Austausch von Teilen der Ge-
N. F. III. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
605
schlechts- oder Nebenkerne).' Ferner auch, wie
Calkins gezeigt hat, durch chemische Einflüsse
(Gebrauch von F"leischextrakt als Nährboden statt
der Heuinfusionj oder mechanische Reize , zum
Beispiel anhaltende, starke Erschütterung. (Eine
in Depression befindliche Kultur Calkins' erholte
sich vollkommen durch eine längere Eisenbahn-
fahrt.)
Was ist nun die Ursache dieser Depressionen,
dieser Zustände von Funktionsunfähigkeit der Zelle,
die, wenn sie nicht behoben werden, schließlich
zum natürlichen Tode des Protozoons führen?
Nach den letzten Untersuchungen von Hertwig
liegt der Grund dieser F>scheinungen in einer
Verschiebung des normalen, fest bestimmten Massen-
verhältnisses zwischen Kern und Plasma der Zelle.
Jede I'^unktion der Zelle ist verbunden mit einer
Größenzunahme des Zellkerns, der die Tätigkeit
der Zelle dadurch ermöglicht, daß er ihr bestimmte
Substanzen entzieht. Hierauf entzieht nun seiner-
seits der Zelleib wieder dem Kern Substanzmengen
und stellt so das normale Mengenverhältnis beider
Teile wieder her. Die einzelnen Depressionen der
Protozoen sind also verursacht durch die mit der
vorhergehenden Funktion der Zellen Hand in Hand
gehende Vergrößerung der Kerne ; sie werden auf-
gehoben durch die Vorgänge der Kernresorption,
die während der Zeit geringer Zellfunktion statt-
findet. Tatsächlich fand auch Hertwig bei Para-
maecien, die sich im Depressionszustand befanden,
den Kern bedeutend vergrößert. Mit der Etic)'stie-
rung gehen beträchtliche Resorptionen der Kern-
masse durch das Protoplasma Hand in Hand.
(Nach R. Hertwig werden bei der Encystierung
des vielkernigen Actinosphaerium Eichhorn! ca.
95% der Kerne aufgelöst.) Ebenso wird bei der
Konjugation der Infusorien der weitaus größte
Teil des Kernapparates, der Hauptkern oder so-
matische Kern, rückgebildet.
Es ist nun Hertwig gelungen, einige Protozoen,
das Sonnentierchen Actinosphaerium Eichhorni
und das Infusor Dileptus Gigas, unter Verhinderung
der „Verjüngung" durch Konjugation oder En-
cystierung zu züchten bei fortgesetzter starker
Funktion (durch übermäßige Fütterung). Die I'olge
stand ganz im Einklang mit den oben auseinander-
gesetzten Anschauungen. Die Kerne der Tiere
nahmen an Masse immer mehr zu. Unter den
Symptomen der Depression '^(zeitweise herab-
gesetzte Zellfunktion verbunden mit Resorption
eines Teiles des Kernapparates), wurde das nor-
male Verhältnis zwischen Kern und Zelleib wieder
hergestellt; jedoch erwies sich auf die Dauer die
kernresorbierende Kraft des Plasmas als unge-
nügend und die Tiere gingen unter Bildung von
verhältnismäßig ungeheuer großen Kernen (bei
Actinosphaerium Vergrößerung der Kerne bis auf
das 3000 fache!) zugrunde.
Es ist also im Grunde genommen die Funktion
der Zelle, die die Zelle zugrunde richtet. Das
Leben enthält, für Protozoen ebenso wie für Meta-
zoen, den Keim des Todes, und der einzige Unter-
schied ist, daß die Protozoen Mittel besitzen, durch
eine Verjüngung der Zelle sozusagen das Leben
wieder von vorne zu beginnen, wenn es sich
durch seine Tätigkeit erschöpft hat.
Dr. E. Neresheimer.
') Die Konjugation oder Befruchtung der Protozoen be-
deutet übrigens nicht, wie Heilig meint, eine ,, typisch-ge-
schlechtliche Furtpflanzung". Ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen Befruchtung und Fortpflanzung besteht nicht. ,,Bei
den ciliatcn Infusorien ist die Konjugation nicht ein Vor-
läufer, sondern die Folgeerscheinung lebhafter Teilungsprozesse"
(R. Hertwig).
N. G a i d u k o V teilt interessante Untersuch-
ungen über den Einflufs farbigen Lichtes auf
die Färbung der Oscillarien mit (Ber. d. Dtsch.
Botan. Gesellsch., Bd. 21, 1903, S. 484) und er-
gänzt damit frühere, über denselben Gegenstand
von ihm angestellte Versuche (Sitz.-Ber. d. Kgl.
Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1902). Er hatte fest-
gestellt, daß unter dem Einflüsse farbigen Lichtes
die blaugrüne Farbe der Zellen (die Oscillarien
gehören zu den Blaualgen) sich allmählich ändert,
und zwar in der Weise, daß die ursprüngliche
Farbe mehr und mehr in die Komplementärfarbe
der des einwirkenden Lichtes übergeht (Gesetz
der komplementären chromatischen Adaptation).
Dieses Verhalten des Oscillarienfarbstoffes unter-
scheidet sich wesentlich von allen bis dahin be-
kannten Wirkungen farbigen Lichtes auf körper-
liche Farben. Bei diesen wird die Farbe des be-
leuchteten Körpers zu der des einwirkenden Lichtes
nicht mehr oder weniger komplementär, sondern
vielmehr ähnlicher oder gleich (chromatische
Assimilation), wobei es gleichgültig ist, ob die
Farbe einem lebenden oder leblosen Körper an-
gehört. Der Vorgang der komplementären chro-
matischen Adaptation bei Oscillaria ist nun insofern
bemerkenswert, als es sich hier um einen physio-
logischen Prozeß handelt, der der Vermittlung des
Protoplasmas lebender Zellen bedarf Die unter
dem Plinflusse farbigen Lichtes einmal hervor-
gerufene neue Färbung kann sich nach der Rück-
versetzung der Oscillarien in weißes Licht monate-
lang erhalten.
Die Untersuchungen des Verfassers erstrecken
sich vorwiegend auf zwei Arten der Gattung
Oscillaria, nämlich auf O. sancta und O. caldario-
rum. Die Resultate sind bei beiden im wesent-
lichen gleiche. Die Farbe der ersteren ist mehr
violett, die der letzteren spangrün. In rotem oder
gelbem Lichte kultiviert , zeigt O. sancta eine
Farbenänderung von violett über blaugrün zu
spangrün, um die roten und orangefarbigen Strahlen
stärker zu absorbieren. Gerade entgegengesetzt
verläuft der Farbenwechsel bei O. caldariorum,
wenn diese Alge in grünem Lichte gezogen wird.
Hier werden die spangrünen Zellen allmählich
grauviolett, intensivviolett und schließlich braun
und gelbbraun. Werden beide Spezies zusammen
in grünem Lichte gehalten, so siegt O. sancta
über O. caldariorum, was sich daraus erklärt, daß
6o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 38
die erstere ihre von Natur violette Färbung nur
in gelbbraun oder braun zu verändern braucht,
während die spangrüne Färbung der letztgenannten
Art sich erst auf dem Umwege über graugrün,
hellviolett und violett in braun umwandelt. In
rotem, violettem und gelbbraunem Lichte siegt
dagegen O. caldariorum und behält die ursprüng-
liche blaugrüne Farbe, durch welche die orange-
farbenen und roten Strahlen am stärksten absor-
biert werden.
In blauem Lichte wächst O. caldariorum fast
gar nicht, da diese Beleuchtung für sie zu un-
günstig ist. Se.
Über das Erdölvorkommen in Norddeutsch-
land. — Da die Produktion von Erdöl in Deutsch-
land immer mehr an Bedeutung gewinnt, so ist
es nicht uninteressant durch den Gesetzentwurf,
welcher kürzlich dem Herrenhaus zugegangen ist,
etwas Näheres und Zuverlässiges über den heutigen
Stand dieser Industrie zu erfahren.
Das Vorkommen von Erdöl an verschiedenen
Orten des preußischen Staates ist zwar schon seit
langer Zeit bekannt, von größerer Bedeutung ist
indessen nur das Vorkommen bei Oelheim in der
Provinz Hannover gewesen, das in den 80 er Jahren
des vorigen Jahrhunderts Anlaß zu einer schnell
aufblühenden, aber bald wieder sinkenden Industrie
gegeben hat. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts
sind indessen in der Gegend zwischen Celle und
Schwarmstedt Provinz Hannover, namentlich bei
Wietze und Steinförde, .'Xrbeiten zur Gewinnung
von Erdöl betrieben und mit stetig fortschreiten-
dem Erfolge weitergefülnt worden. Es sind dort
allmählich mehrere hundert Bohrlöcher nieder-
gebracht worden und zurzeit sind 17 Gesell-
schaften mit der Aufsuchung und Gewinnung von
Erdöl beschäftigt. Um einem Raubbau entgegen-
zuwirken, hat die preußische Regierung beschlossen,
die Aufsuchung und Gewinnung von Erdöl dem
Berggesetz zu unterstellen.
In dem Jahre 1903, für welches die genauen
Zahlen noch nicht vorliegen, betrug die Produktion
der Werke zu Wietze und Steinförde über 40000
Tonnen im Werte von über 3 Millionen. Was
die Beschaffenheit des zu Wietze gewonnenen
Erdöls betrifft, so ist zwischen dem bisher fast
ausschließlich geförderten Öle der sogenannten
„oberen ülzone" und demjenigen der erst in
neuester Zeit erbohrten „zweiten Ölzone" zu unter-
scheiden. Über die technische Verwendung ist zu
bemerken, daß das obere Öl, nach Abtreibung
des Benzins und des Leuchtöls, fast ausschließlich
als Waggonschmieröl gebraucht worden ist; für
die leichteren und erheblich leuchtölreichcren
Öle der zweiten Zone sind die erforderlichen Ein-
richtungen der Raffinerien noch nicht fertiggestellt.
Neben den Aufschlüssen bei Wietze und Stein-
förde ist nun noch an zahlreichen anderen Orten
des Herzogtums Braunschweig, sowie an mehreren
Stellen der Provinz Schleswig-Holstein Erdöl in
größeren oder geringeren Mengen festgestellt
worden. Weitere Erdölvorkommen sind in den
Provinzen Sachsen und Westfalen an verschiedenen
Orten bekannt geworden.
Die Entstehung des Erdöls ist bekanntlich noch
eine vielumstrittene Frage. Früher hielt man das-
selbe allgemein für vegetabilischen Ursprungs und
brachte dasselbe in Zusammenhang mit der Bildung
der Stein- und Braunkohle. Jetzt neigt man mehr
zu der Ansicht, daß es dem Fette verendeter See-
tiere seine Entstehung verdankt. Ebensowenig
sind die geologischen Schichten, in welchen das
Erdöl vorkommt , genau festgestellt. Immerhin
scheint für das nordvvestdeutsche Vorkommen
festzustehen , daß der L'rsprung des Erdöls in
Schichten zu suchen ist, die älter sind als unterer
Lias, und daß das Petroleum in allen diesen näher
bekannten Gebieten zugleich mit Salzwasser empor-
steigt und die angrenzenden Schichten imprägniert.
Dieselben Beobachtungen hat man bekanntlich
bei der galizischen und rumänischen Erdölindustrie
gemacht. Jedenfalls hat es keinen Zweck, wie
das jetzt in Deutschland an verschiedensten Orten
geschieht, einfach auf gut Glück nach Petroleum
zu bohren, ohne daß auch nur eine Wahrschein-
lichkeit für dessen Vorkommen vorhanden ist.
Ferner muß man berücksichtigen, daß wohl bei
fast allen Petroleumlagern, welche man durch
Bohrungen aufgeschlossen hat, an irgend einer
dieser Stellen Anzeigen seines Vorkommens an
der Oberfläche sich bemerkbar machten, sei es
durch Auftreten von Asphalt, von Gasausströmungen,
oder von geringeren oder größeren Mengen von
Öl an der Oberfläche der auf diesem Gebiete zu-
tage tretenden Gewässer und in den oberen Erd-
schichten. Sandsteine, Schiefer und Tone zeigen
sich oft in solcher Weise mit Ol imprägniert.
Allerdings ist die Menge oft so gering, daß das
Ol weder mit dem Auge, noch durch den Geruch
wahrnehmbar ist. Namentlich die Tone zeigen
eine große .A.ufsaugekraft für Öle und Fette, so
daß man diesen Tonen in den fraglichen Gebieten
seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden muß.
So hat Schreiber dieser Zeilen eine größere An-
zahl Tone untersucht und bei der Destillation in
verschiedenen Proben deutliche Spuren von Öl
nachgewiesen. Die Zusammenstellung der Resul-
tate dieser Untersuchungen finden sich in Dingler's
Polyt. Journal Bd. 311 S. 67 f. Von 43 unter-
suchten Proben , welche aus Anhalt stammten,
zeigten sich 21 ölhaltig. Bei dieser Gelegenheit
sei auf das interessante Vorkommen von Insekten-
resten in einem diluvialen Tone des Erdölgebietes
von Boryslaw hingewiesen. Lomnicki beschreibt
;6 Arten Coleopteren, 4 Hemipteren, je i Ortho-
ptere und Lepitoptere, ferner 2 Dipteren. Das
Vorkommen erklärt sich durch Annahme eines
diluvialen Erdöltümpels über dem .'\usgehenden
der Spalten, dessen spiegelnde Oberfläche die in
der Dämmerung oder nachts umherschwirrenden
Insekten anlockte. Die Tiere verendeten in dem
Öl und wurden in dem sich am Grunde des
Tümpels absetzenden ölgetränkten Schlamm ein-
N. F. m. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
607
gebettet, wodurch sich ihr vorzüglicher Erhaltungs-
zustand erklärt. Die kleinsten Einzelheiten in dem
Relief des Chitinpanzers, ja sogar teilweise die
Farben sind erhalten.
Wenn man auch fast überall die Erdöllager
dadurch gefunden hat, daß man die sog. Ölausbissc,
d. h. solche Stellen, an denen das Öl zutage tritt,
verfolgt, so ist damit natürlich noch nicht gesagt,
daß man dort immer ausbeutewürdige Lager findet.
Wir kennen viele solcher Gegenden, wo das Auf-
treten von Ol schon seit Jahrhunderten bekannt
ist, so z. B. bei Tegernsee, ohne daß die Bohrun-
gen wirkliche Lager aufschließen konnten. Die
Gesamtmenge ist eben zu gering. Ich will hier
noch zum .Schlüsse erwähnen, daß auch schon
ausgelaufene Petroleumfässer zu umfassenden Nach-
forschungen Veranlassung gegeben haben, obgleich
der gereinigte Zustand des Öles sofort auf seinen
Ursprung hinweist. Ferner ist mir eine Gegend
auf dem Westerwald bekannt geworden, welche
mit dem Namen „Ölwog" oder „in der Ölbach"
bezeichnet wird und man findet auch bei den
Bauern der betreffenden Gemeinde die Ansicht,
daß an diesen .Stellen in der Tiefe Petroleum vor-
komme. Unterstützt wird dieser Glaube schein
bar durch einen in Regenbogenfarben schillernden
feinen Überzug, welchen die sumpfigen Stellen
der Wiesen auf den Wasserlachen und den kleineren
Bächen zeigen. Bei näherer Betrachtung zeigt
sich jedoch, daß man es nicht mit einer Olschicht,
sondern mit einem feinen irisierenden ffäutchcn
von Eisenoxyd zu tun hat, welches sich aus dem
stark eisenhaltigen Wasser abgeschieden hat.
Dr. Edgar Odernhcimer.
Die Schmelzwärme des Eises ist jüngst von
A. Smith nach einer elektrischen Methode neu
bestimmt worden (Ztschr. f Instrumentenkundc,
März 1904). Die Schmelzung einer genau ge-
messenen Eismenge bewirkte derselbe nämlicli
durch einen vom Strom durchflosscnen Heizdraht
und maß die dabei verbrauchte elektrische Energie,
indem Stromstärke und Spannungsabfall sorgfältig
ermittelt wurden. Das Resultat ergab für die
Schmelzwärme des Eises den Wert von 324,21
Joule + 0,08, was 79,896 mittleren g- Kalorien
entspricht. Kbr.
Bücherbesprechungen.
Dr. G. Haberlandt, o. ö. Prof. d. Bot. etc. in Graz,
Physiologische P fla n ze n anato niie. 3.
neubearb. u. verni. Aufl. Mit 264 .Abb. im Text.
Wilhelm Engelmann in Leipzig, 1904. — Preis
18 Mk.
Eins vun den trefflichen Büchern , die in einer
besseren biologischen Bibliothek kaum fehlen dürfen !
Es handelt sich in dem Buch um die zweifellos der-
zeitig beste Pflanzenanatomie , die wir überhaupt be-
sitzen. Wir sagen absichtlich schlechtweg Pflanzen-
anatomie und lassen den Zusatz „physiologische" weg,
denn in Zukunft wird die Pflanzenanatomie eben nur
mit Rücksicht auf die Bedeutung der Bauverhältnisse
zum Leben getrieben werden, so wie es in der zoo-
logischen Anatomie schon längst der Fall ist. Die
Pflanzenanatomie ist nur dann eine Wissenschaft und
kann nur dann fortschreiten, wenn die Aufdeckung
der Beziehungen des Baues zur Firnktion der Gewebe
und Organe der leitende Gesichtspunkt weiterer
Forschung ist. Die bloße Beschreibung des Formalen
muß zwar vielfach vorausgehen: das Ziel ist aber
stets die Erkenntnis der Bedeutung der Baueigentüm-
lichkeiten für das Leben, jedenfalls eine bibeziehung-
setzung der entgegentretenden Formen zur Umgebung.
Das ist gewiß recht selbstverständlich : und doch sind
wir noch immer — trotz der Arbeiten Schwendener's
und seiner Schüler , unter denen Haberlandt zu den
hervorragendsten geholt — in der Übergangsperiode
begriffen, insofern als noch viele heutige botanische
Arbeiten selbst die schon 1874 erschienene .Schrift
Schwendener's über das mechanische Prinzip im ana-
tomischen Bau der Monokotylen nicht hinreichend
würdigen. Auch in der Wissenschaft dauert es oft
lange, ehe das Bessere voll zum Durchbruch kommt.
Bei der lebhaften Arbeit, die sich immerhin auf
dem Gebiet der physiologischen Pflanzenanatomie
betätigt, bei dem vielen Neuen , das hier noch zu
tun ist, ist e-i begreiflich, daß die neue Auflage des
Haberlandt'schen Buches stark verbessert und ver-
mehrt erscheint. So finden wir — um nur ein sehr
interessantes Kapitel herauszugreifen — in der 3. Aufl.
die Statiilithenlehre gebührend behandelt. Der frühere
Abschnitt ...Ajjparate und (iewebe für besondere
Leistungen'' zerfällt denn auch in der vorliegenden
Auflage in 3 eigene Abschnitte, nämlich in einen
über das Bewegungssystem , einen über die Sinnes-
organe und einen über „Einrichtungen für die Reiz-
leitung". Die Abbildungen sind von 235 der 2. .^ufl.
auf 264 vermehrt worden. P.
Dr. Johannes Tropf ke, Geschichte der Ele-
mentarmathematik in systematischer
rjars t e 1 lu ng. Zweiter Band. Geometrie. Loga-
rithmen. P^bene Trigonometrie. Sphärik und
sphärische Trigonometrie. Reihen. Zinseszins-
rechnung. Kombinatorik und ^Vahrscheinlichkeits-
lechnung. Kettenbrüche. Stereometrie. Analyti-
sche (leometrie. Ivegelschnitte. Maxima und
Minima. Mit Fig. im Text. Veit iS; Co., Leipzig
1903. 496 S. 12 Mk.
Dem ersten Bande , der vor einem Jahre in
dieser Zeitschrift (N. F. Bd. II, S. 167, Nr. 14) an-
gezeigt ist, hat der Verfasser sehr bald den zweiten
folgen lassen , der das Werk abschließt. Schon die
Aufzählung der behandelten Gebiete auf dem Titel-
blatt zeigt , daß beim zweiten Bande eine größere
Mannigfaltigkeit des Stoffes vorlag als beim ersten,
deren Bewältigung wohl mitunter zur Kürze zwingen
mochte. So dankbar aber auch jeder, der das Buch
zur Hand nimmt, dem Verfasser sein wird für die
schnelle Erledigung der Aufgabe, die er sich gestellt
hatte, so wird doch mancher beim zweiten Bande die
weiteren Grenzen vermissen , die der erste in bezug
auf Form und Inhalt zeigt, und die Bitte unterstützen,
6o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III Nr. 38
bei der neuen Auflage den vorliegenden Band in der
Ausführlichkeit dem ersten ähnlich zu machen und
ihn zu teilen. Sowohl bei den arithmetrischen als
bei den geometrischen Abschnitten führt teils der
Schulunterricht, teils die tägliche Umgebung gelegent-
lich auf Fragen, bei denen man für eingehendere Be-
lehrung sehr dankbar wäre; z. B. seien die Fragen
der Versicherungsmalhematik genannt, die Brocard-
schen Gebilde u. a. A. S.
Oberlehrer B. Kolbe, Einführung in die Elek-
trizität slehr e. I. Statische Elektrizität. 2. Aufl.
mit 76 Fig. Berlin, J. Springer, 1904. 164 S.
— Preis 2,40 Mk., geb. 3,20 Mk.
Als vur mehr als 10 Jahren die erste Auflage
dieser Vorträge erschienen war, fand dieselbe alsbald
ungeteilte Anerkennung bei allen Fachgenossen und
man kann sagen, daß die klare und überaus anschau-
liche Darstellungsweise Kolbe's in Verbindung mit
den von ihm vielfach in zweckmäßigster Weise ab-
geänderten oder auch neu ersonnenen Demonstrations-
mitteln vorbildlich und ungemein anregend gewirkt
hat. Es ist daher sehr erfreulich, daß nunmehr eine
Neuauflage der Schrift vorliegt, die alle inzwischen
herausgefundenen Vervollkommnungen der Apparate,
sowie das Ergebnis der durch die erste Auflage ver-
anlaßten Diskussion verwertet. Das am Schluß an-
gefügte Preisverzeichnis der benutzten Apparate wird
vielen willkommen sein, zeigt aber leider auch, daß
Schulen mit beschränkten Mitteln die Anschaffung
der vorzüglich instruktiven Lehrmittel nur sehr all-
mählich werden bewirken können. Kbr.
Literatur.
Friedmann, Dr. Herrn.: Die Konvergenz der Organismen.
Eine cmpirüscli begründete Theorie als Ersatz f. die Ab-
stammungslclire. (242 S.) gr. S". Berlin '04. Gebr. Paetel. —
1; Mk. ; geb. in Ilalbleinw. bar 6 Mk.
Geinitz, E. : Das Quartär v. Nordeuropa. Mit e. Einlcitg. :
Die Hora u. Fauna des Quartärs v. Fr. Frech m. Beiträgen
V. E. Geinitz. Mit 2 Lichtdr.-Taf , 4 Karlen, 12 Te.xttaf.,
6 Beilagen, 163 Abbildgn., Fig., Diagrammen u. Karten u.
zahlreichen Tab. im Text. [Aus: ,,Lethaea geognostiea".]
(X, 430 S. m. 2 S. Erklärgn.) Lex. 8". Stuttgart '04. E.
Schweizerbart. — 58 Mk.
Lemmermann, E. : Das Plankton schwedischer Gewässer. [Aus :
„.«\rkif f. botanik".] (209 S. m. 2 Tat.) gr. 8". StocUholm
'04. (Herlin, R. Fricdländer & Sohn.) — 6.60 Mk.
Pompeckj, Prof. Dr. J. F.: Karl Alfred v. Zittel, 25. IX.
1839 — 5. I. 1904. Ein Nachruf. [Aus: „Palaeontographica".]
{28 S. mit I Bildnis.) 4». Stuttgart '04. E. Schweizer-
bart. — 3 Mk.
Briefkasten.
Herrn U. in P. — Ein l'.estimmungswerk der Pilze Mittel-
europas gibt es nicht, wenn Sie die F'loren von Raben hörst
und Wünsche ausnehmen. Es e.tistieren wohl noch einige
populäre kleinere Bücher (z. B. Kummer, Der Führer in die
Pilzkunde), welche einzelne Gruppen des Pilzreiches in mehr
oder weniger umfassender Weise behandeln, aber vollständige
Floren gibt es nicht. Vielleicht wird diese Lücke einigcrmalSen
ausgefüllt werden durcli : Migula, Kryptogamenflora, in Tho-
raes Flora von Deutschland. Band V (Gera, F. v. Zezschwitz).
Dieses Werk bringt vorzügliche .\bbildungcn und genaue Be-
slimmungstabellen aller .\rlen. Es wird allerdings noch einige
Zeit dauern, che die Pilze zu erscheinen anfangen.
G. Lindau.
Herrn Dr. G. S. in Reval. — Weder international noch
für den Umfang des deutschen Sprachgebietes besteht eine
Übereinkunft in der Namengebung für Einzelformen der Küsten-
gliederung. Gewählt werden einfach die charakteristischen
Bezeichnungen für örtliche Sonderfälle, wie sie landesüblich
sind, nötigenfalls also die ausländischen Benennungen oder
die von einzelnen Forschern aufgestellten Typenbezeichnungen,
wie man sie bei F. v. Richthofcn im Führer für Forschungs-
reisende S. 304 ff., in Penck's Morphologie der Erdoberfläche
11, 582 und andernorts verstreut, in Fr. Hahn's Abhandlung
über Verkehrsgeographie (Zeitschrift f. wisscnsch. Geogr. Bd. V),
bei Ratzet und anderen findet. Diese Namenvorschläge sind
natürlich nicht in gleicher Weise durchgedrungen.
F. Lampe.
F. L- K. — Eine klare und eingehende Darstellung der
Micellarthcorie sowie der Sie besonders interessierenden Fragen
finden Sie in Nägeli und Seh wendener. Das Mikro-
skop, Leipzig, Wilhelm Engelmann, 2. Aull. 1877, auf S. 426,
427, 430, besonders S. 427.
Herrn S. Seh. in Halle a. S. — Bei der von Ihnen ge-
nannten F'irma, an die Sie sich vertrauensvoll wenden
können , erhalten Sie eine treffliche Taschenlupe zu dem an-
gegebenen Preise.
Herrn Prof W. Seh. in M. — Über Drumlins vgl. Sie
Wahnschaffe, Die Ursachen der Oberflächengestaltung des nord-
deutschen Flachlandes. StuUgart (J. Engelhorn). 2. Aufl. 1901.
.S. 128 ff.
Herrn Dr. Bl in P. — Sehr zu empfehlen ist Ascherson,
Graebner und Beyer: Norddeutsche Schulflora (Gebrüder Born-
traeger in Berlin 1902), sonst ist auch I^ackowitz, Flora von
Berlin, brauchbar. Beide Bücher sind sehr handlich für die
E.xkursion.
Herrn A. S. in Königsberg i. Pr. — Moderne Lehrbücher
der anorganischen Chemie sind ;
Dammer, Handb. d. anorg. Chemie 1892— 1903 (110 Mk.).
Erdmann, Lehrb. d. anorg. Chemie 1902 (12.50 Mk.).
Gmelin-Kraut, Handb. d. anorg. Chemie 1872—97 (i5oMk.).
Heuniann, Anl. z. F.xperimentieren (20 Mk.).
Kleyer, Anorganische Experimentalchemie (34 Mk.).
Richter, Lehrb. d. anorg. Chemie 1900 (9 Mk.j.
Für technische Chemie :
Dammer, Handb. d. Technologie (85 Mk.).
Muspratt, Anwendung d. Chemie auf Kunst und Gewerbe
(210 Mk.).
Für organische Chemie;
Ricliter-Anschülz, Lehrb. d. org. Chemie 1901 (25 Mk.).
Meyer -Jacobson, Lehrb. d. org. Chemie 1893 — 1902 (80 Mk.).
Ferner :
Roscoe-Schorlemmer, Ausführt. Lehrbuch für die ges. Chemie
18S2— 190a (206 Mk.).
H. Wölbling.
Inhalt: Georg Heuser: Natürliche und liünstliche Erzeugnisse. — K. Kliem: Das Verhalten der Vorkernc nach der
Befruchtung. — Kleinere Mitteilungen: M. Büsgen: ZahlenmäUige Bestimmung der Holzluirte. — Dr. E. Neres-
heimer: Konjugation und natürlicher Tod. — N. Gaidukov: Untersuchungen über den Einfluß farbigen Lichtes auf
die Färbung der OsciUaricn. — Dr. Edgar Odern heimer: Über das Erdölvorkommen in Norddeutschland. —
A. Smith: Schmelzwärme des Eises. — Bücherbesprechungen: Dr. G. Haberlandt: Physiologische Pflanzen-
anatomie. — Dr. Johannes Tropfke: Geschichte der Elementarmathematik in systematischer Darstellung. — Ober-
lehrer B. Kolbe: Einführung in die Elektrizitätslehre. - i ■•»— -»t"-- ' ■»»» — R.-i»ft»<=f»r,
Literatur: Liste.
Briefkasten.
Ver.-intwortlicher Eedalttcur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfclde-West b. Berlin.
Druclc von Lippert & Co. (G. Pätz'sclie Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge IIl. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 26. Juni 1904.
Nr. 39.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Verhalten der Vorkerne nach der Befruchtung.
[Nachdruck verboten.]
Von K. Kliem.
(Schluß.)
2. Hauptphase: Discentrische Wanderung
und Paarung der Spalt half ten.
Die Spalthälften wandern nun an die Pole und
bilden den i. Richtungskörper. In diesen und den
Eikern sind je 12 einfache Schleifen eingegangen
(Äquationsteilung) (Fig. 25).
Nach vorübergehender Verkürzung legen sich
je 2 Schleifen zu einer X-förmigen Figur zusammen
(Fig. 26).
Der Eikern streckt sich jetzt senkrecht der
Eiobeifläche und zeigt die Streifung wie das
sekundäre Keimbläschen.
Bei der discentrischen Wanderung der Spalt-
hälften schwindet die Scheidewand, und wir haben
statt der früher erwähnten 12 halbkeilförmigen
iMguren 6 ganze von Pol zu Pol sich erstreckende
Keile (Fig. 27). Es erscheint nahezu sicher, daß
die sich paarenden Spalthälften je 2 im sekundären
Keimbläschen opponierten Vierergruppen ange-
hören (s. später).
fm
^;
^>
x^ir\
o
Q_o
C
-0
.1 Seitenansicht, b (Querschnitt durch die Chromosomengruppen.
tungskörpcrs. Fig. 26. C. b.
Paarung der Spalthülften.
li-förmiger Figuren.
Bildung X- und
6io
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 39
2. Richtungsteilung.
3. Hauptphase: Um Ordnung der Einzel-
chromosomen.
Die gepaarten Spalthälften a b und n o sind
bivalent. Diese x-förmigen Cliromosomenpaare
stellen sich, wie gesagt, allmählich senkrecht zur
Streifung ein (Fig. 26 a).
a n
Äquatorebene
'G-
Sodann brechen die bivalenten Paarlinge in der
Mitte durch und zerlegen sich in Einzelchromo-
somen (Fig. 27), je ein Einzelchromosom des einen
Paarlings tritt mit der auf der gleichen Äquator-
seite gelegenen Hälfte des anderen in Beziehung
(z. B. a mit n).
a n
/\
b o
Nochmalige Verfolgung der Vorgänge
an der Hand seh em atischer Figuren.
I. Richtungsteilung.
In die Tochterkerne gelangen, wie bei jeder
anderen Kernteilung, je 6 väterliche und mütter-
liche Elemente. Ihrer Aufstellung in 2 Fronten
entsprechend müssen die väterlichen und mülter-
lichen Elemente zvvischeneinander durchtreten,
während sie an die Pole wandern (Fig. 30 b).
Mit größter Wahrscheinlichkeit ergab sich, daß
bei der folgenden Paarung der Spalthälflen die
Paarlinge 2 im sekundären Keimbläschen einander
opponierten Vierergruppen angehören.
Bei der Paarung erfolgt die Vereinigung je
einer väterlichen mit einer mütterlichen Spalthälfte.
Die erste Richtungsteilung leitet
also die Durch mischung der elterlichen
Anteile ein.
rh - {^
'•/-, -i#
C. b. Zweite Riclilungsspindel.
Mctakinese der zweiten Kichtungsspindel.
4. Hauptphase : D i s c e n t r i s c h e Wanderung
der neuformierten Elemente.
Die nebeneinander liegenden Chromosomen
rücken enger zusammen und bilden beim all-
mählichen Auseinanderrücken DoppelV (Fig. 28).
P'igur 29a zeigt das Dyasterstadium, aus
den V-ähnlichen Plguren sind hufeisenförmige
Schleifen geworden.
Figur 29 b, Polansicht, zeigt, daß im 2. Rich-
tungskörper und Eikern je 6 Schleifen vorhanden
sind (reduzierte Chromosomenzahl).
Wie sind diese Komplikationen des
Red uktions Vorganges aufzufassen?
Diese Vorgänge werden in ein neues Licht ge-
rückt, wenn man die Annahme macht, daß zwischen
ihnen und dem in der ganzen Keimbahn beob-
achteten autonomen Zustand der elterlichen Kern-
hälften ein Zusammenhang besteht.
Bei Cyclops brevicornis tritt der Doppelbau
des „sekundären Keimbläschens" wieder hervor.
Daher scheint die Annahme berechtigt, daß dieser
die Fortsetzung der bei der P'urchung und Gonaden-
bildung beobachteten Anordnung ist.
Dann wären die Vierergruppen auf der einen
Seite der Scheidewand väterlichen, die auf der
anderen mütterlichen Ursprungs.
" O ^
Fig. 29. C. b. Dyaster der zweiten Riclilungsspindel und
erster Kichtungskürper (r/!',). .1 Seitenansicht, b Qucrsclinitt
durch die Chromosomengruppen.
2. Richtungsteilung.
Durchführung der D u rch m ischu ng.
Es erfolgt eine Auswechslung der Einzel-
chromosomen je zweier gepaarter Spalthälften. Je
ein väterliches und mütterliches Chromosom treten
zusammen (Fig. 30 c).
Die 12 bivalenten Elemente werden durch den
Reduktionsakt auf den 2. Richtungskörper und den
Eikern verteilt. Der Eikern enthält also 6 Misch-
linge, die sich je aus einer väterlichen und mütter-
lichen oder, da die reife Eizelle bereits eine neue
Generation repräsentiert, besser gesagt, aus einer
großväterlichen und großmütterliche 11
Hälfte zusammensetzen (Fig. 30 d).
Die gleichmäßige Verteilung der elterlichen
Anteile erfolgt also :
1. durch Gegenüberstellung der väterliclien
und mütterlichen Elemente;
2. durch Paarung der Spalthälften;
3. durch Auswechslung der Kinzelchromo-
some.
N. F. III. Nr. 30
Naturwisseiiscliaftliche Wochenschrift.
6ii
VI.
Über die Verbreitung des gonomeren Kern-
zustandes im Tier- und Pflanzenreich.
Kriterien des gonomeren Kernzustandes:
Doppelte Knäuelfiguren;
Doppelastern in Polansicht (Fig. ii);
Doppeldyastern im Querschnitt;
Doppeldyastern in Seitenansicht (Fig. lo);
ruhende Doppelkerne mit zahlreichen Nukle-
olen;
6. ruhende Doppelkerne mit je einem Nukle-
olus in jeder Kernhälfte;
junge, kugelige Tochterkerne mit 2 sym-
metrisch gelagerten Nukleolen ;
zweiteilige Keimbläschen mit symmetrisch
gelagerten Chromosomen (Fig. 23).
Die Feststellung der Autonomie der Kern-
liälften wird für die Vererbungslehre von größerem
Interesse sein, wenn es sich nicht um ein ver-
einzeltes, dcnCopepoden eigentümliches Vorkomm-
nis, sondern um eine Erscheinung von allgemeiner
Verbreitung liandelt.
I.
2.
3-
4-
5-
7-
8.
Nun sind tatsächlich in der ganzen Organismen-
reihe bis zum Menschen hinauf ähnliche Verhält-
nisse beobachtet worden. Ich muß es mir ver-
sagen, speziell darauf einzugehen und will nur das
Endergebnis der genannten Beobachtungen hier
mitteilen, nämlich, daß der gonomereKern-
zustand eine weite, wenn nicht allge-
meine Verbreitung bei den amphigon
erzeugten tierischen und pflanzlichen
Organismen besitzt und besonders in
den sexualen und epithelialen Zellen
zum Vorschein kommt.
VII.
Allgemeiner Teil.
A. Wesen der Befruchtung.
Seit Feststellung der Befruchtungsvorgänge ist
das Wesen der Befruchtung als die Verschmel-
zung zweier Zellen und ihrer Kerne angegeben
worden.
Der Ausdruck „Kern\erschmclzung" ist nach
OOo
Fig. 30. Verlauf der Reifungsteilungen bei Cyclops brevicornis. a Gegenüberstellung der Vierergruppen, b Bildung des
ersten Richtungskörpers: im Eikern Paarung der Spalthälften. c Zweite Richtungsspindel: Auswechselung der Einzelchrorao-
somen. d Bildung des zweiten Kichtungskörpers.
6l2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 39
obigen Untersuchungen nicht ganz mit den neueren
Befunden in Einklang zu bringen. „Verschmelzung",
bildlich gebraucht, bedeutet ein Aufgeben der
Selbständigkeit der Partner, die Herstellung einer
Einheit statt einer Zweiheit. Die Befunde bei
Copepoden zeigen aber gerade das Gegenteil.
Nach der Ansicht Haecker's, wenn sich die Er-
gebnisse bei Copepoden verallgemeinern lassen, ist
das Wesentliche des Befruchtungsvor-
ganges die Paarung zweier Kerne zwei-
elterlicher Abkunft in einer einzigen
Zelle.
B. Konkurrenz der Kernhälften.
Gemischte Vererbung.
Wir haben früher gesehen, daß die Kernhälften
zuweilen in physiologisch differenzierter Verfassung
sind. Dies deutet auf \'erschiedenh eit der
Wechselwirkung zwischen jeder der beiden
Chromatingruppen einerseits und dem Zellplasma
andererseits. Es wäre also denkbar, daß die beiden
Kernhälften in einer Art von Konkurrenz hin-
sichtlich der Beeinflussung des Zellenlebens stehen.
Auf diese Weise kämen wir einer Erklärung
für die Erscheinung der gemischten Ver-
erbung näher. Die beiden Kernhälften würden
sich dann in ihrer Wirkung auf die Zelle bald
summieren, bald gegenseitig ausschließen.
C. Mischung der großelterlicheii Elemente.
Affinität der Chromosomen.
Die Paarung der Spaltiiälften und die Um-
wechslung der Einzelchromosomen bei der Reifungs-
teilung von Cyclops brevicornis weisen darauf hin,
daß zwischen den väterlichen und mütterlichen
Chromosomen Affinitäten bestehen, die den gleich-
namigen Chromatinclementen fehlen.
Ahnliche Affinitäten sind anzunehmen:
I. Zwischen Ei- und Samenzellen.
(Sexuelle Cytotaxis.)
Darunter verstehen wir mit O. Hertwig ,, Wechsel-
wirkungen zwischen befruchtungsbedürftigen Zellen
verwandter Art in der Weise, daß sie, in be-
stimmte Nähe gebracht, sich anziehen und ver-
binden."
II. Zwischen den Geschlechtskernen.
(Sexuelle Karyotaxis.)
Die Tatsache, daß bei physiologischer Poly-
spermie nur ein Spermakern zur Konjugation zu-
gelassen wird, hat Fick zum ersten Male auf Sätti-
gung der „Affinität" des Eikerns zurückgeführt.
Rück er t fügte der positiven Affinität die
negative hinzu, indem er aus der gleichmäßigen
Verteilung der Spermakerne in der Keimscheibe
zu zeigen versuchte, daß die Spermakerne das
Vermögen besäßen, von einer gewissen Entfernung
an sich gegenseitig abzustoßen.
III. Affinität zwischen den elterlichen
Chromosomen. (Sexuelle Chromotaxis.)
Diese tritt, wie wir sahen, erst am Schluß der
ganzen Entwicklung (Schluß der Kindergeneration)
auf.
Bei Annahme der Verallgemeinerungsfähigkeit
der Befunde bei Copepoden würden einige Er-
scheinungen der Bastardbefruchtung ihre Erklärung
finden.
Bekanntlich weisen die Kreuzungsversuche ver-
schiedener, in näherem verwandtschaftlichen Ver-
hältnis stehender Arten verschiedene Erfolge auf:
1. Jede Affinität zwischen Sperma
und Ei fehlt. Der Befruchtungsprozeß
wird nicht angebahnt.
2. Es ist Affinität zwischen den Fort-
pflanzungszellen, aber nicht zwischen
den Geschlechtskernen vorhanden.
3. Die Affinität zwischen Fortpflan-
zungszellen und Geschlechts kern
ist ausreichend.
Resultat :
a) Befruchtung mit abnormer Embryonal-
entwicklung;
b) Erzeugung unfruchtbarer Bastarde;
c) Erzeugung fruchtbarer Bastarde.
Der unter 3, b genannte Fall ist die Regel. Es
wäre nun denkbar, daß die gewissermaßen gröberen
Affinitäten zwischen den Fortpflanzungszellen und
den Geschlechtskernen ausreichend sind, um eine
erfolgreiche Befruchtung und Bildung lebensfähiger
Bastarde zu bewirken, daß aber die feinere Affini-
tät zwischen den elterlichen Chromosomen in nicht
genügendem Maße vorhanden ist, um jene kom-
plizierten Umordnungsprozesse und damit die voll-
kommene Reife der Eiizellen herbeizuführen. So
würde auch die weitere Tatsache verständlich sein,
daß eine Rückkreuzung der Bastarde mit den
Stammformen häufig erfolgreicher ist als die Paarung
der Bastarde unter sich.
D. Individualität der Chromosome.
Die Untersuchungen bei Copepoden ergeben
zunächst nur eine Fortdauer der Individualität
der Gonomeren. Unter dem Gesichtspunkt,
daß der gonomere Kernzustand nun gewissermaßen
ein spezieller Fall des idiomeren ist, ist man be-
rechtigt, die Fortdauer des gonomeren Zustandes
während der ganzen Entwicklung als einen in-
direkten Beweis für die latente Fortdauer eines
idiomeren Zustandes, d. h. für die Persistenz der
Individualität der Chromosomen heranzuziehen.
E. G e s c h 1 e c h t s b e s t i m m u n g.
Bezüglich des Zeitpunktes der Ge-
schlechtsbestimmung existieren 3 Möglich-
keiten. Die geschlechtlichen Unterschiede werden
ausgeprägt :
I. Im Ei schon vor der Befruchtung (ovariale
oder progame Geschlechtsbestimmung);
N. F. III. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
613
2. bei der Befruchtung durcli das Spermatozoon
(syngame G.) ;
3. nach erfolgter Befruchtung (epigame G.).
Wie hat sich aus dem primären Hermaphro-
ditismus (Volvox u. a.) der getrennt geschlecht-
liche Zustand entwickelt? 3 Hauptfälle sind denkbar.
A. Die Anlagen zu den beiden Geschlechtern
(Eierstock- und Hodendeterminanten, VVcis-
mann) sind so verteilt, daß sowohl Eizellen
als Samenzellen beide Determinanten er-
hielten.
B. Die Eizellen übernehmen die Anlage zum
weiblichen, die Samenzellen die zum männ-
lichen Geschlecht.
C. Umkehrung von B.
A.
Beard schreibt den Mctazoen ursprünglich
4 Kategorien von Gameten zu, nämlich VVeibchen-
und Männcheneier und zwei Arten von Samen-
zellen, deren eine Reihe (Paludina) nicht zur h^ink-
tion gelangt.
Hier handelt es sich also um progame Ge-
sell 1 e c h t s b e s t i m m u n g.
B. Ist im Tierreich nicht verwirklicht.
C.
Auf den 3. Fall, daß die Fortpflanzungszellen
in reziproker Weise die Anlagen zum entgegen-
gesetzten Geschlecht in sich schließen, weisen die
Verhältnisse bei Bienen, Wespen und Blattwespen hin.
Wir haben hier den h'all der syngamen
Geschlechtsbestimmung. Ilaecker verspricht
sich gerade von Untersuchungen in dieser Rich-
tung eine Förderung unserer Kenntnisse, glaubt
aber auch die Möglichkeit, bei gewissen Organis-
men durch äußere Faktoren eine epigame Ge-
schlechtsbestimmung herbeizuführen, nicht be-
streiten zu dürfen.
Auf einem wesentlich anderen Standpunkt be-
züglich der Zeit der Geschlechtsbestimmung steht
M. V. Lenhossek (Das Problem der geschlechts-
bestimmenden Ursachen).
Seine Ausführungen sind die folgenden:
Wissenschaftlich trat man dem Problem der
geschlechtsbestimmenden Ursachen erst im 19.
Jahrhundert nahe, und zwar tut dies zuerst die
Statistik. Sie wies einen männlichen Ge-
burtenüberschuß nach {106 S ■ 100$). Der Frauen-
überschuß ist bedingt durch größere Sterblichkeit
der J Individuen. Wichtige Aufschlüsse brachte
die Biologie.
D i n o p h i 1 u s zeigt einen auffallenden Ge-
schlechtsdimorphismus {'} 1,2 mm, S 0,04 mm).
Dieser ist bedingt durch einen Größenunterschied
der Eier.
Korscheit wies nach, daß aus den großen Eiern
weibliche, aus den kleinen männliche Individuen
hervorgehen.
Das Geschlecht muß also vor der Befruch-
tung schon festgestellt sein.
Es fragt sich, ob sich dieser Satz verallgemeinern
läßt. Auch die Erscheinungen der Parthenogenese
weisen darauf hin, daß das Geschlecht schon im
Ei bestimmt sein muß, namentlich dort, wo aus
unbefruchteten Eiern Männchen und Weibchen
hervorgehen.
Eine 2. Möglichkeit ist die:
a) Parthenogenetische Entwicklung erzeugt
weibliche Tiere, befruchtete Eier erzeugen
beide Geschlechter.
Beispiele: Psyche, Solenobia, Apus productus
und cancriformis.
b) Die umgekehrte Erscheinung findet statt
bei Hydatina und den Aphiden.
Eine 3. Tiergruppe zeigt folgende
Erscheinung:
unbefruchtete Eier erzeugen Männchen,
befruchtete Eier erzeugen Weibchen.
Beispiele: Bienen und einige Wespengattungen.
Die einfachste Erklärung ist die, daß durch
den Eintritt oder durch das Ausbleiben der Be-
fruchtung das Geschlecht entschieden wird (herr-
schende Ansicht).
v. Lenhossek glaubt, daß auch eine andere
Ansicht möglich sei, nämlich die, daß das Hinzu-
treten oder Fernbleiben der Samenfäden niclit die
Ursache sondern die I'olge der Geschlechtsdifferenz
ist. Schon unter den unbefruchteten Eiern gibt
es nach seiner Meinung männliche und weibliche
Eier. Beim Austreten eines weiblichen Eies hin-
dert die Königin das Hinzutreten des Spermas
nicht, da diese Eier auf Befruchtung angelegt sind.
Beim männlichen Ei wird durch einen Reflex-
mechanismus der Zutritt des Spermas verhindert.
Pflüger 's Beobachtungen an Fröschen und
der Umstand , das eineiige menschliche
Zwillinge gleichgeschlechtig sind, sprechen weiter
für die progame Geschlechtsbestimmung; ebenso
ist es bei Eiern, die unbefruchtet abgelegt
werden und sich unter gleichen Bedingungen
entwickeln, bei denen also Einfluß des mütter-
lichen Organismus und äußerer Faktoren (Tem-
peratur) nicht in Frage kommen können.
Heape's Versuche an Kaninchen zeigen, daß
Rasseneigentümlichkeiten dem befruchteten Ei
schon inne wolinen, dies muß, nach Lenhossek's
Meinung, auch für eine so fundamentale Eigen-
schaft des Embryos, wie das Gesclilecht, gelten.
Rückblick.
Der verschiedene Geschlechtscharakter des Eies
(als Bestandteil des mütterlichen Organismus) ist
ein Strukturverhältnis des weiblichen Körpers, ja,
da die neuen Organismen gewissermaßen los-
gelöste Bestandteile des mütterlichen Organismus
sind, kann man sagen, daß die Geschlechts-
proportion der entwickelten Individuen
ein morphologischer Zug des weib-
lichen Organismus der betreffenden
Gattungist.
Vererbung und Geschlechtsbestimmung.
Bekanntlich zeigen die Nachkommen die Mischung
der Charaktere beider Eltern. Man kann also sagen:
6i4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 39
Die Vererbung des Geschlechts erfolgt
durch die Mutter, die Vererbung der
übrigen Eigenschaften durch beide
Eltern.
Die parthenogenetische Entwicklung und die
Loeb'schen Versuche zeigen, daß das Wesen der
Spezies im Ei vollkommen enthalten ist, und daß
das Spermatozoon nur zur Beseitigung einer unter-
geordneten Entwicklungshemmung dient (Boveri).
Zeitpunkt der Geschlechtscntstehung.
Angenommen, daß das Geschlecht ovarial be-
stimmt sei, entsteht die P>age nach dem Zeit-
punkt der Geschlechtsbestimmung.
Eine gewisse Wahrscheinlichkfeit spricht dafür,
daß diese schon sehr früh erfolgt. Hier
wäre auf die frühe Differenzierung der Keimzellen
hinzuweisen, wie sie Boveri für Äscaris schon in
den ersten Furchungsstadien und Haecker in seiner
letzten Abhandlung für Diaptomus denticornis
festgestellt hat (Kontinuität des Keimplasmas).
Ernährung und Geschlechtsbestimmung
bei niederen Tieren.
Es handelt sich hier um Einwirkung durch die
Ernährung auf den mütterlichen Organismus zur
Zeit der Bildung und Ausreifung der
Eier, nicht um eine solche auf den sicii ent-
wickelnden Embryo.
Kyber's Versuche an Blattläusen. 1813.
Bei reichlicher Nahrung vermehrten sie sich
p a r t h e n o g e n e t i s c h , und es wurden nur Weib-
chen erzeugt, bei spärlicher Nahrung treten Männ-
chen auf.
Leydig (1865) knüpfte an diese Versuche
wieder an, und Weismann wies für die Daph-
n i d e n folgenden F"ortpflaiizungsmodus nach ;
Frühjahr. Herbst.
Nur Weibchen. Männchen aus der
Durch parthenogenet. letzten Serie der par-
Entwicklung der Som- thenogenet. Eier. Be-
mereier wieder Weib- fruchtung der Weibchen,
chen. Dauereier.
Als Grund sah man die niedere Tempe-
ratur an, jedoch nur indirekt, insofern damit un-
günstigere Ernährungsbedingungen eintreten.
Experimentelle Beweise zeigten die Rich-
tigkeit dieser Anschauung (Konzentration des Salz-
wassers ebenfalls die Ernährung herabsetzend).
(Daphnia, Moina.)
Nußbaum's Versuche an H\-datina senta.
Entwicklung:
A.Parthenogenetisch B. Getrennt-
(Sommereier). geschlechtlich
Jedes Weibchen nur (Dauereier).
Eier eines Geschlechts.
Bei reichlicher Nahrung erfolgte die Produktion
weiblicher Eier, bei mangelhafter diejenige
männlicher.
ErnährungundGeschlechtsbestimmung
bei höheren Tieren.
Die bei niederen Tieren gewonnenen Resultate
lassen sich nicht ohne weiteres auf die höheren
übertragen.
Bloss (1858) entwickelte die Anschauung, daß
bei Säugetieren und beim Menschen eine Beein-
flussung des Geschlechts durch die Ernährung
möglich sei. (Nicht in dem früher angenommenen
Sinne, da er die Frucht auf frühen Stadien für
geschlechtslos hielt). Er suchte an der Hand
statistischen Materials nachzuweisen, daß in schlech-
ten Erntejahren und damit verbundener Steigerung
der Lebensmittelpreise, bei großen Seuchen, Kriegen
usw. ein tJberschuß an Knabengeburten zu ver-
zeichnen sei, während unter umgekehrten Ver-
hältnissen die Mädchengeburten überwiegen sollten.
Seinen Beobachtungen stehen jedoch andere gegen-
über, die das direkte Gegenteil beweisen.
Ähnliche Ergebnisse zeigen die Untersuchungen
von
Wilkens (1886) an Haussäugetieren, die sich
auf nicht genügend großes Untersuchungsmaterial
stützen. Wilkens gab selbst zu, daß die Ernährung
nicht der einzige geschlechtsbestimmende Faktor
sein könne.
Bei einem solchen Stand der Dinge wird man
die Schenk'sche Theorie von vornherein mit
einer gewissen Skepsis entgegennehmen.
Schenk entnahm die Grundlagen seiner Theorie
der vorhergehenden Literatur: i. Die Ansicht
von der ovarialen Bestimmung des Geschlechts
und 2. diejenige des geschlechtsbestimmenden Ein-
flusses der Ernährung während der Eibildung und
Reifung.
Einer Inkonsequenz hat er sich allerdings
dadurch schuldig gemacht, daß er trotz der An-
nahme der ovarialen Geschlechtsbestimmung un-
vermittelt an einer Stelle seiner ersten Publikation
die Geschlechtsdifferenzierung des Embryos in den
dritten Schwangerschaftsmonat verlegt.
Wir müssen zwei Veröffentlichungen Schenk's
unterscheiden.
I. Veröffentlichung. 1898.
An einer an der Zuckerruhr erkrankten Frau,
die früher 5 Knaben geboren hatte, beobachtete
er, daß sie während der Krankheit 2 Mädchen
hervorbrachte. Als er noch weitere ähnliche Fälle
beobachtete, gründete er darauf die Theorie, daß
die Zuckerausscheidung die Ausbildung der Ei-
zellen zum „höheren männlichen Typus" verhindere.
Sollte also ein Knabe geboren werden, so war es
nach seiner Ansicht nötig, die Zuckerausscheidung
zum Schwinden zu bringen. Die Behandlung der
Frauen, die Knaben wünschen, ist daher genau die
des Diabetikers. Er verabfolgt eiweißhhaltige
Nahrung (Fleisch) und Fett, entzieht aber möglichst
die Kohlehydrate (Zucker, Obst, Mehlspeisen,
Alkohol).
Die Behandlung beginnt 2 — 3 Monate vor der
Befruchtung und reicht bis zum 3. Monat der
N. F. III. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
615
Schwangerschaft (Widerspruch, da das Geschlecht
schon anatomisch nachweisbar ist. Siehe oben).
Schenk setzt sich dadurch in Gegensatz zu
den P>gebnissen der Biologie, da er durch
möglichst nahrhafte Kost die Erzeugung männ-
licher Nachkommenschaft befördern will.
Abgesehen von sonstigen Einwänden ist ein
besonders schwerwiegender Schenk nicht zu er-
sparen, nämlich der, daß seine beiden Voraus-
setzungen falsch sind. Es hat sich heraus-
gestellt :
1. daß zuckerkranke F'Vauen sowohl Knaben
als auch Mädchen hervorbrachten,
2. daß F'rauen, die zur Hervorbringung von
Mädchen neigten, in ihren Ausscheidungen
nicht immer Zucker erkennen ließen.
2. Veröffentlichung. 1901.
Von Zuckerausscheidung und Herabminderung
derselben ist jetzt keine Rede mehr. Er legt jetzt
das Hauptgewicht auf den richtigen Eiweißumsatz,
d. h. auf vollständige Verarbeitung des in den
Nahrungsmitteln aufgenommenen Eiweißes, sowie
des Organeiweißes. Er wendet jetzt eine Ab-
magerungskur an und verabreicht namentlich
eiweißhaltige Nahrung (Pleiscli), entzieht aber das
Fett. Eine derartige Umkehr der Schenk'schen
Lehre in dem kurzen Zeitraum von 3 Jahren ist
nicht dazu angetan, das Vertrauen in ihre Richtig-
keit zu erhöhen.
Diese Betrachtungen zeigen, daß die wissenschaft-
liche Forschung sich vorläufig daran genügen lassen
muß, mit großer Wahrscheinlichkeit die Er-
kenntnis einer grundlegenden Tatsache gezeitigt
zuhaben, der Tatsache, daß die Bestimmung
des Geschlechts ein Vorrecht des müt-
terlichen Organismus ist und daß diese
Bestimmung schon vor der Befruchtung
im Ei vollzogen erscheint.
Kleinere Mitteilungen.
Beiträge zur Kenntnis der spontanen Ge-
rinnung der Milch, von Korpsstabsapotheker
Utz, Würzburg.
Aus der Einleitung seiner im „Zentralblatt für
Bakteriologie", XI. Band, Nr. 2022 (Jena, Gustav
Fischer) veröffentlichten interessanten und ein-
gehenden Arbeit über chemische und bakteriolo-
gische Studien der spontanen Milchgerinnung
bringen wir folgende allgemein interessierende
Daten :
Die Milchsäuregärung ist bekanntlich ein phy-
siologischer Prozeß, dessen Einzelheiten in noch
tieferes Dunkel gehüllt sind als diejenigen der
etwas besser gekannten weinigen Gärung. Die
Kenntnis von der Gerinnung der Milch unter
Bildung von Säure ist uralt; bei verschiedenen
Hirtenvölkern finden wir diese Prozesse sogar bis
zu einer gewissen technischen Fertigkeit ausge-
arbeitet. Schon im Jahre 1780 schied Scheele
die Milchsäure als besondere Säure aus der sauren
Milch ab, aus deren Geschmack man vordem auf
die Anwesenheit von Essigsäure geschlossen hatte.
Lavoisier sprach von „unvollkommener" Essig-
säure, andere Beobachter von „maskierter" Essig-
säure. Berzelius wies 1807 die Milchsäure
auch in tierischen Substanzen nach und schied
zuerst streng zwischen Essigsäure und Milchsäure.
Spontan wird Milchsäure am häufigsten be-
obachtet beim Sauerwerden der Milch. Die Zu-
sammensetzung der Milchsäure stellten 1832 Mit-
scherlich und Lieb ig fest. Es war Pasteur
(Compt. rend. T. XL. 1857. p. 913), welcher als
erster nachwies, daß die Milchsäuregärung ebenso
wie die alkoholische Gärung unter dem Einflüsse
gewisser organisierter, belebter Erreger zustande
kommt. Die bei diesem Vorgange wirksamen
und für diese Art der Gärung charakteristischen
Organismen bezeichnete er als „ferment" oder
„levure lacti(iue"; Reinkulturen hatte Pasteur
nicht zur Verfügung. Später gelang es dann
List er, aus saurer Milch ein Bakterium in Rein-
kultur zu gewinnen, das er Bacterium lactis
nannte. Seit dieser Zeit ist durch vielfache weitere
Forschungen eine große Schar Mikroorganismen
sowohl aus der Gruppe der Stäbchen- wie der
Kugelbakterien entdeckt worden, welche ebenfalls
den Milchzucker unter Bildung von Milchsäure zu
spalten vermögen ; jedoch treten die Mikrokokken
hinter den Bazillen bedeutend zurück.
Hueppe (1884) isolierte mit Hilfe der von
der Koch 'sehen Schule verbesserten Apparate
einen stäbchenförmigen Mikroorganismus, den er
in morphologischer und biologischer Richtung
genau untersuchte und als den allgemeinen Erreger
der spontanen Milchgerinnung bezeichnete.
Im Jahre 1885 fand Escherich im Darm-
kanal mit Milch genährter Tiere und Menschen
neben anderen zum Teil damals schon bekannten
Mikroorganismen eine neue Art , welche er als
Bacterium lactis aerogenes oder „Darm-
milchsäurebazillus" charakterisierte.
Grotenfeld züchtete aus finländischer Milch
außer anderen Mikroorganismen einen Milchsäure
bildenden anaeroben „Streptococcus acidi
lactici". Außer diesen Bakterienarten ist uns
eine ganze Reihe anderer bekannt, welche durch
die Untersuchungen von Kayser, Leichmann,
Günther und Thierfelder und von Freuden-
reich festgestellt und beschrieben worden sind.
So beschrieb Kayser 15 teils bekannte, teils
neu entdeckte Organismen, welche sehr verschie-
dene Eigenschaften besitzen und sich auch haupt-
sächlich durch die Temperaturen, bzw. Zeiten
unterscheiden, innerhalb welcher sie die Milch
gerinnen machen. Jedoch vermögen alle diese
Organismen das Zuckermolekül unter Bildung von
6i6
Naturvvissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 39
Milchsäure zu spähen und finden sich hauptsäch-
lich in Milch oder deren Produkten. Der Hueppe-
sche Bazillus ist als der wichtigste und häufigste
Erreger der spontanen Milchsäuregärung zu be-
trachten. Es finden sich in frischer Kuhmilch
stets außerordentliche Mengen der inannigfaltigsten
Keime vor, zwischen denen ein lebhafter Wett-
kampf zunächst beginnt, in welchem die Erreger
der Milchsäuregärung zum Schlüsse die Oberhand
gewinnen, weil die gesamten Wachstumsbedingun-
gen für dieselben am günstigsten sind und häupt-
sächlich die gebildete Milchsäure an und für sich
das fernere Gedeihen der übrigen Mikroorganismen
verhindert.
Die Ureinwohner der britischen Inseln. —
Dr. John Beddoe, Vizepräsident des Anthro-
pologischen Instituts von Großbritannien, tritt in
der „Polit. Anthropol. Rev." (Bd. 3, p. 26—38)
der u. a. von Boyd Dawkins ausgesprochenen
Meinung entgegen, daß jene Rasse, welche in der
paläolithischen Periode die britischen Inseln be-
wohnte, ausstarb oder auswanderte, ohne Nach-
kommen zu hinterlassen. Es ist anzunehmen,
daß es ursprünglich zwei oder drei paläolithische
Typen gab; eine davon hatte ziemlich deutlichen
mongoloiden Charakter, welcher heute noch, und
zwar meistens in Wales, manchmal auch in ande-
ren Gebieten gefunden wird. Dieser mongoloide
Typus herrscht, wie bekannt, auch in der Bretagne
stark vor. Von Gestalt sind diese Individuen klein,
dick und schwerfällig. Auch die Schädelform des
sogenannten Riverbed-Typus, der aus sehr früher
Zeit stammt, kommt heute noch zahlreich in Ir-
land vor.
Der eigentliche neolithische Typus in Groß-
britannien , der wohl über das ganze Gebiet der
Inseln verbreitet war, ist mit dem hiberischen,
wenn schon nicht identisch, so doch nahe ver-
wandt; der Mensch der neueren Steinzeit war
klein, oder von mittlerer Statur, wohlgebaut, aber
nicht besonders stark, der Kopf ausgeprägt dolicho-
cephal, mit einem länglichen Gesicht, fast senk-
rechter Stirn und vorspringendem Hinterhaupt.
Dieser Rassentypus bildet heute noch einen sehr
wichtigen Bestandteil der Bevölkerung der briti-
schen Inseln.
In der Bronzeperiode drang eine andere Rasse
ein, von großem und kräftigem Körperbau, breitem
und rundem Kopf; der Schädelindex derselben
betrug etwa 80 und darüber. Es kann mit Gewiß-
heit angenommen werden , daß wir es hier mit
einer ausgesprochen brachycephalen Rasse zu tun
haben. Bisher ist es noch strittig, welcher Rasse
die Menschen der Bronzeperiode in Großbritannien
angehörten. Beddoe nimmt an, daß sie eine
Mischrasse aus dem kleinen untersetzten Homo
alpinus und dem großen blonden Homo europaeus
bildeten. Die Sprachkunde ergibt, daß in diesem
Zeitabschnitt drei aufeinanderfolgende Wogen kel-
tisch sprechender Völker die Inseln überfluteten,
nämlich die Galen, Kymri oder Brythonen und
die Gauls, die zur Zeit Cäsars in Südbritannien
sehr mächtig waren. — Der Verf bespricht im
weiteren noch die Periode der römischen Koloni-
sation, durch welche der anthropologische Typus
der Briten nur wenig verändert wurde, die später
folgende Einwanderung und Ansiedlung der
Sachsen und anderer germanischer Völker, sowie
endlich die normannische Eroberung, über welche
schon viel geschrieben wurde. Fehlinger.
Über die allmähliche Ausbreitung des Gir-
litzes (Serinus serinus) in Deutschland be-
richtet W. Schuster im 15. Jahrgang des Orni-
thologischen Jahrbuches. In früherer Zeit scheint
das Verbreitungsgebiet dieses Vogels nicht über
Süddeutschland jenseits der Maingrenze hinaus-
gegrift'en zu haben; vor ca. 340 Jahren wird er
zum ersten Male von Conrad Geßner, und zwar aus
der Umgebung von Frankfurt a. Main , erwähnt,
häufiger werden die Nachrichten über ihn erst im
19. Jahrhundert, und aus diesen geht seine weite
Verbreitung in Süddeutschland unzweifelhaft her-
vor. Auf verschiedenen Wegen begann er nun in
der zweiten Plälfte des vergangenen Jahrhunderts
nach Norddeutschland vorzudringen. Den einen
dieser Wege bildete das Rheintal, 1854 brütete er
zwischen Coblenz und Bonn, in den achtziger
Jahren in der Eifel, bei Aachen, Barmen u. s. f.
Ein Seitenweg führte von Mainz aus nach Osten
in die Wetterau, in das Lahn- und Dilltal, nach
Cassel und schließlich bis zum Harz. Das zweite
große Einbruchsgebiet liegt in Ostdeutschland und
verfolgt die Linie Donau-, March-, Elbe- bzw.
Odertal. Schon seit Jahrhunderten war er häufig
im südlicheren Österreich-Ungarn, in Böhmen trat
er erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und
fand dort bald allgemeine Verbreitung, ebenso in
Schlesien in den achtziger Jahren. Etwas später
(siebziger Jahre) vollzog sich die dauernde Be-
siedlung Sachsens und Ost-Thüringens durch das
Elbetal, während das westliche Thüringen wohl
zum Teile wenigstens von dem erstgenannten Aus-
breitungsgebiete aus erreicht wurde. Der Vogel
hat somit nun überall das mitteldeutsche Gebirge
durchbrochen und breitet sich nach allen Seiten
hin in der norddeutschen Tiefebene aus. Ende
der siebziger Jahre schon wurde er bei Berlin und
in der Mark beobachtet, 1890 traf man ihn bereits
in Königsberg an, 1899 in VVestpreußen und
Pommern, 1902 wurde er brütend in Mecklenburg
festgestellt. Und einzelne Vorzügler sind gar schon
bis Dänemark und Südschweden vorgedrungen, so
daß seine Ausbreitung über das gesamte Deutsch-
land nur noch eine I-'rage kurzer Zeit sein wird.
Diese intensiv starke Verbreitung des Girlitzes
beruht wohl auf der starken Vermehrung des
Vogels (bis zu drei Brüten pro Jahr), auf den ge-
ringen Ansprüchen, die er an Nistgelegenheiten
stellt, auf der Vorsicht des Vogels bei der Nest-
anlage, beim Brüten und beim Füttern, so daß er
Feinden leichter zu entgehen vermag.
J. Meisenheimer.
N. F. in. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
617
Über den Zusammenhang zwischen dem
Barometerstand und den Niederschlägen sucht
J. V. n offmann in einem „einige Ursachen und
Folgen senkrechter Luftbewegungen" betitelten
Aufsatz (Gerland's Beiträge zur Geophysik, VI,
Heft 4) neue Gesichtspunkte zur Geltung zu
bringen. Die Grundlage der Hoffmann'schen An-
sichten bildet die in der neuesten Zeit besonders
von Fr. König verfochtene Notwendigkeit, neben
der oberirdischen Atmosphäre auch die in den
kapillaren Hohlräumen des Erdbodens enthaltene,
an VVasserdampf besonders reiche Luft als eine
Art unterirdischer Atmosphäre mit in Betracht
zu ziehen. Nach Hoffmann muß ein Sinken des
Luftdrucks den Austritt nicht unbeträchtlicher
Luftmassen aus dem Erdboden zur Folge haben,
deren mitgebrachte Wasserdämpfe infolge ihrer
Leichtigkeit nach oben steigen und daher infolge
der Abkühlung bald zur Wolken- und Nieder-
schlagsbildung führen. Bei steigendem Barometer
wird dagegen umgekehrt ein Eintritt von Luft
in den Untergrund erfolgen müssen, wodurch die
in den untersten Schichten angesammelten Wasser-
dämpfe mechanisch mitgenommen werden, so daß
sich dadurch die Neigung zur Niederschlagsbildung
verringert. In der bekannten Tatsache, daß sich
senkende Nebel auf gutes Wetter schließen lassen,
während in die Höhe steigender Nebel eine schlechte
Vorbedeutung hat, erblickt Hoffmann den sicht-
baren Ausdruck dieser Wechselwirkung zwischen
der oberirdischen und unterirdischen Atmosphäre.
Auch die elektrischen Phänomene der Atmosphäre
glaubt H. durch ähnliche Betrachtungen , auf die
wir hier nicht weiter eingehen wollen , erklären
zu können.
Daß in der Tat ein periodischer Ausgleich
zwischen der im Boden enthaltenen Luft und der
freien Atmosphäre statthaben und auch qualitativ
in der oben angedeuteten Weise einen gewissen
Einflute auf die meteorologischen Verhältnisse aus-
üben muß, wird wohl kaum bestritten werden,
dagegen scheint es uns sehr unwahrscheinlich,
daß diese am Grunde des Luftozeans sich ab-
spielenden Vorgänge quantitativ eine irgend er-
hebliche Wirkung ausüben könnten Die in Cy-
clonen und Anticyclonen herrschenden , nach
aerodynamischen Gesetzen zustande kommenden,
vertikalen Luftbewegungen dürften sicherlich auch
in Zukunft als die wichtigste und vornehmlich in
Betracht zu ziehende Ursache der meteorologischen
Vorgänge in der freien Atmosphäre anzusehen
sein. F. Kbr.
Quantitativer Nachweis von Atropin, Blau-
säure und Schwefelwasserstoff im Rauche
von Strammonium-Zigarretten. — In einer vor-
jährigen Notiz der „Wiener Klinischen Wochen-
schrift" (1903 Nr. 20) erbrachten Natolitzky und
R. Hirn den Nachweis von Atropin, Blausäure
und Schwefelwasserstoff im Rauche von Stram-
monium-Zigarretten. Neuerdings teilt R. Hirn seine
Resultate über die quantitative Bestimmung der
drei Körper in den Rauchgasen dieses bekannten
Asthmamittels in der Zeitschrift des Allgemeinen
Osterreichischen Apothekervereins (1903. Nr. 52)
mit.
Zur Untersuchung gelangten Zigarretten , die
aus 0,14 "11 Alkaloid haltenden lufUrocknen Blättern
von Datura Strammonium gestopft waren ; der Rauch
wurde zur Absorption des Atropins durch Gefäße
gesaugt, die mit verdünnter Schwefelsäure gefüllt
waren. Nach Beendigung des Rauchprozesses
wurde die braungefärbte, saure Flüssigkeit zur Ent-
färbung mit Äther ausgeschüttelt, dieses nach Zu-
satz von Kaliumcarbonat wiederholt und dem
Ätherauszug durch angesäuertes Wasser wiederum
das Atropin entzogen.
Indem Hirn diese Operation wiederholte, er-
hielt er stets waclisende Mengen ausziehbarer
Bestandteile, und zwar eine Gewichtszunahme,
welche den im Rauche möglichen Atropinmengen
keineswegs entsprach. Ebenso versagten ver-
schiedene andere Methoden. Audi durch Titration
des abgedampften Atherauszugs mit Salzsäure
von bekanntem Gehalt konnte er unmöglich rich-
tige Werte erhalten, wenn er die verbrauchte
Menge Salzsäure auf Atropin umrechnete. Deim
wie Hirn selbst zugibt, werden auf diese Weise
außer Atropin auch noch andere Basen mittitriert.
Sonach ist es nicht zu verwundern, wenn er
ganz unmögliche Zahlen wie 0,5616 und 1,1277 g
Atropin in 100 g Strammoniumblättern fand. Um
aber dennoch ein annäherndes Bild von der vor-
handenen Atropinmenge zu geben, gelangte Hirn
auf physiologischem Wege zu einem einigermaßen
brauchbareren Resultate. Das Atropin ruft bei
einer X'erdünnung von i : 130000 noch Pupillen-
erweiterung im Auge hervor. Indem er nun einen
wie oben hergestellten, das Atropin enthaltenden
Ätherauszug abdami^fte und mit schwach salz-
säurehaltigem Wasser aufnahm , stellte er durch
Verdünnen je eines Kubikzentimeters der Lösung
mit Wasser eine Lösung her, die eben noch myri-
adisch wirkte. So hatte er eine ungefähr i : 130GOO
entsprechende Verdünnung erreicht, und aus dem
X'erbrauch wurde das Atropin berechnet. Auf 100 g
angewandter Blätter bezogen, fand er so im Rauche
des Strammonium 0,0046 bis 0,0096 g Atropin. Da
die Strammoniumblätter selbst etwa 0,2 bis 0,3 "/„
Atropin enthalten, so muß man anneiimen, dafj
der weitaus größere Teil der im Blatte enthaltenen
Atropinmenge während des Rauchprozesses durch
die Hitze zersetzt worden ist.
Die Blausäure sammelte Hirn in mit KaUiauge
gefüllten Vorlagen und bestimmte sie daraus ge-
wichtsanalytisch. Er fand im Rauche von 100 g
Strammoniumblättern 0,0208 bis 0,0474 g Blau-
säure. Diese Zahlen bewegen sich übrigens in
ähnlichen Grenzen, wie die für Blausäure im Rauche
der Fol. Nicotiana tabac. von Le Bon, Habermann,
Kipling und Vogel gefundenen. Im Tabaksrauch
von 100 g Tabaksblättern wurden von ihnen ein
Minimum 0,0030 bis 0,0690, ein Maximum von
0,0080 bis 0,0960 g Blausäure nachgewiesen.
6i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ra. Nr. 39
Auch mit der quantitativen Bestimmung des
Schwefelwasserstoftgases in den Rauchgasen dieser
Zigarrette befaßte sich Hirn. Das Gas fing er in
mit Chlorammonium und Zinl<chlorid gefüllten
Absorptionsgefäßen auf Das gebildete Schwefel-
zink wurde mit Bromsalzsäure behandelt, der darin
enthaltene Schwefel also zu Schwefelsäure oxydiert
und diese gewichtsanalytisch als schwefelsaurer
Baryt bestimmt. Hieraus berechnete sich der Ge-
halt an Schwefelwasserstoff. In loo g lufttrockner
Fölia Strammonii fanden sich im Mittel 0,01566 g
oder 12,9 ccm Schwefelwasserstoffgas.
Die nachstehende Tabelle gibt die Zahlen für
den Gehalt des Rauchs einer Strammonium-
Zigarette, die so gestopft ist, daß sie 0,75 g der
Strammoniumblätter enthält:
Gr.imm ccm bei o" u. 760 mm D.
Minimum Maximum Minimum Maximum
Atropin 0,000035 0,000052 — —
Blausäure 0,000035 0,000160 — —
Schwefelwasserstoff 0,000120 0,000170 0,07 0,11
Die Zahlen für Atropin sind, wie erwähnt, nur
annähernd richtig. R. Lb.
Himmelserscheinungen im Ju'i 1904.
Stellung der Planeten: Merkur und Venus sind un-
sichtbar. Mars beginnt gegen l'jide des Monats morgens im
NO für kurze Zeit sichtbar zu werden, Jupiter kann liereits
vor Mitternacht im Widder, Saturn die ganze Nacht im
Steinbock hindurch gesehen werden.
Sternbedeckungen: .^m Morgen des 10. können die
Bedeckungen von .''i und •'^^ Tauri, sowie nach Sonnenaufgang
mit Benutzung des Fernrohrs eine Bedeckung des Aldebaran
beobachtet werden. Für Berlin sind die in Betracht kommen-
den Momente :
.''■, Tauri, Eintritt 3 Uhr 3,3 Min. M.F.Z., Austritt 3 Ulir 58,9 Min.
'"^i „ „ 3 ,. ö,6 „ „ „ 3 „ 56,0 „
« „ „ 6 „ 39,7 „ ,, „ 7 „ 43,1 „
Für Besitzer von Fernrohren bietet die Adebaranbedcckung
eine gute Gelegenheit , die Sichtbarkeit eines Fixsterns am
Tageshimmel festzustellen. Der St^rn steht vor dem Eintritt
hinter dem unerleuchtcten Mondrand etwa 50" von der nörd-
lichsten Spitze der schmalen Sichel entfernt und tritt etw.i
76" westlich von dieser an der sichtbaren Sichel wieder hervor.
Algol-Minima können am 5. um S Uhr 56 Min. abends
und am 2^. um 10 Uhr 3g Min. abends beobachtet werden.
W^etter-Monatsübersicht.
Innerhalb des vergangenen Mai änderte die Witterung in
ganz Deutschland häufig ilircn Charakter, doch herrschte im
allgemeinen unfreundliclics, kühles Wetter vor. Nur um Mitte
und gegen Ende des Monats gab es mehrere außerordentlich
warme Tage, deren mittlere Temperaturen, wie die beistehende
Zeichnung ersehen laut, an einzelnen Orten 20° C erreichten
oder etwas überschritten. Am Nachmittag des 17., dann
wieder des 26. und 27. Mai erhob sich das Thermometer im
Binnenlande vielfach auf 30", zu Frankfurt a. M. am 26. so-
gar auf 33" C.
Desto kühler war es in den Zeiten vom 4. bis 14. uiul
vom 19. bis 24. Mai, in denen selbst die Mittagstemperaturen
großenteils unter 15" C blieben. In der Nacht zum 13. und
zum 14. hatten besonders im nordwestlichen Binnenlande
Frühkartofi'eln und Höhnen verschiedentlich Frostschäden zu
erleiden. Später wiederholten sich die Nachtfröste dort noch
am 21., und namentlich im Ostseegebiete bildete sich in dieser
und den folgenden Nächten vielfach Reif. Die Durehschnitts-
temperaturen des Monats blieben meist um wenige Zehntel-
grade hinter ihren normalen Werten zurück. Während bis
gegen Mitte des Mai die Sonne durch schwere Wolken größten-
teils verdeckt war, gab es später mehrere Tage mit völlig
wolkenlosem Himmel. Im ganzen kam auch die Dauer der
Sonnenstrahlung ihrer Durchschnittszeit sehr nahe, z. B. hatte
Berlin 223 Stunden mit Sonnenschein, 5 Stunden weniger als
im Mittel der letzten zwölf Maimonate hier verzeichnet wor-
den sind.
^MiffTercTempcrafurcn einiger Örfc im JTlai 190^.
BsrlmrlVgfft/Sursiu.
P>is zum 12. Mai kamen in allen Teilen Deutschlands sehr
häutig Niederschläge vor, die im Küstengebiete, besonders an
der östlichen Ostsee, wie die beistehende Darstellung zeigt,
etwas größere Summen als im llinnenland ergaben. Nur über
picdeiis'c^fa^^ö^cn im/Rai 1904.
i-g-3 S-5 ä g ij
e. n -^
■ 5 3t5 t3-
Deutschland.
_^onatssuinmenim Mai
1904.03,02. Ol. 00.1899.
der Stadt Berlin und ihrer weiten Umgebung enllud sich am
1. abends ein lieftiges Gewitter mit wolkenbruchartigem
Regen und Hagelschlägen, die an den blühenden Bäumen
großen Schaden anricliteten. Am gleichen Tage wurde auch
im Werratal durch ein schweres Hagelwetter die Obstblüte
größtenteils vernichtet. Während die Tage vom 13. bis 18. Mai
der Küste wenig und dem Binnenland fast gar keine Nieder-
schläge brachten, wechselte in der späteren Zeit außerordent-
lich trockenes Wetter mit starken Gewitterregen, die verschie-
N. F. m. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
619
dentlich von Hagel begleitet waren, mehrmals ab. Die ge-
waltigsten Regengüsse kamen am 23. Mai in Bayern und
Württemberg, am 27. bis 29. in ganz Süd- und Mitteldeutsch-
land vor; beispielsweise fielen in Chemnitz vom 28. bis 2g.
abends nicht weniger als 99 Millimeter Regen. In
Württemberg und Baden führten die let/Jen Wolkenbrüche
große Überschwemmungen und zahlreiche Dammbrüchc
herbei, durch die der Eisenbahnbetrieb bedeutende .Störungen
erlitt, auch wurden dort viele Felder durch Hagelschläge ver-
wüstet. Dagegen blieben in dieser ganzen Zeit nennenswerte
Niederschläge in Nordostdcutschland aus, und auch an der
Nordseeküste waren sie sehr selten. Der gesamte Betrag der
Niederschläge, der im Süden Deutschlands diesmal viel größer
als im Norden war, belief sich für den Durchschnitt aller
Stationen auf 59,5 Millimeter, zwei Millimeter mehr , als die
gleichen Stationen im Mittel der Maimonate seit Beginn des
vorigen Jahrzehntes ergeben haben.
In den ersten Tagen des Monats zog ein ziemlich tiefes
barometrisches Minimum von Schottland über Südskandinavien
und Finland nach dem weißen Meere hin. Verschiedene ihm
folgende Minima, die alle vom atlantischen Ozean herkamen,
schlugen die Straße nach der Nordsee und Ostsee ein. Sie
wurden zwar flacher und flacher, zogen aber in immer
größerer Nähe an uns vorüber, so daß in ganz Deutsch-
land längere Zeit hindurch eine lebhafte, mit Wasserdämpfen
erfüllte Südwestströmung herrschte. Erst als am 12. Mai ein
Hochdruckgebiet von der iberischen Halbinsel r.asch nach
Mitteleuropa vordrang, blieben uns die Minima eine Zeitlang
fern, und es trat daher trockenes Wetter, zunächst mit sehr
kühlen Nordwestwinden, ein.
Gegen Mitte des Monats erschien wieder eine tiefere De-
pression auf dem atlantisclien Ozean, die, nach Nordosten fort-
schreitend , das Maximum langsam südostwärts verschob und
daher in Deutschland eine Drehung der Winde nach Süden
mit rascher Erwärmung bewirkte. Einige Tage später folgte
ihr ein neues, etwas höheres Maximum nach , das zunächst
über die britischen Inseln nach Norddeutschland gelangte, sich
aber von hier bald nach der skandinavischen Halbinsel begab,
während die Depression jetzt mit sehr kühlen, feuchten Nord-
westwinden Rußland durchzog und zugleich mehrere flache
Minima um die Zeit des Pfingstfestes durch Mittel- nach Süd-
europa wanderten. Auch in der letzten Maiwoche traten auf
dem allantischen Ozean, dem europäischen Nordmeer und
dem biskayischen Meere noch verschiedene Minima und Maxima
auf, die in der Herrschaft über die Witterungsverhältnisse
West- und Mitteleuropas einander rasch ablösten, so daß hier
Wind und Wetter überall sehr häufige Wechsel erlitten.
Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
i) Erich V. Drygalski, Allgemeiner Bericht
über den Verlauf der Deutschen Süd-
polar-Expedition. Mit Vorbemerkungen von
Ferd. Freiherrn v. Richthofe n und einem
Anhang: Bericht über die .•\rbeiten der Kerguelen-
Station von K a r 1 L u y k e n. E. S. Mittler &: Sohn,
Königliche Hofbuchhandlung, Berlin 1903. —
Preis 1,20 Mk.
2) Erich V. Drygalski, Deutsche Südpolar-
Expedition auf dem Schiff „G auß". Be-
richt über die wissenschafthchen Arbeiten seit der
Abfahrt von Kerguelen bis zur Rückkehr nach
Kapstadt und die Tätigkeit auf der Kerguelen-
Station. — Veröffentlichungen des Instituts für
Meereskunde und des Geographischen Instituts an
der Universität Berlin. Heft V, Oktober 1903.
Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Berlin 1903. 8".
181 S. Mit 6 Abbildungen und 3 Beilagen in
Steindruck.
Wir haben wiederholt auf die Resultate der D.
Südpolar-Expedition Bezug genommen. Näheres über
dieselben und den Verlauf der Expedition findet sich
in den beiden oben genannten Veröffentlichungen.
Nr. I knüpft unmittelbar an die Berichte an, die
in den beiden ersten Heften der von Freiherrn
V. Richthofen herausgegebenen „Veröffentlichungen
des Instituts für Meereskunde" enthalten sind und die
Ereignisse und Arbeiten seit der am 11. August 1901
erfolgten Ausreise der Expedition bis 2. Januar 1902
sowie die Tätigkeit auf der Kerguelen -Station bis
2. April schildern. Auf zwei Jahre war die Expedition
geplant, davon sollte das eine auf fortlaufende wissen-
schaftliche Beobachtungen an einem festen Punkt im
antarktischen Eis verwandt werden. Glücklich hat
die Expedition ihre Aufgabe erfüllt. Dem vorliegen-
den Bericht ist zu entnehmen, daß das wesentliche
Ziel so vollkommen erreicht worden ist , wie man
angesichts des unwirtlichen Charakters der Antarktis
zu hoffen wagen durfte. Alle geplanten Beobachtungen
konnten durchgeführt und reiches Material gesammelt
werden. Ein tragisches Geschick waltete bekanntlich
über der Kerguelen-Station. Zwei der drei Stations-
mitglieder wurden von der tückischen Beri-Beri be-
fallen, der nach qualvollen Leiden Dr. Enzensperger
erlegen ist, ein Musterbild von frischem Unterneh-
mungsgeist und männlicher Kraft. Der hier ver-
öffentlichte Luyken'sche Bericht von den Kerguelen-
Inseln zeichnet ein Bild der furchtbaren Krankheit
und schildert ihren Verlauf in seinen erschreckenden
Einzelheiten. Um so mehr ist es erhebend, daß die,
welche die deutsche Flagge im Dienst der Wissen-
schaft in das antarktische Eis getragen haben, nach
getaner Pflicht ohne Verlust von dort entronnen sind,
und daß es ihnen vergönnt ist , die Ergebnisse ihrer
Tätigkeit nach der Heimat zurückzubringen. Die
Berichte geben Zeugnis von der Einmütigkeit und
dem harmonischen Zusammenwirken der Mitglieder
der Expedition, von ihrem Wagemut, ihrem Taten-
drang und der alle beseelenden Zuversicht auf Erfolg;
ihre Lektüre sei allen, die dem Zwecke, den Vorbe-
reitungen, den Arbeiten und dem Ausgang des kühnen
Unternehmens ihr Interesse geschenkt haben, bestens
empfohlen.
Nr. 2 ist der 3. Bericht über die Expedition, die
in Veröfif. d. Inst. f. Meereskunde erschienen ist. Er
enthält den allgemeinen Bericht von Erich v. Dry-
galski; den Bericht über die Rekognoszierungs-
Schlittenreise nach dem Rand des Inlandeises und
über die Auffindung des Gaußberges von Richard
Vahsel ; den Gesundheitsbericht von Hans Gazert und
den allgemeinen Bericht über die Tätigkeit der Ker-
guelen-Station von Karl Luyken. — Der 2. Teil gibt
die Berichte über die wissenschaftliche Tätigkeit, und
zwar über die geographischen Arbeiten von Erich
V. Drygalski, den Bericht über die erdmagnetischen
Arbeiten von Friedrich Bidlingmaier, den meteorolo-
gischen Bericht von Hans Gazert, den geologischen
und chemischen Bericht von Emil Philippi, den bio-
logischen Bericht von Ernst Vanhöffen und den bak-
teriologischen Bericht von Hans Gazert. . — Den
3. Teil stellen die technischen Berichte über Schiff,
620
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 39
Seefahrt und Ballonaufstiege dar ; der Abschnitt über
Seefahrt und Schiffsarbeiten ist von Hans Ruser, der
Bericht über die Ballonaufstiege von Albert Stehr
verfaßt.
Sven V. Hedin, Im Herzen von Asien. Zehn-
tausend Kilometer auf unbekannten Pfaden. Mit
407 Abbildungen. 2 Bände. Leipzig, F. A. Brock-
haus. 1903. - — Preis geb. 20 Mk.
Den deutschen Studiengenossen hat Sven v. Hedin
die deutsche Ausgabe seines zweiten großen Reise-
werkes gewidmet, wie die des ersten „durch Asiens
Wüsten" seinem Universitätslehrer Ferdinand Freiherrn
V. Richthofen. In Anhänglichkeit ist er also seinen
deutschen Beziehungen , denen er für seine wissen-
schaftliche Ausbildung viel verdankt , treu geblieben,
mögen auch seine Erfolge ihm einen für sein Lebens-
alter ungewöhnlichen, internationalen Ruhm eingetragen
haben. Er hat auf seiner zweiten großen Reise die
Kühnheit der selbstgestellten Aufgaben nicht gemindert,
die zielbewußte Bedachtsamkeit und Energie bei ihrer
Durchführung dagegen vermehrt , so daß die Ergeb-
nisse noch gesicherter, dabei erlittene Verluste nicht
durch Unvorsichtigkeit hervorgerufen erscheinen wie
bei der Durchquerung der Takla -makan- Wüste im
Jahre 1S95: aber seine Persönlichkeit ist trotz der
gesteigerten Sicherheit des Auftretens und der noch ge-
wachsenen Energie nach wie vor umgeben von dem
Reize liebenswürdiger Natürlichkeit , gemütvoller
Frische des Wesens. Der eigentümliche Zauber, der
von dem neuen Reisevverke über die Fahrten der
Jahre 1899 bis 1902 durch das Becken des Tarim
und die (lebirgsvvelt von Tibet ausgeht, beruht vor-
nehmlich darin , daß aus jeder Zeile nicht nur die
geschilderte Landschaft, das beschriebene Leben von
Einzelmenschen, von Völkern, von Tieren mit seltener
Anschaulichkeit spricht , sondern vor allem auch die
anziehende Persönlichkeit des Reisenden selbst mit
seinen Stimmungen, Hoffnungen, Neigungen, ohne daß
er doch Je mit seinem Selbst posiert. Über die
Summe der wissenschaftlichen Ergebnisse zu sprechen
ist erst Zeit,^) wenn die umfangreichen Bearbeitungen
der Beobachtungen und die Kartenaufnahmen er-
schienen sein werden; doch ist schon im vorliegenden
Reiseberichte viel feine Charakteristik enthalten, durch
welche auf die unbekannten wie die bereits bekannteren
Gegenden, die Sven v. Hedin bereist hat, ein neues
Licht fällt. Als Beispiel und an Stelle eingehenderer
Besprechung des ungemein lesenswerten Buches sei
hier zusammengestellt , was der Reisende über den
Fluß Tarim an verschiedenen Stellen der Reisebe-
schreibung berichtet. Er hat ihn von Mitte September
bis ."Anfang Dezember 1899 von Lailik im Südwesten
von Kaschgar bis zum Lopsee rund 2000 km weit,
also auf eine Strecke, länger wie Rhein und Weser
zusammengenommen, mit selbstgebauter Fähre be-
fahren und dabei kartiert.
(S. 52) „Wenn der Leser fragt, weshalb ich eigent-
') Vgl. aucli den ersten Überblick, den die N,aturwiss.
Wochenschr. am 22. März 1903 gebracht hat. Neue Folge
Bd. 2, Heft 25.
lieh die Flußreise unternahm , so antworte ich , daß
dies erstens der einzige Weg durch ganz Ostturkestan
war , den ich noch nicht kannte und daß zweitens
noch nie eine Karte vom Laufe des Tarim aufge-
nommen war. Die Wege und Stege, die dem Flusse
folgen , berühren nur hin und wieder seine Krüm-
mungen, als wären sie zwischen den äußersten Kurven
der Flußbiegungen gezogen worden. Durch sie erhält
man keinen Begriff von den Eigentümlichkeiten des
Flusses." (S. 112) „Man glaube nicht , daß ich die
Reise einförmig gefunden hätte. Ich lebte das Leben
des Flusses mit und beobachtete seine ersterbenden
Pulsschläge und seinen launenhaften Lauf durch
Innerasiens innerstes Tiefland. Es machte mir Ver-
gnügen, den Gang der Instrumente zu verfolgen, und
die Karte entwickelte sich Blatt um Blatt." (S. 70)
„Während der Hochwasserperiode wäre es mit großen
Schwierigkeiten verbunden gewesen, die Flußreise zu
machen. Die Fähre wäre mit der heftigen Strömung
getrieben und in den Biegungen mit solcher Wucht
angeprallt, daß die Kisten vom Deck herabgeglitten
wären. Ein anderer Nachteil während der früheren
Jahreszeit wäre die Hitze gewesen und vor allem die
Mücken. Wir hatten die günstigste Jahreszeit gewählt."
(S. 56) „Der Tarim macht die tollsten Krüm-
mungen, nach Nordwesten , Südosten , Norden und
Nordosten. Schon lange Strecken vorher sieht man
an den Grenzlinien des Waldes, wo sich der Flußlauf
seinen Weg im Terrain gesucht hat." (S. 60) „In
den Gegenden , in denen wir uns zuerst befanden,
war der Lauf noch einigermaßen gerade, und ich
machte in 2 5 Minuten nur i Peilung; aber bald
änderten sich die Verhältnisse, und die Pausen zwi-
schen den Peilungen überstiegen selten 3 oder 4
Minuten. Im großen betrachtet geht der Jarkent-
Darja nach Nordosten." (S. 57) „In den konkaven
Kurven ist die Uferterrasse bis zu 3 m hoch , und
oft fallen große Lehm- und Sandklumpen plumpsend
herunter." (S. 58) „Manchmal klatscht es, als wäre
ein Krokodil ins Wasser gegangen ; aber solche Tiere
gibt es im Tarim glücklicherweise nicht. Die Mücken
waren lästig." (S. 59) „Der große Fluß ist anfangs
recht einförmig. Nur wenn man an den steilen
Ufern (Jar oder Kasch = Strandterrasse, vgl. Jarkent,
Kaschgar) vorbeistreicht , die mit jungen Pappeln,
Gesträuch und Hagedurnhecken bekleidet sind, deren
Wurzeln aus dem Uferwalle herauswachsen und ins
Wasser hinabhängen, kann man manchmal recht
hübsche Partien passieren." (S. 60) „Der Fluß war
jetzt so bedeutend gefallen, daß die noch vorhandene
Wassermenge nur die eigentliche Erosionsfurche des
Flusses füllte , die überall dicht am konkaven Ufer
hinläuft , d. h. zu alleräußerst in allen Krümmungen,
wodurch die Länge des Weges größer wird. Für
eine genaue Kartenaufnahme des Tarim war jedoch
dieser Umstand von Vorteil ; denn man bekam einen
deutlichen Begriff von der Plastik des Bettes. Der
Fluß fällt nicfit regelmäßig , sondern ruckweise , so
daß um die Schlamminsehi und Halbinseln herum
scharf markierte Erosionsränder entstehen. Doch so-
wie der Schlamm getrocknet ist, fällt er ab." (S. 106)
,,Je weiter wir kamen, desto schmaler, tiefer und
N. F. III. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
621
langsamer wurde der Fluß , und nicht selten betrug
seine Breite nur 15 m." (S. loS) „Es gilt als Regel,
daß der Fluß da, wo er Bogen macht , auch schmal,
tief und langsam ist, da aber, wo er eine gerade
Richtung einhält, seicht, schnell und breit wird; das
Gefälle ist hier größer." (S. 106) ,,In scharfen
Biegungen verliert die Wassermasse durch die Reibung
und den Druck gegen das Jarufer einen guten Teil
ihrer Geschwindigkeit, welche Kraft in andere Arbeit,
die Auswaschung des Ufers umgesetzt wird." (S. 108)
„Eine Windung wurde zurückgelegt , die sich einem
vollständigen Kreise näherte und deren Landzunge
nur 20 Klafter breit war. Ohne Zweifel wird das
nächste Hochwasser sie durchbrechen. Die Wand
und an den Ufern nicht alt werden kann. Die äußer-
sten Pappeln stehen wie wartend da, bis die Reihe
zu fallen an sie kommt, wenn die Jarwand unter
ihnen abrutscht." Streckenweise sind die Ufer aber
doch mit dichtem Wald von Pappeln besetzt." (S. 78)
„Die Leute von Lailik hatten noch nie einen solchen
Wald gesehen und machten ihrem Erstaunen und
Entzücken Luft. Sie hatten recht. Es war ein Ge-
nuß für das Auge, diesem farbenprächtigen Uferschmuck
zu begegnen und in dem lautlosen Schweigen konnte
man glauben , in einem Triumphwagen von unsicht-
baren Nixen und Elfen auf einer Straße von Saphiren
und Kristall durch einen verzauberten Wald gezogen
zu werden. Feierlich standen die Pappeln in zahl-
Landung an der Mündung des Aksu-darja.
wird von beiden Seiten unterwaschen , so daß sie
schließlich einstürzt und der Fluß dann die Windung
verläßt , die wie ein toter Schmarotzer liegen bleibt.
Derartige tote Krümmungen kamen häufig vor." (S. 109)
„Die Tendenz des Flusses, seine Windungen oft aus-
zugleichen, ist in der Beschaffenheit des Bodens be-
gründet. Dieser besteht aus Sand, und in dem losen,
leicht niederstürzenden Material fiüirt das Wasser ohne
sonderlichen Widerstand seine Unterminierungsarbeit
aus. Auf die Veränderlichkeit des Flusses gründet
sich wieder der Umstand, daß der Wald spärlich ist
reichen Reihen, aufrecht wie Könige und spiegelten
ihre Kronen aus falbem Herbstgold im lebenspenden-
den Flusse, der Nährmutter der Wälder, der Herden
und Hirsche und des Königstigers, dem größten
Gegensatze des Wüstenmeeres. Da stehen sie in
einer dunklen Mauer, würdevoll und still, als lauschten
sie einer Hymne, die zwischen den Ufern zum
Lobe des Allmächtigen leise erklingt, einer Hymne,
die auch Wanderer und Reisende vernehmen können,
wenn nur ihr Gemüt für das CJroße der Natur emp-
fänglich ist. Sie huldigen dem Tarim , ohne den
622
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 39
ganz Ostturkestan eine einzige ununterbrochene Wüste
sein würde." Durch Kanäle ist dem Fluß viel Wasser
für die Felder entzogen. Die Ufer selbst sind im
allgemeinen (S. 77) „unbewohnt und still; doch sahen
wir Hirtenhütten, die gewöhnlich nur aus einem Dach
auf 4 Stangen bestehen und mit Reisig und Zweigen
bedeckt sind. Sie ließen darauf schließen, daß die
Gegend zu gewissen Zeiten von Menschen aufgesucht
wird, die wieder fortziehen, sobald die Weide knapp
wird." (S. 85) „Bisweilen waren beide Ufer gleich
hoch ohne eine Spur von Anschwemmungen ; dies
war natürlich nur an geraden Stellen der Fall. Wir
glitten dann wie in einem Korridor dahin, ohne viel
von der umgebenden Landschaft zu sehen."
da an meistens Tarim genannt wird , obwohl bis in
die Lop-nor-Gegend noch der Name Jarkent-darja
vorkommt, wendet sich nachher nach Osten. Der
Aksu-darja ist hinsichtlich der Richtung der bestim-
mende und nach Aussage der Eingeborenen auch zu
allen Jahreszeiten der wasserreichere der beiden Flüsse."
(S. 120) „30. Oktober. Ich spähte gespannt nach
rechts, nach Süden, um mir die Mündung des Chotan-
darja nicht entgehen zu lassen. Endlich zeigte sich
in dem jungen Walde eine breite Gasse, ein flaches,
ein paar Meter über dem Spiegel des Aksu-darja
liegendes Bett, das jetzt ganz trocken und leer war.
Während der kurzen Zeit , in welcher der Chotan-
darja Wasser führt, soll er ein gewaltiger Fluß sein.
Nordufer des Sees Kara-koschun.
(S. 114) „Am 22. Oktober passierten wir den
Punkt, wo der Kaschgar-darja sich in zwei engen,
größtenteils von Sand, Schlamm und Vegetation ver-
stopften Armen in den Jarkent-darja ergießt , wobei
er ihm nur einen geringen Zuschuß von Wasser zu-
führt." (S. 116) „Am 27. war ein interessanter Tag;
denn wir wußten, daß wir an die Mündung des Aksu-
darja gelangen würden." (S. iiS) „Merkwürdiger-
weise biegt der Jarkent-darja gerade beim Zusammen-
flüsse nach Nordwesten ab. Der Aksu-darja kommt
von Nordnordwest, und der vereinigte Fluß, der von
und tatsächlich wird der Aksu-darja unterhalb dieser
Einmündung viel breiter und reich an Anschwemmun-
gen ; doch die Richtung des Hauptflusses wird durch
den Nebenfluß nicht im geringsten beeinflußt. Die
Landschaft ist in dieser Gegend einförmig, often und
flach ; alles ist groß angelegt : die Wasserflächen sind
ausgedehnt, das Schwemmland endlos, die Ufer etwa
einen Kilometer auseinander." (S. 124) „Vor uns
am Horizont schien die Wasserfläche direkt in den
Himmel überzugehen. Wahrend der letzten Tage
hatten wir bemerkt , daß der Fluß ein wenig stieg.
N. F. m. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
623
was davon kam, daß die Kanäle für dieses Jahr ge-
sperrt worden waren und nun dem Flusse den Rest
der Anleihe zurückzahlten." Eine Strecke weiter ab-
wärts ('S. 127) „hat sich der Fluß seit 3 Jahren ein
neues Bett gegraben. Das alte bleibt trocken und
verlassen zur Linken liegen, mit ihm auch der Wald.
In dem neuen Stromlaufe veränderte sich auf einmal
der Charakter des Flusses. Er wurde schmal und
gerade, und man sah alle Kennzeichen , daß er von
der Erosion des Wassers noch nicht genug ausge-
arbeitet war. Die Landschaft war öde. Das Bett
ist außerordentlich scharf markiert , und von den
hohen L'fern stürzen Massen von Sand und ganze
Blöcke in den Fluß, so daß es aussieht, als steige
am Wasserrande Rauch auf." (S. 132) „Der Tarim
ändert also seine Lage, aber nur auf kurzen Strecken
seines Laufes, und es ist interessant zu beobachten,
daß wir die verlassenen Flußbettstücke beinahe immer
nach Norden liegen lassen, daß der Fluß nach rechts
wandert. Daß an dem neuen Flußbett kein Pappel-
wald steht, ist natürlich; denn er hat noch nicht auf-
Tokkus-kum, das Nordufer der Sandwüste.
sprießen können. Doch an den verlassenen Strecken
steht er dicht und üppig, obgleich er dort gewöhnlich
zum Untergange verdammt ist, wenn das Wasser sich
zurückgezogen hat." (S. 1 36) „In der Gegend von
Gädschis mündet links ein Arm des Schah-jar-daija
(Musart), der vom Chan-tengri kommt. Er ist an der
Mündung 29 m breit. Das Bett war mit stillstehen-
dem Wasser von 78 cm Durchsichtigkeit gefüllt, wäh-
rend das des Tarim nur bis 4 cm durchsichtig war.
Die Grenze war ziemlich scharf" Schließlich umgibt
die Steppe und Wüste den Strom. (S. 148) „Der
Fluß, der von hier ab Jumalak-darja genannt wird,
zieht sich nach Südosten und gleicht einem schmalen
Bande zwischen Schilffeldern. Wir passierten eine
Reihe Uferseen , und es ist ein charakteristisches
Zeichen des Tarim, daß diese immer zahlreicher wer-
den, je mehr man sich dem Lop-nor nähert." (S. 150)
„Links gähnt ein mächtiges, mit Schlamm gefiilltes
Bett. Ich erfuhr , daß dieses Bett der frühere Lauf
des Tarim gewesen und der Fluß darin mindestens
50 Jahre geströmt habe, da die Greise es schon in
ihrer Kindheit gekannt hätten. Vor 4 Jahren habe
der Fluß dieses alte Bett so vollständig verlassen,
daß nicht einmal während der Hochwasserperiode ein
Tropfen dort hineinlaufe. Der neue Lauf zieht sich
durch öde Gegenden, wo es früher nur Uferseen ge-
geben hatte. Wenn der Fluß schließlich im Lop-nor-
Gebiete in völlig ebenes Terrain übergeht , hört alle
Ordnung auf Flüsse wie Seen verändern hier ihre
Lage und Wassermenge von Jahr zu Jahr , und der-
jenige, welcher den Lauf des Flusses bis zu seiner
Auflösung und Vernichtung mitgelebt hat , versteht,
daß auch sein Endpunkt, der Lop-nor, ein wandern-
der See sein muß, ganz wie das Messinggewicht am
Ende eines schwingenden Pendels. Das Pendel hier
ist der Tarim. Es mag sein, daß die Perioden ein
paar hundert Jahre lang sind ; aber in der Geschichte
der Erde verschwinden sie wie die Schwing-
ungen des Sekundenpendels." (S. 151) „Die
Richtung des Bettes ist unbestimmt. Große,
abgerundete Bogen gibt es nicht, wohl aber
kleine, die sozusagen nach dem einzuschlagen-
den Kurse (unhersuchen und tasten." (S. 152)
„Die Dünen rücken auf beiden Seiten immer
näher, und der Vegetationsgürtel schrumpft
plötzlich zusammen." (S. 153) „Dann und
wann passieren wir eine einsame Pappel,
während die Tamarisken , diese Kinder des
Wüstensandes, recht zahlreich auftreten, und
schmale Kamischbänder sich meistens an bei-
den LTern hinziehen. Es ist merkw^ürdig,
daß die Dünen eine so feste Basis haben
können , daß sie aus der Wasserfläche als
ganz senkrechte Wand emporsteigen können.
Dies kommt daher , weil sie unten feucht
sind. Höher hinauf ist der Sand ebenso
lose wie gewöhnlich. Er rieselt in kleinen
Furchen an der Düne herunter und bildet da,
wo die senkrechte Wand anfängt, kleine
Kaskaden und fährt so lange fort zu
rinnen, als er von oben herab Zufuhr erhält; läuft
aber das Stundenglas ab , so ist die Düne tot und
von Wind und Wellen fortgetragen. Doch unter an-
deren Formen wird sie auferstehen und ihre rastlose
Wanderung fortsetzen. Auch das Wüstenmeer hat
sein Leben, das hier ebenso gesetzmäßig pulsiert wie
im Schatten der Palmen. Wir sind von Friedhofstille
umgeben. Kein Gruß dringt aus der Tiefe der Wüste
zu uns. Nur die Strömung singt im Sande ihr mur-
melndes Lied." (S. 162) „Die Dünen waren hier
ungefähr 60 m hoch. Die Männer oben auf dem
Kamm erschienen verschwindend klein. Die Aussicht
über den Fluß war großartig." (S. 174) „Mir wurde
mitgeteilt, daß der Strom in diesen Gegenden von
Anfang Dezember bis Anfang März zugefroren und
dann noch einen halben Monat mit porösem Eise
bedeckt sei. Das Hochwasser erreiche diese von den
Quellen so weit entfernten Gegenden erst Anfang
024
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 39
August und stehe Ende September oder Anfang Ok-
tober am höchsten. Nachher falle der Wasserstand
täghch. Wenn der Fluß zugefroren sei , steige das
Wasser, was seinen Grund darin haben solle, daß das
Treibeis sich nach der Mündung zusammenpacke und
zu einer Art Damm aufstaue." — Schließhch endet
der Tarim im Kara-Koschun.
(S. 146) „Im großen und ganzen ist meine Karte
über den Fluß eine Augenblicksphotographie ; denn
kein Jalir vergeht, ohne daß neue Arme entstehen,
alte Krümmungen verlassen werden und Uferlagunen
sich bilden." Dr. F. Lampe.
Briefkasten.
Herrn K. in B. — Sie fragen : Wenn bei d e m Z e r f a 1 1
des Biogen moleküls (vgl. Naturw. Wochenschr. p. 358)
Energie frei wird, wo wird dann dieselbe her-
genommen für den Wiederaufbau des Moleküls,
da doch zweifellos dieser Wiederaufbau nur
unter Arbeitsleistung erfolgen kann? Ich antworte:
In der Verworn'schen Studie ,,die Biogenhypothese" (Jena,
Gustav Fischer 1903), ist die hier aufgeworfene Frage nicht
näher behandelt. Verworn widmet zwar der ,, Regeneration
des Biogenrestes" ein besonderes Kapitel (S. 40—46), in dem-
selben wird aber nur erörtert, welche Eigenschaften das Ersatz-
material für die Schließung der beim Zerfall des Biogenmole-
küls entstehenden Lücken voraussichtlich hat, und woher
dieses Ersatzmaterial stammt. Über die Quelle der Kraft,
welche dieses Ersatzmaterial wieder mit dem Biogenrest ver-
einigt, äußert sich Verworn nicht. Auch wenn, wie die
Biogenhypothese annimmt, eine Haupteigenschaft der Biogen-
moleküle das Bestreben der Biogenreste sich zu neuen Biogen-
molekülen zu regenerieren ist, so ist damit die energetische
Seite, die in obiger Frage enthalten ist, nicht berührt. Zur
Beantwortung müßten zunächst Analogien aus dem tierischen
Stoffwechsel herangezogen werden , also Vorgänge, bei denen
es sich um Synthesen organischer Verbindungen handelt.
Synthetische Vorgänge spielen sich in großem Maßstab im
tierischen Organismus ab. Ich erinnere an die Synthese der
Hippursäure aus GlykokoU und Benzoesäure, das erste genauer
studierte Beispiel einer Synthese im Tierkörper, ferner an die
Harnstofifbildung, die nach den neueren Anschauungen auch
auf einer Synthese im wesentlichen beruht; ferner an die
Regeneration von Neutralfetten aus Fettsäuren und Glyzerin,
die anscheinend bei der Fettresorption den normalen Vorgang
darstellt; endlich an die Synthese von echten Eiweißstoffen
aus den durch die Verdauung erzeugten einfachen Spaltungs-
produkten , die normalerweise in früher nicht geahntem Um-
fange stattfindet. Alle diese chemischen Prozesse, deren Reihe
noch durch zahlreiche andere Beispiele erweitert werden könnte,
erfordern die Zuführung von Energie. Diese Energie kann
der Organismus nur durch die Zersetzung der organischen
Stoffe, die ihm überhaupt als Energiequelle dienen , also der
Eiweiße, der Fette und der Kohlehydrate gewinnen. Genaue-
res über diese Kraftverschiebung, um die es sich ja handelt,
da die Kraft, die vorher in den genannten energieliefernden
Stoffen steckte, nach Vollziehung der Synthese in der neu
entstehenden Verbindung wieder vorhanden ist, ist nicht be-
kannt, insbesondere nicht darüber, welche von den erwähnten
Gruppen von Energie liefernden Stoften vorzugsweise oder
aussciiließlich für diesen Chemismus in Betracht kommt.
Der Wiederaufbau des Biogenmoleküls ist, vorausgesetzt,
daß die Biogenhypothese den wirklichen Verhältnissen ent-
spricht, mit den erwähnten Synthesen in eine Klasse zu setzen.
Demnach wäre die gestellte Frage dahin zu beantworten ? Die
zur Regeneration des Biogenmolekuls , aus den Biogenresten
einerseits und den accessorischen Gruppen anderseits, erfor-
derliche Energie, muß sich der Organismus dadurch ver-
schaffen, daß er entsprechende Mengen anderer Energie liefern-
der Stoffe (Eiweiß, Fett, Kohlehydrate) zersetzt. Daß der
Organismus auf diese Weise einen Umweg macht, allerdings
ohne notwendigen Energieverlust, würde seinen Grund darin
haben, daß bestimmte Funktionen an bestimmte Energiequellen
geknüpft sind , für welche andere Energiequellen nicht vi-
karierend eintreten können. Es ist wohl zu beachten, daß
nach der Biogenhypothese der Zerfall des Biogenmoleküls in
zweierlei Weise dem Organismus Energie liefert. Einmal da-
durch, daß der Zerfall in Biogenrest und accessorische Grup-
pen erfolgt; sodann aber zweitens auch durch den weiteren
Zerfall der accessorischen Gruppen. Für die Regeneration des
Biogenmoleküls ist aber nur die erstgenannte Menge von
Energie erforderlich ; der Aufbau der accessorischen Gruppen
wird von der Pflanze besorgt, die dem Tiere die Nahrung liefert.
Zum Schluß sei noch besonders hervorgehoben, daß die
Biogenhypothese noch ihrer weiteren Begründung harrt, daß
es sich vorläufig, wie Verworn ausdrücklich hervorhebt, um
eine reine Hypothese handelt, deren Hauptzweck es ist zu
weiteren Fragestellungen anzuregen. Eine solche Frage ist
z. B. die hier im vorstehenden erörterte.
Fr. N. Schulz-Jena.
Herrn E. in Ehrbeck. — Die eingesandten Moose
und Flechten gehören häufigen .^rtcn an mit Ausnahme von
Nr. 8. Die Namen sind: I. Hylocomium triquetrum. 3. Hyp-
num crista-castrensis. 4. Dicranum undulatum. 5- Hypnum
Schreberi. 6. Hypnum Kneiffii. 8. Sphagnum papillosum
var. normale. 9. Webera nutans var. caespitosa. II. Dicra-
num scoparium. 12. Mnium hornum 15. Hylocomium squar-
rosum. 16. Hypnum cuprcssiforne var. 17. Parmelia physo-
des. 18. Parmelia tiliacea. 20. Lepra. Anfluge einer Cla-
donia. 21. Cladonia py.xidata. 22. Cladonia rangiferina.
24. Cladonia gracilis. — Die mit roter Tinte aufgeschriebenen
Nummern sind leider nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit
lesbar gewesen, es empfiehlt sich daher bei nicht ganz trocke-
nen Pflanzenproben die Notizen stets mit Bleistift zu machen.
G. Lindau.
Herrn K. in Peine. — Sie vermuteten richtig, wenn
Sie für die Schädigungen der übersandten Kiefcrnnadeln Ure-
dinecn verantwortlich machten. Der Pilz ist die Art, die man
früher als Sammelspezies Peridermium pini nannte. Diese
Aecidienform wird jetzt in eine Reihe von Arten zerlegt,
deren jede einen anderen Teleutosporenwirl hat. Die Teleu-
tosporenform gehört dem Genus Coleosporium an und findet
sich auf Tussilago, Senecio, Melampyrum, Campanula ctc , wo-
nach dann die einzelnen Arten unterschieden und benannt
werden. Sie finden nähere Einzelheiten darüber in dem un-
längst erschienenen Buche von Klcbahn, Die wirtswechselnden
Rostpilze (Berlin, Gebr. Bornträger). Eine Besprechung des-
selben hat die Nummer 37 der Naturwissensch. Wochenschr.
gebracht. G. Lindau.
Herrn H. S. in Altona. — Um so einfache Schnitte lier-
zustellen, wie Sie solche nötig haben, bedient man sich sicher
am besten nur eines gewöhnlichen Rasiermessers. Alle sonstigen
Vorrichtungen sind überflüssig und unpraktisch. Als Wand-
tafeln ist hinzuweisen auf diejenigen von Kny und Frank. In
der Volksschule braucht man ja wenige .-\bbildungen ; sie
müssen aber sehr groß und deutlich gezeichnet sein. Der
Lehrer tut am besten , die Zeichnungen von einem guten
Zeichner nach Abbildungen in botanischen Lehrbüchern her-
stellen zu lassen. Er kommt auf diesem Wege am billigsten
zu seinem Ziel. W. Detmer-Jena.
Inhalt: K. Kliem: Das Verhalten der Vorkerne nach der Befruchtung. (Schluß.) — Kleinere Mitteilungen: Utz: Bei-
träge zur Kenntnis der spontanen Gerinnung der Milch. — Dr. J o h n Bcddoe: Die Ureinwohner der britischen Inseln.
— W. Schuster: Über die allmähliche Ausbreitung des Girlitzes (Serinus serinus) in Deutschland. — J. F. lloft-
mann: Über den Zusammenhang zwischen dem Barometerstand und den Niederschlägen. — Natolitzky: Quanti-
tativer Nachweis von Atropin, Blausäure und Schwefelwasserstoff im Rauche von Strammonium-Zigarrcttcn. — Himmels-
erscheinungen im Juli 1904. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Erich v. Drygalski: All-
gemeiner Bericht über den Verlauf der Deutschen Südpolar-Expedition. — Sven v. Hed in: Im Herzen von Asien. —
Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von T.ippert & Co. (G. Pätz'sche Biichdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 3. Juli 1904.
Nr. 40.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabalt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Wesen des Begriffs der Gewohnheit.')
[Nachdruck verboteo,]
Von Hr. Paul Graebke-Berlin.
Die moderne Entwicklungslehre hat bei ihrer
deduktiven Verwertung für die Deutung der iins um-
gebenden Erscheinungen besonders deswegen 7,ur
Klärung der vitalen und psychischen Vorgänge so
wesentlich beigetragen, weil sie in Verbindung mit
dem Gesetz der Erhaltung der Kraft und des
Stoffes sich der weitgehendsten Anwendung fähig
erwies. Wir erkennen heute die Macht des Träg-
heitsgesetzes oder des Beharrungsprinzips als die
ursprüngliche Form des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft und des Stoffes nicht nur in den Er-
scheinungen der unbelebten Natur, sondern wir
finden alle Lebensvorgänge vom Trägheitsgesetz
beherrscht und entdecken seine Macht auch in
den Ganglienzellen des Gehirns. Neben vielen
entwicklungsgeschichtlich verwandten Vorgängen
spiegelt sich die Macht des Beharrungsprinzips
besonders deutlich in der Macht der Gewohnheit.
Wir sehen vorläufig davon ab, daß der Begriff
der Gewohnheit an das Individuum gebunden ist
und besonders individuell erworbene Eigentümlich-
keiten der Lebensführung umfaßt, vielmehr wenden
wir unsere Betrachtung der Wirkung des Behar-
rungsprinzips zu, die ganz allgemein, unbekümmert
um die individuellen Lebenserscheinungen, in der
unbelebten und belebten Natur zu erkennen ist.
Die Tendenz des physikalischen Gesetzes der Träg-
heit drückt sich in der Tatsache aus, daß die Ein-
wirkung irgend welcher Kräfte nicht plötzlich er-
lahmt und daß eine Bewegung noch eine gewisse
Zeit hindurch weiter fließt oder schwingt, wenn
die bewirkenden Ursachen bereits entschwunden
sind. Aber gerade weil die verschiedenen Be-
harrungskräfte im Räume sich einengen und an-
einander stoßen, entsteht ein beständiges Spiel
mechanischer Kräfte, die einen immerwährenden
Wechsel erzeugen im Gebiete der Zeit. Die aus
dem Kampfe mehrerer Beharrungskräfte hervor-
gegangene und daher nach einer bestimmten
Richtung prädestinierte Bewegung ist natürlich
auch wieder von der Seele der Beharrung erfüllt,
und so in endlosem Wechsel der Zersplitterung
oder Anhäufung der Kräfte behauptet doch immer
das Trägheitsgesetz seine elementare und ursprüng-
') Vgl. auch Prof. Dr. H. Potonie; ,, Plauderei über die
Macht der Gewohnheit". Naturw. Wochenschrift. Neue Folge,
111. Band Nr. I vom 4. Okiober 1903, S. 7.
626
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 40
liehe Macht. Je mehr sich die Bewegungen zu
Massen verdichten und schließhch im unend--
liehen Räume auslaufen, in dem sie nicht von
anderen Beharrungskräften gestört werden, desto
ruhiger gestaltet sich der Bewegungsstrom, und
es ist kein Zufall, daß in den Bewegungen der
Himmelskörper das Gesetz der Trägheit sich am
deutlichsten spiegelt. In der Mechanik des Kos-
mos muß unter der Herrschaft des Beharrungs-
prinzips jede Plötzlichkeit in der Entstehung neuer
Einflüsse so gut wie ausgeschlossen sein, und die
Bewegung aller Himmelskörper die Regelmäßig-
keit eines Schwunges an sich tragen. Die Welt-
körper kreisen in ziemlich regelmäßigen Bahnen,
so daß ihre Drehungen sogar als die genauesten
Maßeinheiten fiar Zeitmessungen gelten können
und für die Zeiteinteilung in der Völkergeschichte
maßgebend sind. Die Tatsache, daß eine
unter ziemlich gleichen Spannungsver-
hältnissen stehende Bewegung in gleich-
mäßigem Schwünge dahin läuft, ist für
die Beurteilung des Gewohnheitscharak-
ters von Bedeutung.
Die scheinbar unveränderliche Regelmäßigkeit
in den kosmischen Vorgängen steht nun in ur-
sächlichem Zusammenhange mit den Erscheinungen,
die das organische Leben bedingen und die des-
halb allgemein mit der Bezeichnung ,, Lebens-
bedingungen" belegt werden. Es ist daher eine
durchaus selbstverständliche Tatsache, daß auch
die Vorgänge der Lebensbedingungen besonders
deutlich den Charakter der Beharrung an sich
tragen und unter dieser Eigenschaft das organische
Leben beeinflussen. In dem Verhältnis der Lebens-
bedingungen zum organischen Leben findet sich
deutlich die allgemeine Gesetzmäßigkeit ausge-
prägt, daß jeder Entwicklungsvorgang ein mehr
oder minder kleines Glied innerhalb einer größeren
und daher langsamer verlaufenden Entwicklung
darstellt, und daß sich ferner innerhalb jedes Ent-
wicklungsvorganges auch eine Reihe weiterer und
schnell verlaufender Entwicklungen vollzieht. So
bewegt sich das organische Leben außerordentlich
lebhaft innerhalb der langsam dahingleitenden Ent-
wicklung der Lebensbedingungen, aber es steht
dennoch immer unter der Macht des Beharrungs-
prinzips. In diesem Zusammenhange verdienen
Darwins Äußerungen') Beachtung: „Sofern ich es
nach langer Beobachtung des Gegenstandes be-
urteilen kann, äußern sich die Lebensbedingungen
in zweierlei Weisen: direkt auf die ganze Organi-
sation oder nur auf einen bestimmten Teil, und
indirekt durch Einwirkung auf das Reproduktions-
system. Hinsichtlich der direkten Tätigkeit dürfen
wir nicht außer acht lassen, wie Professor Weis-
mann jüngst ausdrücklich erklärte, und auch ich
gelegentlich in meinem Werke : „Variation under
Domestication" bemerkte, daß es da zwei Fak-
toren gibt: Die Natur des Wesens und die Natur
') Darwin: Entstehung der Arten. I. Kap. Abänderung
im Zustand der Domestikation, 2. Abschnitt.
der Lebensbedingungen. Der erstcre scheint der
bedeutend wichtigere zu sein usw." Was Darwin
hier unter Natur des Wesens und Natur der Lebens-
bedingungen versteht, ist ein Ausdruck des Ge-
setzes der Trägheit. Wie eine rollende Kugel in
diesem Zustande zu verharren strebt und einen
kurzen Stoß in dauernde Bewegung umsetzt, so
ist auch der Einfluß der jeweilig herrschenden
Lebensbedingungen auf das organische Leben von
der Tendenz einer Dauerwirkung beherrscht. Bild-
lich gesprochen leben alle Wesen unter der mecha-
nischen Annahme, daß die äußeren Verhältnisse
oder Lebensbedingungen unwandelbar sind und
daß sie ihre Anpassung an diese vollendet haben.
Diese mechanische Voraussetzung des
Lebens als Ausdruck des Beharrungs-
prinzips ist eine elementare Eigenschaft
und zugleich eine primitive Entwick-
lungsstufe der Gewohnheit. In diesem
Zusammenhange gleicht die Ursprüng-
lich keit der Gewohnheit einer Anpas-
sung des organisierten Lebens an ver-
meintlich unveränderliche Lebensbe-
dingungen.
Wie das Gesetz der Trägheit beständig alle
Naturkörper beherrscht, so sind auch alle innerhalb
der Protoplasmamasse eingeleiteten Bewegungen
auf das Ziel der Beharrung und Starrheit gerichtet.
Sie streben in dem Flußbett einer festen Form,
eines Schemas oder Systems dahinzufließen und
können für sich allein keine weitere Bedeutung
beanspruchen als Unveränderlichkeit und Einfluß-
losigkeit. Aber wie wir jede mechanische Be-
wegung aus dem Beharrungsprinzip in Verbindung
mit dem beschränkt gegebenen Raum ableiten
konnten, so muß noch in weit stärkerem Maße
in dem festen Gefüge einer Lebensorganisation
eine Reibung der verschiedensten Bewegungen er-
folgen und die elementare Einflußlosigkeit zu be-
ständigem Einfluß sich wandeln. So schöpft das
organische Leben aus der gegenseitigen Berührung
und Spannung der beharrlichen Prinzipien der
Unveränderlichkeit seine wechselvolle Veränder-
lichkeit, die Entstehung der Mannigfaltigkeit seiner
Formen, seinen Ursprung sowie überhaupt sein
eigentliches Wesen und Sein. Wir haben da-
her vollen Grund zu der Annahme, daß
die elementare Ursprünglichkeit der
Gewohnheit ein notwendiger Faktor
jeder Lebensbewegung ist und eine
grundlegende Bedeutung beansprucht
für die Kette der Lebensäußerungen des
Protoplasmas.
Betrachten wir nun die Ursprünglichkeit der
Gewohnheit unter der Annahme eines fertig ge-
schaffenen Lebens, das von konstanten Kräften
bewegt und unterhalten wird, und sehen wir ab
von der Tatsache eines vom Werden abzuleitenden
Seins, so würde das Beharrungsprinzip alle Lebens-
bewegungen weiter fortzuführen suchen und sie
in ewiger Gleichheit der Formen dahinfließen lassen.
Unter immer crleichen äußeren Einflüssen wäre
N. F. III. Nr. 40
Naturwissciischaftliclie Woclienschrift.
eine Veränderung- der Lebensformen im Sinne des
Fortschritts nicht denkbar, und es würden keine
mannigfachen Lebensvorgänge aus einfachen ent-
stehen können. In festen Formen würde das or-
ganische Leben erstarren, und als naturgemäßes
Ziel, aber naturwidriges Ende der Wirkung des
Beharrungsprinzips im Gebiete der Lebensvorgänge
würden die jeder weiteren Entwicklung unfähigen
Lebensbewegungen eine Gleichförmigkeit aufweisen,
die als die Tendenz der Ursprünglichkeit der Ge-
wohnheit aufgefaßt werden kann. Es ist daher
für die Beurteilung des Gewohnheitscharakters sehr
bedeutsam, daß unter seiner unbeschränkten Herr-
schaft das organische Leben keine weitere An-
passungsfähigkeit hätte ausbilden können. Unter
konstanten Lebensbedingungen würden
die Bewegungen des Lebens in gleichem
Fluß dahinströmen und den gänzlichen
Mangel an A npassungsfäh igkeit und Be-
weg ungs frei heit solange nicht empfin-
den oder mit eigener Vernichtung büßen,
als nicht die geringste Veränderung
der Lebensverhältnisse eintreten würde.
Aber mit der kleinsten Verschiebung
innerhalb der Lebensbedingungen wäre
das ganze organische Leben mit einem
Schlage vernichtet.
Diese Tatsache ist für die moderne Auffassung
über das Wesen der Gewohnheit von großer Wichtig-
keit. Denn wir haben hinreichend Grund zu der An-
nahme, daß der uns geläufige Begriff der Gewohn-
heit nur stufenweise verschieden ist von den
Lebensäußerungen der Pflanzen und Tiere, und
daß die Gewohnheit nicht nur in der mensch-
lichen Lebensführung einen wesentlichen Bestand-
teil bildet, sondern auch in den ihr zugrunde
liegenden Prinzipien bereits bei den niedersten
Tieren, den Urtieren, Infusorien und Rhizopoden
erkannt werden kann. Was man allerdings im
gewöhnlichen Leben unter Gewohnheit versteht,
ist meistens ein psychischer Vorgang, der als
Folge des Einflusses einer längeren Gleichheit
äußerer Bedingungen auf das Individuum ent-
standen ist und aus regelmäßig wiederkehrenden
Schwingungen in den Ganglienzellen des Gehirns
besteht. Bei dieser Auffassung des Begriffs der
Gewohnheit können wir ihn daher nur in Ver-
bindung mit tierischen und menschlichen Hand-
lungen unter Beschränkung auf das Individuum
zur Anwendung bringen ; es ist aber wohl zu be-
achten, daß sich die Gewohnheit lediglich graduell,
aber keineswegs in ihrem Wesen, von allen anderen
Naturerscheinungen unterscheidet, in denen das
Beharrungsprinzip einen deutlichen Ausdruck ge-
funden hat.
Wenn wir so die Gewohnheit als Ausdruck
des Beharrungsprinzips, aber als eine hoch ent-
wickelte, mit der Entstehung und Weiterbildung
des organischen Lebens sich immer komplizierter
gestaltende Form dieses Ausdrucks auffassen, dann
setzen wir mit dieser Auffassung allerdings die
Tatsache voraus, daß Gewohnheiten vererbt werden
können. Aber die ganze moderne Entwicklungs-
lehre beruht ja auf der Lehre von der Vererbung
erworbener Eigenschaften, und auch jede Gewohn-
heit ist eine individuell erworbene Eigenschaft.
Man kann zwar niemals mit Bestimmtheit voraus-
sagen, daß sich diese oder jene erworbene F'ähig-
keit eines Tieres auch wirklich sicher vererben
wird, aber die Tatsache der Vererbung erworbener
Eigenschaften steht unumstößlich fest, und ohne
sie wäre seitens des Menschen eine Tier- und
Pflanzenzüchtung unmöglich. Jeder Tierzüchter
weiß, daß (z. B. bei unseren Pferden) die Dressur
zum Instinkt geworden ist, und eine Dressur ist
nichts weiter als eine durch den Menschen er-
zwungene Gewohnheit. Man wird nun nicht ohne
weiteres behaupten können, daß alle Instinkte auf
Gewohnheiten zurückzuführen seien, aber jedenfalls
spielt bei der Entwicklung der meisten Instinkte
die Gewohnheit eine bedeutsame Rolle, und das
Beharrungsprinzip äußert sich in allen Trieben,
Bedürfnissen und überhaupt- in allen Lebensäuße-
rnngen der Pflanzen und Tiere.
Nun haben wir es bereits in jeder einfachen
mechanischen Bewegung mit einem Dualismus der
Erscheinungen zu tun , und dieses dualistische
Prinzip kann durch die Fassung verdeutlicht werden,
daß sich erstens nur die Materie (ein t^twas) be-
wegen kann, und daß zweitens dieser Bewegung
die Eigenschaft der Beharrungstendenz zukommt.
Monistisch ist das Ding, dualistisch dagegen die
Erscheinung, und wo immer wir in der Natur
Vorgänge beobachten , erkennen wir in diesem
Dualismus die Einheit von Kraft und Stoff. Es
beruht hierauf der innige Zusammenhang und die
Wechselbeziehungen zwischen dem organischen
Leben und den Lebensbedingungen , zwischen
Funktion und Organ, zwischen Gewohnheiten und
deren Bedingungen. Es scheint allerdings ein
flüchtiger Vergleich der Lebensäußerungen der
niedersten Tiere mit den Gewohnheiten besonders
der Menschen die Auffassung keineswegs zu recht-
fertigen, daß beide gleichen Wesens und die Ge-
wohnheiten nur höhere Entwicklungsstufen in der
Kette der Lebensäußerungen seien, denn wir be-
obachten bei menschlichen Gewohnheiten statt
des betonten Dualismus der Erscheinungen ganz
entschieden einen Pluralismus. Um diese Be-
hauptung an einem rohen Beispiel zu illustrieren,
mag die Betrachtung irgendeiner Gewohnheit,
etwa die des Ruderns, hier Platz finden, an der
man folgende vier Grunderscheinungen in enger
Verknüpfung wahrnehmen kann :
1. die regelmäßig wiederholte Tätigkeit des
Ruderns;
2. die damit verbundene mechanisch-physio-
logische Wirkung (Stärkung der Muskeln, Erhärtung
der Haut);
3. der psychische Einfluß, der sich in dem
Bedürfnis zu regelmäßiger Ausübung dieser Tätig-
keit äußert;
4. der Einfluß auf das Seelenorgan in Gestalt
628
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 40
eines besonderen Abdrucks in den Ganglienzellen
des Gehirns.
Aber dieser Pluralismus ist nur eine im Laufe
des organischen Bildungsprozesses hervortretende
Kombination des ursprünglichen Dualismus aller
Erscheinungen, und in dem Maße, in dem sich
für die psychischen Funktionen bestimmte Organe
entwickeln, entsteht in ganz allmählichem Werde-
gang jene besondere Form der Äußerung des Be-
harrungsprinzips, die wir mit Gewohnheit bezeich-
nen und die bei Annahme eines erblichen Charak-
ters als „Instinkt" oder ,, natürliche Anlage" phylo-
genetisch begründet wird.
Die Gewohnheiten, als besondere Zweige der
Lebensäußerungen und Lebensentwicklung aufge-
faßt, besitzen als solche natürlich ihre eigenen Be-
dingungen, unter denen sie entstanden sind und
unter deren Einfluß sie sich allein zu halten ver-
mögen. Die Gewohnheitsbedingungen sind der
engere Begriff innerhalb der gesamten Lebens-
bedingungen, durch ihr Verschwinden wird die
Existenz des Lebens in der Regel nicht in Frage
gestellt, sondern nur die Beseitigung einiger Ge-
wohnheiten herbeigeführt. Zwischen Gewohnheit
und Gewohnheitsbedingung besteht dasselbe Ver-
hältnis wie zwischen Leben und Lebensbedingung.
Wie die Lebewesen morphologisch und funktionell
eine Anpassungserscheinung an die Lebensbedin-
gungen darstellen, so ist auch die Gewohnheit
sowohl hinsichtlich ihrer Äußerung als auch mit
Rücksicht auf ihren Ausdruck in den Ganglien-
zellen des Gehirns eine Anpassungserscheinung an
die Gewohnheitsbedingungen. Eine Änderung der
Lebensbedingungen irgendeines Lebewesens stellt
dessen Anpassungsfähigkeit ebenso auf die Probe,
wie eine Änderung der Gewohnheitsbedingungen
die Fähigkeit der Tiere und Menschen verrät, alte
Gewohnheiten gegen neue einzutauschen.
Erinnern wir uns in diesem Zusammenhange
der Tatsache, daß in der freien Natur das Be-
harrungsprinzip seine Tendenz nur in beschränktem
Grade auf die Entwicklung des Lebens zur Durch-
führung bringen kann, weil ja doch einem etwa
herbeigeführten Verlust der Anpassungsfähigkeit
der Lebewesen deren Untergang früher oder später
folgen muß. Denn die natürliche Zuchtwahl bindet
den fortlaufenden Lebensstrom in der Natur an
solche Lebewesen, die immer weiterer Anpassungs-
fähigkeit Raum lassen und scheidet alle übrigen
Wesen aus der fortlaufenden Entwicklung des
Lebens aus. Aber dennoch strebt naturgemäß jede
Gewohnheit entsprechend der Tendenz des Be-
harrungsprinzips nach weitgehendster Entfaltung,
und indem die Macht der Gewohnheit sich häufig
gegen die Interessen des eigenen Subjekts wendet
und dessen Leben gefährdet, können die Bedin-
dingungen der Gewohnheiten den Bedingungen
des Lebens direkt entgegenwirken (gewohnheits-
mäßiger Alkoholgenuß). Unter dem Einfluß solcher
Gewohnheiten kann die individuelle Lebensorgani-
sation so verwandelt werden, daß die damit ver-
bundene Verflachung der Lebenstätigkeit die Fähig-
keit innerer Spannungsverschiebungen erlahmen
und besonders das Anpassungsvermögen an ver-
änderte Bedingungen Schwinden läßt. Ebenso aber
können die Gewohnheitsbedingungen den Charakter
wirklicher Lebensbedingungen annehmen und ganz
darin aufgehen, wenn irgendeine Gewohnheit das
Leben eines Individuums dermaßen unter ihre
Herrschaft gebracht hat, daß ein plötzliches Auf-
geben dieser Gewohnheit — wie es zuweilen selbst
beim Menschen vorkommt — den Tod des In-
dividuums zur Folge hat. Auch in diesem Falle
hat eine zu weite Ausbreitung der Gewohnheit
jene Anpassungsfähigkeit zum Schwinden gebracht,
ohne die das organische Leben den unvermeid-
lichen Wechsel äußerer Bedingungen nicht über-
stehen kann.
Ein Beispiel dafür, daß die Gewohnheitsbedin-
gungen den Charakter wirklicher Lebensbedingungen
mit der Zeit annehmen können, bietet in gewisser
Beziehung die Zucht unserer Haustiere. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, daß die Haltung und
Pflege dieser Tiere ursprünglich lediglich den
Charakter von Gewohnheitsbedingungen besaßen,
und daß unter ihrem Einfluß die Anpassungsfähig-
keit und Widerstandsfähigkeit dieser Tiere mehr
und mehr nachließ und schwand. Es zeigt sich
jene Verweichlichung des Organismus, die den
wechselnden Einflüssen des Klimas wenig Kraft
entgegenzusetzen vermag , und jene Unfähigkeit
der Lebewesen, in der freien Natur selbsttätig
Nahrung und Schutz zu suchen. Unsere durch
Gewöhnung, d. h. Haltung und Pflege hochgezüch-
teten Schweinerassen z. B. würden, plötzlich unter
die Bedingungen ihrer wilden Stammeltern ver-
setzt, ohne Ausnahme dem Tode in sehr kurzer
Zeit verfallen sein.
Indem wir uns nun dem rein psychischen
Charakter der Gewohnheit zuwenden, betrachten
wir die individuelle Lebenshaltung unter dem
Gesichtswinkel des überall herrschenden Beharrungs-
prinzips. Die Beobachtung unserer;'' Haustiere,
namentlich der Pferde und Hunde, zeigt, daß der
vom Menschen erzwungene Wechsel der Gewohn-
heiten die Tiere in ihrem geistigen Vermögen be-
reichert. Allerdings wirkt bei unseren Haustieren ein
gewisses Maß verstandesmäßiger Erfahrung mit und
beschleunigt die Annahme günstiger Gewohnheiten.
Aber bei den tiefstehenden Lebewesen, bei denen
wir jede Spur verstandesmäßiger Vorgänge noch
vergeblich suchen, und überhaupt in den ersten
Anfängen der Entwicklung des Lebens können
neue Gewoiinheiten nur auf mechanischem Wege
sich der tierischen Wesen bemächtigt haben.
Dennoch aber kann die Beobachtung unserer Haus-
tiere die Erkennung der Tatsache erleichtern, daß
infolge des Verdrängens alter Gewohnheiten durch
neue ein Wachstum der geistigen Vorgänge herbei-
geführt wird. Denn es findet kein reines Ver-
tauschen oder bloßes Wechseln mit den Gewohn-
heiten statt, sondern das Beharrungsprinzip
läßt eine Summierung der Bewegungen
eintreten. Es mögen unendlich lange Zeit-
N. F. III. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
629
räume erforderlich gewesen sein, bis diese An-
reicherung so weit entwickelt war, daß allmählich
Erfahrungen gesammelt und verwertet werden
konnten. Aber mit der Entstehung dieser Fähig-
keit, mit dem Aufkeimen des Verstandes, konnte
dann eine viel lebhaftere Entwickhing geistiger
Vorgänge eintreten, und zunächst durch Nach-
ahmung, dann durch verstandesmäßige Überlegung
und Übung oder durch spekulatives Suchen des
Denkvermögens eine fortschreitende Entwicklung
der Geistestätigkeit herbeigeführt werden. Wenn
bei der Bildung des menschlichen Geistes nur
flüchtige Anregungen und Mitteilungen durch Lek-
türe, Unterhaltung oder anderweitige Sinncsanspan-
nung eine innere Bereicherung oder Erweiterung
entstehen lassen, ohne daß diese Anregungen ge-
wohnheitsmechanisch fixiert werden, so liegt dies
an der menschlichen Verstandes- und Willenstätig-
keit, die als höhere Entwicklungsstufe innerhalb
des Erkenntnisvermögens aufzufassen ist. Aber in
den ersten Anfängen geistiger Entwicklung kann
nur durch Aufnahme neuer Gewohnheiten eine psy-
chische Weiterbildung eintreten, und die Schnellig-
keit des Verlaufs dieser Geistesentwicklung findet
ihren Maßstab in der Schnelligkeit der Entstehung,
Wiederverdrängung und überhaupt des eintreten-
den Wechsels der Gewohnheiten. Die günstigsten
Bedingungen für die mechanische Geistesentwick-
lung sind Bewegungen, deren Regelmäßigkeit und
Beharrlichkeit gerade zu einem gewohnheitsmecha-
nischen Abdruck noch hinreicht, die aber doch
in so wechselvollem Verlauf dahinfließen, daii
soeben entstandene Gewohnheiten wieder durch
andere verdrängt werden. Der Mensch führt oft
scheinbar überlegte Handlungen aus, ohne in dem
Augenblick des Vollbringens sich der Gründe ihrer
Zweckmäßigkeit bewußt zu sein. Es sind dies
durch Übung mechanisch gewordene Gedanken-
verbindungen, die wir mit Gewohnheit bezeichnen
und die vielfach fälschlich als instinktmäßige Hand-
lungen angesehen werden. Ihre mechanische Be-
festigung oder ihre Entwicklung zur Gewohnheit
ist dadurch möglich geworden, daß wirklich vor-
her mehrfach analoge Überlegungen in ihren ein-
zelnen Gedankenverbindungen durchgeführt worden
sind. Je weniger bei den Handlungen der Menschen
der leitende und überwachende Verstand mitwirkt,
um so deutlicher treten die gewohnheitsmäßigen
Gedankenverbindungen hervor. Andererseits aber
sind die gewohnheitsmechaiüschen Handlungen
auch von einer gewaltigen Macht beseelt gegen-
über der Erkenntnis des menschlichen Verstandes.
Sowohl der Lebensberuf mit seinen Anforderungen
wird dem Träger durch die Macht der Gewohn-
heit erleichtert, als auch die täglichen Genüsse
verfallen ihrer Herrschaft und zeigen häufig mit
unverkennbarer Deutlichkeit, wie wenig die viel
betonte Macht der Vernunft über die gewohnheits-
mechanischen Handlungen zu triumphieren ver-
mag. Alle Leidenschaften des Menschen, soweit
sie nicht auf Vererbung beruhen, gehören auch
in das Gebiet der Gewohnheit, und es ist für die
bei weitem größte Mehrheit der Menschen leichter,
die Handlungen anderer Menschen mit kühler Ob-
jektivität vernünftig zu kritisieren oder zu leiten,
als die eigenen Tätigkeiten alle unter das Joch
der Vernunft zu stellen und sie dem Einfluß aller
subjektiven Gewohnheiten zu entwinden. Die
Macht der Gewohnheit ist eben häufig viel stärker
als der von der Vernunft des Menschen geleitete
eigene Wille. Sogar der Verstand mit seiner
Denktätigkeit unterliegt dem Einfluß der Gewohn-
heit und kann durcii Übung zu größerer Leistungs-
fähigkeit herangebildet werden.
Wenn wir den Ausdruck „Gewohnheitsbedin-
gungen" in ein bestimmtes Verhältnis zur mensch-
lichen Lebensführung zu bringen suchen, dann
können wir leicht einsehen, daß sich dieser Be-
griff in dem ganzen Umfange seines Inhalts un-
gefähr mit den Vorstellungen deckt, die wir mit
dem Ausdruck „Lebens\erhältnisse" zusammen-
fassen. Zugleich eröffnet sich uns das Verständnis
für das Wesen und die Entwicklung menschlicher
Bedürfnisse, denn im Uranfang der Lebensentwick-
lung, in dem Gewohnheit und Lebensäußerung
noch zu einem Ganzen verschmolzen waren, be-
saßen natürlich nur die Lebensbedingungen für
alle Lebensformen den Rang von Bedürfnissen.
Nun stehen die Mittel zur Befriedigung der Lebens-
bedürfnisse nicht in unbeschränktem Maße den
Lebewesen zur Verfügung, und daher entbrennt
um deren Besitz ein Kampf, den Darwin mit
„Kampf ums Dasein" bezeichnet hat. Da nun das
organische Leben immer innerhalb des Daseins-
kampfes dahinschweben muß, und besonders die-
jenigen Lebewesen die weitere Entwicklung an
sich reißen, die den Kampf ums Dasein siegreich
bestehen, so ist es nicht zu verwundern, daß auch
der Kampf ums Dasein zur Gewohnheitsbedingung
wird und Gewohnheiten zeitigt, die einen festen
Abdruck in der Lebensorganisation hervorrufen
müssen. Gewohnheitsbedingungen oder Lebens-
verhältnisse, von denen wir bereits wissen, daß
sie sich zu wirklichen Lebensbedingungen ent-
wickeln können, erzeugen in Verbindung mit dem
organisclien Leben beständig neue Gewohnheiten,
aus neuen Gewohnheiten entstehen wieder neue
Lebensverhältnisse, und so in endlosem Wechsel
der Spannung treiben sich Gewohnheiten und Ge-
wohnheitsbedingungen (Lebensverhältnisse) in ihrer
Entwicklung fortlaufend an. Und wenn wir die
Lebensbedingungen als Bedürfnisse des organischen
Lebens ansahen, so müssen wir die Gewohnheits-
bedingungen oder Lebensverhältnisse als Bedürf-
nisse der Lebensführung ') bezeichnen. Die wirt-
schaftliche Dringlichkeit der Bedürfnisse, mit der
die Volkswirtschaftslehre rechnen muß, ergibt sich
aus dem Verhältnis der Gewohnheitsbedingungen
') Beim Menschen sind z. B. die verschiedenen gesellschaft-
lichen Zustände, die sich mit der Zeit herausgebildet haben,
Lebensverhältnisse, Bedingungen für gewisse Gewohnheiten,
Bedürfnisse unserer Lebensführung. Auch die geistigen Be-
durfnisse und feineren Genüsse sind von diesem Gesichtspunkt
aus zu beurteilen.
630
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 40
(Lebensverhältnisse) zu den Lebensbedingungen,
und auch alle rechtlichen Anschauungen des
Menschen sind die Ergebnisse der Einwirkung ge-
wisser Gewohnheitsbedingungen auf das erkennende
und empfindende Subjekt. Aus dem primitiven
Kampf ums Dasein, aus dem Ringen um die Mittel
zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürf-
nisse, aus der Betätigung des Selbsterhaltungs-
triebes der Lebewesen, ja aus dem Beharrungs-
prinzip in Verbindung mit dem Leben des Menschen
hat sich einerseits der von Ihering so genannte
„Kampf ums Recht" entwickelt, und andererseits
jene planmäßige Tätigkeit 7Air Befriedigung mensch-
licher Bedürfnisse, die wir mit der Bezeichnung
„Wirtschaft" belegen.
So ist also kein prinzipieller Unterschied zwischen
dem „Kampf ums Dasein" in der Natur und dem
Wirtschaftskampf der Menschen zu erkennen, und
nur entwicklungsgeschichtlich sind beide verschie-
den. Die heutige Kulturmenschheit hat allerdings
den Zustand des Kampfes um das nackte Dasein
fast völlig überwunden, und es gehört immerhin
zu den Seltenheiten, daß auf den Stätten euro-
päischer Kultur Hunger oder Kälte die Menschen
dahinrafift. Die Allgemeinheit tritt für die Erwerbs
unfähigen ein und mildert gewaltig den Ernst des
Kampfes ums Dasein in des Wortes engster Be-
deutung. Aber die enge Verwandtschaft von Ge-
wohnheit und Dasein, unsere Auffassung von dem
Wesen und von der Entwicklung der Bedürfnisse,
die aus der wechselvollen Spannung der Gewohn-
heitsbedingungen herausgetriebene Weiterentwick-
lung der Formen menschlicher Lebensführung be-
lehren uns, daß wir für „Kampf ums Dasein" nur
den Ausdruck „Kampf um die Mittel zur Befriedi-
gung der Bedürfnisse" zu wählen brauchen , um
mit dieser Bezeichnung sowohl den Daseinskampf
der Lebewesen, als auch den Wirtschaftskampf der
Menschen zu treffen. Es handelt sich im Wirt-
schaftsgetriebe der Menschheit nicht einfach um
den Kampf ums Dasein, sondern um den Kampf
um die Art des Daseins und um die Sicherstellung
der Art der Lebensführung für die Zukunft. Der
Mensch strebt danach , seine Stellung innerhalb
gegebener Lebensverhältnisse zu behaupten, neue
Gewohnheitsbedingungen zu erlangen und sich in
ihnen bedürfnisreicher zu bewegen. Der Haupt-
gegensatz zwischen Daseinskampf und Wirtschafts-
kampf besteht darin, daß jener lediglich von dem
notwendigsten Bedürfnis der Gegenwart unter-
halten wird, während dieser die Bedürfnisse der
Zukunft berücksichtigt ') und die Mittel erstrebt,
sie im reichsten Maße befriedigen zu können. Aber
wie der Daseinskampf, so wird auch der Wirt-
schaftskampf zur Gewohnheit und erfährt nicht
nur in den Ganglienzellen des Gehirns einen be-
stimmten Ausdruck, sondern prägt sich auch in
der ganzen Haltung und im Exterieur des Men-
schen aus. Ob jemand seine Verfügungen schreibt
und ein anderer diese ausführt; ob der Arbeiter
im Schweiße seines Angesichts seinen Lebens-
unterhalt erwerben muß oder der Betriebsleiter,
der Beamte, der Gelehrte bei sitzender Lebens-
weise an das Zimmer gebunden ist; ob der be-
güterte Kapitalist sein Vermögen selbst verwaltet,
oder ein anderer Mensch gegen Entschädigung
mit dessen Verwaltung beauftragt ist; ob man
ein tätiges oder ruhiges Leben führt, immer er-
scheint wegen der Macht des Beharrungsprinzips
die erzwungene oder selbst gewählte Lebensführung
des Menschen als eine mehr oder minder reiche
Fülle von Gewohnheitsbedingungen. Lind diese
bilden Gewohnheiten heraus, die sowohl die Last
der Arbeit zu überwinden helfen, den Druck der
Verhältnisse mit der Zeit mindern, als auch die
Trägheit der Ruhe je länger desto mehr befestigen
und unsere Meinungen und Stimmungen gefangen
nehmen. So haben wir also in den menschlichen
Gewohnheiten nicht nur eine höhere Entwicklung
der organischen Lebenstätigkeit vor uns, sondern
zugleich auch Entwicklungsstadien oder F"ormen
eines mehr oder minder fülilbaren „Kampfes ums
Dasein".
') Der Unterschied zwischen Daseinsk.impf und Wirt-
schaftskampf beruht auf dem Unterschied zwischen natürlicher
und künstlicher Selektion. Wie die künstliche Züchtung von
einer Idee getragen wird, so ist auch die wirtschaftliche
Tätigkeit von einer Idee erfüllt und trifft nach Maßgabe dieser
Idee die Auswahl unter den möglichen wirtschaftlichen Maß-
nahmen.
Kleinere Mitteilungen.
Menschen- und Rindertuberkulose. — Der
in Nr. 28 dieser Zeitschrift erschienene Aufsatz
über vorstehendes Thema veranlaßt mich zu einigen
Bemerkungen, da sich bezüglich eines Punktes ein
kleiner Irrtum in die Ausführungen des Herrn
Verfassers eingeschlichen hat. Derselbe ist an-
scheinend der Meinung, daß der zitierte Ministerial-
erlaß für das Königreich Preußen vom 27. Juni
1885 auch heute noch in Kraft sei. Dies ist nicht
richtig, da im Jahre 1S92 eine neue diesbezügliche
Verordnung erschien. .-Mlein auch diese besitzt
heute keine Gültigkeit mehr, denn seit i. April
1903 erfolgt die Beurteilung tuberkulöser Schlacht-
tiere einheitlich nach den Grundsätzen des Reichs-
fleischschaugesetzes vom 3. Juni 1900 und den
dazu gehörigen Ausführungsbestimmungen des
Bundesrats vom 30. Mai 1902.
Mit Bezug auf diese Mitteilung sei es mir ge-
stattet, kurz über die Ansichten zu berichten, die
zu verschiedenen Zeiten betreffs der Genießbarkeit
des F"leisches tuberkulöser Tiere herrschten, und
im Anschluß daran die heutigen Grundsätze dar-
zulegen.
Als Robert Koch im Jalire 1882 den Tuberkel-
bazillus entdeckte imd kurz nachher den Satz aus-
sprach, daß Menschen- und Rindertuberkulose
N. F. III. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
631
identische Krankheiten seien, da war es erklärlich,
daß man nun das Fleisch tuberkulöser Tiere als
für den Menschen höchst gefährlich ansah. Diese
Auffassung prägt sich in dem erwähnten Erlaß
vom Jahre 1885 aus, welcher die für unsere heutigen
Begriffe äußerst rigorose Norm aufstellte, daß das
Fleisch tuberkulöser Tiere bei Erkrankung mehrerer
Organe oder bei Abmagerung als gesundheits-
schädlich zu betrachten sei.
Mittlerweile hatte aber die Wissenschaft ver-
sucht, auf Grund präziser Experimente die hier
in Betracht kommenden Verhältnisse klarzulegen.
Es ergab sich dabei die bemerkenswerte Tatsache,
daß das Fleisch in der angegebenen Weise er-
krankter Tiere nur in den seltensten Fällen ge-
eignet war, die Versuchstiere tuberkulös zu in-
fizieren. Nur wenn der Tuberkelbazillus von einem
bereits bestehenden Tuberkel aus in die Blutbahn
eingebrochen war und so in den verschiedensten
Teilen des Körpers krankhafte Prozesse hervor-
gerufen hatte, erwies sich die Muskulatur der be-
fallenen Tiere dem lebenden Organismus gegen-
über als krankheitserregend, aber auch nur dann,
wenn jenes Eindringen in die Blutbahn erst vor
ganz kurzer Zeit erfolgte, und aus diesem Grunde
die entstandenen tuberkulösen Herde noch sehr
frisch waren. In gleicher Weise infektiös erwies
sich das I""leisch außerdem, wenn die Tiere in
größerem Umfange solche tuberkulöse Herde be-
herbergten, die durch Hinzutreten von Eitererregern
in den sogenannten erweichten Zustand übergeführt
waren. Endlich wies Nocard nach, daß auch das
Blut nur in den seltensten Fällen Träger des An-
steckungsstoffes sei, da bei intravenöser Injektion
von lebenden Tuberkelbazillen diese sämtlich
spätestens am 6. Tage im Blute zugrunde gingen.
Auf Grund dieser Versuche waren die Be-
stimmungen des preußischen Erlasses vom 26. März
1892 ganz erheblich milder. Es war hier ausge-
sprochen, daß eine gesundheitsschädliche Beschaffen-
heit des Fleisches von tuberkulösem Rindvieh in
der Regel nur anzunehmen sei bei Vorhandensein
von tuberkulösen Veränderungen in der Musku-
latur selbst, oder wenn das betreffende sonst an
der Krankheit leidende Tier einen schlechten Nähr-
zustand aufweise. Bei gut genährten Tieren sei
das Fleisch auch bei Tuberkulose eines oder
mehrerer Organe derselben Körperhöhle in den
freien Verkehr zu geben.
Bei weiterer Ausbreitung der Krankheit im
Tierkörper überläßt die angezogene Verordnung
die Entscheidung dem Urteil der Sachverständigen.
Da aber die Anschauungen der letzteren zu jener
Zeit ungefähr die gleichen waren wie heutzutage,
so sei es mir, um Wiederholungen zu vermeiden,
gestattet, nunmehr auf die Grundsätze des Reichs-
fleischschaugesetzes näher einzugehen.
Dieselben unterscheiden zunächst Tuberkulose
eines und mehrer er Organe. Im ersteren Falle
ist das Fleisch nach Entfernung des erkrankten
Teils im allgemeinen genußtauglich ohne Ein-
schränkung. Einzelne Organe sind auch dann als
ungenießbar zu erklären, wenn nur die zugehörigen
Lymphdrüsen tuberkulös infiziert sind. Bei Ab-
magerung infolge der Krankheit ist das Fleisch in
jedem Falle als genußuntauglich dem Konsum zu
entziehen.
Bei Tuberkulose mehrerer Organe ist zu unter-
scheiden, ob die Verbreitung des Krankheitserregers
auf dem Wege des grol3en Blutkreislaufes erfolgt
ist oder nicht. Trifft letzteres zu, so ist das Fleisch
bei geringer Ausdehnung der tuberkulösen Ver-
änderungen überhaupt freizugeben, bei stärkerer
Ausdehnung aber als minderwertig auf die Frei-
bank zu verweisen. Finden sich dagegen die oben
erwähnten Erweichungsherde vor, so ist das Tier
als bedingt tauglich zu erklären, d. h. dasselbe
darf nur nach Sterilisation als nicht bankwürdig
in den Verkehr gebracht werden.
Hat sich die Tuberkulose auf dem Wege des
großen Blutkreislaufes im Körper ausgebreitet, so
kommt es darauf an, ob die Blutinfektion erst vor
kurzem erfolgte, oder ob schon längere Zeit seit
dem Eintritt derselben verflossen ist, eine Frage,
die durch makroskopische Untersuchung der vor-
gefundenen tuberkulösen Herde entschieden werden
kann. Außerdem ist darauf zu achten, ob die
krankhaften Veränderungen neueren oder älteren
Datums sich lediglich in den Eingeweiden und im
Euter vorfinden, oder ob dieselben auch in der
Muskulatur resp. den dazu gehörigen Fleischlymph-
drüsen sich etabliert haben.
Bei frischer Blutinfektion und Beschränkung
der dadurch entstandenen sogenannten miliaren
Tuberkel auf die Eingeweide incl. Euter sind diese
zu entfernen und das F"leisch sterilisiert unter
Deklaration zu verwerten. Sind in gleicher Weise
die Muskulatur oder die dazu gehörigen Lymph-
drüsen erkrankt, so ist sämtliches Fleisch zu ver-
nichten.
Fehlen die Erscheinungen einer frischen Blut-
infektion, so ist wie vorhin festzustellen, ob die
Tuberkulose die Eingeweide und das Euter oder
das Fleisch und seine L)'mphdrüsen ergriffen hat.
Ergibt die Untersuchung des betr. Schlachttieres
den ersteren Befund, so darf das Fleisch desselben
bei gutem Nährzustand und bei geringer Aus-
dehnung des Krankheitsprozesses an den einzelnen
Organen zum Genuß ohne jede Einschränkung
zugelassen werden, bei größerem Umfang der
tuberkulösen Herde aber ist dasselbe auf der Frei-
bank zu verkaufen. Sind zu gleicher Zeit ausge-
dehnte Erweichungsherde vorhanden, so ist das
ganze Tier nach Entfernung der Organe als be-
dingt tauglich zu sterilisieren. Hat sich endlich
die Krankheit in den Fleischlymphdrüsen festge-
setzt, so ist das dazugehörige Fleischviertel nur
in sterilisiertem Zustande zum Genuß zuzulassen,
während die übrigen Teile als minderwertig unter
dieser Bezeichnung in den Verkehr gebracht werden
dürfen.
Diese Bestimmungen des Reichs-Fleischschau-
gesetzes sind als sehr zweckentsprechend zu be-
zeichnen. Denn sie leisten einerseits den hygie-
632
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. III. Nr. 40
nischen Anforderungen Genüge, andererseits suchen
sie aber auch das in unseren Tierbeständen an-
gelegte Nationalvermögen so viel wie möglich vor
der Entwertung zu schützen.
Dr. Carl (Karlsruhe).
Alkohol liebende Tiere. — In der „Natur-
wissensch. VVochenschr." (N. F. III. Bd. 1904 Nr. 30)
macht F. VV. Brinkmann unter dem Titel „Tiere
und Alkohol" auf S. 472 die Mitteilung, daß viele
Tiere, von der Wespe bis zum Affen, den Alkohol
lieben, daß aber manche Tiere Abstinenzler seien,
und daß zu diesen Abstinenzlern das ganze
Geschlecht der Katzen gehöre. Wenn man diese
Behauptung für unumstößlich richtig halten soll,
so wird man dem Katzengeschlechte allzuviel Ehre
erweisen ; denn dieser den Katzen so wohlwollende
Ausspruch ist nicht aufrecht zu erhalten.
Schon Maximilian Perty schreibt in seinem
Buche „Seelenleben der Tiere", S. 23, daß nach
Mantegazza die Katzen gern Baldrian und
Teucrium Marum genießen, um sich zu be-
rauschen. Namentlich vom Baldrian ist dies sehr
bekannt. Der gemeine Baldrian (Valeriana
officinalis L.) heißt wohl deshalb auch Katzen-
baldrian oder Katzenwurz. Er ist offizineil und
liefert aus seinem Wurzelstocke einige Arzneimittel;
die Wurzel ist namentlich durch ihren reichen
Gehalt an ätherischen Ölen ausgezeichnet. Die
Pflanze duftet nach dem Zerreiben ihres Stengels
und ihrer Blätter intensiv aromatisch. Wohl dieser-
halb übt die Pflanze auf Katzen eine Anziehungs-
kraft aus. Das „Katzenkraut", Teucrium Marum
L., ist über Südeuropa und Vorderasien verbreitet ;
es duftet aromatisch kampferartig und wird gleich-
falls von den Katzen gern aufgesucht. Wie Kampfer,
bekanntlich ein Produkt des Kampferbaumes (Cam-
p h o r a officinalis Nees), auf das Nervensystem
wirkt, so enthalten auch Baldrian und die genannte
Teucrium- Art ähnlich wirkende Stimulantien.
Diese locken die nur stumpf riechende Katze an,
während sich der mit einer feiner organisierten
Nase begabte Hund von nervenerregenden Düften
abwendet.
Dagegen werden die Geschmacksnerven der
Katze auch von alkoholischen Getränken gereizt,
worin sie mit dem Hunde übereinstimmt. Es ist
nicht einmal im allgemeinen richtig, was F. W.
Brinkmann schreibt, daß nämlich die Haus-
katze, sowie ihre kleineren und größeren Ver-
wandten den größten Abscheu vor Alko-
hol in jeglicher P'orm zeigen, wenn ihnen
dieser geboten wird. Daß die Katzen einen guten
Tropfen zu schätzen wissen , beweist eine dieses
erhärtende Mitteilung von M. Kossak in seinem
Aufsatze „Trunksüchtige Tiere" (Danziger Neueste
Nachrichten, Nr. 89, 16. April 1904). „Einem
Kater, der mir gehört", so schreibt dieser Ge-
währsmann, ,, wurde vom Tierarzt infolge einer Er-
krankung täglich dreimal ein Teelöft'el voll Port-
wein verordnet. Er ist ein sehr sanftes Tier und
nahm den Wein daher auch, wenn auch freilich
ohne Enthusiasmus. Seine junge Gattin, die sein
Logis teilt, erhielt jedoch einmal zum Scherz auch
einen Löffel Portwein. Von der Zeit an drängte
sie sich stets, wenn ihr Schatz mit saurer Miene
den Trank schluckte, dazu und schmeichelte, bis
sie davon zu kosten bekam. Wenn man zur be-
stimmten Stunde zu den beiden Katzen ging, saß
sie schon immer vor der Tür und wartete auf
ihren Wein. Der Kater dagegen hat sich nicht
daran gewöhnt ; obwohl er wiederholt längere
Zeit hindurch Portwein bekommen hat, fügt er
sich bis zu dieser Stunde mit der Miene eines
Verurteilten in das Unvermeidliche. Dieser wunder-
schöne Tigerkater besitzt eine Neigung zu Lungen-
krankheiten und muß aus diesem Grunde zeitweise
inhalieren ; es macht ihm das wahrhaftig kein
Vergnügen, aber er zieht das Inhalieren immer
noch dem Weintrinken vor. Wenn einer von uns
in seiner Gegenwart sagt: „wir müssen ihm doch
wieder Portwein geben," so kneift er den Schwanz
ein und schleicht wie ein armer Sünder hinter
den Ofen."
Auch eine in der „Unterhaltungs-Beilage" des
Berliner Lokal- Anzeigers Nr. 100 vom 29. April
1904 enthaltene , .Zuschrift" enthält eine Beob-
achtung über einen einschlägigen P'all, der aber
bekannte schlimmere Eolgen nach sich zog. Es
heißt dort: „Sie erheben in der Mittwochsnummer
Ihrer Zeitung') . . . gegen das Katzengeschlecht
einen Vorwurf, von dem ich als fleißiger stud.
cerev. es befreien will. Katzen sind durchaus keine
Abstinenzler, es fehlt iiinen nur an Gelegenheit.
In meiner Familie haben wir für Katzen eine
große Vorliebe. Nun, bei besonderen Anlässen
pflegt man bei uns nach englischer Art einen
großen Pudding aufzutragen, mit gutem Rum
tüchtig zu durchnässen und dann anzuzünden. Es
bleibt dann eine Art Syrup aus Rum und Zucker.
Unsere Katzen nehmen immer an unseren Feier-
lichkeiten teil: gerade diese Art Pudding geht
ihnen über alles. Sie betteln solange, bis sie
ein Stück davon erhalten, und verlangen dann
immer mehr. Die Wirkung bleibt natürlich nicht
aus, und in tollsten Spielen und Sprüngen geben
sie dann ihre „feuchtfröhliche Stimmung" kund.
Endlich schlafen sie ein und sind am folgenden
Morgen recht niedergeschlagen. Die armen Katzen
leiden offenbar an einem entsetzlichen „Kater"."
Es mangelt eben nur an Mitteilungen von Be-
obachtungen, wenn ex cathedra solche Aussprüche,
wie der zu Anfang unseres Aufsatzes mitgeteilte,
getan werden. Tages- und Wochenblätter ent-
halten indes manche beachtenswerte Zuschriften
über Beobachtungen an Tieren, die in manchen
Fällen wertvoll sind und mehr Berücksichtigung
finden sollten, als es tatsächlich geschieht.
Des weiteren schreibt in gleichem Sinne Dr.
Th. Zell in der „Leipziger Illustrierten Zeitung"
') In einem Referate über den Brinkmann'schcn Artikel
in der Naturw. Wochenschrift, worin, wie im Eingange unseres
Aufsatzes mitgeteilt wird, den Katzen Neigung zu Alkohol ab-
gesprochen wird.
N. F. m. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
633
(Nr. 3097, 6. November 1902), daß sich Katzen
und Hirsche, die zufällig den Biergenuß kennen
gelernt hatten, das Trinken angewöhnt haben.
Man sieht daraus, wie lüstern Tiere nach be-
rauschenden Mitteln werden können, genau so
wie viele Menschen. Das hat man übrigens schon
im Altertum gewußt, denn der bekannte rö-
mische Geschichtsschreiber Ap planus, der im
2. Jahrhundert v. Chr. lebte, erzählt in diesem
Sinne nachstehendes: „In Afrika fangt man die
Panther in folgender Weise. Man sucht in der
Sandwüste eine schwache Quelle, die, ohne weiter
zu fließen, ein kleines Becken bildet, an das die
Panther täglich zur Tränke gehen. Dorthin tragen
die Jäger zwanzig Krüge starken Weines, gießen
diesen ins Wasser und verbergen sich dann in
der Nähe. Steht die Sonne hoch und glühend
am Himmel, so kommen die Raubtiere, vom Durst
gepeinigt und von dem lieblichen Dufte gelockt,
und schlürfen mit Begierde den Labetrunk. So-
dann hüpfen und tanzen sie lustig herum, legen
sich später taumelnd nieder, senken das Haupt
und schlafen endlich, wie wenn sie tot wären.
In diesem Zustande werden sie leicht von den
Jägern gefesselt". (Nach Zell.) Es ist daher erklär-
lich, daß die römischen Künstler in ihren Dar-
stellungen des Bacchus (Dionysus) dem Gotte des
Weines das Bild eines Panthers zugesellt haben.
Wie leicht also Katzen und ihre Verwandten
dem Genüsse von Spirituosen zugänglich sind, geht
aus diesen wenigen Mitteilungen schon zur Genüge
hervor. Sie haben eine ähnliche Schwäche gegen
berauschende Getränke wie andere Tiere und wie
der Mensch und sind nichts besser als dieser.
Auch Mäuse können dem Alkoholgenusse er-
geben sein. Dr. Th. Zell macht darüber einige
Mitteilungen. Nach ihm berichtet Lenz über
folgenden seltenen Fall dieser Art: „Eine seiner
Schwestern hörte abends im Keller ein eigenes,
singendes Piepen, suchte mit der Laterne und
fand eine Waldmaus, die neben einer Flasche
Malaga saß, der hereinkommenden Dame freundlich
und ohne Scheu ins Gesicht sah und sich in ihrem
Gesänge dabei gar nicht stören ließ. Die junge
Dame ging fort, holte Hilfe, und es wurde mit
Heeresmacht in den Keller gezogen. Die Maus
war mit ihrem Liedchen noch nicht fertig, blieb
ruhig sitzen und war sehr verwundert, als sie mit
einer eisernen Zange beim Schöpfe gefaßt wurde.
Bei weiterer Untersuchung fand sich nun, daß die
Flasche etwas auslief, und daß um den Fleck, wo
die Tropfen herausliefen, ein ganzer Kranz von
Mäusemist lag, woraus der Schluß gezogen wurde,
daß die hier als Trunkenbold verhaftete Maus schon
länger ihr Gelage gefeiert haben mochte." — Eine
ähnliche Geschichte von einer alkoholfreudigen
Maus erzählt I'örster Block: ,, Einmal wurde ich
beim Schreiben durch ein Geräusch gestört und
erblickte eine Maus, die an den glatten Füßen
eines Tischchens emporkletterte. Bald war sie
oben und suchte emsig nach den Brosamen, die
auf dem Frühstücksteller lagen. In der Mitte des
Tellers stand ein ganz leichtes, glockenförmiges
Schnapsgläschen, zur Hälfte mit Kümmel gefüllt.
Mit einem Sprung saß das Mäuschen oben auf dem
Glase, bog sich vorn über, leckte eifrig und sprang
sodann herunter, nahm aber noch eine Gabe von
dem süßen Gift zu sich. Durch ein Geräusch
meinerseits gestört, sprang sie mit einem Satz
vom Tisch herab und verschwand hinter einem
Glasschrank. Jetzt mochte der Geist über sie
kommen, denn gleich darauf war sie wieder da
und führte die spaßhaftesten Bewegungen aus, ver-
suchte auch, obwohl vergeblich, den Tisch noch-
mals zu ersteigen. Ich stand auf und ging auf
sie zu, behelligte sie aber nicht; ich holte eine
Katze herbei, die Maus lief auf einen Augenblick
davon, war aber gleich wieder da. Von meinem
Arm herab sprang die Katze zu, und das trunkene
Mäuschen hing an den Krallen ihrer Tatze". Es
war ein Opfer seines Lasters geworden.
Alkohol verdirbt gute Charaktere nicht nur
beim Menschen, sondern auch bei Haustieren.
Kossak (1. c.) kannte einen großen weißen Pudel,
der regelmäßig täglich i '/., Seidel Bier trank.
Dieser Hund gehörte einem Studenten, von dem
er mit in die Kneipe genommen und systematisch
an den Biergenuß gewöhnt worden war. Wenn
er einen Tag kein Bier bekam, war er das un-
leidlichste Geschöpf von der Welt, kläffte und
knurrte fortwährend und suchte seine üble Laune
auf jede Weise zu zeigen. Übrigens lehrt gerade
das Beispiel dieses Pudels, daß den Hunden be-
rauschende Getränke nicht zuträglich sind. Während
er früher einen gutmütigen und anhänglichen
Charakter besessen hatte, war er, nachdem er sich
an den Biergenuß gewöhnt, zänkisch und bösartig
geworden, und zwar in einer sonderbaren launischen
Art. Er schnappte nicht nur nach Fremden, sondern
auch nach seinem Herrn, bellte ganz unmotiviert
und rannte manchmal wie besessen im Zimmer
umher. Wenn das Tier ein Mensch gewesen wäre,
würde man gesagt haben, er sei nicht geistig
normal. Zusehends magerte der Hund auch ab,
was freilich kein Wunder war, da er nur außer-
ordentlich wenig und überhaupt nur in ange-
trunkenem Zustande fraß. Schließlich verlor sein
Herr jede Freude an dem Tiere und verschenkte es.
Was aus ihm geworden, weiß der Gewährsmann
nicht zu sagen.
Bemerkenswert ist der Einfluß des Alkohols
auf ganz abweichend organisierte Tiere anderer
Tierklassen. Z. B. bei Insekten (Wespen) nimmt
man wahr, daß sie nach Alkoholgenuß steif und
unbeholfen werden, kaum noch kriechen und noch
viel weniger fortfliegen können. Aber nach und
nach, anfangs sehr langsam, erholen sie sich wieder.
Bei allen Tieren sind es allerdings die Nerven, welche
durch Alkoholgenuß afflziert werden. Einen höheren
Grad von Affektion der Nerven, als die bloße Ab-
stumpfung der letzteren bei den Wespen, zeigen
Säugetiere und Vögel. Der Genuß von Alkohol
veranlaßt sie oft zu einem eigenartigen Gebahren,
welches sie sonst nicht zeigen, macht also ihre
634
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 40
Gehirnfunlvtionen wirr und unstät. Andere Tiere
werden bhnd gegen Gefahren.
Wir sehen in dem ähnlichen Alkoholreize und
der ähnlichen Alkoholwirkung eine große Über-
einstimmung zwischen Menschen und Tieren, zu-
mal Affen. Es ist schon manches über betrunkene
Affen und ihr Gebahren während des Katzen-
jammers geschrieben. Darwin wurde hierdurch
veranlaßt, zu schreiben : „Diese Tatsachen beweisen,
wie ähnlich die Geschmacksnerven bei den Men-
schen und Affen sein müssen und in wie ähnlicher
Weise ihr ganzes Nervensystem affiziert wird."
Beim Menschen tritt die Wirkung nur noch
häufiger , mannigfaltiger und stärker in die Er-
scheinung; wir sehen sie hier in ihren schlimmsten
Äußerungen. Das hängt nur mit ihrem mehr an-
dauernden und raffinierteren Genüsse des Alkohols
zusammen.
Mißbrauch alkoholischer Getränke gibt aber
auch bei Tieren Anlaß zu großen Disharmonien
im Nervens\'stem und zur Entstehung häßlicher
Pligenschaften der Seele. Der Genuß von Alkohol
hat wie bei den Menschen, so auch bei Tieren
Störungen des Gleichgewichts in der Betätigung
der Körperorganisation, des Verstandes, des Geistes
und der Seele im (iefolge. Die Störungen zeigen
sich anfangs wohl noch in angenehmen Formen
(in subjektiver und objektiver Beziehung, wie beim
Menschen); aber eine temporäre Erschlaffung der
Nerven und Muskeln bleibt auch in leichten Fällen
nicht aus, wie aus dem übereinstimmenden Ge-
bahren bei Menschen und Tieren hervorgeht.
Wie die Nachkommen unter den vererbten
Folgen der Trunksucht ihrer Eltern leiden, ob sie
krankhaft beanlagt oder entartet sind oder an
sonstigen Defekten leiden (Erscheinungen, die beim
Menschen in überaus vielen Fällen festgestellt
sind),^) das scheint bei den Tieren noch nicht be-
obachtet zu sein, da es sich bei diesen stets nur
um individuelle und meist nur momentane oder
temporäre Vorkonminisse handelt, \on denen selbst
schwerere Fälle wohl niemals bei den Nachkommen
verfolgt worden sind.
Alkoholgenuß bewirkt auch bei Tieren ebenso
wie beim Menschen, daß natürliche und sonst
selbstverständliche Instinkte nicht mehr genügend
zur Geltung kommen. Wie ein betrunkener Mensch
Gefahren nicht immer leicht aus dem Wege geht
und auch manche Vorsicht außer Acht läßt, so
setzten sich auch die oben erwähnten angeheiterten
Mäuse über alle notwendige Achtsamkeit hinweg,
die ihnen sonst der instinktive Selbsterhaltungs-
trieb und verständige Einsicht vorschreiben. Sie
wurden daher Opfer ihrer Unachtsamkeit.
Auch der infolge des andauernden Biergenusses
entartete Pudel, der oben charakterisiert wurde,
ist das getreue Abbild eines menschlichen Säufers,
der sich gegen seine Nächsten schlecht beträgt.
') Vgl. z. B. F. d u a r (1 R c i c h , Beiträge z u r A n t h r o -
pologie und I'sychologie, mit Anwendungen auf das
Leben der Gesellschaft. Braunschweig 1877. S. 219—226.
In anderen Fällen hat der Alkoholgenuß momen-
tan praktische, günstige Folgen. F. W. Brink-
mann schildert in dieser Beziehung (1. c.) in inter-
essanter Weise, wie bei Hahnenkämpfen der bereits
von seinem Gegner in die Flucht geschlagene
Hahn nach dem mäßigen Genüsse von Schnaps,
den man ihm, in Brot gemischt, mit Erfolg ge-
boten hatte, todesmutig von neuem den Kampf
aufnahm und stets Sieger blieb. In ähnlicher
Weise trinkt auch mancher Mensch sich Mut an.
Nichtsdestoweniger folgt in solchen Fällen gleich-
falls auf die Erregung eine Erschlaffung der Nerven.
Bei häufiger Wiederholung solcher Erregungsmittel
machen sich dauernd nachteilige Folgen bemerk-
bar. Über die Schädlichkeit des gelegentlichen
mäßigen Genusses oder des andauernd geringen
Genusses sind die Ansichten noch nicht geklärt.
Der strenge Hygieniker hält selbst den Genuß
kleiner Quantitäten Alkohol für schädlich. Der
Mediziner schreibt in geeigneten Fällen dem Leiden-
den oder Genesenden den Genuß bestimmter kleiner
Mengen von Wein oder Bier für eine bestimmte
Zeit geradezu vor. Aber es ist bezeichnend, daß
der Psychiater Forel zugleich auch Antialko-
holiker ist.
Brinkmann leitet die Bezeichnung „Kater"
von jenem Zustande des betrunkenen Menschen
ab, in welchem er den Alkoholgenuß ebenso ver-
abscheut, wie es nach seiner Meinung die Katzen
überhaupt tun (Naturw. Wochenschr. N. F. III.
Nr. 30, S. 472). Diese Erklärung kann natürlich
nicht stimmen , weil Katzen den Alkohol nicht
verabscheuen. Dagegen finde ich, daß Andresen
den „Kater" in seinem Buche „Deutsche Volks-
etymologie" (6. Aufl. 1899, S. 318) dadurch viel
plausibler erklärt, daß er ihn von dem aus dem
Griechischen stammenden Worte „Katarrh" ab-
leitet. Prof. H. Kolbe.
Leuchtorgane bei Vögeln. — Während bei
den Meerestieren das Leuchtvermögen sehr ver-
breitet ist und sich in den verschiedensten Tier-
gruppen , von den Protozoen hinauf bis zu den
Fischen vorfindet, ist dasselbe bei Landbewohnern
relativ selten. Einige Myriopoden (Tausendfüßler),
hauptsächlich aber Insekten wie: Lampyris (unser
Johanniskäferchen), Phosphaenus, Luciola etc. be-
sitzen die P'ähigkeit zu leuchten. Dagegen ist es
noch immer zweifelhaft, ob es auch höhere Wirbel-
tiere gibt, denen das Vermögen, Licht hervorzu-
bringen, zukommt. Es liegen in dieser Richtung
nur wenige und ganz ungewisse Beobachtungen
vor. In seinem Buche „Die leuchtenden Tiere
und Pflanzen" erwähnt Gadeau de Kerville eine
surinaniische Kröte, die im Innern des Maules
leuchten soll. Leuchtvermögen sollen ferner der
Nachtreiher (Ardea nj-cticorax und der blaue
Reiher Ardea coerulea) besitzen. — Solange keine
genaueren Beobachtungen hierüber angestellt sind,
wird man wohl Kerville Recht geben müssen, der
das Leuchten im Maule der Kröte damit erklärt,
daß dieselbe ein leuchtendes Insekt verspeiste,
N. F. m. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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das Leuchten der Reiher auf atmosphärische Ein-
flüsse zurückführt. Auf elektrische Ursachen führt
man auch das Leuchten der Haare vieler Säuger
im Dunkeln zurück. Daß Kadaver leuchten ist
eine bekannte Tatsache, die aber durch den Nach-
weis leuchtender Bakterien genügend erklärt ist.
Endlich rührt das Leuchten der Augen vieler
Säuger, wie des Hirsches oder katzenartiger Raub-
tiere, die der Jäger im Dunkeln an den „Lichtern"
erkennt, wahrscheinlich von der Ausstrahlung des
tagsüber absorbierten Sonnenlichtes her.
Von Interesse ist nun eine Leuchterscheinung
bei einer Vogelart, von der ziemlich genaue und
verbürgte Nachrichten vorliegen. Es ist dies die
Gould-Amandine (I^hoephila Gouldiae) ein austra-
lischer Vogel , der von vielen Liebhabern wegen
seines schönen Federkleides, aber nicht zum min-
desten wegen einer Phosphoreszenzerscheinung
gezüchtet wird. Dieser Prachtfink besitzt an den
beiden Mundwinkeln ziemlich große auffallend
blaugefärbte Papillen, denen man das Leuchtver-
mögen zuschrieb, doch war es zweifelhaft, ob hier
ein selbständiges Leuchtvermögen oder aber nur
ein Lichtreflex vorliege. Professor Chun in Leipzig
hat sich nun der Aufgabe unterzogen, diese Leucht-
organe genauer zu untersuchen (Zoolog. Anzeiger
Band 27 , Nr. 2). Chun brachte einen jungen
Prachtfinken in die photographische Dunkelkammer.
Im Halbdunkel glühten die Organe sehr stark,
sobald jedoch die Dunkelkammer völlig verfinstert
wurde, verschwand das Leuchten vollständig. So-
dann ließ der Forscher wieder Licht durch einen
schmalen Spalt eindringen und konnte nun den
charakteristischen Reflex beobachten. Damit ist
deutlich nachgewiesen, daß es sich hier nicht um
eine selbständige Phosphoreszenz, sondern um eine
Reflexerscheinung handelt.
Die genauere histologische LIntersuchung er-
gab, daß die blauen Tuberkel aus zwei Schichten
von Bindegewebe bestehen, zwischen denen große
sternförmige Pigmentzellen von bräunlich-gelber
Farbe liegen. Diese Pigmentzellen fungieren als
Reflektor, ähnlich wie es in den Leuchtorganen
der Lampyriden die Kristalle von harnsaurem
Ammoniak tun, die hinter der leuchtenden Schichte
gelagert sind. Eine Erklärung für die blaue Fär-
bung der Papillen gibt Chun nicht. — Es scheint
nicht ausgeschlossen, daß dieselbe dadurch hervor-
gerufen wird, daß das Licht zuerst durch ein
trübes Medium (Bindegewebe) geht und dann auf
den dunklen Hintergrund , die Pigmentzellen,
fällt. So erklärt man sich auch die blaue Färbung
der Iris im menschlichen Auge.
Als biologischen Zweck der blauen Papillen gibt
der ausgezeichnete Leipziger P'orscher in Über-
einstimmung mit früheren Autoren an, daß sie
der das P\itter bringenden Mutter im dunkeln
Nest den Weg zu den hungrigen Schnäbeln der
Jungen weisen sollen. Die Prachtfinken bauen
nämlich Nester, die bis auf ein kleines Flugloch
ganz geschlossen sind. G. Stiasny.
Ein permisches Riesentier aus dem nörd-
lichen Rufsland. — In den Erörterungen über
die Abstammung der Säugetiere beansprucht die
zu den Reptilien gehörige Gruppe der Thero-
morpha insofern eine hervorragende Stelle, als
diese Tiere gewisse Merkmale der Reptilien, Am-
phibien und Säugetiere in sich vereinigten. Die
Gliedmaßen der Landbewohner wurden gestützt
durch die feste Verbindung der Brustgürtelknochen
und durch ein nach Art der Säugetiere aus der
Verschmelzung des Os Ischium mit dem Os Pubis
gebildetes Becken ; auch Zähne, Schädel usw. zeigen
bemerkenswerte Abweichungen von den übrigen
Reptilien.
Perm und Trias Europas, Amerikas und Ost-
indiens haben Reste dieser Gruppe geliefert; die
meisten und mannigfaltigsten Reste aber liefert
die der gleichen geologischen Zeit entstammende
Karooformation Südafrikas. Von dort besitzt das
Britische Museum ein fast vollständiges Skelett
eines Pareiosaurus von 2,5 m Länge. Ebendort
fanden sich allein von der Gattung Dicynodon
mehr als 12 meist große Arten, ferner noch die
Gattungen Galesaurus, Cynochampsa, Cynosuchus,
Lycosuchus, Tigrisuchus, Cynodraco, Gorgonops,
Oudenodon, Ptychognatus u. a. Schon die bloße
Aufzählung dieser Namen genügt, um ein beredtes
Zeugnis abzulegen von dem Formenreichtum der
höheren Wirbeltierwelt, welche in jenen entlegenen
Zeiten weite Flächen Südafrikas belebte.
Neuerdings hat sich gezeigt, daß wir auch in
PJuropa damals Ähnliches besaßen. Die Perm-
formation, welche bekanntlich ihren Namen nach
dem Gouvernement Perm erhalten hat, erstreckt
sich von dort über weite Flächenräume, und ent-
hält Schichten, welche nach Flora, Fauna und
Gesteinsbeschaffenheit sich als kontinentale Bil-
dungen erweisen. Auch vorher und nachher war
dort wiederholt P"estland in Zeiten westeuropäischer
Meeresbedeckungen. Wir dürfen mithin gerade im
östlichen Teile des europäischen Rußlands Funde
erwarten, welche auf die Entwicklungsgeschichte
der Landtiere und -Pflanzen Licht verbreiten.
Perm und Permotrias finden sich teils ober-
flächlich, teils unter Bedeckung jüngerer Schichten,
von Orenburg bis zum Ural und nordwärts bis
zum Weißen Meer und treten auch an der mitt-
leren und oberen Wolga bei Nishni- Novgorod,
Kostroma, Mologa usw. hervor.
Nachdem schon früher wiederholt Knochen-
funde aus diesen Schichten bekannt geworden
waren, begann im Jahre 1899 Prof. Amalitzky in
Warschau mit Unterstützung der Kaiserlichen Natur-
forscher-Gesellschaft in St. Petersburg planmäßige
Ausgrabungen, welche zu umfangreichen P\mden
ganzer Skelette führten. Bisweilen lagen sogar
2 oder 3 Skelette nebeneinander. Der Haupt-
fundort liegt bei dem kleinen Orte Sokolki am
rechten Talgehänge der Dwina unweit des Dorfes
Jefimowskaja, Kreis Vetlojow, Distrikt Ustjug, mit-
hin unter ungefähr 61" n. Br., zwischen den Mün-
dungen der rechtsseitigen Nebenflüsse Jug und
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Wytschegda. Die reptilienführende Gesteinsbank
ist etwa 12 m mächtig und besteht aus rotbraunen
und grauen, durch Kalkkarbonat und Gips schwach
verkitteten Sauden, in welchen Konkretionen die
einzelnen Knochen umhüllen. Neben Reptilien
finden sich auch Amphibien (Melanerpoten und
Metopias), sowie Anthrakosien und Farne; letztere
gehören der nach ihrer vertikalen und horizon-
talen Verbreitung, wie nach ihren Beziehungen
zur permischen Eiszeit vielbesprochenen Gattung
Glossopteris an, der Charakterpflanze der „Glosso-
pterisflora".
Die gefundenen Reptilien sind zumeist Thero-
morphen aus den merkwürdigen Gruppen der
Pareiosaurier, Anomodontier und Deuterosaurier;
sie sind teils von mittlerer Größe mit Schädeln
von kaum 30 cm Länge, teils riesenhaft, von 4
bis 5 ni Länge mit einem Schädel von i m Länge
und 66 cm Breite.
Prof Ama-
litzky, unterdes-
sen liebenswür-
diger und lehr-
reicher Fülirung
wir im Jahre
1899 einige
Perm- Auf-
schlüsse an der
Wolga besuchen
durften , hatte
die I'reundlich-
keit , uns die
Photographie
eines nunmehr
aufgestellten
Pareiosaurus n.
sp. zu senden,
nach welcher
unsere Abbildung hergestellt wurde. In der über
dem Original sichtbaren kleineren Abbildung er-
kennen wir unschwer diejenige des in London
aufgestellten Pareiosaurus Baini Seely aus der
Karooformation von Tambor Fontain, Kapkolonie,
welche in vielen Lehrbüchern wiedergegeben ist.
Wir sehen, wie das russische Skelett sich u. a.
durch eine Anzahl wohlerhaltener Zähne, Rippen
und Dornfortsätze auszeichnet , und dürfen von
der eingehenden osteologischeii Untersuchung der
russischen Stücke gewiß viele interessante Auf-
schlüsse erwarten. Das russische Permgebiet er-
scheint uns nun als Kern eines für die Entwick-
lungsgeschichte der landbewohnenden Tier- und
Pflanzenwelt wichtigen Festlandes, welches zeit-
weise seine Ausläufer nach iVIittel- und West-
europa vorstreckte und hier (u. a. im Rheinland,
Tliüringen, Sachsen, Böhmen usw.) mancherlei merk-
würdige, wenngleich nicht so riesenhafte Tiere
bereits geliefert hat. Alfred Jentzsch.
Über neuere Ergebnisse der internationalen
Meeresforschung hielt Prof Brandt aus Kiel
im P'rühjahr am Institut für Meereskunde einen
Vortrag, aus dessen Inhalt hier einiges wieder-
gegeben sei. Das deutsche Laboratorium für
internationale Meeresforschung in Kiel besteht seit
dem April 1902. Im Mai des gleichen Jahres be-
gannen die regelmäßigen Fahrten des für diese
Zwecke erbauten Dampfers „Poseidon", der sich
als recht praktisch eingerichtet bewährt hat. Die
sogenannten Terminfahrten dieses Schiffes finden
alljährlich im Februar, Mai, August und November
statt, die sich bei etwa dreiwöchentlicher Dauer
zunächst durch den Kaiser Wilhelms-Kanal nach
der Nordsee (bis Egersund) erstrecken, und dann
bis Memel die Ostsee durchqueren. An diesen
F"ahrten nehmen zwei Hydrographen und vier
Biologen teil. Da zu den gleichen Zeiten auch
von Seiten Rußlands und der anderen an der
internationalen Vereinbarung beteiligten Staaten
entsprechende Reisen nach anderen Gebieten der
nordeuropäischen Meere unternommen werden, so
finden demnach
seit 1902 in je-
dem \'ierteljahr
sehr gründliche,
planmäßige
Durchforschun-
gen dieser Mee-
resteile statt, von
derendefinitiver
\^erarbeitung
für Praxis und
Wissenschaft
gleich großer
Gewinn in Aus-
sicht steht. Von
Kiel aus wer-
den übrigens
außer jenen
Terminfahrten
noch an etwa 50 Tagen des Jahres unter Professor
Heinke's Leitung besondere Fahrten zur Ergrün-
dung des Fischereiverhältnisse ausgeführt.
Auf Grund der bis jetzt gewonnenen Ergeb-
nissen behandelte Prof Brandt in seinem Vortrage
nur die Lehre vom Plankton. Als Planktonpflanzen
haben wir nur einzellige Algen anzusehen : Diato-
meen, Peridineen (besonders wichtig die Ceratien)
und Spaltalgen (namentlich Nodularia). Dies sind
die einzigen Produzenten des freien Wassers, welche
die organische Substanz produzieren. Sie sind
wie feine Staubteilchen ziemlich gleichmäßig durch
die oberen, vom Licht durchstrahlten Schichten
des Wassers (bis etwa 200 bis 300 m Tiefe) ver-
teilt und dienen mannigfachen Weidetieren als
Nahrung, deren Hauptvertreter die Copepoden (in
der westlichen Ostsee hauptsächlich aus der Gat-
tung Eutona) sind.
Da die Planktonpflanzen das ins Wasser ein-
dringende Licht am vollkommensten ausnützen
können, wenn sie sich gleichmäßig im Wasser
verteilen, und da an weniger dicht bevölkerten
Stellen eine stärkere Vermehrung einsetzen kann,
während an dichteren Stellen auch eine stärkere
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Abweidung durch Tiere eintreten wird, so ist im
allgemeinen das Plankton recht gleichmäßig ver-
teilt, wofern man nur nicht allein die Oberfläche,
sondern die gesamte, vom Licht erhellte Wasser-
säule in Betracht zieht. Im seichteren Wasser ist
die Menge des Plankton wegen der größeren
Menge von Nährstoffen größer als in den tieferen
Meeresteilen. Im tiefen Ozean können die in der
Tiefe vorhandenen , aus dem Boden stammenden
Nährstoffe von den nahe der Oberfläche lebenden
Pflanzen nicht ausgenutzt werden, jedoch führen
die Strömungen auch der Hochsee noch Nährstoffe
zu. Am ärmsten an Plankton zeigt sich die stille,
von Meeresströmungen nur umkreiste Sargassosee.
Auffallend ist nun, daß die warmen Meere
durchaus nicht mehr, sondern eher weniger Plank-
ton enthalten als die kalten Gebiete. Der Grund
dafür dürfte in der seit kurzem erkannten Tatsache
liegen, daß die warmen Meere ärmer an Stickstoff-
verbindungen sind, was durch das bessere Gedeihen
der denitrifizierenden Bakterien im warmen Wasser
zu erklären ist. In Meeren mit im Laufe des
Jahres veränderlicher Wassertemperatur schwankt
auch die Planktonmenge und zwar fällt das Mini-
mum in der Ostsee gegen Ende Februar und An-
fang März. Alsdann findet jedoch eine sehr starke
Vermehrung der Chaetocerasarten statt, so daß
das Wasser der westlichen Ostsee trüb hellgrün
wird und man bald in einem Kubikmeter Wasser
bis zu einer Milliarde dieser Algen findet, so daß
in jedem Tropfen (i cbm = 30 Millionen Tropfen)
jetzt auf mehrere Diatomeen zu rechnen ist. Dieses
bereits Ende März und Anfang April eintretende
Jahresmaximum hält aber nicht lange an, da die
Chaetocerasformen zu Boden sinkende Dauer-
zustände bilden. Im Juni und Juli ist die mittels
des Planktonnetzes feststellbare Planktonmenge
gering, während die allerkleinsten Pflänzchen,
welche durch das feine, aus Müllergaze bestehende
Netz doch noch hindurchgehen, vielleicht jetzt in
größerer Zahl vorhanden sind. Im August und
September stellt sich eine neue Vermehrungs-
periode der Diatomeen ein, die nun aber bald
durch sehr starke Wucherung der Peridineen ab-
gelöst werden. An dem Herbstmaximum der Dia-
tomeen sind hauptsächlich die Rhizosolenien be-
teiligt und infolge des Hinzutretens vieler Ceratien
wird im Herbst in der Kieler Föhrde oft ein
schwaches Meeresleuchten beobachtet. Bei Beginn
des Winters nimmt dann das Pflanzenleben mehr
und mehr ab.
Schwierig zu erklären ist das schnelle Ansteigen
der Häufigkeitskurve vom Jahresminimum zum
Maximum. Wahrscheinlich ist die Erklärung hier-
für sowie für den Rückgang im Sommer darin zu
suchen, daß sich die Nährstoffe im Winter ange-
sammelt haben und eine starke Wucherung beim
Eintritt stärkerer Belichtung ermöglichen. Dadurch
wird aber der Nahrungsvorrat schnell aufgebraucht
und die Menge der Algen muß daher nun wieder
zurückgehen. Sicher nachgewiesen ist eine solche
Schwankung am Kieselsäuregehalt des Wassers.
Ganz unerklärt dagegen ist bis jetzt das Herbst-
maximum, das sich aber ebenso wie das Frühlings-
maximum sogar auch in Binnenseen konstatieren
läßt. Besonders ist die Armut des Meeres an
Plankton während der hellsten Zeit des Jahres
recht wunderbar. Man muß annehmen, daß die
Tiere infolge ihrer schnellen Vermehrung in dieser
Zeit die neu sich bildenden Pflanzen schnell weg-
fressen und dadurch Nahrungsmangel bewirken.
Zum Schluß seines Vortrags behandelte Prof.
Brandt die örtlichen Verschiedenheiten in der Ver-
teilung und Zusammensetzung des Planktons, die
sich im Kaiser Wilhelm-Kanal, in den verschiede-
nen Teilen der Ostsee und an der Odermündung
haben feststellen lassen. Wir müssen es uns ver-
sagen, hier diese mehr ein spezielles Interesse
voraussetzenden Forschungen eingehender zu be-
spreciien. F. Kbr.
Der spektroskopische Doppelstern j^ Aurigae
ist kürzlich von Prof H. C. Vogel eingehend
untersucht worden (Sitzungsberichte der kgl. preuß.
Akademie, 1904, XIV), wobei es gelungen ist, die
vordem noch nicht völlig klargestellten Verhält-
nisse dieses Systems durchaus aufzuhellen. Die
Duplizität von ß Aurigae wurde 1890 durch
Pickering's Aufnahmen mit dem Objektivprisma
erkannt und als Periode fand dieser 3 Tage
23 Stunden 37 Min. Später glaubte Rambaut
diese Zahl um 23 Min. verkleinern zu müssen,
während Miss Maury noch 1898 die Pickering'sche
Periodendauer durch Untersuchung der K- Linien
bestätigen zu können meinte. Außer gelegent-
lichen, in Potsdam ausgeführten Aufnahmen des
Spektrums von ß Aurigae wurden dann in den
Jahren 1902 und 1903 eine größere Anzahl von
Spektrogrammen desselben Sterns durch Belopolski
hergestellt, deren sorgfältige Ausmessung durch
Tikhoff zu sehr eigentümlichen Ergebnissen führte.
Tikhoff fand nämlich erstens die Periode um
6 Minuten kürzer als seinerzeit Pickering, mußte
aber außerdem, um eine befriedigende Darstellung
der Beobachtungen zu gewinnen, der die Ge-
schwindigkeiten darstellenden Kurve eine sehr
komplizierte Gestalt mit mehreren sekundären
Einbuchtungen geben. Tikhoff vermutete daher,
daß es sich hier nicht um einen doppelten, son-
dern um einen vierfachen Stern handle.
Um die Frage nach der Realität dieser kom-
plizierten Verhältnisse zu entscheiden , nahm H.
C. Vogel im letzten Winter von neuem die regel-
mäßige Beobachtung des Gestirns auf Nachdem
die ungünstigen Witterungsverhältnisse des Dezem-
ber und Januar nur wenige und vereinzelte Auf-
nahmen durch Eberhardt und Ludendorff ermög-
licht hatten, gelangen in der Nacht des 27. Januar
17 aufeinander folgende Beobachtungen und noch
zwei Aufnahmen in der darauf folgenden Nacht.
Durch diesen günstigen Umstand wurde es mög-
lich, die Zeit der Deckung beider Spektra (1904,
Jan. 27,750 M.E.Z.) mit einer außerordentlichen
Sicherheit festzulegen und nunmehr die sämtlichen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 40
Beobachtungen, allerdings mit der wesentlich ver-
kürzten Periodenlänge von 3 Tagen 23 Stunden
2,3 M i n., in sehr gute Übereinstimmung zu bringen.
Auch die Tikhoff'schen Messungen schlössen sich
nunmehr einer schlichten Sinuskurve vorzüglich
an. Das Maximum der relativen Geschwindigkeit
beider Komponenten beläuft sich auf 222 km.
Die 85 im ganzen vorliegenden, sich über 1400
Perioden verteilenden Beobachtungen erstrecken
sich über alle Teile der einfachen Geschwindig-
keitskurve, die Periodenlänge dürfte nur um 5 Se-
kunden unsicher sein. Die Gesamtmasse des
Doppelsternsystems würde unter der Voraus-
setzung, daß die Ebene der Bahn genau durch
die Sonne ginge, gleich dem 4'/2 fachen der
Sonnenmasse sein und der gegenseitige Abstand
der beiden Gestirne 12 Millionen Kilometer be-
tragen. Da die obige Voraussetzung indessen
wegen der Abwesenheit einer Helligkeitsschwan-
kung des Gestirns infolge gegenseitiger Bedeckung
sicherlich nicht erfüllt ist, müssen die wahren
Werte jener Zahlen als noch größer angenommen
werden.
Die einzige Erscheinung an ß Aurigae, die
nach H. C. Vogel noch weiterer Aufklärung be-
darf, stellen die zeitweisen Veränderungen im Aus-
sehen gewisser Linien dar, deren Auftreten ganz
unregelmäßig zu erfolgen scheint. Eine Entschei-
dung über die Ursache dieser Veränderungen, die
übrigens in ähnlicher Weise auch bei L Ursae
majoris bemerkbar sind, könnte nur durch Spektral-
aufnahmen auf mötrlichst feinkörnig-en Platten bei
sehr starker Dispersion zu erhoffen sein.
F. Kbr.
Bücherbesprechungen.
J. Petzoldt, Einfuhrung in die Philosophie
der reinen Erfahrung. Leipzig, B. G. Teub-
ner; I. Bd. 1900, IL Bd. 1904. — Preis geb.
16 Mk.
Schon wiederholt hat die Naturwissenschaftliche
Wochenschrift ihre Leser auf die Bedeutung einer
rein auf Erfahrung beruhenden , metaphysikfreien
Philosophie und auf deren größten Vertreter, Richard
Avenarius, aufmerksam gemacht. Nunmehr liegt
in Petzoldt's ,, Einführung in die Philosophie der
reinen Erfahrung'' ein Werk vor, das nicht nur eine
Einführung in die Lehre des großen Philosophen,
sondern weit mehr noch eine Vertiefung und
Weiterführung derselben bedeutet. Der erste
Band sucht zunächst die Lehre vom psychophysischen
Parallelismus über jeden Zweifel zu stellen , um als-
dann die Zuordnung der psychischen Vorgänge zu
physischen eingehend zu behandeln. Die hin und wieder
auftauchende Meinung, daß sich ein psychischer Vor-
gang in einen physischen oder in eine Reihe physi-
.=cher Vorgänge einzuschalten vermöge , scheitert an
der beredten Wucht der physikalischen Tatsachen
oder an einer unlogischen Verallgemeinerung des
Energieprinzipes. Einen geistigen Akt als Wirkung
körperlicher Ursachen aufzufassen , ist längst als
unvollziehbar erwiesen ; es bliebe daher nur noch
übrig, ihn als eine Wirkung geistiger Ursachen zu
verstehen. Aber schon die Analyse einfacher physi-
kalischer Vorgänge lehrt, daß die Begriffe „Ursache
und Wirkung" zu einer wissenschaftlichen Beschreibung
völlig untauglich sind. Das dem sogenannten Kausa-
litätsgesetze zugrunde liegende Tatsächliche for-
muliert Petzoldt in seinem ,,Prinzipe der Ein-
deutigkeit des Geschehens" folgendermaßen:
„Für jeden Vorgang lassen sich Bestimmungsmittel —
Raum- und Zeitgrößen , Massen , Geschwindigkeiten,
Beschleunigungen, Wärmemengen, Temperaturen, elek-
trische Potentiale, Stromintensitäten, Widerstände,
Atomgewichte, Schmelzpunkte, Valenzen usw. — auf-
finden, durch die er eindeutig bestimmt ist, der-
art, daß man zu jeder Variation dieses Vorgangs, die
man durch dieselben Mittel bestimmt denken wollte,
mindestens noch eine finden könnte , die dann in
gleicher Weise bestimmt, ihr somit gleichwertig wäre
und also gleichsam dasselbe Recht auf Verwirklichung
hätte wie jene." Sucht man nun nach einem Ana-
logen auf rein psychischem Gebiete, so ergibt sich,
daß kein psychischer Akt sich durch irgendwelche
psychische Bestimraungsmittel als eindeutig bestimmt
auffassen läßt. Sollen aber die seelischen Vorgänge
einer wissenschaftlichen I'>klärung zugänglich sein, so
bleibt nichts anderes übrig, als die Eindeutigkeit der-
selben zu fordern. Und wir müssen sie fordern,
wollen wir nicht unser Denken als Wahnsinn und als
zu jeder wissenschaftlichen Forschung untauglich preis-
geben. Die reichen Ergebnisse der Nervenphysiologie
und Psychophysik lassen es nun außer Zweifel , daß
jedem auch noch so unbedeutenden geistigen Vor-
gange eine physische Parallele im Zentralnervensystem
zuzuordnen ist. — Avenarius hatte in seiner „Kritik
der reinen Erfahrung" zuerst gefunden, daß alles psy-
chische Geschehen sich in Reihen abspiele, die ge-
meinsame Züge aufweisen. Diesen Reihen entspricht
ein einfacher nervöser Grundprozeß, die unabhän-
gige Vital reihe. Eine solche unabhängige Vital-
reihe wird veranlaßt , wenn irgendwelche Abschnitte
eines nervösen Teilsystems eine Störung erleiden,
wenn sie durch äußere Reize oder durch Ernährungs-
vorgänge in ihrem momentanen, der Erhaltung
günstigsten Zustande bedroht werden. Mit der Auf-
hebung einer derartigen Störung, einer Vitaldiffe-
renz, wird die unabhängige Vitalreihe und damit
auch die parallel dazu verlaufende rein psychische
Reihe , die abhängige Vitalreihe, zum Ab-
schlüsse gebracht. Nachdem ferner Avenarius die
psychischen Grundgebilde in 2 Gruppen eingeteilt
hatte, in die Elemente, die etwa alles das um-
fassen, was die bisherige Philosophie Empfindungen
nennt, und in die Charaktere, die eine außer-
ordentliche Verallgemeinerung der Gefühle bedeuten
und nicht nur diese begreifen, sondern auch alles, was
gewisse Inhalte charakterisiert, was ihnen eine gewisse,
durchaus wandelbare Färbung verleiht , versuchte er
für beide die physiologischen Unterlagen festzustellen.
Petzoldt gibt uns nun einen klaren Einblick in diese
interessanten Untersuchungen und gelangt namentlich
infolge einer sorgfähigen Analyse der Abhebung
N. F. ra. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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psychischer Werte und der logischen, und einer
eingehenden Untersuchung der ästhetischen und
ethischen Charal:tere dahin , die Charaktere etwas
anders einzuteilen und ihre Abhängigkeit von den
physiologischen Grundlagen mehr oder weniger ab-
weichend zu bestimmen. Er gelangt hierbei zu dem
fruchtbaren Begrift'e des 13 e s t a n d e s. So umfaßt
z. B. der logische Bestand alle die Gedanken-
komple.xe, die in der Gegenüberstellung mit abweichen-
den Werten als wahre gekennzeichnet werden; als
seine physische Grundlage ist ein umfassendes ner-
vöses Teilsystem anzunehmen, dessen Teile in mehr
oder weniger enger und vielseitiger Verbindung mit-
einander stehen. Neben dem logischen Bestände
unterscheidet er einen ästhetischen, einen ethi-
schen und einen existenzialen Bestand. Im
weiteren Verlaufe untersucht Petzoldt die gegenseitigen
Beziehungen der Bestände, analysiert dann ganz be-
sonders die begriffliche Charakterisierung über-
haupt, die Abhängigkeit derselben von der Vorbereitung
des Zentralnervensystems und die Art und Weise, wie
sich dieses bei einer Vitalreihenkonkurrenz einzu-
stellen pflegt, und schließlich die Entwicklung der
Begriffe, speziell die Annäherung der Begrift'e an
konstante Werte. Von Interesse ist hierbei die Ent-
deckung, daß Enge und Einheit des Bewußtseins
der psychische Ausdruck sind für die bis an die
Grenzen des Möglichen gesteigerte Fähigkeit des nor-
malen Zentralnervensystems, unter Umständen in jedem
Falle einer Bedrohung alle seine Kräfte in den Dienst
seiner Behauptung stellen zu können. Im letzten
Kapitel hebt Petzoldt die Bedeutung der „Kritik der
reinen Erfahrung" hervor und macht vor allen Dingen
darauf aufmerksam, daß die .Annahme einer funktio-
nellen Verknüpfung von Physischem und Psychischem
völlig tmabhängig von jeder besonderen Welt-
anschauung sei, daß sie nichts anderes bedeute
als die Konstatier ung eines bestehenden
Verhältnisses.
Im 2. Bande wendet sich Petzoldt der Tatsache
zu, daß zahlreiche Entwicklungen in Zustände über-
gehen, die einen mehr oder weniger stabilen Cha-
rakter zeigen. Schon die Untersuchung der begriff-
lichen Charakteristik hatte ergeben , daß die psychi-
schen Bestände und damit ihre physiologischen Unter-
lagen nicht nur im individuellen Leben, sondern sogar
im Leben menschlicher Gemeinschaften, ja der
Menschheit selbst, festen Formen sich annähern. In
der F'ülle von psychischen Regelmäßigkeiten erkennen
wir überall unveränderliche Formen, die uns nur als
Entwicklungser folge verständlich sind. Was
wir aber auf geistigem Gebiete beobachten , das ist
höchstwahrscheinlich eine F^igenschaft aller ungestört
verlaufenden Entwicklungen. ,, Jedes sich selbst über-
lassene, in Entwicklung begriffene System mündet
schließlich in einen mehr oder weniger vollkommenen
Dauerzustand aus oder doch in einen Zustand, der
in sich selbst entweder überhaupt keine Bedingungen
für eine weitere Änderung mehr trägt, oder solche
wenigstens eine geraume Zeit hindurch nur noch in
geringfügigem Grade enthält." Dieser in anderer
Form zuerst von G. Th. Fechner ausgesprochene und
als „Prinzip der Tendenz zur Stabilität"
bezeichnete Satz findet auf physikalischem Gebiete
seine Hauptstütze in der Tatsache, daß in einem ge-
schlossenen Systeme alle bestehenden Differenzen oder
besser die Summe der bestehenden Differenzen
(Niveau-, Druck-, Temperatur-, Potential-, chemischer
Differenzen) abnehmen. Da nun das menschliche
Gehirn ein in lebhafter Entwicklung begriffenes Organ
ist, so dürfen wir, solange nicht die kosmischen Ver-
hältnisse sich in unerwarteter Weise ändern und die
Umgebung des Menschen auffallend umgestalten, auch
von i h m erwarten, daß es sich einer Dauerform an-
näliere und daß seine Funktionen einen immer stabi-
leren Charakter annehmen werden ; nicht in dem
Sinne, als ob wir einem Zustande geistiger Erstarrung
entgegengingen, sondern vielmehr einem solchen , in
dem gewisse Komponenten oder Seiten der seelischen
Akte, die begrifflichen Charaktere, zu festen F'ormen
werden, einem Zustande, in dem es uns ermöglicht
sein wird, auf alle logi seh berech ti gt e n Fragen
eine befriedigende Antwort zu erhalten , einem Zu-
stande, in welchem das System der Wissenschaft die
Mittel zur Lösung der wichtigsten Probleme enthält.
Die Tatsache nun, daß wir feste ethische, ästhetische
und logische Dauerbestände zu erwarten haben, kann
nicht ohne Einfluß auf unser gegenwärtiges Verhalten
sein. Ich übergehe die Konsequenzen, die Petzoldt
für Ethik und Ästhetik zieht, und wende mich kurz dem
logischen Dauerzustande zu, der uns zur Zeit,
wo uns erkenntnistheoretische Fragen wieder in be-
sonderer Weise beschäftigen, hauptsäclilich interessiert.
Auf die Frage: Was ist Wahrheit? werden wir die
Antwort geben dürfen : Das , was man im einstigen
Dauerzustande dafür halten wird , also der zu erwar-
tende logische Dauerbestand der Menschheit, der ab-
hängig zu denken ist von dem in seiner Entwicklung
zum Abschlüsse gelangten menschlichen Groß-
hirne. Die zu erwartende Weltanschauung wird als
eine allgemeine und dauerhafte nicht Teile oder
Seiten enthalten dürfen, die mit gleichem Rechte
durch andere ersetzt werden dürften. „Denn sie
würden alle der Auffassung des Wirklichen den-
selben Dienst leisten , man wüßte also nicht , für
welche man sich zu entscheiden hätte. In solcher
Lage aber befänden wir uns allen Lehren gegenüber,
die prinzipiell unerfahrbare Bestandteile enthielten.
Damit schließen wir jede Art von Metaphysik als
grundsätzlich unhaltbar aus. Alleinige Erkenntnis-
([uelle und einziger Prüfstein für irgendwelche Theorien
ist zuletzt nur die Erfahrung, das Vorgefun-
den e." Damit werden auch die materialistischen
und idealistischen Auffassungen des Seienden
fallen, die in ihren Substanzen, in ihrer Materie,
F^nergie, Psyche, in dem über alle Grenzen verallge-
meinerten Ich Begriffe enthalten , die wegen eines
fehlenden Gegenbegriffes unvollziehbar, unlogisch sind.
Es wird dann auch kein W e 1 1 p r o b 1 e m mehr
geben können, denn nach der Welt als einem Ganzen
zu fragen ist unlogisch, eine Kennzeichnung der Ge-
samtheit des Gegebenen läßt sich nicht ausführen,
da auch hier ein Gegenbegriff" fehlt. Das VVelt-
rätsel wäre genau ebenso ausgeschaltet wie jetzt
640
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 40
etwa das Problem der Quadratur des Kreises oder
des Perpetuum mobile. — Dies eine Reihe der wich-
tigsten Ergebnisse des inhaltsreichen, klar geschriebe-
nen Werkes, das auch denjenigen reiche Anregungen
geben wird, die mit Bedenken an das Studium heran-
treten. In Anbetracht des bedeutsamen Inhaltes ge-
denken wir später einige wichtigere Abschnitte der
Schrift in ausführlicherem Auszuge unseren Lesern zu
bringen. Angersbach (Weilburg a. d. Lahn).
1) Hans Mayer, Die neueren Strahlungen.
Mähr. - 0.strau, R. Papauschek. 1904. 65 Seiten.
— Preis 1,50 Mk.
2) Besson, Le radium et la radioactvite.
Paris, Gauthier -Villars. 1904. 170 p. avec 23
figures. — Prix 2,75 fr.
3) Blondlot, Rayons N. Paris, Gauthier- Villars.
1904. 78 p. avec 3 flg., 2 planches et un ecran
phosphorescent. — Prix 2 fr.
Nr. I gibt eine kurze Zusammenstellung der
Forschungsergebnisse über Kathoden-, Kanal-, Röntgen-
und Becquerelstrahlen mit reichlicher Quellenangabe.
Nicht richtig will es Ref erscheinen, daß die ersten
19 Seiten der Schrift die hypothetischen Vorstellungen
über die Konstitution der Materie behandeln , statt
die beobachteten Phänomene an die Spitze zu stellen.
Das mit einem Vorwort von A. d'Arsonval ein-
geführte Besson'sche Büchlein (Nr. 2) behandelt das
scharf umgrenzte Gebiet der Radioaktivität namentlich
unter Berücksichtigung französischer Untersuchungen.
Besonders für Ärzte dürfte die Schrift von hohem
Interesse sein, da das Kapitel V über die physiologi-
schen und therapeutischen ^^'irkungen nicht weniger
als 40 Seiten umfaßt.
Über die Blondlot'schen N-Strahlen ist das Urteil
der wissenschaftlichen Welt noch immer nicht fest-
stehend. Unter diesen Umständen wird für viele
sicherlich die in Nr. 3 gebotene Zusammenstellung
der zahlreichen , in den Comptes rendus zerstreuten
Mitteilungen des namhaften Physikers , denen noch
ergänzende Noten angefügt sind, von hohem W^ert
sein. Bei der Einfachheit der in Frage stehenden
Experimente ist nunmehr jeder Interessent in den
Stand gesetzt, sich ein eigenes Urteil über die For-
schungen von Nancy zu bilden, zumal dem Büchlein
ein gut wirkender Leuchtschirm beigegeben ist , mit
dessen Hilfe Ref allerdings ebensowenig Resultate
erzielte , als früher (vgl. Naturwiss. Wochenschr. II,
S. 268). F. Kbr.
G. Mahler, Prof am Gymn. in Ulm, Physikalische
Formelsammlung. Leipzig, Göschen, 1903.
Zweite verbesserte Auflage.
Schon zwei Jahre nach dem Erscheinen der ersten
Auflage liegt die zweite vor, an vielen Stellen ge-
bessert und ergänzt. Besonders ^57 (Der Regen-
bogen), ^ 65 (Feldstärke eines Magnetstabes), J^ 66
(Lamellarmagnete) sind neu hinzugekommen ; aber
auch bei der Lehre von der drehenden Bewegung
und den Trägheitsmomenten und der Zusammen-
drückbarkeit der Flüssigkeiten finden sich Erweite-
rungen, während an anderen Stellen dafür gekürzt ist.
Im ganzen ist das Buch um 1 2 Seiten kürzer ge-
worden ; sehr erfreulich bei einem Buch, das zum
Nachschlagen, aber nicht zum Studium dienen soll.
A. S.
Briefkasten.
Herrn K. R. in Frankfurt a. M. ■ — Eine Anleitung zur
Herstellung von SchniUcn und Dauerpräparaten , sowie die
gebräuchlicheren Färbemclhoden finden Sie in B. Rawitz, Leit-
faden für histiologische Untersuchungen, 2. Aufl., Jena 1895,
160 S. Preis 3 Mk-. Dahl.
Herrn H. in Retterode. — Über aufgefundene Tiere kann
nur dann Auskunft erteilt werden, wenn dieselben eingeschickt
werden, da die Zeichnung und Beschreibung des Laien selten
die wichtigeren Merkmale berühren. In Ihrem Falle scheint
es sich um eine Dipterenlarve zu handeln. Dahl.
Herrn K. in Lorch. — Reptilien für Ihr Terrarium
liefert Ihnen, auch per Post, H. Matte rn, Berlin N, Choriner-
straße 72 III, der dem Berliner wegen der ihm wiederholt zugefalle-
nen Prämien aus den Zeitungen bekannte, geschickte Kreuzottern-
fänger. Über die Nahrung der Ringelnatter und der glatten
Natter macht B. Du r igen (Deutschlands Amphibien und
Reptilien, Magdeburg 1897) folgende Angaben: S. 291: Die
Ringelnatter nährt sich von Fröschen , Kröten , Kaulquappen
und jungen Fischen. Grasfrösche sind ihr lieber als grüne
Wasserfrösche und Kröten. Ferner S. 335 : Die glatte Natter
nährt sich von Eidechsen und Blindschleichen. Selten und
ausnahmsweise werden auch Mäuse und Spitzmäuse , sowie
kleine Schlangen verzehrt. Im Terrarium hat man beobachtet,
daß sich ihre Raubgelüste namentlich gegen frisch eingesetzte
Art-, Gattungs- und Ordnungsverwandte richten. Junge Tiere
würgen bereits einige Wochen nach der Geburt gleichgroße
Geschwister hinab. — Daraus ergibt sich für Sie, daß Sie nur
verhältnismäßig große Ringelnattern mit glatten Nattern zu-
sammenbringen dürfen. Dahl.
Herrn Lehrer K. in Rastenburg. — Für den genannten
Zweck wird jedes neuere Schulbuch genügen, deren Zahl
Legion ist. Wir nennen hier nur: Spieker, Lehrbuch der
ebenen Geometrie. Potsdam, A. Stein, sowie Fenkner, Lehr-
buch der Geometrie 1. Berlin, O. Salle. 4. Aufl. 1903.
Herr L. R. in Moskau (Briefkasten von Nr. 37 (12. VI.
1904)) wird sich über den Inhalt des Ausdrucks ,, experimen-
telle Morphologie' erschöpfend unterrichten können aus Ch.
B. Davenport (Harvard Univ.), ,,Experimental Morphology",
2 vols., New York u. London, Macmillan & Co., 1897.
Priv.-Doz. Dr. E. Sommer.
Berichtigung. In meinem Artikel ,,Über die Bedeutung
von Eruptiv-Breccien als erdgeschichtliche Urkunden" in Nr. 2
dieses Bandes der Naturw. Wochenschr. habe ich gesagt, der
Ausdruck ,,Vul kan embry o" stamme von L. v. Buch. Das
ist ein Irrtum. Das Wort ist von Branco geprägt und in
die geologische Literatur eingeführt. Dr. Wilckens.
Inhalt: Dr. Paul Graebke: Das Wesen des Begriffs der Gewohnheit. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Carl: Menschen-
und Rindertuberkulose. — F. W. Brinkmann: Alkohol liebende Tiere. — G. Stiasny: Leuchtorgane bei Vögeln.
— Alfred Jentzsch: Ein permisches Riesentier aus dem nördlichen Rußland. — Prof. Brandt: Über neuere Er-
gebnisse der internationalen Meeresforschung. — H. C. Vogel: Der spektroskopische Doppelstern /S .Aurigae. —
Bücherbesprechungen: J. Petzoldt: Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung. — i) Hans Mayer:
Die neueren Strahlungen. 2) Besson: Le radium et la radioactivite. 3) Blondlot: Rayons N. — G. Mahl er:
Physikalische Formelsammlung. — Briefkasten.
Verantwortliclier Redatcteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lictlterfelde-West b. Berlin.
Druck voD Lippert & Co. (G. Pätz'sctie Buchdr.), Naumburg a. S.
Einychliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge HI. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 10. Juli 1904,
Nr. 41.
Abonnement; Man .ibonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringcgeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigcspaltcne Pclitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten.]
Die pliysikalisclie Forschung steht gegenwärtig
im Zeiclien neuer Strahlen. Die Röntgen-, Becquerel-,
Kathoden- und N-Strahlen halten das wissenschaft-
liche und vielfach auch das große Publikum in
Atem. Jeder Tag kann neue ungeahnte Über-
raschungen bringen. Unter solchen Verhältnissen
darf es nicht wundernehmen, daß die Biologen
auch ihrerseits den von Pflanzen und Tieren aus-
gesendeten Strahlungen neue Aufmerksamkeit zu-
wenden , insbesondere aber das von gewissen
Pflanzen ausströmende Licht und seine Entwick-
lung einem erneuten Studium unterwerfen.
Bald werden bereits loo Jahre vergangen sein,
seitdem Placidus Heinrich sein an genauen und
interessanten Beobachtungen reiches Werk: „Die
Phosphorenz der Körper" veröfi'entlicht hat und
schon ist ein halbes Jahrhundert dahin, daP". Heller,
wie ich erst vor kurzem zeigen konnte, das Leuchten
des Holzes und toter Fische als einen biologischen
Vorgang erkannt hatte. Seit dieser Zeit haben Hand
in Hand mit der Rakterienkunde zahlreiche P'orscher,
allen voran Pflüger, Beijerinck, F". Ludwig
und R. D u b o i s die Lehre von dem Leuchten
der Pflanzen in hohem Grade gefördert, aber
Leuchtende Pflanzen.
Von Prof Dr. Hans Molisch.
niemand hat sich bisher gefunden, der die ge-
wonnenen Tatsachen von neuem übersichtlich von
einheitlichen Gesichtspunkten aus gruppiert und
gleichzeitig die vorhandenen Lücken in der For-
schung auf Grund ausgedehnter experimenteller
Arbeit auszufüllen sich bemüht hätte, um so eine
Art monographischer Behandlung unseres nach
so verschiedenen Richtiuigen interessanten Problems
zu liefern. Eine derartige Studie zu bieten, ist der
Zweck eines kleinen Buches, betitelt: „Leuchtende
Pflanzen", das soeben in dem bekannten Verlage
von G. Fischer in Jena von mir erschienen ist.')
Ich komme gerne einer an mich gerichteten Ein-
ladung nach, um den Leser an dieser Stelle mit
dem Inhalt meines Buches kurz bekannt zu machen.
Aus einer, wenn auch nur kurzen Andeutung der
behandelten Gegenstände und Fragen wird am
besten hervorgehen, nach wie verschiedenen Rich-
tungen der behandelte Stoff zu interessieren ver-
^) Leuchtende Pflanzen. Eine physiologische Studie
von Prof. Dr. Hans Molisch, Direktor des pflanzenphysio-
logischen Instituts der k. k. deutschen Universität Prag. Mit
14 Te.\ttiguren und 2 Tafeln. Jena 1904. Verlag v. G. Fischer.
8", 168 Seiten.
642
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
mag. Denn nicht bloß der Botaniker, sondern
auch der Zoologe, Tierphysiologe, Bakteriologe,
ja auch der l'hysiker und Photograph sowie jeder
Naturfreund wird in dem Buche wegen der Viel-
seitigkeit und Eigenartigkeit des Stoffs Neues und
Interessantes finden.
Der Lihalt gliedert sich in folgende Kapitel:
I. Gibt es leuchtende Algen ? 2. Über das Leuchten
der Peridineen. 3. Das Leuchten der Pilze. 4. Das
Leuchten und die Entwicklung der Leuchtbakterien
in Abhängigkeit von verschiedenen Salzen und der
Temperatur. 5. Ernährung, Leuchten und Wachs-
tum. 6. Über das Wesen des Leuchtprozesses bei
den Pflanzen. 7. Die Eigenschaften des Pilzlichtes.
8. Über angebliche Lichterscheinungen bei Phanero-
gamen.
Die Zahl der bisher bekannt gewordenen
Pflanzen, die selbständig Licht zu erregen ver-
mögen, ist keine große. Einige Peridineen, etwa
25 Bakterienarten und etwa 14 höhere Pilze pro-
duzieren Licht. Aber da einige dieser Pflanzen
in der Natur sehr verbreitet sind, so ist es niclit
schwer, sich leuchtende Pflanzen zu verschaffen.
So haben die im Plankton des Meeres so weit
verbreiteten Peridineen, die man ihrer braunen, mit
Chlorophyll versehenen Farbstoffkörper wegen zu
den Algen stellt, einen hervorragenden Anteil an
dem Meeresleuchten. Im Hafen von Triest wird
zur Sommerszeit das Meereslcucliten vornehmlich
durch das hier so verbreitete Peridinium divergens
bedingt. Hingegen geht den Süßvvasserperidineen
mehrfachen Angaben entgegen das Leuchten ganz
ab. Und wer hätte gedacht, daß im Walde
leuchtendes Laub eine so häufige Erschei-
nung ist? Gleich bei meinen ersten nächtlichen
Spaziergängen in der Nähe von Buitenzorg auf
Java fand ich zu meiner Überraschung leuchtende
verwesende Blätter von Bambusa, Nephelium,
Aglaia und anderen. Tulasne hatte schon früher
dasselbe an Eichenblättern in Europa beobachtet.
Ausgerüstet mit meinen in den Tropen gesammelten
Erfahrungen habe ich später nach meiner Rück-
kehr nach Europa die geschilderte Art der Licht-
produktion auch für andere Blätter feststellen
können, so für die Eiche, Rotbuche, Hainbuche
und den Ahorn. Jetzt, da ich die Erschei-
nung seit 5 Jahren kenne und ihre weite
Verbreitung konstatiert habe, kann ich,
ohne Gefahr zu laufen, der Übertreibung geziehen
zu werden, sagen, daß in einem Eichen-
oder Buchenwald ein nicht eerineer
Bruchteil des abgefallenen Laubes sich
im Zustande des Leuchtens befindet
und der Waldboden allenthalben von
dem Lichte verwesenden Laubes be-
strahlt wird. Die Ursache des Leuchtens ver-
wesender Blätter ist ein vorläufig noch unbekannter
Pilz.
Pilze höherer Art verursachen bekanntlich auch
das Leuchten des faulen Holzes. Merkwürdiger-
weise hat man bisher fast gar keine Versuche ge-
macht, aus dem leuchtenden Holze die Pilze rein
herauszuzüchten und für sich rein zu kultivieren.
Hat man den leuchtenden Pilz einmal rein in
Händen, dann steht er immer zu Gebote, die
Lichtentwicklung kann dann in ihrer Abhängigkeit
von der Nahrung und anderen Einflüssen geprüft
und zahlreiche neuere Fragen können unter solchen
Verhältnissen einer exakten Lösung entgegen-
geführt werden. Der Hallimasch, Agaricus melleus,
dessen Rhizomorphen (strangartige Mvzelien) wun-
derschön leuchten, konnte bis zum P'ruchtkörper
im Laboratorium gezogen werden, inid aus leuch-
tendem Holz konnte ich ein nicht fruk-
ti fixierendes Mycelium herauszüchten,
das für das Studium der Lichtentwick-
lung in der Pflanze ein ausgezeichnetes
Demonstrationsobjekt darstellt, weil
Kulturen davon nicht etwa nurTageoder
Wochen, sondern bei genügendem Nähr-
material I bis I 7.2 Jahre andauernd Licht
entwickeln. Die geprüften Xylariaarten leuchten,
wie Reinkulturen ergeben haben, der herrschenden
Ansicht entgegen, nicht. Von dem durcli andauern-
des Licht ausgezeichneten Leuchten des Holzes
ist das von mir entdeckte ,, Blitzen" des Holzes
wohl zu unterscheiden. Im Herbste 1901 sammelte
ich im kaiserlichen Tiergarten ,, Stern" bei Prag
ein Stück Holz, welches ich in eine Kristallschale
legte und von Zeit zu Zeit auf Lichtentwicklung
prüfte. In den ersten 2 Wociien blieb alles dunkel.
Als ich aber hierauf die Schale im F'instern schüttelte,
blitzte zu meiner großen Überraschung das Holz
an mehreren Stellen in winzig kleinen Pünktchen
auf, um nach mehreren Sekunden bis einer halben
Minute wieder zu verlöschen. Nach mehrfachen
Bemühungen glückte der Nachweis, daß das Liclit
von einem zu den Springschwänzen geiiörigen In-
sekt, der Neanura muscorum Templeton, ausging,
das überall unter Blumentöpfen, Steinen, also
meistenteils an dunklen Orten lebt und hier ein
improvisiertes Höhlenleben führt.
Ein großer Teil des Buches ist dem Leuchten
der Bakterien gewidmet, dem Leuchten des Pleisches
toter Schlachttiere, der Würste, menschlicher Leichen,
toter Fische und anderer Seetiere, dem Leuchten
von Kartoffeln, Rüben, Harn und endlich der
Lichtentwicklung lebender Tiere, soweit sie durch
Infektion mit Leuchtbakterien bedingt wird.
Eine wesentliche Förderung meiner Aufgabe
schaffte ich mir durch den Nachweis, daf^ das
Leuchten des Fleisches toter Schlachttiere nicht,
wie man bisher anzunehmen geneigt war, etwas
Seltenes ist, sondern fast mit der Sicherheit eines
physikalischen Experimentes hervorgerufen werden
kann. Es genügt zu diesem Zwecke das vom
Metzger zum Hausgebrauche gelieferte Rindfleisch
in eine 3"/oige Kochsalzlösung zu tauchen und
dann bei relativ niederer Zimmertemperatur darin
so liegen zu lassen, daß die obere Hälfte in die
Luft ragt. Nach 1—3 Tagen leuchtet dann das
Fleisch, als ob es mit Sternen besäet wäre. Als
Ursache der Lichtentwicklung entpuppte sich hier
sowie auch beim Leuchten des Pferde-, Kalb-
N. F. m. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
643
Schweine-, Gänsefleisches und der Würste stets das
Bacterium phosphoreum (Cohn) Mohsch. Es gehört
demnach dieser Spaltpilz in unserer Umgebung
zu den verbreitetsten Bakterien. Er findet sich
auf dem Fleisch der Eiskeller, der Schlachthäuser,
der Markthallen und in den Küchen, wo Heisch
von Schlachttieren und Geflügel regelmäßig Ein-
gang findet.
Ebenso wie das Leuchten des Fleisches toter
Schlachttiere eine, wie wir nun wissen, gewöhn-
liche Erscheinung darstellt, so auch das Leuchten
toter mariner Fische. Der Leser wird davon eine
deutliche Vot Stellung gewinnen, wenn er mich in
die Fischkeller von Triest begleitet. Das Schau-
spiel, welches sich mir hier darbot, war über-
raschend und wird mir in dauernder Erinnerung
bleiben. In zahlreichen Körben, in welchen viele
hunderte große und kleine Fische der verschieden-
sten Arten angehäuft waren, tauchten auf der
Oberfläche der Frische gleich Sternen am nächt-
lichen Himmel zahllose Liclitpunkte auf, die, sobald
das Auge sich an die Finsternis gewöhnt und für
kleine Helligkeiten große Empfindlichkeit erhalten
hatte, immer deutlicher wurden, zu silberweißen
Flecken zusammenflössen und den Fisch nicht
selten an seiner ganzen Oberfläche leuchtend er-
scheinen ließen. Die vielen Körbe strahlten ein
eigentümliches, magisch erscheinendes, der Mond-
beleuchtung vergleichbares Licht aus und verliehen
der ganzen L^mgebung etwas Phantastisches und
Geisterhaftes, das nun noch gesteigert wurde, als
die um mich herumstehenden Knaben ihre F"inger
durch Berührung mit den Fischen leuchtend machten
und unter staunender Bewunderung mit den leuch
tenden Fingerspitzen in der Luft herumfuhren. Alle
diese leuchtenden Frische, die ich hier im Keller
gesehen hatte, waren kurz vorher gegen 7 Uhr
abends, als der Fischmarkt gesperrt wurde, eben
aus der Verkaufsstelle in den Keller gebracht
worden und wurden den nächsten Morgen wieder
auf dem Markt zum Verkaufe ausgeboten. Ich kann
daher sagen, daß wenigstens in der warmen Jahres-
zeit ein großer Teil der Fische im leuchtenden
Zustande zum Genüsse verkauft wird, ohne daß
der Käufer eine Ahnung davon hat. Derartige
Fische sind sozusagen noch frisch, haben keinen
unangenehmen Geruch und befinden sich noch
nicht im Stadium stinkender Fäulnis. Sowie das
Leuchten des Fleisches toter Schlachttiere sich
gewöhnlich vor dieser einstellt und das Fleisch,
vorausgesetzt daß das Leuchten nicht schon zu
lange angedauert hat, dabei noch genußfähig bleibt,
genau so verhalten sich auch leuchtende tote Fische.
Im Gegensatz zu marinen Fisclien leuchten hingegen
Süßwasserfische gewöhnlich nicht, die Ausnahmen
beziehen sicli auf Fälle, in welchen eine Ansteckung
durch marine Bakterien der Seefische erfolgt war.
Es ist begreiflich, daß in meiner Schrift die
Natur des Leuchtprozesses einer genaueren Ana-
lyse unterzogen wurde, die Ergebnisse, zu denen
ich dabei gelangte, lassen sich in folgende Punkte
zusammenfassen:
1. Das Leuchten der Pflanze vollzieht sich nur
bei Gegenwart von freiem Sauerstoff, der Leucht-
prozeß beruht auf einer Ox\-dation. Schon außer-
ordentlich minimale Mengen von Sauerstoff ver-
mögen das Leuchten zu unterhalten.
2. Vorläufig liegt kein zwingender Grund vor,
von einer direkten Beziehung zwischen Atmung
und Lichtentwicklung, geschweige denn von einer
Lichtentwicklung durch .'Xtmung zu sprechen.
3. Das Leuchten beruht höchstwahrscheinlich
darauf, daß die lebende Zelle eine Substanz, das
Photogen, erzeugt, das bei Gegenwart von Wasser
und freiem Sauerstoff zu leuchten vermag. Es
ist unrichtig, daß bei den Leuchtbakterien und
höheren Leuchtpilzen das Photogen ausgeschieden
wird und außerhalb der Zelle leuchtet, sondern
die Lichtentwicklung findet hier intrazellular
statt.
Die Entstehung des Photogens ist vom Leben
der Zelle abhängig, doch damit soll nicht gesagt
sein , daß das entstandene Photogen nicht auch
unabhängig von der lebenden Substanz leuchten
kön'nte.
Da ich die verschiedensten Leuchtbakterien und
darunter die am intensivsten leuchtenden und
ebenso höhere Leuchtpilze in Reinkulturen stets
zur Verfügung hatte, war es mir möglich, die
Natur des Pilzlichtes nach verschiedenen Seiten
gründlicher zu erforschen als dies bisher möglich
war: seine Farbe, die Art des Leuchtens, sein
Spektrum, seine photographische Wirkung, sein
Verhalten gegenüber undurchsichtigen Körpern,
seine physiologischen Wirkungen usw.
Bezüglich der Farbe des Bakterienlichts sei
gleich auf einen Umstand aufmerksam gemacht,
der von Bedeutung ist. Wenn man gut leuch-
tende Kulturen von Bacterium phosphoreum mit
nicht ausgeruhtem Auge betrachtet, etwa indem
man aus dem Tageslicht unmittelbar in die Dunkel-
kammer eintritt, so erscheint das Licht bläulich-
grün oder geradezu smaragdgrün. Erwacht man
aber in der Nacht, nachdem man einige Stunden
geschlafen, und betrachtet man jetzt mit voll-
ständig ausgeruhter Netzhaut im Finstern dieselben
Kulturen, so erscheint das Licht nicht mehr blau-
grün sondern geblich weiß. Auch vom Substrate
ist die Lichtfarbe abhängig.
Bezüglich der Art des Leuchtens wurde ein
bemerkenswerter Unterschied zwischen Tier und
Pflanze erkannt. Von den Peridineen abgesehen,
leuchten die Pflanzen stets andauernd. Während
die Tiere gewöhnlich Licht nur ganz kurze Zeit
entwickeln, blitzartig, e.xplosionsartig, leuchten die
Bakterien und höheren Pilze tage-, wochen-, monate-
ja unter bestimmten Bedingungen sogar über ein
Jahr lang ohne Unterbrechung Tag und Nacht.
Ein nächstes Kapitel beschäftigt sich mit der
Anfertigung von Bakterienlampen und der Mög-
lichkeit ihrer praktischen Verwendung. Auch die
spektrale Zusammensetzung des Pilzlichts wurde
studiert. In der Regel erstreckten sich die
Spektra kontinuierlich zwischen Gelb und Violett,
644
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
wegen ihrer geringen Intensität erschienen sie
matthell, gewöhnlich ohne Farben. Nur bei dem
von mir entdeckten Bacillus lucifer, welcher zu den am
stärksten leuchtenden Bakterien gehört, die derzeit
bekannt sind , sah ich ein Spektrum mit Farben,
man konnte mit ausgeruhtem Auge ganz deutlich
Grün, Blau und etwas Violett unterscheiden. Es
ist dies der erste beobachtete Fall, daß im Spek-
trum eines Pilzlichts Farben gesehen wurden.
Die dem Werke beigefügten 2 Tafeln geben
einen deutlichen Begriff von der photographischen
Wirkung des Pilzlichts auf die empfindliche Platte.
Nicht bloß Photographien der Bakterien erzeugt in
ihrem eigenen Lichte, sondern auch Photographien
von anderen Gegenständen im Bakterienlichte finden
sich hier vor: eine Schillerbüste, ein Thermometer
und die Photographie einer Buchdruckprobe, die
an Schärfe wohl nichts zu wünschen übrig lassen.
Daß das Bakterienlicht, wie behauptet wurde, un-
durchsichtige Körper wie Plolz, Karton oder Metall-
platten durchdringe, hat sich als ein Lrtum heraus-
gestellt, denn das Pilzlicht beeinflußt wie Tages-
licht die photographische Platte und vermag' un-
durchsichtige Körper nicht zu durchdringen. Das-
selbe dürfte für das Johanniskäferlicht gelten, von
welchem man gleichfalls behauptet, daß es ganz
rätselhalfte Eigenschaften besitze.
Das relativ intensive Licht einiger Bakterien
ruft bei verschiedenen lichtempfindlichen Keim-
lingen und Pilzen deutlichen positiven Heliotropis-
mus hervor, doch werden Phanerogamenkeimlinge
im Pilzlichte, weil es zu schwach ist, nicht grün.
Das Schlußkapitel beschäftigt sich fast aus-
schließlich mit dem sogenannten Blitzen der Blüten,
das keinen biologischen , sondern einen physi-
kalischen Prozeß, wie er sicli beim St. Elmsfeuer
auch an den verschiedensten leblosen Gegenständen
offenbaren kann, darstellen dürfte.
Diese gedrängte Übersicht soll dem Leser nur
ein ungefähres Bild von dem Lihalt des durch
den Herrn Verleger trefflich ausgestatteten Buches
geben. Überall, wo bei der Behandlung unseres
Problems Zweifel aufstiegen, habe ich objektiv
geprüft, wo eine Lücke war, mit eigenen Versuchen
eingesetzt, und wo Tatsachen fehlten, neue herbei-
zuschaffen versucht, um die Lehre von der Licht-
entwicklung zu fördern. Bei der Verwertung der
gefundenen Tatsachen ließ ich es an der nötigen
Vorsicht und Reserve nicht fehlen — stets ein-
gedenk des Ausspruches eines berühmten Natur-
forschers :
„Es ist schwer, genau und fein zu beobachten,
aber noch schwerer, aus dem Beobachteten
nicht mehr zu folgern als es enthält."
Kleinere Mitteilungen.
Über Bodentiere in den Schweizer Alpen.
— In dem Jahrbuch der .St. Gallischen Natur-
wissenschaftlichen Gesellschaft für das Vereinsjahr
1901/02, 1903 erschienen, findet sich eine längere
Arbeit von K o n r. D i e m , „Untersuchungen über
die Bodenfauna in den Alpen", deren Inhalt auch
für manche Leser dieser Zeitschrift von Interesse
sein dürfte.
Diese Untersuchungen wurden in dem östlichen
Teil der Schweiz von Appenzell über das Ober-
land von St. Gallen und verschiedene Gebiete von
Graubünden bis zum Bergeil im Königreich Italien
in Höhen von 1300 — 2700 m in systematischer
Weise ausgeführt.
Zuerst gibt der Verfasser eine Definition von
dem, was er hier unter „Boden" versteht, näm-
lich „die lose gefügte Masse, in welcher größere
und kleinere Gesteinstrümmer mit Mineralsalzen,
Humussubstanzen, Wasser, Luft, pflanzHchen und
tierischen Lebewesen zu einem in sich beweg-
lichen und veränderlichen Ganzen vereinigt sind."
Die Mächtigkeit des Bodens in diesem .Sinne ist
in den höheren alpinen Regionen in der Regel
nur etwa 30 cm stark. Bodentiere in engerem
Sinne sind solche, deren Existenz dauernd mit
dem Boden verknüpft ist, mögen dieselben nun
zufällig oder zeitweise regelmäßig zur Erfüllung
einer physiologischen Funktion an die Oberfläche
kommen, wie z. B. Regenwürmer und manche
Tausendfüßler, oder mögen sie normalerweise nur
innerhalb des Bodens leben, wie die Blumentopf-
würmer (Enchytraeus), manche Fadenwürmer
(Nematoden) und Bakterien; ferner gehören dazu
auch solche , deren ganze Entwicklung sich ge-
wöhnlich im Boden vollzieht, welche aber doch
auch an anderen Standorten zu leben vermögen,
wie z. B. unter Baumrinde und in faulendem
Holze, wie manche regenwurmartige Tiere. In
weiterem Sinne gehören zur Bodenfauna aber auch
solche Tiere, welche während einer bestimmten
Periode ihrer Entwicklung den Aufenthalt inner-
lialb des Bodens notwendig haben, so die Land-
schnecken im Eizustande, viele Insekten im Larven-
zustande.
Die Bodentiere sind im allgemeinen seßhaft,
indem sie nur geringe aktive Wanderungsfähig-
keit besitzen, und sie vermögen daher ungünstigen
äußeren Verhältnissen weniger zu entfliehen, als
die Oberflächentiere, können sich aber auch unter
günstigen \'erhältnissen in holiem Grade anhäufen.
Es ist daher von Interesse, auf die Verschieden-
heiten der physikalischen Beschaffenheit des Bo-
dens in den höheren Regionen einzugehen, wie
dieselbe, zwar zum Teil a priori erschließbar, dem
Verfasser bei seinen zahlreichen Messungen sich
bestätigt hat. Dichter Boden ist bei anhaltender
Trockenheit trockener, bei kälterem feuchtem
Wetter f e u c h t e r als lockerer Boden. Der
Wassergehalt ist bei Süd- Exposition (Südseite
einer Erhebung) am geringsten, da hier der Sonnen-
schein mehr senkrecht auffällt und so am stärk-
sten wirkt, bei Nord - Exposition am größten ; er
N. F. m. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
645
nimmt ab mit dem Grade der Neigung, da dadurch
das Gefälle ein größeres wird, am stärksten bei
bewachsenem Boden. Die Temperatur nimmt
von der Oberfläche zur Tiefe im Winterhalbjahr
(Oktober bis März) zu, im Sommerhalbjahr ab;
die täglichen Temperaturschwankungen der Ober-
fläche dringen höchstens bis 30 cm in die Tiefe.
Bei anhaltend hoher Lufttemperatur ist Sand
wärmer als Ton und Ton wärmer als Humus,
umgekehrt bei niedriger Lufttemperatur. An
heißen Tagen kann der Temperaturunterschied
zwischen verschiedenen Bodenarten in 5 cm Tiefe
bis 8,3 " C gehen. Bei Südexposition sind die
Temperaturschwankungen stärker als bei anderen
Expositionen, eben wegen der stärkeren Wirkung
der Sonnenstrahlen, namentlich im Sommerhalb-
jahr die Temperatur höher, im Winterhalbjahr
aber niedriger als bei Nordexposition, da bei letz-
terer der Schutz durch eine Schneedecke stärker
ins Gewicht fällt. Bewachsener Boden (Wald)
zeigt geringere Temperaturschwankungen, aber
auch ein geringeres Jahresmittel der Temperatur
als Freiland, da die Einwirkung der Sonnenstrahlen
auf den Boden eine geringere und die Wärme-
bindung durch Verdunsten eine größere ist. Das
Jahresmittel der Bodentemperatur nimmt mit der
absoluten Höhe über dem Meer weniger ab, als
die Lufttemperatur, doch kommen bei Sils im
Ober-Engadin, i8iim u.d.M., noch bei 120 cm
Tiefe Temperaturen unter dem Gefrierpunkt vor,
im Flachland selten tiefer als 60 cm; ebendaselbst
im Juni bis September vorübergehend ein tägliche
Schwankung bis zum Gefrierpunkt in 30 cm Tiefe.
Das Temperaturminimum des Bodens fällt ebenda
bei Sils in 120 cm Tiefe in die Monate Februar
bis Mai, eine Temperaturüberlegenheit der oberen
Schichten (5 — 30 cm) über die tieferen findet nur
im Juni und Juli daselbst statt.
Das methodische Verfahren des Ver-
fassers bei Einsammeln der Bodentiere besteht nun
darin, daß in der Regel eine Flächenmasse von 25 cm
Länge und Breite (= Vic Quadratmeter) ausgehoben
wird und zwar parallel zur tatsächlichen Ober-
fläche des Bodens, nicht zum Horizont; die Mäch-
tigkeit (Tiefe) des ausgehobenen Stückes wechselt
zwischen 4^2 und loo cm, je nach der Ört-
lichkeit. Nach Entfernung der größeren Steine,
Pflanzenteile und etwaiger größerer Tiere (Regen-
würmer) wird das übrige mittels eines Drahtsiebs
von I mm Maschenweite durchgesiebt zu einem
dünnen Beleg auf schwarzem Wachstuch und dann
Tabaksrauch darüber geblasen, wodurch die vor-
handenen Würmer, Poduriden, Milben und Insek-
tenlarven , die sonst schwer zu bemerken wären,
sich durch Krümmung und sonstige Bewegung
verraten ; der Rückstand im Sieb wird noch be-
sonders untersucht. Alle aufgefundenen Tiere
werden zuerst in verdünntem Alkohol, sodann in
solchem von 70 — 90" aufbewahrt, gezählt und der
Art nach bestimmt. Auf Untersuchung der rein
mikroskopischen Protozoen (Amöben u. dgl.)
mußte verzichtet werden. Bei der Bestimmung
der Würmer durfte sich der Verfasser der Hilfe
der Spezialisten Dr. Bretscher und Ribaucourt,
bei Tausendfüßlern derjenigen von Dr. H. Rothen-
bühler, bei den Poduriden derjenigen von Dr.
J. Carl erfreuen.
So ist die stattliche Anzahl von 86 einzelnen
Fundberichten aus ebensoviel Fundorten vom Säntis
bis zum Engadin und Bergell entstanden, jj
Druckseiten S. 253 — 329 einnehmend, jeder mit
Angabe der Meereshöhe, der physikalischen und
mineralogischen Bodenbeschaffenheit, der vor-
herrschenden Pflanzen und der Individuenzahl
der aufgefundenen und bestimmten Tierarten.
Dann folgt ein systematisches Verzeichnis dieser
Tierarten, mit Angabe der wichtigsten Synonyme
und der bisher bekannten Verbreitung in der
Schweiz, S. 330 — 362; es sind
Lumbriciden 8 8
Glomeris 2
Polydesimiden i
Cruspedosoma 2
Chordosoma 2
Juliden 7
Lithobiiden 2
Scolopendriden 8
Scolopendrelliden 3
Collembolen (Poduriden usw.)
Vitrina i
Hyalina 4
Pupa inkl. Vertigo 9
Clausilia 3
Cionella i
Arion 2
Helix 7
Carychium 2
Acme I
Myriopoden 27
24
Landschnecken 30
zusammen 89 Arten
eine statistische Verteilung der
Endlich folgt
Funde nach den Kategorien : Wiese, Weide, Wald
und Planggen (Plänklerrasen), S. 363 — 367.
Aus diesen Listen mögen einige der höchsten
Funde für die einzelnen Tierformen hier angeführt
werden :
Landschnecken:
Hyalina pura, 2250 m, Grasland und Weide im
Alpstein.
Helix rupestris, 1797 m, Grasland, Calfensertal.
Helix arbustorum, 2250 m, Weide im Bergell.
Pupa (Torquilla) avenacea, 1855 m, Grasland im
Bergell.
Pupa (Pupilla) muscorum, 2150 m, Magerweide,
Alpstein.
Pupa (Edentulina) edentula, 2410 m, Magerweide
im Aversgebiet.
Clausilia parvula, 1797 m, Grasland, Calfensertal.
Clausilia sp., 2150 m, Magerweide, Alpstein.
Cionella lubrica, 2250 m, Grasland und Weide
im Bergell.
Collembolen (Poduriden) :
Isotoma tigrina, 2584 m, Magerweide, Aversgebiet.
Isotoma palustris, 2694 m, Magerweide, Fextal.
646
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 41
Lepidocyrtus cyaneus, 2700 m, Mager weide, Avers.
Tausendfüßler:
Glomeris hexasticha, 1800 m, Grasland, Calfensertal.
Craspedosoma Canestrinii, 2250 m, Weide, Bergell.
Julus zinalensis (rhaeticus), Ebendaselbst. '
Geophilus sp., 1980 m, Weide, Bergell.
Scolopendrella notacantha, 2010 m, Lärchengruppe,
Bergell.
Regenwürmer:
Elsinia rosea, 1930 m, Streuwiese, Fextal.
Helodritus octaedrus, 2150 m, Magerweide, Alp-
stein.
Lumbricus rubellus, 2160 m, Magerweide, Alpstein
und 2430 m, Magerweide, Bergell.
In einer schließlichen Zusammenfassung, S. 399
bis 407, hebt der Verfasser hervor, daß das Vor-
kommen an zahlreichen Fundorten und die größere
Individuenzahl an einem Fundorte wohl für die
einzelnen Arten im allgemeinen übereinstimmen,
nicht aber immer an den einzelnen Fundorten die
Anzahl der gefundenen Individuen und die der
Arten. Für beides, Arten und Individuenzahl, am
meisten entscheidend ist die Feuchtigkeit und der
Gehalt an frischen oder verwesenden organischen
Stoffen; demgegenüber tritt die geologische Be-
schaffenheit, die Temperatur und die Exposition
mehr zurück, und dementsprechend sind auch
die Tiere zahlreicher in der oberen humosen Decke
als in den tieferen Schichten. Mit steigender Meeres-
höhe nahmen die Tausendfüßler und die Land-
schnecken stark ab, die Regenwürmer mehr durch
allgemeine Verschlechterung des Bodens, während
Enchytraeiden, Nematoden, Poduriden und Milben
bis zur oberen Grenze der subnivalen Region,
2700 m, zahlreich sein können und wahrscheinlich
noch höher, soweit überhaupt „Boden" im oben
angegebenen Sinne vorhanden (S. 406). Daher ist
an höher gelegenen Fundorten die Bodentierwelt
öfters nicht weniger reich an Tierindividuen, aber
immer einförmiger als in der unteren alpinen und
in der subalpinen Region. Die gefundenen Boden-
tiere zeigen ausgesprochenen alpin-nordischen oder
auch kosmopolitischen Charakter (S. 401); ende-
mische thermophile Arten fehlen dagegen selbst
an trockenen stark geneigten Südhängen mit zeit-
weise starker Erwärmung.
Die meisten Bodentiere dürften eine Verschie-
bung der Begattung auf mehr als ein Jahr ertragen
können, ähnlich wie die Alpenpflanzen nicht für
jedes Jahr auf Samenreife rechnen dürfen. Die
Regenwürmer mögen sich vielleicht auch unter-
irdisch begatten, da selbst die Sommernächte dafür
zu kalt sind; sie halten einen Kälteschlaf und können
gefrieren und am Leben bleiben, wenn sie nur
langsam auftauen (S. 406, 407).
Betreffs der E i n w i r k u n g , welche die Boden-
tiere auf die Beschaffenheit des Bodens
ausüben, hebt der Verfasser hervor, daß die-
selben durch Verzehren frischer Pflanzenstoffe und
Wiederabgabe derselben in einfacheren Verbindu ngen
als Exkremente zur Humusbildung beitragen, einic^e
namentlich die Regenwürmer und Juliden, au'^ch
durch schwachsaure Ausscheidungen die chemische
Verwitterung des Bodens befördern, die erde-
fressenden auch die Bodenbestandteile verkleinern,
wodurch dieselben allerdings auch leichter wegge-
schwemmt werden, so daß dadurch der Denudatfon
des Bodens Vorschub geleistet wird. Die Röhren
der Regenwürmer bewirken eine Durchlüftung und
damit Wasserabnahme im Boden, die eindringende
Kohlensäure befördert die chemische Verwitterung
und die feineren Wurzeln folgen gern den Röhren
der Würmer, so daß die Wurzelbildung und da-
durch die Ernährung der Pflanzen durch die Boden-
tiere gefördert wird. Räuber sind selten unter
diesen Tieren, die verwesenden Leichen trao-en
zur Humusbildung bei. Indem nun die Bod^en-
tiere im allgemeinen luftleeren, wasserreiclien Boden
lieben, dient ihre Anwesenheit zur Auflockerung
und rascheren Verwitterung, wodurch freilich auch
der Boden für sie selbst ungünstiger wird, während
an sich schon trockene und lockere Stellen, die
jenes weniger nötig haben, auch ärmer an Boden-
tieren sind. £. y. Martens.
Von G. Dreyer liegen neue Untersuchungen
über „Die Einwirkung des Lichtes auf Amöben"
vor. [Mitteilung aus Plnsens Medicinske Lys-
institut in Kopenhagen. 4. Heft.]
Verf. benutzte zu seinen Versuchen eine aus
stillstehendem schlammigem Süßwasser reingezüch-
tete Amöbenart, welche auf einem besonders zu-
bereiteten Nährboden — 3 "/„ Heuinfus +1,5 »j^
Agar — sowohl bei Stubentemperatur als auch
bei 37" gut wächst, die Entwicklung von der
Cyste zur Amöbe aber bei der letztgenannten Tem-
peratur schneller — durchschnittlich im Laufe
von 24 Stunden — durchmacht. Die Amöbe
encystiert sich wieder nach 3—4 Tagen. Um die
Versuche nur mit dem amöboiden oder nur mit
dem encystierten Stadium anstellen zu können,
bedurfte es einer vorherigen Trennung beider
Stadien. Zu diesem Zweck wurde von einer
24 Stunden alten Amöbenkultur eine Aufschwem-
mung in sterilem Heuinfus gemacht und diese ca.
2p Minuten hingestellt. In dieser Zeit waren die
Cysten zu Boden gesunken und es konnten nun
die an der Oberfläche befindlichen Amöben allein
mit Kapillaren entnommen werden.
Die Versuche wurden mit weißem, blauem und
rotem Lichte angestellt, wobei in den zwei letzten
Fällen das Licht der Lichtquelle durch blaues und
rotes Glas geleitet wurde.
Es wurde nun geprüft:
I. die Einwirkung des Lichtes auf die
Beweglichkeit.
Die Amöbe wurde nach einem 20 Minuten
dauernden Aufenthalt im Halbdunkel 5 Minuten
dem weißen Lichte ausgesetzt und nun 9 Mi-
nuten hindurch beobachtet. Dabei zeigte sich,
daß die Amöbe sich besonders zu Anfang
lebhaft bewegt und Pseudopodien ausstößt
und einzieht, während nach Verlauf von
6 Minuten die Formveränderungen
N. F. III. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
647
schwächer sind, indem geradezu eine Tendenz
für Abrundung und Einziehung der Pseudopodien
hervortritt. ,„■ »
Nun wurde die Amöbe wieder für 20 Mniuten
ins Halbdunkel gebracht, darauf 5 Minuten lang
mit blauem Lichte belichtet und dann be-
obachtet. Es stellte sich heraus, daß die Be-
wegungen im blauen Lichte ebenso lebhaft und
eher noch etwas lebhafter als im weißen
Lichte geschahen, wobei jedoch als besonders
bemerkenswert bei dem zweiten Versuch die Tat-
sache bezeichnet werden muß, daß hier eine Ab-
nahme der Lebhaftigkeit der Bewegung erst
nach 9— 10 Minuten, aber auch noch sehr viel
schwächer wie bei dem ersten Versuche, eintrat.
Nachdem die Amöbe nun wiederum 20 Minu-
ten im Halbdunkel zugebracht hatte, wurde sie
5 Minuten lang dem roten Lichte ausgesetzt
und darauf beobachtet. Im roten Lichte waren
alle Bewegungen sehr träge und lang-
sam und standen insofern in großem Gegensatze
zu den nach der Einwirkung blauen Lichtes ge-
machten Beobachtungen. Die Amöbe ver-
änderte während einer Beobachtungsdauer
von 14 Minuten ihre Form nicht und zeigte
kaum die Neigung, Pseudopodien auszuschicken.
Als die Amöbe nach einem darauf folgenden
nochmaligen 20 Minuten langen Aufenthalt im
Halbdunkel wiederum für 5 Minuten dem weißen
licht ausgesetzt und nun beobachtet wurde, da
fand sich, daß jetzt die Bewegungen, wenn sie
auch noch lebhafter als im roten Lichte waren,
doch lange nicht so lebhaft wie im blauen Lichte
oder im weißen Lichte zu Beginn des Versuches
waren. Diese Erscheinung dürfte als eine Folge
der inzwischen eingetretenen Übermüdung aufzu-
fassen sein.
Ein Vergleich der bei den einzelnen Versuchs-
reihen gefundenen Formveränderungen zeigte, daß
die Amöbe nach 6 Minuten langer Beobachtung
im weißen Lichte eine Form angenommen hatte,
welche der unter Einwirkung des roten Lichtes
entstandenen sehr ähnlich war. Es scheint diese
Form im ersten Fall dadurch zustande gekommen
zu sein, daß das zunächst als Reiz wirkende
weiße Licht schließlich schädlich wirkt, wogegen
sich die Amöbe durch eine beginnende Kontrak-
tion zu schützen sucht, während in dem zweiten
Fall die Sache wohl so liegt, daß rotes Licht von
der hier angewandten Intensität nicht als Reiz
gegenüber der Beweglichkeit der Amöbe wirkt.
Weitere Untersuchungen bezogen sich auf die
Fähigkeit des Lichtes, Amöben und
Cysten zu töten. Als Lichtquelle diente eine
elektrische Bogenlampe, deren Licht mit einem
Einsen - Konzentrationsapparate mit Linsen von
Bergkristall konzentriert wurde. Das Versuchs-
objekt bildete die in der ersten Versuchsreihe
verwandte Amöbenform, von welcher eine Auf-
schwemmung in sterilem Heuinfus als hängender
Tropfen in einer besonders konstruierten feuchten
Kammer, zu der der Sauerstoff der Atmosphäre
freien Zutritt hatte, zur Beobachtung kam. Die
Belichtung begann erst eine halbe Stunde nach
Anbringung des hängenden Tropfens. Es wurden
Sonderversuche mit dem amöboiden und dem
encystierten Stadium angestellt.
Die Resultate der Versuche mit den Amöben
waren folgende : • , 1
Bei Belichtung durch Bergkristall
betrug die Tötungszeit 45 — 50 Sekunden,
bei Belichtung durch klares Glas 10—12 Mi-
nuten, durch blaues Glas ca. 15 Minuten,
d. h. die Tötung ging bei Belichtung durch Berg-
kristall 13—14 mal schneller vor sich als bei Be-
lichtung durch klares Glas, und 18—20 mal
schneller als bei Belichtung durch blaues Glas.
Für die Cysten ergab sich, daß die Tötungs-
zeit bei Belichtung durch Bergkristall
sich auf ca. 25 Minuten, durch klares Glas
auf ca. 60—70 Minuten und durch blaues
Glas auf ca. 70-80 Minuten belief, daß also
die Tötung bei Belichtung durch Bergkristall 2^1^—
3 mal so schnell eintrat wie durch klares Glas
und 3—3'/, mal so schnell wie durch blaues Glas.
Bei einem Vergleich der für Amöben und
Cysten gefundenen Tötungszeiten zeigt sich,_ daß
die Cysten bei weitem wid e rsta ndsfähiger
sind als die Amöben, daß die Cysten bei Be-
lichtung durch Bergkristall 30—33 mal, bei Be-
lichtung durch klares Glas 5Y2-6 mal, durch
blaues Glas 5 mal so resistent sind als die Amöben.
Dr. A. Liedke.
Über das natürliche Vorkommen von Salizyl-
säure in Erdbeeren und Himbeeren. — Die
Salizylsäure oder Orthooxybenzoesaure CgH^ (UMj
COOH findet sich, wie längst bekannt ist, frei
oder in Verbindungen in verschiedenen Pflanzen.
So kommt sie frei in der Gattung Viola, neben
Salizyldehyd C,U, (OH) CHO in dem aus den
Blüten verschiedener Spiraeaarten, spez. der
Spiraea Ulmaria L., gewonnenen ätherischen
Öle vor (nachgewiesen 1840 von Loewig und
Weidmann). Der Methylester der Salizylsäure,
CoH, I cOOCH ist, wie bereits I 8 4 3 C a h o u r s
gezeigt hat, ein wesentlicher Bestandteil des sog.
Wintergreenöls, welches aus den Drusen-
sekreten der Gaultheria procumbens dar-
gestellt und in der Parfümerie verwandt wird,
er findet sich ferner in der Monotropa Hypo-
pitys, einer auf den Wurzeln von Fichten als
Schmarotzer lebenden Erikazee des nördlichen
Europa, in der Andromeda Leschenaul t_i,
einer in Indien heimischen Erikazee, wie auch m
der in Nordamerika einheimischen Betula lenta.
Bis in die 60 er Jahre des verflossenen Jahrhunderts
hinein wurde die Salizylsäure aus dem Winter-
greenöl und dem Salizin, einem in der Rinde ver-
schiedener Weiden- und Pappelarten enthaltenen
Glukosid gewonnen. Erst seit Anfang der 70er
lahre, nachdem Kolbe und Lautemann ihr
synthetisches Darstellungsverfahren angegeben
648
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
hatten, nahm die Fabrikation der Salizylsäure einen
Aufschwung. Kolbe 's Verdienst ist es auch, darauf
hingewiesen zu haben, daß die Salizylsäure' die
Vorgänge der Fäulnis und Gärung zu verhindern
bzw. zu vernichten imstande sei, und in der
Gegenwart findet die Salizylsäure nicht nur als
Medikament, sondern auch als Konservierungsmittel
für Nahrungs- und Genußmittel in ausgedehntem
Maße Verwendung und zwar sowohl im Haushalt
als auch im Gewerbe. Des näheren kann hier
auf die Gesundheitsschädlichkeit der als Konser-
vierungsmittel dem menschlichen Organismus ein-
verleibten Salizylsäure nicht eingegangen werden,
es mag der Hinweis geniigen, daß, wenn schon
die gelegentliche seltene Zuführung der Säure in
entsprechender Verdünnung von keinem bemerkens-
werten nachteiligen Einfluß sein sollte, die chro-
nische Aufnahme in Nahrungs- und Genußmitteln
doch als gesundheitsschädlich anzusehen
ist. Der Zusatz von Konservierungsmittel hat aber
oft nicht den Zweck, gute Nahrungsmittel zu
konservieren, sondern den, minderwertigen Lebens-
mitteln ein besseres Aussehen zu verleihen, also
den Käufer über die Güte der Ware zu täuschen.
Hieraus erklärt es sich, wenn bei der Untersuchung
von Nahrungs- und Genußmitteln stets auch auf
etwaige Zusätze von zur Konservierung dienenden
Chemikalien Rücksicht genommen wird. Im Laufe
der Zeit hat sich dann herausgestellt, daß manch-
mal auch dort Reaktionen, welche für das eine
oder andere Konservierungsmittel charakteristisch
sind, auftraten, wo tatsächlich von einem Zusatz
derartiger Substanzen nicht die Rede sein konnte.
Das mußte im Hinblick auf die gesetzlichen Vor-
schriften und die für Zuwiderhandlungen vorge-
sehenen Strafen Bedenken erregen, führte zur
Nachprüfung und dem Resultat, daß der gefundene
Stoff normalerweise in dem betreffenden Nah-
rungs- und Genußmittel enthalten ist.
So fand unter anderen Hefelmann bei Ge-
legenheit der Prüfung von Fruchtsäften auf Salizyl-
säure, daß einige Himbeersäfte Salizylsäure-
Teaktionen geben, ohne daß man ihnen dieses
Konservierungsmittel zugesetzt hatte. Er konnte
auch feststellen, daß diese „salizylsäureähnliche
Substanz" destillierbar ist und aus den Himbeer-
kernen stammt, dagegen dieselbe nicht isolieren
und ihre Identität mit Salizylsäure beweisen. Ähn-
liche Befunde erhielten 1901 Truchon und
Martin-Claude, welche eine große Menge Obst-
sorten auf Salizylsäure untersuchten, für die Erd-
b e e r e und daraus hergestellte Erzeugnisse. L. P o r t e s
und A. Demoulieres prüften bald danach zehn
Sorten E r d b e e r e n auf die Gegenwart von Salizyl-
säure und bekamen in allen Fällen deutliche und
kräftige Salizylsäurereaktionen.
1902 hat dann Windisch eine Anzahl von
Obstfrüchten untersucht, darunter ebenfalls Erd-
und Himbeeren (Zeitschr. f. Untersuchung d.
Nahrungs- und Genußmittel. 6. Jahrg. Heft 10.
1903) und kam zu dem Resultate, daß von den
sämtlichen geprüften Obst- und Beerenarten nur
die Himbeeren und Erdbeeren eine deut-
liche direkte Salizylsäure -Reaktion
geben, alle anderen aber auch nicht eine An-
deutung der Reaktion.
Da die verseiften Fruchtsäfte stets eine stärkere
Reaktion lieferten, als die direkt behandelten Säfte,
so ist anzunehmen, daß ein großer Teil der Salizyl-
säure in gebundener Form, etwa als F.ster, in den
Früchten enthalten ist. Es wurden verschiedene
Varietäten Erdbeeren und Himbeeren untersucht,
alle Proben enthielten Salizylsäure und zwar die
im Garten gezüchteten Beeren mehr als die wild
gewachsenen Walderdbeeren und Waldhimbeeren.
Die Erdbeeren enthielten stets mehr von
der Säure als die Himbeeren. Verf kommt
zu dem Resultat, „daß die Erdbeeren und
Himbeeren und die aus diesen Beeren-
früchten hergestellten Erzeugnisse
(Wein, Sirup, Gelee, Marmelade usw.) einen ge-
ringen natürlichen Gehalt an Salizylsäure
enthalten", daß nun durch weitere Untersuch-
ungen der Nachweis zu liefern sein wird, ob die
Salizylsäure in der Tat ein normaler Bestand-
teil der genannten Beerenfrüchte ist, und daß in
diesem Fall die Nahrungsmittel-Kontrolle fortan die
aus Erd- und Himbeeren hergesteUten Erzeugnisse
wegen eines geringen Salizylsäuregehaltes nicht
einfach wird beanstanden dürfen, sondern daß man
wird versuchen müssen festzustellen, ob die Salizyl-
säure zugesetzt worden ist. Das kann durch
die quantitative Bestimmung der Säure ge-
schehen, da der natürHche Gehalt der Erd- und
Himbeeren an Salizylsäure ein sehr geringer ist,
ein zur Konservierung gemachter Zusatz der Säure
dagegen erheblich größer sein muß, wenn eine
Wirkung nach dieser Richtung hin erzielt werden
soll. Dr. A. Liedke.
Ein neuer veränderlicher Stern von sehr
kurzer Periode ist von Ceraski auf photogra-
phischem Wege im Schwan (a = 20'' 1,3", ö ^=
-f 58° 40') entdeckt worden. Die Helligkeft
schwankt zwar nur zwischen den Größen 10,7 —
11,7, aber die Kürze der Periode, welche nur 3,2
Stunden umfaßt, macht das Objekt zu einem hoch-
interessanten. Der vor einem Jahre durch Müller
und Kempf entdeckte Stern von 4stündiger Periode
(vgl. Bd. II, Seite 309) wird durch Ceraski's Stern
um fast eine Stunde geschlagen, was man bei den
notwendig anzunehmenden Dimensionen dieser
Gestirne kaum hätte für möglich halten sollen.
Vom Algoltypus weicht auch Ceraski's Stern in-
sofern ab, als die maximale Helligkeit ebensowenig
wie bei dem 4stündig Veränderlichen längere
Zeit andauert. Kbr.
Eine Verminderung der Intensität der
Sonnenstrahlung ist durch aktinometrische Mes-
sungen in den Jahren 1902 und 1903 von ver-
schiedenen Seiten festgestellt worden. Einem von
Gorczynski in den „Comptes rendus" vom
I. Februar 1904 hierüber veröffentlichten Bericht
N. F. III. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
649
zufolge ist diese Erscheinung von Dufour in
Lausanne und Ciarens, von Gockel und M. Wolf
in Heidelberg, von I.angley in Washington und
von Gorczynski in Warschau beobachtet worden.
Alle diese Beobachter verlegen die Ursache natür-
lich nicht in die Sonne, sondern erblicken dieselbe
in einer Trübung der Erdatmosphäre, die nach
den Warschauer IVIessungen im Mai 1902, nach
Dufour dagegen erst im Dezember dieses Jahres
sich bemerklich zu machen anfing und im Früh-
ling 1903 ihren Höhepunkt erreichte. Die ent-
ferntere Ursache der in Frage stehenden atmo-
sphärischen Trübung läßt sich noch nicht mit
Sicherheit angeben; sie kann in den vulkanischen
Ereignissen auf Martinii]ue vermutet werden, je-
doch könnte man andererseits die in den letzten
Jahren wiederholt in Europa beobachteten Staub-
fälle damit in Zusammenhang zu bringen geneigt
sein. F. Kbr.
Eine Übersicht über unsere Kenntnis von
den physikalischen Eigenschaften der strom-
führenden Materie. — In einer in der New-
Yorker Electrical Review (2. April 1904) abge-
druckten Arbeit untersucht Dr. P. R. Heyl die
Veränderungen, welche die Materie beim Durch-
gange des elektrisches Stromes erfährt.
Was zunächst die Frage anbelangt , ob der
Stromdurchgang von einer Längenveränderung
(und natürlich auch von einer entsprechenden Än-
derung des Querschnittes) begleitet ist, so ist
diese von vielen Forschern behandelt worden. Nach
den von Streintz angestellten Versuchen scheint
der Strom eine schwache Ausdehnung hervor-
zurufen; ähnliche Ergebnisse wurden auch von
Edlund und Exner gefunden. Die Frage wurde
durch Blondlot endgültig entschieden (Comptes
rendus 87, p. 206, 1878) der vermittelst einer sinn-
reichen Vorrichtung imstande war, die Wärme-
ausdehnung von einer eventuellen Längsausdehnung
durch den Strom zu trennen. Bei der Längs-
ausdehnung eines leitenden Bleches findet zwar
keine Veränderung des Querschnittes statt, doch
erfährt jede auf die Oberfläche gezeichnete Figur
eine Verzerrung, und im besonderen muß ein vom
Strom durchflossener Winkel eine Größenverände-
rung erleiden. Durch wiederholtes Zusammen-
falten eines Messingstreifens war Blondlot in der
Lage, die durch die Vergrößerung des Winkels
hervorgebrachte Entfernung der beiden Enden
beliebig zu steigern. Da nun bei einer Versuchs-
anordnung, mit der man eine Längsausdehnung
von 0,00025 rnri'' hätte feststellen müssen, keinerlei
Einwirkung zu konstatieren war, so erscheint das
Vorhandensein einer Längsausdehnung durch den
Strom als endgültig widerlegt; die beobachteten
Erscheinungen kamen ohne Zweifel auf Rechnung
einer Wärmewirkung.
Wertheim untersuchte die etwaigen Elastizitäts-
veränderungen eines stromdurchflossenen Leiters
und glaubte eine kleine Verminderung des Elastizi-
täts-Koeffizienten feststellen zu können: wie spätere
Versuche jedoch gezeigt haben, verdienen diese
Ergebnisse keinen Glauben. Streintz hat Versuche
über den Torsionsmodul von mit Stearin über-
zogenen Drähten ausgeführt. Da die Schwingungs-
zeit solcher Drähte dieselbe ist, gleichviel ob sie
mit oder ohne den elektrischen Strom erwärmt
werden, so ist das Vorhandensein einer derartigen
Einwirkung gleichfalls widerlegt. Ähnlich scheint
es nach den Untersuchungen von M. C. Noyes
(Physical Review, II, p. 277, 1895 und 3. p. 432,
1896J mit dem Young'schen Modul sich zu ver-
halten.
Weiterhin ist auch die Kohäsion von Peltier
untersucht worden, welcher eine Reihe von Tagen
lang Kupfer- und Eisendrähte von elektrischen
.Strömen durchfließen ließ und sie dann nach Aus-
schaltung des Stromes zerbrach; durch diese Be-
handlung schien Kupfer gestärkt und Eisen ge-
schwächt zu werden. Doch läßt sich gegen diese
Versuche mancherlei einwenden, und zwar erstens
die andauernde Wärmewirkung, und dann der Um-
stand, daß verschiedene Drahtstücke auch von der-
selben Spule um mehrere Prozent verschiedene
Spannungswiderstände zeigen können. Wider-
sprechende Resultate wurden in dieser Richtung
von Wertheim erzielt. Der Verfasser hat sich
gleichfalls mit der Frage beschäftigt, und wenn
auch seine Ergebnisse zu einer Veröffentlichung
noch nicht reif sind, so glaubt er doch schon jetzt
versichern zu können, daß die Resulte negativ sind.
Man hat immer angenommen, ohne daß dies
durch den Versuch hinreichend erwiesen wäre,
daß das Gewicht eines stromführenden Leiters un-
verändert bleibt. Faraday hielt es der Mühe wert,
die Frage zu prüfen, brachte jedoch seine darauf
bezüglichen Untersuchungen, da er durch neue
Entdeckungen abgelenkt wurde, in dieser Richtung
nicht zum Abschluß. Wie der Verfasser jedoch
bemerkt, ist die Wahrheit des obigen Satzes
wenigstens bis auf ein Tausendstel des Gesamt-
gewichts durch Versuche mit der Stromwage in-
direkt bewiesen.
Der elektrische Widerstand eines Leiters könnte
ferner bei wechselnden Stromstärken Verände-
rungen erfahren; und in diesem Falle würde das
Ohm'sche Gesetz nicht genau gelten ; ähnliche
Vermutungen wurden in England durch Schuster
ausgesprochen, so daß die British Association zur
Entscheidung der Frage einen Ausschuß ernannte,
zu dem Maxwell gehörte. Das Ergebnis der
Tätigkeit dieses Ausschusses läßt sich dahin zu-
sammenfassen, daß beim Anwachsen des elek-
trischen Stromes von einem verschwindend kleinen
Werte bis auf i Amp. pro qcm der Widerstand
nicht einmal eine Veränderung von i : lo'- erfährt.
Man kennt zum mindesten zwei Substanzen,
nämlich Quecksilber und Kohle, bei denen die
spezifische Wärme beim Durchgang des elektrischen
Stromes keine nennenswerte Veränderung erfährt.
Während auf diese Weise alle bisher betrachteten
Wirkungen des elektrischen Stromes auf die Eigen-
schaften des stromdurchflossenen Leiters negativ
650
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
sind, lassen sich doch einige wenige positive Wir-
kungen anführen. In erster Reilie kämen hier die
bekannten magnetischen Wirkungen und die drei
Wärmewitkungen in Betracht, die man bzw. mit
den Namen ihrer Entdecker Joule , Peltier und
Thomson unterscheidet; ferner hat Faraday eine
Veränderung der Oberflächenspannung einer leiten-
den Flüssigkeit festgestellt. Auch scheint die
Reibung zwischen zwei Flächen , durch die ein
Strom hindurchgeht, sich zu ändern, eine Er-
scheinung, die wohl demEdison'schenMotographen
zugrunde liegt.
Roiti, Zecher und Rayleigh haben die etwaige
Veränderung der Geschwindigkeit des Lichts in
in einem stromdurchflossenen Elektrolyten unter-
sucht und negative Ergebnisse gefunden. Anderer-
seits haben Gladstone und andere (Nature 36, 524)
gezeigt, daß verzögerte chemische Reaktionen durch
elektrische Ströme beschleunigt werden, und wie
Barus feststellt, befördert der elektrische Strom
auch den Niederschlag von suspendierter Materie,
hiteressante Ergebnisse über die Spannungsver-
hältnisse von elektrisch-niedergeschlagenen Metallen
je nach der Stromstärke sind von Mills und Bouty
gefunden worden. Der Verfasser des eingangs
genannten Aufsatzes beschäftigt sich weiter mit
allen in diese Richtung schlagenden Fragen und
fordert die Leser seiner Arbeit auf, ihn durch Zu-
sendung etwaiger Ergänzungen (an die Central
High School in Philadelphia) zu unterstützen.
A. Gr.
Die Farbe der Seen war der Gegenstand
einer neuen Untersuchung durch Frhr. v. Aufseß
(Annalen der Physik 1904, Nr. 4). Derselbe be-
obachtete mit Hilfe eines Spektralphotometers
einerseits im Laboratorium die Absorption des
reinen, des künstlich getrübten und des durch ver-
schiedene aufgelöste Stofi'e verunreinigten Wassers
und verglich mit den Ergebnissen dieser Versuche
die Wahrnehmungen, die er in der Natur am
Wasser einer Reihe von verschieden gefärbten
Seen machen konnte. Die Feststellungen, die da-
bei erzielt wurden , bestätigen die schon früher
von verschiedenen Seiten geäußerten Ansichten
und gipfeln darin , daß alle Abweichungen vom
Blau des reinen Wassers durch Anwesenheit von
fremden Körpern verursacht werden. Jedoch kann
die Wasserfärbung nicht nach der Dififraktions-
theorie als die Farbe eines trüben Mediums auf-
gefaßt werden , sondern es sind einzig und allein
die aufgelösten Substanzen, die die spezifische
Färbung bedingen. Großer Kalkgehalt verleiht
dem Wasser einen grünen Ton, während gelöste
organische Stoffe durch völlige Absorption des
Blau die Farbe ins Gelbe und Bräunliche über-
gehen lassen.
Die Farbe der Seen hängt daher wesentlich
von der geologischen Beschaffenheit ihres Beckens
und ihrer Umgebung ab. Von den durch v. Aufseß
untersuchten Seen nähert sich der Achensee am
meisten der Farbe des reinen Wassers. Die tief-
grünen Seen (Kochelsee, Walchensee, Eibsee,
Königsee) kommen auf reinem Kalkboden vor.
Die Vorlandseen (Würmsee) zeigen infolge der
Nachbarschaft von Mooren ein gelbliches Grün,
und die gelbbraunen (Staffelsee) bis kastanien-
braunen Seen (Arbersee im bayrischen Wald) treffen
wir in solchen Gegenden, wo mächtige, verwesende
Pflanzenmassen sich finden, es sind entweder aus-
gesprochene Moorwässer, oder ihr Zuflußgebiet ist
reich an Humusbildung ermöglichenden Verwitte-
rungsprodukten, wie dies im Urgebirge (bayr. Wald)
so deutlich zutage tritt. Kbr.
Neues über die N-Strahlen. — In einem in
der Aprilnummer des Journal de Physique (sowie
in Comptes rendus vom 22. F"ebruar 1904) er-
schienenen Aufsatz teilt Prof Blondlot inter-
essante neue Erscheinungen mit, die er an N-
Strahlen beobachtet hat. Unter anderen bespricht
er die photographische Aufzeichnung der durch
die N-Strahlen auf ein elektrisches Fünkchen aus-
geübten Einwirkung. Bekanntlich üben ja die
N-Strahlen selbst keine photographische Wirkung
aus; wie aber Blondlot schon im Mai vor. J. an-
gegeben hat, kann man indirekt die Wirkung der
Strahlen nachweisen, wenn man eine kleine Licht-
quelle eine bestimmte Zeitlang auf eine photo-
graphische Platte einwirken läßt, während diese
Lichtquelle von N-Strahlen getroffen wird und
dann denselben Versuch während derselben Zeit
unter denselben Bedingungen wiederholt, nachdem
die N-Strahlen ausgeschaltet sind; in diesem Falle
ist der Eindruck bedeutend schwächer als bei P^in-
wirkung der N Strahlen. Diese Methode ist nun
neuerdings erheblich vervollkommnet worden. Der
bei den Versuchen angewandte Apparat ist in
Fig. 1 wiedergegeben: AB ist eine 13 cm breite
^N
\N-
\0
0 Rg. /
\D
G
E
H
F
J
o
ng.z
photographische Platte; E ist der in einer nur
nach der Platte hin offenen Kartonschachtel FGHI
eingeschlossene Funke ; CD ist ein mit angefeuch-
tetem Papier bekleideter Bleischirm, aus einem
Stück mit dem die Platte enthaltenden Rahmen.
N. F. m. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
651
Die NStrahlen kommen von einer beüebigen
Quelle her und bilden ein Bündel von der Richtung
des Pfeiles NN'.
Bei dieser Anordnung werden die N-Strahlen
von dem Schirm CD aufgehalten und ist der
Funken vor den N-Strahlen geschützt, während er
auf die Hälfte EB der Platte einwirkt.
Wenn nun der Rahmen mit der Platte um die
Hälfte ihrer Breite nach rechts verschoben wird
(Fig. 2), so kommt die Plattenhälfte AO auf die
früher von OB innegehabte Stelle, und diesmal
liegt der Schirm CD nicht mehr auf dem Wege
der N-Strahlen ; daher ist die Plattenhälfte AO der
Einwirkung des elektrischen P^unkens ausgesetzt,
auf den die N-Strahlen ungehindert auffallen.
Die Versuche wurden nun in der Weise aus-
geführt, daß die Platte zunächst 5 Sekunden lang
in der ersten und dann weitere 5 Sekunden lang
in der zweiten Stellung belassen wurde; hierauf
wurde sie auf die erste Stellung zurückgebracht
und dieses Hin- und Herschieben eine gewisse
Anzahl von Malen fortgesetzt. Nachdem ein ge-
rades Vielfaches von 5 Sekunden, z. B. 100 Se-
kunden verlaufen war, war jede Plattenhälfte gleich
oft exponiert worden.
Wie die von Blondlot veröffentlichten Ab-
bildungen in markantester Weise zeigen, ist die
photographische Einwirkung, wenn der Funken
von den N-Strahlen beeinflußt wird, ganz außer-
ordentlich stärker; dieses Ergebnis ließ sich gleich-
mäßig bei etwa 40 verschiedenen Versuchen mit
N-Strahlen verschiedener Herkunft feststellen.
Blondlot bemerkt ferner, daß die von einer
Crookes'schen Röhre ausgehenden N-Strahlen polari-
siert sind ; wenn die Längsrichtung des elektrischen
Funkens senkrecht zur Röhrenachse steht, so ist
das photographische Bild des Funkens ganz schwach,
während es bei Parallelrichtung die größte Intensi-
tät zeigt.
Schließlich bespricht Blondlot eine neue Art
von N-Strahlen, zu deren Beobachtung er durch
einen Versuch des Herrn Dr. Th. Guilloz gebracht
wurde; diese neuen Strahlen zeichnen sich da-
durch aus, daß sie den Glanz einer schwachen
Lichtquelle nicht erhöhen, sondern im Gegenteil
abschwächen. Da Blondlot bei früherer Gelegen-
heit das von einer Nernstlampe ausgesandte N-
Strahlenbündel vermittels eines Aluminium-Prismas
spektral zerlegt hatte, war es ihm ein leichtes,
aus den voneinander abgesonderten Strahlungen
diejenigen herauszufinden, welche dieses entgegen-
gesetzte Verhalten zeigten; sie liegen sämtlich in
dem am wenigsten abgelenkten Spektralbereich,
und Blondlot nennt sie Nj -Strahlen. Von Inter-
esse ist es, daß die Kurve, welche die Abhängig-
keit des Brechungsindex von der Wellenlänge dar-
stellt, für beide Strahlensorten dieselbe zu sein
scheint.
Eine Beobachtung, die Blondlot zum Schlüsse
mitteilt, dürfte auf die vielfachen Widersprüche,
welche die Versuche einzelner Forscher zeigen,
einiges Licht werfen. Wenn man eine schwach
beleuchtete Fläche, z. B. einen Phosphoreszenz-
schirm, senkrecht betrachtet, so findet man eine
aufhellende Wirkung der N-Strahlen ; wenn man
die Fläche hingegen sehr schräg, fast tangential,
ansieht, so findet man, daß sie unter der Ein-
wirkung der N-Strahlen schwächer leuchtend wird,
diese Strahlen erhöhen also die senkrecht emit-
tierte Lichtmenge und vermindern die in sehr
schräger Richtung ausgesandte Menge Lichtes.
Natürlich gibt es auch eine Zwischenstellung, bei
der überhaupt keine Wirkung zu beobachten ist.
LImgekehrt ist die Wirkung der eben besprochenen
Ni-Strahlen. A. Gr.
Zusatz der Redaktion : Die obigen Mitteilungen
glaubten wir mit Rücksicht auf die vielfach ge-
äußerten Zweifel an der Realität der bisher nur
subjektiv beobachtbar gewesenen N-Strahlen unseren
Lesern nicht vorenthalten zu sollen. Im übrigen
müssen wir Interessenten dieser Erscheinungsgruppe
auf das eigene Studium der „Comptes rendus"
verweisen, die in der letzten Zeit in jedem Hefte
irgendwelche neue Beobachtungen über N-Strahlen
gebracht haben, ohne daß bisher von der Bestäti-
gung aller dieser Entdeckungen seitens ausländischer
Gelehrter irgendetwas bekannt geworden ist. Ehe
wir weiter über die Forschungen der Gelehrten
von Nancy berichten, müssen wir die offizielle
Anerkennung der N-Strahlen seitens der Mehrzahl
der Physiker abwarten.
Ein neuer Detektor für elektrische Wellen.
— Professor J. A. E w i n g und Herr L. H. Walter
haben dem „Electrical Engineer" zufolge (15. April
1904) einen neuen magnetischen Detektor für
elektrische Wellen konstruiert. Die Wellen rufen
eine Veränderung der Hysterese eines magnetischen
Metalles hervor, welches vermittels eines rotieren-
den Magnetfeldes magnetischen Kreisprozessen
unterworfen wird. Die Hysterese hat zur Folge,
daß das magnetische Metall vom rotierenden Felde
mitgezogen wird, und diesem Mitziehen wirkt eine
P"eder entgegen, so daß man eine wohldefinierte
Ablenkung des Metalls erhält, welche aber durch
die das Metall durchquerenden elektrischen Wellen
plötzlich verändert wird ; auf diese Weise wird
ein telegraphisches Zeichen angegeben. Die Ver-
änderung besteht in einer Verminderung der Ab-
lenkung, wenn jedoch das magnetische Metall
guter, isolierter Stahldraht ist, so findet ein be-
deutender Zuwachs der Ablenkung statt. Das
rotierende Feld wird durch einen Elektromagneten
erzeugt, der mit keilförmigen Polstücken versehen
ist, zwischen denen eine lange Spule Stahldraht
rotieren kann, so daß der magnetische Zug danach
strebt, sie um ihre Achse zur Rotation zu bringen.
Durch eine Feder wird sie reguliert, und die Ab-
lenkung wird vermittels eines Spiegels abgelesen.
Die Spule ist induktionslos mit hartgezogenem
Stahldraht gewunden, der mit in Öl eintauchender
Seide isoliert ist. Die Erfinder schreiben das
Ergebnis einem Zuwachs der Magnetisierung und
6S2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
Hysterese des Stahldrahtes durch das oscillierende
kreisförmige Feld zu. — Besonderen Wert gewinnt
der neue Detektor dadurch, daß er eine ijuantitative
Messung der Wellenintensität gestattet. A. Gr.
Einflufs der Temperatur auf die elektri-
sche Leitfähigkeit des Kaliums.' — In einer
kürzlich im Nuovo Cimento veröffentlichten Arbeit
über den Einfluß der Temperatur auf die elektri-
sche Leitfähigkeit des Natriums hatte Dr. A. Ber-
nini darauf hingewiesen, daß er sich mit ähnlichen
Versuchen über Kalium beschäftigte. In der
November-Dezember-Nummer derselben Zeitschrift
berichtet er nun des näheren über diese Versuche.
Nach Matthiessen erfährt die Leitfähigkeits-
verminderung des Kaliums, die sowohl im festen
als im flüssigen Aggregatzustand zur Temperatur-
erhöhung fast proportional verläuft, beim Über-
gang von einem Aggregatzustand zum andern
nicht wie beim Natrium eine plötzliche Verände-
rung, sondern variiert allmählich innerhalb der
Temperaturen 46,8 und 56,8 ". Dieses verschiedene
Verhalten erklärte Matthiessen dadurch, daß Na-
trium zwar seinen Aggregatzustand plötzlich ver-
ändere, daß aber beim Kalium der Übergang ein
allmählicher sei. Da jedoch diese Ergebnisse mit
den Resultaten von Gay Lussac und Thenard über
den Schmelzpunkt des Metalles im Widerspruch
standen und heutzutage nach den Versuchen von
Bunsen, Vicentini und Omodei noch unwahrschein-
licher geworden sind, hielt es der Verfasser für
angezeigt , die Frage aufs neue zu untersuchen.
Eine Röhre, deren Widerstand 0,880393 Ohm
betrug, wenn sie Quecksilber von der Temperatur
o" enthielt, wurde mit Metall angefüllt. Während
dieses noch flüssig war, wurde die Röhre schnell
aus dem Heizbade herausgezogen und bei ab-
nehmender Temperatur der Widerstand wiederholt
gemessen. Aus den Versuchen ergibt sich, daß
Kalium zu den besten Elektrizitätsleitern gehört;
seine Leitfähigkeit nimmt bei wachsender Tempe-
ratur innerhalb der Versuchsgrenzen proportional
zum Temperaturzuwachs ab, und zwar ist der
Temperaturkoeffizient im flüssigen Zustande größer
als im festen Zustande. Die Widerstandsverände-
rung beim Übergang zwischen den beiden Aggregat-
zuständen, der bei 62,040" liegt, erfolgt mit schnellem
Sprunge, wenn auch etwas weniger plötzlich als
beim Natrium; das Verhältnis der Widerstände
an dieser Sprungstelle ist i : 1,392. A. Gr.
Ein Fortschritt in der farbigen Photographie
liegt in einem Kopierverfahren vor, das der öster-
reichische Oberleutnant von Slavik erfunden hat.
Im Januarheft der „Photographischen Rundschau"
macht Dr. Neuhauß eine hierauf bezügliche Mit-
teilung. Die nach dem Slavik'schen, verblüffend ein-
fachen Verfahren hergestellten Papierbilder machen
einen recht angenehmen Eindruck. Besonders
merkwürdig ist, daß bei diesem neuen, farbigen
Kopierverfahren ein mit gewöhnlicher Platte auf-
genommenes Negativ den Ausgangspunkt bildet.
Der verschiedene Deckungsgrad , den die ver-
schiedenen Farben auf einer gewöhnlichen Platte
bewirken , wird von v. Slavik nämlich mit Hilfe
eines Pigmentpapiers ausgenützt, das eine Anzahl
übereinander geschichteter, verschieden gefärbter
Gelatineschichten enthält. Die rote Schicht liegt
zu Unterst, und da nun die roten Objekten ent-
sprechenden Stellen des Negativs die geringste
Deckung haben, so wird beim Kopieren hier so
viel Licht von der Platte durchgelassen, daß alle
Schichten der Gelatine unlöslich werden und
daher die Kopie nach einer Übertragung der
Schichten auf einen neuen Träger an dieser Stelle
rot erscheint, da alsdann die rote Schicht zu
oberst liegt. P"ehlt dagegen im abgebildeten
Gegenstand das Rot, dann wird das Negativ mehr
gedeckt sein , das kopierende Licht erreicht die
rote Schicht nicht mehr und diese schwimmt
daher bei der Behandlung in warmem Wasser ab.
Es wird dann durch die bleibenden, unlöslich
gewordenen Schichten eine andere Farbe der
Kopie bedingt werden. Nähere Einzelheiten lassen
sich vorläufig noch nicht angeben, natürlich kann
allerdings die Wirkung ungleicher Helligkeit von
derjenigen ungleich wirksamer Farben nicht sicher
gesondert werden. Die vorliegenden Ergebnisse
der in mehreren Staaten zum Patent angemeldeten
Erfindung beweisen aber jedenfalls, daß die Her-
stellung reizvoller farbiger Photographien durch
v. Slavik auf überraschend einfache Art jedem
Liebhaber möglich gemacht worden ist. Kbr.
Eine neue Methode physiologischer For-
schung. — Dem gleichen Gesetze der Entwick-
lung folgend, hat nun auch die Physiologie — so
wie schon vor langem die Anatomie und die
Pathologie — jenes Stadium erreicht, in welchem
ihr ein wesentlicher Fortschritt nur mehr durch
das Studium der Ouelle aller Lebenserscheinungen,
das heißt der Zelle ermöglicht scheint. Diese Er-
kenntnis dringt in der neueren Physiologie immer
mehr durch. Es macht sogar vielfach den Ein-
druck, als ob die bisherigen Forschungsmethoden
das erschöpft hätten, was durch sie über das
Wesen des Lebens zu erlangen war, denn man geht
jetzt vielfach daran, neue Betrachtungsstandpunkte
und vor allem neue Arbeitsmethoden zu suchen,
um den alten Problemen näher kommen zu können.
Einen solchen neuen Betrachtungsstandpunkt
nimmt auch die „Cellularphysiologie" ein, wie sie seit
einigen Jahren besonders von selten der Botaniker
betrieben wurde. Das unmittelbare Studium der
Zelle bietet uns aber auch so viele der wertvollsten,
grundlegenden Tatsachen und Erfahrungen über
die Lebensvorgänge im allgemeinen, daß heute der
Satz unbestreitbar feststeht: Die Lebenspro-
bleme sind Zellprobleme und auch die
höchsten Lebensvorgänge wurzeln in Phänomenen,
die in den einfachsten Lebewesen zu beobachten
sind. Ja gerade deren Studium bietet viel mehr
Aussichten, als das Iixperiment mit den kom-
plizierteren Tieren oder Pflanzen, da bei diesen
N. F. ni. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
653
alle Erscheinungen schon in hohem Grade speziali-
siert sind, sich bereits in der vcrwickcltesten Form
zeigen und auf Wirkungen beruhen, von denen
nur das Endresultat einer langen Kette von Vor-
gängen wahrnehmbar ist.
Iintsprcchcnd diesem neuen Standpunkte der
Physiologie werden jedoch auch neue Arbeits-
methoden nötig, um so mehr als die Biochemie,
dieses vornehmlichste Hilfsmittel des modernen
Lebensforschers, gerade vor der Zelle Halt zu
machen gezwungen scheint. In den höchsten wie
in den niedrigsten Lebewesen sind die intimsten
Lebensvorgäiige untrennbar mit der lebendigen
Substanz der Zelle verknüpft. Was wissen wir
aber von diesen Vorgängen r Verschwindend wenig.
Mit unseren histologischen Methoden können wir
nur den groben Bau der Lebenswerkstätte fest-
stellen, mit den chemischen Untersuchungen nur die
Produkte des Lebens, die aus dieser Werkstatt
hinausgelangen, d. h. von den Zellen abgeschieden
werden. Von der chemisch - physikalischen Or-
ganisation der Zelle, in die wir vorläufig das
Rätsel des Lebens verlegen, können wir auf diese
Weise nichts erfahren. Denn die gewöhnlichen
Arbeitsmethoden ändern und vernichten diese Or-
ganisation. Wir müssen die Zelle zuerst abtöten,
bevor wir ihrem chemischen Bau nähertreten können
und dies geschieht durch chemische Mittel, die
diesen Bau total verändern. Um diesem unglück-
lichen Zirkel zu entgehen, bedarf es offenbar einer
anderen Arbeitstechnik, die den modifizierenden
Einfluß äußerer Agentien auf die Zelle und ihre
Produkte auf ein Minimum reduziert, wenn sie
ihn schon nicht ganz vermeiden kann. Des weiteren
müßte ein Mittel gewonnen werden, wodurch die
intracellularen Bestandteile isoliert werden könnten
von den Produkten der Lebenstätigkeit. Der Er-
füllung dieser solange aussichtslos erscheinenden
Wünsche sind wir nun um ein bedeutendes Stück
näher gerückt. Und zwar ist es Prof. H. Buchner,
dessen berühmt gewordene Zymaseversuche auch
einen prinzipiellen F"ortschritt der physiologischen
Forschungsweise bedeuteten.
Dieser merkwürdige Hefepreßsaft, den B u c h n e r
als Zymase bezeichnete, war, abgesehen von
seiner praktischen Bedeutung, auch für die Wissen-
schaft von großem Werte, konnte er doch in
zuckerhaltigen Substanzen alkoholische Gärung,
also einen Vorgang einleiten, den wir als einen
„Lebensvorgang" betrachten mußten, weil er ja
nur an die Lebenstätigkeit der Hefepilze gebunden
zu sein schien und chemisch nicht nachgeahmt
werden konnte. Es war der erste Fall, in dem
ein intracellularer Vorgang außerhalb der Zelle
chemisch untersucht werden konnte. Etwas von
dem obigen Wunsche war schon erreicht und das
Studium der enzyniartigen Prozesse der lebenden
Zelle nahm dadurch einen ungeahnten Aufschwung.
Wie gelangten aber B u c h n e r und seine
Schüler zu diesem wertvollen Resultat? Auf ziem-
lich einfache Weise, durch den glücklichen Ge-
danken, daß sie annahmen, eine mechanische
Methode zur Isolierung des lebendigen Zellinhalts
werde den Charakter und die Eigenschaften des
Zellplasmas, auf dessen Studium es ja ankommt,
viel weniger modifizieren als irgend eine der ge-
bräuchlichen chemischen Methoden. Als solche
„mechanische Methode" wählten sie das Zerreiben
lebender Hefezellen mit reinem Sand, wodurch
ein ausgiebiges Zertrümmern der Zellen bewerk-
stelligt wurde. Der so entstandene Brei wurde
unter Druck durch Kieselgur filtriert. Das Filtrat
war die „Zymase", der reine, chemisch unver-
änderte Saft der Zellen, der noch den ,, Stempel
des Lebens" an sich trug, daher auch noch Gärungen
einleiten konnte.
Auf dieser so einfachen — eigentlich so eine
Art „Kolumbusei" darstellenden — Entdeckung
beruht eine neue Art physiologischer Forschung,
welche auf der letzten Versammlung der Natur-
forscher und .\rzte im Herbst 1903 zum ersten-
mal unter großem Beifall demonstriert und nun
in der „Zeitschrift für allgemeine Physiologie" von
Prof Macfadyen eingehender geschildert wurde.')
Macfadyen sagte sich, daß das Zerquetschen
lebender Zellen mit Sand doch seine schädlichen
Wirkungen auf die Lebenstätigkeiten des Zell-
plasmas haben muß, daß diese aber vielleicht ver-
mieden werden können, vi'enn man die Zellen
zuerst hart frieren läßt, da sie in diesem Zustande
zerkleinert werden können, ohne daß die immer-
hin nicht unbedenkliche Mischung mit Sand nötig
wäre. Durch ältere Versuche weiß man doch
bereits, daß die meisten tierischen und pflanzlichen
Gewebe einfrieren können, ohne ihre Lebensfähig-
keit einzubüßen. Auf dieser Erfahrung beruht ja
z. B. der Transport von lebenden, in Eis einge-
frorenen Fischen, mit dem man neuestens gute
Erfahrungen machte. Die Schwierigkeit lag nur
darin, eine Erwärmung des Materials während der
Zerkleinerung zu vermeiden, aber auch sie wurde
durch Anwendung von „flüssiger Luft" leicht über-
wunden, indem man nur den ganzen Zerkleinerungs-
apparat während der Prozedur in einen Behälter
mit flüssiger Luft einzutauchen brauchte, um das
Versuchsmaterial auf eine Temperatur von— 190" C
zu bringen.
Durch besondere Versuche wurde festgestellt,
daß diese Temperatur der flüssigen Luft den meisten
Zellarten ebenso wie ihren Produkten unschädlich
ist und daß die dadurch nur sistierten Lebens-
vorgänge nach vorsichtigem Auftauen wieder ihren
Fortgang nehmen. Es ergab sich sogar, daß
Bakterienzellen ihre volle Lebensfähigkeit auch
dann bewahrten, als sie ununterbrochen 6 Monate
hindurch in flüssiger Luft aufbewahrt wurden !
Diese Temperatur schaltete nicht nur alle che-
mischen \'eränderungen in dem Materiale aus,
sondern erleichterte sogar die Zerkleinerung in so
hohem Grade, daß sie binnen 2 — 3 Stunden eine
völlig genügende war.
') A. Macfadyen, Über das Vorkommen und den
Nachweis von intracellularen Toxinen (Zeitschrift für allge-
meine Physiologie. 111. Bd. 3. Heft).
654
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 41
Macfadyen konstruierte nach diesen Er-
fahrungen einen Apparat, welcher nun die Mög-
lichkeit gewährt, die Phänomene der Biochemie
in ganz anderer Weise zu studieren, als dies bisher
möglich war. Die beistehende Abbildung gibt
eine Skizze desselben. Im wesentlichen besteht
er aus einem sehr rasch rotierenden Metallstößer (A),
der die in ein wohl verschließbares Metallgefäß (Bj
gebrachten Zellen oder Gewebe zu einem feinen,
gefrorenen Pulver zertrümmert. Dieses Gefäß wird
während der Prozedur in den Behälter C einge-
senkt, der flüssige Luft enthält. Nach dem Zer-
Macfad y c n 's Apparat zur Zerkleinerung von Zellen bei Tem-
peratur von flüssiger Luft.
kleinern wird die Masse, nachdem sie aufgetaut
ist, mit physiologischer Kochsalzlösung versetzt
und schließlich zentrifugiert, bis sie von suspen-
dierten Bestandteilen frei ist. Es ist in dieser
Weise möglich, durch genügend langes Zentri-
fugieren vollkommen sterile „Zellsäfte" zu erhalten,
welche alle intracellularen Bestandteile der be-
treffenden Zellen enthalten, die in Salzlösung lös-
lich sind. Quantitativ ist dies oft der ganze Zell-
inhalt.
Man wird nun leicht verstehen, welcher be-
deutsamen Erleichterung der physiologischen For-
schung wir durch die Methode gegenüber stehen.
Die physiologischen Eigenschaften und Wirkungen
des Zellplasmas können nun experimentell geprüft
werden. Die so rätselhaften, jedoch für das Ver-
ständnis des Stoffwechsels so wichtigen Enzyme
sind uns dadurch in der bequemsten Form in die
Hand gegeben. Nicht minder kann sich die Patho-
logie, speziell die Lehre von den Toxinen von der
Methode das Beste erhoffen. Wirkung und Stoff-
wechsel der pathogenen Bakterien wird nun leicht
zu studieren sein, da sich zeigte, daß auch diese
winzigen Zellen in gefrorenem und zerbrechlichem
Zustande zerkleinert werden konnten und I^lasma-
extrakte lieferten, die Macfadyen, der als Leiter
des Londoner Jenner-Instituts gerade in dieser Be-
ziehung die neue Methode selbst für seine For-
schungen dienstbar macht, bereits zu überraschen-
den Ergebnissen führten. Es war vor allem die
Frage der sogenannten intracellularen Toxine,
die nun rasch ihre befriedigende Lösung fand.
Viele wichtige pathogene Organismen erzeugen
bekanntlich keine nachweisbaren Giftstoffe, sondern
wirken durch ihre bloße Anwesenheit giftig, so
daß man annehmen mußte, dieselben produzierten
ein intracellulares Toxin, das auch innerhalb der
Zelle wirkt. Dies war der Fall z. B. bei dem
Typhusbazillus, oder bei den Eitererregern, den
pyogenen Staphj'lokokken und Streptokokken.
Macfadyen wies nun diese solange gesuchten
intracellularen Toxine im vollen Sinne des Wortes
„handgreiflich" nach , da die Lösung der intra-
cellularen Bestandteile des virulenten Typhus-
bazillus sich stets akut giftig erwies. Die Weiter-
führung dieser Versuche ergab sogar das inter-
essante Resultat, daß sich durch Impfversuche mit
diesen intracellularen Toxinen an Affen, Kanin-
chen und Ziegen ein Heilserum gewinnen ließ.
Zugleich zeigte sich, daß bei Einspritzungen mit
diesen „Bakteriensäften" die unangenehmen Lokal-
reaktionen unterblieben, die normalerweise sich
bei Impfungen einzustellen pflegen. Das hat eine
praktische Bedeutung überall da, wo es sich um
Bakterienimpfstoffe handelt, bei denen, wie sich
nun mit ziemlicher Gewißheit vermuten läßt, der
„Ballast der toten Bakterienleiber" die lokalen
Fieber- und Entzündungserscheinungen hervorruft.
Aber auch abgesehen von diesem kleinen Ex-
kurs auf das Gebiet der Serumtherapie, der wohl
zur- Genüge zeigt, welch bedeutsame Perspektiven
die neue Methode eröffnet, hat schon eine flüchtige
Reihe von allgemein-physiologischen Versuchen
ergeben, daß sie sehr fruchtbar zu werden ver-
spricht.
So bericlitet Macfadyen, daß es ihm gelang,
durch Zerkleinern des infizierten Nervensystems
tollwütiger Hunde den Giftstoff der Tollwut völlig
zu vernichten. Dies beweist unwiderleglich, daß
dieser so vielstudierte, aber noch immer rätselhafte
Giftstoff organisiert, also doch an Mikroorganismen
gebunden sein müsse, wodurch also die Hypothese
Recht erhält, die annimmt, der Erreger der Toll-
wut sei so klein, daß er sich unseren Mikroskopen
und Filtern entziehe. Man wird wohl nun nicht
verfehlen, auch das Virus der Klauenseuche und
der sog. Mosaikkrankheit des Tabakes in ähnlicher
N. F. ra. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
655
Weise zu pr\.ifen, da bezüglicli beider die oben
erwähnte Hypothese ebenfalls aufgestellt wurde.
Von anderen Versuchen zur Erprobung seiner
Methode erwähnt Mac fadye n beiläufig, daß das
l.euchtvermögen der neuerdings so vielbesprochenen
LeuclUbakterien durch deren Zerkleinerung in
flüssiger Luft ebenfalls zerstört wird. Er schließt
daraus, daß die Leuchteigenschaft wahrscheinlich
eine Funktion der lebendigen Zelle und ihre Ent-
stehung von deren intakter Organisation abhängig
sei.
Es ist nach all dem wolil kein Zweifel, daß
diese neue Methode wieder eine der Mauern sprengt,
hinter denen sich das Geheimnis des Lebens so
hartnäckig verbirgt. Aber leider ist es durchaus
nicht die letzte. Merkwürdigerweise haben uns
alle die rastlosen I'orschungen der letzten 30 Jahre
und die vielen Fortschritte auf physiologischem
Gebiete immer wieder nur das gezeigt, daß das
Problem des Lebens unendlich mehr verwickelt
und schwierig ist, als man es früher glaubte.
Stehen wir doch heute dort, daß eine immer
wachsende Zahl von Gelehrten und darunter nicht die
Unbedeutendsten zu der Überzeugung gelangt sind,
daß sich das Rätsel des Lebens überhaupt nicht
ausschließlich in chemische und mechanische Lh--
sachen auflösen läßt. R. France.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der Astronom A. Brcdichin, Direktor der Sternsvarte
in Pulkowa, ist im .\ller von 73 Jahren gestorben. Das Haupt-
feld der wissenscliafilichcn .\rbcit B.'s bildeten die Kometen
und insbesondere die Bestimmung der Abstoßungskraft, die
von der Sonne auf die Schweifteilchen ausgeübt werden muß,
damit die beobachtete Richtung der Schweife im Sinne der
Bessel-Zöllner'schcn Theorie erklärbar wird. B. glaubte
die Kometenschweife nach der Gröflc jener Kraft in drei
Typen einordnen zu können, denen vermutlich chemisch ver-
schiedene Schweifmaterialien entsprechen dürften. Eine große
Reihe von Publikationen B.'s hat die nähere Behandlung der
meisten mit Schweif erschienenen Kometen zum Gegenstand.
Der VI. internationale Physiologen-Kongreß
wird vom 30. August bis 3. September in Brüssel unter dem
Vorsitz von Professor Paul Heger abgehalten werden.
Bücherbesprechungen.
Anton Balawelder, M a t h e m a t i s c h e A b I e i t u n g
der Naturerscheinungen vom empirischen
reinen Räume. Wien, Herold, 1903. 109 S.
8». 4 Mk.
Der Verfasser sieht die Welt durch seine Brille;
was er aber von ihr erzählt, weicht von dem, was
die Naturwissenschaft lehrt, soweit ab, daß man für
das Verständnis des Gegenstandes dieser Wissen-
schaften aus dem vorliegenden Buch kaum Nutzen
ziehen dürfte. A. S.
Johann G. Hagen S. J., Synopsis der höheren
Mathematik. Dritter Band: Differential-
und Integralrechnung. Lieferung 3 und 4.
ä 5 Mk. Berlin, Dames, 1900. 17. — 32. Bogen. 4".
Die vorliegenden beiden Lieferungen des Werkes
enthalten in der Hauptsache die Differentialgleichungen.
Wie schon der Titel Synopsis besagt, werden kurze
Angaben über die das Gebiet betreft'enden Arbeiten
gemacht, die zur Orientierung über das betreffende
Gebiet gute Dienste leisten können. Über Plan und
Ausdtiiiuing des Werkes enthält das N'orliegende nichts.
A. S.
Andre Broca, La telegraphie sans fils.
Deuxieme edition revue et augmentec. Paris 1904.
(Sauthier-Viilars.
54 S. 4 Fr.
Vor 4 Jahren hat der Verfasser einen kurzen
Abriß über die drahtlose Telegraphie herausgegeben,
der jetzt in zweiter Auflage vorliegt. Entsprechend
den Fortschritten, die in dem abgelaufenen Zeitraum
gemacht worden sind, ist das Buch auch an einigen
Stellen ergänzt, im ganzen aber ist es das alte ge-
blieben. Von der gewöhnlichen elektrischen Tele-
graphie ausgehend, führt der Verfasser den Leser, der
in der mathematischen Physik sich zu bewegen wissen
muß, zu der drahtlosen Telegraphie. A. S.
Briefkasten.
Herrn K. in Oberkreihilz. Das Krgebnis Ihrer Überlegun-
gen „Die Schwerkraft hat ihr Maxiraum an der Krdoberfiäche"
ist richtig und in der Mechanik ein allgemein anerkannter
Satz, auf den sich die Airy'sche Methode der Bestimmung der
mittleren Erddichte gründet, wie Sie in jedem größeren Lehr-
buche (z. B. Wüllner, Lehrb. d. Experimentalphysik 1, § 45)
nachlesen können. Ihre Betrachtungen sind allerdings insofern
nicht zweckentsprechend , als Sie Segmente ins Auge fassen,
statt durch den betrachteten Punkt im Innern der Erde eine
Kugel zu legen. Tut man das letztere, so heben sich die An-
ziehungswirkungen derjenigen Massen auf, die in der den Punkt
umschließenden Kugelschale eingeschlossen sind, die .Schwere
entspricht also nur noch der Masse der inneren Vollkugel
und wird daher im Erdmittelpunkte gleich Null, weil dann
jene Vollkugel zu einem Punkt zusammensclirumpft. — Durch
welche Erscheinungen nach Ihrer Meinung eine Zunahme der
Schwere nach dem Erdmittelpunkte hin auch im Innern des
Erdkörpers erwiesen sein soll , können wir nicht ergründen.
Pendclbeobachtungen in Bergwerken haben im Gegenteil die
Theorie bestätigt , wie denn überhaupt auf diesem Gebiete
eine völlig lückenlose und einwandf"rcie theoretische Dar-
stellung der beobachteten Erscheinungen vorliegt, deren volles
Verständnis freilich Kenntnisse der höheren Mathematik vor-
aussetzt.
Herrn M. Str. in München. — Holzkästen für .Aufnahme
von Akkumulatoren säurediclit zu machen , dürfte kaum mög-
lich sein. Vielleicht erhalten Sie darüber Auskunft bei der
Farbenfabrik für Elektrotechnik von Payc , Berlin NW, Kais.
Augusta-Allee 14. Es würde sich in Ihrem Falle wohl die
.'Inwcndung von Trockenelementen empfehlen. .Akkumulatoren
baut man am besten in Hartgummikästen ein, die aber natür-
lich teuer sind.
Herrn W. B. in Duisburg. — Frage I : Welches ist der
gegenwärtige wissenschaftliche Standpunkt in bezug auf die
Fortpflanzung des Flußaales? — Die Aalfrage ist in
der letzten Zeit von verschiedenen Autoren behandelt worden.
Die eingehendste zusammenfassende Abhandlung über den
Gegenstand dürfte vonLinstow in der Zeitschrift für Natur-
wissenschaft in Halle (Bd. 72, 1900, S. 317 — 330) gegeben
haben. Da die Frage weitere Kreise interessiert, gebe ich in
Anlehnung an diese Arbeit einen kurzen Überblick. — Schon
wiederholt glaubte man entdeckt zu haben, daß der Aal,
ebenso wie die Aalmutter (Zoarces), lebendige Junge zur Welt
bringe, aber immer handelte es sich um andere Tiere, die
zufallig in die Leibeshöhle des Aales gelangt waren. Beson-
ders waren es parasitische Würmer, die entweder äußerlich
656
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 41
am Darm, also in der Leibeshöhle selbst gelebt hatten (Ich-
thyonema sanguineum), oder die durch Verletzung des Darmes
aus diesem in die Leibeshöhle gelangt waren (Ascaris labiata).
Unreife weibliche Geschlechtsorgane wurden schon im Jahre
1838 von Rathkc entdeckt. Sie stellen sich dar als zwei
langgestreckte, leicht gekräuselte Bänder und enthalten nach
Be necke mehrere Millionen Eier von 0,1 mm Durchmesser.
Die unreifen männlichen Organe, die eine ähnliche Form, aber
eine geringere Größe besitzen, wurden erst im Jahre 1874 von
Syrski entdeckt. — Schon seit Redi (1667) wußte man,
daß die jungen Aale, 50 — 120 mm lang und 2 — 3 mm dick,
im Frühling in den Flüssen aufsteigen. Dennoch konnte man
sich lange Zeit nicht an den Gedanken gewöhnen, daß der
Aal im Gegensatz zum Lachs, Maitisch, Neunauge, Stör etc.
zum Laichen nicht vom Meer in die Flüsse, sondern umge-
kehrt aus den Flüssen ins Meer wandern sollte. Jetzt kennt
man die Zeit des Wanderns ganz genau. Sie ist für ver-
schiedene Länder und auch dem Geschlechte nach verschieden.
In Dänemark wandern nach Feddersen die weiblichen Aale
von Mitte .August bis Ende September. Einzelne, erst im
November ins Meer gelangende Aale besitzen Eier von bereits
doppelter Größe. .Auch die Männchen wandern und bleiben
nicht, wie man anfangs glaubte, dauernd im Meere. Ihre
Wanderzeit liegt aber einige Monate früher. Sie dauert in
Dänemark von Mitte Mai bis Mitte Juli. — Vier bis fünf
Jahre lebt der Aal im Süßwasser. Dann stellt sich der Wander-
trieb ein. Ebenso wie beim Lachs verliert sich die Freßlust.
Der sogen. Fettaal kann deshalb nicht mit Angeln gefangen
werden. Man fängt ihn vielmehr auf seiner Wanderung mit
Netzen, den sogen. Aalkörben, besonders in dunklen stürmischen
Nächten. Nach Petersen legt der Aal, ebenso wie viele
andere Fische zur Fortpflanzung ein Hochzeitskleid an. Die
gelbliche Farbe verändert sich in eine silberne und die graue
Brustflosse wird schwärzlich. Die von den Fischern längst
unterschiedenen Varietäten sind auf diese Farbenänderung so-
wie auf Geschlechtsunterschiede zurückzuführen. Aus dem
östlichen Teil der Ostsee wandern die Aale nach Westen und
gehen dann durch die Bcltc und den Sund. Wenn die Donau
keine Aale enthält, so führt man dies jetzt darauf zurück, daß
das schwarze Meer keinen genügenden Salzgehalt für die
Fortpflanzung besitzt. Da der Aal in größere Tiefen, wenig-
stens 500m, hinabgehen muß, also in Teile mit geringerer
Helligkeit gelangt, werden die Augen zur Fortpflanzungszeit
größer. — Kein .^al kehrt nach der Fortpflanzung in die
Flüsse zurück. Wahrscheinlich gehen alle bald nachher zu-
grunde. — Ganz geschlcchtsreife .Aale hat man bisher nicht
gefangen. Hier belindet sich also noch eine kleine Lücke in
der Beobachtung. Man weiß aber , daß der Aal Eier ablegt
und nicht lebendige Junge zur Welt bringt. Die Eier von
etwa 2,7 mm Durchmesser sind nämlich, zuerst von Raffaele,
im Golf von Neapel gefunden worden. Wahrscheinlich waren
diese Eier durch besondere Strömungen aus der Tiefe an die
Oberfläche geführt. Grassi und Calandruccio haben im
Seewasser-Aquarium aus derartigen Eiern Aallarven gezogen
und aus den Aallarven kleine Aale. Die Larve war längst
unter dem Namen Leptocephalus brevirostris bekannt. Sie ist
bandförmig flach zusammengedrückt, 5 — lo cm lang und völlig
durchsichtig, so daß man durcli den Körper hindurch Buch-
staben lesen kann. Auch Blut und Galle sind bei ihnen farb-
los. Nur die Augen sind im Wasser erkennbar.
Frage 2 : Welches ist das Verbreitungsgebiet der Kreuz-
otter in Rheinland und Westfalen? — Über die Verbreitung
der Kreuzotter in Deutschland liegt eine umfangreiche Lite-
ratur vor. Eine gute Zusammenfassung finden Sie in B. Dü-
rigen, Deutschlands .Amphibien und Reptilien (2. Aufl.,
Magdeburg 1897, Preis I7,5oMk.). In bezug auf Einzelheiten
muß ich auf dieses Werk (S. 346) verweisen. — In der Rhein-
provinz fehlt die Kreuzotter dem ganzen Süden, dem Gebiete
des Hunsrück , der Eifel und des Siebengebirges. Im mitt-
leren Teile ist sie vereinzelt gefunden und in den moorigen
Teilen des nordöstlichen Zipfels wird sie sogar häufig. In
Westfalen ist sie nach Westhoff ruhraufwärts ins Sauerland
eingewandert. Sie fehlt dem Haarstrang, dem Eggegebirge,
dem Tculoburgcr Walde und dem Wiehengebirge, überhaupt
dem ganzen nordöstlichen Teile. — Das Vorkommen der
Kreuzotter hängt, wie das aller anderen Tiere, in erster Linie
von dem Vorhandensein geeigneter Lebensbedingungen ab.
Wo sich ein geeignetes trockenmooriges, nicht zu hoch und
kalt liegendes Gelände findet, wird sie meist nicht fehlen.
Dahl.
Herrn A. F. in Lesum. — Frage I : Ich bitte um Angabe
von Monographien aus dem Gebiete der Pediculinen,
Puliciden und .\carinen oder um Angabe eines Lehr-
buches, welches diese Tiere eingehender behandelt. —
Über Pediculinen sind zu nennen :
C. Giebel, Insecta Epizoa; die auf Säugetieren und Vögeln
schmarotzenden Insekten, Leipzig 1874, fol., mit 20 kol.
Taf., Preis lio Mk.
E. Piaget, Les Pediculines, Leide 1880 — 85, 4°, mit 73 Taf.,
Preis 115 Mk.
Über Puliciden:
O. Taschenberg, Die Flöhe, Halle 1880, S», mit 4 Taf.,
Preis 7 Mk.
Über Acarinen :
A. B erlese, Acari hucusque in Italia reperta, Padova 1882
bis 1897, 8°, mit ca. 800 Taf., Preis ca. 350 Mk.
R. Piersig, Deutschlands Hydrachniden. Stuttgart 1S97 —
1900, 4" mit 51 Taf., Preis 132 Mk.
R. Piersig und H. Lohmann, Ilydrachnidae und Hala-
caridae (Das Tierreich, Heft 131, Berlin 1901 , 8°, Preis
21 Mk.
A. D. Michael, British Oribatidae, London 1884-88, 8»,
mit 60 Taf., Preis 62 Mk.
A. D. Michael, Oribatidae (das Tierreich, Heft 3), Berlin
189S, 8», Preis 6,80 Mk.
M. H. Fürstenberg, Die Krätzmilben des Menschen und
der Tiere, Leipzig 1861, fol., mit 15 Taf., Preis bei Fried-
länder & Sohn statt 48 Mk. jetzt 20 Mk.
G. Canestrini und P. Kram er, Demodicidae und Sarcop-
tidae (Das Tierreich, Heft 7), Berlin 1899, 8", Preis 12 Mk.
A. D. Michael, British Tyroglyphidae, London 1901 — 1903,
8», mit 42 Taf., Preis 57 Mk.
A. Nalepa, Eriophyidac (Phytoptidae) (Das Tierreich, Heft 4),
Berlin 1898, 8", Preis 5 Mk.
G. Neumann, Revision de la Familie des I.^iodides in: Me-
moires de la Societe zoologique de France, Annee 1901,
P- 249—372.
Als Lehrbücher der gewünschten .'\rt sind zu nennen:
P. Megnin, Les Parasites articules chez l'homme et chez les
animau.x, 2. ed. Paris 1895, 8", mit 26 Taf, Preis 16,50 Mk.
F. A. Zürn, Die tierischen Parasiten auf und in dem Körper
der Haussäugetiere, 2. Aufl., Weimar 1882, 8", Preis 6 Mk.
Frage 2: Mit welchen Spezialforschern könnte ich in
Verbindung treten? — Die Adressen der Spezialforscher auf
den genannten Gebieten entnehmen Sie aus dem ,, Zoologischen
Adreßbuch" herausgegeben von Friedländer & Sohn
(Berlin 1895, Preis 10 Mk. und dem Nachtrag dazu, Berlin
1901, Preis 6 Mk.). Im Register dieser Bücher finden Sie
unter anderem eine Übersicht der sämtlichen Forscher der
Erde nach ihren Hauptarbeitsgebieten. Dahl.
Inhalt; Prof. Dr. Hans Molisch: Leuchtende Pflanzen. — Kleinere Mitteilungen: Konr. Diera: Über Bodentiere in
den Schweizer Alpen. — G. Dreyer: Die Einwirkung des Lichtes auf Amöben. — Hefelmann und Wind isch: Über
das natürliche Vorkommen von Salizylsäure in Erdbeeren und Himbeeren. — Ceraski: Ein neuer veränderlicher Stern
von sehr kurzer Periode. — Gorczynski: Verminderung der Intensität der Sonnenstrahlung. — Dr. P. R. Heyl:
Übersicht über unsere Kenntnis von den physikalischen Eigenschaften der stromführenden Materie. — F'rhr. v. Au fseß:
Die Farbe der Seen. — Prof. Blond lot: Neues über die N-Strahlen. — Prof. J. A. Ewing und L. H. Walter:
Ein neuer Detektor für elektrische Wellen. — Dr. A. Bernini: Einfluß der Temperatur auf die elektrische Leitfähig-
keit des Kaliums. — v. Slavik: Fortschritt in der farbigen l'hotograiihic. — Macfadyen: Eine neue Methode phy-
siologischer F'orschung. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Anton Balawelder:
Mathematische Ableitung der Naturerscheinungen vom empirischen reinen Räume. — Johann G. Hagen S. J. :
Synopsis der höheren Mathematik. — Andre Broca: La telegraphie sans his. — Briefkasten,
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 17. Juli 1904.
Nr. 42.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld hei der Post '&
15 PIg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
m. Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
M einkunft. Inseratcnannalinie durch Max Gelsdorf, Leipzig-
i^l Gohlis, lUumenstraße 46, Huchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Inselsberglandschaften im tropischen Afrika.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. S.
Vielleicht die merkwürdigste L.andschaftsform,
die den Charakter weiter Gebiete Afrikas bedingt,
ist die Inselsberglandschaft, wie Born-
hardt ') sie genannt hat. Wie Inseln aus dem
Meere, ragen aus ebenen Flächen isolierte Berge
und Gebirgsstöcke auf. Oft dehnen sich die
h'.bencn meilenweit aus, ohne jede Erhebung, ohne
wesentliche Einsenkungen, nur hier und dort, oft
20—30—40 und mehr Kilometer voneinander ge-
trennt, oft aber auch dichter gedrängt, stehen die
isolierten Berge, kleine Kuppen von hundert und
viel weniger Meter Höhe bis zu Massiven von der
Größe des Harzes und größer. Der Übergang
von der Ebene zu den Bergen ist oft ab-
solut scharf und unvermittelt. Die Ebene
tritt an das steil aufsteigende Gehänge heran,
höchstens vermittelt eine schmale Böschung von
Blockschutt und Grus, der vom Gehänge stammt,
den Übergang zwischen beiden. In anderen Fällen
werden die Gebirgsstöcke von einem alluvialen
Mantel umgeben, die aus den Gebirgen heraus-
Passarge.
geschwemmt und auf den primär vorhandenen
Ebenen zur Ablagerung gelangt sind. Der Charakter
der Ebene bleibt darum immer erhalten.
Die Verbreitung der Inselsbergland-
schaften im tropischen Afrika.
Zwei Zonen lassen sich unterscheiden.
«) Die Sudanzone beginnt am Roten Meer
zwischen Abesslnien und Suakin und zieht über
Sennaar, Kordofan, Darfur und Wadai nach Dar
Runga, Dar Fertit nnd Dar Banda. Im zentralen
Sudan sind Inselsberge wahrscheinlich sehr ver-
breitet, aber noch nicht genügend beschrieben
worden. Auf der Ostseite des Mandaragebirges
habe ich sie direkt beobachtet, auf der Westseite
treten sie in den Zeichnungen Bart h 's \) deutlich
hervor. In den Bautschi- und Haussaländern sind
sie anscheinend sehr verbreitet, ebenso im Berg-
land von Air. Auf weite Strecken hin beherrscht
die Inselsberglandschaft die Oberflächenformen des
Westsudan, im Bereich des Nigerbogens und Sene-
gal, z. B. in dem Goldlande Bambuk.
') Bernhard t, Zur Oberfiächengestallung Deutsch-Ost- ') Barth, Reisen und Entdeckungen in Nord- und
afrikas. Berlin 1900. S. 37. Centralafrika. Gotha 1857. Bd. 2.
658
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 42
ß) Die südafrikanische Zone beginnt
mit der Massaihochsteppe in Deutsch-Ostafrika.
Im Küstengebiet zieht sie sich nördlich und süd-
lich des Rovuma bis zum Schirehochland hin und
wurde dort von Bornhardt studiert. Matabelc-
hochland und Betschuanenland setzen sich zum
großen Teil aus Ebenen mit vereinzelten Bergen
zusammen. Sehen wir von den Ebenen und Tafel-
bergen der Karro ab, so ist die Inselsbergland-
schaft unter Zurücktreten der Berge und Vor-
herrschen der Ebenen in der Kalahari entwickelt.
Sie beherrscht in typischer Ausbildung den Abfall
des Damarahochlandes zum Meer. Das „westliche
Steppenland" Dove's ') ist im wesentlichen ein
Inselsberggebiet. Das gilt selbst für das eigent-
liche Hochland, z. B. für die Windhucker Gegend,
wie mir Stabsarzt Dr. Sander persönlich mitteilte.
Auf der Gürich'schen Karte -) tritt der Charakter
der Inselsberglandschaft deutlich hervor und diese
dürfte auch das Kaokofeld nach Hartmann's ")
Darstellungen beherrschen.
Von dem landschaftlichen Aussehen der In-
selsberglandschaften geben die prachtvollen instruk-
tiven Panoramen Marno's^) aus dem Sudan und
Bornhardt's aus Ostafrika, sowie auch meine Skizzen
aus dem Betschuanenland ") und der Kalahariberge,
die in einer größeren Arbeit über die Kalahari
veröffentlicht werden sollen, eine Anschauung.
Durch Zusammentreten der Berge können Ge-
birgsländer entstehen und durch Zerschneiden der
Ebenen durch Mußbetten Hügelländer. Beim Über-
gang der Inselsbergländer zu Gebirgsländern dürften
derartige Übergänge nicht selten vorkommen, z. B.
im nordwestlichen Abessinicn, im Matabele- und
Damarahochland, in Adamaua, Bautschi und in
den Bergländern des Westsudan.
Die Entstehung von Inselsberg-
landschaften.
Rein theoretisch betrachtet können Inselsberg-
landschaften auf sehr verschiedene Weise ent-
stehen. Dabei müssen wir notwendigerweise einen
Unterschied machen zwischen der Entstehung der
Ebenen und der Berge,
a) Die Berge können:
a) vulkanischen Ursprungs sein, also Vulkan-
berge in einer primären Ebene;
ß) durch gebirgsbildende Kräfte entstanden
sein, stehengebliebene Horste oder auf-
gerichte Schollen oder Falten sein;
y) durch Erosion aus weniger widerstands-
fähigem Gestein herauspräparierte Massen
sein.
') Dove, Pctermann's Mitteil. 1S94. S. 62.
-) Gürich, Mitteil. d. Geogr. Ges. Hamburg 1891 — 92.
^) Hartmann, Beiträge zur Kolonialpolitik. 1902.
■*) Marno, Rei.se in der ägyptischen Aquatorial-I'rovinz
und in Kordofan. Wien 1878.
^) Zeitschrift d. Ges. für Erdkunde. 1901. Fig. i ist
eine verkleinerte Reproduktion einiger der Panoramen dieser
Arbeit.
b) Die Ebenen können sein :
a) tektonischen Ursprungs durch Absinken
von Schollen;
ß) Abrasionsflächen der Brandungswelle bei
Transgression des Meeres;
y) Abschüttungsflächen, bedeckt mit marinen,
alluvialen oder äolischen Ablagerungen ;
ö) durch Abtragung entstandene Erosions-
flächen.
Die Ebenen können auch mehreren Prozessen
ihre Entstehung verdanken, z. B. mit Alhivien be-
deckte tektonische Ebenen, mit Meeressedimenten
bedeckte Abrasionsflächen u. a. sein.
Wir haben, wenn wir die Entstehung der
Ebenen und Berge kombinieren, also im wesent-
lichen vier Formen der Inselsberglandschaften zu
unterscheiden: die tektonische — marine —
vulkanische — und die Erosions-Insels-
berglandschaft.
Der Charakter der afrikanischen
Inselsberglandschaften.
Welche dieser P'ormen ist in Afrika zu finden?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen
wir zunächst über den geologischen Aufbau der
verschiedenen Typen von Inselsberglandschaften
orientiert sein.
1. Betschuana-Typus.
Die Berge ') bestehen aus massigen und schwer
zerstörbaren Gesteinen, wie massigen Graniten,
Ouarzporphyren, Diabasen und Gabbros, Oiiarz-
und Chalcedonstöcken, Ouarzit- und Eisenquarzit-
schiefern, die Ebenen dagegen aus schiefrigen
kristallinen und leicht zerstörbaren klastischen Ge-
steinen, wie dünnbankigen und schiefrigen Gneißen,
Glimmer- und anderen kristallinen Schiefern,
Grauwacken, Schiefertonen, Sandsteinen und Sand-
steinschiefern, Kalksteinen, Mergeln usw. In dieser
geologischen Zusammensetzung findet sich die
inselsberglandschaft im Damaraland, in der Kala-
hari, im Betschuanen- und Matabeleland, sodann
in Ostafrika in der Massaisteppe.-)
Der Charakter des Betschuana-Typus wird
nun aber nicht allein durch solche geologische
Beschaffenheit bestimmt, sondern vor allem durch
die Beschaffenheit der Ebene und ihr
Verhältnis zu den Bergen.
Die Ebene ist nämlich eine wirkliche Ebene
mit so geringen Niveaudifferenzen, daß sie von
einem mäßig hohen Standpunkt aus betrachtet,
den Eindruck einer Meeresfläche mit Inseln macht.
Die ebene Beschaffenheit wird aber nicht etwa
durch lose sekundäre Ablagerungen, als vielmehr
durch die ebene Oberfläche der Gesteine bedingt.
Gewiß fehlen Decksande, aus eluvialem und ver-
waschenem Lehm, Sand, Kies, Quarzgeröll be-
stehend, nicht. Allein diese haben tuir geringe
') Vgl. Tafel 8 — 10 in Zeitschr. d. G.es. f. Krdkunde
1901.
-) Nach den Darstellungen von Dantz, Sluhlmann, Bau-
mann und W'erther.
N. F. III. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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66o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 42
Mächtigkeit, gleiclien nur unbedeutende Niveau-
unterschiede von wenigen Metern (10 — 20 m höch-
stens) aus und das Grundgestein tritt häufig zu-
tage. In dieser Beschaffenheit geht die Ebene un-
mittelbar bis an die Inselsberge heran, kein Über-
gang existiert, nur eine Böschung aus Geröll,
Schutt und Verwitterungsprodukten, die von den
Bergen stammen , gleicht den schroffen Wechsel
etwas aus. Diese Beschaffenheit derEbene
und ihr Verhalten zu den Inselsbergen
ist für den Betschuana-Typus charakte-
ristisch.
Welches ist ihre Entstehung?
Zunächst können wir völlig ausschalten die
tektonische, marine und vulkanische Entstehung.
Gegen erste spricht die oft winzige Größe der
Berge, gegen marine Entstehung die totale Ab-
wesenheit transgredierender Meeresablagerungen
auf dem alten afrikanischen Kontinent. Vulkanische
Berge fehlen aber erst recht. Die südafrika-
nischen Inselsberge sind durch Erosion
entstanden, d. h. die Berge sind durch Denu-
dation bloßgelegte Gesteinsmassen. Dieser Vor-
gang ist an und für sich leicht verständlich, allein
welcher Art waren die Kräfte, die Ebenen
schaffen konnten, die für den Betschuana-Typus
charakteristisch sind ?
a) Gletschererosion können wir aus-
schalten. Nichts spricht für jugendliche Ver-
gletscherung Südafrikas.
b) Kann Wassererosion solche Berge
und Ebenen schaffen? Daß an und für sich
Inselsberge durch Wassererosion entstehen können,
ist fraglos, aber solch eEbenen mitsolchen
unvermittelten Übergängen zwischen
Ebenen und Bergen niemals.
Wassererosion ist abhängig von dem Gefälle,
der Wassermenge und der Gesteinsbeschaffenheit.
Die fallenden Regentropfen beginnen erst ero-
dierend zu wirken, wenn sie sich gesammelt haben
und gemeinsam einen Ausweg suchen. Bei diesem
Bestreben muß sich das Wasser stets in den Boden
einschneiden und Bahnen schaffen, auf denen es
abfließen kann. So entstehen die Abflußrinnen,
die je nach der Wassermasse wenige Millimeter
und viele tausend Meter breit sind. Zweifellos
können sich die Flußbetten erweitern, entsprechend
ihrer Wassermasse und dem Gefälle. Durch die
gemeinsame Arbeit vieler Flußbetten können relativ
ebene Flächen lediglich durch Wassererosion ent-
stehen, dieselben werden aber stets ein gewisses
Gefälle und gewisse vertiefte Betten beibehalten.
Solche Erosion kann anfangs nur in einem regen-
reichen Gebiet ausgeübt werden. In solchen pflegt
aber eine dichte Vegetationsdecke zu existieren,
die der Erosion starken Widerstand entgegensetzt,
namentlich der Fläche nerosion. Durchschnei-
den dagegen Ströme ein trockenes vegetationsarmes
Gebiet, so ist flächenhafte Erosion wohl eher mög-
lich. Allein könnte wirklich jemand es für denkbar
halten, daß in einem Lande eine Ebene Hunderte
von Metern tief und 20 — 30 — 50 — ja Hunderte
von Kilometern breit durch Wassererosion ge-
schaffen werden könnte, eine Ebene, die, von relativ
unbedeutenden Niveaudififerenzen abgesehen, eine
horizontale Gesteinsfläche bildet und dabei aus
aufgerichteten, wie abgehobelten Schichtenköpfen
besteht, eine Gesteinsfläche, die nur mit einer
dünnen Decke eluviaier Verwitterungsprodukte,
ohne Ablagerungen von Schottern, Granden, Sauden,
Lehmen, versehen ist? Hätte auch wirklich eine
schier undenkbare Flut die riesigen Ebenen Süd-
afrikas geschaffen, so mußten schließlich bei dem
langsamen Verschwinden derselben doch die groben
Sedimente liegengeblieben sein. Nichts derartiges
ist zu finden. Weche Kraft müßte in so wenig
geneigten Ebenen das Wasser haben, um den von
den Bergen herabrollenden groben Schutt völlig
fortzuschaffen. Dazu kommt schließlich noch als
Hindernis die Vegetation, die sich in wasserreichen
Ländern trotz stark fließenden Wassers auf breiten
Flächen ansiedelt und unbedingt die Erosion aufs
empfindlichste abschwächt.
Bei langsamer Erosion durch mäßig wasserreiche
Bäche können wohl wellige Ebenen entstehen, die
von mäßig tiefen Tälern durchfurcht werden, in
denen unter einer Vegetationsdecke Tiefenzer-
setzung stattfindet, allein auf Hunderte von Kilo-
metern hin können durch Wassererosion unmög-
lich steil aufgerichtete Schichten zu schwacii ge-
neigten Ebenen, noch dazu ohne Auflagerung
von Flußsedimenten, abgehobelt werden.
Würden heutzutage in dem Gebiet der süd-
afrikanischen Inselsberglandschaften selbst 10 und
mehr Meter Regen fallen, so dürfte der Effekt
nicht sowohl in einer großartigen Flächenerosion,
als in der Ansammlung des Wassers zu ausge-
dehnten Seebecken und Schilfsümpfen in den
Niederungen bestehen. Auf den liöher liegenden
Landesteilen , besonders den Inselsbergen, würde
sich aber dichter Wald entwickeln.
c) Winderosion. Es gibt, meiner Meinung
nach, nur eine Kraft, die imstande ist eine solche
Flächenerosion auszuüben, nämlich der Wind
in vegetationsarmen Wüsten. Der Wind
wirkt flächenhaft, er schafft das leichter zer-
störbare Gestein selbst aus Winkeln und
Löchern heraus, er kann Stöcke schwerer zer-
störbaren Gesteins so völlig isolieren , daß sie
unvermittelt aus Ebenen aufragen, wie die Insels-
berge es tun. Daß der Wind in dieser Weise
wirkt, wissen wir bestimmt. Die bekannten, .Zeugen"
der Wüste, die lediglich ein Produkt der Wind-
erosion sind, verhalten sich ebenso. Daß auf
diese Weise die an Kieselsäure reichen Gesteine
herauspräpariert werden können, ist leicht verständ-
lich, eine Erörterung verlangt jedoch das Verhalten
des Granits, der bekanntlich ganz außerordentlich
der Insolationsverwitterung unterworfen ist. Wa-
rum wird gerade er nicht abgetragen ?
Ich glaube, daß die massige Beschaffen-
heit dieses Gesteins die Ursache hierfür ist. Die
Gneiße und kristallinen Schiefer zerfallen in
N. F. m. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
661
kleinere Stücke, die wiederum durch Insolation
und SandschlifF leicht weiter zerkleinert werden
können. Der Granit dagegen zerfällt in mächtige
Blöcke, die zwar schließlich zerfallen, aber doch lange
Zeit hindurch das liegende, nicht zersprungene Ge-
stein schützen. Denn der aus riesigen losen Blöcken
bestehende Schutt wirkt einerseits als beschatten-
der Mantel, unter dem die Temperatur relativ
gleichmäl3ig kühl bleibt, und vor allem pflanzen
sich durch die Abkühlung und Erhitzung ent-
stehende Sprünge nicht in das anstehende Gestein
fort. Daher kommt es wohl, daß der Granit trotz
seiner Neigung infolge \on Insolation zu zerspringen,
doch stärkeren Widerstand der Wüstenverwitterung
entgegensetzt als die feinkörnigen , aber schief-
rigen, und daher kleinstückig zerfallenden Gneiße
und kristallinen Schiefer.
Kalksteine neigen sehr zum Zerspringen und
ebenso blättern die Schiefertone leicht auf, zer-
fallen in kleine Stücke und erliegen schnell dem
Sandschliff. Sandsteine aber werden mürb und
zerfallen zu Sand.
Eine große Zahl von Erscheinungen spricht
für ein sehr trockenes Klima in Südafrika — viel-
leicht auch in Ostafrika und im Kongobecken —
während einer Periode, die zwischen die Karrozeit
und die Pluvialzeit, also im wesentlichen in das
Mesozoikum fällt.') Die Inselsberglandschaft dürfte
ein Produkt dieser langen Wüstenperiode sein, da
sie sich gerade in den Gebieten findet, in denen
auch sonst Anzeichen für eine solche, vorhanden
sind. Vielleicht ist es nun von Interesse, die Auf-
merksamkeit auf die Inselsberglandschaften der
Sudanzone zu lenken , die möglicherweise unter
älinlichen Bedingungen entstanden sind. Denn es
scheint, daß die meisten anderen T\-pen afrikanischer
Inselsberglandschaften sich auf den Betschuana-
Typus zurückführen lassen, dieser also die Grund-
form darstellt, von der sich alle anderen ableiten
lassen. Ist die Ansicht richtig, so müssen alle
Gegenden Afrikas, die diesen Grundtypus der In-
selsberglandschaft aufweisen , eine , oder besser
wohl d i e Wüstenperiode, nämlich während des
Mesozoikums, durchgemacht haben. Sehen wir zu,
inwieweit das vorhandene Beobachtungsmaterial
für solche Auffassung spricht.
Der A dam au a - Typus. Wenn in einer
Landschaft von dem Charakter des südafrikani
sehen Grundtypus das Wüstenklima einer nieder-
schlagsreicheren Periode Platz macht und die Ver-
hältnisse es gestatten, daß ein Abfluß zum Meere
stattfindet, so wird sich in den Ebenen ein System
von Flüssen entwickeln, das sich nicht nur ein-
schneidet, sondern auch die Zersetzungsprodukte
der Berge und Ebenen entfernt. Die Ebenen werden
dann im Laufe der Zeit hügelig, die Gebirgsstöcke
von .Schluchten durchschnitten. Betrachten wir
die Oberflächenbeschaffeiiheit Adamauas, so fällt
vor allem auf, daß sich dieses Bergland aus ein-
') Passarge, Klimatisclie Verhältnisse Südafrikas seit d.
milll. Mesozoikum. Zcitsclir. d. (Jes. f. Erdkunde 1904.
zelnen Gebirgsmassiven und den sie trennenden
Ebenen zusammensetzt. Die Ebenen sind in vielen
hallen ganz auffallend eben und bestehen aus steil
aufgerichteten, gleichsam abgehobelten Gneiß- und
Schieferschichten, die Berge aber aus Granit. Diese
großen Massive — z. B. Mandara-Gebirge, Ssarri-,
Alantika-, Tschebtschi-Massiv, ragen nun aus weiten
Ebenen mit \ereinzelten Inselsbergen auf. Letztere
sind Berge und Kelten aus Granit, sowie lange
schmale Quarzporphyrwälle, die Ebenen Gnciß-
land. Obwohl durch Flüsse entwässert und von
ihnen zerschnitten , ist die ebene Beschaffenheit
dieser Flächen doch recht auffallend. Ganz be-
sonders überraschend wirkt nun aber die Tatsache,
die sich erst durch die jüngsten, noch nicht ver-
öft'entlichten Aufnahmen herausgestellt hat, daß
nämlich die „Massive" des .Alantika- und Mandara-
gebirges gar keine geschlossenen Gebirgsstöcke
sind, sondern sich aus einer M enge von Granit -
bergen zusammensetzen, die breiten
Ebenen mit auffallend flachem Boden
aufgesetzt sind. Bequeme Straßen führen des-
halb quer durch die „Gebirgsmassive". Ähnlich
dürfte das Ssarrimassiv beschaffen sein, während
der Wall des Tschebtschigebirges, wenigstens im
mittleren Teil, geschlossen sein dürfte.
Mir waren diese Oberflächenformen Adamauas
stets eigenartig erschienen, diese glatten, oft bis
an die Gebirgsmauern herangehenden Ebenen und
isolierten Ebenen. Ich hatte mir aber nie klar
gemacht, daß Wassererosion nicht imstande sein
könne, solche Ebenen zu schaffen, und daß die
heutige Erosion daran arbeite, sie zu
zerstören, nicht zu schaffen. Wo Erosion
unmöglich schien, glaubte ich Abbruche für die
Entstehung der Ebenen annehmen zu dürfen.
Heutzutage denke ich anders. Für tektonische
Entstehung liegt kein Beweis, keine Andeutung
vor. Vielmehr möchte ich eher geneigt sein an-
zunehmen, daßdasGebirgsland vonNord-
und Mitteladamaua eine durch Wasser-
erosion in Umwandlung begriffene
Inselsberglandschaft vom Betschuana-
Typus ist.
Zu dem Adamaua-Typus dürften gehören das
Bergland Bautschi und Muri, die erythräischen
Gebirge nördlich von Abessinien,') Teile des Da-
marahochlandes und Matabelelandes, sowie Deutsch-
Ostafrikas.
Der K o rd o fa n- Ty p u s. Werden in einer
vorhandenen Inselsberglandschaft bei Eintreten
feuchteren Klimas die Verwitterungsprodukte der
Gebirgsstöcke lediglich im Umkreis der Berge
in ausgedehnten mächtigen Lagen ausgebreitet,
bleiben sie also im Lande, so entsteht ein neuer
Typus, der in Kordofan ausgebildet ist. Kordofan
ist ein flachansteigender Buckel mit aufragenden
Inselsbergen aus Granit, Gneiß, Ouarzstöcken und
kristallinen Schiefern. Professor L i n c k -), dessen
') Schweinfurth, Ges. für Erdkunde. 1865. S. 385 ff.
^) Linck, Neues Jahrbuch f. Mineralogie etc. 1903.
S- 399-
662
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 42
Aufsatz über „die Hochebene Kordofans" ^) neben-
stehende Bilder (Figg. 2 — 4) entnommen sind, ist
der Ansicht, daß das Grundgerüst dieses Landes
ein altes, von tiefen Tälern durchfurchtes Gebirgs-
land ist. Die Hauptmasse bestände aus Granit,
kristalline Schiefer träten zurück. Diese tiefen
zu dem offiziellen, auf Grund zahlreicher Brunnen-
untersuchungen gegebenen Bericht Prout's.')
Professor Linck hat Kordofan bis auf einige näher
untersuchte Gebiete im Süden lediglich durch-
reist. So sehr man also auch die Schlüsse eines
eeschulten Fachmannes, wie es Professor Linck
Fig. 2. Gebel Kordofan von Westen.
Fig. 3. Blick auf die Berge von Kadero, von Westen.
Fig. 4. Cyclopenmauerähnlichc Reste eines Granilberges (Kawalib).
Schluchten und Täler seien in jüngster Zeit durch ist, den Anschauungen von higenieuren vorziehen
Sande, Kiese, Tone au.sgefüllt. wirtl, so möchte ich docii in diesem P'alle, wo
Diese Darstellung steht in gewissem Gegensatz letztere zahllose direkte Brunnenuntersuchungen —
■) Die Hochebene Kordofans, ein Zug im Antlitz der ') Prout, General Report of tlie Province of Kordofan.
Erde, diese Wochenschrift 1902, S. 373 ff- Cairo 1S77.
N. F. III. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
663
also rein mechanisch auszuführende Aufnahmen —
gemacht haben, die Angaben Prout's nicht unbe-
rücksichtigt lassen. Dieses um so mehr, als im
übrigen seine Anschauungen mit denen Linck's
gut übereinstimmen, z. B. auch gerade bezüglich
der Tiefen der Brunnen.') Aus der Beschaffen-
heit von 900 meist etwa 35 m tiefen Brunnen,
schließt Prout: -)
„A thick Stratum of granitic detritus, remar-
kably uniform in thickness, overlies a
more or less thick and unbroken Stratum of mica
shist, which is found at from one hundred to one
hundred and fifty feet below the surface."
Über die Entstehung dieses „Stratum" sind sich
die verschiedenen Berichterstatter einig, es sind
Verwitterungsprodukte aus den Bergen, fluviatiler
und äolischer Ablagerung, und zwar Sande und
Lehme , nahe den Gebirgen auch grober Schutt,
weit im Süden auch Humusböden.
Nehmen wir die eingehenden Untersuchungen
des Prout'schen Ingeineurkorps als richtig an, so
ist Kordofan eine Inselsberglandschaft,
deren Ebene mit einer alluvial-äolischen
Ablagerung bedeckt ist, die au sdcn Ge-
birgen stammt. Diese Ebene kann, nach den
früheren Auffassungen, nur äolischen Ursprungs
sein, wofern sich Meeresabrasion ausschließen läßt.
Letzterer Punkt verlangt indes eine besondere Be-
sprechung, die aber am besten mit der Darstellung
des nächsten Typus vereinigt wird.
Nehmen wir zunächst einmal an, Meerestransgres-
sion habe nicht stattgefunden, so wäre Kordofan ein
ehemaliges Inselsbergland vom Betschuaiia-Typus,
also das Produkt einer lange andauernden Wüsten-
denudation. Dann wären auch die ,, Strudellöcher",
die Professor Linck vom mittleren Gipfel des
Delenberges beschreibt,'') als Spuren ehemaliger
Winderosion leicht verständlich und wir brauchten
nicht die Abtragung eines ganzen Gebirges an-
zunehmen, um die heutige Lage der einst in einem
Flußbett gelegenen Strudellöcher auf dem Gipfel
eines Berges zu erklären. Wie hätten diese un-
zerstört und ohne Verwitterung des Gesteins er-
halten bleiben können?
Ist aber Kordofan eine Inselsberglandschaft
vom Betschuana-Typus, dann dürfte Sennaar und
Darfur den gleichen Bau und die gleiche geologische
Geschichte haben, da sie ja dieselbe Oberflächen-
gestaltung wie Kordofan besitzen. In Darfur stöit
die I^ntwicklung vulkanischer Berge freilich die
klare Erkenntnis, da man nicht weiß, inwieweit
die Inselsberge, die auf Mason's Karte'') so
prachtvoll hervortreten , Vulkane oder erodierte
Berge sind.
Sehr interessant ist die Frage, ob die aus san-
digen und lehmigen alluvialen Ablagerungen heraus-
ragenden Inselsberge des Westsudan gleichfalls
dem Betschuana-Typus angehören, d. h. ob jene
') Linck, 1. c. .S. 396.
') Prout, 1. c. S. 46.
') Linck, 1. c. .S. 403/404 und Abbildung.
•■) Mason, Petermann's Mitteil. 1880.
Ablagerungen wirklichen Gesteinsebenen aufge-
lagert sind, wie sie nur äolische Ausräumung in
einem Wüstenklima schaffen kann. Die Unter-
suchung dieser Verhältnisse wäre eine wichtige
und dankbare Aufgabe.
Der Dar Banda- Typus. Durch den ganzen
Sudan zieht sich eine Zone fossilleerer Sandsteine,
die auf Gesteinen der Primärformation ruhen und
nicht selten von älteren Gesteinen durchbrochen
werden, meist von Granitstöcken.') Diese iso-
lierten Granitberge — auch Sandsteinberge kommen
vor — führen den Namen Kaga und sind die
natürlichen P"estungen der Bewohner. Wir sind
über den Aufbau des Landes nicht näher orientiert,
namentlich kennen wir die Unterlage der Sand-
steine nicht, wissen also auch nicht, ob die vorliegende
Inselsberglandschaft zum Betschuana-Typus ge-
hört, also äolischen Ursprungs ist. Hier muß
man aber auf die oben aufgeworfene Frage zurück-
kommen, ob nämlich die Ebenen Kordo-
fan s Abrasions flächen und ob die er-
wähnten Sandsteine des Sudan marin
sind.
Die Sandsteine werden nämlich im Ostsudan
allgemein mit dem nubiscnen Sandstein
Ägyptens identifiziert. Russegger^) hielt sie
für obere Kreide, Linck scheint dasselbe zu tun.
Bisher ist aber noch nie ein P'ossil gefunden worden,
ebensowenig die geringste Andeutung eines Abra-
sionskonglomerats.
Eine, wie ich glauben möchte, richtige Dar-
stellung von dem nubischen Sandstein gibt Blanken-
horn.'') Er ist keine einheitliche Bildung, sondern
besteht aus zwei verschiedenen Stufen. Die untere
ca. 200 m mächtige Abteilung hält er für eine
kontinentale Bildung der mesozoischen Zeit.
Denn sie fällt zwischen das Karbon und die
obere Kreide. VValther's Anschauung, daß es
Wüstensande seien, ist ihm nicht gerade sym-
pathisch, aber er denkt doch an äolische,
sandige Verwitterungsprodukte der
kristallinen Gesteine. Solche Anschauung
nähert sich doch, wie ich glauben möchte, sehr stark
der Walther'schen, denn solche Ablagerungen ent-
stehen eben in trockenem Klima.
Dann begann die cenomane Transgres-
s i o n , die sicher bis zum 28." n. Br. vordrang. Ganz
allmählich ist der Übergang zwischen dein sub-
aifrischen und marinen Sandstein. Noch weiter nach
Süden ist das Senon gedrungen, das bis Assuan
verfolgt worden ist. Wo seine Südgrenze liegt, ist
nicht bekannt. Denn südlich von Assuan sind bis
jetzt Petrefaktcn nicht gefunden worden. Nichts
deutet jedenfalls auf kretaceisches Alter der Sand-
steine des Sudan hin. Weit wahrscheinlicher er-
scheint mir die Annahme, daß diese fossil -
leeren Sandsteine der unteren Stufe
des nubischen Sandsteins entsprechen.
') Chevalier, La Gcograpliic. 1903.
^) Russegger, Reisen in Europa, Asien und Afrika.
') Blanckenhorn, Geologie Ägyptens. Berlin 1901.
S. 27 ff.
664
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 4-.
also „subaerische sandige Verwitterungs-
produkte der kristallinen Gesteine"
sind. Ist das der Fall, dann ist die ihnen unter-
lagernde Oberfläche des Grundgesteins gleichfalls
durch subaerische Einwirkung geformt und ebenso
wohl die die Sandsteine durchbrechenden Inscls-
berge. Solche Entstehung müßten Ebenen und
Itiselsberge auch dann haben, falls die oberen
Teile der Sandsteine im Sudan , wie in Ägypten,
kretaceische Mecresablagerungen wären.
Betrachten wir nun einmal die Verbreitung des
nubischen Sandsteins im Ostsudan.
Er liegt im allgemeinen im tieferen Niveau. So
fehlt er dem eigentlichen Kordofan, umgibt dieses
Land aber auf der Nordseite (Bajudasteppe) im Osten
(gegen den Weißen Nil hin), im Westen (gegen
Darfur). Er nimmt das ganze Becken des Weißen
Nil zwischen Lado und Omdurman ein. Im Nor-
den von Dafür und in Wadai kommt er vor und
bedeckt in Dar Banda und Dar Runga den größ-
ten Teil des Landes. Ganz gewiß kann diese
Anordnung der Sandsteine dadurch erklärt werden,
daß er in den sandsteinfreien hochgelegenen Insels-
berglandschaften durch Denudation entfernt wor-
den ist. Er kann aber auch primär in primären
Senken mächtiger entwickelt sein, weil der Sand
zusammengefegter und aus den hochgelegenen
Gebirgen ausgeräumter Wüstensand ist. Ich bin
weit davon entfernt behaupten zu wollen , daß
letztere Anschauung die richtige ist, allein ich
glaube, daß man gut tun wird, bei zukünftigen
Untersuchungen die Möglichkeit im Auge zu be-
halten, daß die Sandsteine von vornherein den
höheren Gebirgen gefehlt haben können, weil sie
aus deren Zersetzungsprodukten aufgebaut sind.
Bei solcher äolischen P-ntstehung fallen auch
alle Bedenken fort, die Linck ') äußert, weil die
Sandsteine der Gegend südwestlich von Omdur-
man durchweg auffallend feinkörnig sind , und
keine Kiesel und GeröUe enthalten, die bei der
Nähe des Gebirges, aus dem sie stammen, (Kordo-
fan) vorhanden sein müßten bei marin fluviatiler
Entstehung. Aus dieser Beschaffenheit des Sand-
steins schließt Linck, daß die Gebirge Kordofans
bereits abgetragen waren , als der Sandstein auf
jener Fläche abgelagert wurde. D. h. also doch
wohl, daß eine subaerische Denudations-
fläche existierte. Also auch Linck ist der
Ansicht, daß keine marine Abrasions fläche
vorliegt. Das ist sehr wichtig. Ich vermute, daß
er sich diese Denudationsebene durch Wasser-
erosion entstanden denkt, während ich Winderosion
in trockenem Klima allein für fähig halte, solche
Gesteinsebenen zu schaffen.
Die Auffassung von der geologischen Ent-
wicklung Kordofans würde bei solcher An-
nahme auch wesentlich vereinfacht werden. Ein
Gebirge der Primärformation — auf die Dar-
stellung Linck's von der ältesten Zeit sei hier
nicht eingegangen — wurde im Laufe des Meso-
zoikums äolisch abgetragen und in eine Insels-
berglandschaft verwandelt, die äolischen .Sande
aber in umliegenden Becken und itmerhalb der
Inselsberglandschaft abgelagert.
Später fanden Verwerfungen statt, die in
manchen Teilen des Ostsudan — Darfur, Sennaar,
und in der Sahara — Tibesti — mit vulkanischen
Eruptionen verbunden waren. Der niederschlags-
reicheren Zeit nach der Wüstenperiode verdanken
dann die heutigen, 30 — 40 m mächtigen Deck-
schichten ihr Dasein.
Spätere Untersuchungen werden zeigen , ob
solche Auffassung berechtigt ist und namentlich,
ob im ganzen Ostsudan bis zum Scharibecken die
Inselsberglandschaft im Grunde nur ein modifizier-
ter Betschuana-Typus ist.
Die fossilleeren Sandsteine, z. T. durchragt von
Granitbergen, finden sich jedenfalls in großem
Umfang im mittleren und westlichen Sudan. Auch
dort wird man in Zukunft gut tun, bei Sand-
steinen, die in Niederungen liegen, nicht ohne
weiteres von „abgesunkenen Schollen" zu reden,
wie ich selbst es getan habe, ') sondern zuzusehen,
ob sie nicht primär lokale Ablagerungen aus
trockenem Schutt kristalliner Gesteine sind. Das
könnte der Benuesandstein z.B. seiner petro-
graphischen Beschafteuheit nach sehr wohl sein.
Für eine primäre Anlagerung des Sandsteins an
altkristalline Gesteine spricht z. B. ein Profil öst-
lich bei Djen am Beiuie, von dem ich eine Zeich-
nung gemacht habe. Die Schichten lagern sich
in flacher Böschung an die aufgerichteten älteren
Gesteine an. Es scheint sich nicht um eine Ver-
werfung zu handeln. Jetzt würde ich jedenfalls
nicht mehr mit solcher Bestimmtheit annehmen,
daß der Benuesandstein des Benuetals eine „ab-
gesunkene Scholle" sei, es vielmehr für sehr mög-
lich halten, daß er — unbeschadet sekundärer
Verwerfungen mit Basaltausbrüchen — eine Ab-
lagerung von durch trockne Verwitterung ent-
standenem Schutt in einem primär — wohl durch
tektonische Kräfte — vorgebildeten Graben ist.
Dasselbe gilt für die Sandsteine der Haussa-
mulde und des Vi^estsudan, z. B. für den Dagomba-
Sandstein. -)
Der Rovuma-Typus. Nördlich des Rovuma
hat Bornhardt die Inselsberglandschaft studiert
und deshalb sei der dortige Typus Rovuma-Typus
genannt. Das Auftreten mariner Ablagerungen
auf den Ebenen zwischen den Inselsbergen charak-
terisiert ihn. Allein nicht die Abrasionswelle hat
die Ebenen geschaffen, Bornhardt betont ausdrück-
lich, daß die Inselsberge vor der Ablagerung
der oberen Kreide — der ersten Transgression
— vorhanden waren. Er sucht die Insels-
berge durch wiederholte, epigenetische
Talbildung zu erklären, d. h. Einschneiden von
Flüssen in wiederholt denudierte Meeresablage-
^) Linck, 1. c. S. 399—400.
') Passarge, Adamaua, Berlin 1895.
") V. Seefried, Mitteilg. a. deutschen Schutzgebieten.
1898. S. 227.
N. F. III. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
66s
lungen. Ich möchte glauben, daß diese Erklärung
nicht ganz plausibel ist, zumal sie wohl die Ent-
stehung einzelner Berge erklärt, nicht aber die
Bildung der weiten Ebenen, aus der die Berge
ganz sporadisch aufragen. Aolische Denudation
dürfte auch hier als ausschlaggebender F"aktor ge-
wirkt haben. Da aber die marinen Ablagerungen der
Ebene entschieden den Charakter der Inselsberg-
landschaft zu beeinflussen scheinen, so ist die Auf-
stellung eines besonderen Typus vielleicht am
Platz.
Der a b e s s i n i s c h e Typus. Möglicherweise
ist die Inselsberglandschaft auch in dem Gebiet
entwickelt gewesen, das zwischen der Sudan- und
südafrikanischen Zone liegt, nämlich in Abessinien
und dem Grabengebiet. ') Durch tektonische Be-
wegungen und vulkanische Ergüsse ist hier viel-
leicht ein altes Inselsbergsgebiet zerstört worden.
Es wäre interessant zu untersuchen , ob die auf-
ragenden altkristallinen Berge des Grabengebiets,
die jung vulkanische Decken durchbrachen und
in direkter Verlängerung der Iiiselsberglaiidschaft
der Massaihochebene liegen, nicht alte Inselsberge
sind, während die erwähnten Decken die Ebenen
erfüllen.
Ein solcher Bau könnte sehr woiil im abessi-
nischen Hochlande vorhanden sein , wo nach
Seh im per 's'-) Aufnahmen hohe Granitmassive
die Niederungen der kristallinen Schiefer über-
ragen und diese Niederungen mit vulkanischem
Gestein, — sog. ,, Tonstein" — wohl der Magdala-
Schichten bedeckt sind. Auch alte rote Sand-
steine liegen über den kristallinen Schiefern der
Ebenen.
Wir kommen zu dem Resultat, daß viele
wichtige Punkte für eine lange Periode äolischer
Denudation sprechen, der der afrikanische Konti-
nent wesentlich seine heutige Oberflächengestaltung
— Inselsbergbildung — verdankt. Die bisherigen
Aufnahmen genügen aber noch lange nicht, um
auch nur mit einiger Sicherheit die Ansicht ver-
treten zu können. Bei der künftigen Durchforschung
Afrikas sollte man also dem Studium der Inselsberg-
^) Geologische Karte inv, liöhnel, Rosiwal, Toula
und SueU: Beiträge zur geologischen Kenntnis des östlichen
Afrika. Denkschr. d. Wien. Akad. d. Wiss. 1891.
*) Schimper, Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde. Berlin
1869. S. 347.
landschaft besondere Aufmerksamkeit zuwenden,
da sich eine Reihe interessanter Probleme an sie
knüpft.
Vielleicht schreckt mancher Leser vor dem
Gedanken an ein Wüstenklima unter dem Äquator
zurück. Indes sollte man nicht a priori eine über-
raschende Diagnose für absurd halten — ich er-
innere an die Glacialbildungen in Indien, Südafrika
und Australien — sondern vor allem die tatsäch-
lichen Beobachtungen sprechen lassen. Sodann
möchte ich nur kurz darauf hinweisen, daß gerade
im Mesozoikum in den arktischen Regionen ein
Tropenklima herrschte. Das muß uns stutzig
machen. Wie sah es damals unter dem Äquator
aus? Waren die A(]uatorialzone damals überhaupt
bewohnbar für höhere Organismen ? Mußte die
Hitze auf hochgelegenen, breiten Kontinentalflächen
nicht unerträglich werden ?
Man wird wohl zugeben müssen, daß vielleicht
doch Gründe für ein mesozoisches Wüstenklima
in der Aquatorialzone zu finden sind. Allein zu-
nächst kommt es darauf an, durch positive Be-
obachtungen die Diagnose zu sichern und dann
erst nach Erklärungen zu suchen für eine Er-
scheinung, die für die Entwicklung der gesainten
organischen Welt, speziell der höheren Tier- und
Pflanzenwelt von grundlegender Bedeutung wäre.
So bedeutungsvoll das Problem ist, so einfach
sind an und für sich die Beobachtungen über die
Beschafienheit der Gesteinsoberfläche in den
Ebenen, auf die es vorwiegend ankommt. Die
Beobachtungen sind verhältnismäßig einfacher
Natur und es könnte ein allgemein wissenschaft-
lich geschulter Reisender mit offenem Auge bei
gewissenhafter Beobachtung viel zur Klarstellung
des Problems beitragen. Sollte es sich heraus-
stellen, daß tatsächlich der größte Teil der afri-
kanischen Inselsberglandschaften dem Betschuana-
Typus angehören und einer mesozoischen Wüsten-
periode ihre Entstehung verdanken, so wäre es
vielleicht angebracht, zur Vermeidung der unge-
schickten Umschreibung: „durch Winderosion ent-
standene Inselsberglandschaft" und zum Unter-
schied von den heutzutage in Entstehung begriffe-
nen Zeugenlandschaften der Wüsten, diese in
Zerstörung begriffenen fossilen Zeugenlandschaften
unter dem Namen Kagalandschaften zusam-
menzufassen.
Kleinere Mitteilungen.
Über Einwirkungen der Wüstenzustände
auf den Menschen. — Ebenso wie das Pflanzen-
und Tierleben in den Wüsten von jenem in wasser-
reichen Ländern verschieden ist (obwohl es keines-
wegs inmier arm genannt werden darf), so haben
die eigenartigen klimatischen Verhältnisse der
Wüstenregionen zu allen Zeiten auch die Lebens-
weise des Menschen in hohem Maße beeinflußt.
Das Leben ist hier ein nomadisches, die Bewohner
der Wüsten sind — soweit nicht die große
Trockenheit jede Wirtschaft unmöglich macht, • —
auf die Viehzucht als Erwerbsquelle angewiesen.
Richard R. Dodge, von der Columbia- Uni-
versität in New- York, schreibt im Bulletin der
American Geogr. Society, Bd. 34, p. 412 — 423,
über einige Einwirkungen der Wüstenzustände auf
den Menschen , wobei besonders die Verhältnisse
in den betreffenden Gebieten Nordamerikas in
Betracht gezogen werden. Vor allem wird hervor-
gehoben, daß die meisten Wüstenlandschaften
666
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 42
nichts weniger als monoton erscheinen. Dodge
scheidet dieselben nach der Gestaltung ihrer Ober-
fläche in drei Kategorien ; solche, wo das gelockerte
Material fortgeschafft wurde und der Fels ansteht;
die Sandwüsten und endlich die Adobewüsten.
Die Adobe , ein lockeres Gebilde aus feinen Ge-
steinspartikeln, bedeckt die Oberfläche eines weit
größeren Teils der amerikanischen Wüsten als der
Sand. Das Relief der Landschaften ist variiert;
so erheben sich z. B. in Neu-Mexiko und Arizona
Gebirge von 3000 bis 5000 Fuß über das allge-
meine Niveau des Geländes.
Jemand, der zum erstenmal eine Wüste bereist,
empfängt den Eindruck der Großartigkeit und
Freiheit; auf das Gemüt des Naturfreundes wirkt
die Wüstenlandschaft in keiner Weise bedrückend.
Die eindrucksvolle Schönheit und Harmonie der
Farben ist schwer zu beschreiben; die .'\bwescn-
heit des lebhaften Grün der Vegetation fällt bald
nicht mehr auf. Die roten, braunen und gelben
Farbentöne einer solchen Region wirken auf das
Auge beruhigend und besänftigend; sie sind so
verschieden in ihrer Intensität, daß sie stetig
wieder die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Eigen-
tümlich ist den Wüsten vor allem die bedeutende
tägliche Schwankung der Temperatur, welche in
den „Desert Lands" der Vereinigten Staaten oft
60" Fahrenheit beträgt. Gegen die sengenden
Strahlen der Sonne sind tagsüber dicke Kleider
nötig; wer nur leichte Kleider trägt, hat unter
dem Sonnenbrand des Tages, wie unter den nie-
drigen Naclittemperaturen zu leiden. Es mangelt
jedoch in den Wüsten nicht an Schatten, in wel-
chem der IVIensch Erholung finden kann ; und
zwar ist der Kontrast der Temperatur auf dem
der Sonnenbestrahlung direkt ausgesetzten Boden
und im Schatten hier viel mehr hervortretend als
in feuchten Gebieten. Eine andere Eigentümlich-
keit der Wüsten, welche ihre Einwirkung auf den
Menschen fühlbar macht, ist die Abwesenheit jedes
Geruches, die wohl beim Betreten einer solchen
Region anfangs kaum auffällt; nach längerer Zeit
der Abwesenheit von Gegenden mit feuchtem
Klima tritt jedoch die Allgegenwärtigkeit unan-
genehmer Gerüche belästigend hervor.
Vielfach wird der besonders entwickelte Ge-
sichtssinn der Wüstenbewohner betont ; es kommt
wohl hier in erster Linie der Einfluß der klaren
Atmosphäre in Betracht, doch bemerkt Dodge,
daß die Einwohner der Wüstengebiete hauptsäch-
lich durch langes Trainieren und oftmals auch
durch harte Erfahrungen die Fähigkeit gewonnen
haben, die beobachteten Objekte genauer zu inter-
pretieren, als jemand, der an die eigenartigen Ver-
hältnisse nicht gewohnt ist. — Die Verkehrswege
sind an das Vorkommen von Wasserplätzen ge-
bunden. Das Reisen in diesen Regionen ist mit
besonderen Schwierigkeiten verknüpft; den Ein-
heimischen sind jedoch die Landmarken so wohl
bekannt, daß sie in der scheinbar weglosen Wüste
leicht an ihr Ziel gelangen. Die Lebensgewohn-
heiten der Einwohner der Wüstengebiete der
Vereinigten Staaten, namentlich der Indianer, sind
derartig den Eigenheiten des Klimas und der
Bodenverhältnisse angepaßt, daß sie sich dort
weit mehr wohl fühlen , als in vegetationsreichen
Landschaften. Die Wohnstätten sind vorzüglich
so angelegt und eingerichtet, daß sie vor VVind
und Sand Schutz bieten. Die Adobe der ameri-
kanischen Wüsten gibt hierzu ein geeignetes
Baumaterial, das auch an Dauerhaftigkeit nichts
zu wünsclien übrig läßt. In der Hitze des Tages
herrscht in den Bauten eine angenehme Kühle.
Es wird weiter hervorgehoben , wie sehr die
Kleidung der amerikanischen Wüstenindianer,
namentlich das „Blanket", den klimatischen Ver-
hältnissen entsprechend ist. — Der Charakter der
Bewohner der nordamerikanischen Wüsten wird
als ein guter geschildert; obzwar die natürlichen
Zustände eine mehr rauhe Lebensweise bedingen,
so besitzen die Menschen dort auch schätzbare
Eigenschaften, nämlich Männlichkeit und Aufrich-
tigkeit. Fehlinger.
Über Nervenendigungen auf dem Schmetter-
lingsflügel betitelt sich eine Arbeit von K. Guen-
ther (Zoolog. Jahrbücher, Abteilung für Anatomie
und Ontogenie der Tiere. XIV. Band. 4. Heft.
1901. G. Fischer in Jena).
Die Flügel der Lepidopteren waren lange Zeit
für „tote Körperanhänge" angesehen worden.
Später untersuchten dann verschiedene Autoren
die feinere Struktur der Flügel genauer. .Semper
beschrieb als erster die eigentümlichen, rundlichen
Schuppenbildungszellen und identifizierte die Haare,
die sich auf den F"lügeln finden , mit den eigent-
lichen Schuppen, da beide eine gleiche Bildungs-
weise haben. Von späteren Autoren sind es noch
Spuler, Mayer und Weißmann, die den Bau und
die Entwicklung des Schmetterlingsflügels genauer
untersuchten. Semper hatte zwar schon beobach-
tet, daß ein Nerv in den Flügel eintritt, war sich
jedoch über den Zweck desselben nicht klar ge-
worden.
Guenther untersuchte nun die Flügel verschie-
dener Papilioniden, Vancssen, Pieriden, Lycaeniden
und Sphingiden und fand auf denselben drei Arten
von Sinnesorganen: i. Sinnesschuppen, 2. Sinnes-
stacheln, 3. Sinneskuppeln.
Die Sinnesschuppen, die wir als modifizierte
Haargebilde aufzufassen haben, finden sich nur in
der Umgebung der Flügeladern. Verfolgen wir
den schon oben erwähnten Flügelnerven, so sehen
wir, wie er sich in zahlreiche kleine Astchen teilt;
letztere stehen mit besonderen Sinneszellen , die
zwischen den gewöhnlichen Hypodermiszellen
liegen, in \^erbindung. Von diesen Sinneszellen
gehen wiederum feine Ausläufer aus, welche die
Chitinmembran des Flügels in einem feinen Kanal
durchsetzen und an die Basis der Sinnesschuppen
herantreten. Daß die Nerven in die Schuppen
selbst eindringen, hat der Verf. nicht beobachtet,
vielmehr nimmt er an, daß die Schuppe durch
Druck den Nerven reizt.
N. F. m. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
667
Die Sinnesstacheln unterscheiden sich von den
Haaren außer durch ihre Dicke noch dadurch,
daß sie in eine derbe Spitze auslaufen und mit
der Cuticula des Flügels fest verbunden sind. Sie
stehen besonders am Rande der Flügel. Da es
dem Verf. gelang, bei Anwendung von Osmium-
säure große, dunkelgefärbte Zellen an der Basis
der Stacheln zu beobachten, so ist hiermit die
Funktion der Stacheln als Sinnesorgane bewiesen.
Ein Zusammenhang mit einem Nervenast konnte
jedoch nicht nachgewiesen werden, da es bei der
relativ geringen Anzahl von Stacheln immerhin
schwierig ist , einen Schnitt zu finden , auf dem
Nervenast und Endapparat deutlich zu sehen sind.
Die Sinneskuppcln sind die merkwürdigsten
von diesen drei Sinnesorganen. Sie liegen in
größerer Anzahl in den Flügelrippen unregelmäßig
zerstreut und bestehen im wesentlichen aus einem
Chitinring und einer sich darüber wölbenden zarten
Chitinkuppcl, die nirgends eine Durchbohrung
zeigt. Von den Zellen, die unterhalb der Kuppel
liegen, fällt besonders ein große Zelle mit großem,
runden Kern, mit peripherisch angeordnetem
Chromatin und mit großem Nucleolus auf. Von
der einen Seite tritt an diese Zelle ein Astchen
des Flügelnerven heran; andererseits entsendet sie
einen Fortsatz nach der Chitinkuppel hin. Jedoch
füllt dieser Nerven fortsatz den Porenkanal, d. h.
den Durchführungskanal durch die Chitinmembran,
nicht ganz aus; der freibleibende Teil des Kanals
läßt in seinem Innern rings um den Zellfortsatz
eine zarte Streifung erkennen, über deren Natur
nichts ausgesagt werden kann. An der Stelle,
wo der Nervenfortsatz die Kuppelmembran be-
rührt, konnte der Verf. bisweilen einen kleinen
schwarzen Strich beobachten.
Die Deutung der physiologischen Funktion
dieser drei Sinnesorgane ist , wie in allen diesen
Fällen, nicht ganz sicher. Der anatomische Bau
der Sinnesschuppen läßt eine chemische Perzeption
als ausgeschlossen erscheinen. Wahrscheinlich
haben wir es hier mit einem Sinnesorgan zu tun,
das imstande ist, Veränderungen des Luftdruckes
zu perzipieren. Man hat hierbei an eine Sinnes-
tätigkeit zu denken, wie wir sie z. B. bei den
Fledermäusen finden, die bekanntlich im schnell-
sten Fluge vor Gegenständen etc. ausweichen,
noch ehe sie dieselben wirklich berührt haben.
Diese Annahme paßt auch zu der biologischen
Tatsache, daß viele Abend- und Nachtschmctter-
linge auch bei völliger Dunkelheit sehr schnell
und sicher fliegen. Ebenfalls für mechanische
Empfindungen scheinen die Sinnesstacheln einge-
richtet zu sein. Die Sinneskuppeln möchte der
Verf. mehr als Gehörorgane auffassen, was ja nach
dem anatomischen Befund wohl möglich ist.
Außer den drei Typen von Sinnesorganen be-
schreibt der Verf. noch andere Schuppen und
Haare auf dem Schmetterlingsflügel: Drüsen-
schuppen und Drüsenhaare. Die ersteren liegen
in den Flügelfeldern und stehen mit großen Zellen
in Verbindung; der Kern dieser letzteren ist ver-
schieden gestaltet, und außerdem enthält die Zelle
eine scharf abgegrenzte, größere Vakuole, die
wahrscheinlich das Drüsensekret enthält. Ganz
ähnlich sind die Verhältnisse bei den Drüsen-
haaren, die der Verf als erste Anfänge von
Drüsenschuppen betrachtet.
Weder die Drüsen- noch die Sinneszellen ent-
wickeln sich nach Ansicht des Verf aus Schuppen-
bildungszellen; bei der Untersuchung eines be-
stimmten Puppenstadiums fand er nämlich stets
zwei Zellen, eine größere und eine kleinere, die
mit den Schuppen in Verbindung standen; aus
der größeren wird die Schuppenzelle, aus der
kleineren dagegen die Drüsenzelle. Interessant ist
es auch, daß sich bei Pieris napi Schuppen finden,
die nicht nur innerviert werden, sondern auch eine
Drüsenzelle besitzen. Ernst Röhler-Jcna.
Die Formen, Farben und Bewegungen
der Vögel, ästhetisch betrachtet. K. Moebius
(Situngsbcr. d. kgl. preuß. Akad. d. Wiss. 1904.
VIII).
Es mag paradox erscheinen , ist aber doch
eine Tatsache , daß viele der zoologischen und
botanischen Systematiker den Sinn für naive Natur-
betrachtung und mit ihm die F"reude am Schönen
in der Natur eingebüßt haben. Das Interesse an
den morphologischen Details und der phylogene-
tischen Verwandtschaft drängen beim Systematiker
die Betrachtung der ästhetischen Eigenschaften
völlig in den Hintergrund. Ein Botaniker sieht
in einem herrlichen Strauß Chrysanthemen eine
,, zwecklose Ansammlung vieler Exemplare der-
selben Spezies." Moebius erzählt in der oben
zitierten .Schrift, deren Inhalt im folgenden aus-
zugsweise mitgeteilt werden soll, daß ein ausge-
zeichneter Ornithologe ihm auf die Frage: ,, Welche
Vögel halten Sie für die schönsten ?" antwortete :
„Daran habe ich noch nicht gedacht."
Der Autor, der bekannte Berliner Zoologe,
hat sich erfreulicherweise genügend Unbefangen-
heit bewahrt, um das Schöne in der Tierwelt zu
sehen imd sich daran freuen zu können und es
ist dankenswert, daß einmal das ästhetische Mo-
ment in der Naturbetrachtung zum Gegenstand
einer Kritik gemacht wird.
Die Vögel sind wohl das geeignetste Objekt
für eine ästhetische Betrachtung. Abgesehen von
der Anmut und dem Ebenmaß der Gestalt, der
Schönheit der Farbe, ist es vor allem die Leichtig-
keit und Schnelligkeit ihrer Bewegungen , häufig
auch noch die wohllautende Stimme, die auf den
Beobachter großen Reiz ausübt.
Wir nennen einen Vogel dann schön, wenn er dem
Vogelideal, das wir uns erfahrungsgemäß gebildet ha-
ben, entspricht. Dieses Idealbild ist nicht angeboren,
sondern erworben. Durch wiederholte Beobach-
tung verschiedener Vögel erhalten wir viele Er-
innerungsbilder ihrer Formen und Bewegungen
und daraus konstruieren wir uns ein ideales Bild,
mit dem wir stets den gerade vor Augen befind-
lichen Vogel vergleichen. Finden wir eine Über-
668
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 42
einstimmung zwischen dem Obje]<t und dem Ideal,
Sü ist uns dies angenehm ; diese Übereinstimmung
führt uns dann zu dem Ausspruche; „Dieser Vogel
ist schön." Herrscht andererseits eine große
Divergenz zwischen beiden, so fühlen wir uns un-
angeneiim berührt, wir neimen den Vogel häßlicii.
Um einen Vogel schön zu finden , ist es ferner
nötig, daß derselbe als eine aus Teilen zusammen-
gesetzte Einheit wahrgenommen wird. Bei der
Betrachtung eines balzenden Pfauhahns zum Bei-
spiel ist es die Harmonie im Zusammenwirken
aller Teile, die im Beschauer das Gefühl des
Wohlgefallens, der ästhetischen Befriedigung er-
weckt. Man ist sich dessen nicht bewußt, daß
man einerseits die länglich - ovale Körperform,
andererseits die fächerförmige Ausbreitung der
Schwanzfedern und die Lage der beiden Hügel
in Übereinstimmung findet mit den Gesetzen des
Gleichgewichts. Auch die allmählich zunehmende
Größe der augcnförmigen Flecke auf den Schwanz-
federn füiirt zur Vorstellung der Einheit.
Ein weiteres Moment ist endlich die Mannig-
faltigkeit der Formen. Einheit allein wiirde den
Eindruck von Einförmigkeit und damit Überdruß
hervorrufen. Ein Wechsel der Formen wirkt be-
lebend und anregend.
Drei Eigenschaften sind es hauptsächlich, die
für die Beurteilung der Vögel vom ästhetischen
Standpunkt aus in Betracht kommen : die Form,
die Farbe und die Bewegungsweise.
Die Hauptmasse des idealen Vogelkörpers
bildet der spindel- oder eiförmige Rumpf, der
ganz mit Federn bedeckt ist. Lange Beine z. B.
wirken unschön, weil sie als relativ unwichtige
Organe die Aufmerksamkeit von der Hauptmasse,
dem Rumpfe, ablenken. Ein Federbusch am
Kopf wirkt im Gegensatz dazu wohlgefällig, weil
sich aus der Haltung des Kopfs auf die Gefühle
des Trägers Schlüsse ziehen lassen. Kahle Stellen,
gleichgültig wo, mißfallen , weil wir den Anblick
eines einheitlichen Federkleides gewohnt sind.
Schwanzfedern wirken ästhetisch , wenn sie sym-
metrisch angeordnet sind. Sind sie gebogen, so
wird dadurch die Schönheit vermehrt (Leierschwanz,
Paradiesvogel).
Naturgemäß spielen die I-'arben bei der ästhe-
tischen Betrachtung des Vogelkörpers eine große
Rolle. Nur bei einfarbigen Vögeln überwiegt der
Eindruck der Form. — Grelle, unvermittelt auf-
tretende P'arben wirken unschön, weil sie die
Einheit stören, Farbenübergänge gefallen, weil sie
zur Einheit führen. Durch Glanz kann die F"arben-
wirkung noch erheblich gesteigert werden.
Zuletzt noch ein Wort über die Bewegung.
Sehen wir von den an Zahl ohnedies spärlichen
Lauf- und Schwimmvögeln ab, so ist der Flug
vom ästhetischen Standpunkt betrachtet die schönste
Fortbewegungsart. Vor allem ist es die Leichtig-
keit und Mühelosigkeit, sowie die Schnelligkeit,
die uns am Fluge so fesselt. Ein Flug, bei dem
wir den Eindruck mühevoller Anstrengung haben
wie z. B. bei den Kurzflüglern, gefällt nicht. Viel
schöner wirkt der Flug der Raubvögel. Der
Adler zieht seine Kreise, ohne merklich seine oft
enorme Spannweite erreichenden Flügel zu be-
wegen, eine kleine Bewegung mit dem Schwänze
bewirkt schon eine Änderung der Flugrichtung.
Um es kurz zusammenzufassen, haben wir also
in einem schönen Vogel verschiedenes uns be-
kanntes Gesetzliches vereinigt zu einer sinnlich
anschaubaren, uns erfreulich fesselnden Einheit.
Dr. G. Stiasnj'.
I'" ranz B u c h e 11 a u beschreibt in den Ber. d.
Dtsch. Bot. Gesellsch. Bd. 21, 1903, S. 417 — 424,
den bemerkenswerten und außerordentlich seltenen
Fall der Entwicklung von Staubblättern im
Innern von Fruchtknoten bei Melandryum
rubrum Garcke. Die Beobachtung wurde an
einer kleinen Gruppe von Exemplaren dieser
Pflanze aus der Nähe von Marburg gemacht. An
den Pflanzen fiel das Fehlen der Kronblätter auf,
auch zeigten sie große Unregelmäßigkeit im Baue
der Fruchtknoten und in der Zahl der Narben.
Die vegetativen Teile, Stengel und Laubblätter,
waren normal gebaut und zeigten stark zottige
Fruclitknotcn einer abnormen Blüte , aufgesclilitzt und etwas
ausgcbrcilet; enthält sieben wohlausgebildetc Staubblätter.
und drüsige Behaarung. An keiner der Blüten
fand sich ein normal ausgebildeter Kelch vor.
Der l'"ruchtknoten zeigte eiförmige Gestalt statt
der normalen zylindrischen, etwas keuligen. Seine
Oberfläche war nicht lebhaft grün gefärbt und
kahl, sondern wenig glänzend und unten mit kur-
zen, zerstreuten, oben mit dichter stehenden und
längeren Haaren besetzt. An seiner Spitze trug
er mehr oder weniger gut ausgebildete, meist
stark gekrümmte Griffel. Auffallend stark traten
die Narben zutage, die selbst an den älteren Blüten
nicht verschrumpften, eine Eigentümlichkeit, die
wesentlich abweicht von dem Verhalten der nor-
malen weiblichen Blüte.
Im Innern des Fruchtknotens fehlte die zentrale
N. F. in. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
669
Placenta vollständig und damit auch die Samen-
anlagen. Aus dem Grunde des Fruchtknotens
aber erhob sich ein Kranz von normal ausgebil-
deten Staubblättern (meist 6 — 9), die sich bisweilen
untereinander verwachsen zeigten, was bei der
Enge des Raumes, in dem sie sich entwickeln
mußten , leicht begreiflich war. In den Staub-
beuteln fand sich eine große Menge von Pollen
(Blütenstaub) vor. Eine Sprengung der Frucht-
knotenwandung durch Streckung der Staubfäden
fand niemals statt; nur trat gelegentlich einmal
ein Staubbeutel aus der offenen Spitze des Frucht-
knotens hervor.
In einem Falle beobachtete Verf, daß an den
Rändern der den Fruchtknoten bildenden Blätter
(Karpelle) normal ausgebildete Samenanlagen
(Ovula), entstanden waren. Se.
Darstellung von Graphit aus Holzkohle
und Ton. — Nach J. VVeckbe cker (Metallurgie
1904, Bd. I, S. 137; 5 Abb.) werden aus einer
Mischung von Holzkohle, Teer und Aluminium-
oxyd oder Ton oder auch Magnesia Stäbe von
10 mm Durchmesser gepreßt, und in Holzkohle
eingepackt im verschlossenen Tiegel stark geglüht.
Dann werden diese Stäbe zwischen 2 Kohlen-
polen als Widerstände eingeschaltet. Stäbe von
100 mm Länge und 10 mm Durchmesser gaben
nach 5 Min. mit 24 Volt und 170 Amp. bei 1994°
96,99 % Graphit, wenn der Tonerdegehalt 30 "'„
betrug. Geht er auf 10 % zurück, so sank die
Ausbeute langsam; bei S"/,, betrug sie nur 66,1 1 f/,^,
war aber durch Erhöhung der Temperatur zu
steigern.
Ton liefert fast ebenso gute Resultate wie reine
Tonerde, es entsteht aber neben Graphit Karbo-
rund, so daß der Aschengehalt bis auf 2 "'o stieg.
Der Vorgang bei dieser interessanten Dar-
stellung von Graphit ist folgender: Es bildet sich
zuerst aus dem Kohlenstoff der Holzkohle und
dem Aluminium der Tonerde resp. des Tones
Aluminiumkarbid. Das Aluminium des gebildeten
Aluminiumkarbids verflüchtigt sich bei der hohen
Temperatur und der Kohlenstoff desselben bleibt
in Form von Graphit zurück.
Der Bildung von Graphit muß also die von
Karbid vorhergehen.
Für kontinuierlichen Betrieb sind Chamotte-
und Dinassteine als Ofenfutter nicht verwendbar.
Um unabhängig vom Ofenmaterial zu sein, wurde
ein Widerstandsofen aus Magnesitsteinen gebaut,
bei dem das Gemisch von Kohle und Tonerde
nicht mehr mit der Ofenwand in Berührung kam.
Dr. Odernheimer.
Vereinswesen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Am Freitag, den 8. April, hielt
im Theatersaal der alten Urania Herr Prof Dr.
R. Kolkwitz einen durch Lichtbilder illustrierten
Vortrag über „Die Süßwasserbiologie im Dienste
der Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung".
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung,
so führte der Vortragende aus, haben bei dem
z. T. sehr schnellen Anwachsen der größeren Städte
eine immer mehr zunehmende Bedeutung erlangt.
Besonders die Frage der Abwässerbeseitigung gibt
oft zu lebhaften Erörterungen Anlaß, da durch
Einleiten fauliger Wässer in Hüsse und Seen
häufis beereifliche Übelstände sich bemerkbar
machen.
Nach Berlin werden täglich gegen 200000 cbm
Trinkwasser gepumpt (aus Tegel (hartes) Grund-
wasser, aus Friedrichshagen (weiches) Müggelsee-
wasser), welche in ihrer Hauptmasse die Stadt als
Schmutz wasser wieder verlassen. Je nach-
dem nun solche aus den Städten abfließenden
Wässer gar nicht, unvollkommen oder weitgehend
(wie es für Berlin durch Rieselfelder geschieht)
gereinigt werden, wird man größere, geringe oder
gar keine Mißstände in den die Wässer aufnehmen-
den Flüssen oder Seen erwarten dürfen. Menge
der Abwässer und Wasserführung der Vorflut
kommen bei der Beurteilung der obwaltenden
Verhältnisse natürlich gleichfalls weitgehend in
Betracht. Bei hochgradiger Verschmutzung unserer
Flüsse stellen sich, wie gesagt, erhebliche Ubel-
stände ein, wie Geruchsbelästigungen, Fischsterben
und Verseuchung des Grundwassers. Geht die
letztgenannte sehr weit, so ist eine Benutzbarkeit
des Grundwassers für Trinkzwecke auf weite Strecken
hin ausgeschlossen. Wir sehen hieraus also, in
wie enger Beziehung Wasserversorgung und Ab-
wasserbeseitigung zueinander stehen können.
Es ist deshalb nur zu begreiflich, daß man
stets sorgsam bemüht war, Methoden auszuarbeiten,
durch welche im Verein mit einer örtlichen
Besichtigung eine recht präzise Beurteilung des
Reinheitsgrades der jeweilig zu untersuchenden
Wässer möglich ist.
Die am allgemeinsten bekannte diesbezügliche
Methode ist die chemische, welche uns unter
anderem angibt, wieviel mgr zersetzungsfähiger
organischer Substanz im Liter Wasser vorhanden
ist, womit neben P>mittelung anderer Stoffe, wie
z. B. Ammoniak, salpetriger und Salpeter-Säure
eine entsprechende Beurteilung ermöglicht wird.
Die zweite Methode ist die bakteriologische,
welche Anfang der achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts durch Robert Koch für Zwecke der
Wasseruntersuchung erdacht und ausgearbeitet
wurde. Sie ist in ihrer Handhabung sehr einfach
und wird deshalb vielfach geübt. Charakteristisch
für sie ist im Gegensatz zur erstgenannten Me-
thode, daß sie nicht das Wasser an sich prüft,
sondern etwas, das darin lebt, nämlich die Bak-
terien. Sind diese im ccm zu mehreren Millionen
vorhanden, so handelt es sich um ein Abwasser,
finden sich dagegen nur wenige im ccm, etwa
20 bis 100, so liegt ein trinkbares, gutes Wasser
vor. Fälle, in denen sich mehrere hundert oder
mehrere tausend Bakterienkeime im ccm finden.
670
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 42
kann im allgemeinen nur der F'achmann korrekt
beurteilen.
Die dritte Methode endlich ist die biologische,
welche in ihrer heutigen Gestalt erst neueren
Datums ist. Sie beschränkt sich nicht auf die
Untersuchung der im Wasser lebenden Bakterien,
sondern zieht zur Beurteilung die gesamten im
Wasser zu beobachtenden Lebensgemein-
schaften nach Möglichkeit heran, also niedere
Pflanzen und höhere Pflanzen, niedere Tiere und
höhere Tiere. Dabei werden nicht bloß die im
Wasser freischwebenden Organismen, das Plankton,
untersucht, sondern auch die an den Uferhängen
festsitzenden und die im Schlamm am Boden der
Gewässer eingebetteten. Die zum Erbeuten dieser
Organismen vor allem nötigen Apparate sind,
soweit es sich nicht um [-"ischfang handelt : das
Planktonnetz, der Pfahlkratzer, die Dretschc und
das Schlammsieb.
Diese dritte Methode gewährt zugleich einen
tieferen Einblick in diejenigen Faktoren, welche
bei der biologischen Selbstreinigung der Gewässer,
al^o dem Akt der Mineralisierung der Schmutz-
stoffe, eine Rolle spielen.
Jede dieser Methoden wird man natürlich da
anwenden, wo sie besonders wertvolle Dienste zu
leisten vermag, die jeweilig ihre Eigenart mit sich
bringt.
Aus dem vorstehend Gesagten ergibt sich klar,
daß eine prinzipiell wesentliche Erweiterung der
Wasseranalyse in Zukunft nicht mehr zu erwarten
sein wird, da die jetzigen Methoden schon alles
umfassen, was der chemischen (bei Durchsichtig-
keits- und F'arbenbestimmungen auch der physi-
kalischen) und biologischen Analyse zugänglich
ist. —
Im Bürgersaale des Rathauses sprach am Diens-
tag, den 19. April, unter Vorfülirung zahlreicher
Lichtbilder Herr Privatdozent Dr. A. Marcuse
über das Thema: ,, Eine astronomische Wanderung
durch unser Sonnensystem".
In einer kurzen Einleitung schilderte der Vor-
tragende zunächst die ideale und praktische Be-
deutung der Astronomie, indem er hervorhob, daß
die Beschäftigung mit den Grundlehren und Er-
gebnissen der Himmelskunde einen erhebenden,
vertiefenden und allgemein erzieherischen Wert
habe. Anknüpfend an den bekannten Ausspruch
Kant's von der Erhabenheit des gestirnten Himmels
über uns und der moralischen Welt in uns wurde
auch der Beziehungen zwischen der Astronomie
und der physiologischen Psychologie gedacht, da
ja erst durch astronomische Präzisionsmessungen
räumlicher und zeitlicher Intervalle die Erkenntnis
unserer gesamten Denk- und Empfindungsapparate,
welche niemals schnell und selten richtig arbeiten,
erschlossen wurde. Die praktische Bedeutung der
Astronomie liegt in der Verwertung ihrer Me-
thoden und Ergebnisse für die geographische Orts-
bestimmung bei Landreisen, Seereisen und Dauer-
fahrten im Luftballon, deren Sicherung nur durch
astronomische Orientierungen gegeben wird. Ferner
beruhen die für das praktische Leben so wichtigen
Gebiete des Zeitdienstes und der Zeit- oder Kalender-
rechnung ebenfalls ausschließlich auf astronomischen
Messungen.
Nunmehr schilderte der Vortragende an der
Hand einer großen Reihe von Projektionsbildern,
welche nach photographischen Originalaufnahmen
in den größten Fernrohren der Erde hergestellt
sind, die Welt der Fixsterne, Nebelflecke, Stern-
haufen und vor allen Dingen die Körper unseres
Sonnensystems. Beginnend mit der Sonne und
dem sonnennächsten Planeten Merkur werden die
großen Planeten Venus, Mars, Jupiter und Saturn
in Wort und Bild vorgeführt. Daran schloß sich
die große Reihe der kleinen Planeten, deren photo-
graphische Entdeckungsweise erörtert wurde, ferner
die Welt der Kometen und Meteore, die in ihren
charakteristischen Eigenschaften zur Beschreibung
gelangte. Zum Schluß kam der Mond, dessen
topographische Beschaffenheit an der Hand zahl-
reicher Abbildungen ausführlich erörtert wurde.
Der Vortrag schloß mit einer kurzen Betrachtung
über die mathematische Erfassung der Bewegungen
in der Natur, wie sie am klassischsten in der
Himmelsmechanik zum Ausdruck kommt. —
Unter Führung des Herrn Geh. Bergrats Prof.
Dr. Wahnschaffe wurde am Sonntag, den
24. April, von einer Anzahl von Mitgliedern ein
Ausflug nach dem Gifhorner Hochmoor unter-
nommen. —
Am Freitag, den 29. April, sprach im Theater-
saal der alten Urania, der sich bis zum letzten
Platz gefüllt hatte, der Afrikareisende Herr C. G.
Schillings über ,,Neue F"orschungen in der ost-
äquatorialen Wildnis" unter Vorführung seiner
neuesten Tag- und Nachtaufnahmen afrikanischer
Tiere in Freiheit. Die Aufgabe, in deren Dienst
sich schon seit Jahren Herr Schillings mit so aus-
gezeichnetem Erfolge gestellt hat, das vielgestaltige
Tierleben unserer ostafrikanischen Kolonie durch
Momentaufnahmen auf der photographischen Platte
festzuhalten, muß für die Wissenschaft um so wert-
voller und wichtiger erscheinen, als durch die un-
aufhaltsam fortschreitende Kultur die reiche und
gewaltige Fauna einer immer schnelleren Ver-
nichtung anheimfällt. So manche Tierart ist schon
durch das unvernünftige Eingreifen des Menschen
vom Erdboden verschwunden , und trotz aller
Gegenmaßregeln hält die unvernünftige Ausrottung
der Tiere in den Kolonien an. Es wird vielleicht
nicht allzulange mehr dauern, so wird auch der
afrikanische Elefant, der alljährlich des bischen
Elfenbeins wegen zu vielen Tausenden hingemordet
wird — im Laufe eines Jahres wurden nicht weniger
als 18 500 von diesen Tieren nachweislich erlegt —
durch die unersättliche Habgier des Menschen dem
gleichen Schicksal zum Opfer gefallen sein. In
wechselvollen prächtigen Bildern zog während des
Vortrages das Tierleben der ostafrikanischen Wildnis
vor den Augen der Zuhörer vorüber. Zuerst die
Vogelwelt der Steppe, deren Sümpfe von Un-
massen von Flamingos, Fischreihern, Pelikanen,
N. F. ni. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
671
Marabuts, Störchen und Kranichen belebt sind,
dann die größeren Säugetiere, bald in idyllischer
Ruhe zu Rudeln vereint und vergesellschaftet oder
wie jene beiden riesigen alten Elefantenbullen mit
ihrem unzertrennlichen Freunde, einer riesigen
männlichen Giraffe, an den Abhängen des Kili-
mandscharo ein Einsiedlerleben führend, bald mit
allen Anzeichen der Erregung, sei es vor dem ver-
folgenden Feinde fliehend, oder die einen ängstlich
und scheu, die andern gierig und lauernd zur
Tränke schleichend. Gerade die Wiedergabe der
nächtlichen Szenen an den Wasserstellen, zu denen
meilenweit die Tiere zusammenströmen, um ihren
Durst zu stillen, und an denen die großen Raub-
tiere mit Vorliebe ihrer Beute nachgehen, waren
wohl das Vollendetste, was die Geschicklichkeit
und Kunst des kühnen Photographen zuwege ge-
bracht hat. Nicht enden wollender Beifall belohnte
Herrn Schillings für den genußreichen Abend, den
er den Mitgliedern der Gesellschaft geboten hatte.
1. A.: Dr. Vf. Greif, I. Schriftführer,
SO 16, Köpeaickerstraße 142.
Verlag des Kolonial-
Berlin 1903. — Preis
und nicht im Jahre
Bücherbesprechungen.
„Kunene-Sambesi-Expedition. H. Baum 1903".
— Im Auftrag des Kolonial-Wirtschaftlichen Ko-
mitees herausgegeben von Prof. Dr. O. \V a r b u r g.
Mit einem Buntdruck, 12 Tafeln, i Karte und
108 Abbildungen im Text.
Wirtschaftlichen Komitees.
20 Mk.
Als im Jahre 1899 —
1903, wie man aus der wunderlichen Titelbildung
schließen könnte ! — die Companhia de Mossa-
medes eine Expedition zur Untersuchung des süd-
lichen Angola unter der Leitung des Herrn Pieter
van der Kellen entsandte, vereinigten sich das Kolo-
nial-Wirtschaftliche Komitee in Berlin und die South
West-Afrika Company in London zu gemeinsamer
Beteiligung, indem eine Aufforderung in die deut-
schen Lande erging, der zufolge ein deutscher Bota-
niker von genannten beiden Organisationen ausge-
rüstet werden sollte , so daß derselbe ohne eigene
Kosten und unter sonstigen günstigen Bedingungen
diese Untersuchungsexpedition begleiten konnte. Es
ist kein besonders gutes Zeichen für unsere junge
Gelehrtenwelt, daß sich nur zwei Bewerber meldeten,
von denen der Gärtner H. Baum gewählt wurde.
Dieser Mann hat nun seine nächste Aufgabe voll
und ganz gelöst. Das Ergebnis seiner Arbeiten, wel-
ches hier in einem ca. 150 Seiten langen Reisebericht
und in einer ca. 250 Seiten umfassenden eingehenden
Bearbeitung der botanischen Ergebnisse durch eine
große Anzahl von Fachgelehrten vorliegt , hat auf
dem Gebiete der Pflanzenkunde in Zukunft einen
ehrenvollen Platz zu beanspruchen. Auch der frag-
mentarische Anhang, eine ca. 50 Seiten umfassende
Charakterisierung der Antilopenarten, Lepidopteren und
Ameisen ist erwähnenswert, tritt aber stark in den
Hintergrund. Der Reisebericht verrät durchgehend
den Botaniker. Es ist zu bedauern, daß den botani-
schen Resultaten gegenüber alle anderen Disziphnen
so außerordentlich stark zurücktreten. Man sollte
annehmen, daß eine für ein Kolonial-Wirtschaftliches
Komitee ausgeführte Reise auch auf anderen wirt-
schaftlich wichtigen Gebieten Resultate mit heim-
bringen muß. Die eigentlich wirtschaftliche Betrach-
tung des Landes, weiche auf 3 Seiten beschränkt ist,
muß jedoch als allzu oberflächlich bezeichnet werden,
um überhaupt von Wert zu sein. Schon die ange-
fügte Kartenskizze, die keinerlei Terrainbildung er-
kennen läßt, die in ihrer rohen Konturenzeichnung
stark an Sekundanerleistungen erinnert und in
idealer Selbständigkeit jedes ältere Material ignoriert,
muß uns stutzig machen. Es ist keineswegs meine
Absicht, mit diesen Worten die Leistung des Herrn
Baum, der als sammelnder Botaniker Hervorragendes
geleistet hat , herabzusetzen. Die Ergebnisse einer
solchen Arbeit des Sammeins und des späteren Be-
stimmens hätten aber genau gerade so gut und mit
viel mehr Recht in den Veröftentlichungen einer
Akademie Platz gefunden. Die eigentlich geographi-
sche Reisebeschreibung konnte in konzentrierter Form
gerade so gut etwa im Globus aufgenommen werden.
Wozu nun dieses Buch? Nachdem ich das Werk
mehrmals durchgearbeitet habe , bin ich zu dem
SchlulJ gekommen , daß lediglich die ausgezeichnete
Studie von Prof. O. Warburg über die pflanzengeo-
graphischen Ergebnisse im Umfange von 35 Seiten
dies Buch rechtfertigen.
Ich betone nochmals, daß die botanischen Er-
gebnisse und Arbeiten ganz ausgezeichnete sind, daß
ich dieselben nur als zu spezialwissenschaftlich er-
achte, um ein derartiges „Reisewerk'' zu berechtigen.
Wir sollten doch mit den dem deutschen Volke und
der geographischen Wissenschaft vorgelegten Büchern
etwas vorsichtiger sein. Jeden Freund unserer Kolo-
nien, jeden Geographen und speziell Wirtschafts- und
Kulturgeographen muß es nachgerade mit einer ge-
wissen Bangigkeit erfüllen , daß im Laufe der letzten
Jahre die entsprechende Literatur, man möchte fast
sagen, abgestorben ist. Wo sind die Leute gehlieben,
die wie Schweinfurth, Bartli, Nachtigall, Junker, Wolfif,
Baumann, Stuhlmann, Lenz, Rohlfs, Pogge etc. einen
weiten Blick für die Gesamtheit der Natur- und
Kulturverhältnisse neu zu erschließender Länder
hatten. Die Arbeiten von Passarge, Hutter, Klose
liegen wie einzelne Oasen in einer absolut toten
Periode. Hunderte von gebildeten Deutschen durch-
ziehen heute die afrikanischen Länder und wenn
das Volk heute weitere geographische Anregungen
wie sie ein Kolonialwirtschaft treibendes Volk ver-
langt , sucht , so muß es nach alten Werken greifen.
Gewiß freut sich der Fachmann über ein Werk wie
dieses von H. Baum, des tüchtigen Obergärtners zur
Zeit am botanischen Garten in Rostock. Aber indem
wir gerade dieses Werk in die Hand nehmen , fällt
uns das Traurige im Gesamttypus unserer derzeitigen
geographischen Afrikaliteratur auf.
Ich habe mir die Frage vorgelegt, worauf der
charakterisierte Mangel zurückzuführen ist. Wenn nur
mancher Kollege und mancher Beamte unserer Kolonial-
regierung hierauf geantwortet hat , daß wir heute
6/2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 42
nicht mehr in der Zeit der epochemachenden Er-
schließungsreisen stehen und daß heutzutage die Auf-
gaben andere geworden sind, daß wir z. B. einerseits
die spezialwissenschaitlichen Untersuchungen und
andererseits die pral:tischen wirtschaftlichen Studien
zu fördern hätten, so bin ich vollständig bereit, mich
auch über diese Spezialisierung und über diese prak-
tische Geschäftsführung zu freuen, kann aber nicht
umhin, trotzdem unseren maßgebenden Instanzen und
auch dem sehr verehrten und in vieler Hinsicht er-
sprießlich wirkenden Kolonial-Wirtschaftlichen Komitee
ein videant consules zuzurufen. Gewiß : videant con-
sules! Das deutsche Volk ist ein eigenartiges Volk
und will nach seiner Eigenart auch behandelt sein.
Um etwa ein englisches Volk zur Beteiligung an der
Kolonisationstätigkeit anzuregen, wird es oftmals ge-
nügen, fröhliche Jagdbücher und Räubereigeschichten
zu verbreiten. Dem angeregten Jäger folgt dann bei
den Engländern stets der Kolonisator. Für ein fran-
zösisches Volk mag es genügen , von der gloire der
französischen Vorherrschaft in Afrika zu reden, um
Kapitalien für die Kolonisation flüssig zu machen.
Ganz anders das deutsche Volk. Es ist falsch, wenn
man etwa glaubt, daß Berichte über eine speziell
botanische Expedition oder auch die Aussendung
spezieller Baumwolle.xpeditionen etc. die Volksseele
so packen, daß sie mitempfindet. Das deutsche Volk
ist zu seiner Kolonisationsarbeit durch Männer ange-
regt worden, die wie ein Humboldt, ein Schweinfurth,
ein Nachtigall usw. Gesamtbilder des organischen und
anorganischen Werdens in fremden Ländern schufen.
Das war in diesem Sinne Volksnahrung. Noch heute
greift der Gebildete Deutschlands zu diesen Büchern.
Das uns hier interessierende Buch wird der Deutsche,
wie ich ihn kenne, liegen lassen. Demnach also
mögen die maßgebenden Körperschaften dafür Sorge
tragen, daß der Strom dieser Volksunterhaltung nicht
versiege. Werke wie die von H. Baum sind dankens-
wert , wenn neben ihnen größere , weitschauendere
Geister von fernem Land und Leuten erzählen. Sie
wirken aber tötend , wenn sie allein und ohne eine
lebendigere Begleitmannschaft in die Volksliteratur
einwandern. Man schaue, daß man nicht nur prak-
tisch und nicht nur spezialwissenschaftlich predige.
Der Gärtner H. Baum hat als Gärtner geradezu Her-
vorragendes geleistet. Das Kolonial-Wirtschaftliche Ko-
mitee hätte sich aber bei Aufwendung gleicher Mittel
noch größeren Dank vom deutschen Volke verdienen
können : meldete sich nicht ein auch in weiterem
Sinne entsprechend wissenschaftlich vorgebildeter Bo-
taniker , so hätte das Komitee einen Naturwissen-
schaftler anderer Disziplin, etwa einen Wirtschafts-
geographen hinaussenden sollen , der die botanische
Sammelarbeit ebenfalls erledigen konnte und dabei
mehr sah. Videant consules! Leo Frobenius.
Briefkasten.
Herrn Oberrcallehrer K. in L. — Kristallnctze zum Selbst-
anfertigen von Modellen erhalten Sie im Verlag von A. Pich-
ler's Witwe & Sohn, Wien, Margaretenplatz 2. Dort sind
erschienen i. von Prof. Dr. Gerstendörfer, Große Kristall-
formennelze zum Schulgebrauche. 32 isometrische Netze auf
10 Kartontafeln. Die Hauptachse 16 cm lang. — Format
46 : 64 cm. Preis 6 K. ; 2. von Realschuldirektor Ludwig
Rothe, Kristallnetze zur Verfertigung der beim mineralogischen
Anschauungsunterricht vorkommenden, wichtigsten Kristall-
gestalten. 3 Tafeln mit erläuterndem Text. 9. Aufl. Preis
60 h. ; 8 Tafeln, enthaltend 52 Netze auf Karton, mit er-
läuterndem Te-Kt. Preis in Mappe 1,50 K. Harbordt.
Herrn W. F. E. in Berlin. — Frage 1 : Durch welche
Kraft, resp. aus welcher Ursache vollführen die Embryonen
des A-xclotTs (Amblystoma tigrinum) im Ei langsame
Drehungen? — Die Bewegungen, die zuerst von Joly bc-
obaclitet wurden (Revue des Sciences naturelles T. 1, p. 23,
1872) und diesem Forscher meist als Drehungen von links
nach rechts erschienen, nach van Bambe ke's Beobachtungen
dagegen kopfüber erfolgen (Archives de Biologie, T. I, p. 327,
1880) und nach Stieda sehr häufig auch ganz ausbleiben
(Silzungsber. d. Dorpater Naturf.-Ges. 1875, S. 11), sollen
nach Robin durch schwingende Cilien bewirkt werden
(Journal de FAnatomie et de la Physiologie 1874, p. 385).
Frage 2 ; Wie kommt es, dai3 die Eier des Axolotl's an
der Oberseite, die später den Rücken des Tieres liefert, schwarz,
unten dagegen weiß sind ? Macht die erblich gewordene
Hautfärbung sich, im Gegensatz zu den Fischen, hier schon
im Ei bemerkbar oder handelt es sicli auch beim Ei um eine
Schutzfärbung? — Die dunkle Färbung des Amphibieneies
dürfte weder physiologisch noch morphologisch mit der Fär-
bung des ausgebildeten Tieres in Verbindung zu bringen sein.
— E)ie Amphibien sind, ganz allgemein gesprochen, im
Gegensatz zu den Fischen, die Bewohner der kleinen, leicht
austrocknenden Gewässer. Die Eier müssen sich also schnell
entwickeln, sogar in der kühlen Jahreszeit unter den äußerst
ungünstigen Bedingungen, welche die wechsclwarmen Tümpel
bieten und deshalb müssen Einrichtungen vorhanden sein,
welche die Sonnenwärme in erhöhtem Maße binden und zur
Wirkung kommen lassen. Als eine solche Einrichtung stellt
sich zweifellos die dunkle Färbung dar. Ich erinnere nur an
das bekannte Experiment: Ein schwarzes und ein weißes Stück
Tuch wird bei Sonnenschein auf den Schnee gelegt. Das
schwarze sinkt ein, das weiße nicht. Um eine Schutz-
färbung kann es sich sicher nicht handeln: Gerade bei den-
jenigen Arten, welche im allerersten Frühling ihren Laich in
ganz flachen Gewässern ablegen, sind die Eier am dunkelsten.
Der Laich ragt hier oft teilweise aus dem Wasser vor und
fällt dann ganz außerordentlich in die Augen. Eine Schutz-
einrichtung ist freilich vorhanden, dieselbe ist aber in der
dicken (iailerthülle zu suchen, welche nicht nur die Wirkung
der Nachtfröste abhält, sondern auch den Nährwert des Eies
im Verhältnis zur Masse stark herabsetzt, so daß der Laich
von wenigen Tieren gefressen wird. — Daß die Pigment-
körner des Eies mit den Pigmentzellen der Larve morpho-
logisch nicht im Zusammenhang stehen, sclieint allgemein an-
erkannt zu sein. Van Bambeke sagt, daß die Masse des
Pigmentes sich im Ei nicht vermehre, sondern zerteile (Bulle-
tins de l'Academie des Sciences des Lettres et des Beaux-Arts
de Belgic|ue, 66. annee (3 ser. T. 31) 1896 p. 40). Aus der
Tafel XII, welche derselbe Autor in den Archives de Biologie
(T. I, 1880) von der Entwicklung des Axolotl's gibt, ist das
Schwinden oder eigentlich die Verteilung des Pigments im
Ei und das Neuauftreten der Pigmentzellen beim l^mbryo klar
ersichtlich. Wo die Pigmentzellen beim Embryo entstehen,
ob in der Epidermis oder in der Cutis, darüber sind die An-
sichten der Forscher freilich noch geteilt. (Vgl. Rabl in
Anatom, .'\nzeiger Bd. 10, p. 12 — 17, 1895.) Dahl.
Inhalt: Dr. S. l'assarge: Die Inselsberglandschaften im tropischen Afrika. — Kleinere Mitteilungen: R. Dodgc:
Über Einwirkungen der Wüstenzustände auf den Menschen. — K. Guenther: Über Nervenendigungen auf dem
Schmetterlingsflügel. — K. Moebius: Die Formen, Farben und Bewegungen der Vögel, ästhetisch betrachtet. —
Franz Buchenau: Entwicklung von Staubblättern im Innern von Fruchtknoten bei Melandryum rubrum (iarcke. —
J. Weckbecker: Darstellung von Graphit aus Holzkohle und Ton. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen:
„Kunene-Sambesi-Expedition. H. Baum 1903". — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfeldc-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Di6 NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 24. Juli 1904.
Nr. 43.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der l'ost
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Pclitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Heilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Wumenstraße 46, Buchhändlerinscrate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Vergleichende Betrachtungen über die ältesten ägyptischen Darstellungen von
Volkstypen.
[Nachdruck verboten,]
Vom Geheimen Medi/.in.ilrat Prof. l)r, G. Fritsch.
I.
Die in den vorliegenden Blättern niedergelegten
Vergleichungen beziehen sich auf Ägypten, das
„Wunderland", wie es mit einem ehrenden Bei-
worte häufig genannt wird. Und in der Tat, stets
neue Überraschungen gebiert dieser scheinbar un-
erschöpfliche Boden, noch heute gilt das vor mehr
als tausend Jahren geprägte Wort: „Semper aliquid
novi ex Africal" Aus der Fülle wichtiger Ent-
hüllungen, welche die ägyptische F'orschung im
Laufe der Zeiten lieferte, schöpfen mancherlei
Wissenschaften ihr Beobachtungsmaterial ; darunter
interessiert an dieser Stelle besonders die Ver-
wertung gewisser, daselbst festgestellter Tatsachen
für die Abstammungslehre.
Die Möglichkeit bestimmte Tierformen, z. B.
den bekannten heiligen Ibis Ägyptens, mit Hilfe
der aufgespeicherten Reste in ihrer Entwicklung
durch Jahrtausende zu verfolgen, führte zu der
Erkenntnis, daß die körperlichen Merkmale in so
verhältnismäßig langen Zeiträumen sich merk-
würdig treu geblieben sind, und diese als „Kon-
stanz der Charaktere" bezeichnete P^rscheinung
wurde vielfach als ein wichtiger Beweis gegen die
Umwandlung der .'\rten überhaupt verwertet. Offen-
bar war solche Schlußfolgerung, wie schon Ch.
Darwin ausführte, voreilig; denn abgesehen davon,
daß die Tatsache selbst bei der Unsicherheit der
Mumienvergleichung mit den lebenden Formen
kaum genügend sichergestellt ist, und der alt-
ägyplische Ibis in Wirklichkeit robuster gewesen
sein dürfte als der jetzige, so würde dieselbe nur
beweisen, daß die Existenzbedingungen für diese
Tierform in den Hauptzügen durch die Jahrtausende
dieselben geblieben sind, und somit auch keine
Veranlassung zu tiefgreifenden Abänderungen ge-
geben war.
Es kann allerdings nur gesagt werden : ,,in den
Hauptzügen"; denn je mehr wir jetzt durch die
neu erschlossenen Dokumente in die Erkenntnis
des Urzustandes eindringen, um so mehr müssen
wir einsehen lernen, daß auch der natürliche
Charakter des Landes selbst in wesentlichen Punkten
während dieser Periode einschneidende Umgestal-
tungen erfahren hat. Unzweifelhaft baute der
Fluß erst in diesen Jahrtausenden einen größeren
6/4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 43
Teil seines Delta auf, und der gänzlich unregulierte
Verlauf der gewaltigen Wassermassen schuf an
den Ufern seiner verzweigten Kanäle ausgedehnte,
schilfbewachsene Niederungen und Sumpfland,
welche dem mannigfachsten wilden Getier eine
sichere Zuflucht darboten. Hier werden sich alle
auf das Wasser angewiesene Formen in besonderer
Üppigkeit entwickelt haben, und damit würde die
oben angeführte Beobachtung am Ibis, wenn sie
sich als konstant herausstellte, in vortrefflicher
Übereinstimmung sein.
Aber es wird auch immer unzweifelhafter, daß
sich zu dem wilden Getier auch wilde Menschen
gesellten, die Trümmer einer wenig widerstands-
fähigen Urbevölkerung, welche vor feindlichen Ein-
dringlingen in diese unzugänglichen Schlupfwinkel
auswich. Solche Zustände werden durch die hiero-
glyphischen Darstellungen noch für Zeiten be-
stätigt, welche wir jetzt schon berechtigt sind den
wirklich historischen zuzurechnen. So wichen noch
unter den Ramessiden, also in der Zeit des neuen
Reiches, geschlagene lybische Stämme, um der
Vernichtung zu entgehen, in die unzugänglichen
Sümpfe des Delta aus, wie z. B. nach den blutigen
Kämpfen des Pharao Minephtah (1330) gegen diese
Stämme und selbst viel später (733), als der
Äthiopier Schabak das unterägyptische Reich unter
dem Pharao Bokenranf zerstörte.')
Solche kriegerischen Ereignisse waren verhält-
nismäßig bedeutungsvoll und wurden mit der be-
kannten Ruhmredigkeit auf den Denkmälern ver-
ewigt, aber die unscheinbare Existenz harmloser
Bewohner des Landes war nicht der Mühe wert
von dem Hierogrammaten berücksichtigt zu werden.
Wir müssen uns, um ihre Existenz zu erweisen,
damit begnügen, daß beiläufig hier und da auf
solche niedrig siehenden Bevölkerungsklassen hin-
gewiesen wird, und es ist bezeichnend,-) daß sie
unter der Bezeichnung „Sumpfleute" angeführt
sind. In diese dunklen Zeiten der ägyptischen
Urgeschichte werfen nun unerwartet neuere
Entdeckungen grelle Schlaglichter, wodurch
trotz mancher dabei noch bestehen bleibender
Rätsel doch eine Basis der Beobachtung ge-
wonnen worden ist, auf der es sich wohl lohnt
weiter zu bauen. Die berühmten Ausgrabungen
der Herren Flinders Petrie und Morgan, sowie
unseres hochverehrten Schweinfurth haben ein so
reiches Material an das Tageslicht gebracht, daß
dadurch eine ganze Periode der Urgeschichte jener
Gegenden in rohen Umrissen umgrenzt werden
konnte, welche nach den bei dem Ort Negada
gefundenen Gräbern durch Flinders Petrie als
„Negada-Periode" bezeichnet wurde.'') Es erscheint
erforderlich einen kurzen Abriß der Ergebnisse
dieser Untersuchungen zu geben, um festzustellen,
welche Elemente wir von den ältesten Zeiten her
in der ägyptischen Bevölkerung etwa annehmen
dürfen.
Die Forscher waren sehr bald zu der Über-
zeugung gekommen, daß die gemachten Funde
der Vorgeschichte zuzuweisen wären ; es wurde
ein Königsgrab als dasjenige des bisher vollständig
als mythisch betrachteten Königs Menes erkannt,
und der genannte Herrscher somit der geschicht-
lichen Zeit angegliedert. An dieser Stelle inter-
essieren aber weniger die Gräber der vornehmen
Leute, sondern die massenhaft aufgedeckten Gräber
von Personen aus dem Volke, welche in zusammen-
gekauerter Stellung als sogenannte, .liegende Hocker"
begraben waren.
Die Art der Bestattung, die Beigaben, sowie
die leider bei der mangelnden Einbalsamierung
spärlichen körperlichen Reste sind von dem spe-
zifisch ägyptischen Typus so abweichend, daß Herr
F' linders Petrie die Leutchen als „die Rasse
der P"remden", Herr Morgan als die „neue Rasse"
ansprach,') Bezeichnungen, welche fast wehmütig
stimmen, wenn man bedenkt, daß diese „P'remden"
offenbar Jahrhunderte oder selbst Jahrtausende in
den Ürtlichkeiten gelebt haben, wo sie auch be-
graben liegen, daß die „neue Rasse" als lucus a
non lucendo die älteste darstellt, welche bisher in
Ägypten gefunden wurde.
Die Autoren sind in die Erscheinungsformen
des späteren Kulturvolkes, welche ihnen ganz ge-
läufig sind, so eingewöhnt, daß ihnen alles fremd
und neu erscheint, was sich noch nicht dabei unter-
bringen läßt. Gleichwohl wird zweifellos der Fort-
schritt unserer Erkenntnis zu der Überzeugung
führen, daß in diesen Funden sich Reste von Ur-
bevölkerungen kund geben, welche in die späteren
Ägypter verschmolzen sind, wie bereits von ver-
schiedenen Seiten zu beweisen versucht wurde.
Dazu ist vor allen Dingen erforderlich, daß man
sich bemüht, eine Anschauung davon zu schaffen,
wie diese Menschen etwa ausgesehen haben, so
schwierig dies unter den angedeuteten Verhält-
nissen auch erscheinen muß. Von den körper-
lichen Resten sind Haarproben von hervorragen-
der Bedeutung, welche sich als abgeschnittene
Beigaben auf rohgeformten irdenen Tellern viel-
fach in den Gräbern fanden.
Bekanntlich hat unser unvergeßlicher R. Vir-
chow'-j in seiner Abhandlung über die ethno-
logische Stellung der prähistorischen und proto-
historischen Ägypter eingehende Untersuchungen
über die Beschaffenheit dieser Haarfunde veröffent-
licht. Dabei war er wesentlich von dem Gesichts-
punkte geleitet festzustellen, ob, wie von anderer
Seite (F'linders Petrie) behauptet wurde, die Proben
den Beweis für die Zugehörigkeit ihrer einstigen
') Maspero: L'histoirc aiicienne des peuples de l'Orient
classique II.
'') Erman I, 293.
') Flinders Petrie: Negada.
') de Morgan: Über die .\usgrabungen bei Negada. Ref.
in Verhandl. d. Berliner Gesellsch. für Anthropologie usw.
1897. S. 207.
") K. Vircliow: Über die ethnologische Stellung der prä-
historischen und protohistorisclien Ägypter. Berlin 1S9S. Ver-
lag d. Königl. Akad. d. Wissensch.
N. F. m. Nr. 43
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
675
Träger zu einer blondhaarigen, vermuthch blau-
äugigen Rasse ergeben.
Gewiß mit Recht bestreitet Virchow, daß
dieser Beweis erbracht sei, indem er auf die er-
sichtlich posthume Verfärbung der ursprünglich
vermutlich braunen Haare hinweist. Indessen hat
er dabei utiberücksichtigt gelassen oder übersehen,
Fig. I. Libyer nach Rosellini ; Monum. stör. [I. PI. CLVI.
daß auch die altägyptischen Völkerdarstellungen,
wie sie im Anfang des verflossenen Jahrhunderts
durch Champollion, Lepsius und Rosellini
niedergelegt wurden, die als Temenhu oder Libu
bezeichneten Stämme, um welche es sich hier
gerade handeln könnte, bei ganz heller Hautfarbe
und blauen Augen mit braunen, lockigen Haaren
abgebildet sind. Die beistehende Figur zeigt eine
' '• > I. 1 ' ' ' iT"
Fig. 2. Neger nach Rosellini ; Monum. stör. II. PI. CLVI.
Anzahl solcher Figuren nach einer Tafel Rosellini's,
welche im Original farbig ausgeführt wurde und
dunkle Tattauierungen auf der weißlichen Haut
der Arme und Beine erkennen läßt, während der
ganze Körper in mantelartig verarbeitete, bunte
Felle gehüllt ist; darunter stehen vier Figuren echter
Neger, welche die charakteristischen Züge von
solchen in vortrefflicher Ausführung erkennen
lassen. Ebenso sind die von kurzen Vollbärten
umzogenen Gesichter der Temenhu mit den fein
geschnittenen „europäischen" Profilen höchst auf-
fallend.
Es ergibt sich, daß Virchow, was die Haar-
tracht anlangt, den wesentlich negativen Stand-
punkt in der zitierten Abhandlung nicht einzu-
nehmen brauchte; der Charakter der aufgefundenen
Proben paßt zu demjenigen der auf den Denk-
mälern dargestellten hellfarbigen Volkstypen durch
das Lockige der Gruppierung recht gut, auch fand
sich eine 18 cm lange, dunkle Locke in einem
der Negada-Gräber, welche Virchow (1. c. S. 7) mit
der sogenannten „Jugendlocke" späterer ägyptischer
Typen (z. B. des Horuskindes) vergleicht. Wie die
Abbildung zeigt, ist diese einseitige „Jugendlocke"
ein regelmäßiges Attribut der Libyer auf den
Wandmalereien, was Virchow entgangen zu sein
scheint.
Die dabei gefundenen Schädel der drei iiaupt-
.sächlichsten Fundorte (Negada, Gebel Silsileii, Aby-
dos) erwiesen sich als meist dolichocephal mit ge-
legentlicher Hinneigung zur Mesocephalie, was also
gewiß kein Grund wäre, ihre Zugehörigkeit zu
einer libyschen Rasse abzulehnen.
Außer den soeben angeführten Darstellungen
finden sich vereinzelt noch andere mit ebenfalls
ziemlich heller Pfautfarbe, blauen Augen, mit
langem, flockigen, durch ein Stirnband zurück-
gehaltenem Haar, welches ebenso wie der ziemlich
starke Vollbart von dunkler, ins Fuchsige fallender
Farbe ist. Leider sind die Angaben in diesen
älteren Werken wegen des noch mangelhaften
Verständnisses der hieroglyphischen Inschriften
recht dürftig; ich möchte es daher um so weniger
unterlassen, hier eine 'I'afel von Rosellini') zu
reproduzieren, aufder die hauptsächlichsten fremden
Bevölkerungstypen vergleichsweise zusammenge-
stellt wurden : in der Mitte der Neger, rechts
semitische Asiaten von gelbbräunlicher Hautfarbe,
links die eben beschriebenen hellfarbigen Rassen,
von denen der untere Kopf das typische Bild des
Temenhu mit dem I.ockenhaar und darin befestigten
Straußenfedern zeigt.
Das Vordringen solcher libyscher Stämme von
Westen her gegen die ägyptischen Reiche führt
ims weit hinein in die historische Zeit und ist
daher begreiflicherweise meist überhaupt in diese
Zeit verlegt worden, aber es mehren sich ersicht-
lich die Vertreter der Anschauung, dal3 schon in
den prähistorischen Perioden solche Bevölkerungs-
elemente im Lande vorhanden waren und zwar
nicht nur in den nördlichen Gebieten, sondern
daß sie selbst im Süden schon sehr früh nach-
weisbar sind, vor der Besiedelung derselben durch
Negervölker.-)
Wo dieselben herstammen? Welchen Rassen
sie am nächsten verwandt sind ? wird wohl immer
eine offene Frage bleiben, die Meinungen darüber
») Rosellini II, CLX.
^) Wiedemann : Urzeit -Ägyptens. ,, Umschau". 189g. Wiede-
niann : Die neuesten Entdeckungen in .Ägypten und die älteste
Geschichte des Landes. Jahrg. I. Nr. 32 u. 33.
6-]6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 43
sind von aUers her geteilt; während Champollion
sie direkt als „Europäer" ansprach, sah B r u g s c h sen.
in ihnen „Afrikaner" und Deveria') betont mit
Recht, daß diese beiden Anschauungen nicht durch-
aus unvereinbar sind, da es sich doch offenbar
um wandernde Stämme handelt.
Wie dem auch sei, es ist nicht ersichtlich, daß
gerade diese Bevölkerungselemente einen dauernden
Einfluß auf die Gestaltung des ägyptischen Kultur-
volkes gewonnen haben, obwohl ihrer Vermischung
mit den anderen nachweislich keinerlei Schwierig-
keiten in den Weg gelegt wurden. Es bewährte
sich also auch hier die alte Erfahrung, daß die
hellfarbigen Rassen in den heißen Zonen im Kampi
ums Dasein unterliegen.
werden die ,, beiden Länder" genannt und einzelnen
Personen der Ehrentitel ,, Großer von Buto" bei-
gelegt, was jedenfalls auf bedeutende politische
Selbständigkeit schließen läßt. Somit steht es
mit den tatsächlichen Befunden nicht im Einklang
in Oberägypten, etwa bei Abydos, ein hypo-
thetisches Zentrurn der Kulturentwicklung an-
zunehmen, von dem aus die Kultur nach ganz
Äg)'pten ausgestrahlt wäre.
Weitere Ausgrabungen, von denen besonders
die durch Herrn Ouibell bei Kom-el-ahmar und
El-kab ausgeführten wichtige Erfolge aufweisen,
die ebenfalls der Negada - Periode zugesprochen
wurden, deuten in betreff der hypothetischen Rasse
in eine andere Richtung, welche mehr Wahrschein-
Fig. 3. Völkertypen altägyptischer Wandgemälde. Rosellini M. st. II. CIX.
Auch wenn Herrn Wiedemann's Angabe,
daß die Libyer sich schon in frühester Zeit im
Süden Ägyptens nachweisen lassen, als zutreffend
angenommen wird, so lag das „Strahlungszentrum"
dieser Schwärme doch unzweifelhaft im Nordwesten
des Landes und daher empfand auch Unterägypten
den Druck derselben am stärksten. Es ist für die
nachfolgenden Erörterungen von hoher Bedeutung
festzustellen, daß nachweislich schon in proto-
historischer Zeit sich die „beiden Länder", d. h.
Ober- und Unterägypten scharf abgegrenzt hatten
und vielfach selbständig ihre Geschichte durch-
machten, wie sich deutlich aus dem Quellen-
studium ergibt.
Unterägypten hatte als Schutzgöttin die schlangen-
köpfige Buto, Oberägypten die geierförmige Neche-
bit, und schon auf Denkmälern der vierten Dynastie
lichkeit für sich hat und die auch von Herrn
Schweinfurth verfolgt wurde.
Wir sind durch jene Ausgrabungen auf der
Stätte des alten Hieraconpolis in den Besitz von
Talkschieferplatten gekommen, auf denen sich, wie
man annimmt, die ältesten bisher bekannt ge-
wordenen Darstellungen von menschlichen Ge-
stalten befinden, da die Natur der Beigaben dazu
zwingt, die Negadafunde in die neolithische Periode
zu verweisen.
Die beistehenden, nach Herrn Quibell's Ver-
öftentlichung ') wiedergegebenen Abbildungen sind
für die hier behandelten Fragen von hervorragender
Bedeutung. Die Sonderung der „beiden Länder"
kommt auch hier zum Ausdruck, indem auf der
einen Darstellung der Pharao die Krone von Ober-
ägypten, auf der anderen die von Unterägypten
trägt; Tracht und Haltung zeigt archaischen
^) Deveria : La race supposee protoceltique est eile figuree
dans les nionuments egyptiens? 1864. Revue archeologique
2™= Serie, t. IX, p. 38 — 43.
') J. E. Quibcll: Slate palette from Hieraconpolis. Zeit-
schrift für ägyptische Sprache. Bd. XXXVI.
N. F. m. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^n
Charakter, schüeßt sich im allgemeinen aber an
die Figuren an, welche mehrere Tausend Jahre
später im Gebrauch waren. Der Pharao schmettert
den am Schopf ergriffenen Feind mit dem Streit-
kolben nieder, oder begibt sich in feierlichem
Zuge auf das Schlachtfeld, um die enthaupteten
Feinde in Augenschein zu nehmen, welche einen
ganz fremdartigen Habitus zeigen. Abgesehen
von dem untersten Kopf der inneren Reihe tragen
sämtliche anderen eine Bekleidung, die offenbar
aus der Kopfhaut eines Tieres hergestellt wurde
und durch die beiden wie Ohren oder Hörner vor-
springenden Zipfel in auffallender Weise an die
Das ziemlich lange Haar scheint eine mehr
flockige Beschaffenheit, nicht eigentliche Locken
anzudeuten und ist gelegentlich durch ein Stirn-
band zusammengehalten ; überall fehlt eigentüm-
licherweise den Gesichtern ein Schnauzbart, während
sie im übrigen von einem kurzen Vollbart um-
rahmt sind. Die Figur des Pharao trägt auf beiden
Abbildungen schon den künstlichen Kinnbart an
dem glattrasierten Gesicht.
Sehr merkwürdig war für mich in Rücksicht
auf frühere Studien, daß auf beiden Plattenseiten,
und zwar auf der einen zwiefach, die Figur des
Zitterwelses erscheint, der also schon in so früher
\7^^^
Slülc imlctlo {Vv^in Hloravonpulis
Fig. 4. a) Schicferplattc von Ilierancopolis n.^cli Quibell.
Fig. 4. b) Sclüeferplatte von Hieraconpolis
nach Quibell.
Tracht urgermanischer Stämme erinnert, wozu auch
der angedeutete Vollbart beiträgt. Sie weisen
jedenfalls auf einen nicht afrikanischen, vermutlich
östlichen Ursprung hin, ebenso wie die auf der
gleichen Plattenseite dargestellten fabelhaften Tiere
in Gestalt von Panthern aber mit langen Schlangen-
hälsen, eine Form, welche an babylonische Dar-
stellungen erinnert. Sie werden durch Schlingen
um den Hals von Figuren gehalten, wie sie auf
der anderen Seite der Platte als Feinde dargestellt
sind, die aber weder in dem einen, noch dem
anderen Falle mit den Abbildungen der Temenhu
zusammengebracht werden können.
Zeit eine besondere Berücksichtigung fand, was
zweifellos auf seine elektrischen Eigenschaften
zurückzuführen ist. Herr Quibell glaubte die
Figur dieses Fisches auf eine ganz gleichgültige
gemeine Welsart des Nil, den Heterobranchus
anguillaris deuten zu sollen; aber abgesehen
von der unverkennbar an den Malopterurus
erinnernden Gestalt des Fisches, hat der Hiero-
grammat getreulich die nur dem letzteren eigene
kleine Fettflosse des Rückens angedeutet, wo-
durch jeder Zweifel an der Deutung schwinden
muß.
Die bekannte Darstellung des Zitterwelses auf
678
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ffl. Nr. 43
der Fischereiszene aus dem Ti-Grabe ist also nicht
mehr die älteste dieses merkwürdigen Fisches.
Außer der soeben besprochenen Schieferplatte
von Hieraconpolis erscheint es wichtig, auf einen
anderen wertvollen Fund in Gestalt eines kleinen
Elfenbeintäfelchens hinzuweisen, welchen Herr Ame-
lineau in einem Grabe von Abydos machte. Auf
?:-m
Fig. 5. Elfenbeinläfelchen aus einem Grabe von Abydos
nach Amelineau.
Fig. 6.
Elfenbeinschnitzereien von Eileithyaspolis
nach Schweinfurlh.
diesem schon in geflicktem Zustande aufgefun-
denen, offenbar der ältesten Zeit angehörenden
Täfelchen findet sich ebenfalls die so unzählig
oft wiederholte Kampfszene, wo der Pharao den
am Schopf gefaßten Feind mit dem Streitkolben
bedroht; auch hier handelt es sich um einen mit
langem, wallenden Haar und Bart ausgestatteten
Mann, dessen Gesichtszüge nach Asien zu deuten
scheinen.^)
Sehr wichtig für die hier zu behandelnden
Fragen sind Mitteilungen, welche unser hochver-
ehrter Seh wein furth der Berliner Gesellschaft
für Anthropologie im Jahre 1898, gestützt auf die
neuen Ausgrabungen und eigene Untersuchungen
an Ort und Stelle machte, wenn ich ihm auch
nicht in allen Punkten beistimmen möchte.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, wie der
erfahrene Afrikaforscher gewiß mit Recht betont,
daß in den neolithischen Kalksteinfiguren und
Elfenbeinschnitzereien, welche tief im alten Erd-
reich steckend bei Hieraconpolis und dem gegen-
über liegenden Eileithyiaspolis gefunden wurden,
zwei verschiedene Menschenrassen zum Ausdruck
gebracht sind, von denen er die schmalköpfigen,
mit langen Barten ausgestatteten Personen geneigt
ist den Libyern zuzuweisen. Im Hinblick auf die
vorstehend angegebenen Figuren der Temenhu
glaube ich diese Vermutung ablehnen zu sollen,
weil weder der Schnitt des Gesichts, noch Haar
und Barttracht genügende Übereinstimmung zeigen.
Zur Vergleichung gebe ich die von Herrn Schwein-
furth'-j gezeichneten Skizzen anbei wieder.
Schon der vom Autor für seine Mitteilung ge-
wählte Titel mit dem Hinweis auf die östlichen
Wüstenstämme, die Bega, zeigt, daß er sich die
Libyer ganz anders denkt, als die Überlieferung,
lehrt. Die Wüstenstämme hat doch noch niemand
als blauäugig und lockenhaarig beschrieben, das
Profil des von ihm gezeichneten Kopfes macht in
der Tat einen durchaus beduinenhaften Eindruck
(rechts unten).
Es kommt hinzu, daß die ganz verwandten
Darstellungen des durch Amelineau aufgefun-
denen Elfenbeintäfelchens auf ähnliche Namen und
Zeichen hinweisen, welche von der Sinaihalbinsel
beschrieben wurden und Herr Spiegelberg sagt
am angeführten Orte ganz ausdrücklich „zweifellos
ist ein Beduine dieser Gegend (der Sinaihalbinsel)
dargestellt".
Hier erscheint es nun unerläßlich, um die in
gewissen Beziehungen herrschende Begriffsver-
wirrung nicht noch zu vergrößern, sondern die
von Herrn Schwein furth erhoffte Klärung
unserer Anschauungen zu fördern, die Berechtigung
zweier Völkernamen Ägyptens etwas näher zu be-
leuchten, deren willkürliche Verwendung außer-
ordentlich viel zu der so oft bedauerten Verwirrung
beigetragen hat, nämlich die Bezeichnungen „Ha-
miten" und „Nubier". Es ist leicht nachzuweisen,
daß die verschiedenen Autoren sich unter diesen
Namen die denkbar verschiedensten Völkertypen
Ägyptens vorstellen , so daß man sich scheuen
') Vgl. Wilhelm Spiegelberg: Ein neues Denkmal
aus der Frühzeit der ägyptischen Kunst. Auszug aus der
Zeitschr. f. ägyptische .Sprache. Bd. XXXV.
^) Schweinfurlh: Die neuesten Gräberfunde in Ober-
ägypten und die Stellung der noch lebenden Wüstenstämme
zu der altägyptischen Bevölkerung. Verhandl. d. Berliner
anthropolog. Gesellsch. Sitz, vom 30. April 189S.
N. F. III. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
679
muß, dieselben zu gebrauchen, weil man sicher
mißverstanden wird.
Herr Schweinfurth sieht in den soeben
erwähnten, schmalköpfigen Typen ebenso wie in
den Bega-Stämmen unzweifelhaft „Hamiten", in den
gleich zu erwähnenden breitköpfigen „die durch-
schnittlichen Ägypter"; hat er dann später diese
Meinung auch, und zwar mit Recht, fallen gelassen,
so wird er doch gewiß die abgebildeten Köpfe
nicht mit den Kopten zusammenstellen wollen.
V i r c h o w ') sah dagegen tatsächlich in den Kopten,
welche man ganz allgemein wegen der geringeren
Vermischung mit den späteren Eindringlingen als
die reinsten Nachkommen der typischen Ägypter
ansieht, Abkömmlinge der „Hamiten", also gerade
das Gegenteil der Anschauung S c h w e i n f u r t h ' s.
Andere Autoren sprechen wiederum die Nubier,
noch andere die sonst als „äthiopische Stämme"
bezeichnete Völkergruppe als ,, Hamiten" an.
Wie kann auch ein Name Klärung in das bunte
ägyptische Völkergemisch bringen, der auf so un-
sicherer Grundlage aufgebaut ist wie die Legende
der drei Söhne Noah's. Nach dieser Legende
müßten alle dunkelpigmentierten Menschen, also
auch die Neger, zu den Hamiten gerechnet werden.-)
Entbehrt der Name „Semiten" selbstverständ-
lich in gleicher Weise einer sicheren Unterlage,
so ist hier doch ein einheitlicher, physischer
Charakter festgelegt worden, der es ermöglicht zu
sagen, der oder jener Stamm trägt einen semitischen
Habitus; so nehme ich keinen Anstand den ab-
gebildeten Kopf seinem Aussehen nach als semitisch
zu bezeichnen, und diejenigen Autoren, welche in
seinem Träger einen Beduinen sehen, wie solche
seit den Urzeiten die Sinaihalbinsel durchstreiften,
werden mir vermutlich beipflichten. Es wird an
anderer Stelle auf diese Verhältnisse zurückzu-
kommen sein, ebenso über die Abgrenzung des
Begriffes „Nubier".'') Zunächst wollen wir noch
einen Blick auf die andere, linksstehende Figur
werfen, welche Herr Schweinfurth mit zwei
anderen verglichen wissen will, welche hier eben-
falls folgen.
Der ganze Habitus der drei Figuren, von denen
zwei aus demselben P'undort wie die langbärtigen
Köpfe, nämlich aus Hieraconpolis stammen, ist
') V i r c h o w : Die Mumien der Könige im Museum von
Bulag.
^) Als besten Beweis, dalj die Legende der drei Söhne
Noah's als der Stammväter des ganzen Menschengeschlechts
nicht nur in der Bibel spukt, möchte ich auf den .Anfang von
Makrizi's, eines arabischen Schriftstellers, Geschichte
der Kopten verweisen, wo es wörtlich heißt : ,,."^116, die sich
zu einer der durch die Propheten geofl'enbarten Religionen be-
kennen, Moslimen, Juden und Christen, stimmen
darin überein, daß Nuh (Noah) der zweite Vater des
Menschengeschlechts sei, .... und Gott aus ihm alle .^dams-
kinder habe hervorgehen lassen, daß es also keineSöhne
Adam's gäbe, außer den von den Kindern Noah's
entsprossenen. M. Gesch. d. Gopten, deutsch von Wüsten -
feld. S. 8.
') Dabei ist an das kürzlich erschienene Werk : ,, Ägypti-
sche Volkstypen der Jetztzeit" gedacht, welches mit Unter-
stützung der königl. Akademie der Wissenschaften in Krei-
del's Verlag, Wiesbaden, herausgegeben wird (Verf.).
ein so durchaus verschiedener, daß jeder Herrn
Schweinfurth gern beistimmen wird, es handele
sich bei ihnen um eine durchaus abweichende
Rasse, ausgezeichnet durch größere Kurzköpfig-
keit, breite Gesichter und durchaus andere Haar-
tracht. Die eine ist wiedergegeben nach der Ab-
bildung eines schon von Herrn de Morgan dar-
gestellten Fundes im ägyptischen Museum zu
Kairo.
Es wurde alsbald darauf aufmerksam gemacht,
besonders durch Virchow, daß die drei Figuren
sich in auffallender Weise an andere aus dem alten
Reich anschließen, z. B. an die berühmte Holz-
figur des sogenannten „Dorfschulzen" sowie eine
andere, welche wohl als die F'rau des Schulzen
bezeichnet wird; Virchow fand die letztere der
von Herrn Schweinfurth gezeichneten so ähn-
lich, da(3 die eine direkt als eine Kopie der anderen
gelten könnte. Den Kopf des Dorfschulzen sowie
der Frau bringe ich anbei nochmals nach den in
Hirth, Der schöne Mensch, reproduzierten Photo-
graphien in Erinnerung, da meine eigenen Auf-
nahmen der I*"iguren weniger gut ausgefallen sind.
Fig. 7. a) und b) Altägyptische Typen nach de Morgan
und Schweinfurth.
Auch andere Autoren haben neuerdings die
Aufmerksamkeit auf solche archaische Figuren ge-
richtet, darunter der verdienstvolle Agyptologe
Herr Wiedemann.^) Auch an diesen fand der
Autor, „daß die kurze gedrungene Gestalt, der
schmale, gerade Mund, der breite Nasenrücken,
die starken Augenbrauen usw. dem Bildwerke einen
ganz anderen Typus geben, als man ihn sonst bei
ägyptischen Statuen zu sehen gewohnt ist." Auch
die Haartracht erinnert in auffallender Weise an die-
jenige der oben dargestellten Köpfe. Herr Wiede-
mann sagt sehr treffend: „zu sehen gewohnt sind";
denn gefunden waren ja schon verschiedene sehr
viel früher, wie die obige von de Morgan ab-
gebildete Nummer i des Kairiner Museums und
der Schechel-beled, aber sie fanden die Beachtung
nicht, welche sie gerade in anthropologischer Hin-
sicht verdienen. Auf dem Gräberfeld des alten
Memphis, also in Unterägypten, wo der Schech-
') A. W i e d e m a n n : Zwei ägyptische Statuen des Museums
zu Leiden. Orientalistische Literatur-Ztg. I. Jahrg. Nr. 9. 1898.
68o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 43
el-beled dem Boden wieder entrissen wurde, fanden
sich i86S, als ich daselbst mit der archäologischen
photographischen Expedition, welche wir im Auf-
trage Seiner Majestät des Königs Wilhelm aus-
führten, längere Zeit als Gast Mariette-Pascha's
verweilte, damals noch zahlreiche, meist unvoll-
ständige Schädel nur mangelhaft einbalsamierter
Leichen von ähnlichem Typus wie der Dorfschulze.
Nach der unvollkommenen Einbalsamierung und
der einfachen Art der Beisetzung mußte man an-
nehmen, daß sie dem gewöhnlichen Volke zu-
gehörten, in welchem sie zur Zeit der ersten
K o 1 1 m a n n ^) positiv genug gegeben worden ;
nach meiner Überzeugung, so gern ich ihm auch
beipflichten möchte, zu positiv, da die archäo-
logischen Tatsachen, welche für eine Blutbeimischung
zur ägyptischen Bevölkerung von „Pygmäen" bis-
her vorgebracht wurden, äußerst unbefriedigend
sind, obwohl der Autor sogar den Prozentsatz
dieser Beimischung glaubt bestimmen zu können.
') Kollmann: Die Gräber von Abydos. Bericht über die
allgemeine Versammlung der deutschen anthropologischen
Gcsellsch. zu Dortmund. S. 125.
^jarx.
W
IT
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JUP^^^^^ \ -■■>»'"
\
\
Fig. 8. a) und b) Der „Schech-el-beled", Holzfigur aus Sagara nach Hirth; Der schöne Mensch.
Dynastien noch einen bemerkenswert abweichenden
Typus darstellten.
Herr Schweinfurth betont daher gewiß mit
Recht in dem erwähnten Vortrag (S. 185): „An
der Zusammensetzung der frühesten Ägypter, als
eines Kulturvolkes, beteiligten sich gewiß mehr
als zwei Rassenelemente", ein Ausspruch, dem ich
mich aus vollster Überzeugung anschließe. Drei
derselben wurden ja bereits andeutungsweise kennt-
lich gemacht : die alten Libyer, die östlichen Be-
duinen und die letzterwähnte, uralte, „neue"
Rasse.
Es kann kaum zweifelhaft sein, daß gerade in
ihnen sich Reste einer alten, auf niedriger Kultur-
stufe stehender Urbevölkerung geltend machen,
die allmählich von den Kulturträgern aufgesaugt
wurde, aber in den frühesten Zeiten sich immer
noch im Aussehen der Bevölkerung durch Rück-
schlag geltend machte.
Die Frage w^ird unvermeidlich, ob sich denn
sonst in Afrika mit ihnen etwa verwandte Stämme
nachweisen lassen, wie man solche unter der An-
nahme echt afrikanischer Abkunft doch vermuten
sollte. Die Antwort liegt nahe und ist von Herrn
Fig.
9. Weibliche Holzfigur aus Sagora, nacli Hirth^:
Der schöne Mensch.
N. F. m. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
68 1
Fig. 10.
Seit meinen ersten dreijährigen Reisen im süd-
lichen Afrika bin ich für die Uberzeuijung ein-
getreten, daß eine dünngesäte, protomorphe Ur-
bevölkerung von zwerghaftem Wuchs, deren süd-
lichste Vertreter die Buschmänner darstellen, einst
durch ganz Afrika
verbreitet war,
also wohl auch
bis nach Ägypten
gelangt sein kann,
f^in zwerghaf-
ter Wuchs der
soeben erwähn-
ten, urtümlichen
Bevölkerungs-
elemente ist nir-
gends angedeutet
und höchst un-
wahrscheinlich ;
die Behauptung
einer Beimisch-
ung von Pygmäen
zu der altägypti-
schen Bevölke-
rung stützt sich
wesentlich auf
das Vorkommen
von auffallend
kleinen „nano-
cephalen" Schä-
deln unter einer
größeren Anzahl
neuerdings von
Herrn Maclver')
gesammelten und
beschriebenen,
wie sie sich nach
Herrn Kqll-
m a n n ' s Über-
zeugung nur bei
Pygmäen finden,
von den zugehö-
rigen Extremi-
tätenknochen ist
nichts erhalten.
Soviel wir bis-
her über afrikani-
sche Zwergvölker
wissen, sei es
daß man die
Akka des Nor-
dens oder die
unzweifelhaft zu-
sammengehören-
den Busch-
männer Südafrikas'-) vergleicht, nirgends finden
') Maclver, David: The earlicsl inhabitants ot .\bydos,
a craniological study. C>.xford 1901. Maclve r, David : Recent
antliropometrical work in Egypt. J. of the anthropol. Inst, of
Great Britain and Ireland. Vol. XXX 1900.
^1 Vgl. F r i t s c h : Die Eingeborenen Südafrikas (Tafel
XXXV u. XXXVI) sowie Stuhlmann's Abbildung der Akka-
mädchen nach meiner photographischen Aufnahme.
a) und b) Archaische Figur aus dem Museum zu Leiden,
nach Wiedcmann.
Fig
wir die Schädel dieser Leutchen bemerkenswert
klein, im Gegenteil eher relativ groß, während
der augenblicklich in Berlin befindliche, 26g cm
große Riese den relativ kleinsten Schädel hat.
Auf ein gelegentliches Erscheinen kleiner Schädel
die Existenz einer
Pygmäenbevöl-
kerung zu grün-
den, erscheint
unzulässig. Daß
zuweilen zu be-
obachtende, figür-
liche Darstellun-
gen mißgestalte-
ter Zwerge, die
offenbar als Ku-
riositäten gehal-
ten wurden, nicht
als Beweis für
eine ganze Pyg-
mäenbevölke-
rung gelten kön-
nen, hat Herr
K o 1 1 m a n n
selbst betont.
Ich muß daher
leider die Exi-
stenz einer aus-
gedehnten Pyg-
mäenbevölke-
rung bis jetzt als
zweifelhaft be-
trachten und
meineniBedauern
Ausdruck geben,
daß wir über die
ethnographische
Stellung der nied-
rig stehenden
ägyptischen Ur-
rasse nichts Be-
stimmtes aus-
sagen können.
Auf den an-
geführten älte-
sten Denkmälern
erscheint ja stets
schon eine fort-
geschrittenere
Rasse als Kultur-
träger und als
aggressives Ele-
ment denanderen
Bevölkerungsele-
menten gegen-
über. Es hat sich also bereits etwaöooojahre v.Chr.
dort durch Verschmelzung von verschiedenen, nach-
weislich etwa vier Volkstypen ein einheitliches
Volk gebildet, wie es auch Herr Kollmann aus-
drücklich betont, und Herr Schweinfurth eben-
falls annimmt, d. h. außer den Libyern, semitischen
asiatischen Einwanderern, der rohen Urbevölke-
a) und b) .archaische Figur aus dem Museum zu Leiden,
nach Wiedemann.
682
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 42
rung, sind noch höher stehende afrikanische Be-
völkerungselemente hinzugetreten , die ich mit
I^epsius') als hamitische Kuschiten bezeichnen
möchte, oder nach obigen Einwänden gegen die
Abgrenzung der Hamiten nur als „Kuschiten" im
weiteren Sinne, deren Verwandte Lepsius aller-
dings auch in Asien bis hinein nach Baby-
lon feststellt
Hier ist der Ort, um Verwahrung dagegen ein-
zulegen, diese kuschitischen Elemente als „Nubier"
zu bezeichnen, wodurch eine heillose Verwirrung
in der ägyptischen Ethnographie angerichtet worden
ist. Sowohl durch ihre körperliche Entwicklung
als auch durch ihre Sprache, die sie selbst ,,Nuba"
nennen, setzen sich die Nubier in direkten Gegen-
satz zu den typischen Ägyptern, den ,,Retu" (auct.)
„Romen" (Erman), „Reme" (Kollmann).
Ihre Sprache wird von Lepsius bei den
„urafrikanischen Negersprachen" untergebracht,
während das altägyptische Koptische und Lybische
bei ihm die Gruppe der „hamitischen Sprachen"
bildet, denen sich als dritte Unterabteilung die
„kuschitischen Sprachen" anschließen.
Herr K o 1 1 m a n n sagt, im Bestreben eine Ver-
ständigung mit den Angaben des Herrn Brugsch
über die Rassenverhältnisse Ägyptens herzustellen,
mit dürren Worten : „Meine Nubier entsprechen
den hamitischen Kusch, die Reme oder Rem der
Ägypter" (S. 124). Diese Nubier hat er aller-
dings nahezu allein; denn die heutigen Nubier
lehnen sich trotz der vieltausendjährigen Ver-
mischung immer noch viel enger an die Neger
als die Ägypter an, ja Lepsius, der die „hami-
tischen Kuschiten" den Nubiern entgegenstellt,
weist ausdrücklich auf einen Stamm der Nubier
in der Nähe von Kordofan hin, der von sogenannten
„echten" Negern nicht zu unterscheiden wäre. Auf
') Die Völker und Sprachen Afrikas. Lc psius: Einleitung
zur nubischen Grammatik. Berlin 1880.
die Frage wird bei Beschreibung der heutigen
Bevölkerung an anderem Orte zurückzukommen
sein.
Die besonderen Anschauungen über die Be-
deutung spezifisch afrikanischer Elemente für die
äg\'ptische Kulturentwicklung, welche die Herrn
Flinders Petrie, de Morgan, Maclvor
und Fouquet im Anschluß an ihre verdienst-
vollen Ausgrabungen aufgestellt haben, fanden nicht
nur bei Herrn Kollmann, sondern auch sonst
viel Zustimmung , obwohl sie mit längst fest-
gestellten, neuerdings durch die babylonisch-assy-
rischen Forschungen mehr und mehr bestätigten
Tatsachen, die den asiatischen Einfluß außer
Frage stellen, in schneidendem Widerspruch stehen.
Nach Meinung der genannten Herren hat die
heiße, afrikanische Sonne, wie sie ein im Sande
verscharrtes Krokodilei ausbrütet, in dem engen
Bezirk von Abydos unter Mitwirkung lediglich der
oben bezeichneten Bevölkerungselemente die ganze
Kultur ausgebrütet, welche bestimmt war die alte
Welt zu beglücken, indem sie von dort nach
Unterägypten, den Mittelmeerländern und Europa
vordrang. Bei allem Respekt vor den Verdiensten
der genannten Herren als Entdecker hochbedeutender
Altertümer, dürften sie vor der anthropologischen
Wissenschaft mit derartig kühnen Hypothesen
hoffentlich allgemeinere Anerkennung nicht finden.
Gewiß fand zur Entwicklung der wunderbaren
Kultur ein Zusammenwirken mannigfacher Ele-
mente statt, wie es mit Recht als notwendig be-
zeichnet wird, aber das bezeichnete enge Gebiet
eines von unfruchtbaren Hügelketten eingeengten
Flußlaufes konnte doch unmöglich für sich allein
die erforderlichen, ungeheuren Anregungen hervor-
bringen; dazu waren unzweifelhaft weit nach
anderen Gebieten, besonders nach Asien reichende
Beziehungen notwendig, welche stets Neues herzu-
brachten, und den geistigen Besitzstand anwachsen
ließen. (Schluß folgt.)
Kleinere Mitteilungen.
Über die Fischereiverhältnisse in Rufsland
macht neuerdings N. A. Bor od in in der ,, Voll-
ständigen Enzyklopädie der russischen Landwirt-
schaft" interessante Mitteilungen. Erst seit kurzem
kann man in Rußland von einer wirklichen
Fischzucht reden, und der Fischbestand des
Kaspischen, Asowsclien, Schwarzen und Baltischen
Meeres und der großen Süßwasserseen ist durch
die bis dahin vorwaltende Raubfischerei arg dezi-
miert worden. Diese Gewässer decken haupt-
sächlich den Fischbedarf Rußlands. Das Nörd-
liche Eismeer und der Stille Ozean kommen hier-
für fast gar nicht in Betracht, da sie noch gar zu
dürftig durch geeignete Transportwege erschlossen
sind.
Immerhin erreicht der Fischfang in Rußland
jährlich das respektable Maß von 11 20 Millionen
Kilogramm. Allein das Kaspische Meer mit
seinen Zuflüssen liefert 19,04 Millionen Kilogramm,
Baltisches und Weißes Meer, die Murman-Küste
und die" großen Seen zusammen geben 34,72
Millionen Kilogramm, das Schwarze und Asow-
sche Meer 16,80 Millionen, das Nördliche Eismeer
und der Stille Ozean dagegen aus dem angegebenen
Grunde nur 6,32 Millionen Kilogramm. Die
Fischerei am Amur produziert 6,4 — 8 Millionen,
Sachalin und Kamtschatka zusammen 7,2 Millionen,
der Aralsee 4,8 Millionen Kilogramm.
Volkswirtschaftlich und biologisch interessant
ist die verschiedene Beteiligung der einzelnen
Fischarten an diesen Ziffern. Die russische Fischerei
gibt jährlich 33,6 Millionen Kilogramm Störe,
44,8 Millionen Kilogramm Lachse, 752 Millionen
Kilogramm Karpfen und Barsche, dagegen nur
152 Millionen Kilogramm Heringe. Dazu kommen
noch von verschiedenen Seefischen 40 Millionen
N. F. m. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
683
Kilogramm und 64 Millionen Kilogramm von ver-
schiedenen Arten von Süßwasserfischen.
Dr. Wolff (Berlin).
Über den Einflufs der Kinderheiraten auf
die körperliche Beschaffenheit der Bevölke-
rung Indiens bringt der „General Report'' über
den dortigen Zensus von 1901 (XXV und 582 S.,
London 1904) einige bemerkenswerte Daten. Jene
Form der Kinderehe , wie sie in Nordindien , na-
mentlich im Panjab, existiert, hat keinerlei dege-
nerierende Wirkung auf die Bevölkerung. Es
findet nämlich da nur die religiöse Zeremonie
im Kindesalter statt, während das eheliche Zu-
sammenleben erst relativ spät nach erlangter Ge-
schlechtsreife des Weibes beginnt. Bei den Rajputs
hingegen kommen Heiraten zumeist im 15. — 16.
Lebensjahre vor; die körperliche Entwicklung der-
selben ist eine etwas weniger gute als bei den
Jats von Panjab. Im Südosten dieser mehr oder
weniger gebirgigen Landstriche, besonders in den
Ebenen des Ganges, treffen wir jedoch ganz andere
Verhältnisse; schon in den vereinigten Provinzen
Agra und Oudh ist es bei den drei höchsten
Kasten (Brähman, Räjput und Käyasth) Gepflogen-
heit, daß die Braut sofort nach der Hochzeits-
zeremonie in das Heim ihres Gatten gesandt wird,
ganz ohne Berücksichtigung des Alters derselben.
In noch ausgedehnterem Maße finden wir diese
Gewohnheit in Bengalen, wo in der Regel das
eheliche Leben der weiblichen Personen bei den
höheren Kasten mit dem neunten Jahre beginnt.
Im letzten Jahrhundert hat diese Unsitte immer
mehr um sich gegriffen, namentlich auch bei den
unteren Volksschichten. Die physische Beschaffen-
heit der Bevölkerung ist in diesen Regionen
durchaus als keine gute zu bezeichnen ; frühzeitiger
Eintritt der Geschlechtsreife, schwache Körper-
gestalt und auch Mangel an geistiger Energie sind
allgemein anzutreffen. Am fneisten gilt dies von
den Hindus , doch in mehr oder weniger hohem
Maße auch von den Angehörigen anderer religiöser
Bekenntnisse. — Um die degenerierenden Wir-
kungen der Kinderehen zu vermindern, haben die
Clans von Rajputana die Bestimmung getroften,
daß kein Mädchen unter 14 Jahren verheiratet
werden dürfe; auch in anderen Teilen Indiens ist
man daran gegangen, ähnliche Maßregeln zu er-
greifen. Es wird in dem erwähnten amtlichen
Bericht der Erwartung Ausdruck verliehen , daß
dann, wenn diese dem Einfluß der europäischen
Kultur zuzuschreibenden Bestrebungen mehr an
Boden gewonnen haben werden, auch der Degene-
ration weiter Kreise der indischen Bevölkerung
ein Ende bereitet sein dürfte. P'ehlinger.
men gesunden Exemplaren vorgenommen. Das
Resultat wird von S. Seh. in der Naturw. Wochen-
schrift, N. F. II, Nr. 15, S. 177, mitgeteilt.
Diese Stelle kommt mir, durch LImstände, erst
heute zu Gesicht.
Ich erlaube mir ebenfalls Versuche mitzuteilen,
die ich mit Mauerseglern unternahm; sie ergaben
positive Resultate.
Ungefähr 1882 wohnte ich in Utrecht. Das
elterliche Haus hatte einen sehr geräumigen Dach-
boden, der mir oft Gelegenheit bot, die Brut von
Sperlingen und Staren zu beobachten. Zweimal
nun fand ich dort einen vollkommen gesunden
Mauersegler auf dem Boden neben dem geschlos-
senen Fenster sitzen. Er ließ sich unter furcht-
barem Geschrei leicht mit der Hand fangen. Ich
öffnete das Fenster und setzte in einer möglichst
großen Entfernung davon den Segler auf den
Boden, wobei er laut protestierte. Der Vogel
blieb zunächst ganz ruhig sitzen ; aber nachdem
ich ihn mit dem Finger reizte, begann er sozu-
sagen auf dem Boden zu fliegen , gerade nach
dem Fenster zu. Die Schnelligkeit vermehrte sich
allmählich, und der Segler segelte in einer ganz
seichten Kurve vom Boden zum Fenster hinaus!
Auch mit dem zweiten Versuchtiere gelang die
Probe vollkommen.
Arnhem. Dr. A. C. Oudemans.
Die Frage, ob sich der Mauersegler, Cypselus
(Micropus) apus L., vom Erdboden aus in die
Luft erheben kann, hatRaspail (Bull. Soc. Zool.
France XXVII, 1902, S. 72 — •]■]) gemeint ent-
schieden mit Nein beantworten zu müssen, und
zwar nachdem er zwei Experimente mit vollkom-
Über abnorme Kirschblüten. — Im Mai
dieses Jahres brachte mir ein Schüler aus Marien-
burg bei Köln abnorme Kirschblüten, die mir so
interessant erschienen, daß ich um einiges Material
zur Untersuchung bat und die Resultate meiner
Prüfung veröffentlichen möchte. Es handelt sich
um ein ungefähr zehnjähriges, stark mannshohes
Bäumchen, dessen Blüten gefüllt sind, in diesem
Jahre aber alle die zu beschreibenden Abnor-
mitäten zeigten. Wenigstens versicherte mir dies
der Schüler, und für die mir mitgebrachten sechs
Zweige (etwa 30 cm lang) mit im ganzen 29 Blüten
trifft es tatsächlich zu. Ob die Mißbildungen schon
in früheren Jahren aufgetreten sind, dessen erinnern
sich die Eltern des Schülers nicht.
Bekanntlich ist eine Kirschblüte so aufgebaut,
daß am Rande eines becherförmigen Blütenbodens
fünf zurückgeschlagene Kelchblätter, fünf weiße
Blumenkronblätter und zahlreiche Staubblätter
sitzen, während in der Mitte des Bechers frei ein
Stempel steht.
Bei den vorliegenden Blüten waren die meisten
Staubblätter, wie nicht selten, in Blumenkron-
blätter umgewandelt, die Blüten waren also gefüllt;
außerdem zeigten sie aber folgende Abweichungen
vom normalen Bau. Durchgängig war die Achse,
anstatt einen Stempel zu bilden, weiter gewachsen,
trat aus dem hohlen Becher heraus und trug eine
neue, allerdings mehr oder minder unvollkommene
Blüte. In einem P"alle wiederholte sich der be-
schriebene Vorgang an der sekundären Blüte deut-
lich noch einmal. Die den Stempel vertretende
sekundäre Blüte hatte gewönlich 2 nicht zurück-
684
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 43
geschlagene Kelchblätter, nur einmal 2 -)- i und
ein halb grünes, halb weißes Gebilde, und einmal
2 Kelchblätter -|- 2 Blumenkronblätter mit grünen
Flecken. Hierzu traten in wenigen Fällen nur
I oder 2 Blumenkronblätter. Meistens waren
deren mehrere bis viele vorhanden, und es traten
dann mehr oder minder viele Staubblätter und
ein, allerdings öfter vergrünter Stempel hinzu; diese
Blüte zeigte die Becherbildung gar nicht oder un-
vollkommen. Eine solche Sekundärblüte bestand
z. B. aus 3 grünen und i halbgrünen Kelchblatt
(siehe oben), zahlreichen Blumenkronblättern, etwa
20 Staubblättern und einem vergrünten Stempel
(offenem Fruchtblatt, dessen schmale Blattflächen-
hälften nach derselben Seite geneigt waren, aber
parallel gerichtet blieben, und dessen Spitze eine
zweilappige Narbe trug); der neue Blütenboden
war etwas becherförmig. Eine andere, voll auf-
geblüte Sekundärblüte bestand aus 2 Kelchblättern,
vielen Blumenkronblättern, mehreren Staubblättern
und einer verkümmerten tertiären Blüte, die ihrer-
seits nur 2 Kelchblätter und i Blumenkronblatt
aufwies. Wenn nun schon auffallend ist, daß die
sekundären Blüten einen nach der Zweizahl auf-
gebauten Kelch besaßen, so überraschte mich
nicht weniger, daß in einem Falle auch 2 ver-
grünte Stempel statt eines normalen vorhanden
waren. Sollten die letzteren vielleicht der Ansatz
zu einer Tertiärblüte sein, so daß überhaupt dann,
wenn 2 vergrünte Stempel auftraten, diese zum
Kelch einer neuen Blüte wurden ? Hierfür spricht
der Umstand, daß die 2 Kelchblätter der Sekun-
därblüten, die, wie schon erwähnt, keine Neigung
zeigten sich zurückzukrümmen, an der Spitze viel-
fach so aussahen, als hätten sie vertrocknete Nar-
ben getragen. Auch fand ich in der Mitte einer
Sekundärblüte einmal einen vergrünten und einen
normalen Stempel und zwischen ihnen ein Blumen-
kronblatt.
Eine andere Merkwürdigkeit der untersuchten
Kirschblüten bestand darin , daß bei vielen von
ihnen am Rande des becherförmigen Blütenbodens
der primären Blüte eine oder mehrere, in einem
Fall sogar 7 neue Blüten, nennen wir sie „Rand-
blüten", auftraten. Diese waren allerdings vielfach
verkümmert. So bestand eine solche nur aus
einem Zylinder, der oben einige Staubbeutel und
einen kleinen, sonst aber normalen Stempel trug.
Andere setzten sich aber aus innen stehenden
Blumenkronblättern, außen sitzenden Staubblättern
und einem Stempel, der zuweilen vergrünt war,
zusammen. Bei manchen kamen noch 2 Kelch-
blätter hinzu, die alsdann auch stets auf der Innen-
seite des Bechers saßen. Der Blütenboden dieser
Randblüten war nie becherförmig, vielmehr war
die Achse ein mehr oder minder langer, ziemlich
dicker Stiel, mit dem die Blütenteile, die übrigens
(abgesehen von den Staubblättern) nie in größerer
Zahl sich fanden, vielfach etwas verwachsen waren.
Wenn mehrere solcher Randblüten vorhanden
waren, war die zentrale Sekundärblüte verkümmert.
Zahl und Ausbildung der Randblüten standen im
umgekehrten Verhältnis zur Ausbildung der Zen-
tralblüte.
Abgesehen davon , daß diese Randblüten mit
Sicherheit dartun, daß das becherförmige Gebilde
der normalen Kirschblüte als Achsengebilde auf-
zufassen ist, und abgesehen von dem eigentüm-
lichen Durchwachsen der Achse durch die Primär-
blüte, sind die beschriebenen Blüten schon deshalb
interessant, weil sie alle möglichen Umbildungen
nebeneinander zeigen. Kommen doch in Blätter
rückverwandelte Stempel (aber mit Narbe !) , in
Blumenkronblätter umgewandelte Staubblätter, in
Kelchblätter übergehende Blumenkronblätter, viel-
leicht sogar zu Kelchblättern gewordene Frucht-
blätter, nebeneinander vor. Die Fruchtbildung
ist übrigens nicht ausgeschlossen, denn ich ent-
deckte an einem der vorliegenden Zweige eine
junge Frucht. Oberlehrer Dr. Schlickum.
Über die Reste der Eiszeitfauna in mittel-
rheinischen Gebirgsbächen macht W. Voigt
Mitteilungen (Vortrag, gehalten auf dem 14. deut-
schen Geographentag in Köln im Jahre 1903.
In: Verhandig. d. 14. Geographentages Köln 1903.
p. 216 — 224. 5 Abbildgn. im Text). Seine Be-
obachtungen gründen sich darauf daß die einzigen
deutschen Winterlaicher, Lota vulgaris (der ein-
zige Süßwasserschellfisch) sowie die Salmoniden,
und zwei Planarien, Planaria alpina und Polycelis
cornuta, in Deutschland genau gleichzeitig laichen.
Nun macht es die paläontologische Vorgeschichte
und die heutige geographische Verbreitung dieser
Fische sehr wahrscheinlich, daß sie erst in der
Eiszeit aus dem hohen Norden nach Süden ge-
wandert sind. Die gleiche Herkunft darf daher
nach dem Gesagten auch für die beiden Planarien
angenommen werden, die, beide über dieselben
Gebiete verbreitet, beide an die engen Rinnsale
fließender Gewässer gebunden, sehr schön wahr-
nehmen lassen, wie ihre Verbreitung in enger
Beziehung mit der zunehmenden Temperatur er-
folgte, wenn auch die Wirkung des Kampfes mit
der postglacial in ihre Wohngewässer eingedrunge-
nen Planaria gonocephala nicht außer acht ge-
lassen werden darf Wie schon Fuhrmann
beobachtete, steigen die beiden Planarien nur im
Winter in die größeren Gewässer hinab, während
sie im Sommer sich in die kalten Quellbäche
zurückziehen.
Der Verschiebung des Temperaturoptimums
entsprechend ist mit Eintritt der Glazialzeit Pla-
naria alpina infolge der fortschreitenden Verglet-
scherung aus ihrer Heimat, den Hochalpen, in die
eisfrei bleibenden Flüsse und Bäche der Ebene
zurückgewichen. Polycelis cornuta ist wahrschein-
lich aus dem hohen Norden durch Wasservögel
in die Gewässer des deutschen Tieflandes während
der Eiszeit verschleppt worden, wo sie sich dann
mit der dort ansässig gewordenen Planaria alpina
gemeinschaftlich angesiedelt hat. Planaria gono-
cephala wird wahrscheinlich postglacial vom Süden
her eingewandert sein, infolge ihrer vergleichsweise
N. F. m. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
685
höheren EmpfindUchkeit gegen niedrige Tempe-
raturen aber nur innerhalb bestimmter klimatischer
Grenzen siegreich die schwächere alpine Form
verdrängt haben.
Um einen direkten Kampf ums Dasein handelt
es sich übrigens bei diesen Strudelwürmern nicht,
obwohl die schwächere Planaria alpina der über-
legenen Planaria gonocephala mit sichtlicher Scheu
airsweicht. Dagegen läßt sich experimentell fest-
stellen, daß bei dauerndem Verlassen des Tempe-
raturoptimums vom umgebenden Wasser die
Planarien allmählich schlaff, lässig in der Nahrungs-
aufnahme und zugleich, wohl infolge der schlechten
Ernährung immer weniger fortpflanzungsfähig
werden. Hier ersetzt also zweifellos das Milieu
den direkten Kampf ums Dasein; die Beschaffen-
heit des Milieus dezimiert die „zurückweichende",
produziert — ich darf es wohl ganz direkt so
bezeichnen — die „siegende" Art.
Und .so empfindlich fand Voigt diese Plananen
als Reagens auf Temperaturveränderungen , daß
ihre Verbreitung direkte Schlüsse auf die ehe-
malige Bewaldung der Gegend zuläßt.
Dr. Wolff (Berlin).
langsam fortsetzte. Selbst mittags wurden seit dem 23. nicht
immer 15" C erreicht, und in der Nacht zum 29. sank die
Temperatur in Aachen bis auf 5" C, in der folgenden Nacht
ging sie zu Cassel bis auf 3, zu Uslar sogar bis auf einen
Grad herab. Auch die Mitteltempcraturen des Monats blieben
in ganz Deutschland hinter ihren normalen Werten zurück,
zwar im Nordosten nur etwa um einen halben, im Süden aber
um einen vollen Grad und im Nordwesten um I '/2 Grade.
Ebenso war die Dauer des Sonnenscheins, die z. B. in Berlin
249 Stunden betrug, etwas geringer, als sie im Monat mit
den längsten Tagen zu sein pflegt.
Die Mengen der Niederschläge waren, wie unsere zweite
Zeichnung ersehen läßt, im Norden und Süden des Reiches
anfänglich sehr verschieden groß. Über Süddeutschland cnt-
Wetter-Monatsübersicht.
In der ersten Hälfte des vergangenen Juni herrschte in
Deutschland trockenes und ziemlich heiteres, in der zweiten
hingegen trübes, regnerisches Wetter ^or, während die Tem-
peraturen überall bedeutende Schwankungen aufwiesen. Ihre
in der beistehenden Zeichnung wiedergegebenen Tagesmaxima
Tjmncrafur^Alaxima eiiiii^crÖrfcimöuiii 190^
13'
'3 f.
28* i r»,i ^A
"Breslau.' %,'
;; — ?f*'i «•
-rranKFurHi"'
waren am Anfang des Monats im Osten merklich hoher als
im Westen. Auf die heißen Tage folgten dort aber auch be-
sonders kalte Nächte; um den 5. kamen im ganzen Lande
nordöstlich der Oder wiederholentlich Nachtfröste vor,
durch die namentlich die Kartoffelfelder stark geschädigt
wurden.
Die heißeste Zeit fiel mit der Mitte des Juni fast zusam-
men, in Süddeutschland und im nordöstlichen Binnenlandc
überschritt das Thermometer mehrfach 30» C. Dann aber
trat überall eine starke Abkühlung ein, die sich, wenn auch
mit einigen Unterbrechungen, bis gegen Ende des Monats
» Oi
HioCcfsc^^^fö^cn im 3uni 1904.
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Deufschland.
^o^a^ssumme^il^Juni
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'I [ I I M lfl.bis30.Juni. .
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C.A.3 BerlmrWettei-bunau
luden sich an mehreren Tagen außerordentlich starke Ge-
witter, die in einzelnen Gegenden Badens mit verderblichen
Hagelschlägen verbunden waren. Am i. Juni wurde zu
Karlsruhe eine Niederschlagshöhe von 47 mm, am 5. zu Mün-
chen eine solche von 44 mm gemessen. Gleichzeitig herrschte
in Norddeutschland Dürre, die bis zum 9. im Westen, wah-
rend der folgenden S Tage im Osten am empfindlichsten war.
Da auch in der zweiten Hälfte des Mai sehr wenig Nieder-
schläge gefallen waren, wurden durch diesen lange anhalten-
den Regenmangel und die den Erdboden noch mehr aus-
dörrenden trockenen Nordostwinde, besonders für die Somraer-
früchte und Futtergewächse, die Ernteaussichten wesentlich
vermindert.
Zwischen dem 17. und 18. Juni brachen auch über dem
gröfsten Teile Norddeutschlands heftige Gewitter aus, die
in Nordwest- und Mitteldeutschland von Stürmen und star-
ken Hagelschlägen begleitet waren und besonders in der
Kheinprovinz, Westfalen ; und Braunschweig großen Schaden
anrichteten. Im Eifelgebict und in der Gegend von Seesen
wurden strichweise die gesamten FeldfrUchte vernichtet. Seit-
dem wiederholten sich in Norddeutschland die Regenfälle bis
zum Ende des Monats ziemlich häufig, waren aber im allge-
meinen wenig ergiebig. Süddeutschland hatte in dieser Zeit
eine Reihe ganz trockener Tage, nur am 25. und 26. fanden
überall in Deutschland bei stürmischen Westwinden starke
Regcnfälle statt. Die gesamte Regenmenge des Monats betrug
für" den Durchschnitt aller berichtenden Stationen 53,8 mm,
während dieselben im Mittel der letzten dreizehn Junimonate
66 mm Niederschlag geliefert haben. Seit dem Jahre 1900
ist in jedem Juni etwas weniger Regen als im Juni vorher
gefallen.
In der allgemeinen Anordnung des Luftdruckes vollzogen
sich die Änderungen von einem Tage zum andern gewöhnlich
686
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 43
nur langsam. Zu Beginn des Monats begab sich ein umfang-
reiches barometrisches Maximum vom hiscayischen Meere über
England nach dem europäischen Nordmeer hin. Hier ver-
weilte es bis fast zur Mitte des Juni, während Südwesteuropa
von einzelnen, zwar sehr flachen Depressionen durchzogen
wurde, die aber in Spanien, Frankreich und Norditalien
lurchtbare Unwetter herbeiführten. Für Mitteleuropa wurde
durch diese Luftdruckverteilung eine trockene, ziemlich warme
Nordostströmung bedingt, wogegen durch Rußland einzelne
tiefe Barometerminima mit kalten, dampfgesättigten Nordwest-
winden wanderten.
Am 13. Juni erschien ein tiefes barometrisches Minimum
auf dem atlantischen Ozean bei Irland und drang mit weit
verbreiteten Regenfällen allmählich mehr und mehr nordost-
wärts vor, so daß sich in Deutschland und ganz Mitteleuropa
die Winde nach Südwesten, später, als ein neues Hochdruck-
gebiet nach England gelangt war, vollends nach Westen
drehten und eine starke Abkühlung herbeiführten. Ein eben-
falls recht tiefes Barometerminimum eilte vom 24. — 26. Juni
vom atlantischen Ozean über die Nordsee nach der Ostsee
hin, von wo es seinen Weg mit viel geringerer Geschwindig-
keit und abnehmender, später jedoch wieder zunehmender
Tiefe ostwärts fortsetzte. Für Deutschland hatte es eine
längere Zeit mit kühler und, namentlich im Norden, trüber,
feuchter Witterung zur Folge, die erst kurz vor Schluß: des
Monats ihr Ende fand, nachdem das durch das Minimum
zurückgedrängte Hochdruckgebiet sich von neuem über Mittel-
europa ausgebreitet hatte. Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
Ernst Ruhmer, Konstiuktion, Bau und Beltieb von
Funkeninduktoren und deren Anwendung,
mit besonderer Berücksichtigung der Röntgen-
strahlentechnik. Nebst einem Anhang: Röntgen-
technik des Arztes, von Dr. Schürmayer. Mit 338
Abb. und 4 Tafeln. 312 Seiten. Leipzig, Hach-
meister und Thal, 1904. — Preis geh. 7,50 Mk.
Das Buch gibt an der Hand zahlreicher Abbil-
dungen der von den verschiedensten Firmen in den
Handel gebrachten Apparate eine ausführliche Be-
schreibung der Konstruktion der Induktionsapparate
und zwar sowohl der kleinen, für Faradisierung be-
nutzten Rollen, wie auch der gewaltigen Funken-
erzeuger, die in den letzten Jahren durch rationellere
Disposition eine außerordentliche Vervollkommnung
erfahren haben. In besonderen Kapiteln werden
dann die zahlreichen Arten der Unterbrecher, die
Stromquellen, Nebenapparate und Schaltungsweisen
behandelt. Das zehnte bis dreizehnte Kapitel sind
den Röntgenstrahlen gewidmet, die dann noch im
.'Anhang vom medizinischen Standpunkte aus beson-
ders gewürdigt werden. Die Schlußkapitel führen den
Leser noch in das an überraschenden Experimenten
so reiche und auch für die Heilkunde sicherlich be-
deutungsvolle Gebiet der Teslaströme und der durch
Oudin, Seibt und Slaby ausgebildeten Resonanz-
phänomene ein. Der Inhalt des Buches umfaßt so-
nacli gerade diejenigen Zweige der Elektrotechnik,
die das Interesse weiterer Kreise und namentlich der
Ärzte besonders auf sich gelenkt haben und man
kann allen, die auf diesem Gebiet selbst arbeiten
wollen , das Studium des knapp gefaßten , alle un-
nötigen Abschweifungen vermeidenden Buches nur
empfehlen. F. Kbr.
Dr. J. Classen, Theorie der Elektrizität und des
Magnetismus. I. Band: Elektrostatik und Elektro-
kinetik. Mit 21 Figuren. Leipzig, Göschen 1903.
184 S. — Geb. 5 Mk.
Sammlung Schubert XLI.
Auf die von demselben Verfasser gelieferte Optik
aus der Sammlung Schubert folgt hier die erste Hälfte
der Theorie der Elektrizität. Ihr erster Teil, die
Theorie der Elektrostatik, faßt zunächst die Haupt-
sachen der experimentellen Elektrostatik zusammen
und bespricht dann in einem Vergleich aus der Hvdro-
dynamik Niveauflächen , Induktionslinien etc. Dann
folgen die mathematischen Prinzipien der Elektrostatik
und das Maßsystem, darauf die Bestätigung der Theorie
durch die Erfahrung, die Weiterentwicklung der
Theorie, die Energie eines Systems von Leitern und
elektrostatische Messtmgen.
Ziemlich genau parallel dieser Entwicklung ver-
läuft dann im zweiten Teil , der Elektrokinetik , die
Theorie der strömenden Elektrizität : Beobachtungen,
das Bild aus der Hydrodynamik, Theorie, Bestätigung
durch die Erfahrung, Elektrochemie und Thermo-
elektrizität sind die Gebiete, die in den einzelnen
.\bschnitten behandelt werden.
Die Darstellung wird so gegeben, daß ein Leser,
dem die Anfänge der höheren Mathematik und die
der Vektorrechnung nicht unbekannt sind, sich durch
den vorliegenden Leitfaden in das Studium der Theorie
der Elektrizität gut einführen lassen kann. A. S.
Literatur.
Forster, Assist. Dr. A. : Das Muskelsystem eines männlichen
Papua-Neugeborenen. (Beitrag zur vergleich, menschlichen
Anatomie.) Mit 3 Taf. (140 S.) Leipzig '04, W. Engel-
mann in Komm. — 15 Mk.
Fraas, Prof Dr. E. ; Neue Zeuglodonten aus dem unteren
Mitteleocän vom Mokattam bei Cairo. Mit 3 Taf. (24 .S.
m. 3 Bl. Erklärgn.) Jena '04, G. Fischer. — 6 Mk.
Fritsch, Prof. Dr. Ant. : Paläozoische Arachniden. (86 S.
m. Abbildgn., 15 Taf. u. 15 Bl. Erklärgn.) 4". Prag '04,
F. Rivuäc in Komm. — Geb. in Leinw. 40 Mk.
Haberlandt, Prof Dr. G. : Physiologische Pflanzenanatomie.
3., neubearb. u. verm. Autl. (XVI, 616 S. m. 264 Abb.)
Lex. 8°. Leipzig '04, W. Engelmann. — 18 Mk. ; geb. in
Halbfrz. 21 Mk.
Hansgirg, Prof Dr. Ant.: PHanzenbiologische Untersuchungen
nebst algologischen Schlußbemerkungen. (VTII , 240 S.)
Le.x. S". Wien '04, A. Holder. — 6,So Mk.
Hollemann, Prof Dr. A. F'. : Lehrbuch der Chemie. Deut-
sche Ausg. Organischer Teil. Für Studierende an Univer-
sitäten u. techn. Hochschulen. 3., verb. .Aufl. (X, 490 S.
m. Abbildgn.) gr. 8". Leipzig '04, Veit & Co. — Geb.
in Leinw. 10 Mk.
Lippmann, Dir. Prof Dr. Edm. O. v, : Die Chemie der
Zuckerarten. 3. völlig umgearb. Aufl. der vom Vereine f.
die Rübenzucker-Industrie des Deutschen Reiches m. dem
I. Preise gekrönten Schrift: Die Zuckerarten u. ihre Deri-
vate. 2 Halbbde. (XXXVIII, 2003 S.) gr. 8°. Braun-
schweig '04, F. Vieweg & Sohn. — 30 Mk. ; geb. in Halb-
franz. 34 Mk.
Marshall, Prof Dr. W. : Die Tiere der Erde. Eine volks-
tüml. Übersicht üb. die Naturgeschichte der Tiere. 2. Bd.
Mit 285 Abbildgn. u. 8 färb. Taf nach dem Leben. (Die
Erde in Einzeldarstellgn. II. Abtlg. 2. Bd.) (V, 325 S.)
gr. 4". Stuttgart ('04), Deutsche Verlagsanstalt. — Geb. in
Leinw. 12 Mk.
Wundt, Wilh. : Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der
Entwicklungsgesetze v. Sprache, Mythus u. Sitte. I. Band.
Die Sprache. 2., umgearb. Aufl. i. Tl. (XV, 667 S. m.
40 Abbildungen.) gr. 8". Leipzig '04, W. Engelmann. —
14 Mk. ; geb. in Halbfrz. 17 Mk,
N. F. III. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
687
Briefkasten.
Pflanzensagen. — Auf Veranlassung des Herrn Prof.
Dr. P. .\scherson habe ich versucht, einer ihm von der
Redaktion der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift" über-
wiesenen Anfrage, Pflanzensagen betreffend, näher zu treten.
Es sei zunächst jene l'ragc hier wiedergegeben. Herr
Lehrer M. Gerstmeyr (in Unteringingen bei Nördlingen)
schreibt an Herrn Prof. Dr. Potonie: ,, Legst du das Kraut
(Drosera) in ein Glas mit Wein, da ein Gift vermischt ist,
alsbald zerbricht es das Glas. Ist aber das Gefäß steinern
oder aus Alabaster, so wird der Wein also stark siedend, als
wäre ein gewaltig Feuer darunter, daß auch der Wein heraus-
springt. — An diese Volkssage in Sohns ,, Unsere Pflanzen"
wurde ich erinnert, als ich im Oktoberheft des ,, Türmer"
(Greiner & Pfeilifer, Stuttgart) den kurzen Aufsatz las: Eine
verschwundene wunderbare Pflanze. Es wird dort allen Ernstes
behauptet, es hätte frühy eine Pflanze gegeben, welche die
Eigenschaft gehabt habe, Wasser, selbst kochendes, zu jeder
Jahreszeit in Eis zu verwandeln. Der Verfasser jenes Auf-
sätzchens zitiert dann einen Schriftsteller Prätorius aus dem
17. Jahrhundert in folgenden Worten : Es zeigte mir einstmals
ein Mann aus dem Ragnitschen ein Kraut, das halte einen
schwarzen Stempel und krauselichte, eingezackte runde Blätter;
sagte, er wolle ein Wasser, das da kochte, in kleiner Weile
nicht nur kalt, sondern auch gar frierend und zu Eis machen.
Um die Probe zu sehen, ließ ich Wasser beisetzen und auf-
sieden. In dem Sieden warf er etwas von dem Kraut hinein.
Das Wasser ließ nicht allein von dem Sieden nach, sondern
auch nach einer kleinen Weile setzte es eine Borke, als ein Eis, auf
welchem Eise zu sehen war die Gestalt des Krautes. — Am
Schlüsse des Aufsatzes stellt der .^utor die Frage: Was sagen
die Botaniker und Chemiker zu dieser Pflanze? — Und als
Leser Ihrer Wochenschrift gestatte ich mir die Frage: Was
sagt die ,,Naturwiss. Wochenschr." zu dieser Pflanze?"
Was die erwähnte .\rbcit von Sohns') anbelangt, so
ist ein kleiner Irrtum dazugekommen, indem dort von Alche-
milla vulgaris L. die Rede ist. Die betreffende Stelle (S. 18 f.)
lautet: ,,Auch ,, Unserer lieben Frauen Mantel" fehlt in der
Natur nicht. Es ist die Alchemilla. Poetischer Sinn verglich
ihre mantelarlig zusammengefalteten Blätter mit dem Mantel
der Maria, der, wie man auf alten Bildwerken häufig wahr-
nimmt, alle zu ihren Füßen Betenden mit einhüllt. Im übrigen
ist ein sehr gebräuchlicher Name der Pflanze ,,Sinau", den
noch Camerarius richtiger ,,Sinnau" schreibt. Das Wort
ist entstanden aus der Assimilation von sin - tau (schlesisch
noch heute ,,Sindau") in sinnau , würde also bei Ableitung
seines ersten Bestandteils von altd. sin (= immer, andauernd ;
— vgl. altd. sinlif = ewiges Leben und die bekannte sinfluot,
die schon lange vor Luther sich in unsere Sündflut ver-
wandelte) etwa Immertau bedeuten, und die Pflanze ist so
genannt,- weil ihre Blätter stets eine tropfenartige Ausschwitzung
der Haardrüsen zeigen, deren Ursprung man früher dem Tau
zuschrieb und die man in nordischer Sage die Tränen der
Frija nannte, die sie ihrem zu fernen Völkern gezogenen
Gemahl Odin nachweinte. Diese Tröpfchen, über deren Ent-
stehung man nie völlig ins Klare kommen konnte, denen da-
her stets ein geheimnisvoller Zauber anhaftete, sind im Mittel-
alter viel umfabelt worden. Die Alchimisten' (Alchemilla
soll die Pflanze von den Alchimisten genannt sein) suchten in
dem Tau den Grundstoff zu ihrer Goldtinktur und den Un-
sterblichkeit wirkenden Trank. Einer von ihnen bereitete aus
ihnen ein Getränk, das er Goldwasser nannte, das gegen alle
Krankheiten (besonders gegen Schwindsucht) helfen sollte und
das tatsächlich in Italien noch heute bereitet und genossen
wird. Auch Gift wollte man mittels der Pflanze erkennen.
So behauptet Kimrath: Legst du das Kraut in ein Glas mit
Wein, da ein Gift vermischt ist, alsbald zerbricht das Glas.
Ist aber das Gefäß steinern oder aus Alabaster, so wird der
Wein also stark siedend, als wäre ein gewaltig Feuer darunter,
daß auch der W^ein herausspringt."
(Für Entdecken und Erkennen von Gift hatte man im
Volksglauben verschiedene Mittel. In seiner Chronik sagt
Nicols: ,,So wird auch vom Saphir gemeldet / daß er dem
Gifft dermaßen zu wider sey / daß so er in ein Glaß mit
einer Spinne geleget / oder oben auff das Glaß da die Spinne
innen ist gelegt wird / so werde die Spinne geschwinde
sterben." Gleiche Dienste taten Diamant Rubin und Sma-
ragd.)
Reling und Bohn hörst, Unsere Pflanzen, 2. Aufl.
(1889) S. 99, führen für Alchemilla v. die Namen Sinau, Sin-
nau, Sindau, mittelhochdeutsch sintuwe d. h. Sin = tau, gleich
Immertau (vgl. Singrün) an. „Weil die Tautropfen in den
breitlappigen Blättern auch bei Sonnenschein stehen bleiben ;
daher auch der Name Sonnentau. Die Pflanze wurde früher
gegen Wunden usw. gebraucht und stand besonders bei den
Alchimisten in hohem .Ansehen; sie bedienten sich derselben
zur Auffindung des Steins der Weisen, des Lapis philoso-
phorum, und beim Goldmachen. Von dieser Verwendung
rührt der Name Alchimistenkraut her."
S. 388 heißt es ebenda : ,,Der Sonnentau Drosera rotun-
difolia. Der lang anhaltende ,,Tau" hatte auch die .Augen
der Alchimisten und Destillatoren auf sich gezogen ; sie sehen
in dieser Abweichung vom Gewöhnlichen ein „groß miraculuni
Dei" und wußten ihn mitsamt der Pflanze bei iüren geheimnis-
vollen Arbeiten zu verwenden. Kimrath [bei Ritter
V. Perger, Pflanzensagen — 1864 — steht Kunrath] be-
richtet hierüber" — [es folgt die schon zweimal wiederge-
gebene Stelle „Legst du das Kraut" usw.] „.Auch Arzeneien
wurden aus den betauten Blättern der pflanze bereitet, welche
Linderung und Heilung gegen Kopfschmerz, Stiche des Herzens
usw. gewähren sollten."
Montan US, Die deutschen Volksfeste, Volksbräuche und
deutscher Volksglaube usw. (1854) IV, S. 146: ,, Drosera
rotundifolia, ros solis, auch früher sponsa solis genannt. Der
Landmann wundert sich über den in brennender Sonnenglut
dort haftenden Tau, während die Hitze denselben sonst überall
/erdunstet, und hält deshalb die Pflanze für eine durch höhere
riuld begünstigte." — (S. 154: ,,Mit dem auf Erlenblättern
klebenden Honigtau wurde mancherlei Zauberwerk getrieben.")
Alchemilla und Drosera erfuhren also gleiche Schätzung.
Doch die .Alchimisten legten auch noch anderen Pflanzen ge-
heimnisvolle Kräfte bei. Ritter v. Perger, S. 157, be-
richtet, daß zu der sogenannten ,, Pflanzenauferstehung" auch
die Nessel dienen mußte. ,,Sie wurde von den .Alchimisten
verbrannt, aus ihrer .Asche eine Lauge bereitet und diese
der Kälte ausgesetzt. In diesem Eise sah man leibhaftige
Nesseln mit ihren Stengeln und Blättern und allem Zuge-
hörigen."
Kehren wir zu den Nachrichten über zertrümmerte
Becher zurück! Da spielte auch das Bilsenkraut eine Rolle.
O. Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben (1893)
S. 276 f. : ,,Das schwarze Bilsenkraut. Hyoscyamus niger.
Das Bilsenkraut mit Hermodactylen (Wurzeln der syrischen
Zeitlose, Colchium lUyricum, nach Tournefort aber die der
Iris tuberosa) und Realgar (rotem Arsenik) gemischt und einem
wütenden Hunde gegeben, so vergehet er alsbald, was freilich
einem gesunden auch geschehen würde. Aber mit diesen
Dingen den Saft des Bilsenkrautes in einen silbernen Becher
getan, bricht den Becher in kleine Stücke. (Bech stein,
Mythe, Sage usw. 1854, 1, 112.)"
Reling und Bohnhorst, S. 167 f.: „Die alten Arzte
gaben einen Weinaufguß der Blätter [des Bilsenkrauts] gegen
das Fieber."
Beim Fieber angelangt, möchten wir jetzt den Punkt er-
reicht haben, von dem aus mehr oder minder gewaltsam eine
Verbindung zu dem so zauberschnell zu Eis gewordenen
kochenden Wasser gesucht werden kann, d. h. wir haben,
wenn wir uns der Meinung des Herrn Hofrat Dr. M. Hoefler
(in Tölz) anschließen, es in der Hauptsache mit Sprachbildern
zu tun. Der genannte Forscher schreibt mir: ,,Eine giftver-
treibende und auch Heißes in Kaltes verwandelnde Pflanze ist
Nymphaea alba L. = Nenufar, deren Verwechslung mit der
Lotosblume der Indier ') durch die Araber vermittelt wurde.
.Als Verkörperung der ,, Nymphen" oder Wasser - Tocken
(Puppen) schließt sie elbische Kräfte ein. [Alpdrücken ; böse,
aufregende Träume.] Die bei Eugene Rolland, Flore
populaire I (1896) S. 155, angegebenen Eigenschaften von
Nymphaea stimmen genau dazu; sie verändert heiße Liebe in
1897)
^) Franz Sohns, Unsere Pflanzen (Teubner , Leipzig
') Nelumbium speciosum.
688
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 43
Kälte; etc. etc. Die Pflanze ist ein Klostermittel. — Man
müßte nunmehr die Übersetzungen der Eigenschaften der Lotos-
blume auf die Nymphaca verfolgen. Das Kloster Tegernsee
hat dieses Mönchskraut im Wappen. Es heißt auch Seeblatt,
Seerose, Wasscrtockclein [usw.] Vgl. auch Grimm, Mythol. 2,
p. 620. I147; Allgem. Ztg. 20. Dez. 1S42; Beilage p. 2825. —
Jedenfalls ist der ganze Nymphaea-Mytho^ aus orientalischer
bzw. arabischer Quelle. Der orientalische Nimbus wurde auf
europäischem Boden zur Veranlassung weiterer Ausschmückun-
gen. [Die Blume war inzwischen zur Heilpflanze geworden.]
In der Volksmedizin (l6Sr) külilt sie das Herz und die Leber,
ist köstlich für das Fieber [usw.], also deutlich eine Weiter-
führung der kaltmaclienden Eigenschaft der Pflanze. — Die
orientalische Auffassung wurde durch die Araberschulen den
Mönchen vermittelt , welche dann das Ganze ins Sagenhafte
umzusetzen verstanden. Manche Heilkraft einer
Pflanze begründet sich auf den Mythos, und die-
ser wieder entsprang dem Glauben an elbische
Wesen, die in Pflanzen verkörpert sein sollten.
Das Unverständliche wurde durch die Volks-
phantasie metaphorisch umgedeutet. So kann
also aus dem volks medizinischen Glauben auch
als Metapher eine Pflanze erscheinen, welche
heißes Wasser zum Gefrieren bringt; immer aber
steckt irgend ein Kern hinter solchen Sagen." —
Als Nachtrag sendet Herr Hofrat Hoefler noch die Mit-
teilung, daß in Zimmern's „Keilinschriften" S. 364, 366
(3. Aufl.) ,.im Babylonischen bereits „in Feuer und Wasser
halten" der terminus tcchnicus für Fieberhitze und Schüttel-
frost ist. — Pflanzennamen und Pflanzensagen entsprangen
dem Bedürfnis nach Heilmitteln." E. Lemke.
Nachschrift. Die Prätorius'sche F.ispflanze ist bereits 1888
auf der Versammlung des Westpreußischen Botan. -Zoologischen
Vereins in Danzig ') von unserem unvergeßlichen, auf dem
Gebiet des Folklore so erfahrenen Freunde A. Treichel
besprochen worden, welcher mit Recht die Deutung des
,, schwarzen Stempels" als der in der botanischen Termino-
logie so bezeichnete Fruchtknoten oder Griffel ablehnt und
die Vermutung ausspricht, daß damit eine schwarze (oder
dunkle) Zeichnung des Blattes gemeint sein könne. Wenn
wir von dieser zweifelhaften Bestimmung absehen, so könnte
man wohl an die im vorstehenden genannte Alchimilla vul-
garis denken, deren Blätter in der Tat ,, krauselicht, eingezackt
und rund" sind. Warum sollte im Volksglauben nicht eine
Pflanze, die kalte Flüssigkeiten ins Sieden bringt, auch
siedende zum Gefrieren bringen können?
Was übrigens die Autorität des Matthäus Prätorius
als angeblicher Augenzeuge des ihm von einem litauischen
„Zauberer" vorgemachten Experiments, über das er in seiner
„Preußischen Scliaubühne" S. 45 berichtet, betrifl't, so ist sie
nach Mitteilung meines verehrten , in der heimatkundlichen
Literatur von Ost- und Westpreußen so bewanderten
Kollegen Abromeit eben nicht hoch anzuschlagen, da dieser
Mann sich des übelsten Rufes ,, erfreut". Seines Amtes als
protestantischer Geistlicher wegen sittlicher Verfehlungen ent-
setzt , flüchtete er nach Polen , trat dort zum Katholizismus
über und wurde der heftigste Gegner seines früheren Glaubens.
Etwas Jägerlatein wäre also das Geringste, was ihm vorzu-
werfen wäre.
Schon Kolberg hat übrigens, wie Treichel erwähnt, in
seiner Abhandlung-) über den Besuch des Angelsachsen
Wulfstan in Preußen die Prätorius'sche Eispflanze mit der
Nachricht dieses Zeitgenossen von König Alfred, daß die .An-
wohner der Weichselmündungcn im Winter wie im Sommer
nach Belieben Eis zu bereiten verständen, in Verbindung ge-
bracht. Die von dem Einsender der Notiz im ,, Türmer" über-
nommene Frage ,,Was sagen die Botaniker und Chemiker" etc.
rührt von Kolberg her. Der angelsächsische Reisende spricht
indes nicht von einem Kraute ; da ich mit der Geschichte der
künstlichen Eisbereitung nicht vertraut bin , überlasse ich an-
deren festzustellen, ob die Kenntnis der betreffenden Eigen-
schaften des Kochsalzes schon in dieser Zeit vorausgesetzt
werden darf P. Ascherson.
Herrn P. F. in Leipzig. — Herr Landesgeologe Dr.
Dathe gibt freundlichst die Auskunft, daß für das eigentliche
Riesengebirge in Betracht kommen bei geolog. ■ mineralog.
Exkursionen: H.Traube: Die Minerale Schlesiens. Breslau
1888; Gürich: Führer in das Riesengebirge; J. Roth:
Erläuterungen zur geognostischen Karte von Niederschlesien.
Herrn F. M. in Schöneberg. — Die buntblättrigen Hol-
lunder (Sambucus nigra) sind Gartenzüchtungen. Die einge-
sandte Züchtung heißt S. n. fol. argenteo-marginalis (vgl. Sie
Dippel's Laubholzkunde (P. Parey in Berlin) 1 (1889) p. 168
bis 169).
Herrn E. E. in Reichenberg. — l) Physikalische Zeit-
schrift, herausg. von E. Riecke und H. Th. Simon. Verlag
von S. Hirzel in Leipzig. Monatlich 2 Hefte für vierteljähr-
lich 5 Mk. 2) Meteorologische Zeitschrift, herausg. von Hann.
Wien. 3) Meyer, Die Naturkräfte. Leipzig, Bibliogr. Inst.
1903. Preis geb. 17 Mk. (vgl. Besprechung Naturw. Wochen-
schrift Bd. 11, S. 564). Darin ist auch das Licht behandelt.
Herrn M. L. in Winterthur. — Sie finden die gewünschte
Auskunft in den Provinzlisten im zweiten Teil von Kunze's
Kalender für das höhere Schulwesen in Preußen (Breslau,
Preuß & Jünger). Über Berechtigungen der höheren Sclmlen
gibt ausführlich Auskunft: A. Beier, Die Berufsausbildung in
Preußen. Halle a. S., Buchh. d. Waisenhauses. 1903.
Herrn H. in Charloltenburg. — Wir empfehlen Ihnen zu
I. und 2. die in Kleyer's Enzyklopädie (Verlag von J. Maier
in Stuttgart) erschienenen, diesbezüglichen Bände von Kleyer
(Körperberechnungen, 4 + 9 Mk. ; ebene Trigonometrie 18 Mk.).
Zu 4. beachten Sie Ostwald, Die Schule der Chemie.
') Schriften der naturf Ges. Danzig VII, Heft 2, S. 251.
'■') Ermländische Zeitschrift VI, S. 59.
Herrn Dr. O., Arnhem (Holland). — Für Ihren Zweck
kämen vor allen zwei kleinere Werke in Betracht, die
eine Bestimmung der Hölzer mit einer guten Lupe ermög-
lichen. Es sind dies: l) Robert Hartig, Die anatomischen
Unterscheidungsmerkmale der wichtigeren in Deutschland
wachsenden Hölzer. 3. Auflage. 22 Holzschnitte. München
1890 (Rieger'sche Universitätsbuchhandlung). Preis 1 Mk. —
2) Nördlinger, Anatomische Merkmale der wichtigsten
deutschen Wald- und Gartenholzarten (Stuttgart 1881. Cotta-
sche Buchhandlung), das Sie wohl zweckmäßig neben den
Querschnitten benutzen können. Preis ungefähr gleich dem
vorigen. Sehr praktisch würde für .Sie sein : B u r k a r t ' s Samm-
lung der wichtigsten europäischen Nutzhölzer in charakteristi-
schen Schnitten. Mit erläuterndem Text. Brunn. l88o. Ver-
lag von Burkhart's Buchdruckerei. Dieses Werk enthält
40 Holzarten in je einem Quer-, Radial- und Tangentialschnitt
und gehört zu den vom technologischen Gewerbemuseum in
Wien herausgegebenen Lehrmitteln. Der Text nimmt ein-
gehend auf die technischen Eigenschaften der Hölzer Bezug.
An anderen Werken kämen in Betracht: H. Mayr, Die
Waldungen von Nordamerika (18 Mk.) ; Möller, Jos., Bei-
träge zur vergleiclienden Anatomie des Holzes. Denkschr. d.
Akad. in Wien. Bd. 36. 1876, das jedoch für die Koniferen-
hölzer unbrauchbar ist, und Solereder, Systematische Ana-
tomie der Üicotyledonen 1899 (36 Mk.j ; die drei letztge-
nannten Werke setzen allgemeine Kenntnisse in der mikro-
skopischen Anatomie voraus. W. G.
Inhalt: Prof. Dr. G. Fritsch: Vergleichende Betrachtungen über die ältesten ägyptischen Darstellungen von Vi>lkstypen.
— Kleinere Mitteilungen: N. A. Borodin: Über die Fischcreiverhältnisse in Rußland. — Einfluß der Kinder-
heiraten auf die körperliche Beschaffenheit der Bevölkerung Indiens. — Oudemans: Mauersegler, Cvpselus (Micro-
pus) apus L. — Dr. Schlickum: Über abnorme Kirschblüten. — W. V o i g t : Über die Reste der Eiszeilfauna in
mittelrheinischen Gebirgsbächen. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Ernst Rulimer: Funken-
induktoren. — Dr. J. C lassen: Theorie der Elektrizität und des Magnetismus. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-Wcst b. Berlin.
Druck vnn Lippen & Cu. (G. P.Htz'sche P.uch<Ir.), Nanint>nrc a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-\Vest bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 31. Juli 1904.
Nr. 44.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen -
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der i
Vierteljabrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Vergleichende Betrachtungen über die ältesten ägyptischen Darstellungen von
Volkstypen.
[Nachdruck verboten.]
Vom Geheimen Medizinalrat Prof. Dr. G Fritsch.
(Schluß.)
II.
So sehen wir aus den Urzeiten durch glück-
hche Vereinigung mehrerer sehr ungleicher Ele-
mente ein hochbegabtes Kulturvolk entstehen,
welches uns in der ältesten Geschichte des Landes
bereits als ein einheitliches Ganze entgegentritt.
Wie bereits angedeutet, waren auch dann, d. h.
etwa im Beginn des mittleren Reiches bei ge-
nauerer Betrachtung immer noch Anklänge an die
Verschiedenlieit der Wurzeln des Volkes in den
auftretenden Typen bemerkbar, wenn sie auch
den archäischen Charakter abgestreift hatten.
Herr Wiedemann hat in der zweiten, oben
. abgebildeten sitzenden Figur aus guten Gründen
einen Übergang von der Friihkunst zu der rein
ägyptischen erkannt und betont ausdrücklich, daß
die Gesichtszüge nunmehr rein ägyptisch geworden
seien, worin ich ihm vollkommen beistimmen
möchte.
Einen ähnlichen Übergang scheint der jeden-
falls tief in das alte Reich zurückzudatierende große
Sphinx zu Gizeh darzustellen, dessen Nase leider
zu sehr zerstört ist, um das Gesicht richtig be-
urteilen zu können, doch gibt die vorspringende
Kieferpartie mit dem breiten Mund bei nur mäßig
aufgeworfenen Lippen immer noch einen rohen,
wenig edlen Charakter. Die Figur soll bekannt-
lich einem Pharao Hor-em-chu gewidmet sein, be-
ziehungsweise die Züge desselben tragen und weit
vor den Erbauer der benachbarten Pyramide, Chefren,
seiner Entstehung nach zurückdatieren.')
Die in mehreren Exemplaren vorhandene Statue
des Chefren selbst gibt alsdann den besten Anhalt
für den nunmehr auftretenden kräftigen, oder selbst
massiven Schnitt des Gesichts, welcher gleichwohl
edler Verhältnisse nicht entbehrt, wie sie sich auch
in der ganzen Figur und Haltung geltend machen.
Mit der sechsten Dynastie verliert sich aber
die Geschichte des Landes und seiner Herrscher-
familien nochmals in ein geheimnisvolles Dunkel,
um erst mit der als die zwölfte gezählten Dynastie
wieder in einem hellen, aber vorübergehenden
Glänze zu erstrahlen.
') Eine Anzahl moderner .'\gyptologen ist bekanntlich
geneigt, das ersichtlich hohe Alter der Sphinx als „Imitation"
anzusprechen, wofür es an genügendem Anhalt zu fehlen scheint.
690
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 44
Leider haben wir bisher, von den hervorragen-
den Pharaonen der sechsten Dynastie, Pepi I. und IL,
keine sicheren Porträtdarstellungen, erst von den
ruhmvollen Begründern der zwölften Dynastie (um
2500 V. Chr. beginnend), die abwechselnd die
Fig. 12. Der Sphinx von Clizcli, nacli eigener Pliot.
in einer Schrift, betitelt : Ameneml.ia III et les
Sphinx de „San" (1893), welcher die beistehende
Re]jroduktion entlehnt ist.
Der Autor ist geneigt, eine Anzahl anderer
Bildwerke als vermutlich diesem Pharao ursprüng-
tig 14. Amencmha III. Nach Golenischeff.
Fifi
Fig. 13. Clicfren, nach eigener Pliot.
Kolossalfigur mil der Karlouclic des R.iniscs,
Rulak.-iSluseum, nach eign. Phot.
Namen Amenemhat und Usertesen trugen, be-
sonders von dem Pharao Amenemhat III., scheinen
mehrere sichergestellt, welche sich im Berliner
Museum und in der P>emitage zu St. Petersburg
befinden. Dieselben haben durch Herrn Goleni-
scheff eine eingehendere Würdigung gefunden
lieh zugehörig zu betrachten, obwohl er sich selbst
über die großen Unterschiede der Gesichtsbildung
nicht hat täuschen können. Es liegt allerdings
ein gemeinsamer Typus zugrunde, und hat z. R.
eine andere Kolossalfigur, welche sich im Museum
von Gizeh befindet und offenbar erst später mit
N. F. in. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
691
der Kartouche von Ramses II. versehen wurde,
wie beistehende Figur beweisen dürfte, auch einige
Ähnlichkeit mit derjenigen der Petersburger Ere-
mitage. Sie wird in dieser Hinsicht freilich durch
eine andere Statuette im Besitz des Herrn Goleni-
scheff übertroffen, welche der Autor wohl mit
Recht geneigt ist, ebenfalls dem Pharao AmenemhS
zuzusprechen. An dieser Stelle kommt es mir
indessen nur darauf an zu beweisen, wie noch im
Anfang des mittleren Reiches ein Typus unter den
Herrschergeschlechtern verbreitet war, der sich an
denjenigen des Cheiren aus dem alten Reich trotz
der dazwischen liegenden tausend Jahre noch eng
anschließt.
Hier hat sich also tatsächlich die vielgerühmte
ägyptische Konstanz der Charaktere wirklich be-
währt.
nisse der Hyksos gerichtet, aber wie dem auch
sei, ihr fremdländischer Charakter ist außer
Zweifel und es erscheint doch viel weniger wunder-
bar, daß von irgendeinem ägyptischen Herrscher
nur einzelne Porträtstatuen übrig geblieben sind,
als daß ein ganzes Volk, welches Jahrhunderte lang
in Unterägypten geherrscht hat, absolut keine
figürlichen Darstellungen seiner Herrscher sollte
hinterlassen haben.
Die am besten erhaltene Sphinxfigur, deren
Profil ganz besonders charakteristisch erscheint,
findet sich verhältnismäßig selten abgebildet im
Vergleich mit der kleineren, etwas beschädigten,
vielleicht wegen der örtlichen Schwierigkeiten der
Aufnahme, welche eine harte Beleuchtung be-
wirken; das Profil wird dadurch aber nicht ge-
stört. Ich gebe anbei Vorder- und Seitenansicht
Fig. l6. Hyksos-Sphinx von Tanis aus dem i'.ulak-Muscimi, nach cign. Fhot.
Herr Golenischeff geht aber noch viel
weiter, indem er auch die Sphinxe von San im
Delta, welche man lange gewöhnt war, im An-
schluß an die von Mariette-Pascha ausgehende
Auffassung, dem Hirtenvolke der Hyksos zuzu-
sprechen, als vermutlich ebenfalls auf den Pharao
Amenembä III. bezügliche Bildwerke zu erklären.
Die ganz enorme Verschiedenheit der Gesichts-
bildung, deren fremdländischen Charakter der Autor
als eine bisher unerklärte Tatsache zugeben muß,
mit den Zügen der anerkannten Porträtstatuen des
Amenemhä glaubt er auf eine spätere Überarbeitung
der letzteren zurückführen zu können, als der
Pharao Merenptalj sie für seine eigene Person her-
richten ließ, was sachlich unzulässig erscheint.
Offenbar ist die Meinung eines großen Teils
der modernen Agyptologcn gegen Mariette's
Deutung der Sphinxe, der sich auch de Rouge
und Deveria angeschlossen hatten, als Erzeug-
nach eigener Photographie, sowie den Vorderteil
einer unvollständigen Königsfigur mit ähnlichen
Gesichtszügen. Den Kopf des Sphinx durch Über-
arbeitung aus dem Porträt des Amenemljä III. zu
machen, erscheint gänzlich ausgeschlossen.
Die große Breite des Gesichts mit den vor-
springenden Backenknochen, der kräftige aber nicht
negerhafte Mund und der Schnitt der Augen weisen
unzweifelhaft nach Asien hinüber und finden sich
bis auf den heutigen Tag unter den turanischen
Nationen vertreten. Das platte Gesicht ist eine
Eigentümlichkeit, welche bekanntlich unter den
westasiatischen Stämmen sehr häufig auftritt; daß
durch Abmeißeln solches Gesicht nicht vortretender
werden kann, sollte wohl von selbst einleuchten.
Der gleiche Charakter prägt sich in dem Vorder-
teil der im Fayum gefundenen Kolossalfigur aus,
welche von Mariette-Pascha im alten Museum
von Bulak neben die Sphinxe von San als zu
692
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 44
ihnen gehörig gestellt wurde, obwohl sie mit
keiner Löwenmähne, sondern mit einer Perücke
ausgestattet ist, die ganz an die Mode des alten
Reiches erinnert. Auch die Tracht, besonders
die eigentümlichen, an den Seiten des Halses auf
die Brust herablaufenden Gehänge sind sehr un-
gewöhnlich. Die Berühmtheiten des leider etwas
dunklen, sogenannten „kleinen Hyksos-Saales" im
alten Museum von Bulak wurden durch zwei neben-
einander an Opfertischen stehende merkwürdige
Figuren aus schwarzem Basalt vervollständigt, mit
Fisch- und Vogelemblemen reich verziert, deren
Gesichtszüge leider sehr verstümmelt sind; man
konnte nur sagen, daß auch diese einen durchaus
fremdartigen, unägyptischen Typus trugen.
Fig. 17.
Büste eines Königs, Bulak-Museum.
Nach eign. Phot.
Herr Golenischeff hat sich das Verdienst er-
worben, in der angeführten Schrift auch eine kleine
Sphinxfigur des Turiner Museums zur Abbildung
zu bringen, welche mit der gleichen Löwenmähne
wie die Sphinxe von San ausgestattet ist und
dabei ein Gewicht trägt, welches ein behäbiger
Bierwirt in den Straßen von München ohne auf-
zufallen spazieren führen könnte. Es zeigt dies
Beispiel, wie unzulässig es ist, von einem „nubischen"
Typus der Sphinxe zu sprechen, wo doch ein ein-
heitlicher Typus überhaupt nicht vorliegt.
Mögen nun auch die Sphinxe von San und
andere mit verwandten Gesichtszügen ausgestattete
Bildwerke Hyksos darstellen oder nicht, wesentlich
bleibt, daß sie auf ein den eigentlichen Ägyptern
fremdes Volk hinweisen, welches sich ihnen bei-
gemischt hat.
Aber auch sie konnten ebensowenig wie die
hellfarbigen Libyer ihre Rassenmerkmale im Kampf
ums Dasein dauernd zur Geltung bringen; während
wir bis auf den heutigen Tag unter der jetzt
lebenden Bevölkerung Anklänge an den Pharaonen-
typus des alten Reiches antreften, vermißt man
Rückschläge in den bezeichneten Typus der Sphinxe
von San. Allerdings hat unser leider zu früh ver-
storbener Ebers,') ein ausgezeichneter Kenner
.Ägyptens, der sich in der Hyksosfrage ebenfalls
Mariette angeschlossen hatte, behauptet, daß
sich tatsächlich im Gebiet des alten Tanis, der
Umgebung des heutigen Menzaleh-Sees, der be-
schriebene Typus unter der Landbevölkerung bis
auf den heutigen Tag mit großer Zähigkeit er-
halten habe. Mir sind leider bei meinem längeren
Aufenthalt gerade in dieser Gegend solche Ge-
sichtsbildungen nicht aufgefallen.
Der wünschenswerten Vergleichung wegen möge
hier auch die Figur des Turiner Sphinxes nach
Gol en isc h eff's Abbildung einen Platz finden.
Die außerordentliche Verschiedenheit der Gesichts-
bildung wird sich dadurch ohne weiteres ergeben.
Auch dieser Typus scheint wieder vollständig
verschwunden zu sein.
Somit verliert sich die langsam fortschreitende
Fixierung des typischen, ägyptischen Volkes, wie
es uns später im Fellah entgegentritt, für ein
weiteres Jahrtausend im geheimnisvollen Dunkel
für das Land offenbar sehr trüber Zeiten, in denen
die langsam errungene Kultur im höchsten Maße
gefährdet war.
III.
Mit dem Eintreten einer besseren, ruhmreicheren
Zeit erscheint der Volksbildungsprozeß bereits
definitiv abgeschlossen, die rotbraunen Männer mit
dem nicht unschönen, aber meist ausdruckslosen
Gesicht, dem trainierten, sehnigen Gliederbau bei
auffallend breiten Schultern und schlanker Taille,
wie sie dem Nigritier und darunter auch dem
„Nubier" keineswegs zukommen, treten uns als die
autochthonen Bewohner des Landes entgegen, da
der Werdegang längst vergessen ist.
Obwohl der eigentliche Fellal.i, der Bebauer des
flachen Landes weiter unter dem Jahrtausende
alten Druck ein kümmerliches und trotz seiner
Mühe und Qual zufriedenes Dasein führte,
müssen doch breitere Schichten der Bevölkerung
an der verhältnismäßig hohen Kultur teilgenommen
haben, wie sich aus den massenhaften Schrift-
stücken auf Papyrus ergibt, die Aufklärung über
das private Leben auch der tiefer stehenden Klassen
gewähren.
Daß die urtümlichen Elemente, aus denen sich
die Rasse aufbaute, vielfach durch eine ziemlich
helle Hautfarbe ausgezeichnet waren, ergibt sich
noch aus der üblichen Darstellung des durch-
schnittlich weniger der Sonne ausgesetzten weib-
lichen Geschlechts, wo der Hautton als Regel viel
heller angelegt ist als bei den Männern.
Natürlicher Bart war verpönt und galt als ein
Merkmal der Barbaren, auch der Kopf war viel-
fach rasiert und nach Stand und Sitte durch künst-
') Ebers: Ägypten in Wort und Bild. I. S. 108.
N. F. m. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
693
liehe Perücken geziert, beim gemeinen Mann
scheint eine wohl künstlich beförderte Kräuselung
des ziemlich kurz gehaltenen Haares üblich ge-
wesen zu sein.
Indem auf diese Weise beim
Aufblühen des neuen Reiches
unter der achtzehnten und
neunzehnten Dynastie die „Ro-
men" als wohl charakterisierte
Rasse dem Forscher entgegen-
treten, sondern sich dieselben
um so auffallender von den
fremdartigen Elementen, die
in immer dichteren Massen in
das Land eindringen und nicht
alle so spurlos an dem physi-
schen Volkscharakter vorüber-
gingen als manche der früheren
Eindringlinge.
Noch einmal tritt der Typus
der alten Pharaonen, wenn auch
in viel unsichererer, schwanken-
der Gestaltung in den Herr-
schern der achtzehnten Dy-
nastie, den Amenljotep und
Thutmosis, in die Erscheinung.
Ihre Gesichtszüge bekunden
Kraft und Energie wie zur Zeit
des altertümlichen Chefren und
zwar nicht nur in den Bild-
werken , sondern auch den
Mumien selbst, welche ein wunderbares Verhäng-
nis bekanntlich bis auf unsere Zeit gebracht hat.
Die Standbilder und sonstigen Darstellungen
dieser Pharaonen, unter denen wohl der im British
Museum befindliche Kolossalkopf Thutmosis III.,
bedeckt mit dem Pschent, der Doppelkrone von
Ober- und Unterägypten, das Berühmteste ist,
stimmen mit den Zügen der Mumien sehr schlecht
Fi". iS. i-lphinx aus tkni Turincr Museum. Nach Golenisclieff.
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Fig. 19. Kulossalkopf von Thutmosis III. Londoner Museum.
überein, wobei allerdings der senile Charakter der
in hohem Alter Verstorbenen in Rechnung gestellt
werden muß. Nach der letzteren zu schließen,
müßte die Mundpartie Thutmosis III. eine ziemlich
edle gewesen sein, während der Kolassalkopf stark
aufgeworfene, fast negerhafte Lippen trägt; hier
tritt zum ersten Male eine Bildung des Gesichts
auf, welche an „nubische" Formen erinnert, ohne
daß indessen die Quellen in dieser Richtung einen
positiven Anhalt für die Annahme einer Kreuzung
ergeben.
Die eingehendste Untersuchung der Königs-
mumien, welche in der Felsenspalte von Deir-el-
babri aufgefunden wurden, ist bekanntlich in den
Sitzungsberichten derKönigl. Akademie der Wissen-
schaften zu Berlin durch R. Virchow gegeben
worden, welcher durch sorgfältige Messungen und
nach den Photographien entworfene Figuren die
Schädel und Gesichtsbildung der berühmtesten dar-
unter in volles Licht gesetzt hat.
Er konnte nicht umhin, dabei die prinzipielle
Frage zu erörtern, ob wir überhaupt annehmen
dürfen, daß die bildlichen Darstellungen, welche
uns überkommen sind, Anspruch darauf erheben
können, als Porträts bestimmter Personen ange-
sehen zu werden. Mit der ihm eigenen kühlen
Abwägung der Tatsachen kommt er zu der Über-
zeugung, daß eine solche Auffassung der Darstel-
lungen meist zweifelhaft, in manchen Fällen positiv
abzulehnen sei. Er scheute sich nicht damit gleich-
sam die Axt an die Wurzel unseres bisherigen
694
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 44
Baumes der Erkenntnis altägyptischer Volksstämme
zu legen und macht offenkundige, ziemlich schroffe
Opposition gegen die Schriftsteller, welche für
den Porträtcharakter eingetreten sind.
Unter diesen Schriftstellern war ich selbst mit
inbegriffen, da ich fünf Jahre vor der Publikation
über die Königsmumien Mitteilungen über den
Gegenstand vor der Berliner anthropologischen
Gesellschaft unter Vorlage von eigenen photo-
graphischen Aufnahmen gemacht hatte. ^) In diesem
Vortrage hatte ich darauf hingewiesen, daß bei
der Beurteilung zwei ganz verschiedene Dinge zu-
sammengeworfen werden, nämlich ob ein auf-
gefundenes altägyptisches Bildwerk auch wirklich
d i e Person darstellen soll, für welche es nach
den begleitenden Umständen, wie F"undstätte, In-
schriften, Beigaben usw. bestimmt schien,
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||[bII
Fig. 20. Mumienkopf von Tliulmosis III., nach Maspero.
oder ob es Porträtcharaktere trage, gleich-
viel welcher Person dieselben entlehnt sein
mochten.
Aus mancherlei Gründen, besonders aus der
iJberzeugung, daß die Gewöhnung und das Ge-
dächtnis für seine tägliche Umgebung damals so
wie heute die Hand des ausführenden Künstlers
geleitet haben wird, neigte ich der letzteren Auf-
fassung zu und glaube, daß als Resultat dieses
psychologischen Momentes wir selbst da eine Hin-
neigung zur Wiedergabe selbst erkundeter Porträt-
charaktere erwarten dürfen, wo der einreißende
Schematismus alles Individuelle auszulöschen drohte.
In der Tat steht, wie bereits oben ausgeführt
wurde, die ganze neuere Richtung der Forscher
wesentlich auf dem nämlichen Standpunkt und
R. \^irchow selbst hat ja in der oben angeführten,
später (1898) veröffentlichten Schrift über die
ethnologische Stellung des prähistorischen und
protohistorischen Ägypters eine entschieden mildere
Fig. 21. Soli I., K.ilksteinrelicf iu .\byJoä.
') Über Porträtcharaktcre allägyptischer Denkmäler. Zeit-
schrift d. Berliner Ges. für Anthropologie usw. Verhandl.
17. Febr. 1883.
Fig. 22. Ramscs IL, Relief ,,en creux", Louvre Paris.
Auffassung der Frage vertreten, wozu das reiche
von Herrn Fouquet (Kairo) gesammelte Material
nicht unwesentlich beigetragen haben dürfte.
Er mußte sich überzeugen, daß tatsächlich von
Urzeiten an sehr abweichende Typen in die ägyp-
N. F. m. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
695
tische Bevölkerung eingeschmolzen worden sind,
und konnte sich somit auch der Möglichkeit des
Wiederersclieinens eines vom Durchschnitt sich
entfernenden Typus in bildlicher Darstellung oder
selbst im Leben nicht wohl verschließen. Daraus
ergibt sich unmittelbar, daß auch abweichend dar-
gestellte Formen sehr wohl lebenden Modellen
entlehnt sein konnten, freilich ohne eine Garantie
dafür zu bieten, daß sie der gerade darzustellenden
Person eigentümlich waren.
Der wunderbare Fund der Königsmumien hat
der wissenschaftlichen Frage ein Material unter-
breitet, welches eine viel bestimmtere Entscheidung
gestattet, als je vermutet werden durfte. Es wurde
bereits vorstehend vermerkt, daß das als Porträt-
kopf des Thutmosis III. bezeichnete Bildwerk des
British Museum durchaus andere Züge trägt, als
uns die Mumie, deren nach der Photographie ent-
worfene Abbildung hier daneben gestellt wurde,
darbietet.
Die kräftige, aber edel geformte Nase war
mäßig aquilin, die Nasenflügel nicht breit angesetzt,
der Mund breit, die Lippen aber wenig aufge-
worfen, das energische Kinn sprang ziemlich stark
vor. Die Kiefer zeigen keinen auffallenden Pro-
gnathismus, doch ist das Gesicht keinesfalls flach
zu nennen, die Jochbogen springen wenig vor, die
Stirn ist hoch, etwas zurückweichend, die Ohren
klein, zierlich.
Dagegen zeigt der Kolossalkopf eine plumpe,
fast gerade Nase mit breitem Nasenrücken, etwas
breit angesetzte Nasenflügel, großen Mund mit
aufgeworfenen Lippen, volle, kräftig angelegte
Wangen, kurze Oberlippe und wenig vortretendes
Kinn, so wie es der abgebrochene, künstliche Bart
zu beurteilen erlaubt. Am ähnlichsten mit der
Mumie dürfte der eigentümliche Schnitt der Augen,
die mandelförmige Gestalt, gewesen sein. Anderer-
seits befindet sich das durchaus abweichend ge-
staltete Reliefbild des Pharao Seti L, welches im
Tempel von Abydos die Wand schmückt, mit den
Zügen der Mumie selbst, wenn man die Einflüsse
des Mumifizierens berücksichtigt, in erfreulicher
Übereinstimmung, wie auch Virchow in der mehr-
fach zitierten Schrift an F"iguren erläutert.') Da
Thutmosis der XVIII., Seti der XIX. Dynastie an-
gehört, so ist die Anschauung, daß gerade von
dieser Dynastie an ein Versinken der Kunst in
reinen Schematismus die Porträtcharaktere aus-
gelöscht habe, nicht von allgemeiner Gültigkeit.
Verwirrend mußte dabei auch die schon aus
früheren Zeiten stammende, auf die religiösen An-
schauungen zurückzuführende Unsitte wirken, mög-
lichst viele Darstellungen der eigenen Person zu
hinterlassen und daher anderen Herrschern ge-
widmete Bildwerke durch Fälschung der Namens-
inschrift für sich zu annektieren.
Allerdings tragen viele Bildwerke auch die
Kartouche von Ramses IL, welche, wie schon
Virchow hervorhebt, mit den Merkmalen der
Mumie unvereinbar sind. Es existieren aber auch
Darstellungen eben dieses Herrschers, z. B. das
Relief en creux, den noch jugendlichen Mann dar-
stellend, dessen Züge, abgesehen von der etwas
idealisierten, weniger aquilin angelegten Nase, auf
die Züge der Mumie des etwa neunzigjährig Ver-
storbenen sehr wohl zurückgeführt werden können.
Die Familie der Ramessiden stellt ersichtlich einen
neu zur Geltung gekommenen Bevölkerungstypus
dar, über dessen Entstehung mancherlei Ver-
mutungen aufgetaucht sind; Virchow ist offen-
bar vollkommen im Recht, wenn er erklärt, daß
auch nicht ein Merkmal der Mumien für die
Beimischung von Negerblut spreche, dagegen er-
scheint mir die ebenfalls bereits behauptete Bei-
mischung von semitischem Blut nicht von der
Hand zu weisen.
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'^/^ffip'
') Königsmumien S. 6.
Fig. 23. Mumienkopf Ramses [I.
Weder die Ramsesstatue im Tempel von Luksor,
noch die Kolossalfigur des Tempels von Abu-
Simbel, welche seinen Namen tragen, können den
Anspruch auf Porträtähnlichkeit mit der Mumie
erheben. Dagegen stimmt es mit der von mir
vertretenen Anschauung sehr gut überein, daß
diese an Ort und Stelle ausgeführten Bildwerke
offenbar n u b i s c h e n Charakter tragen. Die aus-
führenden Künstler standen eben bewußt oder un-
bewußt unter dem Einfluß der Bevölkerungstypen,
welche ihre tägliche Umgebung bildeten.
Bekanntlich hatte sich in dieser Zeit das jüdische
Element der Bevölkerung stark ausgebreitet, und
wenn auch die große Masse des Volkes in eine
untergeordnete Stellung gedrängt wurde, so er-
hoben sich gewiß einzelne durch besondere Ver-
anlagung aus der Menge und konnten zu Macht
und Ansehen gelangen, wie es in der Bibel be-
richtet wird. Damit war auch die Möglichkeit
696
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 44
einer engeren Verbindung mit vornehmen Kreisen
durch Verheiratung gegeben.
Wenn aucli unter seinem Naclifolger und Sohn
Minephtah der sogenannte Auszug der Juden statt-
fand, so blieben doch jedenfalls noch zahlreiche
Individuen im Lande zurück und doch gewann der
Ramsestypus oder der jüdische Typus überhaupt
unter der Bevölkerung keine nennenswerte Ver-
breitung. Der Verfall des Reiches gab sich immer
deutlicher zu erkennen, wenn auch die XX. Dy-
nastie besonders durch den Ramses II. nachahmen-
den Ramses III. (Rampsinit der Griechen) noch
eine kurze Zeit des Glanzes sah.
Es trat nunmehr jene Periode des Reiches ein,
welche für das Land eine dauernde werden sollte,
wo in kaleidoskopartigem Wechsel eine Fremd-
herrschaft die andere ablöste, und nur ganz vor-
übergehend die Herrschaft des Landes in einer
Hand ruhte. Für die hier zu behandelnden Fragen
ist sie von besonderer Wichtigkeit, weil die aus-
einander weichenden Bevölkerungselemente mit
Nachbargebieten Fühlung suchten und fanden, um
so die Bildung metamorpher Nationen, besonders
der äthiopischen Völker in mächtiger Weise zu
befördern.
Schon zur Zeit Ramses III. gelangten die unter
äthiopischem Einfluß stehenden Ammonspriester
von Theben zu großer Macht und Selbständigkeit, so
daß die in Tanis residierende XXI. Dynastie Llnter-
ägyptens Veranlassung nahm, die thebanischen
Priesterkönige nach Äthiopien zu verbannen. Dar-
aus ergibt sich ein dauernd stärker werdendes Aus-
strahlen spezifisch ägyptischer Elemente, da auch
die folgenden, zumal der aus libyschem Blute
stammende Pharao Scheschonk der XXII. Dynastie
weiter in gleichem Sinne wirkten.
Die Priesterkönige hatten in Äthiopien ein
selbständiges Reich mit der Hauptstadt Napata
geschaffen, welches unter den angedeuteten Ver-
hältnissen so erstarkte, daß nunmehr endlich
das „elende Kusch", wie es die älteren
Hieroglyphen gewöhnlich bezeichnen,
imstande war, ein gewichtiges Wort in
den Geschicken des Landes zu sprechen.
Jetzt allerdings verzeichnet die Geschichte auch
nu bische Herrscher, welche größere Teile
des Reiches unter ihre Gewalt bekamen. So der
Äthiopierkönig Pianchi und dessen Nachfolger
Schabak, welcher als der Begründer der XXV. Dy-
nastie genannt wird, und aus dieser hervorgehend
Taharka, welcher selbst mit den Generalen des
Assyrers Sanherib erfolgreich die Waffen kreuzte.
Kleinere Mitteilungen.
Die Verbreitung der Lepra im indischen
Reich. — Die gelegentlich des indischen Census
vom Jahre 1901 vorgenommenen Erhebungen
zeigen, daß die Lepra im Laufe des letzten Jahr-
zehnts in Indien nicht unerheblich zurückging;
im Jahre 1881 wurde die Zahl der Leprakranken
mit 131 968, im Jahre 1891 mit 126244 und in
1901 mit 97 340 festgestellt. Während der Rück-
gang von 1881 — 1891 nur etwa 4 "/,, betrug und
hauptsächlich auf Difterenzen in der Erhebung
zurückzuführen war, hat die Abnahme der Zahl
der Kranken um 23 "/n in den letzten zehn Jahren
zu einem guten Teil in der Besserung der sani-
tären Verhältnisse ihre Ursache. Freilich ist auch
in Betracht zu ziehen, daß infolge der Hungersnot,
welche der Zählung vorherging, die Sterblichkeit im
indischen Reich eine ganz besonders hohe gewesen
ist; dieser Umstand war auf den Rückgang der
Zahl der Leprakranken von Einfluß, da diesel-
ben von der Hungersnot ganz besonders zu leiden
hatten. Auf je 100 000 Personen jedes Geschlechts
entfielen im Jahre 1901 48 männliche und 17
weibliche Leprakranke; wie bei früheren Plrhebun-
gen , so ist auch diesmal anzunehmen , daß die
weiblichen Behafteten nicht in allen Fällen er-
mittelt werden konnten. Die größte Proportion
wurde bei beiden Geschlechtern in der Alters-
stufe 20 — 40 Jahre angetroffen. Von allen Ge-
bieten Indiens weist Berar die weiteste Verbreitung
dieser Krankheit auf; ferner folgen Bengalen, Assam,
die Zentralprovinzen, Birma, Madras und Bombay.
Die geographischen und klimatischen Eigenheiten
der Landesteile, wo Lepra mit besonderer Heftig-
keit auftritt, sind weit voneinander verschieden.
West-Bengalen, wo in gewissen Distrikten unter
1000 Einwohnern 19 bis 37 Leprakranke ange-
troffen wurden, ist hügelig, das Klima trocken;
Goalpara (21 Kranke per 1 000 Einwohner) ist ein
vollkommen ebener Landstrich zwischen den Bhotan-
Hügeln und dem Brahmaputra, mit beträchtlichem
Regenfall und sehr heißem Klima; ähnlich sind
die Verhältnisse in West-Berar. Doch tritt die
Lepra auch in gebirgigen Gegenden mit gemäßigtem
Klima verheerend auf, wie z. B. in der Himalaja-
region des Punjab und der vereinigten Provinzen
(16 bis 17 Kranke per lOOO Einwohner).
Es geht aus dem Censusbericht (General Report
of the Census of India, 1901 ; London 1904) mit
ziemlicher Bestimmtheit hervor, daß Lepra be-
sonders dort häufig vorkommt, wo Fische ein Haupt-
Nahrungsmittel bilden, namentlich werde die In-
fektionsgefahr durch Genuß fauler Fische in hohem
Maße heraufbeschworen ; damit würde sich die
Ansicht rechtfertigen lassen, daß der Bazillus auf
dem Wege des Verdauungssystems in den mensch-
lichen Körper gelange; diese wird von mehreren
indi.schen Gelehrten verfochten. — Dagegen
hat die internationale Leprakommission von 1897
angenommen, daß die Infektion durch die Nasen-
schleimhaut erfolge. Allerdings ist es noch un-
möglich zu sagen, welche Anschauung die richtige
ist, da es bisher nicht gelang, den typischen Lepra-
bazillus anderswo als im menschlichen Körper
festzustellen. Fehlinger.
N. F. ni. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
697
Oscar Schnitze. Zur Frage nach den
geschlechtsbildenden Ursachen. (Arch. mikrosk.
Anatomie. Bd. 63. 1903.)
Ausgedehnte, über mehrere Jahre sich er-
streckende Experimente an weißen Mäusen geben
Verf. die Grundlage ab zu einer kritischen Be-
sprechung der bisherigen Theorien über die Bil-
dung des Geschlechts. Was zunächst den Ein-
fluß des Zustandes der Zeugenden auf das Ge-
schlecht angeht, so scheint es zwar genügend be-
wiesen zu sein, daß Frauen in reiferem Alter oder
bald nach Eintritt der Geschlechtsreife einen Über-
schuß an Knabengeburten aufweisen, die zahl-
reichen, vom Verf nach dieser Richtung hin an
weißen Mäusen angestellten Experimente gaben
indessen keinerlei Anhaltspunkte für eine Bevor-
zugung des einen oder anderen Geschlechts bei
frühzeitiger oder verspäteter Befruchtung. Gegen
die Ansicht, daß das Alter der Geschlechtsprodukte
bis zum Augenblicke ihrer Vereinigung oder ver-
minderte bzw. erhöhte geschlechtliche Inanspruch-
nahme des einen oder beider zeugenden Eltern
von Einfluß auf das Geschlecht des Kindes sei,
sprechen an sich schon eine Reihe gewichtiger
Gründe, in spezieller Berücksichtigung des letzteren
Punktes konnte Verf experimentell an seinen Ver-
suchstieren nachweisen, daß selbst bei sehr starker
Inanspruchnahme des Weibchens von einer kon-
stanten Beziehung zur reichlicheren Erzeugung
weiblicher Nachkommen keine Rede sein könne.
Ebenso negativ waren endlich die Resultate des
Verfassers über irgend einen Einfluß von Inzucht
und Inzestzucht auf das Geschlecht.
Weiter wendet sich Verf. nun den Ursachen
der Geschlechtsbestimmung oder der Geschlechts-
bildung zu. Zunächst ist auf die durch zahlreiche
Experimente erhärtete Tatsache hinzuweisen, daß
man die Prothallien der Farne, die bekanntlich
zunächst aus den Sporen hervorgehen, und die in
der Regel dann die männlichen und weiblichen
Geschlechtsprodukte hervorbringen, zur Erzeugung
nur eines Geschlechts veranlassen kann, wenn man
sie auf besonderen Nährboden bringt. Ist der
letztere nämlich stickstofffrei, so entstehen nur
männliche Produkte, ist er stickstofireich, so bilden
sich auch weibliche aus, oder sogar nur weibliche.
Allgemeiner ausgedrückt entstehen also bei reich-
licher Ernährung weibliche Geschlechtsprodukte,
bei spärlicher dagegen männliche, d. h. also in
ersterem Falle wird der Pflanze ein weiblicher
Charakter, in letzterem ein männlicher verliehen.
Und ganz das gleiche gilt auch für eine Reihe
anderer Kryptogamen, wo ebenfalls die Produktion
weiblicher Geschlechtszellen einen besseren Er-
nährungszustand der Pflanze voraussetzt. Auch
bei Monocotylen (Mais) wirken schlechte Ernährungs-
verhältnisse schädigend auf die Entwicklung der
weiblichen Geschlechtsverhältnisse ein, und selbst
bei Dicotylen sind einzelne hierher gehörige Fälle
beobachtet worden, aber nur bei monoecischen
Pflanzen, bei dioecischen ist es bis jetzt in keinem
einzigen Falle gelungen, eine Beeinflussung des
Geschlechts auf experimentellem Wege hervor-
zurufen, schon der Samenkern muß also die be-
stimmte Geschlechtsanlage in sich enthalten.
Bei Tieren konnte ein bestimmender Einfluß
äußerer Verhältnisse zunächst bei dem herm-
aphroditischen Süßwasserpolypen (Hydra) nach-
gewiesen werden, indem man fand, daß derselbe
bei reichlichem P'utter nur weibliche Geschlechts-
produkte erzeugte, also rein weiblichen Geschlechts-
charakter annahm. Noch bedeutsamer ist die Be-
obachtung an einem getrennt geschlechtliclien Or-
ganismus, an einem Rädertier (Hydatina senta),
daß hier bei guter Ernährung nur Weibchen, bei
schlechter nur Männchen auftreten. Indessen ist
dieser äußere Eingriff in die Bestimmung des Ge-
schlechts nur zu einer ganz kurzen und ganz be-
stimmten Zeit während der Ausbildung der
Geschlechtszellen innerhalb der Geschlechts-
drüsen wirksam, das bereits gelegte Ei ist in keiner
Weise seinem sexuellen Charakter nach mehr zu
verändern. Ahnliche V^erhältnisse scheinen auch
für eine ganze Reihe anderer Tierformen (Aphiden
und Daphniden vor allem) zu bestehen. Alle Ver-
suche, bei Wirbeltieren bis zum Menschen hinauf
durch die Art der Ernährung die Geschlechts-
bildung zu beeinflussen, sind dagegen bisher ganz
wie bei den diözischen Angiospermen fehlge-
schlagen, und hier setzen nun wieder die Experi-
mente des Verfassers an weißen Mäusen ein. P^ine
Reihe von Hungerversuchen wurde auf die Weise
angestellt, daß man jungen Mäusen, in einem sehr
jugendlichen Alter beginnend, eine nur aus Wasser
und Hafer (von letzterem pro Tag wenige Gramm)
bestehende Nahrung reichte und dieses mehrere
Monate lang ununterbrochen fortsetzte. Die Tiere
blieben an Größe und Gewicht bedeutend hinter
ihren gleichaltrigen, aber gut genährten Genossen
zurück. Die Hungerkur wurde dann unterbrochen
oder gemildert, um die Tiere für eine Schwanger-
schaft zu stärken, es erfolgte Begattung und Wurf,
das Resultat aber war ein völlig negatives, insofern
sich keinerlei Einfluß der schlechteren Ernährungs-
verhältnisse auf das Geschlecht der Jungen nach-
weisen ließ. Um nun die Geschlechtsdrüse mög-
lichst frühzeitig und schon während ihrer Bildung
zu beeinflussen, wurde der Hungerversuch auf
zwei Generationen ausgedehnt, gleichfalls ohne
positives Ergebnis. Da man weiter bisher glaubte,
daß aus der Paarung schlecht genährter Männchen
mit gut genährten Weibchen vorwiegend männ-
liche Nachkommen hervorgingen, und ferner, daß
schlechte Ernährung der Frucht gleichfalls das
Entstehen des männlichen Geschlechts begünstige,
so kombinierte Verfasser in seinen Experimenten
diese beiden Bedingungen an den gleichen Ver-
suchstieren — mit negativem Erfolge. Und end-
lich eine Ausdehnung der Fütterungsversuche auf
eiweißarme und eiweißreiche Nahrung ließ gleich-
falls keinerlei Andeutung einer Beeinflussung des
Geschlechts erkennen.
Im allgemeinen läßt sich also bis jetzt nur
sagen, daß in einer Reihe von Fällen bei Pflanzen
698
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 44
und Wirbellosen der Nachweis g^elungen, daß die
Produktion der männlichen Fortpflanzungszellen
eine geringere Leistung des Organismus insofern
darstellt, als die Bildung der Eier einen besseren
Ernährungszustand erfordert, wie Verf nochmals
zusammenfassend an den entsprechenden Verhält-
nissen bei Daphniden, Aphiden und sozialen In-
sekten näher erörtert. Beeinflußt wird davon nur
die Eizelle, in ihr wird also das Geschlecht bereits
vorbestimmt, ohne daß der Befruchtung durch die
männliche Samenzelle noch irgend ein Einfluß zu-
zuschreiben wäre. Wiederholt ist deshalb auch in
neuerer Zeit die Anschauung- einer Zweigeschlecht-
lichkeit der Eier ausgesprochen worden, der sich
Verf. vollständig anschließt. Daß das Sperma-
tozoon hierbei eine wichtige Rolle spiele, schloß
man hauptsächlich aus den Beobachtungen an
Bienen, wo bekanntlich aus befruchteten Eiern
Weibchen, aus unbefruchteten Männchen hervor-
gehen. Diese Tatsache ist zweifellos richtig, wie
Verf. gegen die Ansichten Dickel's scharf hervor-
hebt, aber falsch ist nach ihm dabei der Schluß,
daß das Spermatozoon das Geschlecht bestimme.
In Wirklichkeit ist auch hier das Geschlecht schon
in der Eizelle vorbestimmt, nur bedarf das weib-
lich vorgebildete zu seiner weiteren Entwicklung
der Befruchtung durch das Spermatozoon, das
männliche dagegen nicht.
Zum Schlüsse faßt 0. Schulte seine Ergebnisse
dahin zusammen, daß in keiner Weise irgend ein Ein-
fluß der Befruchtung auf die Geschlechtsbildung
nachzuweisen sei, daß vielmehr in derOvogenesedie
Lösung des ganzen Problems gesucht werden
müsse. Wenn in der sich ausbildenden Eizelle
alle Charaktere des späteren Organismus angelegt
werden, wird in ihr auch schon das zukünftige
Geschlecht des betreffenden Organismus vorbereitet
und fixiert. J. Meisenheimer.
Über den Einflufs von Licht und Dunkel
auf das Längenwachstum der Adventiv-
wurzeln bei Wasserpflanzen betitelt sich ein
x\ufsatz (Ber. d. Deutsch. Botan. Gesellsch. Bd. 21,
1903, S. 508—517) von Hugo Iltis.
Die Experimente des Verfassers ergänzen die
Untersuchungen Kny's, über die s. Zt. in dieser
Zeitschrift (N. F. Bd. II, S. 308 f.) berichtet wurde.
Bei den von ihm untersuchten Wasserpflanzen
(Myriophyllum, Lysimachia, Ranunculus aquatilis,
Elodea) zeigte sich das Wachstum der Wurzeln
durch die Dunkelheit außerordentlich beschleunigt,
zum Teil sogar im Verhältnis 7,5 (Dunkelwurzeln) ; I
(Lichtwurzeln). Die Wachstumsbeschleunigung
dieser untersuchten Wasserpflanzen ist also eine
noch bei weitem größere als bei den von Kny
studierten Erd wurzeln.
Bei den meisten der Pflanzen traten die größten
Unterschiede in den Längen der im Dunkeln ge-
wachsenen Wurzeln gegenüber denen der im Licht
gezogenen nach 12 — 25 Tagen hervor, während
in den ersten Tagen ein Lhiterschied nur in ge-
ringem Maße vorhanden war. Das umgekehrte
Verhalten wies Elodea canadensis auf, bei der
sich die größten Wachstumsdififerenzen gerade in
den ersten Tagen geltend machten.
Bei der ebenfalls untersuchten Glyceria fluitans
und bei Tradescantia virginica war die Wachstums-
beschleunigung erheblich geringer — ca. 1,3 (Dun-
kelwurzeln) : I (Lichtwurzeln) — ein Ergebnis, das
etwa mit den von Kny für Bodenwurzeln festge-
stellten Resultaten übereinstimmt. Se.
Die Ausscheidung von Quarz in Eruptiv-
gesteinen. — Die Bedingungen, unter denen es
in einem Eruptivgesteine zur Ausscheidung von
Quarz , der bekannten hexagonaten Individuali-
sationsform der Kieselsäure kommt, sind bisher
nicht sicher zu bestimmen gewesen, indem darauf
hinzielende, von Fouque und Michel-Levy
ausgeführte Schmelz- und Erstarrungsversuche miß-
langen; sie zu kennen und die mehr oder weniger
wahrscheinlichen Annahmen hierüber durch Hin-
weise auf Tatsachen zu ersetzen ist aber wegen
der großen Verbreitung quarzhaltiger Eruptiv-
gesteine, insbesondere des Granits, von ungemeiner
Wichtigkeit, da sich naturgemäß aus den für die
Bildung dieses Gemengteiles nötigen Umständen
Schlüsse auf die Erstarrungsverhältnisse des Ge-
steinsganzen ergeben müssen. Deshalb wird man
die freudige Genugtuung begreifen und mitfühlen,
mit welcher A. Lacroix in den Comptes rendus
(vom 28. III. 04) der Pariser Akademie mitteilen
konnte, daß es ihm gelungen sei, bei der Unter-
suchung der vor seinen Augen entstandenen Aus-
würflinge des Mont Pele auf Martinique die Be-
dingungen der Ouarzausscheidung zu bestimmen
und daß es ihm mithin vergönnt gewesen sei,
diese Mineralbildung gewissermaßen zu über-
wachen.
Bekanntlich vermochte Lacroix die verschie-
denen Entwicklungszustände des in der alten Cal-
dera der Montagne Pelee sich schnell aufstauenden,
ungeheuren Lavadomes bis in Einzelheiten zu ver-
folgen. Die durch die oberflächliche Erstarrung
dieser Schmelzmasse gebildete feste Panzerschale
spaltete sich fortwährend unter dem zweifachen
Einflüsse der Abkühlung und der Andauer des
inneren Druckes; alsdann drängte die teigige Lava
des Berginnern nach außen, anfangs nach allen
Seiten, später an bestimmten Stellen. Vom Ok-
tober 1902 bis zum Juli 1903 erfolgte dieses An-
wachsen des Domes hauptsächlich in der (jestalt
der sonderbaren Felsnadel, deren Formwechsel be-
schrieben wurde; nachdem dieselbe vollständig
eingestürzt ist, dauert das Wachstum der Dom-
masse unter weniger örtlicher Beschränkung auf
ihre Gipfelteile an, welche heute eine ziemlich
regelmäßige Kegelgestalt besitzen. Dieser Dom
ist unbesteigbar geblieben, doch war es möglich,
eine große Anzahl Proben von den Materialien zu
untersuchen, aus denen er besteht, da solche auf
dreierlei Weise in den Bereich der Forscher ge-
langten, nämlich einmal durch die heftigen Ex-
plosions-Ausbrüche, welche nicht nur Aschen und
N. F. m. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
699
Lapilii in die Ferne sandten, sondern auch die
Kraterränder mit Bomben und erstarrten Blöcken
von allen Dimensionen bedeckten, dann durch die
„feurigen Wolken", welche bei Sprengung der
Domschale eine ungeheure Masse festen Gesteins
auf die südlichen und südwestlichen Berggehänge
fortrissen, und drittens durch die ruhigen Ab-
stürze vom Dome, die andauernd vor sich gehen
und zur Ausfüllung des Hochtales der Riviere
Blanche beitragen.
Diese festen Materialien zeigen alle möglichen
Ausbildungsformen eines Andesits: glasige Stücke
von splittrigem Bruch, leichte, auf dem Wasser
schwimmende Bimssteine, Mittelglieder, welche
schrittweise vom Bimsstein zu porösen Andesiten
überführen, und endlich kompakte Andesite von
unregelmäßigem Bruche. Diese Strukturwechsel
entsprechen keiner sj'stematischen Änderung des
chemischen Bestandes; die Verschiedenheiten im
Bestände von zwei Bruchstücken desselben Blockes
sind der Art nach solche, wie sie Lacroix unter
den Probestücken vom Beginn der Eruption, aus
ihrer Mitte und aus der gegenwärtigen Periode
fand und eingehend zu beschreiben noch be-
absichtigt. Trotz ihres verschiedenen Aussehens
ist allen diesen Gesteinsstücken ein Charakterzug
gemeinsam: sie sind gleicherweise reich an Ein-
sprengungen, Kristallen von scharfen Formen, die
hauptsächlich aus Plagioklasen mit im höchsten
Grade entwickeltem Zonenbau bestehen; in den
Zonen zeigt sich eine Wechsellagerung von Feld-
spattypen, von denen der herrschende 50 "/o, die
anderen bis zu 95 "q Anorthitsubstanz enthalten.
Die Plagioklase sind in konstanter Weise mit
Hypersthen vergesellschaftet, mit sehr wenig Titano-
magnetit und mit noch weniger Ilmenit; einige
andere Mineralien, nämlich Olivin, Hornblende und
Augit, treten nur akzessorisch auf und fehlen oft.
Diese Konstanz in der Art, in den Formen
und in der übergroßen Menge der Einsprengunge
beweist, daß dieselben von ausschließlich intra-
tellurischer Bildung sind, ihr Wachstum hat nicht
merklich angedauert nach ihrer Ankunft an der
Oberfläche, weil sie sich nicht von der Abkühlung
beeinflußt zeigen, welche dagegen die Verände-
rungen im Mineralbestande und in der Struktur
der Grundmasse bestimmt hat.
Die Grundmasse zeigt nämlich erhebliche Ver-
schiedenheiten ihrer Ausbildung. In den glas-
reichsten Partien sind die Einsprengunge mit-
einander durch ein von anderen kristallinischen
Produkten fast ganz entblößtes Glas verkittet, das
im Dünnschliff farblos oder bräunlich erscheint.
Meist finden sich jedoch in demselben faden-
förmige Hypersthenkristallite und einige Titano-
magnetitkörner; das ist nämlich in den zum Ob-
sidiantypus gehörigen Partien und in der Mehrzahl
der Bimssteine der Fall. In den einfach porösen
oder den Halbbimssteintypen werden die Kristal-
liten oder Mikrolithen von Hypersthen ungemein
zahlreich und in einem noch weiter vorgeschrittenen
Kristallisationszustande haben sich überdies Feld-
spatmikrolithe von mittlerem Säuregehalte, seltener
Sphärolithe gebildet. In den Gesteinsmassen, welche
von den großen Glutvvolken zu Beginn des Winters
1902 — 1903 verschleppt wurden, waren diese Mikro-
lithe durch Glas verkittet, welches im allgemeinen
nur wenig Tridymit enthielt; nach und nach trat
aber dieses Mineral in größerer Menge auf und in
den im Januar 1904 gesammelten Proben ist Tri-
dymit reichlich genug enthalten, um trotz seiner
schwachen Doppelbrechung auch im parallelen
polarisierten Lichte deutlich erkannt zu werden.
Diese Zunahme in der Tridymitmenge fällt noch
mehr in die Augen beim gewöhnlichen Typus von
homogenen, halbkristallinischen Lavaeinschlüssen ;
in ihnen, die von an Tridymit reichem Andesit
umschlossen werden, bildet dieses Mineral zu-
sammenhängende, mehrere Ouadratmillimeter große
Säume um Plagioklase herum, ähnlich wie die
Granit-Quarze Feldspate einhüllen. In den
Schlacken-Breccien endlich, deren am 30. August
ausgeworfene Blöcke Lacroix zu Anfang des
Oktober 1902 auf den Kraterrändern gesammelt
hatte, und in den Lapillis, welche neuerdings aus
dem Hochtale der Riviere Blanche gebracht wurden,
sieht man allmählich kristallisierten Quarz er-
scheinen (und an Stelle des Trids'mit treten); wo
er reichlich vorhanden ist, bildet er inmitten des
Glases regelmäßig begrenzte, oft polysynthetische
Kristalle, die bis 0,05 mm Größe erreichen ; häufiger
jedoch findet er sich in viel kleineren gegen-
einander gedrängten Kristallen von äußerst sauberen
rhomboedrischen Formen mit scharfen Kanten;
endlich zeigt er sich manchmal in Haufen schwamm-
förmig (als quartz globulaire) im Gemenge mit
F"eldspatmikrolithen. In vielen Dünnschliffen sind
beide kristallinische Modifikationen der Kieselsäure,
Tridymit und Quarz, zugleich vorhanden; letzterer
scheint sich da in gewissen Phallen auf Kosten
des Tridymit gebildet zu haben ; das Gestein ent-
hält dann häufig auch noch Glas, oft jedoch ist
es holokristallinisch.
Während die P'eldspat - Mikrolithen Glasein-
schlüsse mit Bläschen enthalten, ist der Quarz frei
davon, dagegen verkittet er, welches auch seine
Form sein möge, in bunter Mannigfaltigkeit alle
kristallinischen Grundmassenbestandteile (von Hy-
persthen und Magnetit) sowie überdies angenagte
Lamellen, welche zu klein sind, um bestimmen
zu können, ob sie aus Tridymit oder aus Glas
bestehen. Die Kristallisation des Quarzes ist dem-
nach zu allerletzt im Gestein erfolgt; sie trat ein,
als dieses schon fast vollständig oder wahrschein-
lich sogar ganz vollständig fest geworden war,
jedoch sicherlich noch hinreichend hohe Temperatur
besaß, da die Blöcke und Lapilii in weißglühendem
Zustande ausgeworfen wurden.
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, daß im
Laufe der gegenwärtigen Eruption in einem an
der Bodenoberfläche gebildeten Gesteinsdome Ge-
steine mit quarzhaltiger, halb- oder völlig kristal-
linischer Grundmasse entstehen, welche die ver-
schiedenen Strukturtj'pen aufweisen, die von Rhyo-
700
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 44
Hten, MikrogranuHten, sowie auch von holokristal-
Hnisclien Dacit-Lakkolithen bekannt sind.
Die Frage, in welchem Teile des Domes, der
eruptiven Quellkuppe, die Ouarzkristallisationen
ihren Anfang nehmen, läßt sich nur durch eine
kritische Betrachtung der Quarz führenden Ge-
steinsstücke lösen. Diejenigen, welche in den am
30. August ausgeworfenen Blöcken von glühender
Schlackenbreccie eingehüllt waren, sind notwendiger-
weise in einer Region des Domes entstanden,
wohin das im Aufsteigen begriffene Magma in
einem genügend flüssigen Zustand gelangte, um
schon erstarrte Gesteinsbruchstücke miteinander
verkitten zu können; übrigens darf man nicht an-
nehmen, daß es sich da um aus dem Untergrunde
gerissne Trümmer älterer vulcanischer Gesteine
handle, denn sie sind tatsächlich frisch und unter-
scheiden sich in nichts von dem glasigen Andesite,
welcher sie umhüllt, außer durch die Struktur
ihrer Quarz enthaltenden Grundmasse. Die Lapilli
aus dem Hochtale der Riviere Blanche aber, die
ganz an dessen Oberfläche gesammelt wurden,
können nur von jüngst erfolgten Abstürzen des
Domes oder von den letzten gegen Ende des
September 1903 erfolgten unbedeutenden Glut-
wolken herrühren, weshalb für sie im Gegensatz
zu den vorbetrachteten Stücken, die größte Wahr-
scheinlichkeit gilt, daß sie von ganz oberflächlichen
Teilen der Domschale (des Schlackenpanzers)
stammen.
Den Kristallisationsvorgang des Quarzes er-
klärt Lacroix nun in folgender Weise. Während
die Bauschanalyse des Andesits einen Kieselsäure-
gehalt von 60—63 "/„ angibt, enthält das Gesteins-
glas, zufolge der mit ihm ausgeführten Partial-
analyse, 73 "/n davon; nun sind 60 "z,, von dieser
im Glas nachgewiesenen Kieselsäuremenge nötig,
um in der Form von Feldspat und Hypersthen
die Tonerde, Alkalien, Kalk, Eisen und Magnesia
zu sättigen, während gegen 40 "/o frei bleiben.
Bei hinreichend langsamer Erkaltung der Lava
muß also das Glas diese Feldspate und den Hyper-
sthen hervorgehen lassen und ein wesentlich aus
Kieselsäure bestehender Rückstand verbleiben, auf
dessen Kosten entweder Quarz oder Tridymit
entsteht.
Die wahrscheinliche Art der Kristallisation
dieser Mineralien erklärt sich nun nach Lacroix
aus den Beobachtungen der Eruptionsvorgänge.
Seit dem Ausbruch vom 30. August 1902 zeigt
der Eruptivdom keine bleibende Öffnung. Die
wiederholten kleinen Explosionen und die Pro-
duktion von Glutwolken lehren jedoch, daß eine
große Masse von Wasserdampf fortfährt, sich ge-
waltsam aus dem Magma zu entwickeln. Die
feste Schale des Domes und die von ihr bedeckte,
noch zähflüssige Lava sind also der andauernden
liinwirkung dieses Dampfes ausgesetzt, dessen
Tension allmählich zunimmt, bis sie genügt, um
sich einen, wenn auch sogleich wieder verstopften
Ausweg zu schaffen, wobei ein Teil der Domschale
fällt und fortgerissen wird. Dem vom Wasser-
dampfe ausgeübten Drucke ist als weitere Wir-
kung nun auch die Kristallisation des Kieselsäure-
rückstandes der Lava zuzuschreiben, wobei die
Entstehung von Tridymit oder von Quarz von der
Temperatur abhängen muß, bei welcher sie erfolgt.
Man kann diesen Vorgang demnach als eine Variante
der wohlbekannten Versuche von Senarmont,
Daubree, Friedel und Sarrasin betrachten,
der jedoch wahrscheinlich eine viel höhere Tem-
peratur erfordert.
Als wichtigste Schlußfolgerung darf man ferner-
hin aussprechen, daß unsere Gesteine mit Quarz
enthaltender Grundmasse entstanden sind unter
der Verbindung von zwei verschiedenen Umständen,
indem der reine Schmelzfluß bei der Bildung der
Einsprengunge und eines Teiles der Mikrolithen
die Hauptrolle spielte, während die mineralbildende
Wirkung des Wasserdampfes sich in einem zweiten
Stadium geltend machte, um den glasigen Rück-
stand bei einer unterhalb des Schmelzpunktes ge-
legenen Temperatur kristallisieren zu lassen. Die
Kristallisation des Quarzes in einem Eruptivge-
stein erfordert aber für ihren Vorgang nicht not-
wendig eine große Tiefe unterhalb der Oberfläche,
wie man geneigt war bisher zu behaupten, da die
Bedingungen des Druckes, die unvermeidlich er-
scheinen für den Fall, daß der Wasserdampf seine
mineralbildende Rolle zu spielen vermag, auch
nahe an der Oberfläche inmitten einer im Aus-
bruch befindlichen, an Kieselsäure reichen Gesteins-
masse, wie im Dome des Mont Pele, verwirklicht
sein können. O. L.
Die Dampfturbine als SchifFsmaschine. —
Eine interessante Arbeit über die Benutzung von
Dampfturbinen als Schiffsmaschinen wurde von
Professor A. Rateau vor der Britischen Schiffs-
baugesellschaft am 25. März vorgetragen. (Siehe
Electrical Review N. Y. Nr. 18, 1904.) Bisher
sind zwei Schiffe, nämlich ein französisches und
ein britisches Torpedoboot mit der Rateau'schen
Dampfturbine ausgerüstet worden. Besonders
empfiehlt sich die Turbine deswegen, weil sie
jede Erschütterung ausschließt, weit weniger wiegt
und weniger Raum einnimmt als eine Kolben-
dampfmaschine von derselben Leistung, weil sie
sich ferner leicht behandeln läßt und wenig ab-
nutzt. Andererseits bieten sich doch mancherlei
Schwierigkeiten bei der Verwendung von Turbinen
als Schiffsmaschinen dar, und zwar bestehen diese
in der Konstruktion und Anordnung von Propellern
für Schnellrotation und dem niedrigen Nutzeffekt
langsam gehender Turbinen, sowie schließlich in
der Schwierigkeit des Umkehrens und Manö-
vrierens. Wenn es nicht auf eine bestimmte Ro-
tationsgeschwindigkeit ankommt, so läßt sich ohne
Zweifel ein hoher Nutzeffekt erzielen, welcher den
der besten Kolbenmaschine übertrifft. Leider ist
aber die vorteilhafteste Turbinengeschwindigkeit
für Schraubenpropeller bedeutend zu hoch. Bei
Schnelldampfern läßt sich zwar — allerdings mit
Mühe — eine geeignete Einrichtung treffen ; die Tur-
N. F. m. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
701
bine muß dabei in verschiedene in Serie geschal-
tete Abteilungen geteilt werden, und ferner ist es
nötig, die Propeller entweder einzeln, zu Paaren
oder zu je dreien auf verschiedenen Wellen anzu-
bringen, um ihre Oberfläche zu vergrößern; der
größte äußere Durchmesser muß größer sein als
die Ganghöhe etc. , und all dies trägt dazu bei,
den Gesamtnutzeffekt von Maschine und Propeller
zu verkleinern.
Während die Turbine der Theorie nach der
Kolbenmaschine überlegen ist, ist es daher durch-
aus nicht erwiesen, daß die vereinigte Nutzwirkung
von Maschine und Propeller auch wirklich besser
oder überhaupt nur gut ist. Außerdem nehmen
mit abnehmender Geschwindigkeit die praktischen
Schwierigkeiten zu. Wie der Verfasser annimmt,
ist die Anwendung der Dampfturbine auf Ge-
schwindigkeiten von mindestens zwanzig Knoten
beschränkt. Wenn die Dampfturbine bei der
größten Kraftentwicklung gute Resultate liefert,
so sind dieselben ganz ohne Zweifel bei vermin-
derter Geschwindigkeit unbefriedigend, und zwar
mehr infolge der verminderten Krafteniwicklung als
wegen der verminderten Rotationsgeschwindigkeit,
womit eine Verminderung der sogenannten hydrau-
lischen Nutzwirkung der Turbine Hand in Hand
geht. Dieser Übelstand hat bei Handclsschiflen,
welche ihre Maximalgeschwindigkeit beibehalten,
nichts zu bedeuten, während er bei Kriegsschiffen,
die selten mit voller Kraftentwicklung arbeiten,
eine sehr erhebliche Rolle spielt. Teilweise läßt
sich ihm, wie Parsons vorgeschlagen hat, durch
Anbringen einer Hilfsturbine zum Kreuzen abhelfen;
hierdurch wird jedoch der hj'draulische Nutzeffekt
der Turbine nicht verbessert und der Dampfver-
brauch bleibt ein bedeutender. Der Verfasser
nimmt an, daß die einzige befriedigende Lösung
darin bestehen würde, daß man eine Kolben-
maschine von größerer oder kleinerer Kraftent-
wicklung in Verbindung mit der Turbine benützte ;
dann ließen sich wirtschaftliche Ergebnisse bei
jeder Geschwindigkeit erzielen.
Verschiedene Erfinder haben danach gestrebt,
die Dampfturbine vermittels besonderer Schaufeln
umzukehren, diese Versuche scheinen jedoch nicht
dazu berufen zu sein, wertvolle Ergebnisse zu
liefern, da sich die Umkehrbarkeit nur mit erheb-
lichem Verlust an Nutzeffekt bei der Vorwärts-
bewegung erzielen läßt. Daher muß man zum
Rückwärtsfahren die Turbine durch besondere
Maschinen ergänzen. Prof. Rateau erzielt dies
durch Hinzufügen einer kleinen innerhalb der
Hauptturbine auf der Niederdruckseite angebrachten
Turbine, welche daher keinen weiteren Raum ein-
nimmt. Bei freier Rotation bieten die Ringe für
Rückwärtslauf, wenn die Hauptturbine arbeitet,
keinen nennenswerten Widerstand dar. Je nach-
dem man ein oder zwei I.aufräder benutzt, kann
man eine Rückwärtsgeschwindigkeit von 40 — 50
Prozent der Geschwindigkeit bei Vorwärtsbewegung
erzielen. Ein schnelles Anhalten läßt sich nur
schwer mit Turbinen erzielen. Nach Prof Rateau's
Meinung kommt es ganz besonders bei Kriegs-
schiffen auf hohe Manövrierfähigkeit an, weswegen
in diesem Falle mit Kolbenmaschinen kombinierte
Turbinen . anzuwenden wären. In diesem Falle
verbindet man am besten beide Mascliinen mit
unabhängigen Wellen, da ihre Geschwindigkeiten
so verschieden sind. Die Nutzleistung der Kolben-
maschine soll nicht weniger als ein Sechstel des
Gesamtnutzeffektes betragen; die Leistung läßt
sich aber sehr gut auch bis auf ein Drittel oder
sogar die Hälfte der Maximallcistung steigern.
Man kann bei Anwendung des kombinierten Sy-
stems schon bei Geschwindigkeiten von 15 Knoten,
und vielleicht noch weniger, Dampfturbinen ver-
wenden. A. Gr.
Himmelserscheinungen im August 1904.
Stellung der Planeten: Merkur bleibt unsichtbar,
\' c n u s wird Endo des Monats als Abcndslern für kurze Zeit
sichtbar, Mars kann morgens I '/., Stunden lang im NO ge-
sehen werden, Jupiter und Saturn sind fast die ganze
Nacht hindurch zu sehen. Saturn steht am lo. bei — 16"
Deklination in Opposition zur Sonne, kulminiert also tief im
Süden um Mitternaclit, lupiter steht nordöstlich von Saturn
und kommt erst gegen Morgen in den Meridian.
Verfinsterungen der Jupitermonde: .^m g. um 11 Ulir
40 Min. 3S Sek. abends Eintritt des II., am 19. um II Ulir
32 Min. 18 Sek. abends l-'intritt des 1. Trabanten in den
Schatten.
Algol-Minima ; Am 17. um 9 Uhr 10 Min. abends.
Vereinsw^esen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Am ii. Mai liielt im Hörsaal
des Königl. Kunstgewerbemuseums Herr Prof Dr.
F. Ratligen, Chemiker an den Kgl. Museen,
einen Vortrag über das Thema: „Zerfall und
Erhaltung von A 1 1 e r t u m s f u n d e n ,
Ch em isch- Technisc h es aus dem Labo-
ratorium der Königlichen Musee n." Die
Ursache des allmählichen Zerfalls von Altertums-
funden aus Kalkstein (z. B. äg)'ptische Grabkammern)
und gebranntem Ton (z. B. ägyptische Tonscherben,
sog. Ostraka) besteht fast immer in einem Gehalt
von wasserlöslichen Salzen (Chlornatrium, schwefel-
saurem Natrium, Magnesiumsalze usw.), die seiner-
zeit zu den im Erdboden lagernden Gegenständen
in Wasser gelöst herangetreten sind. In unserem
Klima mit seinen schwankenden Temperaturen
und dem häufigen Wechsel des Feuchtigkeits-
gehalts der atmosphärischen Luft kristallisieren die
Salze das eine Mal aus, das andere Mal lösen sie
sich wieder, und durch die fortwährende Wieder-
holung dieser Vorgänge tritt eine Lockerung der
Oberfläche ein, finden Absplitterungen kleinerer
imd größerer Stücke statt. Das Mittel der Er-
haltung solch salzhaltiger Funde ist die Etitfernung
der Salze durch sj'stematisches Auslaugen. Alt-
sachen, die die Behandlung mit Wasser nicht ver-
tragen, müssen getränkt werden. Als Tränkungs-
mittel, die übrigens auch bei ausgelaugten Sachen
oft zweckmäßig angewendet werden, dienen ver-
schiedene Substanzen, insbesondere Harz- und
Firnislösungen. Um Gegenstände aus ungebranntem
702
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 44
oder schwach gebranntem Ton (z. B. babylonische
Tontafeln) der Wasserbehandlung zugänglich zu
machen, sowie auch, um sie von den häufig vor-
kommenden Auflagerungen von Gips, kohlensaurem
Kalk usw. zu befreien, werden sie im Muffelofen
gebrannt und nach dem allmählichen Erkalten
mit Wasser oder, wenn nötig, auch mit zwei-
prozentiger Salzsäure behandelt. Nach dem Aus-
laugen und Trocknen ist auch hier eine Tränkung
angebracht (z. B. mit Zapon, mit erwärmtem
Paraffin usw.).
Der Zerfall von Altsachen aus Eisen und Bronze
beruht auf der chemischen Einwirkung der im
Erdboden befindlichen Salze, welche das Rosten
des Eisens beschleunigen und oft zu starken De-
formationen des Metalls Anlaß geben ; bei der
Bronze entsteht statt der geschätzten Edelpatina
(Verbindungen des Kupfers mit Kohlenstoff, Sauer-
stoff und Wasserstoff) die sog. wilde Patina (ba-
sische Chloride des Kupfers). Sind MetallsacJien
völlig oder zum größeren Teil in Metallverbin-
dungen umgewandelt, so sind bei ihnen Tränkungen
verschiedener Art üblich, ist aber noch genug un-
zersetztes Metall vorhanden, so empfiehlt sich die
Reduktion des Gegenstandes auf elektrischem Wege
nach dem Finkcner'schen oder nach dem Krefling-
schen Verfahren. Im ersten Falle benutzt man
galvanische Elemente zur Reduktion des im Cyan-
kaliumbade befindlichen Objekts, im anderen legt
man die mit Zinkblechstreifen umwickelte Alt-
sache in verdünnte Natronlauge; in beiden Fällen
entsteht am Eisen oder an der Bronze Wasser-
stoff, der die Reduktion der Metallverbindungen
bewirkt. Nachher ist für gutes Auslaugen, Trocknen
und eine zweckmäßige Tränkung zu sorgen. Der
Vortragende, welcher auch noch die Konservierung
anderer Gegenstände, z. B. solcher aus Holz be-
rührte, zeigte durch zahlreiche Projektionsbilder
sowohl die Ausführung der betreffenden \'erfahren
als auch eine größere Anzahl von Altertumsfunden
vor und nach der Behandlung. So zeigten baby-
lonische Tontafeln , welche bei der Einlieferung
durch Auflagerungen gänzlich unleserlich waren,
nach der Behandlung jedes einzelne Keilschrift-
zeichen aufs deutlichste, so wurden Eisen- und
Bronzefunde im Bilde vorgeführt, bei denen die Re-
duktion außer der Schaffung schärferer Konturen
oft Zeichnungen und Einlagen sichtbar machte,
die man vorher nicht vermutet hatte. —
Unter Führung des Herrn Dr. P. Graebner
wurde am Sonntag, den 15. Mai, vormittags eine
Exkursion durch die Moore des Grunewaldes
veranstaltet, wobei sich Gelegenheit fand, die
charakteristischen Unterschiede der Moor-Typen
durch Anschauung kennen zu lernen. —
Eine Besichtigung der städtischen Gasanstalt
in Schmargendorf fand am Montag, den 30. Mai,
nachmittags, unter Führung des Dirigenten, Herrn
E vers, statt. —
Der Monat Juni war ausschließlich Exkursionen
und Besichtigungen gewidmet. Am 2. Juni nach-
mittags wurde den Anlagen der Gesellschaft für
Markt- und Kühlhallen ein Besuch abge-
stattet. —
Am Donnerstag, den 16. Juni, fand unter
Führung des Herrn Prof. Dr. K o 1 k w i t z mit einem
von der Gesellschaft gecharterten Sterndampfer eine
wasserbiologische Exkursion nach dem
Rummelsburger See, der Oberspree und dem
Müggelsee statt, um die Teilnehmer mit den für
die Selbstreinigung der Flüsse und Seen wichtigen
Wasserorganismen bekannt zu machen.
Um die kleinen, im Wasser frei schwebenden
Organismen, das Plankton, zu fangen, wurde das
Wasser mit einem aus dicht und regelmäßig ge-
webtem Seidenstoff hergestellten Netz durchfischt.
Die erbeutete Masse war von trübbrauner Farbe
und ähnelte aufgewirbeltem Schlamm. Unter dem
Mikroskop, welches in der Kajüte aufgestellt war,
ließ sich aber erkennen, daß zwar einzelne Schlamm-
partikel vorhanden waren , die Hauptmasse aber
aus lebenden, kleinen Organismen bestand, teils
pflanzlicher, teils tierischer Natur. Die Hauptmasse
bildeten zierliche Kieselalgen, Rädertiere und kleine,
im ausgewachsenen Zustande etwa i mm große
Krebschen. Ein sehr zierliches Bild gewährte ein
trompetenförmiges Wimpertierchen von der Gattung
Stentor, welches sich mit Hilfe seines Wimpern-
kranzes kleine Algen zustrudelte, die dann als
grüne und braune Körnchen im Leibe des durch-
siciitigcn Tieres erkennbar blieben.
Neben diesen winzigen Bewohnern des freien
Wassers wurden auch Organismen des Grundes
erbeutet, vor allem die Wandermuschel, auch
Schafklaumuschel genannt (Dreissenia polymorpha),
welche nur in reinen Gewässern gedeihen kann.
Ihre ursprüngliche Heimat ist das Schwarze und
Kaspische Meer, von wo sie, an Schiffen und Floß-
hölzern festsitzend, in die Flüsse gelangt ist. Ferner
seien die Sumpfschnecke (Paludina vivipara) und
der Süßwasserschwamm (Spongilla fluviatilis) ge-
nannt. Das Einfangen dieser Grundorganismen
geschah mittels eines mit schwerem Eisenrahmen
versehenen Netzes, der Dretsche.
An untergetauchten, nahe am Ufer wachsen-
den Pflanzen wurden das Pfeilkraut (Sagittaria
sagittifolia) mit bandförmigen Wasserblättern und
die Wasserpest (Elodea canadensis) erbeutet.
Plankton-, Grund- und Uferorganismen bilden
die drei Gruppen, welche für jeden Fluß und
See in hohem Maße charakteristisch sind. Sie
bevölkern unsere Gewässer ebenso, wie die Pflanzen
und Tiere des Landes die Wälder, Wiesen und
Sandflächen bevölkern. Sie stehen auch ebenso
wie die Organismen des Landes in einer gewissen
Wechselbeziehungzueinander, da vielfach dergrößere
Organismus von dem kleineren sich nährt und
seinerseits wiederum den Fischen zur Nahrung
dient.
Die organischen Stoffe des Wassers, welche
diesem aus Städten und manchen Fabriken zu-
geführt werden , können auf diese Weise der
Fäulnis entzogen und z. T. in Fischfleisch umge-
wandelt werden, womit einer der am leichtesten
N. F. m. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
703
verständHchen Faktoren der Selbstreinigung der
Gewässer gekennzeichnet wäre. —
Den Beschluß der sommerlichen Veranstaltungen
bildete am Sonntag, den 26. Juni, vormittags ein
Besuch des Zoologischen Gartens unter F'ührung
des Herrn Dr. O. Heinroth.
Während der Monate Juli, August und Sep-
tember finden gemäß den Satzungen der Gesell-
schaft keine Veranstaltungen statt.
I. A. : Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
Berlin SO l6, Köpenickerstr.-iße 142.
Bücherbesprechungen.
Sammlung Göschen. Leipzig, G. J. Göschensche
Verlagshandlung. — Preis pro Bändchen gebunden
80 Pfg.
1) Paläontologie von Dr. R.Hoernes, Professor
an der Universität Graz. 206 Seiten mit 87 Ab-
bildungen. Zweite, verbesserte Auflage.
2) Physische Meereskunde von Dr. C; e r h a r d
Schott, Abteilungsvorsteher bei der Deutschen
Seewarte in Hamburg. Mit 28 Abbildungen im
Text und 8 Tafeln.
3) Landeskunde des Königreichs Bayern
von Dr. Wilhelm Götz, Professor an der Kgl.
Techn. Hochschule München.
4) LandeskundedesKönigreichs\\'ürttem-
berg von Dr. Kurt Hassert, Professor der Geo-
graphie an der Handelshochschule in Köln. Mit
16 \'ol]bild. u. I Karte.
5) Landeskunde des Großherzogtums
Baden von Dr. O. K i e n i t z in Karlsruhe.
6) Kristallographie von Dr. W. Bruhns, a. o.
Professor an der Universität Straßburg. Mit 190
.Abbildungen.
7) Chemie. Organischer Teil von Dr. Jos.
Klein. 2. verb. u. verm. Aufl. 3. Abdruck.
8) Stereochemie von Dr. E. Wedekind, a. o.
Prof an der Universität Tiibingen. Mit 34 Figuren
im Text.
9) Technisch -chemische Analyse von Dr.
G. Lunge, Professor an der Eidgenöss. Poly-
technischen Schule in Zürich. Mit 16 Abbildungen.
IG) Elektrotechnik. Einführung in die moderne
Gleich- und Wechselstromtechnik von J. H e r r -
mann, Professor der Elektrotechnik an der Kgl.
Technischen Hochschule in Stuttgart. Erster Teil :
Die physikalischen Grundlagen. Mit 47
Abbildungen. — Zweiter Teil : DieGleichstrom-
technik. Mit 74 Abbildungen. — Dritter Teil:
Die Wechselstromtechnik. Mit 108 Abbil-
dungen.
Die in der Sammlung Göschen herausgegebenen
kleinen, billigen Büchelchen sind durchweg von guten
Autoren verfaßt, von Fachleuten, die wohl geeignet
sind, einen Einblick in die behandelten Gegenstände
zu bieten. Einzelne der Hefte sind geradezu Muster.
Bei der Fülle dessen, was der Naturforscher heut-
zutage übersehen soll , sind solche kurzen Darstel-
lungen , die eine schnell und nicht zu zeit-
raubende Orientierung gestatten, nicht allein für den
Anfänger von Wert, der die Elemente einer Disziplin
kennen zu lernen wünscht, sondern auch für den
Fachgelehrten, der hier und da in die Xebendisziplinen
hinüberzuschauen wünscht.
i) Die Anordnung und Behandlung des Stoffes
von der unter i) aufgeführten Schrift hat im großen
und ganzen keine Veränderung erfahren, doch wurde
Unwesentliches und Nebensächliches weggelassen und
der dadurch ersparte Raum für Beigabe eines Re-
gisters verwendet, welches bei der ersten .\uflage ver-
mißt wurde und nunmehr die Benutzung des Buches
wesentlich erleichtert. Die neueren Resultate palä-
ontologischer Forschung fanden, soweit dies in einer
auf so engen Rahmen beschränkten übersichtlichen
Darstellung des gesamten Tier- und Pflanzenreichs der
Vorwclt möglich war, Berücksichtigung, so die neueren
Untersuchungen über I'ithecanthropus und über die
Reste des der Neandertal-Rasse angehörigen dilu-
vialen Menschen von Krapina in Kroatien.
2) Das vorliegende Bändchen {2) soll auf die
wichtigsten F'ragen der physischen Meereskunde eine
allgemein verständliche, aber doch immer streng wissen-
schaftliche Antwort geben ; die Lehre von der Pflanzen-
und Tierwelt des Meeres konnte dabei nicht berück-
sichtigt werden.
Dem Verfasser, welcher selbst mehrjährige See-
reisen auf Dampf- und Segelschiffen in den verschie-
denen Ozeanen der Erde ausgeführt hat, kam es bei
der Abfassung des Büchleins weniger darauf an, Voll-
ständigkeit zu erreichen — wie sie z. B. ein Lehr-
buch anstreben muß — , als vielmehr darauf, die wich-
tigsten F'aktoren hervorzuheben, diese aber möglichst
gründlich zu behandeln. Die Textfiguren und ganz
besonders die farbigen Tafeln, unter denen Fig. 18
(Ozeanische Vertikalzirkulation) und 30 (Ebbe und
Flut im Englichen Kanal) hervorgehoben sein mögen,
werden das Verständnis wesentlich erleichtern. IMehr-
fach sind auch die Methoden des Forschens, die Tief-
seeinstrumente u. a. m. besprochen.
3, 4 u. 5) Die Landeskunden sind als ,, Heimat-
kunden" nicht nur für den Unterricht sehr empfehlens-
wert, sondern z. B. auch meist den Reisebüchelchen
vorzuziehen, sofern man etwas mehr Vertiefung über
das bereiste Land sucht, als sie durch die letztgenannten
Führer geboten werden kann. Stets werden u. a.
auch die geologischen Verhältnisse berücksichtigt.
6) Das Bändchen über Kristallographie will dem
naturwissenschaftlich gebildeten Laien einen leicht
verständlichen Überblick über die Hauptlehren der
Disziplin geben und womöglich zu eingehenderem
Studium dieser interessanten Wissenschaft anlegen.
Es werden zunächst einige allgemeine Verhältnisse
erörtert und dann die wichtigsten Kristallformen unter
Berücksichtigung der neueren Einteilung auf Grund
der Symmetrieverhältnisse beschrieben. Ein 3. Ab-
schnitt bringt ausgewählte Kapitel aus der physi-
kalischen Kristallographie, und zwar werden darin im
wesentlichen solche Erscheinungen geschildert, welche
verhältnismäßig leicht zu beobachten und zu verstehen
sind und besonders geeignet ersch.einen, den Zusammen-
hang der physikalischen und geometrischen Eigen-
schaften deutlich hervortreten zu lassen.
704
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 44
7) Die organische Chemie ist eine brauchbare,
auf neuem Standpunkte stehende Übersicht der Haupt-
verbindungen und ihre Zusammenhänge.
8) Das Bändchen über Stereochemie ist inhahlich
ziemlich ausgedehnt. Verfasser geht ziemlich weit in
der Darlegung der wissenschaftlichen Grundlagen der
Stereochemie. Das ist um so angebrachter, als seit
IG Jahren kein Lehrbuch der Raumchemie in erneuter
Auflage herausgegeben worden ist ; neu hinzugekommen
sind inzwischen u. a. die Stereoisomerie der Di.Tzo-
körper, die stcrcochemischen Untersuchungen über
den funfwertigen Stickstoff und die Beobachtungen
von Stcreoisomeiie bei unorganischen Verbindungen.
Auch die neueren Forschungsresultate auf dem Gebiete
der optischen Isomcrie des Kohlenstoffes sind in einem
besonderen Abschnitt besprochen worden. Das Schrift-
chen, welches mit großen, übersichtlichen Figuren und
Modellprojektionen ausgestattet ist, wird also nicht nur
den vorgerückten Studierenden von Nutzen sein, sondern
es wird auch praktischen und akademischen Chemikern
eine willkommene Übersicht über den derzeitigen Stand
der stereochemischen Forschung bieten.
9) Die chemisch-technische Analyse kann in den
meisten Fällen nur von einem wirklichen Chemiker
ausgeübt werden, und ihre Behandlung, vor allem in
so engem Rahmen wie hier, kann und muß nicht nur
Vorkenntnisse in der Chemie überhaupt, sondern auch
in der analytischen Chemie voraussetzen. Insbesondere
gilt dies von der Maßanalyse, die in einem anderen
Bändchen dieser Sammlung für sich behandelt wird,
während die Grundzüge der technischen Gasanalyse
im vorliegenden Bändchen Aufnahme gefunden haben.
Die hier angeführten Methoden sind, soweit es angeht,
so ausführlich beschrieben, daß der ausübende Chemiker
einen genügenden Anhalt für ihre praktische Durch-
führung findet. Dieses Schriftchen w-ird also nicht
nur für den Studierenden, sondern in einfacheren Fällen
auch für die in Fabriken täligen Chemiker ein Leit-
faden sein.
10) In dem ersten Bändchen der Elektro-
technik ist beabsichtigt, diejenigen physikalischen Er-
scheinungen und Gesetze, welche in der modernen
Elektrotechnik in so glänzender Weise zur jiraktischen
Verwertung gekommen sind, in einfacher, übersicht-
licher Weise darzustellen. Dabei mußte, dem engen
Rahmen entsprechend, manches mit Andeutungen ab-
Cjefunden werden. Das Ziel war : einem Studierenden,
der in das Studiinn der modernen Elektrotechnik ein-
tritt, ein gutes Repetitorium des entsprechenden Teils
der Physik zu geben, einem gebildeten Laien, der
die Wunder der F.lektrotechnik mit einigem Ver-
ständnis genießen möchte, in kurzem Überblick die
physikalischen Grundlagen der Elektrotechnik vor-
zuführen. Einige mathematische und physikalische
Kenntnisse sind selbstverständliche Voraussetzung; eine
Reihe von einfachen schematischen Figuren sowie
mehrere gute Kraftlinienbilder werden das Verständnis
wesentlich erleichtern.
Das zweite Bändchen hat den Zweck, zu zeigen,
wie die im I. Bändchen dargestellten physikalischen
Erscheinungen in der modernen Gleichstromtechnik
Anwendung gefunden haben.
Im dritten Bändchen wird das schwierige Gebiet
der Wechselstromtechnik einschließlich des sog. Dreh-
stroms gründlich behandelt. Natürlich können die
Gesetze des Wechselstroms und die Begriffe der
Reaktanz und Impedanz nicht ohne Benutzung mathe-
matischer Ausdrücke klargestellt werden. Vielfach
werden auch Vektordiagramme bei der Besprechung
der (jeneratoren , Transformatoren und Motoren be-
nutzt, wie denn überhaupt das Bändchen sich durch
den Reichtum an Figuren und Abbildungen auszeichnet.
Literatur.
Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften. .\r. 14 u.
23. 8". Leipzig, W. Engelmann. Kart.
14. Gau ß, C. F. : Die vier Beweise f. die Zerlegung
ganzer algebraischer Funktionen in reelle Faktoren I. od.
2. Grades. (1799 — 1849.) Hrsg. v. E. Netto. 2. Aufl.
(82 S. m. I Taf.) '04. 1,50 Mk. — Hittorf, W.:
Über die Wanderungen der Ionen während der Elektro-
lyse. Abhandlungen. (1853 — 1859.) 2. Tl. Mit 1 Taf.
Hrsg. V. W. Oslwald. 2., durchgesehene Aufl. (141 S.)
'04. 1,50 Mk.
Briefkasten.
Herrn C. G. in Neuwied (Rhein) (zu S. 592 der Naturw.
Wochenschr.). — .\griotes segctis Bjerk. ist ein jetzt ganz ver-
worfenes Synonym für Agriotes lineatus L. Da der
letztere Name weit älter ist, ist er allgemein angenommen
(vgl. z. B. G. Seidlilz, Fauna Baltica. Die Käfer, S. 175).
Drahtwürmer nennt man nicht nur die Larve von .-Xgriotes
lineatus, sondern die Larven von sämtlichen Schnellkäfern
(Elateridae). Eine grö)3ere Zahl von ihnen ist schädlich und
zwar den verschiedenen Pflanzen verschiedene Arten. J. R.
Bos (Tierische Schädlinge und Nülzlinge, Berlin 1891, S. 277
bis 285) nennt 7 schädliche Arten, .-V. B. Frank (Die tierpara-
sitischen Krankheiten der Pflanzen, Breslau 1896, S. 256), deren
zehn. Bos sagt über diese schädlichen Arten folgendes: ,,Die
Larven von Sericosomus marginatus, Athous subfuscus und
bisweilen von Lacon murinus nagen an den Wurzeln mehrerer
Waldbäume (Eichen, Buchen, Birken), die von Lacon murinus
fressen öfters an den Wurzeln der Obstbäume, der Rosen-
stöcke und verschiedener Gartensträucher, namentlich auch an
Gemüsen, wie Salat, Kohlartcn, Topinambur, Zwiebeln, Möhren
und an Gewächsen des Blumengartens, wie Georginen, Lobe-
lien, Nelken, Irisarten und Canna. Überhaupt findet man die
Drahlwürmer von Lacon murinus gewöhnlicli im Humusboden.
Weiter schaden in Blumengärten nebst den letztgenannten
Larven auch diejenigen von Alhous haemorrhoidalis, während
in Gemüsegärten die Larven von Agriotes sputator und Agriotes
oliscurus nebst denen von Lacon murinus die Hauptfrevler
sind. Die Drahtwürmer, welche auf den .Ackern, zwar im
allgemeinen den verschiedensten Kulturgewächsen, hauptsächlich
aber den Getreidearten schädlich werden und dem Wiesenbau
großen Nachteil bringen, gehören, wenn sie verhältnismäßig
klein und fast unbehaart sind, dem Agriotes lineatus und
.\griotes obscurus. wenn sie größer und mehr behaart sind,
dem Athous haemorrhoidalis an." Dahl.
Inhalt: Prof. Dr. G. Fritsch: Vergleichende Betrachtungen über die ältesten ägyptischen Darstellungen von Volkstypen.
(Schluß.) — Kleinere Mitteilungen: Fehlinger: Die Verbreitung der Lepra im indischen Reich. — Oscar
Schnitze: Zur Frage nach den gesclilechtsbildenden Ursachen. — Hugo Iltis: Über den Einfluß von Licht und
Dunkel auf das Längenwachstum der Adventivwurzeln bei Wasserpflanzen. — Lacroix: Die .Ausscheidung von Quarz
in Eruptivgesteinen. — A. Rateau: Die Dampfturbine als Schiftsmaschine. — Himmelserscheinungen im .August 1904.
— Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Sammlung Göschen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantworllicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschlierslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstünnliehe Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 7. August 1904.
Nr. 45.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Kxpedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltcne Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahrae durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Kosmologie als Ziel der Meeresforschung.
Rede beim Antiilt des Rektorats der Universität zu Creifswald gehalten am 16. Mai 1904
[Nachdruck verboten.] von Professor Dr.
Hochansehnliche Versammlung !
„Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser". Dieses
für politische Verhältnisse geprägte Wort unseres
Kaisers hat auch für einen nicht unbeträchtlichen
Teil der wissenschaftlichen Forschung Gültigkeit.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die
Meeres forschung aus kleinen Anfängen zu
einer weitverzweigten wissenschaftlichen Disziplin
entwickelt, der ein großer Stab von Gelehrten
aller Nationen seine Kräfte weiht. Da auch mein
Arbeitsfeld auf diesem Gebiete liegt, so bitte ich,
mir zu gestatten, auf die Entwicklung und
die Ziele der Meeres forschung für einige
Minuten Ihre Aufmerksamkeit zu lenken.
Jeder, der einmal die Hochsee befahren hat,
bringt einen großen Reichtum von Eindrücken mit
nach Hause; insbesondere sind es die Parben des
Wassers, welche die Aufmerksamkeit in hohem
Grade fesseln. Je nach der Meeresstelle und je
nach der Tages- und Jahreszeit können wir das
Meer in allen denkbaren Farben zwischen strahlen-
dem Weiß und undurchdringlichem Schwarz vor
uns liegen sehen.
Franz Schutt.
In das Chaos der Farbeneindrücke eine Regel
hineinzubringen, hat kein Geringerer als Alexander
von Humboldt gelegentlich einer Reise in die
Tropen sich bemüht. Seine Art der Untersuchung
ist typisch für die frühere Meeresforschung; sie
bestand darin, daß einzelne Gelehrte die Gelegen-
heit einer Meeresfahrt benutzten, um unsere Kennt-
nisse zu bereichern.
Die aus solchen gelegentlichen Untersuchungen
gewonnene Erkenntnis würde nur ein sehr lücken-
haftes Bild gegeben haben, wenn nicht die Be-
dingungen des praktischen Lebens selbst auf eine
systematischere Erforschung des Meeres hinge-
drängt hätten.
Den Grund dazu legte die Schiffahrt, in deren
Interesse nicht nur die horizontale Ausdehnung
sondern auch die vertikale Gestaltung der Küsten-
linien aufgenommen werden mußte.
An diese Bestimmungen schlössen sich zahl-
reiche andere an, von denen ich hier nur einige
anführen möchte. Die Wellenbildungen und die
Strömungen im Meere, sowohl an der Oberfläche
wie auch in den Tiefen, wurden zum OI>jekt aus-
7o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
gedehnter Untersuchungen gemacht. Die Druck-
verhältnisse im Wasser, Durchsichtigkeit, Färbung
des Wassers, Temperatur, spezifisches Gewicht,
Salzgehalt und Zusammensetzung der Lösung, das
sind Kapitel, von denen jedes ausgedehnte Unter-
suchungen forderte.
Man kann alle diese Forschungsrichtungen zu
einer Gruppe zusammenfassen, die das gemein-
same Ziel hat, die morphologischen, physikalischen
und chemischen Eigenschaften des Meeres zu er-
forschen. Die Gesamtheit, die dabei herauskommt,
pflegt man als Ozeanographie zu bezeichnen.
Dieser Forschungsrichtung, der unorganischen,
können wir eine andere, die biologische, gegen-
überstellen, die sich mit den organisierten Körpern
abgibt.
Bevor man sich noch für Tiefe, spezifisches
Gewicht und Salzgehalt des Meeres interessierte,
strebte man schon eifrig den lebenden Produkten
des Meeres nach. Allerdings gilt dies nur für
wenige von den vielen Produkten des Meeres. Für
den echten Binnenländer ist der Massenvagabund
des Meeres, der Hering, so ziemlich das einzige
organisierte Wesen, das er kennt, und für das er
Interesse hat.
Wer aber einmal Gelegenheit gehabt hat einen
Fischmarkt einer größeren Seestadt zu betreten,
der hat sein blaues Wunder erleben können.
Freilich weniger in unseren kühlen Gegenden. Der
spröde Nordländer nimmt nur Weniges von den
Produkten des Meeres an, aber der weniger wähle-
rische .Südländer, der es nicht verschmäht, außer
Fischen und Krebstieren auch Tintenfische, See-
igel, Seenelken und anderes Getier in seinem
Magen verschwinden zu lassen, bringt eine reichere
Ausbeute an hVüchten des Meeres -auf den Markt.
Dieser Mschmarkt hat bis tief in das vorige Jahr-
hundert hinein die Hauptquelle für die biologische
Erforschung des Meeres gebildet. Er lockte auch
die Forscher des Binnenlandes an das Meer. Bald
gingen diese dann auch selber auf den Fang aus
und studierten die selbstgefundene 1 ier- und Pflanzen-
welt. Es wurde dabei eine recht beträchtliche
Summe von morphologischen und syste-
matischen Kenntnissen über die Lebewelt des
Meeres gewonnen.
Die dabei gewonnenen Kenntnisse erstreckten
sich natürlich fast ausschließlich auf h'auna und
Flora der Küsten.
Die großen Lotungsexpeditionen, die im Inter-
esse der Vorbereitung der Tiefseekabellegung um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgerüstet
wurden, gaben der biologischen Forschung einen
mächtigen Antrieb, das Forschungsgebiet auch auf
die Tiefsee auszudehnen.
Bald wurden auch Expeditionen ausgerüstet,
die sogar vorwiegend dem Studium der Organis-
men gewidmet waren, während die vorher imVorder-
grunde stehenden unorganischen Forschungsrich-
tungen nur als Zugabe betrieben wurden. Diese
Expeditionen waren vorwiegend zoologischer Natur;
botanische kamen wenig in Betracht aus einem
einfachen Grunde : an den Küsten entfaltet sich
ein reiches Pflanzenleben, welches sich fast nur
aus der Gruppe der Algen oder Tange rekrutiert.
In den obersten, am meisten vom Licht durch-
fluteten Schichten finden wit vorwiegend die
freudig grünen Pflanzen angesiedelt, weiter nach
unten mehren sich Algen von brauner Farbe und
bis in größere Tiefen wagen sich Algen, die sich
durch ihre rote Farbe vor allen übrigen Pflanzen
auszeichnen. Schon wenige hundert Meter unter
dem Meeresspiegel herrscht ewige Finsternis. Die
Pflanzen aber sind Kinder des Lichts, im dunklen
Reich der liefe würden sie elendiglich zugrunde
gehen.
Die meisten dieser Pflanzen überziehen den
Boden nur in sehr dünner .Schicht, unseren Gräsern
vergleichbar, nur wenige Vertreter erheben sich
zu beträchtlicheren Höhen, wie z. B. der Birnen-
tang der südatlantischen Küsten, der von seinen
Haftklammern am felsigen Boden bis zu den
Schwimmblasen bis zu 300 Meter Länge erreicht.
Doch was sind 300 m im Vergleich zu den ozea-
nischen Tiefen?
Die Botanik fand also auf der Hochsee nur
Anwendung zur Feststellung einzelner treibender
Tangmassen, die als Überreste von Küstenpflanzen
dort ihr Leben fristen, wie z. B. das Sargassum-
kraut des mittleren atlantischen Ozeans, das, zu
ganzen Massen zusammengeballt, zur Bildung der
berülmiten Tangwiesen Veranlassung gibt, die bei
der Entdeckungsfahrt des Kolumbus eine geschicht-
liche Berühmtheit erlangt haben.
Erst die verbesserten Fangmethoden der letzten
Jahrzehnte, die sich allerfeinster Seidenstofte als
Netze bedienten, lehrten, daß auch auf der Hoch-
see das Pflanzenleben keineswegs gegenüber dem
Tierleben zurücktritt. Freilich sind diese Pflanzen
so klein, daß sie nur mit dem Mikroskop wahr-
genommen werden können. Darum ahnt sie der
I^aie nicht, und der .Schiffer glaubt nicht an sie.
Ich habe es selbst erlebt, daß ein Matrose auf
einer Expedition kopfschüttelnd dem Fang der
Mikroflora beiwohnte und erklärte : „Dat's all dumm
Tüg. Da is niks in as luter klar Water". Als
ich ihm dann unter dem Mikroskop die Hochsee-
pflanzen zeigte, war er doch nur halb überzeugt,
denn diese Pflanzen sahen den Tulpen und Nelken
so wenig ähnlich, daß er nichts damit anzufangen
wußte.
Der feine Seidenstoff fängt schon sehr kleine
Wesen. Die allcrkleinsten, wozu namentlich die
Bakterien gehören, gehen auch hier noch durch
die Maschen. Dafür mußten noch andere Methoden
ersonnen werden und durch diese wurde auch die
Bakteriologie in das Gebiet der Meeresforschung
hineingezogen.
Küstenstudium und Hochseestudium lehrten
eine große Anzahl von Pflanzen und Tieren kennen,
mit deren Bestimmung und Beschreibung Botaniker
N. F. m. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
707
und Zoologen reichlich zu tun hatten und noch
für längere Zeit Beschäftigung finden werden.
I-'ür die meisten Laien ijflegt der Begriff der
IVIeeresforschung hiermit erschöpft 7,u sein, aber
nun fängt das Interessanteste eigentlich erst an,
denn so interessant auch die Formen selbst .sein
mögen, so ist doch deren Festlegung schließlich
nur Materialsamnilung, die an Interesse hinter dem
Verarbeiten des gesammelten Materials unter all-
gemeine Gesichtspunkte zurücktreten muß. So
wie wir diese Schwelle überschritten haben, so
tut sich hier eine große Mannigfaltigkeit von neuen
Forschungsrichtungen auf, von denen wir hier nur
einige Wenige kurz andeuten können.
Um diese bewältigen zu können, wurde ein
neues Hilfsmittel für das Studium geschaffen, dem
die Forschung die allergrößten Dienste verdankt.
Die Expeditionen konnten immer nur vereinzelt
sein und sie konnten immer nur wenigen Forschern
und auch diesen nur für kurze Zeit Gelegenlieit
geben, mit den lebenden Wesen in direkte Be-
rührung zu kommen. Für den Privatmann war
das Studium an den Küsten stets mit großen
Opfern und oft mit unübersteigbarcn Hindernissen
verknüpft. Da trat der persönliche Wagemut eines
genialen (3rganisators in die Bresche. Anton Dohrn
setzte seine eigene Existenz aufs .Spiel und gründete
der Forschung ein festes Heim, die zoologische
Station in Neapel, die seitdem zu einem groß-
artigen Hilfsmittel für die wissenschaftliche Meeres-
forschung, nicht bloß für die Zoologie, auswuchs,
und die das unerreichte Vorbild für eine ganze
Reihe anderer biologischer .Stationen geworden ist.
Diese Stationen ermöglichten eine große An-
zahl wichtigster Fragen zu lösen, die ohne sie
kaum lösbar gewesen wären. Das Nächstliegende,
was sich an das Studium der äußeren P>scheinung
der Pflanzen und Tiere, das den Ausgangspunkt
gebildet hatte, anschloß, war das Studium des
inneren Baues von Pflanzen und Tieren. .Ana-
tomie und Histologie reihten sich unter die
Disziplinen der Meeresforschung und erhielten darin
ein schier unerschöpfliches P'eld. Dasselbe gilt
für die vergleichende .Anatomie.
Der Pflanzenanatom, der seiner Zeit den ge-
wöhnlichen Blasentang, der auch an unseren Ost-
seeküsten vorkommt, unter das Messer nahm, um
seine inneren Organe zu studieren, fand in den
zitzenförmig angeschwollenen Zweigenden kugel-
runde Zellen, die sich von allen übrigen Zellen
der Pflanze wesentlich unterschieden.
Eine rein beschreibende Wissenschaft würde sich
mit der P'eststellung der Tatsachen begnügt haben.
Die Anatomie hatte aber schon aufgehört, eine
rein beschreibende Wissenschaft zu sein. Sie er-
hielt einen tieferen Gehalt, indem sie auch nach
dem Zweck des beschriebenen Organs fragte, und
untersuchte , inwiefern die Form dem Zweck
entsprechend sei.
Besagter Anatom hatte Glück. Er sah , wie
die Hülle der kleinen Kugeln platzte, und wie die
nun nackten Zellen durch kleine Öffnungen ins
freie Wasser ausgestoßen wurden. Dort trieben
sie willenlos herum und gingen schließlich zu-
grunde.
r^as wäre nun freilich zwecklos und sinnlos
gewesen; aber der Forscher hatte weiter Glück.
In anderen Zitzen fand er den Kugeln entsprechende,
aber anders geformte, etwa zapfenförmige Zellen,
die auch nackt ins Wasser hinausgestoßen wurden.
Diese verhielten sich dort aber anders als die
Kugeln; sie ließen sich nicht passiv im Wasser
treiben, sondern in lebhaftem Gewimmel, einem
Bienenschwarm vergleichbar, schwärmten sie in
dem Wassertropfen, den ihnen der Forscher statt
des Meeres geboten, herum.
Der erste Forscher, der dieses Schwärmen ge-
wahrte, war davon auf das Äußerste überrascht.
Er glaubte nichts Geringeres, als daß die Pflanze
hier im Begriff sei, sich in ein Tier zu verwandeln,
und manchem Laien würde es auch heute noch
nicht viel anders ergehen, weil er glaubt, daß es
zum Wesen der Pflanze gehöre, daß sie bewegungs-
los an ihren Ort gefesselt sei; der Kundige weiß
aber, daß auch festsitzende Pflanzen, die das Ur-
bild der .Sitt.samkeit sind, doch in der Jugendzeit
eine Periode haben, wo sie wild herumschwärmen,
um sich erst nach dieser Wanderzeit dauernd zu
etablieren.
Die erwähnten kleinen .Schwärmer ermatteten
nach und nach und gingen dann zugrunde. Sie
hatten ihren Lebenszweck verfehlt.
Brachte er aber in ihren Wassertropfen eine
der vorhin erwähntCTi Kugeln, so bot sich ein
neues überraschendes Bild: Die Schwärmer, die
vorher ziellos im Wasser herumjagten, als suchten
sie etwas, ohne es zu finden, sie scheinen jetzt alle
mit einem Male von demselben Gedanken beseelt
zu sein. Wie von magischer Gewalt getrieben,
steuern sie auf die Kugel zu und nun beginnt ein
wilder taumelnder Tanz, der selbst die ruhende
Kugel in die kreisende Bewegung hineinreißt.
Endlich gelingt es einem Schwärmer einen Vor-
sprung vor seinen Rivalen zu gewinnen. Wir
sehen, wie vor unseren Augen die schwärmende,
aktiv bewegliche, männliche Zelle, das Sperma-
tozoid, mit der passiven, ruhenden, weiblichen
Zelle zu einem einheitlichen Körper verschmilzt.
Mit dem Moment des Eintritts in die Ehe ist es
auch für die männliche Zelle mit der Schwärm-
zeit vorbei, sie wird seßhaft. Das Verschmelzungs-
produkt sehen wir vor unseren Augen erst gegen
die übrige Welt sich durch ein festes Haus ab-
schließen, und dann auswachsen, sich ausgestalten,
bis schließlich der mit der Brandungswelle erfolg-
reich ringende Blasentang daraus wird.
Dem mit dem Mikroskop bewaffneten Auge
enthüllten sich hier Geheimnisse, welche die Natur
bei den Landpflanzen und Tieren mit einem dichten
Schleier zu umhüllen strebt. Was wir dabei aber
sahen, es war nicht mehr allein Form und Ge-
stalt, es war Leben, Entwicklung.
Die Entwicklungsgeschichte, eine neue
7o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Disziplin, ist aus der Anatomie hervorgewachsen
und sie enthüllt dem Forscher, der dem Meere
seine Geheimnisse zu entreißen sucht, Wunder
über Wunder.
Ist aber der Forschergeist erst einmal bis zur
Entwicklungsgeschichte vorgeschritten, so bleibt
er nicht bei der Entwicklung des Individuums
stehen. Er fragt sich: Hat nicht das Pflanzenreich
als Ganzes, hat nicht das Tierreich als solches
auch einen Entwicklungsgang durchgemacht ? Ein
kühner Geist hat vor mehr als lOO Jahren diesen Ge-
danken ausgesprochen und zu beweisen gesucht. Ein
heißer Kampf ist darum entbrannt. Aber wie ist
so etwas zu beweisen ? wie ist es zu widerlegen ? Viele,
viele Tausende, ja Millionen von Jahren mußten ver-
fließen, bevor ein solcher Entwicklungsgang sich
abspielen konnte. Er fällt in Zeiten, als das
menschliche Gehirn, das als Schlußstein und
Krönung dieses Gebäudes angesehen wird, noch
nicht war, und darum auch noch nicht Zeugnis
dafür ablegen konnte. Durch kühnen Aufbau von
Schluß auf Schluß hat die Stammesgeschichte
oder Phylogenie langsam ihr Gebäude auf-
gebaut, und die Bausteine dazu hat sie nicht zum
geringsten Teile aus der Erforschung der Meeres
Organismen gewonnen.
Das Leben selbst war es, dessen geheimste
Vorgänge sich bei der Betrachtung der Schwärmer
vor den Augen des Forschers enthüllten. Durch
innere Triebe geleitet, unbekümmert durch die
Verhältnisse der Außenwelt, sahen wir Zelle zu
Zelle sich finden. Sie scheinen gänzlich unab-
hängig von der Außenwelt zu sein, und doch, ein
einziger Regentropfen belehrt uns eines Besseren.
Setzen wir ihn dem Tropfen Seewasser zu, in dem
sich die Schwärmer befinden, so sterben sie ab,
als wenn wir ihnen ein starkes Gift gegeben hätten,
und doch haben wir nichts getan als den Salz-
gehalt des Wassers um einige Prozent verringert.
Dies zeigt uns, wie enorm abhängig die Lebe-
wesen von den Verhältnissen der Außenwelt sind.
Diese Abhängigkeit zeigen aber nicht bloß die
nackten Schwärmer, sondern selbst die mit einem
festen Kieselpanzer umgürteten Pflanzenzellchen
der Hochsee. Auch sie können eine plötzliche
Verringerung des Salzgehaltes nicht vertragen und
ein tropischer Regenguß, der, wenn auch nur auf
kurze Zeit, die allerobersten Schichten des Wassers
stark verdünnt, könnte die ganze Vegetation ver-
nichten, wenn diese sich in den obersten Schichten
aufhielte. Um dieses zu vermeiden, dürfen die
Pflänzchen sich nicht nach oben zu einer ebenen
Schicht, ähnlich den Gräsern einer Wiese, zusammen-
drängen. Sie müssen sich aber auch hüten in die
Tiefe zu sinken, denn schon in Haustiefe befinden
sie sich im Dämmerlicht und in wenigen hundert
Metern Tiefe herrscht ewige Finsternis, in der sie
elendiglich verhungern müßten ; sie müssen sich
also dauernd in der oberen durchleuchteten Schicht
schwebend erhalten.
Ähnliche Bedingungen würde ein Luftballon
zu erfüllen haben, dem die Aufgabe gestellt wäre,
dauernd in geringer Entfernung über dem Erd-
boden zu schweben. Bei beiden muß das spezifische
Gewicht genau im Gleichgewicht gehalten werden
mit dem der Umgebung, im einen Fall mit dem der
Luft, im anderen mit dem des Wassers. Dieses
Gleichgewicht ist aber außerordentlich labil. Das
der pflanze wird durch jede Stoffumsetzung
in der Zelle verändert. Jeder Sonnenstrahl, jede
Wolke, die vor die Sonne tritt, kurz jeder Wechsel
in der Beleuchtung, der den Stofifwechselvorgang
verändert, stört das gewonnene Gleichgewicht,
bringt die Zelle zum Steigen oder Sinken und
führt sie dabei dem Verderben entgegen. Sie
kann sich also nicht, wie jede andere im Boden
wurzelnde Pflanze, darauf beschränken, die Sonnen-
strahlen, wie sie gerade gegeben werden, mög-
lichst vollkommen auszunützen, sondern sie muß
noch nach einer anderen Richtung hin fortwälirend
aktiv tätig sein. Sobald der Stoftwechselprozeß
ihr spezifisches Gewicht verändert und sie dadurch
in einer Richtung, sei es nach oben oder nach
unten, in Bewegung setzt, so muß sie der un-
erwünschten Bewegungstendenz eine umgekehrte
entgegensetzen. Der LuftschifFer bewirkt diesen
Effekt durch Auswerfen von Ballast oder durch
Auslassen oder Zusammendrücken von Gas. Der
Zelle steht hierfür nur wieder der Stoffwechsel
selbst zur Verfügung. Den Stoffwechsel Vorgang,
der nach oben oder unten trieb, selbst aufzuheben
steht nicht in ihrer Macht, da er direkt von der
Umgebung eingeleitet wird, es wäre auch un-
erwünscht, da er zumeist aus zwei unentbehrlichen
Lebenstätigkeiten, Assimilation und Atmung, be-
steht, deren Aufhebung das Leben selbst auf-
heben hieße. Es bleibt ihr also nichts weiter übrig,
als neben der von außen eingeleiteten StoftVer-
änderung eine zweite, nebenherlaufende, aktiv ein-
zuleiten, die die erste selbst zwar nicht aufhebt,
wohl aber in bezug auf das spezifische Gewicht
der Produkte umgekehrt wirkt. Wenn also der
passive von außen induzierte Prozeß das spezifische
Gewicht verringert, so muß der aktive, von Innen
lieraus regulatorisch wirkende, dasselbe vergrößern
und umgekehrt.
Die kleine einzellige Kieselalge der Hochsee
wird also durch die Bedingungen ihrer LImgebung
gezwungen, andauernd statische Probleme zu lösen,
deren Lösung unsere Luftschiffahrt zwar erstrebt,
aber trotz Zeppelin und seinen Nachfolgern bisher
noch nicht befriedigend zu lösen vermocht hat.
In dem Bau ihrer Fahrzeuge könnten die mo-
dernen Luftschifter viel von kleinen Schwebepflanzen
lernen. In der Tat sehen wir, dai3 das Zeppe-
lin'sche Luftschiff fast wie eine vergrößerte Kopie
einer Rhizosolenia aussieht, obwohl sein Erfinder
dies Hochseepflänzchen vermutlich niemals ge-
sehen hat, und nur durch theoretische Konstruk-
tionsprinzipien zur Annahme der Form bestimmt
worden ist. Die Erfindungskraft der Natur ist
aber größer als die des Menschengehirns, sie hat
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
709
statt der einen Lösung ihres Problems gleich deren
tausend gefunden.
Doch die Ähnlichkeit in den Beziehungen des
Luftschiffes und der Hochseepflanze zur Außen-
welt geht noch weiter. Gelingt es dem Luft-
schiffer mit den erwähnten Mitteln nicht die ge-
wünschte Stellung zu erhalten, so hat er für den
Augenblick der Gefahr noch ein paar Notbehelfe,
den Fallschirm und die Schleppleine, die beide
dahin wirken, durch starke Vergrößerung der
Oberfläche eine unerwünscht starke Geschwindig-
keit der Bewegung zu verringern. Auch dem
Hochseepflänzchen mag es nicht immer gelingen
die bei plötzlicherBeleuchtungsänderung einsetzende
Bewegung zu hemmen. Da sehen wir es genau
dasselbe Prinzip wie ein Luftschiffer zur Erreichung
desselben Zweckes anwenden, aber auch hier sehen
wir wieder den Reichtum der Natur. Es hat gleich
tausend Lösungen auch dieses Problems an der
Hand, die uns alle als Vorbilder dienen können,
und hier wie überall werden wir das Vorbild, das
uns die Natur liefert, nicht erreichen. Die voll-
kommenste Maschine, die der genialste Erfinder
erdenken mag, bleibt doch nur ein Stümperwerk
im Vergleich zur Feinheit der Abstimmung von
Organisation und Funktion , womit selbst das
kleinste Hochseepflänzchen sich die Lebensmöglich-
keit innerhalb der sie umgebenden feindlichen Ge-
walten schafft.
Solcher Probleme, welche die Beziehungen
zwischen dem Leben der Pflanzen und zwischen
der Außenwelt behandeln, bietet das Meer eine
unendliche Mannigfaltigkeit. So hat auch die
B i o 1 o g i e in engerem Sinne in der Meeresforschung
ein ergiebiges Arbeitsfeld.
Kehren wir noch einmal zu dem vorhin er-
wähnten Beispiel von der Beziehung der Schwärm-
zelle zum Ei zurück. Wir verfolgten die Schwärmer
in ihrer Bewegung, wir sahen sie mit Sicherheit
dem Ei zustreben. So interessant der Vorgang
auch an sich ist, so bleiben wir doch nicht bei
der einzelnen Erscheinung kleben, wir fragen nach
Grund und Ursachen. Woher weiß der Schwärmer,
daß wir ein Ei in seinen Wassertropfen getan
haben ? Er hat weder Augen noch Ohren, weder
Nase noch Mund, weder Arm noch Bein, weder
Hirn noch Nerven. Er ist ebenso wie das Ei, ein
kleines Schleimklümpchen, und doch sehen wir,
wie er nicht nur sofort die Sachlage erkennt,
sondern auch wie er sofort ziel- und zweckbewußt
vorgeht. Ist es eine höhere Gewalt, die ihn leitet ?
ist es ein übersinnlicher Trieb, vor dessen uner-
forschlichem Walten wir in Resignation die Knie
beugen müssen ? oder ist diese Frage doch unserem
Forschungsdrang zugänglich ?
Wenn wir die Frage nach der Ursache lösen
wollen, so müssen wir uns wieder in eine neue
Kammer unseres Gebäudes der Wissenschaft be-
geben. Aus demZimmerderEntwicklungsgeschichte
in das der Physiologie, die der Frage mit dem
Experiment zu Leibe rückt.
Warnend erhebt zwar der Dichter die Stimme :
„Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben.
Und was sie Dir nicht offenbaren mag.
Das zwingst Du ihr nicht ab mit Hebeln und
mit Schrauben."
Doch wir lassen uns nicht abschrecken. Wir
haben schon so manches Zipfelchen des geheimnis-
vollen Schleiers gelüftet, und so manches Stück-
chen von der Wahrheit erspäht; das Messer und
das Mikroskop haben uns schon so viel gute Dienste
getan, warum sollten wir es nicht auch mit Wage
und Retorte einmal versuchen? Und siehe da!
es gelingt. Die Natur baut wunderbarste Wir-
kungen auf einfachste Mittel.
Pfeffer hat uns gezeigt, daß eine Kleinigkeit
eines süßen Stoffes, einer Säure oder einer anderen
chemischen Verbindung, welche das Weibchen be-
reitet und in die Umgebung ausstrahlen läßt, als
Richtungsreiz auf die Spermatozoiden wirkt und
diese zwingt, sich in den durch die Stellung des
Eies vorgeschriebenen Bahnen zu bewegen. Eine
unmeßbar geringe Menge dieses Stoffes genügt,
das Verhältnis der Geschlechter umzukehren, das
aktive in das passive und das passive in das be-
stimmende umzuwandeln, genügt, um das schein-
bar wehr-, willen- und waffenlos herumtreibende
Ei zum Herrn der Situation zu machen; genügt,
um die in männlich freier Ungebundenheit umher-
schwärmenden Spermatozoiden des freien Willens
zu berauben und in sklavischer Gebundenheit an
die Spuren des Eies zu zwingen. Und das alles,
ohne daß das Ei sich irgendwie zu bemühen scheint,
ohne daß es auch nur die allergeringste Bewegung
auszuführen braucht.
Das wunderbare Spiel der Kräfte, die hier in-
einander greifen, zu enthüllen, war Aufgabe der
Physiologie. Sie hat das mystische Dunkel, welches
über dem Vorgange früher lastete, erhellt ; sie hat
mit Hebeln und mit Schrauben der Natur schon
so manches Geheimnis abgelockt, so daß es nun
doch am lichten Tage für die Weiterforschung
bereit liegt. Aber noch sind wir nicht am Ende
damit, noch manches Problem harrt selbst bei
diesem einen Objekt der Lösung und unendlich
viel mehr Probleme tun sich auf, wenn wir die
Masse der anderen Pflanzen und Tiere ins Auge
fassen. Ein schier unermeßliches Arbeitsfeld findet
also auch die Physiologie in der Meeres-
forschung.
Wenn der vorhin erwähnte Schwärmer durch
das Wasser schwamm, so brauchte er dazu eine
Kraft. Indem er die entgegenstehenden Wasser-
massen zerteilte , leistete er eine Arbeit. Die
Fähigkeit Arbeit zu leisten nennen wir Energie.
Energie läßt sich ebensowenig schaffen wie Stoft".
Ein gewisser Energievorrat steckt in jedem leben-
den Wesen; dieser wird durch die Lebenstätigkeit
nach und nach ausgegeben. Tritt kein Ersatz ein,
so hört die Fähigkeit Arbeit zu leisten, das Leben,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 45
auf. Es muß also eine Ergänzung des Energie-
vorrates eintreten.
Wir Menschen nehmen diese von Tieren , die
wir verspeisen, die Tiere von Pflanzen und die
Pflanzen direkt von der Sonne. Die Sonne strahlt
jahraus, jahrein ungeheure Mengen von Energie
in den Weltraum hinaus. Die Pflanze hat das
Vermögen, das uns und allen Tieren abgeht, einen
Teil davon abzufangen und dem eigenen Energie-
vorrat zuzufügen. Damit nun das Leben nicht
stillzustehen braucht, sobald die Sonne untergeht,
so legt sie sich zur Zeit des Überflusses einen
Vorrat von Energie an. Dies geschieht in be-
sonderen Organen der Pflanzenzelle, und wir können
diese bei den kleinen Meerespflanzen direkt während
der Arbeit beobachten. Das Hilfsmittel der Kraft-
aufspeicherung ist eine Stoffveränderung. Die Zelle
nimmt 2 Stoffe, die ihr überall in Menge geboten
sind, Kohlensäure und Wasser, und schmiedet sie
zu 2 anderen Körpern, Kohlenhydrat und Sauer-
stoff, um. In diese beiden letzten wandert dann
der von der Sonne genommene Energievorrat hin-
ein. Das Kohlenhydrat bewahrt die Pflanze auf,
und kann nun durch Zurückverwandlung desselben
in Kohlensäure und Wasser die eingefangeneSonnen-
energie jederzeit wieder frei machen. Das Hilfs-
mittel, die Lebensenergie zu gewinnen und stets
zur Verfügung zu haben, ist also eine Stoffumsetzung,
ein Stoffw echsel.
Die Stoffwcchselprozesse zu verfolgen ist eine
der wichtigsten Aufgaben der Physiologie, sowohl
im Meere wie auf dem Lande.
Sind wir aber einmal soweit gediehen, so ist
die Versuchung zu groß, die eigentliche Grenze
der Physiologie, die in der Erklärung der Lebens-
vorgänge der einzelnen Wesen ihr Arbeitsfeld hat,
zu überschreiten, und nach noch allgemeineren Be-
ziehungen zu forschen.
Wie verläuft nun der an den Stoffwechsel ge-
bundene Lebensvorgang, wenn wir nicht nur die
Einzelpflanze, sondern das ganze große Heer der
Lebewesen zusammengenommen in die Rechnung
hineinziehen ?
Jede Pflanze arbeitet selbstverständlich nur für
sich selbst. Aber. sie ist nicht all ei n in der Welt,
darum ist ihre Existenz von den mitlebenden
Wesen abhängig.
Da gibt es nun Lebensgenossen, die nicht gern
selbst arbeiten, und die es darum aufgegeben haben,
Sonnenenergie in feste Form einzuschmieden,
Energievorräte zu produzieren , die sich lieber
darauf verlassen, anderen Genossen die mühsam
erarbeiteten Vorräte abzunehmen. Diese ,, Nichtsals-
konsumenten" (gleichviel ob sie Pilz, Tier oder
Menschen heißen) tragen alle das Kainszeichen
der bleichen, das heißt in diesem Sinne so viel
wie „nicht grünen" P'ärbung. Denn nur den echten
Produzenten der Lebensenergie ist als ehrendes
Abzeichen ihrer Tätigkeit das grüne Kleid re-
serviert.
Das Heer der mikroskopisch kleinen Schwebe-
pflanzen der Hochsee, das zu diesen gehört, ar-
beitet selbständig, nimmt Kohlensäure und Wasser
und schmiedet Energie der Sonnenstrahlen hinein.
Da naht nun ein ganz kleines Krebschen, nicht
so groß wie ein Stecknadelkopf, frißt das Pflänz-
chen und verleibt die in ihm enthaltene Sonnen-
energie seinem eigenen Leibe ein. Schon kommt
ein Hering geschwommen und frißt das Krebs-
chen. Der Hering wird vom Hai gefressen. Der
aber stirbt und von seinem Leibe ergreifen Bak-
terien Besitz und verbrennen die energiegefüllten
Moleküle seines Leibes wieder zu dem Ausgangs-
punkt, Kohlensäure und Wasser. Dies kann dann
wieder von den Pflanzen aufgenommen werden.
Wir haben einen vollständigen Kreislauf des
Stoffes vor uns. Es ist ein Stoffwechsel, aber er
spielt sich nicht, wie der von der Physiologie be-
trachtete in einem einzelnen Organismus ab, sondern
alle Lebewesen des Meeres zusammen werden in
diesen Stoffwechsel hineingezogen. Die Gesamt-
heit der Organismen des Meeres bildet gewisser-
massen einen Organismus mit einem ihm
eigentümlichen Stoffwechsel. Die Wissenschaft,
die sich hiermit zu beschäftigen hat, geht über
den Rahmen der Physiologie hinaus, denn das
ganze Meer ist der Organismus.
Ozeanographie ist es nicht mehr, was wir
hier treiben, denn es handelt sich nicht mehr um
eine beschreibende Wissenschaft, sondern um eine
exakte Forschung. Ozeanologie können wir
dies nennen.
Gehen wir nun noch einen Schritt weiter in
der Ausdehnung unseres Forschungsgebietes. Be-
trachten wir ein anderes kleines Krebschen, welches
ein Hochseepflänzchen gefressen und sich dessen
Energievorrat angeeignet hat. Dieses wird von
einem kleinen Fischchen gefressen, dieses Fisch-
chen dient einem großen Dorsch zur Nahrung.
Nun tritt aber der Mensch auf den Plan. Er fängt
den Dorsch, schneidet ihm die Leber heraus und
preßt Tran daraus. Dieser wandert, in Flaschen
gefüllt, tief ins Binnenland und wird dort, vielleicht
erst nach Jahren, von einer sorglichen Mutter
ihrem Sprößling zur Stärkung eingeflößt.
Was tun wir nun in letzter Instanz, wenn wir
unserem Kinde einen Löffel Lebertran geben ?
Nichts anderes, als daß wir ihm ein gewisses
Quantum Sonnenenergie einflößen ; und wenn das
Lebensfünkchen unseres Kindes dann lebhafter
glimmt, so verdanken wir dies den Sonnenstrahlen,
die vielleicht vor lo Jahren mitten in den atlan-
tischen Ozean drangen und dort von kleinen Algen
aufgefangen wurden.
Damit sind wir aber schon aus dem Rahmen
der reinen Meeresforschung herausgetreten. Wasser
und Land sind in Wechselwirkung getreten. Die
Stoffe wandern hinüber und herüber, und dabei
spielen auch die Kräfte herüber und hinüber, vom
Wasser aufs Land und vom Lande auf das Wasser.
Es findet auch hier ein Stoffwechsel statt, der be-
stimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist.
N. F. III. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
711
Wollen wir diese erforschen, so treten wir aus
dem Rahmen der einfachen Ozeanologie heraus:
Unsere Wissenschaft muU die Gesetzmäßigkeiten
in der Wechselwirkung von Meer und Land zu-
sammenfassen, ja es gehört noch mehr dazu : Die
Kräfte des ganzen Sonnensystems, ja des ganzen
Weltalls, spielen mit hinein und müssen berück-
sichtigt werden.
Gehen wir in diesem Sinne forscliend weiter,
so wird schließlich das ganze Weltall, als gesetz-
mäßig geordnetes Ganzes, als Kosmos, das Ziel
unserer Forschung und unsere Meeresforschung
wächst sich damit zur Kosmologie aus. Diese
umschließt dann alle die erwähnten Disziplinen,
und noch einige mehr, als Teile.
Eines der wichtigsten Kapitel der Kosmologie
ist das vom Stoffwechsel des Kosmos. Der Stoff-
wechsel eines Organismus kann nicht aus den
Tiefen des menschlichen Gehirns durch Speku-
lation erschlossen werden, daraus würden nur
Hirngespinste ohne beweisende Kraft entstehen,
sondern dazu bedarf es der (juantitativen Analyse.
Ein Jahrhundert der Arbeit hat der Physiologie
die Methoden gebracht und vervollkommnet, die
zur Untersuchung des Stoffwechsels nötig waren.
Untersuchungen über Stoffwechsel des Meeres
hängen ebenso in der Luft, wie die eines lebenden
Organismus, solange wir keine quantitativ ana-
lytischen Methoden haben, welche gestatten, auch
die Massenverhältnisse der Lebewesen im Ozean
in Rechnung zu bringen, wie die eines einzelnen
Tieres.
Der Physiologe Hensen in Kiel hat diese PVagen
zuerst in Angriff genommen. Sein Weitblick hat
damit der Wissenschaft eine große neue Provinz
erobert, und seine zähe .Ausdauer hat auch zu-
gleich die Grundlage für die ([uantitativ analytischen
Methoden geschaffen, durch die das neue Gebiet
beackert und nutzbar gemacht werden kann.
Galt es früher zu erforschen was für Lebe-
wesen im Meere vorkommen, und wie sich ihr
Leben abspielt, so ist nun weiter zu ermitteln,
wie viele von jeder Art vorhanden sind, um dar-
aus zu bestimmen, welchen Faktor sie in dem
ganzen Rechenexempel des Zusammenlebens aller
Lebewesen bilden.
Es wurden nun nach den strengen Grundsätzen
der quantitativen Analyse Stichproben aus den ver-
schiedensten Meeresabschnitten, von dem Eismeere
bis in die Tropen genommen, und daraus wurde
bestimmt, nicht nur welche Organismen in jedem
Abschnitt vorhanden sind, sondern auch wie viele
von jeder Art in jedem Kubikmeter Meereswasser.
Dabei stellte sich heraus, daß zwar überall auf
der Hochsee nicht nur Tierleben sondern auch
Pflanzenwuchs zu finden ist, daß aber nicht, wie
man früher meist vermutet hatte, in den Tropen
ein besonders großer Reichtum an lebender Sub-
stanz zu finden ist, sondern im Gegenteil, daß dort
eine auffallende Armut der Masse herrscht.
Das war um so mehr überraschend, als doch
die Tropensonne auf dem Lande eine viel größere
Menge lebender Substanz hervorbringt als das
schwache Licht der kalten Gebiete. Man sollte
vermuten, daß auch im Wasser, dort, wo die
meiste Sonnenenergie eingestrahlt wird, auch die
meiste chemische Energie in P"orm von lebenden
Wesen aufgestapelt werde. Wenn das nicht ge-
schieht, so ist eine Unregelmäßigkeit in dem Stoff-
wechsel zu vermuten, dessen Erklärung ein inter-
essantes Problem der Meeresforschung bietet. Als
Ursache war ein Stoffmangel zu vermuten.
Von den vielen chemischen Grundstoffen, die
die Pflanzen aufzunehmen vermögen, brauchen sie
in Wirklichkeit nur sehr wenige. Diese Wenigen
aber sind ihnen so unentbehrlich, daß, wenn nur
eins derselben fehlt, der Mangel nicht durch Über-
fluß aller übrigen ausgeglichen werden kann. Das
Gedeihen richtet sich bei einem Mangel immer
nur nach der vorhandenen Menge des im relativen
Minimum vorhandenen -Stoffes. Gewöhnlich ist
auf dem Lande der Gehalt des Bodens an Stick-
stoffverbindungen, besonders an Salpeter, bestim-
mend für das Gedeihen der Pflanzen. Diese Stick-
stoftverbindungen werden vorwiegend gebraucht
zur Herstellung der Eiweißkörper, aus denen die
eigentlich lebenden und arbeitenden Teile der
Pflanze vorwiegend bestehen. Wenn wir der Pflanze
den Stickstoff vorenthalten, so berauben wir sie
der Möglichkeit, die nötige Menge arbeitender
Substanz auszubilden. Mangel an Arbeitern gibt
Mangel an Arbeitsprodukten, selbst wenn wir ihr
alle übrigen Stoffe im Überfluß zuführen. Wenn
wir einer Pflanze Kohlensäure, Wasser, Sonnen-
energie und alle übrigen Stoffe im Überfluß zur
Verfügung stellen, aber ihr nicht die nötige Menge
Stickstoffverbindungen geben, so befindet sie sich
in einer ähnlichen Lage, wie eine Brauerei in die
wir Gerste, Wasser, Kohlen im Überfluß hinein-
schaffen, aber in die wir nicht zugleich die nötige
Menge Arbeiter, die auch hier zumeist aus stick-
stoffhaltigem Eiweiß bestehen, hineinschicken. Die
eine produziert kein Bier, die andere keine Kohle-
hydrate. Die ganzen Apparate und Vorräte liegen
brach und können nur in dem Maße ausgenützt
werden, als wir die Zahl der nötigen Arbeiter ver-
mehren.
Dieses Gesetz des Minimums gilt auch für das
Gesamtleben des Meeres. Hensen hat vermutet,
daß auch bei der unerwartet geringen Produktion
des Tropenmeeres Stickst off mangel der aus-
schlaggebende Faktor sei, und Brandt in Kiel, der
diese Fragen neuerdings in hervorragender Wei.se
bearbeitet , hat auch schon eine Erklärung für
diesen Mangel gegeben, die einen interessanten
Blick in die vielfachen Wechselwirkungen, die sich
im Zusammenleben der Organismen abspielen,
tun läßt.
Daß die Pflanzen Mangel an Stickstoff leiden
können, klingt sonderbar, da ja doch die ganze
Atmosphäre zu ^ '.-, aus Stickstoff besteht. In dieser
gasförmigen Gestalt vermag ihn die Pflanze aber
nicht aufzunehmen, sondern nur wenn er schon in
712
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
Verbindung mit anderen Stoffen sich befindet. Der
Stickstoff ist aber ein sehr spröder Geselle, der
gar wenig Neigung hat, eine Verbindung einzu-
gehen. Die Natur muß schon ihre schärfsten
Mittel anwenden, um ihn zu beugen. Wenn der
Blitzstrahl durch die Luft fährt, so werden kleine
Mengen von Stickstoffverbindungen erzeugt. Diese
gehen in den Boden über, werden von den Pflanzen
aufgenommen, wandern mit diesen in die Tiere,
gehen von diesen wieder in den Boden zurück,
um wieder von Pflanzen aufgenommen zu wer-
den.
Durch die sich stetig wiederholenden Gewitter
müßte allmählich eine Anreicherung des Bodens
an Stickstoffverbindungen bewirkt werden. Dem
wirkt die Löslichkeit der Stickstoffverbindungen
entgegen. Sie wandern mit dem Regen zum Teil
in das Grundwasser, dann in die Flüsse und schließ-
lich in das Meer.
Die Menge des Stickstoffs, der durch die
Flüsse ins Meer geführt wird , ist nach Brandt
so kolossal , daß trotz der Gewitter eine Ver-
armung des Bodens, und damit Hunger, Elend,
Tod für Pflanzen, Tiere und Menschen unvermeid-
lich wäre, wenn nicht unter den vielen Pflanzen
einige Wenige (es sind ein paar Bakterien, man nennt
sie stickstoffbindende) imstande wären , elemen-
taren Stickstoff in Verbindung überzuführen. Diese,
die namentlich an den Wurzeln der I^eguminosen
vorkommen und dort kleine knollenartige Ge-
schwülste verursachen, sorgen für den Ersatz der
durch die Ströme ins Meer geführten Stickstoff-
verbindungen, und retten uns damit vor dem
Hungertode.
Das Meer müßte durch die stetige durch die
Jahrtausende andauernde Stickstoffzufuhr für Pflan-
zenwuchs schon unbrauchbar geworden sein, denn
die Pflanze ist das Urbild der Mäßigkeit, eher er-
trägt sie Hunger als Überfluß. Übermaß an Nähr-
stoff ist ihr geradezu Gift.
Dieser Vergiftung des Meeres durch Übermaß
arbeiten nun wieder andere Bakterien entgegen,
welche Stickstoffverbindungen aufnehmen und diese
so weit zersetzen, daß elementarer Stickstoff wieder
frei wird, der sich der Luft wieder beimischen
kann. Diese Bakterien, man nennt sie denitrifi-
zierende, sind nach Brandt die Ursache, daß trotz
der steten Zufuhr im Meere doch nur geringe
Spuren von Stickstoffverbindungen zu finden
sind.
Wenn nun, wie Brandt gefunden hat, die deni-
trifizierenden Bakterien bei höherer Temperatur
eine lebhaftere Tätigkeit entfalten als in niedrigerer,
so erklärt dies ungezwungen den geringeren Ge-
halt der wärmeren Meere an gebundenem Stick-
stoff; es erklärt uns weiter, daß die Pflanzen, deren
(Tcdeihen sich nach dem im Minimum vorhandenen
Stickstoff richtet, in den wärmeren Meeren nur in
geringerer Menge gedeihen können als in den
kalten, wo die Tätigkeit dieser Bakterien geringer
ist. Da nun auf dem Pflanzenwuchs alles tierische
Leben beruht, so erklärt sich aus dieser Sache
auch die geringere Masse an lebender Substanz
überhaupt.
Wir sind hiermit zu dem neuesten Gebiete der
Meeresforschung auf kosmologischer Basis fort-
geschritten. Noch wird dieses Problem heiß um-
stritten, und schon öffnen sich neue Gesichtspunkte
für die Erklärung von Erscheinungen, die ganz ab-
seits davon zu liegen scheinen.
Die Farbe des Meeres, von der wir in unserer
Betrachtung ausgingen, schwankt, abgesehen von
Fällen, die besonders zu betrachten sind, zwischen
blauen und grünen Nuancen. Alle Versuche diese
Schwankungen auf Salzgehalt usw. des Meerwassers
zurückzuführen, haben bisher noch nicht zu be-
friedigenden Resultaten geführt. Erst die Be-
trachtung der Massenverhältnisse der Hochsee-
pflanzen gaben mir den Weg zur Erklärung. Die
Pflanzen sind ausgezeichnet durch grünen Farb-
stoff. Nun war es ein einfacher Schluß, daß dort,
wo viele der mikroskopisch kleinen Pflanzen dem
an sich blauen Meerwasser beigemengt sind, die
Farbe des Meeres von blau nach grün abändern
muß und zwar in um so höherem Grade, als von
diesen Pflanzen beigemengt sind.
Unter Zugrundelegung der nach den Hensen-
schen Methoden gewonnenen Meeresproben konnte
ich nun rechnungsmäßig feststellen, daß dort, wo
die größeren Pflanzenmengen gefunden wurden,
auch zugleich die größeren Abweichungen der
Farbe von blau nach grün sich zeigten, daß also
die Farbe des Meeres unter anderen auch eine
Funktion der Massen der darin enthaltenen mikro-
skopisch kleinen Pflanzen ist.
Wenn Brandts Ansicht von Wirkung und Wich-
tigkeit der Bakterien im Meere richtig ist, so
können wir jetzt weiter sagen, daß auch die blaue
Farbe des tropischen gegenüber der grünlicheren
des nordischen Meeres eine P^olge des besseren
Gedeihens der denitrifizierenden Bakterien bei
höherer Temperatur ist, oder mit anderen Worten,
daß die Farbe des Meeres nicht nur eine Funktion
des Chlorophyllgehalts, sondern auch der Tätig-
keit der denitrifizierenden Bakterien ist, und weiter,
daß sie abhängt, von dem Temperaturoptimum
dieser Bakterien.
Bei der Betrachtung dieser Verhältnisse sahen
wir, daß eine Unmenge von Faktoren hier zu-
sammenspielt, daß die verschiedenen Kräfte in
buntem Gewirre hinüber und herüberwirken, und
wieder hier und da verknüpft sind wie die Fäden
eines kunstvollen Gewebes. Sonnenstrahlen , Ge-
witter, Regenmenge, Menge der Leguminosen und
ihrer Wurzelknöllchen auf dem Lande , Entwick-
lungsgeschichte und physiologische Lebensbedin-
gungen nicht nur der stickstoffbindenden und
stickstoffentwickelnden Bakterien und des ganzen
Heeres von Land- und Wasserpflanzen und Tieren,
Salzgehalt und Farbe des Wassers sind unter sich
und kreuzweise so oft und so innig miteinander
verknüpft und voneinander abhängig, daß nur
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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ein Glied aus der vielgestaltigen Kette gelöst zu
werden braucht, um das ganze Aussehen unseres
Planeten wesentlich umzugestalten.
Wenn wir dann weiter sehen, daß trotz dieser
tausendfach verknüpften, in stetem labilem Gleich-
gewicht befindlichen Zustände dennoch das Aus-
sehen und das Leben der Erde sich Jahr für Jahr
in gleichen Grenzen bewegt, so ist dies nur mög-
lich durch eine über alle Wunder gehende F'ein-
heit der Abstimmung aller Faktoren des Weltalls
zu einem harmonischen, stets wechselnden und doch
stets sich erneuernden Ganzen, einem wirklichen
Kosmos, in den wir nun nicht bloß die großen
Weltkörper, Sonne, Mond, Erde und die unorganische
Natur, sondern auch das unendlich verwickelte und
vielgestaltete Leben des ganzen Landes und des
ganzen Meeres mit hineinziehen müssen.
Und diesen Kosmos in seinen großen Ge-
setzen zu erforschen, dazu ist die Meeresforschung
in hervorragendem Maße berufen, sie wird da-
durch ein Teil der größten, umfassendsten Wissen-
schaft, der Kosmologie.
Kleinere Mitteilungen.
Noch einmal die Mainzer Sandflora. — In
Nr. 1 2 dieses Jahrganges wendet sich Ernst H. L.
Krause gegen die von Jännicke aufgestellte Ansicht,
daß die Flora des Mainzer .Sandgebietes als ein
Relikt aus jener warmen und trockenen Periode
im Leben unseres Planeten aufzufassen sei, die
man nach Nehring's Vorgange die Steppenzeit
nennt. Seine Besprechung der einzelnen Punkte,
die er für seine gegenteilige Meinung anführt,
scheint mir jedoch nicht derart überzeugend, daß
sie diese Auffassung über den Haufen werfen könnte.
Bei der großen Anzahl der östlichen Arten,
die selbst noch im unteren und mittleren Teile
des Nahegebietes in Menge vorkommen, muß doch
diese Gegend zweifellos als letzte westliche Aus-
strahlung der pontischen Flora angesehen werden.
Und wenn nun gerade in der regenarmen Mainzer
Sandgegend so viele notorische Steppenpflanzen
des Südostens und der ungarischen Ebene „im
charakteristischen Verbände" zusammenstehen, so
war wohl nach den eingehenden Studien von I^öw
und Drude der Gedanke an einen ehemaligen
Zusammenhang mit jenen Gebieten gewiß nicht
allzu fernliegend. Wenn nun Jännicke in der Auf-
zählung der Arten auch zwei aus dem Südwesten
mit untergelaufen sind [Seduin reflexuin und Wein-
gärtneria canescens), so kann das doch wohl kaum
die ganze Sache erschüttern, zumal dieselben auch
dort, letztere auch in Ungarn, als Steppenpflanzen
auftreten. Daß Jännicke's Meinung durch die Ver-
öffentlichungen von Nehring gefestigt wurde, ist
wohl ohne weiteres klar, zumal ja auch der be-
kannte Frankfurter Entomologe v. Heyden rezente
Käfer der südosteuropäischen Steppenfauna in der
Mainzer Sandgegend nachgewiesen hat. Da nun
endlich auch noch die Richthofen'sche Theorie der
Lößbildung auf den ehemaligen Steppencharakter
der Gegend hinweist, so sind das gewiß der Tat-
sachen so viele, daß sich kaum noch an der Richtig-
keit der Steppentheorie zweifeln läßt.
Wenn wir nun das, was Krause dagegen'anführt,
im einzelnen ansehen, so ist nicht zu verkennen, daß
manches auf den ersten Blick geeignet sein kann,
Zweifel daran zu erregen. Zunächst ist es das
dortige Vorkommen der Kiefer, die Krause nicht
als Steppenpflanze gelten lassen will. Aber wo
hat Jännicke das behauptet? Er zählt sie ja unter
den Charakterpflanzen der Steppe überhaupt nicht
auf! Wie von anderen Florengebieten aus Ein-
wanderungen stattgehabt haben, so kann doch
dieser Baum auch in späterer Zeit hierher ge-
kommen sein. Kiefernwälder hat es zwar schon
in ältester historischer Zeit in der rheinischen
Ebene gegeben;^) bekannt aber ist es, daß diese
sich erst im letzten Jahrhundert beträchtlich aus-
gedehnt haben. Unmöglich ist es auch nicht, daß
der Mensch diesen genügsamen Baum hierher ge-
bracht hat, worauf doch immerhin seine forstliche,
wenn auch „vernachlässigte" Kultur hinweist. Daß
auch hier die Kiefer nicht in das eigentliche
„Steppengebiet" gehört, sondern es nur einengt
und umrahmt, dafür folgende Tatsache. Onosina,
von der stets weiter fortschreitenden Bodenkultur
immer weiter zurückgedrängt, findet sich meist nur
noch an den Rändern der Waldparzellen, seltener
im eigentlichen Walde, wo sie auch fast nie zum
Blühen kommt. Nur wenn durch Holzschlag
einmal eine Stelle darin frei wird, dann taucht die
Pflanze da oft in Menge auf und hält sich eine
Zeit lang. Wie mit der Kiefer steht es auch mit
der von Krause besprochenen Poa alpina ; auch
diese Pflanze erwähnt Jännicke überhaupt nicht.
Bei einigen der aufgeführten Arten kann ja auch
noch eine andere Herkunft denkbar sein, das braucht
gar nicht in Abrede gestellt zu werden ; aber auch
das kann das Ergebnis im großen und ganzen
wohl kaum ändern.
f.' Aber wie steht es denn nun mit den „aller-
dings rein östlichen" Arten, deren uraltes Vor-
handensein Krause bezweifelt und auf neuere Ein-
wanderung durch den Verkehr zu gründen sucht.
Von Planiago arenaria gibt er 18 12 als Jahr des
ersten Auftretens an, von Salsola kali 1814, und
bemerkt dazu, daß Oiiosma noch später entdeckt
worden sei. Krause's Vermutung, die Truppen-
bewegungen der napoleonischen Zeit könnten die
Pflanzen dorthin gebracht haben, kann ja richtig
sein, ihr Bekanntwerden erst um diese Zeit kaim
aber auch darauf beruhen, daß sie bis dahin über-
sehen worden sind. Zweifellos irrtümlich aber ist
eine Angabe über Onosma, denn diese Pflanze gibt
') Karl der Grofie hat im ,,Foraha" (Föhrenwald) zwischen
Trebur und Darmstadt Jagden abgehalten.
714
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
Borkhausen bereits 1794 „satis copiose in arenosis
praesertim pineti ') inter Moguntium et pagum Mom-
bach" an. Die anderen Arten sind meist solche,
die durch Unscheinbarkeit ihrer Blüten leicht über-
sehen werden konnten, zumal in jenen Zeiten, wo
man nicht so eifrig wie heut die Lokalfloren durch-
forschte, womit man bekanntlich erst gegen Ende
des 18. Jahrhunderts begonnen hatte. Für die be-
nachbarte Pfalz hat Pollich schon 1776 das grund-
legende Pflanzeninventarium aufgestellt, eine Flora
für das uns hier interessierende Gebiet ist erst viel
später erschienen, und so sind wir dafür nur auf
gelegentliche Nachrichten angewiesen. Daß dabei
unscheinbare Florenbürger schlecht wegkommen, ist
klar, während natürlich ein so auffallender wie Adonis
'oernalis nicht übersehen werden konnte, der darum
auch schon vor Jahrhunderten in den Kräuter-
büchern beschrieben und abgebildet worden ist.
Von dem Nichterwähnen einer Pflanze für eine
gewisse Gegend aber einen Schluß auf ihr Nicht-
vorkommen daselbst machen zu wollen, das halte
ich für durchaus falsch, zumal die größeren bo-
tanischen Werke des 18. Jahrhunderts vereinzelte
Vorkommen fast nie erwähnen. Dazu kommt,
daß selbst in gut durchforschten Gebieten noch
viel später sogar weit verbreitete und gut unter-
scheidbare Arten von namhaften Botanikern über-
sehen worden sind. Als Beispiel möchte ich
Pastinaca opaca anführen. 1884 in wenigen Stöcken
von mir bei Kreuznach gefunden, habe ich die statt-
liche Pflanze später im unteren und mittleren
Nahegebiet in großer Menge nachgewiesen. Daß
sie erst seit dieser Zeit hier wachse, wird wohl
kaum behauptet werden können. Ist es nun da
zu verwundern, wenn die unbedeutenden Gestalten
des Sandgebietes erst im Anfange des 19. Jahr-
hunderts die Aufmerksamkeit auf sich gezogen
haben.? Übrigens ist eine derselben schon früher
aus dieser Gegend bekannt geworden , nämlich
Kochia arenaria Rotit. Pollich hatte sie dort ge-
funden, sie aber für Cainpliorosnia monspeliaca L.
gehalten; von H. Märklin wurde sie im I. Bande
der Schriften der Regensburger botanischen Ge-
sellschaft 1792 als Sa/sola arenaria beschrieben
und später noch hat sie Roth (1800) im Journal
für die Botanik, herausgegeben von Schrader, als
Kochia arenaria zum Vertreter einer eigenen
Gattung erhoben.
Mit dem Krause'schen Schlußworte, daß es von
großem Interesse wäre, Nachrichten über das Aus-
sehen des Sandgebietes in früherer Zeit zu finden,
schließe auch ich meine Ausführungen, allerdings
in der Hoffnung, durch dieselben die von Jännicke
aufgestellte Steppenreliktstheorie bestätigt zu sehen.
L. Geisenheyner.
') Das widerspricht allerdings meiner obigen .-Angabe.
Aber die von mir beobachtete Tatsache haben mir auch
genaue Kenner der heutigen Sandgegend bestätigt.
sehen Verhältnisse gibt unsHolmgren in einem
Aufsatze der Zoolog. Jahrbücher. Die meisten
Insekten legen Eier, Viviparität findet sich nur
ausnahmsweise, und wenn sie auftritt, so hat sie
bestimmte Veränderungen im inneren Bau der Ge-
schlechtsorgane zur Folge. So können wir be-
merken, daß die parthenogenetisch sich vermehren-
den Sommergenerationen der Blattläuse, deren
Eier also nicht befruchtet werden und deren Junge
ihre Entwicklung direkt in den Eiröhren durch-
machen, keine Samentasche besitzen, welche den
im Herbste auftretenden befruchtungsfähigen und
eierlegenden Weibchen sehr wohl zukommt. Unter
den Netzflüglern ist nur eine einzige vivipare Form
bekannt, zahlreicher sind solche dagegen unter den
Blattiden, welche dann die von den Oviparen Arten
in der Genitalöffnung herumgetragenen Eikapseln
in der gewaltig aufgetriebenen Scheide bis zur
Beendigung der Embryonalentwicklung behalten.
Vivipare Käfer finden sich nur in den Familien
der Staph)'linideii und Chrysomeliden, und auch
hier kann, wie beispielsweise bei viviparen Chryso-
mela-Arten, die Samentasche fehlen. Befruchtung
und Embryonalentwicklung erfolgt in dem unteren
Abschnitt der Eiröhren. Und das gleiche findet
bei den viviparen Cocciden (Hemipteren) statt,
doch ist hier eine, wenn auch großenteils funk-
tionslose Samentasche noch vorhanden. Weit
häufiger als in den bisher genannten Gruppen ist
Viviparität bei den Fliegen, sie findet sich neben
Oviparität bei Oestriden, Tachiniden, Dexiiden,
Sarcophagiden und Museiden, ausschließlich ferner
bei den Pupiparen. Bei allen ist die Scheide zu
einer Art Uterus, zu einem Brutsack umgewandelt,
wie es sehr typisch beispielsweise Sarcophaga
carnaria zeigt. Die spindelförmige Scheide besitzt
hier neben drei von Sperma erfüllten Samenkapseln
und einigen Anhangsdrüsen einen mächtigen Blind-
sack, der sich mit einer länglichen Öffnung in
die Scheide öffnet und die Eier nach ihrer Be-
Ovarien
Samenkapsel]
Anhangs-
drüsen ■-
Seh
Eine Übersicht der viviparen Insekten unter
besonderer Beachtung der vergleichend -anatomi-
Brutsack
Fig. I. Weibliche Geschlechtsorgane von Sarcophaga carnaria.
N. F. m. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
715
fruchtung aufnimmt. Hier schlüpfen aucii die
Larven aus und dehnen bei ihrem allmählichen
Heranwachsen die Wände des Bliiidsackes mächtig
aus, bis sie endlich an faulende Substanzen ab-
gesetzt werden. In einer anderen Weise wird bei
Tachina grossa die Scheide zum Uterus umge-
wandelt, insofern sie zwei bis drei Spiraltouren be-
schreibt, in welchen eine größere Zahl von Eiern dann
Ovarium
Brutsack
Fig. 2. \Veil)liche Geschlechtsorgane von Tachina grossa.
Platz findet. Bei den Oviparen Tachinen ist da-
gegen die Scheide nur kurz. Bei den Fliegen tritt
auch die eigentümliche P>scheinung der gelegent-
lichen Viviparität auf, so namentlich bei Musca
vomitoria. Wenn nämlich das Weibchen hier
beim Eierlegen gestört wird, so behält es das Ei
in dem hinteren Scheidenabschnitt bei sich, und
bei der rapiden Entwicklung der Fliegeneier kann
es dann vorkommen, daß die junge Larve hier
schon ausgekrochen ist, ehe die definitive Ablage
erfolgt. Und bei den Pupiparen (Melophagus)
endlich ist es sogar zu einer intrauterinen Er-
nährung der Larve gekommen. Auch hier ist ein
Teil der Scheide zum Uterus umgewandelt, in
welchem die ausgeschlüpfte Larve liegt; sie berührt
mit ihrer Mundöfi'nung die Mündung einiger be-
sonderen Drüsengebilde (umgewandelter Samen-
taschen), welche Nahrungsstoffe für die Larve ab-
sondern. — \'on Schmetterlingen wird eine brasili-
anische Motte als vivipar beschrieben, und von
sonstigen Insekten wären als vivipare P'ormen nur
noch die auf Bienen und Wespen schmarotzenden
Fächerflügler (Strepsipteren) zu erwähnen.
Als Ausgangspunkt ist für die Erwerbung der
Viviparität die gelegentliche Viviparität anzunehmen,
wie sie bei Musca vomitoria besteht. .Stets kann
hier nur eine Larve geboren werden, da die kurze
Scheide inehrere derselben nicht zu fassen vermag.
Allmählich bildete sich dann unter Verlängerung
oder Erweiterung der Scheide ein Brutsack aus,
der nunmehr eine größere Zahl von Jungen gleich-
zeitig enthalten konnte. Und damit war die Mög-
keit gegeben, eine größere Zahl völlig ausgebildeter
Larven schnell und sicher an günstigen Orten ab-
zusetzen, was sowohl für die Alutter wie vor allem
für die Larven in mancherlei Hinsicht von Vorteil
war. Dies gilt wenigstens für die Fliegen, während
für die Viviparität mancher anderen Formen, bei-
spielsweise der ChrysoiTieliden und Cocciden, ein
plausibler Grund zurzeit kaum aufzufinden ist.
J. Meisenheimer.
Ein auffallendes Beispiel der Anpassung
einer Pflanze an veränderte Bodenverhält-
nisse bieten das Schneeglöckchen und die
Knotenblume (Märzglöckchen) Galanthus ni-
valis und Leucojum vernum. — Erstere Pflanze
habe ich nicht wildwachsend angetroffen, dagegen
kannte ich seit meiner Jugendzeit zwei Stellen, an
denen Leucojum vernum wuchs. Ein sumpfiger
Erlenbruch scheint der einzig geeignete Boden zu
sein , auf welchem die Pflanze sich dauernd be-
haupten kann, denn an den beiden erwähnten
Stellen ist nach Einebnung und Entwässerung des
Grundes die beliebte Frühlingspflanze mit den
Erlen verschwunden.
Vor zwei Jahren nun bekam ich Kenntnis' von
einem noch ausgedehnten Erlengrund an der
Chaussee zwischen Stadthagen und Rodenberg,
wo die Pflanze massenhaft gedeiht. Im voraus-
gegangenen und im letzten Frühjahre gruben ein
Kollege und ich uns dort Pflanzen aus, um sie in
unsere Gärten zu versetzen. In beiden Jahren
fanden wir Zwiebeln , die sich in eigentümlicher
Weise den Bodenverhältnissen angepaßt hatten.
In den von der Pflanze bewohnten Erlenbrüchen
bieten die sonstige Bodenbeschaflenheit und die
reichlich sich dort an der Erde ansammelnden
trockenen Zweige der Erlen so recht die Gelegen-
heit , daß ein stärkerer Gewitterregen oder die
Schmelzwasser des Schnees hier oder dort einen
Damm bauen , welcher veranlaßt , daß oberhalb
desselben sich eine neue Erd- und Schlammschicht
ablagert. So wird leicht der Fall eintreten , daß
die Zwiebeln der dort wachsenden Märzglöckchen
zu hoch mit Erde bedeckt werden. Doch die
Pflanze weiß sich in eigener Weise zu helfen. Um
für kommende Jahre den für das Durchwachsen
einer so tiefen Bodenschicht erforderlichen un-
nützen Kraftaufwand und die Gefahr des Erstickens
und Faulens zu vermeiden, bildet sie in entspre-
chender Höhe über der alten Zwiebel eine neue.
Derartige Neubildungen von Zwiebeln haben
wir in größerer Zahl dort in beiden Jahren be-
obachtet. Der auffälligste Fall ist in ' ., der natür-
lichen Größe in der Figur nachgezeichnet. Die alte
Mutterzwiebel a war wohl bei einer der oben an-
gegebenen Veranlassung mit dem Kopfende
nach unten zu tief in den Boden geraten. Der
aus ihr entsprossene , im Bogen zum Licht auf-
strebende Trieb bildete darum bei b eine neue
Zwiebel; da jedoch auch diese noch zu tief im
Boden lagerte, vielleicht auch bei einer neuen
Katastrophe noch einmal von Schlamm überlagert
wurde, so mußte noch einmal eine neue Zwiebel
bei c gebildet werden. Als ich die Pflanze aus-
grub waren die Schalen der Zwiebel a schon
welk und kraftlos, während b und c gesund er-
7i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
schienen. Jetzt, einige Monate nachher, ist bei
der getrockneten Pflanze auch die Zwiebel b welk,
während c hart geblieben ist. Auffällig war mir
dabei noch, daß an dem Stengelteil zwischen a
und b die Gefäßbündel sich direkt in Wurzel-
fasern umgebildet zu haben scheinen. Ob eine
derartige Umbildung vorkommt, weiß ich nicht,
dem Äußeren nach war es so. Selbstverständlich
bewahrte ich das betreffende Exemplar auf.
Die kleinen Nebenzeichnungen stellen ähnliche
Neubildungen von Zwiebeln oberhalb der alten dar,
welche ich vor Jahren in meinem Garten in Gollnow
bei Galanthus nivalis (gefüllte Varietät) beobachtete.
Nach der Vegetationszeit hob ich einen starken
Busch dieser Pflanze aus einem Beete aus, welches im
Herbst vorher durch eine Aufschüttung um etwa
lo cm erhöht worden war. Die Mehrzahl der
Zwiebeln jenes Busches zeigte eine Neubildung
von Zwiebeln, wie sie in der Nebenzeichnung
nachgebildet ist, die ich nach Zwiebeln gezeichnet
habe, die in den Sammlungen des Bückeburger
Gymnasiums aufbewahrt sind. ')
Im Anschluß hieran möchte ich noch einen
Fall staunenswerter Widerstandsfähigkeit eines
Zwiebelgewächses bei Verletzungen erwähnen.
Beim Lockern eines Rosenbeetes durchstach ich
mit scharfem Spatenstich eine sehr kräftige, über
fauststarke Zwiebel von Hyacinthus candicans,
') Eingehend behandelt wurde der obige Gegenstand von
Massart, ,,Comment les plantes vivaees maintiennent leur
niveau souterrain." (Bull. Jard. Bot. Bruxelles 1903.) — Red.
welche unter der Erde schon einen 5 — /cm langen,
fingerdicken Trieb angesetzt hatte, in fast horizon-
taler Richtung etwa in der Mitte. Zu einem Zu-
schauer , der sein Bedauern aussprach , sagte ich
mehr im Scherz als im Ernst, ,,das schadet nichts,
das heilt alles wieder an", legte die Zwiebelteile
wieder aufeinander und ebnete den Boden ein.
Ich war dann erstaunt, als an der betreffenden
Stelle e i n kräftiger Schaft bis zu i ^/^ m Höhe
hervorwuchs und glaubte, es würde eine zweite
Zwiebel an der Stelle im Boden gelegen haben.
Im Herbst aber stellte ich fest, daß tatsächlich
die verletzte Zwiebel den kräftigen Trieb hervor-
gebracht hatte. Die Heilung war ganz glatt er-
folgt, nur die alleräußersten Zwiebelblätter waren
nicht verheilt und zeigten deutlich die alte Schnitt-
ebene. Die betreffende Zwiebel ist mir leider
abhanden gekommen. Max Ballerstedt.
Bekanntlich wirft der Weberknecht (Phalan-
gium opilio L.), wenn er an einem seiner langen
Beine gefaßt wird, dies ab, um so der Gefangen-
schaft und dem Tode entgehen zu können. In-
dem ich hieran dachte, als ich am 6. September
1903 zu Winningen a. Mosel an einer Wand un-
gewöhnlich viele Weberknechte bemerkte , kam
mir der Gedanke, einmal zu zählen, wie viele
dieser Tiere ihre normale Beinzahl noch besäßen.
Da zeigte sich , daß unter den 1 3 vorhandenen
Exemplaren 5 nur je 7 Beine hatten. 38,5 <''„
der beobachteten Individuen waren also bereits in
der Lage gewesen, ein Bein abwerfen zu müssen,
um das Leben zu retten. Hieraus geht hervor,
daß die Selbstverstümmelung bei Phalangium opilio
eine wesentliche Rolle spielt. Bemerkt sei , daß
das in Frage stehende Haus im allgemeinen nur
von Erwachsenen bewohnt wird, eine mutwillige
Verstümmelung der Tiere durch Kinder also un-
wahrscheinlich ist. Oberlehrer Dr. Schlickum.
Von der täglichen Sonnenscheindauer, deren
Kenntnis nicht nur an sich, sondern auch für die
Frage der Einwirkung der klimatischen Verhält-
nisse auf die Verbreitung von Krankheiten von
Interesse ist, haben wir bisher noch wenig zu-
sammenfassende LIntersuchungen zu verzeichnen.
Pfarrer Aug. Eichhorn in Taupadel bei Jena
hat nun in einer Dissertation über die Sonnen-
scheindauer in Europa, insbesondere in Deutsch-
land, geschrieben und eine Sonnenscheindauer-
karte entworfen. Er ist sich durchaus klar dar-
über, daß das bisher von den Heliographenstationen
gelieferte Material für die Herstellung einer un-
bedingt richtigen Isohelien-Karte durchaus noch
nicht genügt und daß an den von ihm gezeich-
neten Kurven noch bedeutende Berichtigungen
mit der Zeit nötig werden dürften, immerhin aber
ist der Versuch bei der Sorgfalt, mit der der Verf.
zu Werke geht, bedeutend genug, um in seinen
Ergebnissen Beachtung zu finden. Er benutzt
die Aufzeichnungen der 39 heliograpliischen
Stationen, die sich mit Ausnahme von Bayern,
N. F. m. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
717
das noch keine Station aufzuweisen hat, über ganz
Deutschland verteilen. Bemerkt sei auch, daß alle
CaiTi[)bell-Stokes'schen Apparate, mit denen die
Stationen arbeiten, nur die Dauer, nicht die
Intensität der Sonnenscheinbelichtung angeben ;
auch beginnt der Apparat meist erst einige Zeit
nach Sonnenaufgang seine Aufzeichnungen und hört
einige Zeit vor Sonnenuntergang auf, auch kurze
Sonnenscheindauer inmitten des Tages wird oft nicht
deutlich genug aufgezeichnet, um abgelesen werden
zu können. Nach dem bisher vorliegenden Material
sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Jahren
recht beträchtlich, z. B. sind in Chemnitz schon
Unterschiede von 440,8, in Jena von 577,7 Stunden
bemerkt worden, in IVIeldorf dagegen nur von
216,9 Stunden. Erst eine noch längere Reihe von
Beobachtungsjahren wird also unanfechtbare Ver-
gleichsziffern bringen, f^ine Grundlage aber ist jetzt
gegeben, auf der weiter gebaut werden kann, eine
Grundlage, die durch Beobachtungen belegte Tat-
sachen der weiteren Nachprüfung zurVerfügung stellt
und auf annähernde Richtigkeit wohl Anspruch
machen darf. In Deutschland finden wir drei Insola-
tionszentren, die von besonders langer Sonnenschein-
dauer begünstigt sind; es ist dies ein großer Land-
strich, der sich von Kolbergermünde nach Samter
hinzieht, ein Gebiet umLeobschützinOberschlesien,
und das Saaltalgebiet um Jena. Diese Gebiete stehen
mit einer durchschnittlichen Tagesdauer von 4,8
-Stunden obenan ; es folgen ein langgezogener Strich
im Rheintal von Rastatt bis Wiesbaden und einer
im Nordwesten von Celle nach Meldorf mit 4,7
Stunden täglicher Sonnenscheindauer. Die Gegenden
mit dem spärlichsten Sonnenschein liegen um
Aachen, um Chemnitz und um Cassel mit 4,2
Stunden, ja um den Inselsberg mit nur 4,0 Stunden
täglich, abgesehen von einigen Großstädten wie
Hamburg (3,5) und Stuttgart (3,6), für die, wie
wir gleich sehen werden, besondere Verhältnisse
vorliegen. Denn weniger die allgemeinen Ver-
hältnisse der Lage als ganz besondere Gründe sind
es, die für die Sonnenscheindauer von Bedeutung
sind. So haben Großstädte sowie industriereiche
Gegenden ein bedeutendes Minus an Insolations-
dauer schon allein wegen der Staub- und Ruß-
entwicklung, die eine Verdunkelung bis zu 75 %
ausmachen können. Es ist berechnet worden, daß
sich in der Luft über dem Atlantischen Ozean 72
Staubkörperchen auf ; ccm fanden, 381 in den
Alpen, 500 auf dem Lande bei klarer Luft, bei
dicker Luft bis zu 5000, während Paris 160 000
bis 210000, London 1 16000 bis 480000 aufwies.
Da Steinkohlenpartikelchen hier ganz besonders
mitsprechen, so erklärt sich leicht die Lichtver-
deckung in dem Industrie- und schififsverkehrreichen
Hamburg, in Chemnitz usw. Die geringe Sonnen-
scheindauer am Inselsberg wie überhaupt in der
Nähe aller Gebirge, beruhte naturgemäß auf der
reicheren Wolkenbildung vor den Höhenzügen ;
auch ungünstige Lage der Beobachtungsstation
(Stuttgart; denn das nahe gelegene Hohenheim
hat die Durchschnittsziffer von 4,4) fällt ins Ge-
wicht. Abgesehen von diesen besonderen Gründen
aber ist die allgemeine Meinung von dem trüben
Norden und dem sonnigen Süden zutreffend ; denn
während England und Dänemark Durchschnitts-
ziffern von 3,3 aufweisen und in Deutschland, wie
wir sahen, Grenzwerte von 4,2 bis 4,8 gelten, zeigt
die Schweiz schon 4,7 (Basel) bis 6,1 (Lugano),
Italien 5,6 (Padua) bis 7,6 (Pola) und das Maximum
in Europa hat Madrid mit 8,0 Stunden täglicher
Durchschnittssonnenscheindauer. Daneben zeigt
sich nach Osten zu auch bei gleicher nordsüdlicher
Höhe eine kleine Zunahme der Sonnenscheindauer.
Auch für den Winter hat Eichhorn eine Karte
entworfen, und hier stehen wieder die Rheinebene
von Poppeisdorf bis Basel, die Gebiete um Leobschütz
und Jena als sonnenreichste Gegenden obenan,
während zwei große Minima sich im ostpreußischen
Seengebiet und in Mecklenburg bis Hamburg zeigen.
Der Grund hierfür ist leicht in dem Vorherrschen
der Nebeltage zu finden. Die Untersuchungen
sind für die Kenntnis von dem Reichtum der
Luft an pathogenen Keimen und für die Wahl von
Gegenden für Lungenheilstätten von großer Be-
deutung. A. Elster.
Ein Fortschritt im Bau des Kinemato-
graphen. — Die nicht berufsmäßig geübte Photo-
graphie, die sogenannte Amateur- oder Liebhaber-
photographie hat in den letzten Jahrzehnten einen
außerordentlich großen Aufschwung genommen,
sie ist zu einem Werte — auch für die Wissen-
schaft — gelangt, den man ihr in früheren
Jahren vorhersagen zu können nie geglaubt haben
würde. Wie das Experiment im allgemeinen alle
jene Wissenschaften , die sich seiner bedienen
können, gewaltigen V^orsprung gewinnen ließ gegen
die Disziplinen, denen die Anwendung desselben
verschlossen ist, wie ferner jedwede wissenschaft-
liche .Auseinandersetzung durch die Demonstration
ad oculos hervorragenden Wert erhält, so ist ganz
im besonderen die Länder- und Völkerkunde an
der Nutzbarmachung der Photographie interessiert.
Seit langem schon bildet für alle Zweige der
geographischen Wissenschaft neben der Karte die
photographische Aufnahme ein Anschauungsmittel,
dessen man nicht mehr entbehren kann. Und
dieses Anschauungsmittel erfährt fast täglich wert-
volle Bereicherungen , denn kaum noch geht ein
Reisender in ferne Länder, der nicht des Photo-
graphierens mächtig ist, der nicht irgend eine
Camera mit sich führt. Dieses jüngste Hilfsmittel
der geographischen Wissenschaft ist gerade um
deswillen so ergebnisreich, weil bei seiner Anwen-
dung die Notwendigkeit wissenschaftlicher Vor-
bildung, die Voraussetzung eines geschulten
Blickes für das, was erforderlich, nicht absolute
Bedingung ist. Während für den Entwurf einer Karte
es notwendig ist, daß der Entwerfende sowohl,
wie derjenige, der die für den Entwurf erforder-
lichen Einzelheiten sammelt, gewisse kartographi-
sche Kenntnisse besitzen, daß dieselben mit den
Regeln und Gesetzen der Geländedarstellung, der
715
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
Wiedergabe der Situation vertraut sind, wird man
ohne weiteres annehmen können , daß ein nur
halbwegs mit Verständnis für das von der Natur
und den Verhältnissen Gebotene reisender Tourist
sicher unter lOO photographischen Aufnahmen
etwa 75 mit heimbringt, die neue Aufschlüsse
über Geländekonfiguration, über Vegetation, über
die Bewohner oder über die Tierwelt der be-
treffenden Gegend zu geben imstande sind.
Kaum nocli wird ein Vortrag über Forschungs-
reisen geboten, der nicht durch das Bild illustriert
ist und selbst der Vergnügungsreisende und Tourist
ist bestrebt, seinen Berichten durch die bildhche
Vorführung der zu schildernden Natur, der zu be-
sprechenden Volkstypen ein Leben zu verleihen,
das den der Bilder entbehrenden Berichten abgeht.
Wie das gesprochene Wort sich vor dem toten
auszeichnet, wie die mündliche Erzählung sich
vor dem sciiriftlichen Bericht auszeichnet, so etwa
stellt sich der von Bildern begleitete Vortrag zu
demjenigen, der auf diese verzichten muß.
Es ist nun aber wohl als gewiß anzunehmen,
daß ein das Leben in der Bewegung wiedergeben-
des Bild noch bei weitem anregender, fesselnder
wirken muß, als ein solches, das nur Augenblicke,
nur Momente zur Darstellung bringt, es ist klar,
daf5 einer kinematographischen Aufnahme bei
weitem mehr Wert innewohnt, als einer Moment-
aufnahme, die den Gegenstand in so kurzer Zeit
der Bewegung festhält, daß diese dem Ruhezustand
gleichkommt.
Kinematographische Aufnahmen haben denn
auch seit der Erfindung des Kinematographen in
der Erforschung gewisser wissenschaftlicher Vor-
gänge, gewisser physikalischer und physiologischer
Erscheinungen eine außerordentliche Umwälzung
hervorgebracht, haben die betreffenden Unter-
suchungen in hervorragender Weise gefördert,
haben die Behandlung derselben im hohen Grade
erleichtert. Aber die Anwendung des Kinemato-
graphen war bislier eine nur sehr beschränkte.
Der große Umfang, die komplizierte Einrichtung
und der hohe Preis schlössen ihn von der Ver-
wendung durch „Liebhaberphotographen" fast
vollständig aus. Erst in neuester Zeit ist es einer
Dresdner Fabrik, und zwar der des Herrn Erne-
mann, gelungen, einen kinematographischen Appa-
rat herzustellen, der sich auch für den Gebraucli
nicht berufsmäßig gebildeter Photographen eignet.
Für wissenschaftliche P'orschungen und Demon-
strationen, soweit sie nicht auf das Gebiet der
Länder- und Völkerkunde entfallen , wird selbst-
verständlich nach wie vor der von der Hand des
Fachmannes geleitete Apparat verwendet werden
müssen; für den Reisenden aber, der aus über-
seeischen Gebieten, aus den Kolonien namentlich
Bilder mitbringt, wird der neukonstruierte Apparat
ebenso wichtige Dienste leisten , wie für den
Touristen , der sich innerhalb Europas bevi'egt.
Namentlich für die Darstellung von wildbewegten
Religionsübungen, von Ratsversammlungen usw.
fremder Völkerschaften ist er ebenso von Wert,
wie für die Aufnahme von Gegenden, in denen sich
auch nur einigermaßen Leben bemerkbar macht.
Der neue aus der Camerafabrik des Herrn Ernemann
stammende Apparat, der in den letzten Wochen
überall da, wo er vorgeführt wurde, ein ganz be-
sonderes Bemerken für sich in Anspruch zu neh-
men wußte, wird in absehbarer Zeit bei keinem
Vortrag über Gegenstände der geographischen
Wissenschaften mehr fehlen dürfen , wie er nicht
minder sich auch bald als Unterrichtsmittel in
der .Schule eine hervorragende Stellung erwerben
dürfte. Oberstleutnant Hübner.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der VI. internationale Physiologen-Kongreß
wird vom 30. ."^ug. bis 3. Sept. in Brüssel unter dem Vorsitz
von Professor Paul Heger abgehalten werden.
Der VIII. internationale Ge o gr a p h en- K o ngr eß
wird vom 8. — lo. Sept. 1904 in Washington stattfinden. Am
12. findet eine Sitzung in Philadelphia statt, am 13. — 1 S-
werden die Verhandlungen in New-\'ork fortgesetzt. .\m 16.
erfolgt der Besuch des Niagarafalles; am 17. ist eine Fest-
sitzung in Chicago und am 19. und 20. werden die Verhand-
lungen im Anschluß an den Kongreß für Kunst und Wissen-
schaft auf der Weltausstellung in St. Louis geschlossen. Wenn
sich genügend Teilnehmer finden, wird ein Ausflug nach dem
Fernen Westen über jMe.\ico , Santa Fe, Grand Canyon des
Colorado nach S. Francisco unternommen werden, von wo
die Rückkehr auf beliebiger Route erfolgen kann. Das
Komitee bemüht sich, sowohl für die Überfahrt nach Amerika,
wie auch für den Aufenthalt und die Bahnfahrten in den
Vereinigten Staaten A'orzugsbedingungen zu erreichen. Der
Kongreß gliedert sich in 9 Sektionen: I. Physikalische Geo-
graphie; 2. Mathematische Geographie; 3. Biogeographie;
4. Anthropogeographie; j. Beschreibende Erdkunde mit Ein-
schluß von Reisen und Vermessungen ; 6. Geographische
Technologie mit Einschluß von Kartographie, Bibliographie ;
7. Wirtschaftsgeographie; 8. Geschichte der Geographie;
9. Geographischer Unterricht. Die Mitgliedskarte kostet
20 Mark. Der Sitz des Komitees, von dem die näheren Mit-
teilungen, Programme usw. zu beziehen sind , ist Washington
O. C, Hubbard Memorial Hall. (Nach der Leopoldina.)
Bücherbesprechungen.
1) Carl Detto, Dr. i)hil. , Assist, am bot;in. Institut
d. Univ. Jena, Die Theorie der direkten
Anpassung und ihre Bedeutung für das
Anpassungs- und Deszendenzprobleni.
Versuch einer methodologischen Kritik des Erklä-
rungsprinzipes und der botanischen Tatsachen des
Lamarekismus. Mit 17 Abb. Gustav Fischer in
Jena, 1904. — Preis 4 Mk.
2) Hermann Friedmann, D i e K ( i ii v e r g e n z der
Organismen. Eine empirisch begründete Theorie
als Eisatz für die Abstammungslelne. Berlin (Ge-
hrüder Paetel) 1904. — Preis 5 Mk.
3) Alfred Giard, Controverses Transfor-
mistes. Avec 23 figures. C. Naud, t-diteur ä
1904. — Prix 7 franCS.
4) W. Johannsen, Professor der Pflanzeilphysiologie
an der kgl. dänischen landwirtschaftliclien Hoch-
schule in Kopenhagen, Über Erblichkeit in
Populationen und in reinen Linien. Ein
Beitrag zur Beleuchtung schwebender Selektions-
N. F. ni. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
719
fragen. Verlag von Gustav Fischer in Jena 1903.
— Preis 1,50 Mk.
i) Detto versucht die Unzulässigkeit des Lamar-
ckismus zu erweisen, also jener Theorie, die aus einer
direkten Anpassung der Organismen an eine verän-
derte Umgebung die Entstehung der Arten annimmt.
Es ist gewiß gut , daß Verf. sich zunächst bemüht,
seine für den Ciegenstand grundlegenden philosophi-
schen Anschauungen darzulegen , allein diese sind
stark anfechtbar und zwar — was das wichtigste ist —
durch diejenige philosophische Richtung, die Verf
selbst zu Hilfe nimmt: durch den Erapiiiokritizismus
von Avenarius, Mach, Petzoldt usw. Nur ein wich-
tiges Beispiel. Von dem Begriff des „Erklärens"
sagt D. , daß die Definition , nach der man ,. unter
Erklären die Zurückführung einer Erscheinung auf
„ „Bekanntes" " versteht", zu unbestimmt und zu eng
sei. Er meint, daß das Bekannte selbst der Erklärung
bedürfe , daß aber eine Erscheinung als erklärt gelten
könne, „wenn sie als Grundtatsache erkannt wird, die
einer weiteren Zurückführung überhaupt nicht fähig"
sei. Diese „Grundtatsachen" sind nun aber weiter
nichts als die uns bekanntesten Erscheinungen,
deshalb sind es eben für uns „Grundtatsachen". Auch
die anderen für uns in Frage kommenden wichtigen
Begriffe , wie der der Kausalität , des Zweckes usw.
wendet Verf. in unzureichender Vertiefung an. Es
ist daher begreiflich, daß seine .Schlußfolgerungen, die
auf den von ihm gegebenen Definitionen in der
philosophischen Grundlegung basieren, keine zwingen-
den sind. Seine bequeme Zusammenstellung wichtiger
Tatsachen, die als solche direkter Anpassung angesehen
wurden, wird der Deszendenztheoretiker gern benutzen.
(Ref. vermißt diesbezüglich den schönen, von Haber-
landt mitgeteilten Fall von Coccoloba, die nach dem
Verstopfen ihrer normalen Transpirationsüfthungen
sofort ganz neue von einfacherem Bau bildete.)
2) Friedmann will die Abstammungslehre über-
haupt durch eine andere Theorie ersetzen. Knüpfen
wir an die unter i) gegebene Definition des Begriftes
„erklären" an. Die Herleitung aller Organismen durch
Blutsverwandtschaft war geboten und ist geboten
durch die bekannten Tatsachen, daß eine solche
Blutsverwandtschaft zwischen vielen Organismen vor-
handen ist und daß die durch diese Verwandtschaft
zusammenhängenden Organismen trotzdem in ihrer
äußeren Erscheinung voneinander unteischeidbar ab-
weichen oder abweichen können. Der Schluß war
also notwendig , die Herkunft aller Organismen auf
dieses Bekannte zurückzuführen, mit anderen Worten ;
ihre Herkunft damit zu „erklären". Verf. meint nun
u. a. , daß jeder Tierart eine durchaus spezifische
Ontogenie zukomme, also ontogenetisch die Ähnlich-
keiten nicht ausreichen , daß vielmehr die in der
I )eszendenzreihe sich forterbenden Übereinstimmungen
artgemäße seien, um die als um Konstanten die
individuellen Eigenschaften schwankten. Als Tatsache
sei nur die individuelle Variation vorhanden. Verf
kommt zu einem Prinzip der Homologie, auf deren
Basis sich ein zweites Prinzip, die Analogie, entfalte,
womit nur eine ideelle (nicht genealogische) Ver-
wandtschaft angenommen wird. „Aber, indem das
ideelle Moment in ein der höchsten, mathematischen
Erkenntnisform zugängliches Grundgesetz verlegt wird,
wird es zu deutlicher theoretischer Bestimmtheit er-
hoben — während die vermeintlich „reale" genealo-
gische Verwandtschaft aus dem unanschaulichen Nebel
einer Allgemeinvorstellung nicht herauskommt." Dank
übereinstimmender (gleichwirkender) Bedingungen
konvergieren die Wesen, die verschiedenen
„„Architypen"" angehören. Diese Konvergenz dürfte
dann jedoch — wenn wir ganz „exakt", d. h. bei den
einfachsten Erfahrungen stehen bleiben wollen — nur
in den Grenzen angenommen werden , die wir bis
jetzt als Variabilitätsgrenzen der Arten kennen gelernt
haben ; dabei können aber die weitgehenden Kon-
vergenzen, die gemeint sind, nicht zustande kommen.
Man siebt, es wird für den einzelnen ganz darauf
ankommen, ob er von den ihm bekannten Tat-
sachen der Blutsverwandtschaft ausgehen will und
damit die Verschiedenheit der gesamten Organismen
erklären will, oder ob ihm die ideelle Verwandt-
schaft — wie sie bei Kristallen vorhanden ist —
besser in succum et sanguinem übergegangen ist
(mehr Eindruck macht), ihm also diese besser bekannt
ist, um damit die Organismenreihen zu erklären.
Prinzipiell ist das eine so logisch wie das andere ; es
fragt sich nur wofür sprechen die meisten allge-
mein bekannten Tatsachen, welche auf diese gegrün-
dete Theorie ist Rihiger interindividuell zu werden ?
Dem Referenten scheint es immer noch , daß dies
die Deszendenztheorie ist; Kristalle variieren nicht,
Organismen aber sind dazu fähig. — U. a. sind es Tat-
sachen der physiologischen Chemie, die dem Verf.
unvereinbar erscheinen mit der Annahme der De-
szendenz.
3) Das Buch Giard's bringt eine Reihe von Auf-
sätzen des Verfassers, die sich auf Streitfragen zum
Lamarckismus und Darwinismus beziehen; es sind die
folgenden: I. Histoire du transformisme. II. L'em-
bryologie des Ascidies et l'origine des Vertebres.
III. Les faux principes biologiques et leurs conse-
(|uences en taxonomie. IV. Les facteurs de l'evolu-
tion. V. Le principe de Lamarck et l'heredite des
modifications somatic[ues. VI. La convergence des
types par la vie pclagi(|ue. VII. Sur la pleurostase
et les animaux dysdipleures. Giard ist durchaus
Deszendenztheoretiker.
4) Mit „Populationen" meint der Autor das, was
man sonst unter Rasse, Individuengruppe gleicher
Art oder dgl. versteht und unter reinen Linien ver-
steht er Pflanzenindividuen, welche von einem einzel-
nen, selbstbefruchtenden Individuum abstammen.
Verf. kommt zu dem Resultat, daß das Galton'sche
Rückschlagsgesetz richtig ist. Dieses besagt, daß
(vollständig entwickelte, erwachsene) Kinder, im gan-
zen genommen, in derselben Richtung wie die Eltern
vom Typus der gegebenen Population abweichen,
jedoch in geringerem Grade. Das Heft ist besonders
wertvoll durch die Experimente, die Verf zur Be-
gründung dieses Satzes angestellt hat. H. Potonie.
Geographen -Kalender. In Verbindung mit Dr.
Wilh. Blankenburg, Prof. Paul Langhans, Prof. Paul
720
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 45
Lehmann und Hugo Wichmann herausgegeben von
Dr. Herm. Haak, 2. Jahrg., 1904/5, XII, 206 u.
360 S. 8". Gotha, Justus Perthes. — Preis: geb.
4 M.
Der zweite Jahrgang des Geographen- Kalenders
präsentiert sich , wie sein Vorgänger, als ein recht
nützliches l-iuch. Im ersten Teile bringt derselbe außer
dem Kalendarium für 1904 — 5, dem astronomischen
Ortsverzeichnis und den Tabellen der Erddimensionen
eine kurze Revue der Weltbegebenheiten, sowie eine
zusammenfassende Darstellung der geographischen
Forschungsreisen und der wichtigsten geographischen
Literatur des Jahres 1903. Wenn von der geogra-
phischen Literatur nur die wichtigsten Neuerscheinungen
berücksichtigt wurden, so hat dies wohl in Raumrück-
sichten seine Begründung. Den Schluß der ersten
Abteilung bildet die Totenliste. — Von besonderem
Interesse ist der zweite Teil des Kalenders, welcher
ein geographisches Adreßbuch, bearbeitet von Dr.
H. Haak und H. Wichmann, darstellt. Hier wird in
erster Linie ein Verzeichnis der Lehrstühle, geogra-
phischen, naturwissenschaftlichen und ähnlichen An-
stalten und Gesellschaften geboten, und zwar zuerst
nach Ländern und Wissenschaften und sodann nach
Orten geordnet ; diesem folgt eine Zeitschriftenliste.
Außer der eigentlichen geographischen Wissenschaft
sind besonders die Naturwissenschaften berücksichtigt
und wurden die einschlägigen Institute und Publikationen
aller Länder in großer Zahl verzeichnet. Wenn das
Adreßbuch auch nicht als lückenlos gelten kann, da
die entsprechenden Auskünfte — besonders im Aus-
land — oft schwer zu erlangen sind, so stellt es doch
ein Nachschlagebuch dar, welches den interessierten
Kreisen willkommen sein wird. — Dem Kalender ist
ein Bildnis Sir Clemens Markham's, des Präsidenten
der Londoner Geographischen Gesellschaft, beigegeben.
Fehlinger.
Literatur.
Bunsen, Rob. : Gesammelte Abhandlungen. Im Auftrage der
deutschen Bunsen-Gesellschaft f. angew. physikal. Chemie
hrsg. V. Prof. Wilh. Ostwald u. Priv.-Doz. Max Bodenstein.
3 Bde. (CXXVI, 536 S. m. 67 Fig. ; VI, 660 S. m. 93 Fig.
u. 2 Taf. u. VI , 637 S. m. 109 Fig. u. 10 Taf.) gr. 8".
Leipzig '04, \V. Engelmann. — 50 Mk. ; geb. in Leinw.
54 Mk.
Fischer, Emil: Taschenbuch f. Schmetterlingssammler. 5. Aufl.
Mit 14 Farbendr. -Taf. u. vielen Holzschn. (Bibliothek nützl.
Taschenbücher. Hrsg. von Osk. Leiner und Emil Fischer.)
(XI, 253 u. XXV S. ra. 14 Bl. Erklärgn.) kl. 8». Leipzig
'04, O. Leiner. — Geb. in Leinw. 4 Mk.
Graetz, Prof. Dr. L. : Die FTektrizität u. ihre Anwendungen.
II. Aufl. (34. — 39. Taus.) XVI, 652 S. m. 574 Abbildgn.)
gr. 8". Stuttgart '04, J. Engelhorn. — 7 Mk. ; geb. in
Leinw. 8 Mk.
Lommel, weil. Prof. Dr. E. v.: Lehrbuch der Experimental-
physik. IG. u. II., neubearb. Aufl., hrsg. v. Prof. Dr. Walt.
König. Mit 424 Fig. im Text u. i (färb.) Spektraltaf. (X,
596 S.) gr. 8". Leipzig '04, J. A. Barth. — 6,40 Mk.;
geb. in Leinw. 7,20 Mk.
Netto , Prof. Dr. Eug. : Elementare Algebra. Akademische
Vorlesgn. f. Studierende der ersten Semester. (VIII, 200 S.
m. 19 Fig.) gr. 8". Leipzig '04, B. G. Teubner. — Geb.
in Leinw. 4,40 Mk.
Poincare, Henri ; Wissenschaft u. Hypothese. Autoris. deut-
sclie .Ausg. m. erläut. Anmerkgn. v. F. u. L. Lindemann.
(XVI, 342 S.) 8". Leipzig '04, B. G. Teubner. — Geb.
in Leinw. 4,80 Mk.
Rettigf, Insp. Ernst: Ameisenpflanzen — Pflanzenameisen, Ein
Beitrag zur Kenntnis der v. Ameisen bewohnten Pflanzen u.
der Beziehgn. zwischen beiden. (II, 34 S.) gr. 8". Jena
'04, G. Fischer. — 80 Pf.
Weule, Prof. Dr. Karl: Geschichte der Erdkenntnis und der
geographischen Forschung, zugleich Versuch u. Würdigung
beider in ihrer Bedeutg. f. die Kulturentwicklg. d. Mensch-
heit. Mit 40 Taf u. Karten in Farbendr. u. igo .Abbildgn.
und Karten im Text. 2 Tic. in I Bde. [.Aus: ,, Krämer,
Weltall und Menschheil".] (XII, 180 u. 256 S.) Lex. 8".
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Herrn O. — Ganz trefllich als Einleitung in das Studium
der Mollusken ist das Buch: ,,Die Weich- und Schalliere"
gemeinfaBIich dargestellt von Prof. Ed. v. Martens. Leip-
zig und Prag, bei G. Freytag und F. Tempsky. 1883. kl. 8°.
327 Seiten mit eingedruckten Bildern. Eine kürzere Dar-
stellung des Wissenswürdigsten über Bau und Leben der
Mollusken hat v. Martens in Heck's Tierreich Bd. I, S. 555
bis 664 geboten. Berlin bei Pauli's Nachfolger (H. Jerosch)
1894. Diese Bearbeitung enthält aber mehr das Allgemeine,
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Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Detto, Friedmann, Giard, Johannsen:
Descendenz-Theoretisches. — Geographen-Kalender. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Ltchterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band-
Sonntag, den 14. August 1904.
Nr. 46.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Goblis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über Entstehung und Besiedelung der Tiefseebecken.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Johan
Das Weltmeer bedeckt ■^ 3 der Erdoberfläche.')
Fünf Kontinente und zahllose Inseln ragen aus
demselben empor und gliedern den Ozean in ein-
zelne Teile, aber nirgends findet sich eine Schranke,
welche den Austausch der Gewässer auf die
Dauer hindern könnte. Das immer bewegte und
ruhelos durcheinandergemischte Meerwasser zeigt
daher eine ganz auffallende Übereinstimmung in
seiner chemischen Zusammensetzung. Am Pol
wie am Äquator, an der Oberfläche wie am
Grunde des Meeres beträgt der Salzgehalt etwa
3,5 *"„ und das Verhältnis der Chloride, Sulphate
und Karbonate bleibt selbst in brackischen Neben-
meeren oder im Mündungsgebiet großer Flüsse
durclischnittlich dasselbe.
Es ist bekannt, daß die astronomische Stellung
der Erde zur Sonne bestimmte Klimazonen be-
dingt, welche in nahezu parallelen Gürteln senk-
recht zur Erdachse angeordnet sind, und wir be-
obachten auf dem Festland eine beständige Ab-
nahme des organischen Lebens in dem Maße, wie
') Wir geben der Einfachheit halber im folgenden nur
abgerundete Zahlen an.
nes Walther-Jena.
wir von dem warmen Äquatorialgebiet nach dem
kalten Polarkreis vordringen.
Auch die Oberfläche des Meeres wird von
Klimazonen umgürtet, die, den festländischen
Wärmegürteln entsprechend, von einer Küste zur
anderen reichen. Im Äquatorialgebiet ist das
Wasser 30 " warm, nach den Polen zu sinkt seine
Temperatur, und da das Salzwasser erst bei — 3"
friert, werden die polaren Küsten von sehr kaltem
Wasser bespült. Man sollte nun glauben, daß,
Hand in Hand mit dieser Temperaturabnahme
eine Verminderung des organischen Lebens im
Meere beobachtet würde, allein fast das Gegenteil
ist der Fall. In den polaren Meeren füllt sich
das Planktonnetz mit einem wahren Brei von
schwebenden Pflanzen und Tieren, welche den
zahllosen Fischschwärmen und den riesigen Walen
zur Nahrung dienen, und wenn der Naturforscher
dort das Schleppnetz über den Meeresgrund ge-
zogen hat, dann ist es erfüllt mit ungeheuren
Mengen vonEchinodermen, Mollusken und Krebsen.
Um diese auffallende Tatsache zu verstehen,
müssen wir uns klar werden, daß fast alle Meeres-
tiere zu den Wechselblütern gehören, deren Eigen-
722
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
wärme in dem Maße sich ändert, als die Tempe-
ratur ihrer Umgebung wechselt. Pecten islandicus
gedeiht ebenso bei einer Meerestemperatur von
o" wie Pecten jacobaeus bei 10" oder wie der
tropische Pecten sanguinolentus das 25 " warme
Wasser der Korallenmeere vorzieht. Infolgedessen
ist die absolute Höhe der Temperatur von keinem
Einfluß auf den Formenreichtum der Meeresfauna.
Wir wissen, daß das Klima eines Festlandes
unter der gleichen geographischen Breite sehr be-
trächtliche Änderungen erleidet , wenn das Land
zu Gebirgen aufgetürmt wird. Der Kilimandscharo
liegt in der Tropenzone und doch wird sein
Gipfel von ewigem Schnee und „polaren" Gletschern
bedeckt.
In derselben Weise, wie das Klima des Fest-
landes mit steigender topographischer
Höhe dem Polarklima immer ähnlicher wird, so
beobachten wir im Meere mit zunehmender
Tiefe eine beständige Erniedrigung der Tempe-
ratur. Schon in 120 m hören die täglichen und
jährlichen Schwankungen der Wasserwärme in
der Regel auf, und unter dem bis 30" warmen
Oberflächenwasser der Aquatorialgebiete treffen
wir schon in 200 m eine Temperatur von 12",
bei 1200 m eine solche von 5". Und von hier
bis zum Grunde herrscht eine unveränderliche
Temperatur von o bis 5", die im südlichen At-
lantik sogar auf —2'* sinkt.
Aber während auf dem Festland die kälteren
Regionen nur geringe Räume einnehmen, herrscht
am Meeresgrunde das umgekehrte Verhältnis.
Denn selbst in den Äquatorialregionen ist das
warme Wasser auf ganz schmale, der Küste pa-
rallele Zonen beschränkt, und die ganze Breite
der eigentlichen Tiefseebecken wird von eiskaltem
Bodenwasser bedeckt.
Ein riesiger, aber unmeßbar langsamer Strom
kalten Südpolarwassers dringt gegen die Äquatorial-
gebiete in der Tiefe vorwärts und projiziert die
thermischen Eigenschaften des südlichen Eis-
meeres nach dem Tiefseeboden.
Bei Betrachtung einer Weltkarte gewinnen wir
nicht den richtigen Eindruck von den Verhält-
nissen des Meeres zu den Kontinenten , weil die
Randgebiete der kontinentalen Sockel vom Meere
überspült sind und infolgedessen um fast alle
Küsten eine breite Flachwasserzone zieht , deren
Tiefe ganz langsam bis zu zwei- oder dreihundert
Metern sinkt. So gehört die ganze Nordsee, die
irische See und das Meer bis 300 km westlich
von Irland zu dieser sogenannten Kontinentalstufe
und erst jenseits derselben sinkt der Meeresboden
rasch zu 4000 m hinab.
Aber selbst wenn wir die Kontinentalstufe als
den wasserüberspülten Rand der Kontinente be-
trachten, so gehört doch noch immer die Hälfte
der gesamten Erdoberfläche zum Areal der Tief-
see mit einer durchschnittlichen Wassertiefe von
4000 m und maximalen Tiefen von 8 — 10 km.
Dieses ungeheure, die Hälfte unseres Erdballes
umspannende Gebiet ist für die Naturgeschichte
der heutigen Erde so bedeutungsvoll, daß man
wohl verstehen kann , welche Rolle es auch in
der geologischen Vergangenheit gespielt hat.
Aber um die Vorgeschichte der Tiefsee beurteilen
zu können, müssen wir noch einige wichtige Eigen-
schaften des heutigen Tiefseebodens kennzeichnen.
Wellen und Meeresströmungen werden durch
vorübergehende oder periodische Winde erzeugt
und setzen nur die obersten Wasserschichten in
Bewegung. In looo m Tiefe ist selbst der Golf-
strom kaum mehr zu bemerken und weiter hinab
hören alle meßbaren Wasserbewegungen auf Nur
unmerklich langsame Diffusionsströme mischen
die Wasser beständig durcheinander.
Gerade so wie die Sonnen wärme nur die
obersten Wasserschichten zu erwärmen vermag,
so dringt auch das Sonnenlicht selbst im klaren
Wasser nur etwa 400 m tief. Photographische
Platten, die man bei Nizza in solchen Tiefen ex-
ponierte , zeigten keine Lichtwirkung. Nur das
zarte Schimmern phosphoreszierender Tiere er-
leuchtet die dunkeln Abgründe.
Die für das Leben der Pflanzen so maßgebende
Kohlensäureassimilation ist nur im Sonnenlichte
möglich; deshalb dürfen wir uns nicht wundern,
daß die Tiefsee keine einzige Pflanze beherbergt,
und mit der Pflanzenwelt fehlen auch alle pflanzen-
fressenden Tiere.
Prassen wir die bisher besprochenen Eigen-
schaften der abyssalen Gebiete zusammen, so
müssen wir sagen :
Eine gleichmäßig niedere Temperatur, ein
ruhiges, durch keine meßbaren Bewegungen ge-
störtes Wasser von normalem Salzgehalt, kein
Sonnenlicht und kein Pflanzenleben — das sind
die bionomisch wichtigen Charaktere der Tiefsee.
Diese Existenzbedingungen sind nun ganz un-
veränderlich über ungeheuere Räume verbreitet
und bedingen die weltweite Verteilung der meisten
Tiefseebewohner. Die Fauna der Tiefsee ist un-
zweifelhaft ärmer , als diejenige der flacheren
Meeresteile, aber wenn wir erwägen, daß alle
lichthungrigen und alle pflanzenfressenden Tiere
darunter ebenso fehlen , wie alle Bewohner des
bewegten und des warmen Meerwassers, so muß
uns doch die Tierwelt jener Abgründe geradezu
in Erstaunen setzen. Denn jedes Schleppnetz
brachte noch Tiefseetiere herauf und selbst die
kleine Grundprobe der Lotungsmaschine hat aus
den größten Tiefen von mehr als 9000 m Spuren
organischen Lebens mit heraufgefördert.
Vor 10 Jahren hat Sir John Murraj- die Er-
fahrungen früherer Tiefseeexpeditionen zusammen-
gefaßt und dabei festgestellt, daß
bis zu 200 m Tiefe etwa 4200 .\rten bodenbewolin. Tiere leben
,, 2000 ,, ,, ,, 600 ,,
bei 4000 „ ,, ,, 400 „
über 5000 ,, ,, ,, 150 ,,
Dazu kommt die große Schar der in den
tieferen Wasserschichten schwebenden und schwim-
menden Tiere. Aber während in flachem Wasser
gleichzeitig eine große Anzahl von Individuen der-
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
723
selben Art in jedem Netzzug erbeutet wurden,
sind die tieferen Wasserschichten reich an Arten,
aber arm an Individuen. Ein Schleppnetzzug in
1000 m Tiefe ergab noch 100 Exemplare von
demselben Tier; aber in größeren Tiefen waren
oftmals in einem Netz nur je 2 Exemplare von
10 verschiedenen Arten.
Es ist schwer, eine treffende Charakteristik
der bisher bekannten Tiefseetiere ohne speziellere
Schilderung einzelner Formen zu geben. Aber
man darf wohl betonen, daß sie meist ganz
weiche Gewebe besitzen. Kalkige Skelette sind
selten oder sehr dünn. Die einen sind blind,
andere durch teleskopische Augen oder selt-
same Hohlspiegel ausgezeichnet. Viele leben von
moderigem Tiefseeschlamm und haben daher ihre
Organe'^zum Zerkleinern der Nahrung eingebüßt,
andere sind furchtbare Raubtiere mit stark ent-
wickeltem Gebiß. Viele Formen zeigen wunder-
bare Einrichtungen der Brutpflege, andere Schemen
sich ungemein rasch zu vermehren — aber fast
alle sind mit phosphoreszierenden Leuchtorganen
ausgestattet, die geeignet sind, mit ihrem bunten,
zarren Licht, das man in einelnen Fällen noch
nach dem Fang photographieren konnte, die
dunkeln Tiefen wie einen Zaubergarten zu er-
hellen.
Wenn wir nun nach den Existenzbedingungen
dieser formenreichen Tierwelt fragen, so erhebt
sich ein eigenartiges Problem: Wir wissen, daß sich
das organische Leben nur dadurch erhält, daß
immer wieder anorganische Verbindungen in den
Kreislauf des Lebens eingeführt werden, und die
Macht, welche allein im größten Maße imstande
ist, das organische Leben zu erhalten, ist die
Kohlensäureassimilation der Pflanzen.
Nur wenn Sonnenlicht auf buntgefärbte Pflanzen-
teile fällt, werden Kohlensäure und Wasser in
ihre Elemente zerlegt und aus denselben das
komplizierte Frotoplasmamolekül aufgebaut. Wo
Sonnenlicht und grüne Pflanzen fehlen, da kann
kein Leben neu entstehen, und kein organisches
Leben sich halten. So könnte sich auch das
Tierleben in der heutigen Tiefsee nicht erhalten,
wenn nicht beständig ein Strom kalten Südpolar-
wassers Sauerstoff und Nahrung in die abyssalen
Abgründe hinabtrüge.
Die Tiefsee gleicht, nationalökonomisch ge-
sprochen, einem reinen Industriestaat ohne Land-
wirtschaft, der in seiner ganzen Existenz von Acker-
bau und Viehzucht treibenden Ländern abhängig ist.
Daraus ergibt sich als notwendige Folgerung,
daß die Fauna der Tiefsee dort nicht entstanden
sein kann, sondern von lichteren, pflanzenreichen
Wasserschichten in die dunkle Tiefe hinabgewandert
sein muß.
Sobald wir uns diese unbestreitbare Tatsache
klar gemacht haben, tritt uns ein sehr bedeut-
sames, geologisches Problem entgegen. Wir fragen:
wann ist die Tiefsee besiedelt worden ? und
wann entstanden die Tiefseebecken?
Um diese Fragen untersuchen zu können, müssen
wir noch mit einigen Worten die Sedimente der
heutigen Tiefsee besprechen, denn nur wenn wir
diese genau kennen, ist es möglich ein älteres
Gestein nach seiner Entstehungsgeschichte zu prüfen.
.Alle Ablagerungen des Küstengebietes und der
flachen Kontinentalstufe stammen vom Festland
oder vom Kontinentalgebiet. Die Gerolle am
felsigen Ufer, der Sand der Dünenregionen und
der blaue oder grüne Schlamm der Flachsee ist
durch die Meereswellen vom Strande abgespült
oder durch Flüsse in den Ozean getragen worden.
Die mächtigen Deltakegel des Nil, Ganges oder
Mississippi legen Zeugnis davon ab, welche unge-
heuren Massen festländischen Schlammes nach dem
Meere verfrachtet werden.
Aber das salzhaltige Meerwasser hat die selt-
same Eigenschaft, trübes Flußwasser in kurzer Zeit
zu klären und allen Schlamm zu Boden zu schlagen.
So wird also alle Plußtrübe im Gebiet der Flach-
see abgelagert und kein Quarzsplitter erreicht die
Abgründe der Tiefsee. Sir John Murray hat nach
Abschluß der Challenger-Reise alle bis dahin be-
kannten Tiefseegrundproben untersucht und ge-
zeigt, daß in jenen Abgründen Sedimente von ganz
besonderem Charakter entstehen.
Die wichtigste Rolle bei deren Bildung spielen die
schwebenden Organismen des Meeres. Die kalkigen
Schalen zierlicher Globigerinen setzen die Haupt-
masse des sogenannten Globigerinenschlickes zu-
sammen, der etwa die Hälfte des gesamten Tiefsee-
bodens bedeckt. Dieser im frischen Zustande rahm-
fgelbe, weiche, flüssige Kalkschlamm ist durch Über-
gänge mit dem Kontinentalschlamm der Küstenzone
verbunden und geht durch Abnahme seines Kalk-
gehalts in den sogenannten roten Tiefseeton über,
der etwa Vs '^^^ Erdoberfläche überzieht. Ihm
sind eingefügt einzelne Gebiete, die ganz mit den
zierlichen mikroskopischen Kieselhüllen von Radio-
larien übersät sind. Der rote Tiefseeton entstand
aus umgewandelten vulkanischen Aschen und aus
dem Lösungsrückstand von organischen Kalk-
skeletten.
Von gewissen Ausnahmen abgesehen sind
die genannten Tiefseesedimente sowie die mit
ihnen verbundenen anderen Ablagerungen des Tief-
seebodens durch folgende Eigenschaften ausge-
zeichnet :
1. Sie enthalten weder Quarz noch andere
Bruchstücke festländischer Gesteine;
2. sie enthalten keinen Pflanzenmoder, der sie
braun oder schwarz färbte;
3. sie sind horizontal geschichtet und über un-
geheure Räume unverändert ausgebreitet;
4. sie enthalten keine Überreste von Flachsee-
tieren oder Pflanzenfressern;
5. sie sind durch sehr langsame und allmähliche
Übergänge mit anders gearteten Sedimenten des
flacheren Wassers verbunden.
Die geologische Untersuchung der festländischen
Erdrinde hat das bemerkenswerte Resultat ergeben,
daß seit den ältesten Zeiten der Erdgeschichte bis
zum heutigen Tage fast jede§ Stück Festland wieder-
724
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
holt Meeresgrund war. Die heutige Lage und die
jetzigen Grenzen des Ozeanes sind eine vorüber-
gehende Erscheinung, und während man früher
glaubte, nach dem festen Niveau des Meeresspiegels
die Höhen des Landes messen und nivellieren zu
können, hat man seit etwa 25 Jahren erkannt,
daß das Meeresniveau veränderlich ist und bezieht
die Nivellements auf willkürliche Nullpunkte an
Sternwarten oder anderen festen Punkten. Wenn
nun jeder Teil des gegenwärtig trockenen Landes
einmal oder mehrere Male Meeresgrund war, so
müssen wir zuerst fragen, ob wir in der Erdrinde
Ablagerungen kennen, die nach ihren lithologischen
und faunistischen Charakteren als ehemaliger Tief-
seeboden betrachtet werden müssen ?
Ich habe mich viel mit rezenten Tiefseesedi-
menten beschäftigt, habe die Sedimente der Chal-
lengerexpedition studiert und bei meinen geo-
logischen Studien immer wieder darauf geachtet,
ob irgend ein fossiles Gestein abyssale Eigenschaften
besitzen möchte — und kann versichern, daß mir
weder aus paläozoischen noch mesozoischen Ab-
lagerungen irgend ein Gestein begegnet ist, das
nach seiner Struktur und Lagerungsform mit den
heutigen Sedimenten der Tiefsee übereinstimmte.
Selbst die durch Dr. Rüst's mühevolle Unter-
suchungen bekannt gewordenen Radiolariengesteine
halten einen Vergleich mit dem Radiolarienschlick
der heutigen Tiefsee nicht aus. Ihr Kohlenreich-
tum , die Menge terrigenen Materials und ihre
stratigraphische Verbindung mit zweifellos litoralen
Sedimenten läßt es unmöglich erscheinen, in ihnen
Ablagerungen der Tiefsee zu erblicken. Wir werden
vielmehr an den miocänen Tripel von Sizilien er-
innert und an die ozeanographischen Verhältnisse
in der Meerenge von Messina. Hier dringt ein
mächtiger Strom kalten Tiefseewassers empor,
bringt Tiefseefische, Krebse und Radiolarien bis
an die Meeresoberfläche, wo sie gemischt mit den
Bewohnern der oberen Wasserschichten den allen
Zoologen bekannten Reichtum der Meeresfauna
bedingen. John Murray war zu ganz denselben
Resultaten gekommen, als er sich an eine Anzahl
Geologen gewandt hatte mit der Bitte, ihm fossile
„Tiefseegesteine" zu senden. Die mikroskopische
Untersuchung ergab, daß nur auf einigen kleinen
Inseln wie Malta, Barbados und Christmas-Island
echter tertiärer Tiefseeschlick vorkommt und die
lokale Verbreitung desselben spricht mit Sicher-
heit dafür, daß lokale Hebungen ehemaligen Tief-
seebodens den Kern dieser Inseln bildeten. Trotz-
dem also fast die gesamte Fläche der heutigen
Kontinente seit dem Cambrium zu wiederholten
Malen ganz oder teilweise vom Ozean überflutet
war, so finden wir auf denselben nur solche Ab-
lagerungen, welche in der Flachsee oder in mitt-
leren Tiefen von i — 2000 m gebildet worden sind.
Damit bestätigen wir durch geologische Be-
weisführung eine Ansicht, welche auf Grund theo-
retischer Erwägungen schon lange aufgestellt
worden ist, und die in dem Satze gipfelt : daß die
heutige Tiefsee schon seit langen Perioden Tief-
see war, und daß sie ihren Platz auf der Erdkugel
seit ihrer Entstehung nicht wesentlich verschoben
habe. Die Tiefseebecken erscheinen uns als die
großen Ouellgebiete des Ozeans, aus denen das
Meer bisweilen weit transgredierende Vorstöße
gegen die Kontinente unternimmt, um sich dann
wieder in dem riesigen Sammelbecken zu ver-
einigen.
Es läßt sich nun geologisch mit aller Sicher-
heit zeigen, daß ehemalige Festländer Tiefseeboden
geworden sind. So finden wir aus der Devonzeit
auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, in Nord-
amerika und Spitzbergen wie in Schottland und
Rußland Ablagerungen großer Süßwasserbecken
mit einer ganz charakteristischen Fischfauna. In
der Steinkohlenzeit wie der Jura- und Kreide-
periode leben dieselben Pflanzen- und Landtiere
in Nordamerika wie in Nordeuropa. Alles drängt
zu dem Schluß, daß während dieser langen Perioden
eine atlantische Landverbindung zwischen beiden
Kontinenten bestand, die heute Tiefseeboden ist.
Ähnliche Tatsachen zwingen zu der Annahme,
daß der heutige Indische Ozean lange Perioden
hindurch von Afrika bis Indien und Australien
festländische Brücken besaß. Wie kann man end-
lich das Vorkommen ganzer Skelette von Nilpferd
und afrikanischen Elefanten in uralten Knochen-
höhlen bei Palermo anders erklären, als durch die
Annahme, daß SiziHen einst landfest mit Afrika ver-
bunden war, obwohl jetzt ein tiefes Meer zwischen
beiden Küsten wogt. Denn an einen passiven Trans-
port dieser riesigen Tiere ist nicht zu denken.
Neben einigen lokalen x'\usnahmen, wo Tiefsee-
boden wieder landfest geworden ist, gibt es also
zahlreiche Fälle aus allen Teilen der Erde, wo wir
nachweisen können, daß durch Senkung große
Stücke der festen Erdrinde in Tiefseeboden ver-
wandelt worden sind. Mit anderen Worten: Die
Tiefsee hat sich auf Kosten der Flach-
see und des Festlandes beständig ver-
größert.
Das große Interesse der Geologen für die
Erforschung der Tiefsee begann sich' zum ersten-
mal zu regen, als der ältere Sars an den Lofoten
in einer Tiefe von 1000 m eine kleine Seelilie,
den Rhizocrina lofotensis, entdeckte. Die gestielten
Seelilien hielt man bis dahin für eine vollkommen
ausgestorbene Gruppe, die in der geologischen
Vergangenheit eine große Bedeutung besaß, in
Hunderten von Gattungen die älteren Meere belebte,
dann aber untergegangen war. Jetzt zog man ein
solches uraltes Tier lebend aus der Tiefsee heraus
und sofort regte sich die Hoffnung, auch andere,
bis dahin für ausgestorben gehaltene Tiergruppen
durch eine methodische Erforschung des Tiefsee-
bodens zu erbeuten. Es war eine der wichtigsten
Aufgaben der Challengerexpedition, nach solchen
uralten Typen zu fahnden.
Nachdem eine Reihe von Expeditionen den
Boden der Tiefsee untersucht haben, kennen wir
die systematische Zusammensetzung der heutigen
Tiefseefauna und ihre durch Anpassung an die
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
725
eigentümhchen Existenzbedingungen erworbenen
Eigenschaften recht gut; und es erscheint als eine
dankbare Aufgabe, das geologische Alter dieser
Fauna zu prüfen, so wie der Paläontolog das
Alter einer ausgestorbenen Fauna be-
stimmt. Es ist ja bekannt, daß in jeder Periode
der Erdgeschichte andere Meerestiere lebten; ver-
gleichen wir also die heutige Tiefseefauna mit den
chronologisch geordneten Faunen der Vergangen-
heit.
Da müssen wir zuerst feststellen, daß kein
einziges bezeichnendes paläozoisches Tier in der
heutigen Tiefsee gefunden worden ist. Die Archae-
ocyathiden , Tetracorallen , Tabulaten , Stromato-
poriden, Spiriferiden , Graptolithen , Cystideen,
Blastoideen, Palaeocrinoiden, Orthoceratiten, Trilo-
biten fehlen vollständig. Man konnte nun vielleicht
vermuten, daß überhaupt keine paläozoischen
P'ormen mehr leben. Deshalb müssen wir darauf
hinweisen, daß tatsächlich in der heutigen Flach-
see eine Anzahl ungemein lebenszäher, paläozoi-
scher Gattungen gefunden werden:
von Brachiopoden: Lingula, Rhyncho-
n e 1 1 a ;
von Muscheln: Area Avicula, Astarte,
Leda, Mytilus;
von Schnecken :Capulus,Pleurotomaria;
von Cephalopoden: Nautilus;
von Würmern: Serpula;
von Seesternen: Astropecten.
Limulus, der letzte Vertreter silurischer
Schwertschwänze, ist ein Küstenbewohner, und
der im Devon wurzelnde Ceratodus lebt sogar
in australischen Flüssen.
Wir müssen dazu noch eine Anzahl skelett-
loser Formen rechnen, die phylogenetisch sehr
alt sind und der vorcambrischen Fauna zugeteilt
werden müssen. Hydra und Amphioxus
ebenso wie die Askonen, Planarien und
Holothurien sind meist Bewohner ganz ge-
ringer Wassertiefen und alle diese Formen reichen
in die älteste V.ergangenheit der Erdgeschichte
hinab.
Nur die cambrische Gattung Discina, einige
silurische Muscheln wie Area Nucula, Schnecken
wie Dentalium und die devonische Terebratula
sind in die Tiefsee hinabgestiegen, doch ist es
natürlich sehr leicht denkbar, daß sie erst später
diese Wanderung angetreten haben. Mustern wir
nun die übrigen unterhalb 2000 m lebenden skelett-
bildenden Tiere und suchen wir uns ihre palä-
ontologische Stellung klar zu machen, so kann es
keinem Zweifel unterliegen, daß die ältesten Gat-
tungen aus der Trias und Juraperiode stammen.
Die Euretiden unter den 6 strahligen Kiesel-
schwämmen ;
die Turbinoliden unter den Korallen;
Pentacrinen unter den Seelilien;
Ophioglypha und A s t e r i a s unter den See-
sternen ;
Echinus unter den Seeigeln;
Penaeus unter den Krebsen
sind Formen, deren älteste Verwandte dem meso-
zoischen Zeitalter angehören. Ihre Einwanderung
in die Tiefsee kann also frühestens zur Triaszeit
erfolgt sein.
Sehr eng sind die Beziehungen der heutigen
Tiefseefauna zu der Tierwelt der Jura- und Kreidezeit.
Die deutsche Valdiviaexpedition fand die nächsten
Verwandten des oberjurassischen Eryon in den
charakteristischen Tiefseekrebsen Pentacheles,
Willemoesia und Pplycheles wieder.
Agassiz hat nachgewiesen, daß die meisten Tief-
seeigel mit Kreidegattungen verwandt sind.
Die Tiefseekorallen gehören fast sämtlich zu
Kreidegattungen. Bemerkenswert ist ferner, daß
bezeichnende tertiäre Formen in der Tiefsee sehr
selten sind. Die Einwanderung muß also in der
Tertiärzeit im großen und ganzen beendet gewesen
sein.
Würde die heutige Tiefseefauna einem Palä-
ontologen ,,ohne h'undortsangabe" vorgelegt, so
müßte er sie ihrer ganzen Verwandtschaft nach
als mesozoisch betrachten und würde die Mehr-
zahl ihrer Formen auf cretaceische und jurassische,
eine Anzahl Gattungen auf triassische Formen
zurückführen müssen. Die vereinzelten, in allen
Wassertiefen verbreiteten paläozoischen Gattungen
würden dabei keine Bedeutung gewinnen können,
weil alle spezifischen P'ormen des paläozoischen
Zeitalters in der Tiefsee fehlen, und andererseits
viele Vertreter derselben in der heutigen Flach-
see wohlbekannt sind.
Allgemeine Betrachtungen über den Lebens-
haushalt der Tiefsee hatten uns zu der Überzeugung
geführt, daß ihre Fauna aus der Flachsee einge-
wandert sein muß — der Vergleich der Tiefsee-
fauna mit den fossilen P'aunen hatte uns gezeigt,
daß sie einen mesozoischen Charakter hat — , es
ergibt sich daraus mit Notwendigkeit der Schluß,
daß die Besiedelung der Tiefsee frühestens zur
Triaszeit erfolgt sein kann.
Die Tiefseebecken stellen die größten Uneben-
heiten der Erdrinde dar. Während die mittlere
Höhe der Festländer nur 700 m beträgt, ist die
mittlere Tiefe des Weltmeeres 3500 m, die mittlere
Tiefe der Tiefseebecken aber mag etwa 5000 m
betragen. Nur das tibetanische Hochland ragt um
diesen Betrag über das Festland empor, um den
sich die Hälfte der gesamten Erdoberfläche nach
unten biegt.
Deutlich können wir in den verschiedenen
Perioden der Erdgeschichte verfolgen, wie große
Landflächen unter den Meeresspiegel hinabgesunken
sind, um sich der Tiefsee anzugliedern, und gleich-
zeitig erkennen wir, wie immer größere Land-
flächen von den mesozoischen und tertiären Meeren
verlassen werden. Seit der Jurazeit verlandet
Europa und Nordamerika, und selbst in Asien
sehen wir beständig das Land auf Kosten des
Meeres wachsen. Die intensive Entwicklung der
Säugetiere, Vögel und Insekten seit dem Eocän
steht damit im engsten ursächlichen Zusammen-
hang.
726
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
Die in allen großen Meeresbecken wieder-
kehrende Tatsache, daß die allergrößten Tiefen in
der nächsten Nähe der Küste auftreten, läßt sich
nur durch die Annahme erklären, dal,5 diese tiefen
Rinnen lokale Ubertiefungen eines allgemeinen
Senkungsvorganges sein müssen.
Durch das Studium neuerer und älterer Ge-
birge hat sich nun ergeben, daß Hand in Hand
mit den gehobenen Gebirgsketten ausgedehnte
Senkungen eingetreten sind. Die Alpenfaltung
setzt sich in die Einsenkung der lombardischen
Tiefebene ebenso fort, wie die Ketten des Himalaya
mit der bengalischen Senkung verknüpft sind, und
die südamerikanische Cordillere findet in dem
Boden des Stillen Ozeans ihre nach unten ge-
richtete Ergänzung. Mit der Hebung von Schwarz-
wald und Vogesen sank die Ebene des Rheintales
in die Tiefe, und der Auftürmung des Libanon
entspricht die Senke des Toten Meeres.
Wir müssen also auch die erste Anlage jener
ungeheuren Senkungsräume in Zusammenhang mit
starken Äußerungen des Gebirgsbildungsprozesses
erwarten und haben also zu untersuchen, ob sich
erdgeschichtlich eine gesteigerte Verschiebung der
festen Erdrinde am Schluß des paläozoischen Zeit-
alters erkennen läßt.
Jeder, der nur einigermaßen mit den Ereignissen
jener Epoche vertraut ist, weiß, daß keine Periode
auch nur annähernd so ausgedehnte und groß-
artige Kettengebirge entstehen sah, wie die Zeit
zwischen Carbon- und Triasperiode. Ein riesiges
Faltengebirge läßt sich von Irland durch ganz
Frankreich bis zum Rhoneufer verfolgen, ein zweites
Gebirge zog vom Rhein in NO-Richtung durch
Deutschland hindurch bis nach den Karpathen.
Die östlichen Alpen waren Gebirgsland und auch
in der Schweiz sind deutliche Spuren einer Ge-
birgsruine zu erkennen. In derselben Epoche ent-
stand der Ural, und gleichzeitig wurden in Nord-
amerika die Appalachen zusammen geschoben.
Wahrscheinlich entstand im Sudan ein Faltengebirge
mit großen Granitstöcken an der Wende des paläo-
zoischen Zeitalters und in Südafrika ist das per-
mische Alter großer Gebirgsfalten sichergestellt!
Ja selbst in dem östlichen Asien haben kühne
Forschungsreisende eine permische Faltungsperiode
von China bis Japan, und durch Hinterindien bis
nach Sumatra verfolgen können. —
Wo aber sind die komplementären nach dem
Erdmittelpunkt gerichteten Bewegungen dieser
selben Zeit zu suchen?
Eine Antwort auf diese Frage kann uns nicht
schwer fallen. Denn wenn die heutige Tiefsee-
fauna vorwiegend mesozoische Typen enthält und
ihrem ganzen Wesen nach als eine Einwanderung
aus der Flachsee betrachtet werden muß, wenn
darin fast alle paläozoischen Elemente fehlen, ob-
wohl solche in der heutigen Flachsee ziemlich
zahlreich vertreten sind, dann kann die Tiefsee
erst am Schluß des paläozoischen Zeitalters an-
gelegt worden sein.
Und wenn wir in diesem selben Zeitabschnitt
fast überall auf der Erde mächtige Gebirge ent-
stehen sehen, dann liegt es nahe, auch die Sen-
kung der Tiefseebecken in Zusammenhang mit
diesen Faltungsprozessen zu bringen.
Allgemein biologische Gründe, die strati-
graphische .Stellung der heutigen Tiefseefauna
ebenso wie tektonische Untersuchungen drängen
uns also die Überzeugung auf, daß die Tiefsee als
Lebensbezirk keine primitive Eigenschaft der Erde
aus den ältesten Perioden ist, und daß ihre erste
Anlage in dieselbe Zeit fällt, wo in allen Teilen
der jetzigen Kontinente tektonische Faltungsbe-
wegungen einsetzten und das Relief der Erdober-
fläche so wesentlich umgestalteten.
Kleinere Mitteilungen.
Kelling's Versuche über die Ursache der
Krebsgeschwülste. — Wie wenig unsere Er-
kenntnis der den Krebsgeschwülsten zugrunde
liegenden Ursache geklärt ist, zeigt die Begrün-
dung einer besonderen Zeitschrift zum Zwecke
der Krebsforschung.
Bei der Unzahl der Publikationen auf diesem
Gebiete, die den Fernerstehenden verwirren, ist
es wohl am Platze auf besonders beachtenswerte
Ergebnisse hinzuweisen.
Unter diesen scheinen die zielbewußten Ver-
suche Kelling's in Dresden von weittragen-
der Bedeutung.
Die Krebsgeschwülste (Carcinome und Sar-
- ^) Über die Ätiologie der bösartigen Gesciiwülste von Dr.
Georg Kelling in Dresden. Münch. Med. Wochenschrilt.
51. Jahrgang. 1904, Nr. 24, p. 1047— 1050. II. Mitteilung.
Mit 4 Textfiguren.
kome) entstehen in Körperregionen, die in engster
Beziehung zur Außenwelt stehen und auch Reizen
am leichtesten zugänglich sind. Ihre Zellzüge
schreiten unaufhaltsam vorwärts. Sichere neuere
Mitteilungen zeigten, daß hierbei niemals Über-
gänge von normalen Gewebszellen in Geschwulst-
zellen nachweisbar sind. Während C o h n h e i m
im letzteren körperfremde Zellen und zwar ver-
sprengte Embryonalkeime des eigenen
Körpers erblickt, gingen andere weiter und
behaupteten direkt einen Parasitismus hete-
rogener Zellen. Diese zweite Auffassung fand
Bestätigung in einigen Tierversuchen, welche die
Übertragbarkeit des menschlichen Krebses be-
wiesen. Die entstehende Geschwulst ging dann
stets von den übertragenen Krebszellen aus, nicht
war etwa das eigene Epithel zur Wucherung an-
geregt worden. In Beantwortung der PVage, wo-
her stammen nun aber diese verderbenbringenden
Zellen, wurden mit mehr oder weniger großem
Mißgeschick Protozoen als Erreger beschrieben.
N. F. III. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
727
Die Versuche Kelling's selbst suchten diese
Zellen auf weiterem Felde.
Theoretisch wies er auf die großen biologischen
Unterschiede zwischen den Krebs- und Körper-
zellen hin. Die Krebszellen z. B. erliegen schneller
einer Röntgenbestrahlung, sie besitzen einen an-
deren osmotischen Druck als die Körperzellen.
Die ersten Versuche (Mitteilung 1903) richtete
er auf die normalen Zellen niederer Tiere.
Er spritzte diese den Versuchstieren (Hunden) ein
und es gelang ihm auch wirklich bei einigen ge-
schwächten Exemplaren Bindegewebskrebse
zu erzeugen, deren Zellen mit denen des Aus-
gangsmateriales zu identifizieren waren. Der
zweiten Mitteilung zufolge verwendete Kelling
dann embryonale Zellen von Wirbel-
tieren. Da von vornherein ungewiß war, welche
Zellen spezifisch und an welchen Körperstellen
sie sich niederlassen würden, so zerschnitt er die
Embryonen angebrüteter Hühnereier.
Diese Teile wurden in physiologischer Koch-
salzlösung aufgeschwemmt und damit Stichimpfun-
gen im Organe oder Injektionen in Venen vor-
genommen. Hierbei befolgte er einige Cautclen,
indem er erstens durch vorhergehende Unter-
suchung etwa vorhandene Krebse ausschloß, dann
ältere Tiere auswählte und drittens die Dosis be-
schränkte, um eine Antitoxinbildung zu verhindern.
Von 7 Hunden , weiche nach 3 Wochen ge-
tötet wurden, zeigten 5 entweder in den direkt
angestochenen Organen (Leber, Hoden) oder in
regionären Gebieten Geschwülste, die mikro-
skopisch z. B. als Bindegewebs- oder Epithel-
krebse erkannt wurden und die Eigenschaften
des Ausgangsmaterials besaßen.
F"erner griff Kelling das Thema von selten
der biochemischen Methode an. Bekannt-
lich haben die Eiweiße der verschiedenen Tier-
klassen auch entsprechende Unterschiede. Man
kann nämlich ein Tier durch Einspritzung des
Blutserums einer fremden Gattung zur Bildung
eines sogenannten Schutzpräzipitins anregen. Das
Tier ist in Zukunft immun gegen derartiges Serum
imd fällt dies Eiweiß bei erneuter Injektion. Von
diesem Gesichtspunkte ausgehend verarbeitete
Kelling die Masse eines Magenkrebses, welcher
den Tod einer Frau verursacht hatte. Das hier-
mit durch Einspritzung in ein Kaninchen bereitete
Präcipitinserum fällte neben dem zugehörigen
Carcinomsafte und Menscheneiweiß noch Hühner-
eiweiß. Die Frau hatte vorher, als sie an
Magengeschwür erkrankt war, mit der üblichen
Kost auch rohe Eier genossen ! Hierzu bemerkt
Kelling in fast abenteuerlicher Weise : die Frau
habe pfundweise embryonales Hühnerfleisch mit
sich herumgetragen. Einen gleichen Nachweis
erbrachte er in einem zweiten Falle von Krebstod.
Aus seinen Versuchen zieht Kelling den Schluß,
daß embryonale Zellen allerlei Art bei einem
fremden Organismus die uns als Krebs be-
kannten Geschwülste hervorrufen ; nur einige
leichte Krebsformen könnten allenfalls von eigenen
Gewebselementen herstammen.
Sollte diese Auffassung weite und ausgebreitete
Bestätigung und Anerkennung finden, so wäre
eine gewaltige Umwälzung unserer Prophylaxe
dieser furchtbaren Krankheit gegenüber sowie der
diätetischen Grundlehren zu erwarten. v. Gößnitz.
Die Cladoceren der Krummen Lanke. — Im
Laufe des Jahres 1903 suchte ich in der Krummen
Lanke (im Grunewald bei Berlin) in der Zeit vom 22. 2.
bis zum 18. 9. zwölfmal nach den in ihr lebenden
Cladoceren. Ich fischte nur littoral, und zwar am
Nordwestufer an möglichst vielen und verschieden-
artigen Stellen. Der See ist 1200 m lang und
etwa 100 m breit und kann also, da er nur eine
geringe Tiefe besitzt *), eine eigentliche pelagische
Fauna wohl kaum haben. Leider war ich ver-
hindert, während der letzten Monate des Jahres
diese Untersuchungen fortzusetzen, so daß ich mich
über die Zeit des Auftretens der Männchen von
den monocyklischen Cladoceren nicht informieren
konnte. Unter den 32 gefundenen Arten möchte
ich besonders aufmerksam machen auf
Drepanothrix dendata Euren,
Leydigia acantlwceredides (Fischer),
Chydorus gihbus Lilljeborg und
Anchistropus emargieatus G. O. Sars,
die erst an wenigen Orten oder überhaupt noch
nicht in der Mark gefunden sind.
Es folgen die von mir gefundenen 32 Spezies:
I. Sida crystallina (O. F. Müller).
Ich fand die Art vom 15. 4. an in jedem Fange
ziemlich häufig.
2. DapJuua longispina O. F. Müller.
Ich fand diese sonst sehr häufige Daphnide,
die zur eigentlichen Fauna unserer Seen nicht ge-
hört, nur in fünf Stücken zwischen April und
August.
3. Daphnia [Hyalodaphnia) cucullata (G. O. Sars).
Außer am 14. 6. fand ich diese Spezies nur
in wenigen Stücken. Sie variierte zwischen Schöd-
lers berolinensis und kahlhcrgicnsis. Im freien
Wasser wird sie wohl häufiger sein.
4. Scaplioleberis mucronata (O. F. Müller).
Dieser Krebs ist in der Krummen Lanke außer-
ordentlich häufig. Bis zum Juni fand ich nur
typische Vertreter der var. cornuta mit sehr gut
entwickeltem Hörn. Am 28. 8. war das Hörn nur
noch bei wenigen Stücken so gut ausgebildet wie
vorher, während die var. viucronata s. str. in über-
wiegender Menge vorhanden war. In diesem Ma-
terial fand ich außerdem sämtliche Übergangs-
formen zwischen den beiden Varietäten: völlig
ausgewachsene Stücke mit ganz kleinem, oft kaum
angedeutetem Hörn. Am 18. 9. war die Form
ohne Hörn allein vorhanden. Variationen in der
Läng-e der Schalenstachel habe ich nicht beobachtet.
•) Herr Dr, Samter ist so gütig gewesen, mir mitzuteilen,
d.iß er an verschiedenen Stellen des Sees gelotet und überall
weniger als 10 m gefunden hat. Den Boden fand er voll-
ständig bewachsen.
728
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
5. Siniocephalus vetulus Schoedler.
Vom 17. 6. an fand ich die Spezies mehrmals
in wenigen Stücken. Der Augenfleck war bald
langgestreckt, bald rhomboidisch.
6. Ceriodaphnia reticulata (Jurine).
Die Art ist nicht so häufig in der Krummen
Lanke wie die folgende. Bis zum 28. 8. ver-
wechselte ich sie mit dieser. Dann fand ich sie
ziemlich häufig im Materiale.
7. Ceriodaphnia pulcliclla G. O. Sars.
Diese Wachsdaphnie fand ich vom April an
außerordentlich häufig.
8. Ceriodaphnia quadrangida (O. F. Müller).
Von dieser Art fand ich nur ein Stück am
28. 8. Eine genaue Bestimmung ermöglichte die
schlechte Beschaffenheit des Kxemplares nicht.
Doch machte die rote Farbe und die Form des
Postabdomens es mir wahrscheinlich, daß es dieser
Art angehöre. Sie ist auch sonst fast immer nur ver-
einzelt, meist in Gesellschaft anderer Arten der
Gattung angetroffen.
9. Bosniina longirostris (O. F. Müller).
Dieser Rüsselkrebs ist die häufigste Cladocere
der Krummen Lanke. Schon am 22. 2. fand ich
eine Kopfhaut der var. cornuta, obwohl der See
zum Teil noch mit Eis bedeckt war. In den fol-
genden Monaten war er immer in sehr großer
Zahl vertreten. Die var. longirostris s. str. war
auch vom April an in großer Menge vorhanden,
doch überwog stets die var. cornuta. Das Männ-
chen fand ich schon am 17. 5. (i Stück) und am
3. 6. (2 Stück). Die Art scheint also in der
Krummen Lanke zwei Sexualperioden zu haben.
10. Iliocryptiis sordidus (Lievin).
Am 18. 9. 03 fing ich ein J dieser Art.
Hartwig hat am 20. 7. und 4. 10. 98 mehrere
Stücke davon am Nordende der Krummen Lanke
zwischen Stratiotes gefischt. Außerdem fand er
die Spezies noch an folgenden Stellen : ^)
1. ■ Schwielowsee 2 Stücke 10. 6. 96
2. Havel b. Werder 5 „ 9. 7. 96
3. Dahme b. Schmöckwitz 2 „ 7. 7. 96
4. Havel b. Alt Geltow 2 „ 22. 7. 96
5. Kremmener See 4 „ 8. 6. 97
6. Pechteich (b. Marienwerder) mehrere 9. 8. 99
Dazu fand er noch ein Stück in dem Materiale,
das der Präparator Protz im Oktober 89 in Treptow
gesammelt hat. Demnach ist die Art in der Mark
keineswegs selten.
II. Drepanothrix dentata (H. A. Euren).
In dem am 5. 5. 03 gesammelten Materiale fand
ich ein Stück dieser Spezies; es war das erste,
das in Deutschland gefangen ist. Später gelang
es mir, die Art in mehreren Stücken zu bekommen,
und zwar fand ich am 28. 8. einzelne und am
18. 9. zwölf Exemplare. Daß sie in vielen
unserer Seen so häufig ist, ist kaum anzunehmen;
') Nach einer handschriftlichen Notiz in dem Hand-
exemplare seines Verzeichnisses von 1893. Auch einige der
folgenden Angaben über seine Beobachtungen entnahm ich
handschriftlichen Bemerkungen am Rande seiner Arbeiten.
sie wäre dann Hartwig sicherlich nicht entgangen.
Jedenfalls aber hat sie in der Krummen Lanke
eine für eine Lyncodaphnide ungewöhnliche Häufig-
keit.
12. Eurycercus lamellatus O. F. Müller.
Vom 10. 4. an fing ich hin und wieder Stücke
dieser großen Lynceide; mitunter fand ich sie
häufiger, doch niemals in großer Menge.
13. Caniptoccrcus rcctirostris Schoedler.
Von dieser Art fand ich am 14. 6. ein Stück,
ebenso am 28. 8.; am 18. 9. fand ich 2 Stücke.
Hartwig hat schon am 17. 6. 99 die Spezies für
die Krumme Lanke festgestellt. Außerdem fand
er sie noch an acht Stellen in der Mark.
14. Acroperiis liarpae Baird.
Die Art — in der Literatur über die deutsche
Fauna unter dem Namen A. lencoccplialus be-
kannt — hat, so viel ich feststellen konnte, in der
Krummen Lanke ihre größte Häufigkeit im April.
Schon am 22. 2. fand ich sie in ziemlicher Menge
vor, trotzdem der „See" — eigentlich Teich —
zum Teil noch mit Eis bedeckt war. Dagegen
war sie schon Mitte Mai seltener, und in den
Sommermonaten konnte ich nur einige Stücke be-
kommen.
15. Lynceiis affinis Leydig.
Die häufigste unter den Lynceusarten. Ich fand
sie vom April an in ziemlicher Menge.
16. Lyncciis costatus (G. O. Sars).
Die Art fand ich schon im April; in den
Sommermonaten war sie ziemlich häufig.
17. Lynceus rostratus Koch.
Am 17. 5. fing ich ein Stück dieser Spezies;
in den folgenden Monaten fand ich sie häufig.
1 8. Leptorhynchiis falcatiis (G. O. Sars).
Zuerst fing ich am 26. 4. ein Stück der Art;
vom Juli an fand ich sie in zunehmender Häufig-
keit; zuletzt in ziemlicher Menge.
19. Leydigia acanthocercoides (Fischer).
Von dieser seltenen Art fand ich am 28. 8.
und 18. 9. je ein Stück. Die Krumme Lanke ist
in der Mark die 5. Fundstelle; Hartwig fand sie an
folgenden 4 Stellen:
1. I Stück am 28. 6. 94 in Königswusterhausen,
2. I „ „ 9. 9. 96 in Wublitz bei Werder,
3. I „ „ 5. 8. 97 im Kremmener See,
4. I „ „ I. 4. 99 im Grunewaldsee.
Sie lebt ebenso wie Iliocryptiis sordidus am
Grunde der Gewässer im Schlamm und kommt
auch in größeren Tiefen fern vom Ufer vor.
20. Graptoleberis tcstiidinaria (S. Fischer).
Die Vermutung, daß diese Lynceide keines-
wegs selten ist, hat Hartwig schon 1893 ausge-
sprochen. Spätere Funde haben dies bestätigt. Ich
fand sie zuerst am 10. 4. in einem Stück, dann
am 17. 5. acht Stück, zuletzt am 28. 8.
21. Alonella exigua (Lilljeborg).
Am 10. 4. fing ich zwei Alonellen; leider
gingen mir die Stücke verloren, bevor ich be-
stimmt hatte, ob es cxcisa oder exigua waren.
Am 18. 9. fing ich dann eine A. exigua.
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
729
22. Alonella nana (Baird; Morman & Brady).
Dies winzige Krebschen fand ich am 10. 4. in
einem Stück und am 28. 8. in zwei Exemplaren.
Es kommt übrigens in dem nicht weit entfernten
Sumpf zwischen Paulsborn und Onkel Toms Hütte
ziemlich häufig vor.
23. Pcratcaniha intncata (O. I*". Müller).
Diese Spezies fand ich vom April an in ziem-
lich großer Menge vor.
24. Plciiroxus trigonelbis (O. F. Müller).
Am 28. 8. und 18. 9. fand ich je drei Stück
der Art. Da sie aber in vielen Fällen von /'. ad-
iinciis nur sehr schwer zu unterscheiden ist (nur
die Männchen geben sichere Unterscheidungsmerk-
male), ist es wahrscheinlich, daß ich sie mehrmals
mit dieser Spezies, die ich im Juni fand, ver-
wechselt habe.
25. Plciiroxus uncinatus Haird.
Von dieser Art fand ich im Juni wenige, am
28. 8. neun Stück; sie variierten in der P'orm des
Rostrums in sehr weiten Grenzen, so daß sie mit-
unter von den anderen Arten der Gattung nur
schwer zu unterscheiden waren.
26. Pleuroxiis adiinais (Jurine).
Diese sonst so häufige Art fand ich nur am
14. und 21. Juni, an letzterem Tage recht zahl-
reich. Später begegnete sie mir nicht mehr.
27. Cliydorus globosus Baird.
Diese Art fand ich in ziemlich großer Menge
am 28. 8.; ich konnte aus dem Materiale in kurzer
Zeit 25 Exemplare herauslesen. Vor dem 21.6. fand
ich sie nicht.
28. Cliydorus sphaericus (O. F. Müller).
Diese häufigste unserer Lynceiden fand ich be-
sonders in den ersten Frühjahrsmonaten in großer
Menge. Im Mai und Juni fand ich nur wenige,
später wieder mehr.
29. Chydorus gibbus Lilljeborg.
Diese Spezies ist, soviel mir bekannt, in Deutsch-
land noch nicht gefunden. Ich fing am 21.6. vier
Stücke und am 28. 8. eins, die dem in Lilljeborg's
„Clad. Suec." auf Tab. LXXVIII, Fig. 19 abge-
bildeten Exemplare fast völlig gleichen.
Später fand ich noch (am 5. 10. 03) ein Stück
in der Havel bei Potsdam.
Außerhalb Deutschlands ist sie aus Skandinavien,
Rußland (Kardien) und den Vereinigten Staaten
Nordamerikas bekannt.
30. JMoHospilns dispar G. O. Sars.
Von der Art fand Hartwig schon am 5. 8. 98
in der Krummen l.anke Schalen. Ich fand sie
vom 14. 6. an in mehreren Stücken; am häufigsten
trat sie am 18. 9. auf. Ein Stück dieses Materials,
das ich für ein Männchen hielt, ging mir verloren,
bevor ich es genau gesehen hatte, l-ber die Zeit
des Auftretens der Männchen bei uns finde ich
keine Angaben. In Schweden findet es sich nach
Lilljeborg im September bis November, nur aus-
nahmsweise im August.
31. Anchistropus emarginatus G. O. Sars.
Von diesem auffälligen Chydoriden fand ich
am 14. 6., 28. 8. und 18. 9. je ein Weibchen. Dieser
Fundort ist der vierte in der Mark; außer im
Müggelsee, in dem er ziemlich häufig zu sein
scheint, fand ihn Hartwig im Schwielowsee und
im Plessower See bei Werder. Außerdem gelang
es mir noch am 5. 10. 03 eins der sehr seltenen
Männchen in der Havel unterhalb Potsdams zu
fangen.
32. Polypheniits pedkulns (Linne).
Dieser Krebs ist ungewöhnlich häufig in der
Krummen Lanke. Ich fand ihn vom 15. 4. an;
seine größte Häufigkeit erreicht er im Juli.
Außer diesen 32 Arten hat Hartwig noch fol-
gende in der Krummen Lanke gefunden:
1. Diaplianosouia brachyiiniin,
2. Pleuroxus laevis {= P. hostatus).
Das äußerst hyaline Diaphanosoma ist mir wohl
nur deshalb entgangen , weil ich nur lebendes
Material auslas. Es kann kaum selten in der
Krummen Lanke sein. Sehr viel mehr wundert
es mich, daß ich den Pleuroxus nicht gefunden
habe. Hartwig fand am 14. 10. 98 einige Stücke
davon ; er kann also damals nicht selten gewesen
sein. Sein völliges Fehlen in meinem 1903 unter-
suchten Materiale kann ich mir nur so erklären,
daß er in den einzelnen Seen in Perioden häufiger
auftritt, was auch für einige andere Cladoceren
wahrscheinlich ist.
Außer diesen 34 Cladoceren kann ich noch
zwei Z,/«f««-Spezies wahrscheinliche Bewohner
der Krummen Lanke nennen:
1. Lynceus tenuicaudis (G. O. Sars),
2. Lynceus rcticulaius (Baird).
L. tenuicaudis fand ich im August in großer
Menge {$$ u. J?) in einem Aquarium, in das ich
mehrmals einen Teil des lebend mitgebrachten
Materials geschüttet hatte. Da aber auch aus
mehreren Tümpeln, in denen die Art auch vor-
kommen kann, lebende Tiere in dies Gefäß kamen,
ist es nicht völlig sicher, daß sie der Krummen
Lanke entstammen.
Am 28. 8. fing ich einen Lynceus in mehreren
Stücken, den ich nach oberflächlicher Untersuchung
für L. reticulatus hielt. Leider gingen mir die Stücke
verloren, ehe ich sie genau bestimmt hatte; sie sind
jedenfalls mit keiner der anderen genannten Arten
identisch. Da Schoedler L. reticulatus auch im
Grunewald gefunden hat, wird die Wahrscheinlich-
keit noch erhöht, daß es diese Spezies ist. Es
ist nach Hartwig (1893) unsere kleinste Cladocere
(kaum 0,20 mm lang). L. Keilhack.
Der Aufschwung des deutschen Garten-
baues. — Jene gewaltige Flutwelle naturwissen-
schaftlicher Bildung, welche sich seit etwa den
50 er Jahren des vorigen Säkulums über Deutsch-
land ergoß , hat so außerordentlich auf das deut-
sche Denken gewirkt, daß eine Geschichte der
Popularisierung der Naturwissenschaften in Deutsch-
land zugleich eine Geschichte der schönsten Blüten
deutscher Kultur darstellen würde. Sie hat es
nicht nur ermöglicht, daß der deutsche Natur-
forscher unbestritten an der Spitze der Forschung
730
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 46
überhaupt steht, sondern sie hat auch, indem sie
die Liebe zur Natur wiedererweckte und sie mit
dem Verständnis ergänzte, eine segensvolle Be-
reicherung und Verschönerung deutschen Bodens
im Gefolge gehabt. Gerade auf diesen letzteren
Punkt ist noch viel zu wenig hingedeutet worden,
trotzdem die unmittelbaren Folgen der gesteiger-
ten „Liebe zur Natur" in der wirtschaftlichen Bilanz
eine bedeutende Rolle zu spielen beginnen. Der
großartige Aufschwung, welchen Gartenwesen,
Blumenzucht und Obstbau genommen haben, steht
in direktem Zusammenhange mit der Fülle biolo-
gischer Erkenntnisse, welche endlich in das Volk
gedrungen sind. Und so mag es allen denen, die
durch eigenes Lernen und Belehren anderer selbst
daran mitarbeiten, zur freudigen Genugtuung ge-
reichen, auch einmal einen Blick auf den großen
Aufschwung der „angewandten Botanik" zu wer-
fen, den vor kurzem Prof. W i 1 1 m a c k im Auf-
trage des Reichskommissar für die Weltausstellung
in St. Louis in dankenswerter Weise zusammen-
fassend dargestellt hat.^)
Eine der erfreulichsten Partien in dem sich
darbietenden Bilde ist die gewaltige Zunahme
der Naturliebhaberei auch in solchen Kreisen des
Volkes, die bisher wahrlich nicht an Gartenpflege
und Blumen als Genossen ihrer Ruhestunden
dachten. Um alle unsere Städte schlingt sich
jetzt ein Kranz von Villen, deren Gärten, abge-
sehen davon, daß sie unerschöpfliche Reservoire
guter Luft für die Stadt darstellen , in Tausenden
von Besitzern und Pflegern die Liebe zur Natur
stets wacherhalten. Dem Berliner und Leipziger
Muster folgend, legen unsere Großstädte der Reihe
nach „Laubenkolonien" an , Grundstücke , die in
kleinsten Parzellen vermietet auch den Unbe-
mittelten gestatten, in ihren Feierstunden sich die
Freuden eines Gärtchens zu gönnen, das, wie die
Erfahrung zeigt, nicht so sehr der Gewinnsucht,
(durch Gemüse und Obstbau) als vielmehr der
F"reude an dem Schönen , der Blumenliebhaberei
in Dienst gestellt wird. Ein weiterer Beweis, daß
diese zugenommen , sind die zahllosen Blumen-
balkons (besonders in Nordwestdeutschland) , die
nun auch die kahlen Fronten der Mietskasernen
schmücken, was in einigen unserer Großstädte
sogar in sehr nachahmenswerter Weise durch
Prämiierungen gefördert wird. Nicht minder zeigt
sich dies in der erfreulichen Zunahme des Blumen-
schmucks der Gräber, sowie in der in den letzten
Jahren rapid zunehmenden Blumenpflege durch
Schulkinder, welche als Belebung des botanischen
Unterrichtes unschätzbar ist zur Heranziehung
einer Generation , welche der Naturwissenschaft
noch mehr Wertschätzung entgegenbringen wird,
als wir.
Dieses großartige Umsichgreifen edler Natur-
liebhaberei macht es freilich erklärlich , daß der
') L. Wittmack, Der Gartenbau im deutschen Reiche
und seine Beziehungen zu Amerika. (Gartenflora , Zeitschrift
für Garten- und Blumenkunde. 53. Jahrgang, 1904. Heft 4).
berufsmäßige Gartenbau einen kolossalen Auf-
schwung nehmen konnte, besonders in dem
Königreich Sachsen , dessen Bevölkerung schon
seit langem den Ruf besonderer Naturfreunde
genießt. Nur so verstehen wir , wohin die i ' .,
Millionen Azaleen gelangen, die nach den letzten
statistischen Ausweisen in Dresden und Umgebung
gezogen werden , wozu die fabelhaften Mengen
von Blumensamen in Erfurt und Quedlinburg, den
weltberühmten Zentren des Samenhandels gezogen
werden. So liefert z. B. Erfurt jährlich 7 — 9 Mil-
lionen Levkoyen , etwa lOoooo Topfnelken, in
Quedlinburg dagegen eine einzige Firma 300000
Töpfe Sommerlevkoyen, von einer einzigen Primula
chinensis fimbriata 60 — 80000 Töpfe. In Qued-
linburg werden von dieser Firma mit Astern
30 Hektar bebaut, mit Reseden 12 — 18 ha, mit
Viola tricolor 5 — 7 ha. Welche Summen aber
hierbei in Betracht kommen, geht daraus hervor,
daß 100 g Primelsamen bis 300 Mk. kosten, ein-
zelne Varietäten sogar 600 Mk., 100 g Gloxinien-
samen 600 — 2000 Mk., 100 g Samen von gefüllten
Begonien sogar bis 8000 Mk.
Dem entspricht es auch, daß nun bereits eine
ganze Reihe von Städten ihre Pflanzenzuchts-
spezialitäten besitzen, welche in ganz Europa Ruf
genießen. So ist z. B. Dresden berühmt durch
seine Rhododendren und Azaleen, Erfurt und
Quedlinburg durch ihre Levkoyen , Leipzig und
Hamburg durch Palmen und Farne, Berlin durch
seine Cyclamen, Blattpflanzen und Orchideen, Trier
durch seine Rosen, Stuttgart durch Canna und
Calla, Darmstadt durch Wasserrosen usw. Dem
entspricht es ferner, daß sich neuestens besondere
Vereinigungen um eine Lieblingsblume scharen,
um deren Verbreitung und Vervollkommnung zu
befördern, wie z. B. die deutsche Dahlien- Gesell-
schaft, oder der Hamburger Verein der Chrysan-
themumfreunde.
Ein nicht minder bemerkenswertes Symptom
für den Aufschwung, den die liebevolle Freude
an der Natur genommen hat, ist das Bedürfnis
nach großen Baumschulen, um die Bedürfnisse der
Privatgärten zu decken. Deutschland verfügt nun
über Baumschulen, die zu den ersten der Welt
gehören. Es gibt darunter solche , deren Areal
hunderte von Hektaren bedeckt und die an 600
Arbeiter beschäftigen. Sie besitzen eigene Reisende
in Nordamerika und Japan, durch die sie mit
Neuheiten und seltenen Gehölzen versorgt werden.
Mit Freude können wir auch konstatieren, wie
sehr der .Sinn für das Pflanzen von Alleebäumen
und Schmuckgehölzen zugenommen hat.
Nicht ganz hierher gehört vielleicht die große
Ausbreitung des deutschen Obstbaues, denn sie
entspringt mehr praktischen Erwägungen als der
bloßen Freude an der Natur. Aber immerhin
leistete auch hier die Naturwissenschaft den Auf-
klärungsdienst, um unseren Landwirten die großen
Vorteile der Obstkultur einleuchtend zu machen.
Gegenwärtig wetteifern Regierungen und Ge-
meinden, landwirtschaftliche und gärtnerische Ver-
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
731
einigungen, nicht minder auch Private, den Obst-
bau noch immer mehr auszudehnen. Es dürfte
da wohl interessieren, welche Ergebnisse die erste
allgemeine Zählung der Obstbäume im deutschen
Reiche aus dem Jahre 1900 aufzuweisen hatte.
Insgesamt wurden in Deutschland 168388S53
Obstbäume gezählt, von denen über 52 Millionen
Apfelbäume, 25 Millionen Birnbäume, 69 Millionen
Pflaumenbäume und
21'
Millionen
Kirschbäumewaren.
Von größter volks-
wirtschaftlicher Be-
deutung ist der
Apfelbau und hierin
steht Württemberg
an der Spitze mit
4 '/., Millionen er-
tragsfähigen Apfel-
bäumen. Nichts
illustriert übrigens
die Bedeutung eines
„schlechten" Obst-
jahres und die Wich-
tigkeit rationeller
Pflanzenschutzbe-
strebungen besser,
als diese trockenen
Zahlen der Statistik.
Ob wir einen kalten
oder warmen Früh-
ling haben, ver-
schiebt schon allein
durch den Obster-
trag die Bilanz des
deutschen Reiches
um viele Millionen.
Als Beweis diene
die Angabe Witt-
mack's, daß der
Gesamtgeldwert des
Obstertrages in
Württemberg im
Jahre 1900
19 182 146 Mk. be-
trug, im darauffol-
genden schlechten
Obstjahre dagegen
nur 4369639 Mk.
Schon dieser
flüchtige Überblick
genügt, um uns zu
überzeugen, daß wir
hier vor einer ganz
neuen Erscheinung deutscher Kultur stehen, denn
abgesehen von der alten Obstkultur in Süddeutsch-
land, war Blumenpflege und Gartenwesen Jahr-
hunderte hindurch fast ausschließlich das Privileg
der reicheren Landbevölkerung gewesen. Und es
kann kein Zweifel sein, daß diese Wandlung in
erster Linie ein Verdienst der Popularisierung der
Naturwissenschaften ist. Verständnis und Liebe
der Natur sind in steter Wechselwirkung, deshalb
können wir auch diese kleine Betrachtung mit der
Genugtuung darüber schließen, daß wir endlich
sichere Beweise besitzen, daß der hohe Stand der
Naturwissenschaften auf unser Volk nicht ohne
tiefe Wirkungen bleibt, ja daß wir im Begriffe
sind, durch Naturerkenntnis die so vielbeklagte,
noch immer mittelalterlich-scholastische Richtung
der „öffentlichen
Bildung" zu über-
winden. Die wieder-
erweckte Liebe zur
Natur scheint der
erste Schritt dazu
zu sein.
R. France.
Ein versteiner-
ter Wald in der
Farbenwüste von
Arizona. — hi dem
an wunderbaren und
grotesken Land-
schaftsbildern so
reichenNordamerika
ist eine der merk-
würdigsten Gegen-
den jener mächtige
^'^' '■ Einschnitt des Colo-
rado-River, der unter
dem Namen „Grand
Canon of Colorado"
allgemein bekannt
ist. Nicht weit ab-
seits von diesem
Punkte liegt ein an-
deres Gebiet, das
nicht minder groß-
artige und seltsame
Naturschauspiele
dem Auge des Be-
suchers darbietet.
Es ist dies die Far-
benwüste (Pain-
ted Desert) von Ari-
zona mit ihren ver-
steinerten Wäldern.
Die Farbenwüste
nimmt etwa das
Flußgebiet des „klei-
Fig. 2. nen Colorado", eines
linksseitigen Neben-
flusses desColorado-
River, ein. Ihren Namen verdient sie mit vollem
Rechte : denn die Sandsteine, Schiefertone und Let-
ten, welche hier das Gestein zusammensetzen, sind
durch prächtige rote, blaue, gelbe oder grüne
Färbung ausgezeichnet, so daß das ganze Gebiet
namentlich im hellen Sonnenscheine ein in zahl-
losen, herrlichen Nuancen gemaltes Bild darbietet.
Seltsamerweise werden diese fast einzig dastehen-
732
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
den Naturschönheiten bislang kaum gewürdigt;
denn während man in dem Yellowstone - Park
jährlich über 3000 Besucher zählt, wird die Farben-
wüste jährlich kaum von einem Dutzend Menschen
aufgesucht.
Wie bereits erwähnt, gesellt sich zu der wun-
derbaren Farbenpracht der Painted Desert noch
eine zweite Erscheinung, die jenem Gebiete noch
einen besonderen
Reiz verleiht. Es
ist dies ein ver-
steinerter Wald.
Der kleine Colorado
empfängt seinerseits
wieder einen links-
seitigen Zufluß in
Gestalt einer dürf-
tigen Wasserader,
die den Namen „Rio
Puerco" führt. Ganz
in der Nähe dieses
Flüßchens ist die
Stätte jenes verstei-
nerten Waldes. Dem
Besucher dieses Ge-
bietes zeigen sich
die ersten Spuren
von fossilen Höl-
zern, wenn er den
Rio Puerco von Nor-
den her passiert hat,
in der Gestalt von
prächtig rot oder
gelb gefärbten Stük-
ken von Achat und
Chaicedon, die die
typische Struktur
von Baumrinde auf-
weisen. Teile von
Baumstämmen, die
ebenfalls in Achat,
Jaspis oder Chaice-
don umgewandelt
sind, treten dem
Besucher bald da-
rauf entgegen. So
zahlreich sind der-
artige Reste über
ein Gebiet von meh-
reren Morgen ver-
streut, daß die Land-
schaft eine gewisse
Ähnlichkeit mit der
von Säulentrommeln
überdeckten Trümmerstätte eines antiken Tem-
pels hat.
Nur sehr wenige' Baumstämme sind nämlich
ganz geblieben. Vielmehr sind fast ausschließlich
nur einzelne Stamm stücke vorhanden. Die
Bruchflächen dieser Stücke besitzen meist eine
wunderbare rote, gelbe oder mattblaue Färbung.
Die bedeutenderen Stammteile weisen eine Stärke
Fig- 3-
-
-^«H*^
1
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M
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^'// '
■
Ä
i JIH
Flg. 4.
von etwa 1,3 m und eine Länge von 3 — 4 m
auf. (Siehe Fig. i und 2.) Zweige oder Aste
finden sich niemals daran. Zahllose kleine Stücke
aber, die in ihrem Durchmesser zwischen ein paar
Zentimetern und einem Fuß schwanken , sind
offenbar als die Überreste des Gezweiges zu deuten.
Alle Stämme liegen ferner auf der Seite.
Carter, dessen Bericht im Journal of the
Franklin Insti-
tute wir diese An-
gaben entlehnen,
konnte bei seinem
Besuche der Farben-
wüste keinen ein-
zigen aufrecht ste-
henden, versteiner-
ten Stamm entdek-
ken. Dagegen be-
schreibt er einen
Baum, der in noch
fast vollständiger Er-
haltung vorgefunden
wurde. Dieser maß
nicht weniger als
1,3 m an seinem
dicksten Teile und
besaß eine Länge
von insgesamt 35 m.
Es ist dieser Stamm
besonders merkwür-
dig noch deshalb,
weil er über einen
Hohlweg von 14 m
Breite gleichsam
eine natürliche Brük-
ke bildet (Fig. 3).
Freilich besitzt diese
eigenartige Brücke
in der Mitte eine
Anzahl von Sprün-
gen , so daß die
Passage ziemlich ge-
fährlich sein dürfte.
Abgesehen von
den frei umherlie-
genden Stämmen
finden sich hier und
da auch Stücke, die
noch in das Gestein
eingebettet sind. So
verschwindet auch
der soeben erwähn-
te, mächtige Stamm
mit seinem einen
Ende in einer Sandsteinschicht, so daß also die ange-
gebene Länge von 35 m nur den sichtbaren Teil des
Riesen umfaßt. Das geologische Alter dieser Sand-
steine und Schiefertone, in denen der versteinerte
Wald ursprünglich eingebettet war, ist mit Sicherheit
noch nicht bekannt, namentlich ist noch nicht ent-
schieden, ob man in ihnen jurassische oder kreta-
zeische Bildungen zu sehen hat. Wie dem aber
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
733
auch sei, sicher sind die Stämme in diesen Schich-
ten zunächst im unzerstückelten Zustande
eingelagert gewesen. Hier hat des weiteren auch
ihre Versteinerung stattgefunden und zwar dadurcli,
daß gelöste Silikate, die ihren Ursprung aus dem
als Bindemittel der dortigen Sandsteine fungieren-
den Feldspat nahmen, die organischen Gewebe
der Baumriesen imprägnierten. So haben die
Stämme eine Zeitlang gelegen , bis dann in der
Tertiärzeit das gesamte Gelände einer beträcht-
lichen Hebung unterworfen wurde, wobei eine
Knickung der Stämme unvermeidlich war. Nun-
mehr setzte die Tätigkeit der Erosion ein. Ihr
gelang es zunächst das Einbettungsmaterial fort
zuwaschen, während die verkieselten Stämme der
Zerstörung widerstanden, da ja Kieselsäure weder
in kaltem Wasser noch in Mineralsäuren löslich
ist. Nur hier und da blieb ein Rest von dem
Gestein mit den eingeschlossenen Fossilien stehen,
und das sind die Stellen , an denen man heute
noch die Baumstämme im Gefels eingebettet findet.
Naturgemäß sind diese Punkte höher gelegen als
das Niveau, auf dem die losen Baumreste umher-
liegen. Unsere Fig. 4 zeigt einen Baumstumpf,
der durch die Erosion gerade freigelegt ist und
nun die Spitze des Felsens krönt, in dessen Ge-
stein er bis kurz vorher eingelagert war.
Was endlich die systematische Zugehörigkeit
jener merkwürdigen versteinerten Baumriesen an-
geht , so scheint man die Mehrzahl davon einer
araucarienartigen Koniferenspezies zuzählen zu
müssen. Manche Stücke indessen zeigen eine
gewisse Ähnlichkeit mit der virginischen Zeder
(Juniperus Virginianus). W. Seh.
Energiemessungen im Ultraviolett sind
kürzlich durch A. Pflüge r mit Hilfe der Thermo-
säule an den Funkenspektren der Metalle ausge-
führt worden (Annalen der Physik, 1904. XIII,
S. 890). Daß die meisten Metallspektren im
Ultraviolett helle Linien besitzen, ist auf Grund
der photographischen und fluoreszenzerregenden
Wirkungen jener Lichtarten längst bekannt, jedoch
hielt man die Energie dieser Strahlen bisher für
zu gering, um nachweisbare Wärmewirkungen für
möglich zu halten.
Pflüger hat nun aber doch mit Hilfe der sehr
empfindlichen, in ein Vacuum eingeschlossenen
Rubens'schen Thermosäule und unter Benutzung
von Flußspatprismen sehr starke Ausschläge des
Galvanometers durch ultraviolette Metallinien er-
halten, ja durch Untersuchung des gesamten
Spektralbereiches von 186 ,«|(t bis 2250 ;«/< konnte
er für die meisten Metalle sogar feststellen , daß
die energiereichsten Linien unter 260 /</< , also
weit im Ultraviolett liegen. Eine Ausnahme von
dieser Regel bilden nur das Eisen und Magnesium.
Da außerdem im Ultrarot zwischen 800 und i 500,«//
ein sekundäres Strahlungsmaximum der metalli-
schen Funken zu liegen scheint, so könnte man
sich vielleicht vorstellen, daß das ultraviolette
Maximum von Metalldämpfen, das ultrarote da-
gegen von glühenden Partikelchen der betreffen-
den Metalle herrührt. Allerdings müßte dann die
Temperatur jener Dämpfe auf 1 1 000" bis 12 000"
geschätzt werden, während man andererseits von
nur glühenden Metallteilchen ein kontinuierliches
Spektrum erwarten sollte. Die Natur des ultra-
roten Spektrums konnte von Pflüger wegen der
geringen Dispersion des Flußspats in diesem
Spektralbereich noch nicht näher erforscht werden.
F. Kbr.
Über das periodische Gesetz der Elemente
stellte Sir William Ramsay gelegentlich der
75. Versammlung deutscher Naturforscher und
Arzte zu Kassel einige Betrachtungen an.
Ramsay, der bekannte englische Chemiker
und berühmte Entdecker der „indifierenten Gase",
der sogenannten „Edelgase", beabsichtigt in die-
sen Betrachtungen , wie er es bereits in einem
Vortrage gelegentlich des V. Internationalen Kon-
gresses für angewandte Chemie über „the Reali-
sation of a Dream" getan hatte, unsere Aufmerk-
samkeit besonders auf das „noch Unaufgeklärte"
in der Chemie zu richten. Das periodische System
in seiner heutigen Anordnung verdanken wir Men-
delejeff und Lothar Meyer. Es gruppiert bekannt-
lich die chemischen Grundstoffe nach Maßgabe
ihrer Atomgewichte in bestimmte Klassen, deren
Vertreter untereinander in chemischer sowohl wie
in physikalischer Hinsicht viele Gesetzmäßigkeiten
aufweisen.
Die Versuche, die Elemente auf Grund ihrer
Atomgewichte in ein System einzureihen, liegen
bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück.
Schon 1863 stellte John Newlandts sein „Oktaven-
gesetz" auf Mendelejeff und Meyer haben dann
später diese Idee weiter entwickelt und, obgleich
nicht ohne Unvollkommenheiten, hat das perio-
dische System doch gerade in letzter Zeit seine
Bedeutung keineswegs eingebüßt.
Um die numerischen Gesetzmäßigkeiten in der
Ordnung der Atomgewichte zu veranschaulichen,
gibt es verschiedene Methoden, von denen Ramsay
derjenigen von Stoney den Vorzug gibt. Nach
Stoney nimmt man an, daß die Elemente durch
Kugeln repräsentiert werden, deren Volumina den
betreftenden Atomgewichten proportional zu setzen
sind. Diese Sphären werden durch konzentrische
Kreise anschaulich gemacht, und durch Teilung der
kreisförmigen Ebene in Oktanten und kontinuier-
liche Verbindung aller Schnittpunkte von der Mitte
aus erhält man eine Spirale. In der Mitte steht H,
und jeder Schnittpunkt der Spirale mit den Radien
bedeutet ein PHement. Stoney fand, daß die Kurve
ein wellenförmige sei und Ramsay faßt das Gesetz
in die Worte: Wenn die Kubikwurzeln der Atom-
gewichte in sechzehn Gruppen verteilt sind, so
erhält man eine wellenförmige Linie, bei der die
Wellen eine annähernde Regelmäßigkeit besitzen.
Doch scheitert auch dieser Versuch, zwischen
Atomgewichten der Elemente strengere Regel-
mäßigkeiten zu ermitteln, die sich in F"ormeln
734
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 46
ausdrücken heßen, schlieiSlich an der Unregel-
mäßigkeit der Differenzen.
Worin liegt nun die Schwierigkeit, enge Be-
ziehungen zwischen den Atomgewichten der Grund-
stoffe zu finden ?
Die verschiedenen Formen der Energie —
außer der kinetischen und Distanzenergie, deren
Faktoren, die Masse und die Kraft, zur Bestimmung
der Quantitäten der Materie dienen — beziehen
sich auf Faktoren, die mit den Atomgewichten eng
verbunden sind. So stehen in Beziehung z. B. das
Volumen der Gase zum Molekulargericht, die
Oberflächenenergie der Flüssigkeiten zur Zweidrittel-
potenz des Molekularvolumens. Und da ferner
die chemische Affinität proportional ist dem elek-
trischen Potential, so ist auch die chemische Kapa-
zität identisch mit den Äquivalenten.
Masse und Trägheit werden als „Eigen-
schaften" der Materie der Bequemlichkeit wegen im
allgemeinen zur Bestimmung der Quanti-
tät der Materie benutzt. Aber eine genaue
Regelmäßigkeit, die zur Aufstellung mathematischer
Formeln führen könnte, läßt sich zwischen der
Masse und Trägheit einerseits, und andererseits
den Atomgewichten, nicht finden. Wäre dies
möglich, dann würde die Lösung des Problems
wesentlich erleichtert sein. Nach Ramsay liegt nun
die Vermutung nahe, daß die mögliche Ver-
änderlichkeit des Gewichts mit der
Masse und Trägheit der Grund für diese
Abweichungen sei. Denn daß Masse und
Trägheit untereinander proportional sind, dafür hat
uns die ungestörte Bewegung des Mondes und der
Erde während unzähliger Jahre den Beweis er-
bracht. Sind aber Gewicht und Trägheit variabel,
so kann man die vermutlich unveränder-
lichen Atomgewichte als Maß der Quan-
tität wählen.
Es liegt jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach
kein Grund vor, an der Permanenz des Ge-
wichts und der Masse zu zweifeln, wie neuere
Versuche ergeben haben. So fand Landolt, der
das Gewicht zweier reaktionsfähiger Körper vor
und nach der Mischung auf der chemischen Wage
ermittelte, indem er also die Anziehungskraft
der Erde als Energiequelle benutzte, keine Ge-
wichtsveränderung. Joly bediente sich zum
gleichen Zwecke der Torsionswage und legte
seinem Versuche somit die Trägheit der be-
wegten Materie als Kraftquelle zugrunde.
Seine Ergebnisse konnten die Landolts nur be-
stätigen.
Ramsay stellte ferner Versuche an, um eine
mögliche Veränderlichkeit des Atomge-
wichts festzustellen. Von der Erwägung ausgehend,
daß möglicherweise endothermische Körper Ele-
mente enthalten, die andere Äquivalente besitzen
als die der exothermen Körper mit demselben
Elemente, ließ er das Atomgewicht des Stickstoffs
aus Verbindungen der Stickstoff- Wasserstoffsäure
bestimmen. Zu diesem Zwecke wurden abgewogene
Mengen reiner Azoimide von Kalium, Natrium,
Strontium, Barium, Silber mit Salzsäure verdampft
und der Rückstand gewogen. Er fand dabei stets
die Zahl 13,903, statt, wie andere, 14,044.
Ramsay legt aber zunächst auf diese Resultate
noch keinen Wert, obgleich sie zu zeigen scheinen,
daß die Art der Verbindung auf das relative
Gewicht der Elemente einen Einfluß ausüben kann.
Die Absicht Ramsay 's, in Gemeinschaft mit Steele im
Gegensatz zu dem sonst üblichen dynamischen
eine statisch genaue Atomgewichtsbestimmung,
und zwar durch Ermittelung der Dampfdichte, durch-
zuführen, schlug fehl. .Selbst wenn die Berthelot-
sche Korrektion durch Messung der Zusamniendrück-
barkeit in Rechnung gezogen wurde, fielen die
Werte im Verhältnis zu den aus den Atomge-
wichten berechneten stets zu hoch aus, obgleich
die Reinheit der angewandten Stoffe zweifellos
festgestellt war. Als Grund hierfür macht er zwei
Hypothesen geltend: die eine, daß der flüssige
Zustand selbst bei sehr niedrigen Drucken
und bei relativ hohen Temperaturen immer
noch bestehen kann; die andere, daß d i e i n
einer Verbindung enthaltenen Elemente
je nach der Art ihrer Gruppierung oder
der Zahl der Atome Abweichungen in
ihren Atomgewichten zeigen können.
Aus allen diesen Versuchen folgt also, daß wir
mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln
keinen Beweis für die Veränderlichkeit
des Gewichts und der Masse erbringen
können, wenn auch die Permanenz der Atom-
gewichte in Zweifel gezogen werden kann.
Wie die der übrigen Elemente, so zeigen auch
die wohl nur annähernd bekannten Atomgewichte
der sogenannten „indifferenten oder Edelgase", des
Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon, deren
Isolierung aus der atmosphärischen Luft dem
englischen Forscher gelang, jene Unregelmäßig-
keiten, die einer genaueren Systematik noch im
Wege stehen und ihrer Aufklärung harren.
Diese neuen Elemente bilden einen vermitteln-
den Übergang zwischen den stark negativen und
stark positiven einwertigen Elementen, denn sie
sind bei ihrer chemischen Indifferenz völlig neutral.
Trotz aller angeführten Schwierigkeiten du rfen
wir jedoch das Problem der Regelmäßig-
keit zwischen den augenscheinlich will-
kürlichen Zahlen der Atomgewichte
nicht als unlösbar aufgeben. Um diese
Anschauung zu begründen, begibt sich Ramsay
nun in das Reich der Spekulation. Und er führt
uns durch seine rege Phantasie in jenes unerforschte
Gebiet der Chemie, dessen Erkenntnis er sich zu
seiner Lebensaufgabe gemacht hat.
Gibt es irgendwelchen Grund zu glauben, daß
die Atomgewichte sich verändern können ? .Sind
die Atome die einzigen Invariablen, wo doch sonst
in der Natur „alles fließt", alles wegfällt in und
mit der Zeit? Warum sollte nicht erst im Jahre
3000 eine Verschiedenheit in der Beziehung
zwischen den Atomgewichten von Silber und Chlor
von unseren Nachfolgern zu merken sein r Mit diesen
N. F. m. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
735
Fragen lenkt Ramsay unsere Aufmerksamkeit
auf das „noch Unaufgeklärte", gewiß eine lockende
Aufgabe, die aber bis auf weiteres sich mit
wenigen rätselhaften Tatsachen begnügen muß.
Die enorme Strahlungskraft des Radiums wirkt
auf photographische Platten ein und vermag elek-
trisch beladene Körper zu entladen. Die Ent-
deckerin dieses Elementes, Frau Curie, ermittelte,
daß das Uranpecherz eine größere Strahlungskraft
besitzt, als die aus ihm dargestellten Uranverbin-
dungen, und fand bald die wirkliche Quelle dieser
Strahlung im Radium. Außer von Polonium und
Aktinium kennen wir auch die Strahlungskraft
des Thorium und Uran, neuerdings soll sogar dem
Quecksilber und dem Blei diese Eigenschaft zu-
kommen, doch läßt sich über die Existenz dieser
strahlenden „Metalle" Polonium und Aktinium
gegenwärtig noch wenig sagen.
Die strahlendeEnergie vergleicht Ramsay
mit dem Gewicht, denn sie scheint eine per-
manente Eigenschaft zu sein. Auch die verschie-
denen Verbindungen zeigen diese Eigenschaft in
gleichem Maße.
So lassen die Verbindungen des Thoriums ein
Etwas entweichen, welches unter anderem die
Kraft besitzt, eine elektrische Ladung zu entladen.
Diese sog. ,, Emanation" ist keine Strahlung,
sondern sie verhält sich wie ein Gas , welches
selbst strahlende Eigenschaften besitzt, deren Stärke
aber schnell abnimmt und bald erlischt. Und doch
muß es ein materielles Ding sein, denn man hat
es kondensiert, so daß der damit gemischte Wasser-
stoff keine Wirkung auf das Elektroskop mehr aus-
übte. Oberhalb des Kondensationspunktes aber
gewann der Wasserstoff diese Fähigkeit wieder.
Die „Emanation" oder richtiger gesagt das Gas,
welches vom Radium ausgeht, ist beständiger als
das des Thoriums, und auch sein Kondensations-
punkt ist von jenem verschieden. Diese beiden
Tatsachen lassen auf verschiedene Substanzen
schließen, die aber beide Strahlung auszusenden
vermögen, die beide chemisch indifferent sind und
sich so an die Argongruppe anschließen.
Außer dieser „Emanation" oder den sog. ß-
Strahlen zeichnen sich die Radiumsalze noch durch
die Eigenschaft aus, sog. «-Strahlen auszusenden,
wie jene fälschlicherweise „Strahlen" genannt. Denn
beide stellen keine wellenförmige Bewegung dar,
sondern ausgestoßene Partikelchen, deren Bewe-
gungsgeschwindigkeit so ungeheuer ist, daß sie
dünnes Glas oder Metall zu durchdringen vermögen.
Außer diesen beiden Erscheinungen liefern die
Radiumsalze aber auch wirkliche Wellen, die sogar
dicke Bleischeiben durchdringen.
Die sog. „Emanation" untersuchte Ramsay ge-
nauer. Sie ließ sich verdichten und zeigte neben
dem vollständigen Spektrum des Heliums zwei un-
bekannte Linien. Es würde hier zu weit führen,
alle Details der Untersuchung zu schildern. Die
Resultate sollen in kurzem veröffentlicht werden.
Für die vorliegende Abhandlung ist vor allem die
Frage von Interesse, ob die Radiumsalze sich wirk-
lich in Helium und andere Salze zerlegen lassen. —
Die Möglichkeit, Helium aus Radiumsalzen zu ge-
winnen, hat Ramsay gezeigt und er erblickt darin
einen Beweis, daß das Element Radium sich in
Helium und ein unbekanntes Etwas spaltet. Ob
ein weiteres Produkt dabei entsteht, wissen wir
nicht. Jedenfalls hat Ramsay als sicher nachge-
wiesen, daß die „Emanation" kein Heliumspektrum
zeigt, daß es aber nach einigen Tagen nachweis-
bar und von Tag zu Tag stärker wird. Es darf
also behauptet werden, daß die Plmanation sich
in Helium verwandelt, obwohl die Frage, ob das
Helium ein Produkt der Spaltung des Radiums
oder aber der Spaltung der „Emanation" ist, die
beständig aus dem Radium gewonnen werden kann,
damit noch nicht entschieden ist.
Diese Tatsachen wurden erst in letzter Zeit
entdeckt, und es scheint gewagt, bereits jetzt über
ihre Bedeutung zu spekulieren. Sicher ist, daß
das Radium, welches die einem Elemente zuge-
schriebenen Eigenschaften besitzt, sich in Helium
spaltet, und daß es dabei ein elektrisch geladenes
materielles Etwas aussendet, das die Luft ionisiert.
Es ist aber noch nicht erwiesen, ob diese materi-
ellen Teilchen Atommoleküle von Helium sind;
auch ist noch unerforscht, was dabei zurückbleibt.
Jedenfalls ist die „Emanation" ein unbeständiges
Gas, ähnlich den Gasen der Argongruppe, und besitzt
ein Atomgewicht von 160 bis 200; ob es sich
aber in Helium allein spaltet, wissen wir nicht.
Wäre dies der Fall, so könnten die höheren Glieder
der Elementenreihen Polymere von niedrigeren sein.
Und in dem Aussenden negativer Elektrizität, die
nach Thomson Masse besitzt, könnte man sich
alsdann vielleicht die „unregelmäßige RegelmäfSig-
keit" des Atomgewichts der Elemente erklären.
Ramsay glaubt mit seinen Ausführungen die Hoff-
nung aufrecht zu erhalten, einige Ordnung in die
,, Verwirrung" des periodischen Gesetzes zu bringen.
Aber er hat von der Erörterung physikalischer
Phänomene, die die Zersetzung des Radiums be-
gleiten, abgesehen, obwohl ihre Betrachtung von
großem Wert für die Erklärung der chemischen
Vorgänge sein wird. Dies kann aber erst dann
geschehen , weini wir die Produkte kennen , die
dabei auftreten. Erst dann kann das Geheimnis
gelöst werden, das alle diese Tatsachen noch
umhüllt. Dr. R. Loebe.
Bücherbesprechungen.
Prof. Paul Langhans, Rechts und links der
Eisenbahn. Gotha (Justus Perthes). — Preis
das Heft 50 Pf.
Es handelt sich um eine Sammlung von geogra-
phischen Reiseführern, die unter Mitarbeit einer
Reihe von Fachleuten herausgegeben werden. Die
bekannten Reisehandbücher von Bädeker, Meyer,
Grieben und ähnliche dem praktischen Bedürfnisse
des Publikums dienende Erscheinungen beschäftigen
sich hauptsächlich mit den Reisezielen und ver-
sorgen den Reisenden mit den erwünschten Angaben
736
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 46
über Wege , Sehenswürdigkeiten , Gasthöfe , obschon
es an geschichtlichen , kunstwissenschaftlichen , auch
wohl geologischen Hinweisen nicht fehlt; hat doch
kein geringerer als Schvveinfurth dem Bädeker von
Ägypten eine Geographie und Geologie des Landes
voraufgeschickt. Die neuen Eisenbahnführer wollen
aber lediglich belehren und zwar über die meist ganz
vernachlässigten Reise w e g e. Blickt die Mehrzahl
unter dem deutschen Reisepublikum überhaupt nicht
mit großem Verständnis des Wesentlichen in die
Landschaft hinaus, so pflegt man vor allem die Bahn-
fahrt bei einer Reise als lästige Zugabe anzusehen,
die es durch Schlaf Lektüre, Unterhaltung möglichst
zu kürzen gilt, und doch könnte die Eisenbahnfahrt
in einer so reiselustigen Zeit, wie die Gegenwart es
ist, aufs höchste erziehlich und belehrend wirken,
wenn die am Fenster vorbeigleitenden Bilder von
Land und Volk die gleichsam papierne Heimats-
kenntnis, welche der Deutsche aus dem oft recht
dürftigen Geographieunterricht von der Schule mit-
bringt, durch lebendige Anschauung belebten. Eine
Anleitung, von der Eisenbahn her Geographie zu
treiben , das wollen diese Hefte „Rechts und links
der Eisenbahn" dem Publikum darbieten. Alle wich-
tigeren Strecken im Umfange der deutschen Reichs-
grenzen erscheinen, jede für den billigen Einheitspreis
von 50 Pfennigen, jede in derselben Ausstattung.
Die Belehrung erfolgt durch Karte und durch Wort.
In eine kleine Übersichtskarte vom Gelände in Deutsch-
land (i : 5 Mill.) ist die beschriebene Eisenbahnstrecke
rot eingetragen , und dann folgt ein Ausschnitt aus
der meisterhaften Karte von Deutschland in i : 500000,
die Dr. Vogel bei J. Perthes herausgegeben hat, so
daß etwa 25 km breit zu jeder Seite der befahrenen
Strecke abgebildet sind. Der kartographischen
Schilderung ist eine Beschreibung von Land und
Leuten beigefügt. Die Preislage gebot für sie eine
möglichst große Knappheit ; doch darf der Leser
weder durch stilistisch allzu gedrängte Darstellung
noch durch Oberflächlichkeit des Inhalts abgeschreckt
werden. Bei der Verschiedenheit der Bildungsstufen
im reisenden PubHkum bleibt trotz alledem die Ge-
fahr, daß dem einen zu seicht dünken wird, was dem
andern für das Verständnis schon zu schwierig ist.
Die einzelnen Bearbeiter der Texte in den Heften
haben abweichende Standpunkte innegehalten bei der
Aufgabe, diese schwer zu vereinbarenden Gegensätze
auszugleichen. Auf diese Weise entstand eine Mannig-
faltigkeit in der Textbehandlung sowohl hinsichtlich
des herangezogenen Beobachtüngsstoftes wie der
Schilderungsart , und das bildet einen besonderen
Reiz an dem Unternehmen. Zu Nutz und Frommen
gerade der naturwissenschaftlichen Fortbildung unseres
Publikums wäre es zu wünschen, "daß die neuen, auf
wissenschaftlicher Grundlage ruhenden Reiseführer
reichlichen Absatz fänden, damit Anregung zum Be-
obachten in weite Kreise getragen und die Fähigkeit
zum Sehen eine allgemeinere würde.
Dr. F. Lampe.
Literatur.
Lo Bianco, Dr. Salvatore: Pelagische Tiefseefischerei der
,,Maja" in der Umgebung v. Capri. Mit e. Pholograv., 41
Taf. in Farbendr. u. 1 Karte. (VII, 91 .S.) Jena '04, G.
Fischer. — 20 Ml;.
Röthig, fr. Assist. Dr. Paul: Handbuch der embryologischen
Technik. (XII, 287 S. mit 34 Abbildgn.) Lex. 8". Wies-
baden '04, j. F. Bergmann. — 10,60 Mk.
Scherling's, Chr., Grundriß der Experimentalphysik. 6. Aufl.,
f. Schüler höherer Unterrichtsanstalten bearb. v. Oberrealsch.-
Oberlehr. H. Rühlmann. (VIU, 267 S. m. 242 Abbildgn.)
8". Leipzig '04, H. Haessel Verl. — Geb. in Leinw. 4,40 Mk.
Traube, Prof Dr. J. : Grundriß der physikalischen Chemie.
(VIII, 360 S. m. 24 Abbildgn.) Lex. 8". Stuttgart '04,
F. Enke. — 9 Mk. ; geb. in Leinw. 10 Mk.
Ulrich, Frz. : Zur Kenntnis der Luftsäcke bei Diomedea exu-
lans u. Diomedea fuliginosa. (24 S. m. 4 Taf. u. 4 Bl.
Erklärgn.) Jena '04, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 7,50 Mk. ;
Einzelpr. 9 Mk.
Werner, Prof. Dr. A. : Lehrbuch der Stereochemie. (X\^I,
474 S. m. 116 Abbildgn.) Lex. 8". Jena '04, G. Fischer.
— 10 Mk.; geb. II Mk.
Wünsche, Prof. Dr. Otto: Die Pflanzen des Königr. Sachsen
und der angrenzenden Gegenden. Eine Anleitung zu ihrer
Kenntnis. 9. Aufl. (XXIV, 442 S.) kl. S». Leipzig '04,
B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 4,60 Mk.
Briefkasten.
Frage: Wer unter den Lesern kann sagen, was ,, Wiesen-
wachs" ist?
Herrn Oberlehrer H. in Ch. — Frage: Gibt es ein
Buch zum Bestimmen der einheimischen Insekten für Anfänger.'
— Ein Buch zum Bestimmen der sämtlichen einheimischen
Insekten gibt es nicht. Ein Buch, das sich die Aufgabe stellt,
bequeme Bestimmungstabellen für alle auffallenderen deutschen
Insekten zu geben, ist D. H. R. v. Schlechtend al und
O. Wünsche, Die Insekten, eine Anleitung zur Kenntnis
derselben, 707 S. mit 14 Taf. Leipzig, 1879, Preis 7,50 Mk.
Für Anfänger ist aber die Bestimmung der Insekten mit Hilfe
von Bestimmungstabellen schwierig und deshalb sind für ihn
gewisse Hilfsmittel sehr erwünscht. Als vorzügliches Hilfs-
mittel nenne ich ein Buch von G.Jäger, Deutschlands Tier-
welt nach ihren Standorten eingeteilt, als Leitfaden zur Natur-
beobachtung und Führer auf Ausflügen und Sammel-Exkur-
sionen, 2 Bde., 400 und 390 S. mit 8 kol. und 8 schwarzen
Tafeln und vielen Holzschnitten, Stuttgart 1874, Preis antiqu.
12 Mk. Zur Bestimmung der Schmetterlinge, Raupen, Libellen,
Heuschrecken etc. liegen Bücher mit farbigen .Abbildungen aller
deutschen Formen vor. Es sind: E. Hofmann, Die
Schmetterlinge Europas und die Raupen der Schmetterlinge
Europas, neue Aufl. von A. Spul er, 4" mit ca. 95 -f- 60 kol.
Taf. Stuttgart 1900 ft". bisher 21 -|- 16 Lieferungen ä I Mk.,
.Gesamtpreis 60 Mk. K. Tümpel, Die Gradflüglcr MiUel-
europas, 4°, 308 S. m. 20 kol. u. 3 schwarzen Taf., Eisenach
1901 , Preis 20 Mk. Zur Bestimmung der auffallenderen
Schmetterlinge und Käfer für Anfänger sind zu empfehlen :
F. Berge, Schmetterlingsbuch, 8. Aufl. m. 50 kol. Tafeln,
Stuttgart 1899, Preis 21 Mk. und C. Schenkung, Die
deutsche Käferwelt; allgemeine Naturgeschichte der Käfer
Deutschlands, sowie ein praktischer Wegweiser, die deutschen
Käfer leicht und sicher bestimmen zu lernen, 8", 470 S. m.
23 kol. Taf., Leipzig (18S6), Preis 14 Mk. Dahl.
Inhalt: Johannes Walther: Über Entstehung und Besiedelung der Tiefseebecken. — Kleinere Mitteilungen : KeUing:
Versuche über die Ursache der Krebsgeschwülste. — Ludwig Keilhack: Die Cladoceren der Krummen Lanke. —
L. Wittmack: Der Aufschwung des deutschen Gartenbaues. — W. Schönichen: Ein versteinerter Wald in der
Farbenwüste von Arizona. — A. Pflüger: Energiemessungen im Ultraviolett. — Sir William Ramsay: Über
das periodische Gesetz der Elemente. — Bücherbesprechungen: Prof. Paul Langbans: Rechts und links der Eisen-
bahn. — Literatur: Liste. — Briefkasten,
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. PäU'sche Buchdr.), Naumburg a S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Di6 NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Koerber
Neae Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 21. August 1904.
Nr. 47.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post 1
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inserateuannahme durch Max Gelsdorf. Leipzig-
Gohlis, Blumenslraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
[Nachdruck verboten."
Entwicklung.')
Von Dr. Berthold Weifs.
I.
Wenige Begriffe werden heute so viel ge-
braucht, wie der der Entwicklung; aber auch
wenige sind in dem Maße ungeklärt, wie dieser
Begriff. Dem Wortsinne nach heißt Entwicklung
Aufrollung (etwa einer Pergamentrolle), Auswick-
lung (etwa einer Knospe), entsprechend dem
lateinischen evolutio. Vielfach wird Entwicklung
aufsteigender Entwicklung gleichgesetzt ; so, wenn
von der Entwicklung innerhalb des Tierreiches die
Rede ist, die von den niedrigsten Lebewesen bis
zum Menschen führt. Aber auch absteigende Ent-
wicklung wird schlechthin Entwicklung genannt,
wie die Entwicklung der Energie, die ihrer Wirk-
samkeit nach infolge der wachsenden Entropie
beständig abnimmt. Und wenn von der Entwick-
lung eines Organismus gesprochen wird, faßt man
') J. Petzoldt hat in seinem gedankenreichen Aufsatze :
,,Über den Begriff der Entwicklung und einige Anwendungen
desselben" (Naturw. Wochenschrift Bd. IX, Xr. 7 und 8) im
wesentlichen die Entwicklung organischer und überorganischer
Systeme besprochen ; im folgenden sollen die speziell bio-
logischen Entwicklungsbedingungen bei Seite gelassen und
grundlegende Gesichtspunkte für die Entwicklung von Energie,
Materie, Bewegung und Bewußtsein aufgesucht werden.
die aufsteigende Entwicklung bis zur Reife und
die absteigende bis zum Tode in dem einen
Worte zusammen. Schließlich ist noch der Ge-
brauch dieses Begriffes bei solchen Vorgängen zu
erwähnen, die regellos auf- und wieder absteigen,
wie z. B. bei der geologischen Entwicklung, wo
die organischen Schichten den unorganischen das
eine Mal folgen, das andere Mal vorangehen. Soll
die Definition all diesen Gebrauchweisen gerecht
werden, so muß Entwicklung ganz allgemein als
.Aufeinanderfolge von Vorgängen innerhalb eines
Aggregats bezeichnet und in jedem einzelnen
Falle durch Zusätze als aufsteigende oder abstei-
gende Entwicklung näher bestimmt werden.
Die heute verbreitetste wissenschaftliche Welt-
anschauung nimmt kleinste materielle Teilchen,
die Atome, an, die sich in Bewegung befinden.
Diese Bewegung wird durch Energie verursacht
und von Bewußtsein begleitet. Wir wollen nun
zunächst diese Grundprinzipien : Energie, Materie,
Bewegung, Bewußtsein und ihre Entwicklung in
großen Zügen behandeln, um im II. Abschnitte
dann auf die Entwicklung der Materie näher ein-
zugehen.
738
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 47
Wir unterscheiden einerseits Aggregat-Konglo-
merate, Vereinigungen heterogener Aggregate, wie
die Wehkörper und Aggregat-Komplexe, Vereini-
gungen homogener Aggregate, wie die Mineralien :
Aggregatvereinigungen , die durch mechanische
Teilung wieder in Konglomerate und Komplexe,
also in gleichartige Teile zerfallen ; andererseits die
aufsteigende Aggregatreihe : Atom, Atomverein-
heitlichung (Molekül), Molekülvereinheitlichung
(Kristall und Zelle; wenn die Zelle, wie Naegeli')
behauptet, aus Eiweißkristallen besteht, kann sie
ihrerseits wieder als Kristallvereinheitlichung be-
trachtet werden), Zellvereinheitlichung (Organis-
mus) und Organismenvereinheitlichung, welche aus
Aggregatindividuen sich zusammensetzt, die durch
mechanische Teilung sich nicht in gleichartige
Aggregate teilen lassen.-) Der Verlauf unserer
Untersuchung wird uns überall auf zentrierte Aggre-
gate führen : einerseits auf zentrierte mechanische
Konglomerat-Aggregate (wie das Sonnensystem,
die Erde), andererseits auf die chemischen (Atome,
Moleküle) , physikalischen (Molekülvereinheitlich-
ungen), biologischen (Zellen und Zellenvereinheit-
lichungen, Organismen), soziologischen (Organis-
menvereinheitlichungen) Aggregatindividuen der
Aggregatreihe. Wir beschränken uns auf die dabei
unmittelbar in Frage kommenden Formen der
Energie, also einesteils auf die mechanische
Energie, wie sie in der Bewegung der Massen,
andernteils auf die chemische, physikalische, bio-
logische und soziologische Energie, wie sie in der
Bewegung der Atome, der Moleküle, der Molekül-
vereinheitlichungen, der biologischen und der sozio-
logischen Aggregate sich geltend macht. Diesen
Energiearten stehen überall annähernde Kräfte
gegenüber : der Bewegung der Massen die Gravita-
tion, der Bewegung der Atome innerhalb der
Moleküle die chemische Affinität, der Bewegung
der Moleküle innerhalb der Molekülvereinheit-
lichungen die Kohäsion, der Bewegung der bio-
logischen und soziologischen Aggregate die bio-
logischen und soziologischen Affinitäten. Die zentri-
fugal, entfernend wirkende Energie befindet sich
mit allen annähernden oder zentripetal wirkenden
Kräften beständig im Kampfe.
Der Satz von der Erhaltung der Energie wird
durch zwei Tatsachen in seiner Bedeutung wesent-
lich eingeschränkt. Einesteils wird die Gesamt-
energie, wie Auerbach ■') es ausdrückt, beständig
entwertet ; ihre Wirkungsfähigkeit strebt einem
Minimum zu. Überall ergibt sich Depravation
der anderen Energiearten (wie mechanischer,
strahlender, elektrischer, magnetischer, chemischer
Energie) zur Wärme; der Erhaltung der Energie
tritt die Zunahme der Entropie gegenüber. Andern-
') K. W. V. Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie
der Abstammungslehre, München 1884, S. 587.
^) Hier, wie an einigen späteren Stellen gehe ich auf
meinen Aufsatz; Gesetze des Geschehens, Archiv für syste-
matische Philosophie, Bd. L\, Heft i, 2 und 4 zurück.
') F. Auerbach, Die Weltherrin und ihr Schatten, Jena
1902, S. 38.
teils findet innerhalb jedes einzelnen Prozesses
Energieverlust statt. In der Thermodynamik ^) wird
darüber gesagt: „Es ist auf keinerlei Weise mög-
lich, einen Vorgang, in welchem Wärme durch
Reibung entsteht, vollständig rückgängig zu
machen." — „Da es tatsächlich keinen Prozeß in
der Natur gibt, der nicht mit Reibung oder VVärme-
leitung verbunden wäre, so sind, wenn der zweite
Hauptsalz der Wärmetheorie richtig ist, sämtliche
Naturprozesse irreversibel." — „Bei irreversiblen
Prozessen ist offenbar der Endzustand durch eine
gewisse Eigenschaft vor dem Anfangszustand aus-
gezeichnet." Diese „gewisse Eigenschaft" des End-
zustandes tritt, da wir es praktisch nur mit irre-
versiblen Prozessen zu tun haben, am Ende jedes
Prozesses auf: es ist seine Kennzeichnung durch
ein Energie - Minimum gegenüber dem Energie-
Maximum des Anfangszustandes. Der Sieg ver-
bleibt am Ende jedes Prozesses den annähernden
Kräften.
Dieser schließliche Sieg der annähernden Kräfte,
der Gravitation, der Kohäsion und der verschie-
denen Affinitäten, bestimmt die Entwicklung
der Materie, die in der Richtung der Verein-
heitlichung, der Umsetzung von Einzelaggregaten
in Massenaggregate vor sich geht. Wie die Ent-
wicklung der Materie, führt auch die .der Be-
wegung und die des Bewußtseins zur Ver-
einheitlichung; zur Umsetzung von Einzel- in
Massenbewegungen einerseits, andererseits zur Um-
setzung von koordinierten Einzel-Bewußtseinsvor-
gängen in Massenbewußtseinsvorgänge und von
disparaten Bewußtseinsvorgängen untergeordneter
Aggregate in konzentrierte Bewußtseinsvorgänge
übergeordneter Aggregate. Auf dem Gebiete
des Bewußtseins findet durch die Vereinheit-
lichung Höherentwicklung statt. Wir müssen
annehmen , daß alle Bewegungsvorgänge be-
wußte Bewegungsvorgänge, psychophysische Vor-
gänge, Handlungen darstellen, wenn auch erst
bei den organischen Aggregaten, insbesondere beim
Menschen die psychische Seite dieser Vorgänge
von Bedeutung wird. Wer von Menschenseele
spricht, müßte eine ganze Seelenhierarchie an-
nehmen, die in kontinuierlicher Linie über Organ-,
Gewebe , Zell-, Molekülseele bis zur Atomseele
abstiege; die Seele des Menschen wäre dann in
letzter Linie aus Molekül- und Atomseelen zu-
sammengesetzt, in die sie mit dem Tode wieder
zerfiele und„unbewußte" Bewußtseinsvorgänge hätte
man durch unvereinheitlichte Einzelvorgänge der
Zell-, Gewebe- und Organseelen zu erklären. Weit
richtiger, als von Seelen, ist es aber von Bewußt-
seinsvorgängen zu sprechen, die vom Atom bis
zum vielzelligen Organismus in immer größerem
Umfang sich vereinheitlichen. Bei Konglomeraten,
wie bei den kosmischen Aggregaten, kann von ver-
einheitlichten Bewußtseinsvorgängen keine Rede
sein. Sie sind aus Molekülen zusammengesetzt,
die im wesentlichen zu keiner Höherbildung auf-
■) M. Planck, Thermodynamik, Leipzig 1897, S. 75 ff.
N. F. m. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
739
steigen; und durch das Nebeneinander einer noch
so großen Zahl von Molekülen kann ebensowenig
Gesamtbewußtsein in einem Aggregate entstehen,
wie etwa durch das Nebeneinander einer noch
so großen Zahl einzelliger Lebewesen in einem
Schwärm. Auch Organismenvereinheitlichungen
höchster Stufe, wie Volk und Menschheit, läßt sich
kein einheitliches Bewußtsein zusprechen; nur wird
durch die Vereinheitlichung der bewußten Be-
wegungsvorgänge der sie bildenden untergeord-
neten Aggregate ihre Energiewirksamkeit wesent-
lich gesteigert.
Die Entwicklung jener bewußten Bewegungs-
vorgänge, bei denen vorwiegend die physische
Seite von Bedeutung ist und die man schlechthin
Bewegungsvorgänge zu nennen pflegt, geht von
vereinzeltesten und stärksten zu vereinheitlichtesten
und schwächsten. Ebenso geht die Entwicklung
jener bewußten Bewegungsvorgänge, bei denen
vorwiegend die psychische Seite von Bedeutung
ist und die man schlechthin Bewußtseinsvorgänge
zu nennen pflegt, von den vereinzeltesten und
stärksten zu den vereinheitlichtesten und schwäch-
sten, außerdem noch von den unklarsten, trieb-
mäßigen zu den klarsten, verstandesmäßigen. Alle
psychischen Vorgänge sind Willensakte, aus Trieben
und Vorstellungen zusammengesetzt , wobei die
Wirksamkeit der Triebe phylogenetisch, wie onto-
genetisch im Laufe der Entwicklung beständig
ab-, die der Vorstellungen beständig zunimmt.
Und auch auf dem Gebiete der psychophysischen
Vorgänge im engeren Sinne, der menschlichen
Handlungen, beginnt die Entwicklung phylogene-
tisch wie ontogenetisch mit den vereinzeltsten,
einfachsten, unklarsten, triebmäßigen Handlungen,
um mit den vereinheitlichtesten, zusammen-
gesetztesten , klarsten , verstandesmäßigen zu
schließen.
IL
Bevor wir nun näher auf die Entwicklung der
Materie, insbesondere auf die Entwicklung der
verschiedenen Aggregate während ihres Bestehens
eingehen, wollen wir kurz auch ihr Entstehen und
Vergehen berühren. Jedes übergeordnete Aggregat
entsteht durch gemeinsame zentripetale Beziehung
ursprünglich isolierter untergeordneter Aggregate,
die ihrerseits hervorgerufen wird durch Überwiegen
der annähernden Kräfte gegenüber der zentri-
fugalen Einzelbewegung dieser untergeordneten
Aggregate infolge der Abnahme ihrer Einzelbe-
wegungsenergie. So entstehen das Sonnensystem,
die Erde durch Überwiegen der Gravitation über
die zentrifugale Einzelbewegung ihrer Teile; das
Molekül, der Kristall, die Zelle, der vielzellige
Organismus (indem nach der Zellteilung die Tochter-
zellen vereinigt bleiben), die Organismen Verein-
heitlichung durch Überwiegen der chemischen
Affinität, der Kohäsion, der biologischen und sozio-
logischen Affinitäten über die zentrifugale Einzel-
bewegung der Atome, der Moleküle, der Zellen
und der Organismen. Jedes übergeordnete Aggregat
vergeht wieder durch Aufhören der gemeinsamen
zentripetalen Beziehung seiner untergeordneten
Aggregate. Dies Aufhören wird hervorgerufen
durch Überwiegen der Einzelbewegungsenergie der
untergeordneten Aggregate gegenüber den an-
nähernden Kräften infolge von Zunahme ihrer
Einzelbewegungsenergie. Das Vergehen führt über-
all das Aggregat in einen dem Zustand vor dem
Entstehen analogen Zustand zurück : in den Zu-
stand isolierter untergeordneter Aggregate ohne
gemeinsame zentripetale Beziehung. Ein kosmischer
Körper kann durch Zusammenstoß mit einem
anderen in einen auseinanderstiebenden Nebel ver-
wandelt werden, dessen Teile, wenn in der Peri-
pherie genügende Anziehungszentren vorhanden
sind, getrennt bleiben; durch starke Erhitzung
kann ein Wasserstoffmolekül in der Korona der
Sonne in seine auseinanderstrebenden Elementar-
atome, Wasserdampf in auseinandergehende Wasser-
stoff- und Sauerstoffmoleküle, eine Zelle in aus-
einanderfallende Molekülvereinheitlichungen aufge-
löst werden. Der vielzellige Organismus baut sich
aus Zellen, Geweben, Organen auf, deren Einzel-
bewegung in seiner Massenbewegung vereinheit-
licht erscheint. Der Tod bedeutet das Ende dieser
Vereinheitlichung. Der Organismus zerfällt in seine
Organe, Gewebe, Zellen, die ohne die gemeinsame
zentrale Beziehung noch eine wenn auch kurze
Zeit weiter leben können. Daß die einzelnen Zellen
nicht dauernd weiter bestehen, wie einzellige Lebe-
wesen, denen sie entsprechen, erklärt sich in gleicher
Weise, wie daß Kulturmenschen, die etwa auf einem
Schiffe scheitern, unter Bedingungen zugrunde
gehen, denen ihre L^rahnen angepaßt waren. Ein
Heer, ein Volk kann durch eine entscheidende
Niederlage in die isolierten Individuen ohne ge-
meinsame Beziehung wieder aufgelöst werden, aus
denen sie entstanden sind.
Wir kommen nun zur Entwicklung der ein-
zelnen Aggregate während ihres Bestehens und
zwar zunächst zu ihrem Anfangs- und Endzustand.
Der (symbolische) Anfangszustand ist überall ge-
kennzeichnet durch maximale Isoliertheit und Einzel-
bewegung der untergeordneten Aggregate und
durch minimales Hervortreten annähernder Kräfte,
der Endzustand durch minimale Isoliertheit und
Einzelbewegung der untergeordneten Aggregate
und maximales Hervortreten annähernder Kräfte.
Vom Anfangs- bis zum Endzustande nimmt, unter
gleichzeitig wachsender Erstarrung, die Energie-
menge, die Innenbewegung des Aggregats beständig
ab. Der Endzustand ist außerdem in gewissem
Sinne als Gleichgewichts- oder Normalzustand auf-
zufassen: ohne Hinzutreten äußerer Energie findet
keine Entfernung vom Schwerpunkte des Systems,
keine Aufhebung der durch Kohäsion, durch che-
mische, biologische, soziologische Affinität be-
dingten Zusammenhänge statt.
Beginnen wir mit dem mechanischen Gebiet.
Der Anfangszustand der kosmischen Aggregate
ist das Nebelstadium; ihren Endzustand der bleiben-
den Vereinheitlichung und beständig fortschreiten-
den Erstarrung wollen wir nach dem uns zunächst
740
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 4/
Hegenden Beispiel das Mondstadium nennen. Unser
Sonnensystem befand sich, nach seiner Loslösung
vom Milchstraßennebel in dem Anfangszustand
eines ungeheuer ausgedehnten Nebels. In der-
artigen Nebeln, die von der heutigen Wissenschaft
als kalt angesehen werden, wirken infolge der
außerordentlichen Verdünnung der Materie keine
nennenswerten anziehenden Kräfte.^) In diesem
Anfangsstadium verschwindet gegenüber dem un-
ermeßlichen Energievorrate, der hauptsächlich in
Form potentieller Energie vorhanden ist — eines-
teils mechanischer Natur als Entfernung der ma-
teriellen Teilchen vom Zentralpunkt des Nebels,
andernteils chemischer Natur als Entfernung der
durch die vorangegangene ungeheure Hitze dis-
soziierten Elemente — gewissermaßen in dem
Zustande höchster Aufgelöstheit die Materie und
man wird an Faust's Wort erinnert: „Am Anfang
war die Kraft". Das Sonnensystem als Ganzes,
und, wie wir vorausnehmen wollen, jeder seiner
Teile und jedes in ihm enthaltene Aggregat gleicht
in seinem Anfangszustande einem empor geschleu-
derten Balle, der späterhin sich noch öfters, aber
nie wieder zur erst erreichten Höhe erheben kann ,
in seinem Endzustande dem ruhig auf der Erde
liegenden Balle. Auf das Nebelstadium folgt das
Mondstadium entweder sofort, wie bei den Monden
und den mondlosen Planeten, oder es schiebt sich
ein Systemstadium ein, wie bei dem Sonnensystem
und allen von Trabanten begleiteten Planeten. Das
Mondstadium der bleibenden Vereinheitlichung be-
ginnt mit einer Phase größter Energieabgabe nach
außen; später folgt die Krustenbildung. Aus der
strahlenden Sonne wird ein dunkler Weltkörper,
der beständig weiter erstarrt. Das Leben auf der
Erde ward nur ermöglicht durch das System-
stadium unseres Sonnensystems, durch das gleich-
zeitige Vorhandensein der Sonne mit ihrer großen
Ausstrahlung von Wärme und Licht und der durch
Abkühlung bereits mit einer Kruste überzogenen
Erde in entsprechender Entfernung voneinander.
Es fragt sich nun : geht das Sonnensystem als
Ganzes einst aus dem System- in das Mondstadium
über? Unser Planetensystem macht zwar den Ein-
druck absoluter Stabilität; aber wir kennen, wie
bereits oben erwähnt wurde, keine reversiblen
Prozesse in der Natur, keine Prozesse, die nicht
„mit Reibung oder Wärmeleitung verbunden wären"
und auch für unser Planetensystem darf logischer-
weise keine Ausnahme gemacht werden. Ganz
abgesehen davon, daß heute wohl niemand den
Äther für immateriell hält und abgesehen von den
Meteoriten, müssen zwischen den Planeten (und
zwischen unserem und anderen Systemen in ana-
loger Weise) nach allen Richtungen sich bewegende
materielle Teilchen angenommen werden, die, wenn
auch in geringstem Maße, Reibung hervorbringen.
Daher wird einst die gesamte Masse des Sonnen-
systems in einem einzigen dunklen Körper ver-
•) S. A. Arrhenius , Lehrbuch der kosmischen Physik,
Leipzig 1903, 1. Teil, S. 224.
einigt, ohne wesentliche Energieerscheinungen im
Innern, um den Schwerpunkt des Milchstraßen-
nebels schwingen, bevor sie durch Zusammenstoß
mit anderen kosmischen Körpern in diesem Schwer-
punkte ihren LTntergang findet; und angesichts
dieses Endzustandes könnte man versucht sein dem
Worte: „Im Anfang war die Kraft" das andere
Wort entgegenzusetzen : ,, Am Ende ist der Stoff."
Dem kosmischen Nebel- und Mondstadium ent-
spricht auf chemischem Gebiete Isoliertheit der
Elemente und exotherme Verbindungen (Verbin-
dungen in der Richtung der stärksten Affinität;
sie erscheinen als stabile Neigungsverbindungen
gegenüber den labilen endothermen Zwangsver-
bindungen, zu deren Bildung Energiezufuhr nötig
ist), auf physikalischem Gebiete der gasförmige
und der feste Aggregatzustand als symbolisches
Anfangs- und Endstadium. Bei den Ijiologischen
und soziologischen Aggregaten stehen dafür die
Ausdrücke Jugend und Alter bereits im Gebrauch,
als Anfangszustand größter aber ungeordneter
und als Endzustand geordneter aber geringster
Innenbewegung. Auch bei den Aggregaten von
der Zelle abwärts, den physikalischen Molekül-
vereinheitlichungen, den chemischen Atomverein-
heitlichungen, und den mechanischen Massenver-
einheitlichungen läßt sich von Jugend und Alter
sprechen, wenn man ihre Beschaffenheit zu Be-
ginn und zum Schlüsse des irreversiblen Entwick-
lungsprozesses unseres Sonnensystems ins Auge
faßt. Nur können bei anorganischen Aggregaten
diese extremen Zustände unbestimmt oft aufein-
ander folgen, indem diese Aggregate durch Energie-
zufuhr immer wieder in jnechanischer, chemischer,
physikalischer Hinsicht „verjüngt" werden, während
bei organischen und überorganischen Aggregaten
zwar wiederholte Jugend- und Altersvorgänge unter-
geordneter Art, aber nur eine Jugend und e i n
Alter möglich sind.
Während des Bestehens nimmt auf kosmischem,
wie auf chemischem, phj'sikalischem, biologischem
und soziologischem Gebiete der Energievorrat der
x'\ggregate von einem Maximum bis zu einem
Minimum ab. Dieser Vorgang stellt sich als Fort-
setzung der Einzelbewegungsabnahme der unter-
geordneten Aggregate dar, welche das Entstehen
ermöglicht hatte ; er ist auch als Erstarrungsprozeß
zu bezeichnen, der bis ans Ende des Bestehens
beständig wächst. Während das Entstehen jedes
Aggregats der Aggregatreihe als äußere Annähe-
rung koordinierter Aggregate der nächst tieferen
Stufe erscheint, erklärt sich der Erstarrungsprozeß
durch weitere, nun innere Annäherung jener jetzt
subordinierten Teilaggregate innerhalb des Aggregat-
ganzen. Im Verlaufe des Erstarrungsprozesses, der
von einem Anfangsstadium größter, unvereinheit-
lichter bis zu einem Endstadium vereinheitlichter,
aber geringster Innenbewegung fortschreitet, findet
sich überall ein mittleres Stadium mittlerer und
vereinheitlichter Energie.
Das Mittelstadium stellt im Gegensatze zum
Anfangsstadium des Überwiegens entfernender
N. F. m. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
741
Energie und des Maxirnums von Bewegung und
zum Endstadium des Überwiegens annähernder
Kräfte und des Maximums von Gebundenheit ein
Stadium des Gleichgewichts entfernender und an-
nähernder Kräfte, ein Stadium gebundener Be-
wegung dar, als Systemstadium auf kosmischem,
als flüssiger Aggregatzustand auf physikalischem
und als endotherme Verbindung 'j auf chemischem
Gebiete. Bei den Aggregaten von der Zelle auf-
wärts wird das Mittelstadium als das Stadium
mittleren Alters bezeichnet. Bei diesen Aggregaten
steigt, während die Gesamtenergie beständig ab-
nimmt, die als Resultante der immer mehr ge-
ordneten und vereinheitlichten Teilenergien nach
außen wirksame Energie, bis sie im Mittelstadium
ihren Höhepunkt findet, um von da an auch ihrerseits
abzunehmen. Das Maximum der wirksamen Energie
im mittleren Stadium erklärt sich durch die Ver-
einheitlichung der untergeordneten Aggregate und
damit ihrer Einzelbewegungen, während zu Beginn
der Zusammenschluß noch nicht genügend erreicht
ist, gegen das Ende zu die Gesamtenergie bereits
zu sehr abgenommen hat. Hier kann also von
auf- und absteigender Entwicklung der Energie
gesprochen werden.
Will man im Mittelstadium der Aggregate von
der Zelle abwärts, im flüssigen Aggregatzustande,
in der endothermen Verbindung und im System-
stadium nicht ebenfalls das Maximum wirksamer
Energie sehen, so bleibt jedenfalls die Tatsache
bemerkenswert, daß ohne das kosmische, das
chemische und das physikalische Mittelstadium die
organische Entwicklung unmöglich wäre.
Das Entstehen der einzelnen Aggregate der
Aggregatreihe und damit der Aggregatreihe selbst
auf der Erde konnte erst stattfinden, nachdem der
Energievorrat, die Wärme der Erde, bis zu einem
gewissen Punkte abgenommen hatte; die höchst-
stehenden Moleküle und Kristalle, ganz besonders
aber die Zellen und die höheren und späteren
Glieder der Aggregatreihe konnten erst bei einem
bestimmten Abkühlungsgrade der Erdoberfläche
sich bilden. Und das Entstehen jedes Aggregats
ist, wie wir gesehen haben, durch Energieabnahme
seiner untergeordneten Aggregate bedingt. Während
aber überall Energie verloren geht, bringt die in
der Aggregatreihe beständig wachsende Anzahl
der vereinheitlichten Aggregate tieferer Stufen auch
eine Energievereinheitlichung mit sich. Es wird
gewissermaßen ein gemeinsamer Angriffspunkt zur
Arbeitsleistung geschaffen. So wächst die Wirk-
samkeit der sich vermindernden Energie in der
aufsteigenden Aggregatreihe, indem jedes Aggregat
einer höheren Stufe die Energie der Aggregate
der tieferen Stufen, aus denen es sich zusammen-
setzt, in sich vereinheitlicht. So enthält das
Molekül die vereinheitlichte Energie seiner Atome,
') Die wichtigste endotherme Verbindung ist das Eiweiß-
molekül. Es stellt das Mittelstadium eines chemischen Aggre-
gats dar, das sich schematisch im Anfangszustandc durcli die
isolierten Elemente C, N, H, O, im Endzustande durch die
exothermen Verbindungen CO^, H2O, INHj kennzeichnet.
die Zelle die ihrer Moleküle; der Organismus die
seiner Zellen; die Organismenvereinheitlichung
endlich die Energie ihrer Organismen. Bezüglich
dieser Erscheinung läßt sich also auch von einer
aufsteigenden Entwicklung der Energie, wenigstens
in Hinsicht ihrer Wirksamkeit nach außen sprechen.
Setzen wir in die Aggregatreihe überall die
höchsten Werte: für Atom Kohlenstoffatom,') für
Atomvereinheitlichung Eiweißmoleküi, für Molekül-
vereinheitlichung Zelle, für Zellenvereinheitlichung
Mensch, für Organismenvereinheitlichung Volk und
Menschheit, so gibt diese neue Reihe gewisser-
maßen die Achse der Entwicklung vom Atom bis
zur Menschheit. Zu jedem (zusammengesetzten)
Gliede dieser Entwicklungsachse steigt einerseits
als der höchsten (lattung seiner Stufe eine Stufen-
reihe (Molekülreihe, Molekülvereinheitlichungsreihe
usw.) empor; andererseits geht von jedem Gliede
als der niedrigsten Art seiner Gattung eine auf-
wärts strebende Entwicklungsreihe (Eiweißreihe,
Zellenreihe usw.) aus. Die höheren Glieder der
Stufen-, wie der Entwicklungsreihen sind gegen-
über den niederen durch größere Heterogeneität
gekennzeichnet. Die Entwicklungsreihen bilden
sich immer innerhalb des nächst höheren Gliedes
der Entwicklungsachse ; höhere und höchststehende
Moleküle finden sich nur innerhalb von Zellen ;
höhere und höchststehende Zellen und Menschen
nur innerhalb von Organismen und Völkern; höhere
und höchststehende Völker nur durch inter-
nationale Beziehungen innerhalb der Menschheit.
Phylogenetisch folgen überall die Aggregate mit
größerer auf solche mit geringerer Heterogeneität ;
dieser Tatsache entspricht ontogenetisch, daß die
Entwicklung jedes einzelnen Aggregats von ge-
ringerer zu größerer Heterogeneität fortschreitet.
Die tiefste Entwicklungsstufe jedes Aggregats ist
durch die geringste Verschiedenheit seiner unter-
geordneten Aggregate gekennzeichnet. So bestand
auf frühester Entwicklungsstufe die Menschheit aus
relativ gleichartigen niedrigsten Völkern; jedes
Volk aus relativ gleichartigen niedrigsten Men-
schen; jeder Mensch aus relativ gleichartigen
niedrigsten Zellen (Morulastadium). Vielleicht
könnte man dementsprechend annehmen, daß jede
Zelle auf frühester Entwicklungsstufe aus relativ
gleichartigen niedrigsten Eiweißmolekülen besteht
und daß, falls im Eiweißmoleküle Entwicklung
stattfindet, sie auch hier in analoger Weise vor
sich geht.
Die höchsten Glieder der Entwicklungsreihen
(die Atomreihe fällt hier wie überall fort, wo es
sich um zusammengesetzte Aggregate handelt),
') Schon Nägeli stellte (a. a. O. S. 618) den Kohlenstoff
an die Spitze der Elemente, als den festesten Stoff im Gegen-
satz zum Wasserstoff als dem fluchtigsten und niedrigsten ;
dafür spricht auch, daß die Entwicklung überall von den
aufgelöstesten zu den verdichtetsten Aggregaten geht. Ferner
daß, wie man annimmt, unter den homogenen Molekülen das
Kohlenstoffmolekül aus den meisten .Atomen besteht; dann
seine außerordentliche Zusammensetzbarkeit; vor allem aber,
daß die ganze organische Entwicklung auf diesem Elemente
als dem Zentralkörper aller organischen Verbindungen beruht.
742
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 47
also die höchst stehenden Eiweißmoleküle, Zellen,
Menschen, Völker und die Menschheit im höchsten
Entwicklungsstadium verkörpern in ihrer Zusammen-
setzung die abgekürzte Entwicklung der nächst
tieferen Stufe. Dieses Gesetz erinnert an Häckel's
biogenetisches Grundgesetz; doch bezieht es sich
auf die Zusammensetzung von Aggregaten
der verschiedensten Art, während das biogenetische
Grundgesetz auf die Entwicklung der Aggre-
gate der Tierreihe geht.
Auch in ihrem höchstenEntwicklungsstadium wird
die Menschheit, neben höchststehenden, niedrigst-
stehende Völker, sowie eine Anzahl von Zwischen-
stufen in sich schließen ; auch das höchststehende
Volk besitzt, neben höchststehenden, niedrigst-
stehendeMenschen, sowie eine Anzahl von Zwischen-
stufen; auch der höchststehende Mensch besitzt,
neben höchststehenden, niedrigststehende Organe
und Zellen, sowie eine Anzahl von Zwischenstufen.
So ergibt sich hier überall eine aufsteigende Linie,
die in abgekürzter Form die Entwicklung der
Menschheit, des Volkes, des Menschen darstellt.
Bei den höheren Zellen kommen zu den niedrigsten
Eiweißmolekülen, aus denen die niedrigsten Zellen
bestehen, immer neue, höhere hinzu, so daß bei
der höchsten Zelle wieder eine Hierarchie der
Eiweißmoleküle anzunehmen wäre. Im höchst-
stehenden Eiweißmolekül kann das niedrigste Ele-
ment, der Wasserstoff, nicht fehlen. Vielleicht
wird man einmal annehmen, daß die Linie, die
vom Wasserstoff über die übrigen organischen
Elemente zum Kohlenstoff aufsteigt, die Entwick-
lung der Elemente in abgekürzter Form darstellt.
Bisher sind, besonders von Häckel, Stamm-
bäume für die Entwicklung der Pflanzen (wir wollen
bei dieser Gelegenheit bemerken, daß das Pflanzen-
reich eine seitliche Abzweigung von der zentralen
Entwicklungsachse darstellt), der Tiere und des
Menschen aufgestellt worden. Der Zukunft bleibt
es vorbehalten, weitere PJinzelstammbäume, ent-
sprechend der Entwicklungsachse, vom Atom bis
zur Menschheit für die übrigen Stufenreihen: Atom-
reihe, Molekülreihe, Zellreihe einerseits, für die
Völkerreihe andererseits aufzustellen und mit den
bisherigen zum Universalstammbaum der Welt des
Menschen zu vereinigen.
III.
Ungeheure Fortschritte hat die Wissenschaft
gemacht, seitdem sie, von transzendenten Vor-
stellungen befreit, alles Geschehen ausschließlich
auf streng kausale Grundlagen zurückführte. Bald
aber zeigten sich innerhalb der großen Errungen-
schaften noch Lücken und hier setzte die Gegen-
bewegung ein. Sie wurde einesteils durch Wissen-
schaftsfeinde veranlaßt, andernteils durch solche
Gelehrte, die ungeduldig, daß nicht alle Rätsel
gelöst erschienen, den Weg verließen, auf dem so
viele und große ihre Lösung gefunden hatten. Die
letzteren arbeiteten, vielfach ohne es zu wissen,
den ersteren in die Hände, wenn sie unwissen-
schaftliche Begriffe, wie „Lebenskraft", „Potenzen
der Entwicklung" u. dgl. m. in die Wissenschaft
einführten. Freilich darf auch nicht unerwähnt
bleiben, daß diese Reaktion von iVIännern der
Wissenschaft mit verschuldet wurde, die sich wohl
auf dem richtigen Wege, aber viel entfernter vom
Ziele befanden, als sie selbst glaubten. Wohl haben
Kant und Laplace auf kosmischem, Lamarck,
Darwin und Häckel auf biologischem, Comte und
Spencer auf philosophischem Gebiete den zur
Wahrheit aufsteigenden Pfad gewiesen, wohl muß
die Wissenschaft für immer auf ihren Spuren
weiterwandeln ; doch so mancher Gipfel blieb
bisher noch unbezwungen.
Andererseits aber ist es nicht genug zu ver-
dammen, wenn heute, fast 150 Jahre nach Kant's
„Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des
Himmels" (1755), fast lOO Jahre nach Lamarck's
„Philosophie zoologique" (1809), die im Geburts-
jahr Darwins erschien, fast 75 Jahre nach Lyells
„Principles of geology" (1830) und fast 50 Jahre
nach Darwins „On the origin of species by means
of natural selection" (1859), wenn heute, da die
natürliche Entwicklung des Himmels, der Erde und
des Lebens bereits zu den Axiomen der Wissen-
schaft gehören, angesehene Naturforscher durch
Einführung der Lebenskraft in den stolzen Bau der
allgemeinen Entwicklungsgeschichte eine Bresche
zu legen versuchen. F'ür diese Herren trennt eine
unübersteigliche Kluft die lebendige von der leb-
losen Materie, und, während auf allen anderen Ge-
bieten das Entstehen des Höheren aus dem Niederen
zugegeben wird, soll das Leben nur mit Zuhilfe-
nahme der durch und durch unwissenschaftlichen
Hypothese von der Lebenskraft mittelalterlichen
Ursprungs erklärt werden können. Daß einmal
lebendige Materie aus lebloser hervorgegangen sein
muß, kann nicht zweifelhaft sein; auf die Kon-
tinuität der Reihe: Atom, Molekül, Zelle kann
echte Wissenschaftlichkeit nicht verzichten. Anderer-
seits darf aber über die zum Teil berechtigten
Einwürfe der Anhänger der vitalistischen Auf-
fassung nicht einfach hinweggegangen werden. Die
Antivitalisten befinden sich wohl auf dem richtigen
Wege, aber noch lange nicht am Ziele. Schon
die Zelle stellt einen ungeheuer zusammengesetzten
Organismus dar; zeigt doch Hofmeister, ein Gegner
der Lebenskraft, daß z. B. in der Leberzelle „sich
einige zehn, vermutlich aber viel mehr chemische
Vorgänge nebeneinander abspielen".') Dazu kommt,
daß auch den Molekülen, aus denen die Zelle ihrer-
seits besteht, eine ungeheure Zusammengesetztheit
zugeschrieben werden muß. So finden sich in der
physikalischen Chemie von Neumeister die An-
gaben, daß für gereinigtes Eieralbumin die Mole-
kulargröße von 15,000, für lösliche Stärke die von
17,750 angenommen wird; '-) und in einer anderen
Arbeit desselben Verfassers •') heißt es, daß „ein
■) F. Hofmeister, Die ctiemische Organisation der Zelle,
Braunschweig 1901, S. 11.
*) R. Neumeister, Physiologische Chemie, II. Aufl., Jena
1897, S. 23 u. S. 79.
') R. Neumeister, Betrachtungen über das Wesen der
Lebenserscheinungen, Jena 1903, S. 49.
N. F. III. Nr. 47
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
743
Körper, den wir heute als einen bestimmten Ei-
weißstoff, z. B. als Serunialbumin, anspreclien,
wahrscheinlich einen Sammelbegriff von sehr ver-
schiedenartigen Substanzen vorstellen dürfte". Die
ungeheure Zusammengesetztheit eines derartigen
„einfachsten" Eiweißstoffes ergibt sich „nicht nur
durch die Gegenwart von höchst wahrscheinlich
drei verschiedenen Benzolkernen, sondern auch
durch die Existenz ausgedehnter und augenschein-
lich mehrfacher und differenter Seitenketten der
I'^ettreihe". Dazu kommt „das Bestehen einer sehr
komplizierten , harnstoffbildenden Gruppe sowie
eines oder . . . vielleicht auch mehrerer differenter
Kohlehydratkomi)lexe"; endlich, daß dieser .Stoff
447 Kohlenstoffatome besitzen soll. Ganz außer-
ordentlich groß erscheinen also die -Schwierigkeiten
einer wissenschaftlichen Erklärung der Lebensvor-
gänge. Was sollte es aber nützen, dieser Schwierig-
keiten halber nach der mystischen Lebenskraft als
Erklärungsgrund zu greifen, zumal für sie selbst
wieder jede Erklärungsmöglichkeit fehlen würde?
Das fundamentale Problem auf diesem Gebiete
ist das der Urzeugung. Wüßten wir Genaueres
vom Entstehen der lebendigen Materie in ihren
niedrigsten Anfangsformen, dann wären wir der
Erklärung ihrer Forterhaltung und Höherentwick-
lung um vieles näher gerückt. Die einzige Hypo-
these, die für das Problem der Urzeugung bisher
in Betracht kommen kann, hat Pflüger ') im Jahre
1875 aufgestellt. Neuerdings hat sich Verworn -)
wieder für sie ausgesprochen. Diese Hypothese
enthält zwar noch ganz außerordentliche Lücken ;
aber nur wenn man physikalisch-chemische Pro-
zesse zum Ausgangspunkt nimmt, wird es einst
möglich sein, zur Erklärung der Urzeugung zu
gelangen. Das Problem der fLntstehung der leben-
digen Materie nimmt den unbekannten mittleren
Teil einer kontinuierlichen Linie ein, die von den
einzelnen Atomen zum vielzelligen Organismus führt.
Der richtigste Weg zu seiner Lösung dürfte sein,
die Gesetze der beiden bekannten Abschnitte dieser
Linie aufzusuchen, von denen der eine von den
Atomen zu den endothermen Cyan- und Kohlen-
wasserstoffverbindungen hinauf, der andere vom
vielzelligen Organismus zum einzelligen herab-
führt, wobei noch insbesondere die Teilfunktionen
der niedrigsten Einzelzellen aufzuklären sind.
Wasser, Kohlensäure, Ammoniak und andere
amidartige Körper bilden den Endzustand der or-
ganisierten Materie. Wie wir gesehen haben,
gleicht ganz allgemein der Endzustand überall der
Ruhelage des herabgefallenen Steines; und der
Anfangszustand der höchsten Erhebung des Steines,
sowie mittlere Zustände sind überall zu rekon-
struieren, wenn zum Endzustande das bis dahin
im Verlauf des Prozesses entschwundene Energie-
quantum wieder hingefügt wird. In unserem Falle
entsteht der mittlere Zustand des Eiweißmoleküls,
wenn Licht auf Wasser, Kohlensäure, Ammoniak
usw. innerhalb der grünen Pflanze einwirkt. Die
Energie des Lichts verwandelt die exothermen
Endverbindungen durch erzwungene Umlagerung
und Vereinheitlichung ihrer Atome in jene endo-
thermen \'erbindungen, die als lebendige Materie
das Mittelstadium des Prozesses darstellen. Thom-
sen ') vergleicht die endotherme Verbindung mit
,, einem Kegel, der auf der Spitze steht und bei
dem geringsten Stoffe umgeworfen wird." Wir
können hinzufügen, daß dieser umgekehrte Kegel
einem Kreisel entspricht und daß das Leben als
Kreiselbewegung unter der Peitsche des Lichts
aufgefaßt werden kann. Der Aufbau der leben-
digen Substanz in der grünen Pflanze stellt in ge-
wissem Sinne eine sekundäre P"orm der Urzeugung
dar. Es ist interessant, daß sie durch die Energie
der glühenden Sonne bedingt ist, die nach den
neuesten Ansichten ihrerseits aus der Verbrennung
endothermer Verbindungen entspringt, zu denen
Kohlenwasserstoffe und Cyanverbindungen ge-
hören.-) Diese Verbindungen nämlich — sie sollen
auch in der Kometenmaterie \-orkommen — stellen
nach Pflüger die wesentlichen Bestandteile dar, aus
denen sich zur Zeit der Glühhitze der Erde die
Proteinstoffe entwickelt haben sollen. Nach seiner
Darstellungfindet, wennwiruns so ausdrücken dürfen,
beständig eine ontogenetische Rückweisung auf
die phylogenetische Entstehung der lebendigen
Substanz statt, indem beim Aufbau der Zellsub-
stanz die Stickstoff- mit den Kohlenstoffatomen
unter bedeutender Wärmeentwicklung in cyan-
artige Verbindungen treten, um beim Zerfall wieder
unter Wärmeabgabe in den stabileren Zustand der
Amide zurückzusinken. In diesem Gegensatze von
exothermen und endothermen Verbindungen der-
selben Elemente findet Pflüger zugleich den fun-
damentalen Unterschied zwischen lebendigem und
Nahruiigseiweiß. Er nimmt ferner an, daß heute
keine Urzeugung mehr vorkommt.
Die Urzeugung muß stattgefunden haben an
der Temperaturgrenze, wo noch einerseits die
höchst labilen Cyanverbindungen bestehen konn-
ten und andererseits der Wasserdampf bereits
in flüssiges Wasser überzugehen begann, das zum
Aufbau der lebenden Materie unentbehrlich ist.
Diese Temperaturgrenze entspricht der kritischen
Temperatur des VVassers (etwa 365 " C). Sobald
die Abkühlung der Erde an ihrer Oberfläche unter
diese Grenze gesunken war, entstand der Ozean.'')
Hierzu tritt als bemerkenswertes Moment, daß
Leptothrix und Oszillarien im Karlsbader Sprudel
gefunden werden, daß Sporen von Bazillen bis
130" Hitze vertragen*) und daß bei 70" oder
sogar bei 80 — 90 " C „Algen gedeihen, wie die
') E. F. Pflüger, Über die physiologische Verbrennung in
den lebendigen Organismen, Pflüger's Archiv, Bd. X, 1S75,
S. 25 1 ff.
'•') M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1S95, S. 305 ff.
') J. Thomsen, Thermochcmische Untersuchungen, Leip-
zig 1882— 1886, Bd. I, S. 15.
') S. A. Arrhenius, a. a. O. I. Teil, S. 162.
') Arrhenius, a. a. O. S. 336.
') O. Hertwig, Die Zelle und die Gewebe, Jena 1892,
1. Abteilung, S. 78.
744
Naturvvisseiiscliaflliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 47
Algenvegetation der Geysirs bezeugt". '^) Es ist
nun anzunehmen, daß, sobald überhaupt Wasser
sich niederschlug, Lebewesen niedrigster Art be-
stehen, und daher auch entstehen konnten. Da
diese Lebewesen die Objekte der Urzeugung dar-
stellen würden, erscheint die Kluft zwischen der
Temperatur, da die Cyanverbindungen noch zu
bestehen, Urlebewesen aber bereits zu entstehen
vermochten, nicht so ungeheuerlich.
In der Gegenwart entsteht vermutlich kein
Eiweiß mehr außerhalb der Zelle. Wenn wir aber
sehen, daß zwar die ganze Hierarchie von tief und
hoch stehenden Völkern innerhalb der Menschheit
sich aufbaut, indem alle höheren Volkstypen ohne
internationale Wechselbeziehungen nicht hätten ent-
stehen können, daß es aber vor allen und außer-
halb aller internationalen Beziehungen niedrigste
Völkerschaften gegeben hat und noch gibt; daß
zwar höchststehende Menschen und die ganze
Differenzierung der menschlichen Individuen nur
innerhalb des Staates möglich war, daß aber aus
niedrigststehenden Menschen ursprünglich der Staat
selbst gebildet wurde; daß zwar alle höheren
Zellen sich innerhalb der höheren Organismen ent-
wickelt haben, daß aber von niedrigststehenden
einzelligen Lebewesen alle höheren abstammen ;
dann müssen wir auch annehmen, daß zwar die
Reihe der höheren und höchsten organisierten
ermöglichen, sollte eine ,, Allgemeine Entwick-
lungsgeschichte" ins Leben gerufen werden und,
von Fachgelehrten , aber nicht für Fachgelehrte
verfaßt, zu möglichst billigem Preise in den Handel
kommen. Die Aufgabe dieser allgemeinen Ent-
wicklungsgeschichte wäre es, dem heutigen Stande
der Wissenschaft entsprechend, die Geschichte der
Welt des Menschen in der Vergangenheit, in der
Gegenwart, und, soweit das möglich, in der Zu-
kunft zu schreiben: ihr stufenweises Entstehen,
ihre Entwicklung bis zum Höhepunkt und die
darauf folgende Erstarrung, endlich ihr stufenweises
Vergehen zu schildern. Sie müßte versuchen, der
bisherigen Unordnung undZerrissenheit des mensch-
lichen Wissens ein Ende zu machen, indem sie die
wichtigsten Wissenschaften als zentrale Masse ord-
nete und vereinheitlichte, der dann die übrigen
sich angliedern ließen. Dieses Ziel könnte sie
durch eine doppelte Anwendung des Entwicklungs-
prinzips anstreben, indem dasselbe einerseits, so-
weit es heute bereits möglich ist, der Darstellung
jeder einzelnen Wissenschaft, andererseits einer
allgemeinen Einteilung der Wissenschaften zugrunde
gelegt würde.
Das menschliche Wissen wäre, wie nachstehende
Tabelle zeigt, in vier Hauptgruppen zu gliedern:
Himmelskunde, Erdkunde, Lebenskunde und Ge-
sellschaftskunde.
Kosmologie
I
I Wissenschaft von den kos-
mologischen Aggregaten, mit
Ausnahme der geologischen :
Himmelskunde.
Geologie
Wissenschaft von den geo-
logischen Aggregaten mit
Ausnahme der biologischen:
Erdkunde.
Biologie
_l
W'issenschaft von den bio-
logischen Aggregaten mit
Ausnahme d. soziologischen :
Lebenskunde.
Wissenschaft von den sozio-
logischen Aggregaten :
Gesellschaftskunde.
Verbindungen nur innerhalb der Zellen entstehen
konnten, daf3 aber ursprünglich einmal unter be-
sonderen Umständen aus einfachsten und niedrig-
sten Verbindungen organisierter Art die ersten,
einfachsten und niedrigsten Zellen hervorgegangen
sind.
IV.
Zu der Gegen- und Rückwärtsbewegung in den
Wissenschaften, die noch zu wachsen scheint, kommt
die über jedes Maß hinausgehende Zersplitterung
unserer Gelehrten. Immer tiefer versinken sie und
ihre Schüler in Einzeluntersuchungen und immer
mehr verliert unsere Zeit die Fähigkeit einer
einheitlichen , wissenschaftlichen Weltanschauung.
Um eine solche Weltanschauung auf Grund
vorurteilsfreier Forschung mit ihren unabseh-
baren Segenswirkungen im deutschen Volke zu
^) Arrhenius, a. a. O. S. 2S5.
Bei dieser Einteilung spielt das Entwicklungs-
prinzip die entscheidende Rolle, indem die Wissen-
schaften nicht bloß ilirer Zusammengesetztheit und
ihrem Auftreten in der Geschichte nach, sondern
auch der realen Reihenfolge der ihnen zugrunde
liegenden Aggregate nach angeordnet erscheinen.
Denn kosmologische, geologische, biologische und
soziologische Aggregate entwickeln sich stufen-
weise auseinander; zugleich findet eine Einschachte-
lung statt, indem die soziologischen Vorgänge
einen Teil der biologischen, die biologischen einen
Teil der geologischen, die geologischen endlich
einen Teil der kosmologischen bilden.
Der „Allgemeinen Entwicklungsgeschichte" wäre
als Einleitung eine Übersicht über die Prinzipien
der wissenschaftlicJien Weltanschauung voraus-
zuschicken. Dann kämen der Reihe nach Himmels-
kunde, Erdkunde, Lebenskunde und Gesellschafts-
kunde als Entwicklungswissenschaften bearbeitet,
N. F. III. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
745
also als Entwicklungsgeschichten des Himmels, der
Erde, des Lebens und der Gesellschaft.
Die Entwicklungsgeschichte des Himmels
hätte die kosmologischen Aggregate zu behandeln
I. vom mechanischen Gesichtspunkte und zwar
nach einer Einleitung über den Fixstern-
himmel
A) als Entwicklungsgeschichte des Son-
nensystems als Ganzes genommen,
innerhalb des Milchstraßennebels;
B) als Entwicklungsgeschichte des Son-
nensystems in seinen Teilen: Sonne,
Planeten und Monde, Kometen und
Meteoriten.
II. Vom physikalischen Gesichtspunkte als Ent-
wicklungsgeschichte des Sonnensystems und
seiner Teile bezüglich des Aggregatzustandes.
III. Vom chemischen Gesichtspunkte als Ent-
wicklungsgeschichte der kosmischen Aggre-
gate, insbesondere des Sonnensystems be-
züglich der chemischen Beschaffenheit. Hier-
bei wären die Theorien von der Entwick-
lung der Elemente, wie Lockyer's Hypothese
vom Vorkommen der leichtesten Elemente
auf den heißesten Gestirnen, Mendelejefif's
periodisches System und andere mehr zur
Sprache zu bringen; ferner die chemische
Entwicklung innerhalb des Sonnensystems
vom Anfangszustande isolierter Elemente
über den mittleren Zustand endothermer
bis zum Endzustand exothermer Verbin-
dungen.
Die Entwicklungsgeschichte der Erde hätte
die geologischen Aggregate zu behandeln
I. vom mechanischen Gesichtspunkte
A) als Entwicklungsgeschichte der Erde
als Ganzes genommen innerhalb des
Sonnensystems ;
B) als Entwicklungsgeschichte der Massen-
teile der Erde. Hierbei wäre zur
Sprache zu bringen die Entwicklungs-
geschichte der Atmosphäre, der Erd-
oberfläche, der Erdkruste und des
Erdinnern.
II. Vom physikalischen Gesichtspunkte als Ent-
wicklungsgeschichte der Erde und ihrer
Massenteile bezüglich des Aggregatzustandes.
III. Vom chemischen Gesichtspunkte. Hier wäre
insbesondere innerhalb der organischen
Chemie die Entwicklung von den einfachsten
organischen bis zu den zusammengesetztesten
organisierten Verbindungen zu berücksich-
tigen.
Die Entwicklungsgeschichte des Lebens hätte
die biologischen Aggregate zu behandeln. Sie um-
faßt die Zellenkunde als P~ntwicklungsgeschichte der
Zelle und die Organismenkunde als Entwicklungs-
geschichte des Pflanzen- und des Tierreiches, als Pflan-
zen- und Tierkunde. Innerhalb der Tierkunde sondert
sich die Menschenkunde ab. Sie zerfällt in die
Entwicklungsgeschichte des menschlichen Organis-
mus und der Bewegungsvorgänge innerhalb des
menschlichen Organismus (Physiologie), seiner Be-
wußtseinsvorgänge (Psychologie) und der Wechsel-
beziehungen dieser Bewegungs- und Bewußtseins-
vorgänge (Psychophysiologie) ; endlich in die Ent-
wicklungsgeschichte der bewußten Bewegungsvor-
gänge des Organismus selbst, als Entwicklungs-
geschichte des menschlichen Handelns. Diese
letztere hat zum Gegenstand die Keime der natür-
lichen, sozialen und politischen Vereinheitlichungen
des genus homo und, in der Kulturgeschichte
I. Teil, die Anfänge der Kulturentwicklung in den
Beziehungen des einzelnen Menschen zur Natur
(Urproduktion, Technik, Kunst, Religion, Wissen-
schaft) und zu anderen einzelnen Menschen (Sprache,
Unterricht, Krieg, Handel und Verkehr, Sitte, Recht
und Moral).
Die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft
hätte die soziologischen Aggregate zu behandeln.
Sie umfaßt insbesondere die Volkskunde und die
Menschheitskunde als Entwicklungsgeschichte der
Völker und der Menschheit. Die Volkskunde be-
handelt zunächst die Entwicklung des Volkstypus
in physischer, psychischer und psychophysischer
Beziehung; ferner die Entwicklung der natürlichen,
sozialen und politischen Vereinheitlichungen inner-
halb des einzelnen Volkes; endlich, als Unter-
abteilung der Kulturgeschichte IL Teil, die Ent-
wicklung der Beziehungen des einzelnen Volkes
zur Natur und der Wechselbeziehungen der
Individuen innerhalb des einzelnen Volkes.
Die Menschheitskunde behandelt zunächst die
Sonderung des genus homo in Rassen und Völker-
familien und die dabei sich ergebenden Typen in
physischer, psychischer und psychophysischer Be-
ziehung; ferner die Entwicklung der natürlichen,
sozialen und politischen Vereinheitlichungen inner-
halb der Menschheit; endlich, im III. Teile der
Kulturgeschichte, die Entwicklung der Beziehungen
der Menschheit zur Natur und der Wechselbe-
ziehungen der einzelnen Völker innerhalb der
Menschheit.
Kleinere Mitteilungen.
Zur Physiologie des Schwimmens hat R
du Bois-Reymoiid in Nr. 25 der Naturwiss
Rundschau (1904, 23. Juni) einen Aufsatz veröfifent
licht, aus dem einige Daten hier folgen. Unter
den Wirkungen des Bades seien zuerst die kalo
rischen genannt. Ein nicht langer Aufenthalt in
kaltem Wasser entzieht dem Körper dieselbe
Wärmemenge, die er in etwa isfacher Zeit durch
Luft verliert. Um diese Wärmemenge wieder zu
ersetzen, muß stärkere Verbrennung im Körper
stattfinden, also wird der Stoffwechsel schon hier-
durch lebhaft erregt.
746
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 47
Eine fernere Wirkung des Bades ist die Ein-
wirkung auf das Atmen. Um mit einem Atem-
zuge etwa einen halben Liter Luft aufzunehmen,
muß dieselbe Wassermenge aus ungefähr einem
viertel Meter Tiefe verdrängt werden ; um der
Kältewirkung des Bades zu begegnen, oder die
Anstrengung des Schwimmens auszugleichen, wird
aber viel tiefer eingeatmet, so daß schon durch
das Atmen eine lebhafte Anstrengung hervor-
gerufen wird. Man fühlt sie indirekt dadurch, daß
die Rückenlage, bei der die durch das Atmen be-
wegten Körperteile hochliegen, merkliche Erleich-
terung schafft. Auch daß Kinder ängstlich wer-
den, wenn ihnen das Wasser über die Brust steigt,
dürfte zum größten Teil daran liegen, daß ihnen
das Atmen erschwert wird.
Zu diesen beiden Anstrengungen, die das
Baden dem Körper bereitet, kommt endlich als
die größte noch die Bewegung beim Schwimmen.
Erstlich ermüdet man schon, wenn man in der
Luft die Beine in dem Tempo des Schwimmens
hochzieht und fallen läßt; viel höher steigt aber
die Arbeit, wenn diese Bewegung gegen den
Widerstand des Wassers ausgeübt wird, und wenn
sie so schnell erfolgt, daß der Widerstand des
Wassers gegen den schnell gestoßenen Fuß größer
ist als der Widerstand gegen den viel größeren
Körper.
Messungen über alle diese Größen sind nur
schwierig oder gar nicht zu erhalten. Um z. B.
einen Anhalt für die zur Fortbewegung beim
Schwimmen nötige Arbeit zu haben, hat man
einen Menschen mit einem Boot durch das Wasser
gezogen und mittels eines Dynamometers die
Spannung des Seiles und daraus die erforderliche
Kraft und Arbeit gemessen. Selbstverständlich
bekommt man aber auf diese Weise nur eine
untere Grenze, die beim Schwimmen sehr erheb-
lich überschritten wird. Jedenfalls ist die infolge
der Abkühlung, der erschwerten Atmung und
der starken und schnellen Bewegung hervorge-
rufene Anstrengung des ganzen Körpers und be-
sonders des Herzens, das dem gesteigerten Stoff-
wechsel dienen muß, sehr groß; und es ist nicht
zu verwundern , daß so leicht bei ungeübten
Schwimmern das Herz plötzlich versagt und dem
Schwimmer die Kraft fehlt, sich weiterzuhelfen.
Ebenso folgt aus den Ausführungen von du Bois-
Reymond aber auch , daß das Schwimmen nicht
unter allen Umständen gesund ist, sondern daß
jeder, der sich nicht nach seinen Kräften richtet,
sein Herz sehr schädigen kann. A. S.
Die Fauna des Baikalsees. — Eines der in
tiergeographischer und geophysikalischer Beziehung
am heißesten umstrittenen Objekte stellt seit
Humboldt 's und Pallas' Diskussion der „Re-
likten" und besonders seit der klassischen Mono-
graphie Richard Credner's (Die Reliktenseen,
1887) der merkwürdige Baikalsee dar. Sind
doch hier die faunistischen Verhältnisse schon
deshalb von größter biologischer Bedeutung, als
wir es hier nach den Forschungen von Credner
mit einem der ältesten Süßwasserbecken zu tun
haben, das seit dem Zurückfluten des Devon-Meeres
niemals wieder mit dem Ozean in Verbindung
gestanden hat. So haben denn die von Micha-
elsen kürzlich veröffentlichten Betrachtungen
über „die Fauna des Baikalsees", die sich auf ein
sehr vollständiges Material stützen, zu sehr be-
achtenswerten Resultaten geführt. Ein ganz auf-
fallender Reichtum an zweifellos marinen Orga-
nismen und eine ebensosehr auffallende ungewöhn-
lich große Anzahl von Arten, die gewisse im See
auftretende Süßwasserformen erreiciien, charakte-
risiert das faunistische Bild.
Marin sind z. B. der bekannte Seehund des
Baikalsees, ferner einige Fische, Schnecken, Bryo-
zoen, Würmer und Schwämme. Besonders merk-
würdig ist der ausgesprochen arktische Ciiarakter
eines Teiles dieser ursprünglich marinen Tier-
formen. So ist der erwähnte Seehund des Baikal-
sees der hochnordischen Phoca annellata nahe
verwandt und auch die Mollusken, vor allem die
opisthobranchiate Ancylodoris baicalensis, zeigen
zum Teil lebhafte Anklänge an nordische Formen.
Dasselbe gilt endlich in hohem Maße von den
durch Dybowski genauer erforschten Schwämmen
des Baikalsees. Einer davon, Lubamirskia baica-
lensis, ist noch jetzt in der Behringstraße heimisch.
Geradezu einzigartig ist aber der enorme Arten-
reichtum einiger Süßwassertiere. Man bedenke
nur, daß die bei weitem größte Arten-
zahl der Gattung Gamarus, nämlich un-
gefähr 300 Spezies, in ihrem Vorkom-
men ausschließlich auf den Baikalsee
beschränkt ist. Ähnlich, wenn auch nicht so
extrem, verhält sich der vom Baikalsee beherbergte
Reichtum an Tubificiden- und f.umbriculidenarten.
Dieser Artenreichtum und ebenso das beträcht-
liche geologische Alter, das den im Baikalsee
lebenden Gattungen teilweise zukommt, erklärt
sich folgendermal3en. Wie schon erwähnt wurde,
haben sich die geologischen Verhältnisse des Baikal-
beckens seit dem Devon nicht mehr verändert.
Die während dieses ganz enormen geologischen
Zeitraumes entstandenen Arten konnten sich also
fast ohne jede Störung durch konkurrierende ein-
wandernde Arten weiter entwickeln und differen-
zieren. Eingewandert sind nur, aber in verhältnis-
mäßig ziemlich spärlicher Zahl, jene marinen Tier-
formen. Diese stellen aber selbst wieder andern-
orts, in heute längst verschwundenen echten
Reliktenseen, dem Süßwasserleben angepaßte Or-
ganismen dar, die, dank ihrer späteren Invasion
in das uralte Baikalbecken, uns dort erhalten ge-
blieben sind. Dr. Wolff (Berlin).
Zu der in neuerer Zeit wiederholt und lebhaft
erörterten h^rage über das Orientierungsvermögen
der Honigbiene bringt L. Kat hariner ') einige
neue, auf Experimenten beruhende Beiträge. Auf
■) Biolog. Zentralblatt. Ed. 23. 1903.
N. F. m. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
747
a
der Plattform eines Hauses standen 2 Bienenstöcke,
von denen der eine einen dunkelgrünen, der andere
einen chromgelben Anstrich besaß, die aber im
übrigen einander völlig gleich waren. Die Ent-
fernung zwischen beiden Stöcken betrug 1,3 m,
in dem gelben befand sich ein Bienenvolk seit
drei Jahren, der grüne dagegen stand seit einem
Jahre leer. Es wurden nun dem gelben -Stocke
10 Brutwaben entnommen und in den grünen
Kasten gehängt, sodann der grüne Kasten auf dem
Platz des gelben aufgestellt und letzterer nach
rechts verschoben (vgl. Fig. a und b). Die Flug-
Srrün
ffefb
I jetzt '
' ieerer
Stellung der Bienenstöcke.
a vor der Teilung des gelben Stockes, i nach der Teilung.
bienen, welche während des nur 20 Minuten in
Anspruch nehmenden Umhängens und Umstellens
ausgeflogen waren und mit reicher Tracht heim-
kehrten , flogen nun keineswegs , wie es Bethe's
„unbekannte Kraft" voraussetzt, an den alten
Standort zurück, sondern direkt in den alten Stock
am neuen Ort. Allmählich stellte sich ein Zu-
stand ein , bei dem gleich viel Bienen zu beiden
Stöcken flogen, am folgenden Morgen aber hatte
sich der größere Teil (etwa -'.5) wieder dem alten,
gelben Stocke zugewandt. Weiter wurden je ein
Dutzend Bienen vom gelben Stocke weiß, vom
grünen rot gezeichnet und diese in 200 m Ent-
fernung fliegen gelassen. Nach einer Stunde waren
zu dem gelben Kasten 7 weiße und 3 rote, zu
dem grünen i weiße und i rote Biene zurück-
gekehrt. Am folgenden Tage wurden wieder je
15 von jedem Stocke gezeichnet und in 100 m
Entfernung freigelassen, nach ^.^ Stunde waren
zum gelben Kasten 10 weiße und 2 rote, zum
grünen i weiße und 6 rote zurückgekehrt. Schließ-
lich wurden die Stöcke maskiert, insofern der
grüne Kasten eine gelbe Pappscheibe auf der
Vorderseite erhielt, der gelbe dagegen eine grüne.
Nun erst trat eine Stauung der Bienen ein, sie be-
schrieben unregelmäßige Kreise in der Luft und
krochen erst nach längerem Zögern in den Stock ein.
Die große Rolle, welche der Gesichtssinn bei
der Orientierung der Honigbiene im Raum spielt,
geht aus diesen Experimenten wohl ohne weiteres
klar hervor. Zwar fliegt ein Teil der Bienen, der
altgewohnten Flugbahn automatisch nachgehend,
noch an den alten Standort, die Mehrzahl aber
ließ sich von ihren Sinnen leiten und flog zum
alten Stock, der ihnen durch seine gelbe P'arbe
und durch seine Stellung rechts von dem grünen
Kasten genügend charakterisiert war. Die Stauung
der Bienen bei der Maskierung der Stöcke erklärt
sich aus der veränderten gegenseitigen Lage von
gelb und grün. Auch die Lernfähigkeit der
Honigbiene konnte Verf. dartun, insofern die Bienen
bei einer Verschiebung des Stockes nach vorn
oder hinten denselben in kürzester Zeit aufzufinden
vermochten und ihm sodann unter Modifizierung
des Anfluges auf neuen Flugbahnen zustrebten.
Und endlich vermag Verf. noch über einen Fall
zu berichten, der zugleich noch für ein vorzüg-
liches Gedächtnis der Honigbiene spricht. Es
hatten Bienen in einem Zimmer einen Honigvorrat
entdeckt und waren zu Hunderten über denselben
hergefallen. Die Honignahrung wurde entfernt
und die Bienen selbst vertrieben, und doch kehrten
sie noch den ganzen folgenden Tag nach der ver-
meintlichen Nahrungsquelle in dem betreffenden
Zimmer zurück. J. Meisenheimer.
„Über die Widerstandsfähigkeit der Bak-
teriensporen gegenüber dem Lichte" liegt eine
Arbeit von H. Jansen vor (Mitteilungen aus
Finsens medicinske Lysinstitut. 4. Heft). Bei den
meisten der über die bakterientötende Fähigkeit
des Lichtes angestellten Untersuchungen kamen
sporenlose Bakterienformen zur Anwendung, bei
den gleichzeitig oder ausschließlich mit Sporen aus-
geführten Versuchen wurden Vergleiche zwischen
Sporen und vegetativen Formen meist unterlassen
und nur folgende Forscher traten dieser PVage
näher.
Arloing konstatierte, daß Milzbrandbazillen
in Bouillon bedeutend resistenter als Milzbrand-
sporen in Bouillon waren. Nur wenn er nach
dem Vorschlage von Straus die Sporen in destil-
liertem Wasser belichtete, stieg die Tötungszeit
stark, bis zu 16 — 30 Stunden, so daß sie fast an
die der Bazillen grenzte. Die Erklärung dieser
Erscheinung wurde durch Roux geliefert, welcher
nachwies, daß die während einer 3 — 4 stündigen
Sonnenbelichtung in Bouillon auftretenden, che-
mischen Veränderungen ein Auskeimen der Sporen
verhindern. Seine eigenen Versuche, bei welchen
ein Tropfen sporenhaltiger Milzbrandkultur auf den
Boden eines Reagensglases gebracht, letzteres zu-
geschmolzen und dem freien Sonnenlicht ausge-
setzt wurde, ergaben, daß die Sterilisation in diesem
Fall erst nach einer 29—54 Stunden langen Be-
lichtung eingetreten war, d. h. innerhalb eines
Zeitraumes, welcher größer war als der von
Arloing für die Abtötung von Bazillen angegebene
(25 — 30 Stunden). Während Gaillard keine ge-
748
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 47
Daueren Resultate bekam, konstatierte Pansini,
daß eingetrocknete Milzbrandsporen gegenüber dem
Sonnenlicht etwa achtmal so resistent sind wie
eine Bazillenkultur im hängenden Tropfen, und
Raspe, daß eine 24 stündige Milzbrandbazillen-
kultur, gleichgültig ob dieselbe in Bouillon oder
Wasser belichtet wurde, erheblich widerstands-
fähiger als die Sporen war, während nach M o -
mont Kulturen von Milzbrandbazillen in 2 — S^'.,
Stunden durch Sonnenlicht getötet wurden, was
bei in Wasser suspendierten Sporen erst nach
44 Stunden und bei eingetrockneten Sporen erst
nach 100 Stunden eintrat.
Kruse kam bei seinen 1895 angestellten Unter-
suchungen zu folgendem Ergebnis : „Im trockenen
Zustande widerstehen die Sporen dem I.ichte bei
weitem besser als die vegetativen Formen; in
Flüssigkeiten ist ein ähnlicher Unterschied nicht
zu bemerken."
Bei all diesen Versuchen, bei welchen als Licht-
quelle das Sonnenlicht diente, lag die Gefahr vor,
daß die Erwärmung durch das Sonnenlicht in Ver-
bindung mit der langen Versuchsdauer ein Aus-
keimen der Sporen während der Belichtung er-
möglichte.
Wie aus den bisherigen Untersuchungen her-
vorgeht, muß während der Versuche stets i ) e i n
Keimen der Sporen verhindert, 2) eine
Einwirkung der in dem umgebenden
Medium durch Licht entstandenen Gift-
stoffe ausgeschlossen und müssen 3) Sporen
und Bazillen desselben Bakteriums be-
nutzt, aber getrennt unter vollkommen
gleichen Verhältnissen belichtet wer-
den. Punkt I und 2 kommen für die von dem
Verfasser in dem Lichtinstitute ausgeführten Unter-
suchungen nicht weiter in Betracht, da bei den
dort vorhandenen Einrichtungen die Versuche
immer nur außerordentlich kurze Zeit dauern. Die
längsten Belichtungszeiten waren : in unkonzen-
triertem Lichte 21 Minuten, in konzentriertem
Lichte 5 Minuten (nur bei einzelnen speziellen Ver-
suchen durch Glas 30 Minuten). Dabei wurde die
Temperatur von 20 " nicht überschritten. Was
die Bildung toxischer Stoffe im Nährboden angeht,
so könnten solche vielleicht schon in minimaler
Menge bei kurze Zeit andauernder Belichtung ent-
stehen, jedoch nach einigen noch nicht veröffent-
lichten Versuchen von Dr. Bie bedarf es einer
längeren Zeit und starken Lichtes, bis die Menge
dieser Giftstoffe so groß ist, daß ihr eine Be-
deutungbeizumessen ist. Zur vollkommenen Sicher-
stellung dieses Punktes wurden vom Verfasser
noch einige Kontrollversuche angestellt, aus welchen
hervorgeht, daß bei des Verfassers Versuchen eine
Einwirkung durch veränderte Nährsubstrate nicht
nachzuweisen war.
Zu Versuchsobjekten dienten von Bacillus
anthracis und Bacillus subtilis die vege-
tativen E'ormen und die Sporen. Die Ver-
suche selbst zerfallen in 2 Hauptgruppen, je
nachdem zu denselben unkonzentriertes
oder konzentriertes elektrisches Bogen-
licht benutzt wurde. Im ersten Fall wurde
eine gewöhnliche Kohlenbogenlampe verwandt,
welche mit 30 Ampere und 48 — 50 Volt brannte.
Der Abstand der Kultur von der Spitze der posi-
tiven Kohle betrug 60 cm. Die Temperatur des
die Kulturen, welche in einem von Bang zu ,, stufen-
weiser Belichtung" angegebenen Apparat sich be-
fanden, umgebenden Wassers war 20". Bei den
Arbeiten mit konzentriertem Licht wurde die vor-
her erwähnte Lampe benutzt, welche jetzt mit
25 Ampere und 48 — 50 \^olt brannte. Das Licht
wurde mittels eines kleineren Finsen-Konzentrations-
apparates mit 7 cm Durchmesser Frontlinse und
in einem 20 cm großen Abstände vom Licht-
bogen gesammelt. Im Lichtkegel, etwas hinter
dem Brennpunkte, dort, wo der Lichtfleck einen
Durchmesser von 1,6 cm hatte, wurde die Kultur
als hängender Tropfen angebracht und zwar ent-
weder in der gewöhnlichen feuchten Kammer auf
ein aus Quarz bestehendes Deckglas oder in kleinen
offenen Schalen auf der Innenseite des Bodens,
dessen Außenfläche im Lichtkegel nach oben ge-
richtet war.
Durch die Untersuchungen des Verfassers sollte
nun folgendes festgestellt werden :
I. Ob die Sporen des Bac. anthracis in feuchtem
Zustande mehr oder weniger widerstandsfähig
gegenüber dem Lichte sind als die Bazillen.
II. Zu welchem Zeitpunkte der Keimung die
größere Resistenz der Sporen verloren geht.
III. Ob trockene Sporen mehr oder weniger
widerstandsfähig gegenüber dem Lichte sind als
feuchte.
IV. Ob die Sporen ebenso wie die vegetativen
Formen vorzugsweise von den ultravioletten Strahlen
getötet werden.
Als Appendix
V. Die Resistenzverhältnisse für die Sporen des
Bac. subtilis.
I. Bei den Untersuchungen, ob die
Sporen des Bac. anthracis in feuchtem
Zustande mehr oder weniger wider-
standsfähig gegenüber dem Lichte sind
als die Bazillen, kam Verfasser zu folgenden
Resultaten :
Bei der Verwendung unkonzentrierten
Lichtes lag die absolute Tötungszeit für
die Sporen niemals unter 20 Minuten und betrug
durchschnittlich 27 Minuten. Für die Milzbrand-
bazillen war die absolute Tötungszeit im Durch-
s c h n i 1 1 8 '/g Minuten, sie ging indessen bei voll-
kommen sporenfreien, jungen Kulturen der Bazillen
aus dem Blute auch auf 7 Minuten hinab. 12 — 24
Stunden alte Bazillen ließen sich etwas schwieriger
als junge Bazillen oder Bazillen aus dem Blute
abtöten. Überhaupt stieg die absolute
Tötungszeit mit dem Alter der Kulturen,
ein Umstand, welcher seinen Grund darin hat,
„daß in den Kulturen nach und nach einzelne
widerstandsfähigere Individuen entstehen , mög-
licherweise Sporen, möglicherweise nur Bazillen
N. F. m. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
749
mit sporogenem Kern." Ein Vergleich der für
Sporen und Vegetativformen gefundenen Ergebnisse
zeigt, daß die Sporen des Bac. anthracis
unter diesen Verhältnissen 3 — 4 mal so
widerstandsfähig gegenüber dem Lichte
sind als die dementsprechenden vege-
tativen Formen. Die Versuche in konzen-
triertem Licht mit hängendem Tropfen er-
gaben ein dem vorigen ähnliches Resultat. Bei
einem Teil derselben wurde die Sporenaufschwem-
mung vor dem Gebrauche auf jo" in 5 Minuten
erwärmt. Es stellte sich heraus, daß die er-
wärmten Sporen schneller, nämlich durchschnitt-
lich in 94 Sekunden, abgetötet wurden wie die
unerwärmten, bei welchen dazu 142 Sekunden
nötig waren. Für die Milzbrandbazillen kam eine
durchschnittliche Tötungszeit von 37,5 Sekunden
heraus. Die Widerstandsfähigkeit der
unerwärmten Sporen ist im allgemei-
nen 5 bis 6 mal so groß als die der Ba-
zillen.
II. Die Untersuchungen, zu welchem
Zeitpunkte der Keimung die spezifische
Resistenz der Sporen verloren geht,
wurden in der Weise angestellt, daß von zwei
Bang'schen mit Sporenemulsion versehenen Be-
lichtungsschalen die eine sofort, die andere erst
nach 2 — 3 stündigem Verweilen im Thermostaten
bei 36 " mit unkonzentriertem bzw. konzentriertem
Licht belichtet wurde. Dieselben führten zu fol-
gendem Ergebnis:
„Die Sporen verlieren einen Teil ihrer
spezifischen Resistenz, sobald sie zu
keimen beginnen, schon zu einer Zeit,
wo keine deutliche Veränderung zu
sehen ist."
III. LTntersuchungen, ob die Sporen
in trockenem Zustande mehr oder
weniger widerstandsfähig gegenüber
dem Lichte sind als im feuchten.
Gegenüber den Resultaten anderer Untersucher
konnte Verfasser konstatieren, daß, während bei Be-
lichtung eines Tropfens Sporenemulsion in Bouillon
mit konzentriertem Lichte die Tötungszeit 2^2 bis
3 Minuten betrug, nach Eintrocknen des Tropfens
bei derselben Art der Belichtung die Tötungszeit
nur I Minute und, hatte die Eintrocknung einige
Stunden gedauert, sogar nur ^/^ — V» Minute lang
war. Den Grund für diese Differenz hat man
wohl in der Eintrocknung als solcher oder in den
veränderten optischen Verhältnissen zu sehen. Nach
dieser Richtung hin angestellte Versuche ergaben,
daß eine kurze, bis zu einer Viertelstunde dauernde
Eintrocknung keine schädliche Einwirkung hatte,
d. h. eine Abnahme der Tötungszeit nicht nach
sich zog, daß dagegen eine längere Eintrock-
nung die Tötungszeit verkürzte. Dem-
nach mußten andere Umstände dabei mitwirken,
wenn schon bei nur kurze Zeit eingetrockneten
Sporen eine erhebliche Abnahme der Tötungszeit
gefunden wurde, und zwar liegt die Wahrschein-
lichkeit vor, daß, wie aus besonderen mit Staphylo-
coccus pyogenes aureus ausgeführten Versuchen
hervorgeht, das Eintrocknen für die Ab-
tötung günstigere optische Zustände
schafft. Zum Vergleiche mit trockenen Bazillen
angestellte Versuche zeigten, daß die Resistenz
derselben nur etwa ein Drittel von derjenigen der
Sporen ausmachte. Das Ergebnis ist also: daß
die eingetrockneten Sporen des Bac.
anthracis in jedem Falle nicht wider-
standsfähiger sind als die feuchten und
bei lange Zeit dauernder Eintrocknung
unzweifelhaft weniger resistent sind.
IV. Untersuch ungen, ob die Sporen
ebenso wie die vegetativen Formen vor-
zugsweise von den ultravioletten Strah-
len getötet werden.
Es darf als erwiesen gelten, daß die äußeren
ultravioletten Strahlen mit einer kürzeren Wellen-
länge als 300 /(/( gegenüber den sporen losen
Bakterienformen die bei weitem wirksamsten sind.
Es wäre nun wohl denkbar, daß eine größere
Resistenz der Sporen besteht und diese auf eine
geringere Einwirkung der ultravioletten Strahlen
zurückzuführen ist, älinlich wie nach Dreyer's (cf
Mitteilungen S. 106) Funden auch die Amöben-
cysten dem ultravioletten Lichte gegenüber weniger
empfindlich, resistenter sind als amöboide Formen.
Die Versuche führten zu dem iLrgebnis, daß die
ultravioletten Strahlen relativ ebenso
sehr aufBakteriensporen wie auf Bazillen
wirken, daß dem Anscheine nach die Sporen
sogar noch etwas sensibler gegenüber den ultra-
violetten Strahlen sind als Bazillen, in jedem Falle
in trockenem Zustande.
V. Aus den Versuchen mit Bacillus subtilis
ging hervor, daß die Sporen dieses Bacillus
beträchtlich — ungefähr 7 mal — wider-
standsfähiger gegenüber dem Lichte
sind als die dementsprechenden vege-
tativen Formen. Dr. A. Liedke.
Kristallisierter Portlandzement. (Entgegnung.)
— In Nr. 37 dieser Zeitschrift wendet sich Dr.
Fiebelkorn gegen ein Referat von mir über dieses
Thema (Nr. 3 1 d. Zeitschr. S. 494 f ).
Durch Lechatelier's und Törneböhm's Arbeiten
wissen wir, daß der gewöhnliche Portlandzement-
Klinker, neben amorpher Schmelze, Mikrokristalle
enthält. Diese Kristalle lielSen sich jedoch nicht
isolieren. Es war daher unstreitig von großem
Interesse, als Direktor Grauer die Mitteilung
machte , daß es Dr. Schmidt und Unger in der
Zementfabrik Lauffen gelungen sei im elektrischen
Ofen einen Zement herzustellen , der nur aus
Kristallen bestand und zwar in solcher Größe,
daß sie kristallographisch bestimmt werden konn-
ten. Wie soll aber ein Zement, und um einen
solchen handelt es sich doch, welcher aus Kristallen
besteht, anders als mit dem Ausdruck „kristallisiert"
bezeichnet werden rl Durch diese Bezeichnung
eines rein physikalischen Zustandes wird die
Frage nach der chemischen Zusammensetzung
750
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 47
gar nicht berührt. Nebenbei sei bemerkt, daß die
Ansicht, der Portlandzement bestehe im wesent-
lichen aus Tricalciumsilikat, durchaus keine be-
wiesene Tatsache ist. Über die Grundfragen der
Zusammensetzung des Zements herrscht über-
haupt noch große Unklarheit. Hat doch erst
kürzlich das preußische Ministerium der öffent-
lichen Arbeiten ein umfassendes Preisausschreiben
über diese Fragen erlassen. (Preis 1 5 ooo Mk.,
Lösungstermin 1906.)
In seinem Kampfe gegen den kristallisierten
Zement führt Dr. P'iebelkorn den Granit ins Feld
und sagt, das Tricalciumsilikat kristallisiere geradeso
aus der geschmolzenen Masse heraus, „wie etwa
Feldspatkristalle in Hohlräumen im Granit aus-
kristallisieren". Ferner „von kristallisiertem Port-
landzement könne ebensowenig die Rede sein,
wie von kristallisiertem Granit." Zunächst scheint
Dr. Fiebelkorn der Ansicht zu sein, daß der Feld-
spat in Hohlräumen im Granit vorkomme , also
sozusagen nur ein akzessorischer Bestandteil des
Granites sei, was aber natürlich gar nicht zutrifft
(höchstens beim Albit). Nach den Analysen von
Streng und Rammeisberg macht der Feldspat ca.
60 — 80 "/o des Granites aus, ja es gibt Granite,
welche fast ganz aus Feldspat bestehen. Daß
man ein solches Gestein , auch abgesehen von
seinen anderen Bestandteilen, die ja mit Ausnahme
des Quarzes (der im Granit nur selten deutlich
kristallisiert vorkommt), ebenfalls kristallinisch sind,
kristallisiert nennt, ist doch selbstverständlich.
Man spricht allerdings nicht von einem „kristalli-
sierten Granit", ebensowenig wie man von einem
„kristallisierten Kristallgemenge" reden wird. Ferner
würde die Bezeichnung „kristallisierter Granit" auch
voraussetzen lassen, daß es einen nicht kristalli-
sierten Granit gäbe. Bei dem Zement ist dies ja
auch in der Tat der Fall. Erst durch die inter-
essanten elektrischen Schmelzversuche von Dr.
Schmidt und Unger hat man ein deutlich kristalli-
siertes Produkt erhalten , was also im Gegensatz
zu dem nicht kristallisierten, oder nur mikro-
kristallinischen Zement, mit Recht als kristalli-
sierter Zement bezeichnet werden kann.
Dr. Odernheimer.
"Wetter-Monatsübersicht.
Während des diesjährigen Juli herrschte in ganz Deutsch-
land sehr viel Sonnenschein, oft auch für den Hochsommer
übermäßig starke Hitze und ganz ungewöhnliche Trockenheit.
Die in der beistehenden Zeichnung dargestellten Maximal-
temperaturen überschritten im ebenen Binnenlande wieder-
liolentlich 30'' C. In den meist klaren Nächten kühlte sich
die Luft allerdings gewöhnlich ziemlich stark ab, nur am 16.
und 17. blieb die Temperatur in manchen Gegenden Tag und
Nacht über 20" C. Am Nachmittage des 16. erreichte das
Thermometer in Berlin, Magdeburg, Frankfurt a. M. und
vielen anderen Orten 36" C, einen so hohen Stand, wie
er hier seit dem 20. Juli 1865 nicht mehr vorgekommen
ist. .^uch die mittlere Temperatur dieses Tages, die in P>er-
lin 28,4" C betrug, ist innerhalb der letzten 56 Jahre hier nur
zweimal übertreffen worden. Bald darauf erfolgte überall
eine starke Abkühlung, in der Nacht zum 20., wie schon vor-
her am 13., bildete sich an einzelnen Stellen in Ostpreufsen,
Westpreufsen, Schlesien und Hannover Reif. Aber um
den 24. und ebenso in den letzten Tagen des Monats herrschte
wieder allgemein sehr heißes und schwüles Wetter. Weil die
Hitze in Norddeutschland an den meisten Tagen nur wenige
Stunden anhielt, wurde im Monatsmittel die Normaltemperatur
nur im Süden wesentlich übertroffen. Dagegen war das Über-
maß an Sonnenstrahlung allgemein sehr groß. Beispielsweise
hat in Berlin die Sonne an 330 Stunden geschienen, durch-
schnittlich an jedem Tage 3 Stunden länger als im Durch-
schnitt der letzten 12 Julimonate.
Tßmperaftirj/VVaxima sinigor Orfc im 3ufi 190^ .
t.Juli ' 6. II. 16.*' i\- ^ "•
....Breslau.,...' y I •'. "' l..-.-'
27'
Bwliner Werterbureau.
Das hervorstechendste Merkmal des vergangenen Juli war
sein beispielloser, äufserst folgenschwerer Mangel an
Regen. Zwar die ersten 6 Tage des Monats brachten , wie
unsere zweite Zeichnung ersehen läßt, wenigstens dem mittle-
ren Küstengebiete ziemlich ergiebige Regenfälle, die dort, wie
C CT)
'fKie<{ci:öc^fa^'^ö^cn im Sufi 1904.
"s>S A 4<S ^ /WifHeperWerlfup
Deulschland.
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tinii I I 1 I I — I I I 1 I I 1 I >l I I I
20 ■=■- Ibis 6. Juli.
MonatssummeirnJulf
03.02.01. 00.1839.
e^ ßerlinerWclterbureau..
in Thüringen und Süddeutschland, von einzelnen Hagelschlägen
begleitet waren. Aber in der langen Zeit vom 7. bis 24. Juli
gab es nur seltene Gewitterregen, und auch deren Wasser-
mengen waren an den meisten Orten nicht groß. Der schon
in den Monaten vorher ungenügend durchfeuchtete Erdboden
dörrte mehr und mehr aus. Alles Wachstum geriet in Still-
stand, Sommergetreide, Hackfrüchte und Gemüse litten stark,
Wiesen brannten völlig aus, so daß eine immer größere Futters-
not entstand. Zu diesen schweren Schädigungen auf dem
N. F. m. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
751
Lande, durch die der Viehbestand am meisten in Schlesien
gefährdet zu sein scheint , kam eine auUerordentliche i'>nie-
drigung des Wasserstandes aller Flüsse hinzu. Die Mittelelbe
und Saale waren schon um Mitte des Monats auf den nie-
drigsten Stand seit 1811 gesunken, so daß ein regelmäßiger
Schiffahrtsverkelir sicli nicht mehr aufrecht erhalten ließ.
Auch die stärkeren Regenfälle der letzten Juliwoche, die
durcli einen orkanartigen Sturm in Südwestdeutschland am
24. eingeleitet wurden, konnten nicht mehr viel verbessern,
zumal da sie durch zu viele Stunden mit klarem Himmel
unterbrochen wurden und noch vor Schluß des Monats gänz-
lich aufhörten. Die gesamte Menge der Niederschläge betrug
für den Durchschnitt der berichtenden Stationen 29 mm, wäh-
rend die gleiclien Stationen im Mittel der letzten dreizehn
Julimonate 81 '/2 mm ergeben haben. Selbst der bisher
trockenste Juli, der des Jahres 1892, hat inmier noch 50 mm
Hegen geliefert.
*
Wie es bei anhaltender Trockenheit gewöhnlich ist, wur-
den die Witterungsverhältnisse auch im letzten Juli im all-
gemeinen durch barometrische Maxima beherrscht. Ein
Maximum , das am Anfang des Monats in Südfrankreich er-
schien , drang langsam nach Mitteleuropa vor. Gleichzeitig
wurde der Norden von mäßig tiefen Barometerdepressionen
durchzogen, so daß bei uns ziemlich schwache, aber feuchte
Südwest- und Westwinde wehten. Gegen Mitte des Juli rückte
der höchste Luftdruck weiter nach Osten. Damit gleichzeitig
gingen auch die Winde iu Deutschland, wie in ganz Mittel-
europa, nach Osten über und trugen durch ihre ungemeine
Trockenheit viel zur Steigerung der Hitze bei.
Durch ein am 17. Juli in Nordskandinavien erschienenes,
tieferes Minimum, das mit weit verbreiteten Regenfällen lang-
sam durch Rußland hindurchschritt, wurde das Hochdruck-
gebiet nach Westen zurückgedrängt. Die Winde drehten sich
bei uns nach Nordwest, und es trat eine allgemeine Abkühlung
ein. Aber seit dem 23. befand sich der höchste Luftdruck
wiederum gewöhnlich in Mitteleuropa. Durch England und
die Umgebung der Nordsee wanderten flache Depressionen,
so daß das frühere heiße, wenn auch nicht mehr ganz so
trockene Wetter bald zurückkehrte. Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. M. Delbrück, Geh. Regierungsrat und Dr.
A. Schrohe, Regierungsrat. Hefe, Gärung
und Fäulnis. Eine Sammlung der grundlegenden
Arbeiten von Schwann, Cagniard Latour
und K ü t z i n g , sowie von Aufsätzen zur Geschichte
der Theorie der Gärung und der Technologie der
Gärungsgewerbe. Mit 14 Textabb. u. 6 Porträts.
Berlin (Paul Parey) 1904. Preis: 6 M.
Die vorstehende Sammlung ist sehr verdienstlich.
Bei der Fülle der Literatur und dem Ineinandergreifen
der Disziplinen, das es erforderlich macht auch ge-
wisse Veröftentlichungen zu kennen, die nicht zum
Spezialfach gehören, sind Zusammenstellungen wich-
tiger Mitteilungen über ein bestimmtes Gebiet sehr
willkommen. An den Quellen zu schöpfen ist für
jeden Forschenden unerläßlich und die von Delbrück
und Schrohe gebotenen Quellen zum Gegenstande sind
gut ausgewählt. Es wäre gewiß vielen, die das Buch
benutzen werden, wünschenswert gewesen, auch eine
Zusammenfassung über den Gegenstand aus der
Feder der Herausgeber zu haben, die kurz die wesent-
lichen Resultate wiedergibt; die einleitenden Bemer-
kungen zu den abgedruckten Aufsätzen sind immer-
hin ein gewisser Anfang dazu. P.
der Feuerberge im Lichte der neueren Anschauungen,
für die Gebildeten aller Stände in gemeinfaßlicher
Weise dargestellt. Berlin, Verlagsbuchhandlung von
Alfr. Schall.
Die Ursachen für die gewaltigen Phänomene des
Viükanismus im weitesten Sinne haben wir in den
Tiefen des Erdinnein zu suchen. Nun sind uns aber
von den 6377 km des Erdhalbmessers in dem tiefsten
Bohrloch nur 2 km, d. h. kaum mehr als die Erd-
oberfläche, aus eigener Anschauung bekannt. Wir
können zwar das spez. Gewicht der Erde bestimmen
und die Wärmemengen messen, die zu uns herauf-
dringen, aber die Schlußfolgerungen, die wir daraus
ziehen, und die Vorstellungen, die wir uns vom Erd-
innern und seinen Beziehungen zu den vulkanischen
Erscheinungen der Oberfläche zu machen suchen, sind
doch nur mehr oder minder wahrscheinliche Vermu-
tungen und Hypothesen. Der Verf. stellt nun in
seinem Werke das überreiche Material an dahingehenden
Hypothesen, E.xperimenten und Beobachtungen in über-
sichtlicher Anordnung zusammen und gibt so einen
klaren Überblick über den gegenwärtigen Stand unseres
Wissens und Glaubens auf diesem Gebiete. Das
Schlußkapitel ist den jüngsten Ereignissen auf den
Antillen und ihren Ergebnissen für die Forschung ge-
widmet. Die Verteilung der zahlreichen Photographien
und schematischen Abbildungen entspricht leider nicht
der Anordnung des Te.\tes. Edw. Hennig.
Frederick A. Cook, Die erste Polarnacht
1898 — 1899. Kösel, Kempten 1903.
Cook war Arzt der belgischen Südpolar-Expedition,
welche , halb unfreiwillig , zum ersten Male in der
Antarktis überwinterte. Sein Reisewerk, dessen eng-
lisches Original mir manche Stunde auf dem „Gauß"
vertrieben hat , liegt nun auch in deutscher Über-
setzung vor. Das Buch hat mich stets erfreut durch
seinen frischen Humor und durch seine Wahrhaftig-
keit , die nicht mit rosa Farbentönen wiederzugeben
sucht, was grau in grau war. Und daß dieser erste
Pülarwinter für die Männer auf der „Belgica", die für
ihn nur ungenügend vorbereitet waren, die von Krank-
heit und Tod heimgesucht wurden, oft hart genug
war, das dürfen wir dem Verfasser gern glauben.
Um so höher ist es anzuerkennen, daß die Gelehrten
der belgischen Südpolar-Expedition trotz aller Hinder-
nisse ein großes wissenschaftliches Programm durch-
geführt haben, über das sie am Schlüsse des Werkes
im Auszuge berichten. Zahlreiche, meist recht gute
Abbildungen , auf denen auch die eigenartige Fauna
des Südpolar - Gebietes vortrefflich dargestellt ist,
schmücken das Werk. Dr. E. Philippi.
Dr. phil. Hippolyt Haas, Prof. a. d. Hochschule zu
Kiel; „Der Vulkan", die Natur und das Wesen
Literatur.
Eder, Hofr. Dir. Dr. J. M., u. L. Valenta, Proff. : Beiträge
zur Photochemie u. Spektralanalyse. Enth. 5 Teile mit 93
lUustr. im Texte u. 60 Taf. (Xlll, 425; 174, 167, 30 und
51 S.) 4°. Wien, R. Lechner's Sorl. in Komm. — Halle
'04, W. Knapp in Komm. — Geb. in Leinw. 25 Mk.
Eleutheropulos, Priv.-Doz. Dr. A. : Soziologie. (XI\^, 196 S.)
Jena '04, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 2,60 Mk. ; Einzelpr.
3,25 Mk. ; Einbd. i Mk.
752
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 47
Fritsch, Prof. Dr. Karl: Die Keimpflanzen der Gesneriaccen
m. besond. Berücksicht. v. Streptocarpus , nebst vergleich.
Studien üb. die Morphologie dieser Familie. (IV, 188 S.
m. 38 Abbildgn.) gr. 8". Jena '04, G. Fischer. — 4,50 Mk.
Michaelis, Curt: Prinzipien der natürlichen u. sozialen Ent-
wicklungsgeschichte des Menschen. Anthropologisch-ethno-
log. Studien. (XI, 211 S.) Jena '04, G.Fischer. — Subskr.-
Preis 2,80 Mk, ; Einzelpr. 3,50 Mk. ; Einbd. I Mk.
Molisch, Dir. Prof. Dr. Hans: Leuchtende Pflanzen. Eine
physiol. Studie. (IX, 168 S. m. 14 Fig., 2 Taf. u. i Bl.
Erklärgn.) gr. 8°. Jena '04, G. Fischer. — 6 Mk.
Nieuwenhuis, Dr. A. W. : Quer durch Borneo. Ergebnisse
seiner Reisen in den J. 1894, 1896 — 1897 und 1898— 1900.
Unter Mitarbeit von Dr. M. Nieuwenhuis — von U.xküll-
Güldenbandt. (2 Tle.) i. Tl. Mit 97 Taf. in Lichtdr.
u. 2 Karten. (XV, 495 S.) Le,\. 8°. Leiden '04, Buchh.
u. Druckerei vorm. E. J. Brill. — F"ür vollständig geb. in
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Reling, Präpar.-Anst.-Vorst. H. , und Gymn.-Lehr. J. Bohn-
horst: Unsere Pflanzen nach ihren deutschen Volksnamcn,
ihrer Stellung in Mythologie u. Volksglauben , in Sitte und
Sage, in Geschichte u. Literatur. Beiträge zur Belebg. des
botan. Unterrichts u. zur Pflege sinn. Freude in und an der
Natur, f. Schule u. Haus gesammelt u. hrsg. 4., verm. .\ufl.
(XVI, 416 S. 8». Gotha '04, E. F. Thienemann. — 4,60
Mk. ; geb. 5,50 Mk.
Wettstein, Dr. Rieh. R. v. : Vegetationsbilder aus Südbrasilien.
Mit 58 Taf. in Lichtdr., 4 färb. Taf. u. 6 Textbildern.
(55 S.) Lex. 8". Wien '04, F. Deuticke. — In Mappe
24 Mk.
Briefkasten.
Herrn E. K. in Reibersdorf. — Die von Ihnen einge-
sandten, im Wasser eines Schweinetroges gefundenen Tiere
sind sogenannte Rattenschwanzlarven oder Mäuschen.
Sie kommen nach J. R. Schiner (Fauna .austriaca; Die
Fliegen, Bd. 1, S. 332, Wien 1862), ,,in verwesenden vege-
tabilischen und animalischen Stoffen, in schmutzigen Wässern,
im Schlamme, in Senkgruben und dgl. Orten" vor. Die
große madenformige, mit einem- langen dünnen Schwanzanhang
versehene Larve verwandelt sich nach kurzer Puppenruhe in
eine sogenannte S c h 1 a m m f 1 i e g c [Erislalis). Schlammfliegen
findet man das ganze Jahr hindurch, besonders aber im Spät-
sommer, teils auf Blüten, teils vor den Fenstern der Viehställe.
Der Laie hält sie gewöhnlich für Bienen und in der Tat sind
sie nicht nur infolge ihrer kurzen braunen Behaarung und ihrer
dicken Hinterbeine, sondern auch in ihren Bewegungen und
in ihren eigenartigen Brummtönen einer Biene zum Verwech-
seln ähnlich. Der Kundige erkennt freilich leicht, daß er
Fliegen vor sich hat, da nur zwei Flügel vorhanden und die
Fühler kurz und wenigglicdrig sind, während die Bienen vier
Flügel und vielgliedrige, geknietc Fühler besitzen, wie ihre
abweichende Lebensweise es verlangt. In der Schlammfliege
haben wir einen der auffallendsten Fälle von Mimikry vor
uns und man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß
nicht nur Menschen, sondern auch manche Insektenfresser ge-
legentlich durch die Ähnlichkeit mit der stachelbewehrten
Biene getäuscht werden und daß den Schlammflicgen aus dieser
Ähnlichkeit also ein gewisser Vorteil erwächst. Natürlich ist
der Schutz, den eine solche .Ähnlichkeit gewährt, kein absoluter.
Werden doch auch die Bienen selbst von manchen Insekten-
fressern gefressen. — Was die eigenartige Bildung des schwanz-
artigen Anhanges bei der Larve anbetriftt, so handelt es sich
um ein Atmungsrohr. Den Endteil dieses am hinteren Körper-
ende befindlichen .•\nhanges sieht man aus der Flüssigkeit
hervorragen, während gleichzeitig das Vorderende des Körpers
in den tieferen Schichten derselben reichliche Nahrung findet.
Man erkennt also den Vorteil, den die Lage der Atmungs-
organe am hintern Köperende gewährt. Eine Atmung durch
Kiemen oder Tracheenkiemen ist bei Tieren, die in schmutzi-
gem, sauerstoffarmen Gewässer leben, ausgeschlossen. Die
P u p p e trägt ihre Atmungsorgane, in Form von zwei ohrartigen
Anhängen, am vorderen Körperende. Nahrungsaufnahme
findet im Puppenstadium nicht mehr statt ; jener .\nderung der
Lage steht also von dieser Seite aus nichts im Wege. Ande-
rerseits ist der Übergang der ausschlüpfenden Fliege in die
Luft im hohen Grade erleichtert, wenn die Puppe mit dem
Vorderende nach oben in den mehr oder weniger aus-
getrockneten Teilen der Schlammmasse ruht. Eine ähnliche
Wanderung der Atmungsorgane während des Überganges aus
dem Larven- in das Puppenstadium ist auch bei andern Zwei-
flüglern leicht zu beobachten. Der Grund ist überall derselbe.
Der Beobachtung besonders leicht zugänglich ist die Verwand-
lung der Stechmücke (Culex), da hier auch die Puppe beweg-
lich ist und sich frei an der Oberfläche des Wassers aufhält.
(Vgl. F. D a h 1 , Das Tierleben im deutschen Walde nach
Beobachtungen im Grunewalde, Jena 1902, S. 33.)
Dahl.
Herrn stud. rcr. nat. M. S. in München. — Frage;
Wie erklärt sich die Bräunung der Hautfarbe im
Sommer? — Durch den Einfluß des intensiveren Lichtes
und in geringerem Maße auch unter dem Einfluß der Wärme
bildet sich im Corium und in der Epidermis ein dunkles Pig-
ment. Dasselbe wird teils und in erster Linie von den Zellen
bereitet, teils ist es ein Umwandlungsprodukt des Hämoglobins.
Es hat wahrscheinlich die Aufgabe, einen Lichtschirm gegen
allzustarke Beleuchtung der inneren Organe zu bilden. —
Frage: Entsteht die Bräunung nur bei Einwirkung von direk-
tem Sonnenlicht oder auch bei diffusem Lichte? — Das Pig-
ment bildet sich bei jedem intensiven Lichte, wenn dasselbe
blaue und violette Strahlen enthält, auch bei elektrischem
Lichte. — Frage: Wie kommt es, daß manche Menschen
mehr dafür empfänglich sind als andere? — Teils handelt es
sich um individuelle Variationen, die bekanntlich fast in jeder
Beziehung bei allen Organismen vorkommen ; teils liegen
Rassenunterschiede vor, die wahrscheinlich durch die Lebens-
bedingungen in der ursprünglichen Heimat hervorgerufen sind.
— Frage: Wie läßt sich die Bräunung am besten verhindern ?
— Dadurch, daß man intensives Licht, namentlich aber die
wirksamen Strahlen durch Schirme , Schleier etc. abzuhalten
sucht. — Frage: Ist die Bräunung, wie man gewöhnlich
sagt, ein Zeichen von guter Gesundheit? — Wenn das der
Fall wäre, müßten die Südländer durchgehends gesunder sein
als die Nordländer. Die Sommerbräunung hängt mit der
Gesundheit nur insofern zusammen, als die gesunden Menschen
meist mehr hinauskommen. Gewisse Bräunungen sind sogar
pathologische Erscheinungen. Häufig handelt es sich dann
um Gallenfarbstoffe, doch keineswegs immer. Andererseits
deuten aber auch Gallenfarbstoffe in der Haut keineswegs
immer auf einen krankhaften Zustand hin. So nimmt man z.
B. an, daß die gelbe Hautfarbe der Chinesen etc. auf Gallen-
farbstoffe zurückzuführen sei. — Frage: Gibt es ein sicher
wirkendes, medizinisches oder kosmetisches Mittel zur Beseiti-
gung der allzu auffallenden Bräunung? — Die Beantwortung
dieser Frage fällt außerhalb des Rahmens einer naturwissen-
schaftlichen Zeitschrift. — Frage: Könnten Sie mir ein
Buch oder eine Abhandlung angeben, in welcher die gestell-
ten Fragen ausführlich und vom wissenschaftliclien Stand-
punkte aus behandelt sind? — Ein Aufsatz von H. Man-
doul: Recherches sur les colorations tegumentaires in den
Annales des sciences naturelles, 8. ser. Zool. T. 18 p. 225
bis 468, Paris 1903, behandelt den Stoff sehr vielseitig und
gibt am Schluß ein Verzeichnis der wichtigsten Literatur.
Dahl.
Inhalt: Dr. Berthold Weiß: Entwicklung. — Kleinere Mitteilungen: R. du Bois-Reymond: Zur Physiologie des
Schwimmens. — Richard Credner: Die Fauna des Baikalsees. — L. Kathariner: Orientierungsvermögen der
Honigbiene. — H. Jansen: Über die Widerstandsfähigkeit der Bakteriensporen gegenüber dem Lichte. — Dr. Odern-
heimer; Kristallisierter Portlandzement. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Prof. Dr. M. Del-
brück: Hefe, Gärung und Fäulnis. — Dr. phil. Ilippolyl Haas: Der Vulkan. — Frederick A.Cook: Die erste
Polarnacht. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pälz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Di6 NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 28. August 1904.
Nr. 48.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Kringcgeld bei der l'ost
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene l'efitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Ueilagen nach Übci-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
(I Gohlis, Blumenslraße 46, Buchhändlcrinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Einiges über die Pilze im Dienste von Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Bok
Wenn auch nur wenige Pilze eigens gezüchtet
werden behufs technischer Verwendung, und diese
erst seit relativ kurzer Zeit, so sind sie docli
von der allergrößten Bedeutung für verscjiiedene
wichtige Erzeugnisse menschlicher Tätigkeit und
dienen dem Menschen, ohne daß dieser es wußte,
seit Jahrtausenden bei der Herstellung der wich-
tigsten Nahrungs- und Genußmittel.
Wir können uns kurz fassen bezüglich der all-
gemein bekannten Anwendung der Hefe zur Bier-
fabiikation und in der Bäckerei.
Es gibt Bierhefe und Getreidehefe ; beide weiden
im gepreßten Zustande mit einem Wassergehalt
von ca. 70% sls Preß- oder Pfundhefe in den
Handel gebracht. Erstere fällt als Nebenprodukt
ab bei der Bereitung des Bieres, sie wird aus den
Gärbottichen, nachdein die Gärung beendigt und
das junge Bier abgezogen ist, herausgeschöpft und
nach einigem Waschen und Zusatz von Kartoffel-
stärke gepreßt und zu Pfundstücken geschnitten.
Die Getreidehefe aber wird in dem Extrakt ge-
keimter Getreidefrüchte (Malz- und Roggenschrot)
gezogen, wobei die Gewinnung der Hefe Haupt-
zweck ist, wiewohl die Gärung nicht aus'ge-
orny, Münclien.
schlössen werden kann. Man maischt Gersten-
malzschrot und Roggenschrot mit Wasser, erwärmt
auf 60 "und läßt zur völligen Verzuckerung durch
die Gerstendiastase I Stunde lang stehen. Dann
öffnet man das Gefäß und läßt so das in jeder
Brauerei vorhandene Milciisäureferment hineinge-
langeii.
Nach 24 Stunden ist genug Milchsäure (i — i.S",',,)
da, um gewisse schädliche Bakterien auszuschließen;
dann versetzt man mit Hefe und läßt gären (bei
18 — 20"). Nach Beendigung der Gärung und nach-
dem die Hefe sich stark vermehrt hat, nimmt man
diese heraus und preßt sie. 100 kg Roggenschrot
geben 15 — 16 kg fertige Preßhefe.
Die IBrauereihefe ist ausgezeichnet durch ihre
rasche Vergärung zuckerhaltiger Nährsubstrate; die
Getreidehefe vergärt langsamer. Erstere ist ferner
wesentlich billiger, sie kostet nur 30 Pfennige pro
Pfiuid im Detailverkauf, letztere i Mk. Welche
von beiden angewendet wird, das hängt von den
besonderen Zwecken ab, die man verfolgt.
Die Bierbrauereien ziehen sich ihre Hefe selbst
oder beziehen sie von Hefereinzuchtstationen. Die
sogenannte Stellhefe, welche in die Würze ge-
754
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
bracht wird, um rasch eine kräftige Gärung her-
vorzurufen und Infektionen möglichst zu vermeiden,
soll frei von schädlichen Bakterien sein und auch
von ,, wilden" Hefen; von Zeit zu Zeit muß des-
wegen eine reingezüchtete Hefe angewendet werden,
die möglichst nur aus einer solchen 1-iasse von
Hefe bestehen sollte, welche sich in der betreffenden
Brauerei am meisten bewährt hat. Die „wilden"
Hefen rufen oft Krankheiten des Bieres hervor;
von den Bakterien könnten Säuren wie die Butter-
säure, Milchsäure in solcher Menge erzeugt werden,
daß das Bier hierdurch einen unangenehmen Ge-
schmack erhält.
Da beim Gärungsprozeß im Gärbottich eine
starke Vermehrung der Hefe stattfindet, so wird
nur ein Teil dieser Hefe als Stellhefe weiter ver-
wendet, und auch dies nur dann, wenn sie sich
als genügend rein erweist; der größere Teil wird
in der Weißbäckerei, Hauswirtschaft, Branntwein-
brennerei etc. gebraucht.
Die Bäckerei schließt wohl eine der ältesten
Anwendungen der Hefe in sich. Seit Jahrtausenden
macht man von dem Gärvermögen und einigen
anderen Eigenschaften der Hefe Gebrauch zur Her-
stellung eines genießbaren porösen Brotes aus
Getreidemehl. Nach dem großen Erfinder wird
man vergebens fragen.
Durch Vergärung von Kohlehydraten entsteht
— neben Alkohol und geringen Mengen wohl-
riechender ätherischer Stoffe — Kohlensäure, eine
Luftart, welche den Teig auftreibt und Tausende
kleinerer und größerer Poren hervorruft, die nach-
her beim Backen verbleiben.
Aber auch andere Kräfte der Hefe kommen
in Betracht. Durch die eiweißspaltenden Enzyme
z. B. werden die Eiweißstoffe des Mehles zum Teil
in Albumose und andere nicht genauer bekannte,
durch starken Geschmack ausgezeichnete Stoffe
übergeführt. Auch sind in der Hefe von Haus aus
schon dem E'leischextrakt ähnlich schmeckende Stoffe
vorhanden, welche beim Backen (infolge des Ab-
sterbens der Hefe durch die Backhitze) aus den
Hefezellen heraustreten und zum Wohlgeschmack
des Gebäcks beitragen.
Solange die Hefe nicht in den Handel kam
und wo dieser Pilz jetzt noch nicht fabrikmäßig
erzeugt wird, war und ist der einzige Weg ge-
gorenes Brot herzustellen der, daß man einen
Bruchteil des in Gärung begriffenen Teiges als
„Sauerteig" von einer Backzeit bis zur anderen
aufbewahrt und dann dem frischen Teig zusetzt.
Er besteht aus einem Gemenge von Mehl und
Wasser, in welchem ein Teil des Stärkemehls
unter dem Einfluß der Hefe und der auch in großer
Zahl anwesenden Milchsäurebakterien zum Teil in
Traubenzucker übergegangen und dann zum Teil
der geistigen Gärung, zum Teil der Milchsäure-
gärung verfallen ist; auch die Essiggärung tritt
auf Der Sauerteig wirkt in dem Teige gärungs-
fortpflanzend und auf dieselbe Weise wie gärende
Würze auf frische Würze, d. h. wie Hefe.
Eine besondere Art von Gärungserreger ist
der Weinhefe pilz; er wird dem Traubensaft
(Most) meist nicht absichtlich zugesetzt, sondern
gelangt zufällig aus der Luft und den außen auf
den Weinbeeren aufsitzenden Stäubchen in den
Saft. Darum tritt hier die Gärung langsam ein.
Erst in neuester Zeit ist man bestrebt, die
Liefe zur Weinbereitung zu züchten; mit vollem
Recht, da die verschiedenen Heferassen verschieden
wirken und der Charakter des Weines davon zum
Teil abhängt. Auch gelingt es dann eher, ,, Krank-
heiten" des Weines auszuschließen.
Wie sehr die Hefe maßgebend ist, geht u. a.
auch daraus hervor, daß man die schweren Süd-
weine (namentlich spanische) vor kurzem nach-
ahmte, indem man Hefe aus den südlichen Wein-
kellereien zu einem ganz anderen Saft als Trauben-
saft, nämlich zu Gerstensaft, hinzufügte und die
Flüssigkeit der Gärung überließ; das sind die
M a 1 1 o n w e i n e.
Schiller-7 ietz sagt hierüber (in „Neue Wege
der Gärkunde und die Maltonweine", Hamburg
1898, aus der Sammlung gemeinwissensch. Vor-
träge von R. Virchow) :
,,Wir sind zwar in unserem erfindungsreichen
Zeitalter an Überraschungen aller Art gewöhnt,
daß man aber aus unserer Gerste, ohne irgend
welchen anderen Zusatz als Hefe, auch Wein be-
reiten kann — könnte auf den ersten Blick min-
destens befremdlich erscheinen. Und doch hat die
Gärungstechnik dieses Problem gelöst durch ein
sinnreiches, fast an den mephistophelischen Wein-
zauber in Auerbach's Keller erinnerndes Verfahren:
Ein tiefer Blicli in die Natur !
Hier ist ein Wunder, glaubet nur !
belehrt noch Mephisto die weindurstigen Zech-
brüder, während uns heute ein tiefer Blick in die
Natur den Wunderglauben in einfache Natur-
erkenntnis auflöst und das Wunder als ganz natur-
gemäße Vorgänge erkennen läßt. Lediglich durch
(tärung, also durch genau denselben Prozeß, durch
welchen der Traubenmost in Wein und die Malz-
würze in Bier verwandelt wird, kann man heute
unter bester Benutzung der von der Natur ge-
gebenen Bedingungen aus der Gersten-Malzwürze
auch Wein bereiten. Der Gärungsprozeß ist im
großen und ganzen derselbe, die Endprodukte
jedoch sind so grundverschieden, daß die Malton-
weine mit Fug und Recht als vollständig neue
und eigenartige Produkte eines wohldurchdachten
und auf streng wissenschaftlicher Grundlage be-
ruhenden Gärungsverfahrens angesehen werden
müssen."
Aus dem Gerstenmalz wird zuerst in der ge-
wöhnlichen Weise Würze hergestellt. Die Stamm-
würzen für die Maltonweine können bis zu ig";,^
Extrakt zeigen, im Gegensatz zur Bierbrauerei,
wo selbst bei guten Lagerbieren die Würze ge-
wölmlich nicht über 16% zeigt.
Dann wird dem Wein die nötige organische
Säure verliehen, und zwar durch Einleitung einer
natürlichen Milchsäuregärung. Wenn 0,6— o,8"/„
N. F. III. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
755
Säuregehalt erreicht ist, wird die Würze durch
P>wärmen auf 70 — 75" steril gemacht.
Hierauf wird die alkoholische Gärung „durch
Zusatz der in besonderer Arbeit herangezüchteten
Südweinedelhefen aus besten Weinlagen eingeleitet."
„Der Kernpunkt des praktischen Ergebnisses
langjähriger Versuchsreihen zur Herstellung von
Weinen aus Malz gipfelt in der Auswahl und Rein-
zucht von Edelhefcn hervorragender Weinlagen
südlicher Weinbaugebiete, welche — da sie ur-
sprünglich auf Trauben von besonders hohem
Zuckergehalt sproßten — allein den gewünschten
hohen Vergärungsgrad der zuckerreichen Malz-
würze zu bewirken vermögen."
„Die im Gärbottiche von 6 — 7000 Litern in
Form von gärender Würze in der Zahl von bei-
läufig mehreren Billionen eingesäten Hefepflänzchen,
die infolge langjähriger Aufzüchtuiig in Malzwürze
stofflich in keinem Atom mehr etwas mit Trauben-
wein zu tun haben, beginnen in derselben ein
scheinbar stilles, aber dabei doch innerlich sehr
reges Leben stärkster Vermehrung, eine Art In-
kubationszeit von nur drei Stunden Dauer, worauf
mit der vermehrten Zahl der Hefezellen auch die
sichtbaren Erscheinungen ihrer Einwirkung auf den
Maltonmost hervortreten: Ein leichter Schaum
kräuselt die Oberfläche, eine dichte, schneeweiße
Decke überzieht die gärende Flüssigkeit, und unter
hörbarem Brausen und Wallen setzt sehr energisch
die sogenannte ,, stürmische Gärung" ein."
Bezüglich des weiteren V^erlaufes der Fabrikation
sei auf die obengenannte Schrift verwiesen.
Ob man sich, wie Schiller-Tietz glaubt, seitens
des Weinhandels mit der Erweiterung des Be-
griffes ,,Wein" nun vertraut machen wird, und ob
namentlich das konsumierende Publikum solchen
Wein anerkennen wird, erscheint zweifelhaft.
Ebenso abwartend darf man sich wohl den
sonstigen vom Verfasser eröffneten Aussichten
gegenüber verhalten. Seite 84 der genannten Schrift
heißt es;
„Das sind in großen Zügen die Probleme ')
unserer heutigen Gärungstechnik, deren Bestre-
bungen einerseits auf die Vervollkommnung und
den Ausbau der schon seit Jahrtausenden empirisch
betriebenen Gärungsgewerbe gerichtet sind, anderer-
seits aber auch zur Begründung neuer gärungs-
technischer Betriebe führen werden. So ist z. B.
alle Aussicht vorhanden, daß sich nach demselben
Prinzip, nach welchem die Darstellung der Malton-
weine erfolgt, noch andere neue Zweige der
Gärungsindustrie aufbauen werden. Ist es doch
sehr wahrscheinlich, daß es auch gelingen wird,
den Erreger der Rumgärung, sowie den des Araks,
der sich in Indien in dem von selbst in Gärung
geratenen Safte der Palmen entwickelt und zur
Raismaische getan wird, ebenso zu züchten wie
die Sherry-, Madeira- und Tokayerhefe. Gelingt
') Es ist vorher die Rede von der Einführung reiner edler
Hefen in anderen Wirtschaftszweigen, z. B. in der Milch-
wirtschaft.
dies aber, so können wir aus der Melasse des
Rübenzuckers auch Rum brennen, und aus Malz
Arak, worauf die vielen mit chemischen Essenzen
und Extrakten hergestellten Spritmischungen, die
als Fassonrum und Fassonarak heute reißenden
Absatz finden, den neuen Naturprodukten weichen
würden und viel Kopfschmerz weniger die Mensch-
heit quälte!"
Man fragt sich da unwillkürlich : Warum hat
man es denn in der Bierbrauerei, in welcher die
Hefezucht am längsten betrieben wird, nicht er-
reicht, daß an jedem beliebigen Punkt der Erde
bestes Münchener Bier hergestellt werden kann
— vorausgesetzt , daß wohlausgebildete Brauer,
an denen kein Mangel ist, hier wie dort tätig sind?
Die Fortzüchtung der Heferassen scheint doch
ihre Schwierigkeiten zu haben !
Das Klima und die einheimischen Konkinrenten
unter den Pilzen scheinen da einen beherrschenden
Einfluß zu üben.
Jedenfalls sind die hier angedeuteten Bestre-
bungen der Gärungstechnik von Interesse.
Ein besonderes Gärungsvermögen, nämlich das
Vermögen, Milchzucker zu vergären, der
für gewöhnliche Hefe unangreifbar ist, besitzen
die Milchzuckerhefen, welche im Kumiß und Kefir
enthalten sind.
Kumiß wird hauptsächlich in den Steppen des
südwestlichen Sibiriens und den angrenzenden
Ländern aus Stutenmilch hergestellt. Die Hefe
wird nicht gesondert beliandelt und gezüchtet,
sondern es wird etwas alter hefehaltiger Kumiß
mit frischer Milch gemischt, gewöhnlich im Ver-
hältnis I ; 10; in kleinen, mit Rührwerk versehenen
Fässern wird die Gärung durchgeführt. Schließlich
wird die F'lüssigkeit auf Maschen gefüllt, diese
gut verkorkt und verschmiert. Durch Weitergärung
in den Flaschen entsteht ein moussierendes Ge-
tränk. Während die Milch etwa 5,5% Milchzucker
enthält, hat Kumiß nur i,3"/o Zucker, l,6'7„ Alko-
hol und fast i"/„ Milchsäure und Kohlensäure; die
Eiweißstoffe werden peptonisiert und um ca. O,i"/o
vermindert.
Kefir wird aus Kuhmilch durch Gärung be-
reitet und in den Kaukasusländern viel getrunken.
Die Kefirhefe besteht aus Sproßhefe, welche mit
einigen Bakterien vergesellschaftet ist; sie bildet
gelatinöse Klumpen. Die Milch wird bei 18—19"
auf dem Gärgefäß mit dem Organismus versetzt,
unter Bewegung der Flüssigkeit. Nach 24 Stunden
ist die Gärung bereits soweit vollendet, daß das
Getränk auf Flaschen abgezogen werden kann, wo
es langsam weiter gärt. Der Zuckergehalt der
Milch wird durch die Gärung von 4 auf 2",, ver-
mindert, ebenso der Fettgehalt, die Eiweißstofife
betragen nur mehr -'/j der ursprünglichen Menge.
Der Alkohol erreicht den Betrag von 1%, Milch-
säure entsteht in etwas größerer Menge.
Ähnlich mit der Kefirhefe ist der Pilzorganis-
mus des Ingwerbieres, welches in mancher Beziehung
dem Kefir des Kaukasus ähnelt ; es wird in manchen
ländlichen Bezirken Englands erzeugt. 1,5 kg
'S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 48
Zucker werden mit 1 5 1 Wasser gekocht und mit dem
Weißen eines Eies geklärt; zugleich werden 30 g
Ingwer mit 2 1 Wasser eine Stunde gekocht, durch-
geseiht, zu dem anderen gegossen. 4 g reine
Weinsäure werden dem Ganzen noch zugefügt.
Die Masse wird dann mit jenem Pilz gären ge-
lassen etc. etc.
Geistige Getränke werden übrigens von den
Chinesen seit uralter Zeit mittels gärkräftiger
Schimmelpilze erzeugt. Die mit dem Namen „Taka-
Koji" belegte, aus Eurotium (Aspergillus Oryzae)
bestehende Masse dient zur Herstellung eines
geistigen Getränkes aus Reis. Zuerst züchtet man
den Pilz auf gedämpftem Reis, indem man Sporen
des Pilzes daraufstreut. Nach einigen Tagen ist
die „Koji" gebrauchsfertig. Der Pilz enthält ein
stärkeverzuckerndes und ein vergärendes Enzym.
Die Javaner bereiten den Arak aus Reis mittels
,,Raggi", hier ist aber neben dem Schimmelpilz
ein wahrer Sproßhefepilz, Sacharomyces Vorder-
rnanni, nachzuweisen.
hiteressant an den letzteren Getränken ist, daß
wir darin Schimmelpilze als Erreger der
geistigen Gärung erblicken, während man früher
die geistige Gärung als eine spezielle Sproßhefe-
wirkung ansah.
Freilich erreicht die Gärung durch Schimmel-
pilze niemals den hohen Grad wie diejenige durch
Sproß - Hefe.
Weniger bekannt als die auf dem Gärvermögen
beruhenden Anwendungen der Hefe dürften einige
neuere Verwendungsarten sein.
Wer hat vor 20 Jahren gewußt, daß man aus
Hefe eine fleisch extraktähnliche Masse
gewinnen könne?
Nach dem deutschen Reichspatent 120 3 56,
53 i, 1901 ist L. Aubry ein Verfahren zur „Ge-
winnung eines dem Fleischextrakt geschmack-
ähnlichen Extraktes aus Bier, Hefe, Preßhefe oder
Weinhefe ohneSelbstgärung", zugesprochen worden.
Diese wohlschmeckenden Stoffe werden mit
Kochsalzlösung ausgezogen, die Lösung wird nach
dem Erhitzen und Koagulieren der Eiweißstoffe
eingedampft.
Da die Hefe reich an Proteinstoffen ist, so ver-
sucht man in neuester Zeit, Eiweißstoffe aus Hefe
zu gewinnen, z. B. nach deutschem Reichspatent
124985, 1901 , nachdem sie zuvor teilweise in
Peptonzustand übergeführt wurden.
Die Hefe wird vorsichtig getrocknet, dann mit
lauwarmem Wasser ausgezogen, der Extrakt mit einer
Spur Essigsäure versetzt und gekocht. Nach Ent-
fernung der geronnenen Eiweißstoffe wird die Lösung
eingedampft bis zur Pastenkonsistenz. Die fertige
Paste enthält i i,6o",(| Peptone, 47,12"/,, Albumosen,
'7>i57n Amidoderivate etc.
H. Buchner und M. Gruber (1902) wollen sogar
das ,, Protoplasma" aus der Hefe gewinnnen. Wahr-
scheinlich handelt es sich dabei auch wieder um
die Eiweißstoffe.
Daß die vorsichtig getrocknete, noch mit ak-
tiven Enzymen ausgerüstete Brauerei-Abfall h e f e
in neuester Zeit auch medizinische Anwen-
dung findet (zur Bekämpfung von Bakterien) sei
nur kurz erwähnt.
Das Gärvermögen muß darin erhalten sein,
ebenso die anderen fermentativen Fähigkeiten, die
übrigens selbstverständlich noch da sind , wenn
das empfindlichste aller Enzyme, das Gärungs-
enzym, intakt geblieben ist.
Die Enzyme sind das medizinisch Wirk-
same an der Hefe. Durch Enzyme bekämpft ein
Bakterium das andere, ein lebender Organismus
den anderen. So soll auch hier mit den Enzymen
der bereits abgetöteten Hefe gegen einige dem
menschlichen Organismus schädliche Bakterien
angekämpft werden; es sind hierbei besonders die
in den Höhlungen des Körpers auftretenden schäd-
lichen Bakterien ins Auge gefaßt worden.
Zum Abtöten der Hefe verwendet der Erfinder
Aceton, welches bei kurzer Einwirkung nur das
Protoplasma tötet, die Enzyme aber unangetastet
läßt.
Da von dem Milch säure pilz schon wieder-
holt die Rede war, sei nun zunächst auf dessen
große technische Bedeutung etwas eingegangen.
Wir haben gesehen, daß ein gewisses Maß von
Milchsäuregärung, welche darin besteht, daß Zucker
in Milchsäure verwandelt wird, bei der Hefege-
winnung absichtlich herbeigeführt wird, um die
Hefe leichter vor Infektion schützen zu können.
Insbesondere hat sich gezeigt, daß der so unan-
genehme Buttersäurepilz dadurch an der Entwick-
lung gehindert wird.
Die Milchsäuregärung hat aber auch sonst
manche wichtige und z. T. sehr alte Anwendung
gefunden. Sie kann durch eine ziemlich große
Anzahl von Bakterien hervorgerufen werden,
hat man doch aus der Milch allein schon mehr als
ein halbes Dutzend Milchsäurebildner isoliert.
Die Milch verfällt beim Stehen bekanntlich
einer spontanen Säuerung, dabei gerinnt sie, sobald
die Säure eine gewisse Höhe erreicht hat.
So sehr wir nun auch frische Milch der ge-
säuerten beim Genüsse vorziehen, so ist es doch
wieder ein Glück zu nennen, daß die Milch gerade
diesem Säure erzeugenden Gärungserreger zunächst
verfällt. Denn durch die Milchsäurebildung wird
die Milch nicht ungenießbar, ist aber doch damit
vorerst gegen andere Bakteriengärungen, welche
unangenehm schmeckende und sogar giftige Pro-
dukte bilden würden , geschützt. Wir brauchen
dabei gar nicht einmal an die in der Luft überall
vorhandenen Fäulnisbakterien zu denken. Denn
in der Milch selbst sind schon unmittelbar nach
dem Melken zahlreiche und verschiedene Bakterien
enthalten, womit nicht gesagt sein soll, daß in der
Milch schon von ihrer Bildungsstätte in den Milch-
drüsen her Bakterien enthalten seien, es müßte
denn die Milch von einer kranken Kuh stammen ;
bei der Operation des Melkens mischen sich der
Milch Bakterien bei, welche in der betreffenden
Stallung verbreitet sind, darunter auch Milchsäure-
bakterien.
N. F. m. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
757
Für die Zwecke der Käsebereitung wird
übrigens die Milch absichtUch bis zum Sauer-
werden und Gerinnen stehen gelassen, wenigstens
für gewisse Sorten von Käse ; andere werden da-
durch bereitet, daß man mit dem Labferment des
Kälbermagens die Gerinnung bewirkt. Im weiteren
Verlaufe der Käsegewinnung haben dann die Milch-
säurebakterien und wahrscheinlich noch andere
(auch Schimmelpilze) die Aufgabe, eine Reifung
des Käses durch proteolytische d. i. eiweißum-
wandelnde Tätigkeit herbeizuführen; es wird dabei
der Käsestoff des Käses allmählich peptonisiert
unter gleichzeitiger Bildung von spezifischen, für
die Käsearten charakteristischen Geschmacksstoften.
Auch scheint den Milchsäurebakterien bei der Käse-
reife die Rolle zuzufallen, daß sie den Boden für
andere Bakterienarten bereiten.
Auch die saure Beschaftenheit des Sauerkrautes
rührt von M i 1 c h s ä u r e g ä r u n g her ; diese findet
also zur Gemüsebereitung ebenfalls Anwen-
dung. Das Sauerkraut enthält über l"/,, Milch-
säure; wahrscheinlich aber spielen sich neben der
Milchsäurebildung noch andere kompliziertere Pro-
zesse ab, vielleicht kommt auch gewissen Hefe-
arten eine Bedeutung zu.
Beim Einsäuern der Gurken werden die ganzen
Früchte mit einer Kochsalzlösung bedeckt und in
Fässern oder dergleichen der freiwilligen Gärung
überlassen. Die produzierte Säure beträgt etwa
0,5— 0,8 "/o-
Gras, Klee, Rübenblätter, Schnitzel und ähn-
liche landwirtschaftliche Fu tt er st off e führt man,
wenn sie nicht im frischen Zustande Verwendung
finden können, in sogenanntes Sauerfutter über.
Zu dem Zwecke kommen sie in bedeckte Gruben,
wo sich rasch eine Gärung unter Milchsäure-
bildung einstellt. Auch hier spielt also ein Er-
reger der Milchsäuregärung eine Rolle.
Welch wichtigen Dienst tut uns ferner der
Essigpilz (Bacterium aceti, B. acetigcnum etc.),
indem er durch eine rasch verlaufende Oxydations-
gärung den Alkohol in Essigsäure verwandelt ?
Bei der Schnellessigfabrikation läßt man
verdünnten Spiritus langsam über eine große Ober-
fläche laufen, wobei er der Einwirkung der Bak-
terien ausgesetzt wird. Man stellt die große Ober-
fläche mittels lockenförmig gedrehter Buchenholz-
späne her, welche sich in geeigneten Kübeln be-
finden und mit Essigbakterien besät sind, während
durch Ventilationsvorrichtungen für beständigen
Luftzug gesorgt wird. Mit Vorliebe wählt man
die Späne der Rotbuche, wahrscheinlich weil sich
auf ihnen die Essigbakterien (infolge der porösen
Beschaffenheit) besser ansiedeln können.
In Frankreich verwendet man zur Essigbereitung
Wein und verwandelt diesen durch das sogenannte
Orleans-Verfahren in Weinessig. Man stellt mehrere
Reihen von Fässern übereinander, welche im oberen
Teile der Vorderseite zwei Löcher besitzen, eins
zum Füllen mit Wein und Abziehen des fertigen
Essigs, das andere zum Eintritt der Luft. Das
Faß wird zunächst zum kleineren Teile mit .starkem
Essig gefüllt, dann wird nach und nach Wein
dazugegeben, bis das Faß etwa halb voll ist, wo-
nach ein Teil des Essigs abgezogen wird. Dieses
Nachfüllen und Abziehen vollzieht sich nun kon-
tinuierlich. Die auf der Oberfläche des Weines
sich rasch bildende Haut von Essigbakterien be-
wirkt die Essiggärung (nach Emerling, Die Zer-
setzung stickstoffhaltiger organischer Substanzen
durch Bakterien, F. Vieweg, Braunschweig 1902).
Wie sehr die Pilze auch in die landwirt-
schaftliche Produktion fördernd eingreifen,
dafür legen die neueren Forschungen über die
Bodenbakterien Zeugnis ab.
Es ist längst bekannt, daß die Kulturpflanzen
wie auch viele andere das Ammoniak und seine
Verbindungen weniger gut als Stickstoffquelle zu
verwenden vermögen alsdie salpetersauren Salze oder
Nitrate, von denen hauptsächlich der Kalksalpeter,
Kalium- und Natriumsalpeter in Betracht kommen.
Nun entsteht aber im Boden durch die bak-
terielle Zersetzung stickstoffhaltiger organischer
Reste immer zuerst Ammoniak; letzteres ist das
stickstoffhaltige h^äulnisprodukt der Eiweißstoffe.
Der gedüngte Boden enthielte also eine Stick-
stoffquelle, welche den Pflanzen wenig zusagt, wenn
nicht „nitrifizi erend e Bakterien" dafür
sorgen würden, daß das Ammoniak in salpeter-
saure Salze verwandelt wird — unter Mitwirkung
der Basen des Bodens wie Kalkkarbonat, Natrium-
und Kaliumkarbonat. Diese Bakterien präparieren
also die Stickstoffquelle des Bodens in einer den
Kulturpflanzen zusagenden Weise !
Eine Errungenschaft heißer wissenschaftlicher
Arbeit der letzten Zeit ist es auch, daß man weiß,
daß gewisse Pflanzen den atmosphärischen, elemen-
taren Stickstoff unter Mitwirkung von Pilzen zu
assimilieren vermögen. Die zahlreichen Unter-
suchungen eifriger Forscher, besonders Hellriegel's,
haben gezeigt, daß der Wurzelpil z der Legumi-
nosen, welcher mit den Wurzeln der letzteren die
sogenannten Wurzelknöllchen bildet, eine Lebens-
gemeinschaft zwischen Pilz und Wurzel, gewisse
Pflanzen, besonders die Lupinen, der Notwendigkeit,
Nitrate im Boden vorzufinden, bis zu einem ge-
wissen Grade enthebt, eine in ökonomischer Be-
ziehung außerordentlich wichtige Tatsache! Wie
viele Millionen sind gewonnen, wenn Kulturböden
die teure Nitratdüngung nicht brauchen, weil sie
ihren Stickstoff aus dem ungeheuren Vorrat der
Luft beziehen. Indem diese Pflanzen den Luft-
stickstoff assimilieren, bilden sie Eiweiß, das zum
Teil in den Bestand der oberirdischen einzuerntenden
Teile der Pflanzen übergeht, zum Teil in den dem
Boden verbleibenden Wurzelteilen aufgespeichert
wird und dort nach dem Absterben der Wurzeln
den oben angedeuteten L'mwandlungsprozeß Ei-
weil.5- Ammoniak-Nitrat erleidet.
Die vor kurzem gemachten Versuche, Kulturen
solcher Bodenpilze fabrikmäßig herzustellen (die
Produkte wurden Nitragin, Alinit genannt),
beweisen, welche Aufmerksamkeit dieser wichtigen
Sache jetzt in weiten Kreisen geschenkt wird.
758
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
[Nachdruck verboten.]
Die deutsche Ostseeküste — zumal ihr östlicher
Teil — erhält durch ihre Beschaffenheit als Dünen-
landschaft manchen eigenartigen Reiz, sie hat aber
dadurch noch manche anderen Eigenschaften ge-
wonnen, die zwar ebenso eigenartig, aber doch
weniger angenehm sind, so ihre landwirtschaftliche
Armut. Die Nehrungslandschaften Ostpreußens
sind in dieser Hinsicht an vielen Stellen geradezu
trostlos und die Kurische Nehrung geht ja auch
unter dem Namen „Preußische Wüste", mit gutem
Recht, denn wenn jetzt auch der wirkliche Wüsten-
strich nur noch klein ist, so kann man doch auf
dieser Nehrung Stellen finden, wo sich zwischen
See und Haff nichts als Flugsand ausbreitet, der,
von der See ausgeworfen und vom Seewind ge-
trieben, in unaufhörlich rieselnder Bewegung alles
Lebende vor, unter und hinter sich verweht, zer-
drückt, begraben hat, um schließlich selbst im
Haff sein Grab zu finden.
Nichts als Sand, kahle bleiche Wanderdüne, nur
in der Ferne winkt übers Haff herüber das F'est-
landsufer und dort hinten auf der Nehrung liegt
der Strand schwarz, da ist Wald ! Ja, halbver-
wehter Föhrenwald und Palwe (Ödland), am Haff-
strand ein paar Segelboote, ein Häufchen dürftige
Fischerkaten zwischen kleinen Kartoffeläckern
und — wahrhaftig! — auch ein paar Kühe! Sie
sind zwar mager und trocken wie ihre Weide,
aber sie geben doch etwas Milch und Butter zu
Kartoffel und Ei oder Fisch. Was will der Mensch
mehr.?! Etwa Abwechslung auf dem Mittagstisch ?
Nun, die müßte er sich vom F"estland holen ! —
Und doch sind einige Küstenbewohner, die vor
ihren Stammesgenossen durch Findigkeit und Vor-
urteilslosigkeit hervorragten oder auch mehr vom
Hunger bedrängt wurden, darauf gekommen, sich
etwas Wildbret auf der Nehrung zu verschaffen.
Natürlich nicht das jagdgerechte, — denn auch in
dieser dürren Gegend werden die paar Hasen und
Enten mit argwöhnischen Augen bewacht, — nein,
auf die vogelfreien Krähen und Möven haben sie's
abgesehen, einen sonst zwar unbekannten und un-
beliebten, von ihnen aber docli gerne gegessenen
Braten.
Möwen fliegen überall an der Ostseeküste und
auch Krähen sind überall häufige Standvögel. Zu
gewissen Jahreszeiten aber, im Frühjahr und Herbst,
streichen die Krähen, z. B. die Nebelkrähen, die aus
den Wäldern Rußlands und Ostpreußens kommen,
in besonderer Menge längs der Küste hin, wo sie
reichliche Nahrung finden. Hiernach gibt es auch
in den betreffenden Gegenden zwei Hauptfang-
zeiten; einzelne Fänger, z. ß. viele auf der Kurischen
Nehrung, haben aber fast das ganze Jahr hindurch
ihre Fangplätze im Betrieb.
Wenn du nun den Krähenfang kennen lernen
willst, lieber Leser, komm mit mir auf die Kurische
Nehrung! Freilich mußt du dich nicht vor „schlech-
tem" Wetter scheuen, auch die Wirtshäuser sind
Der Krähenfang an der Ostseeküste,
Von Dr. med. Arthur Luerssen.
selten und noch dazu recht bescheiden eingerichtet,
— aber dafür wirst du reichlich belohnt werden
durch die eigenartige Schönheit der Landschaft
und vielleicht noch mehr durch die Merkwürdig-
keit der Naturerscheinungen dieser Landzunge.
Also — fahren wir an einem Märzmorgen nach
Cranz, dem bekannten samländischen Badeort, in
dem jährlich Tausende verkehren, ohne je das
Verlangen zu verspüren, die Schönheiten, die hinter
der „Plantage" liegen, einmal kennen zu lernen !
Lassen wir seinen ausgestorbenen Strand und die
stille Plantage links liegen und wandern wir nach
Norden, in die Sarkauer Forst! PIs ist zwar kein
„Krähenwetter", aber wir werden sicher Krähen-
fänger treffen, — vorläufig wollen wir den Vor-
frühling genießen.
Ja, es war ein milder Winter und jetzt will es
schon Frühling werden. Die Morgenluft liegt wenig
kalt und beinah windstill unter dem silbergrau
bezogenen Himmel, rings feucht duftender knos-
pender Wald mit Drossel- und I'inkenschlag, —
nur das zerfressene, in den Buchten gestaute Treib-
eis des Haffs und einzelne verspätete Schneeflocken
erinnern noch an den Winter. Hin und wieder
sehen wir eine Krähe oder eine Möwe vom Fest-
land herüberkommen und draußen auf dem offenen
Haff zanken sich Haubentaucher mit ewigem Ge-
schrei um die Brutplätze. — Da hinten am Haff-
strande liegt Sarkau, ein kleines Plscherdorf, und
hinter ihm lugen unheimlich die bleichen Wander-
dünen durch die Lücken des spärlichen Gehölzes
zu uns herüber.
Hier am Haffufer scheinen keine Krähenhütten
zu sein, — gut, — schlagen wir uns durch den
etwas moorigen Wald nach der Seeseite durch !
— Jetzt hören wir schon die Brandung und
— richtig ! — dort ist ein Fangplatz, dort auf dem
sandigen Fußweg, der über die Vordüne führt, wo
die Krähen sitzen, die zwar nach uns äugen, aber
nicht davonfliegen, — das werden Lockvögel sein !
Wie wir näher kommen, taucht hinter einem
Haufen grüner Kiefernzweige eine Gestalt auf, ein
grobknochiger, gutmütig aussehender Kure im
Schafspelz.
„Guten Morgen ! — Na, haben sie schon etwas ?"
,, „Guten Mo-ergen, — i-e, bloß zwei-e,"" ant-
wortet er in seiner gedehnten, singenden Sprache.
,,Der Zug ist wohl nicht besonders ?"
„ „Nei-e, aber " "
Der Mann ist ein wenig unbeholfen, er meint:
,, „aber was soll ich zu Hause ! ?" " Und da hat er
ganz Recht, zu Hause könnte er in dieser Jahres-
zeit doch nur stumpfsinnig am Ofen brüten oder
im Krug ,,Lukodeike" oder ,,Kornus" (Branntwein)
trinken und mit anderen seinesgleichen Weisheit
austauschen; na, das ist doch so mühsam und
hier kann er doch ebenso schön faulenzen und
noch dazu etwas verdienen !
Da es der Mann nicht übel nimmt, besehen wir
N. F. ni. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
759
uns seinen Fangplatz näher. Der tiefsandige Weg,
den er sich dazu ausgewählt hat, führt aus dem
dunklen Wald die kümmerlich mit Strandgräsern,
Krüppelkiefern und Weidengestrüpp bestandene
Vordüne hinauf und dann zur See hinab, die wir
nur hören. Das ist so der gewöhnliche Fangplatz,
man findet aber auch Krähenhütten am Haffstrandc
oder mitten im Wald auf sandigen Wegen oder
auch auf den Wanderdünen, wo sie .schon aus
weiter Ferne zu sehen sind und dem uneinge-
weihten Wanderer manches Kopfzerbrechen machen.
Am Rande des Weges bei einem Gebüsch steht
auf ebener Erde die Krähenhütte, die korbartig
aus frischen Fichten- und Kiefernästen zusammen-
gesteckt ist. Sie sieht klein und, was wir vorhin
ja auch glaubten, wie ein gewöhnlicher Haufen
abgehauener Äste aus, es haben aber bequem drei
Menschen in ihr Platz, wenn sie gut zusammen-
hocken. In den Sandboden der Hütte ist ein
dicker Knüppel, auf der nebenstehenden Skizze
Zum Fang wird das Netz in Spannstellung ge-
bracht, auf und um das Viereck f g i' h' Lockvögel
angepflockt und wertlose Fische als Köder aus-
gestreut und dann Netz, Seil und Pflöcke lose mit
Sand oder Schnee bedeckt. Als Lockvögel dienen
lebende Krähen, die von früheren Fängen auf-
bewahrt worden sind, es sollen aber auch manch-
mal für den Anfang schwarze Hühner benutzt
werden. Sie sind an einem Bein mit einer festen
Schnur im Sand angepflockt und außerdem sind
ihre Schwungfedern da, wo sie sich bei anliegen-
den Flügeln kreuzen, zu.sammengebunden, damit
die Vögel nicht herumflattern und sich losreißen
können.
So, — nun wollen wir in die Hütte kriechen
und mal eine Krähe zu fangen suchen. Es ist
ganz behaglich darin, wir hocken uns zurecht,
machen Lücken in das Gezweig und beobachten.
— Die Krähen sitzen herum und hacken an der
Fessel oder am Köder, sonst alles ruhig, — es
Kig. I. Krähenschlagnctz der Kurischen Nehrung, Aufstellungsplan.
Fig. 2. Spannung des Krähcnschlagnctzes, Vcrtikalschnilt.
mit a bezeichnet, eingerammt, von dem aus zu
ebener Erde ein Seil nach dem Köderplatz zu ge-
spannt ist, aber bald im Sande verschwindet. Beim
Bloßlegen sehen wir, daß es dort an einem anderen
Pfahl c befestigt ist. Das etwa 20 m lange Seil
wird nun, wie die Skizze zeigt, winklig in der
Stellung a b c durch ein schräg in den Sand ge-
grabenes Holz b d festgehalten, das sich bei d
gegen ein ebenfalls schief im Sand steckendes
Brettchen so anstemmt, daß das Holz und das
durch dasselbe gespannte Seil die Neigung haben,
aufzukippen. Vorläufig wird aber das Holz durch
den Pflock e in seiner Stellung festgehalten. Zwischen
f und g ist nun ein Netz von etwa 6 m Länge
und 2 m Breite angepflockt, das gefaltet und mit
dem gegenüberliegenden Rande am Seil von h
bis i befestigt ist. — Wird nun an dem Seil ge-
zogen, so kippt das Holz b d, nachdem es den
kleinen Widerstand des Pflockes e überwunden
hat, auf, das Seil fliegt in die gerade Lage a h' i' c
und spannt das Netz zwischen f g und h' i' aus. —
sieht wirklich so aus, als wäre da eine Schar
Krähen gemütlich beim Schmause.
Da, — zwei Krähen über dem Wald 1 — —
Sie fliegen vorüber. Ja, das Warten muß man
mit in den Kauf nehmen ! Jetzt kommt
noch eine? — Aha, die fliegt näher, — sie äugt
und „fällt", trippelt auf einen Fisch in der Mitte
ihrer Genossinnen zu und — schwupp — der Kure
hat am Seil gezogen. Man hat nur etwas sich
bewegen gesehen, jetzt liegt das Netz über der
zappelnden Krähe ausgebreitet, die erschreckten
Lockvögel zerren an ihren Fesseln. Inzwischen ist
aber schon unser Krähenfänger hinaus, hat den
krächzenden Vogel hervorgeholt, ihn mit beiden
Händen, an Schnabel und Leib, gepackt und ihm
den Schädel eingebissen. Dieses Schädeleinbeißen
ist die eigentümliche Tötungsart auf der Kurischen
Nehrung, weswegen auch ihre Bewohner von den
Litauern des Festlandes den Ulknamen „Kroh-
bieters" erhalten haben, es erregt auch bei den
Fremden, obwohl es doch die einfachste und
schnellste Tötungsart ist, gewöhnlich Entsetzen
und moralische Entrüstung. — Der toten Krähe
wird noch gewöhnlich der Kopf abgerissen und
den Lockkrähen als Futter vorgeworfen.
So geht es nun weiter. Eine Krähe nach der
anderen wird gefangen, manchmal, wenn sie gut
„fallen", was namentlich im Frühjahr bei Südost-
winden, im Herbst bei Nordwinden und außerdem
bei bedecktem Himmel und nach Schneefall ge-
76o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 48
schiebt, gleich mehrere auf einmal und ein Schock
am Tag. Auch andere Vögel werden oft mit dem
Schlagnetz gefangen, es stoßen Raubvögel nach
den angebundenen Krähen und Möwen werden
durch die Lockfische angezogen.
Dieser Möwen- und Krähenfang ist für die
Kurische Nehrung von volkswirtschaftlicher Be-
deutung. Das Land ist, wie schon erwähnt, so
arm, daß viele Lebensmittel eingeführt werden
müssen, und der Fischfang und die Fischausfuhr
wären auch gerade ergiebig genug, um die Ein-
fuhr zu decken, — es haben aber nicht alle Be-
wohner Boote und Netze, so daß der Krähenfang
kein bloßer Nebenerwerb ist. Lohnend wird er
dadurch, daß keine Pacht bezahlt zu werden braucht
und der Marktpreis der ungerupften Krähe etwa
1 5 Pfennig beträgt. Benutzt werden die Federn
und das Fleisch, früher auch das Fett als Leucht-
stoff für die Lampen, wie Bock erzählt (Bock,
Versuch einer wirtschaftlichen Naturgeschichte von
Ost- und Westpreußen, 1782 — 1785).
Das recht schmackhafte Fleisch der Krähen
wird tüchtig gekocht und zur Suppe gegessen
oder nach dem Kochen noch gebraten. Sind viele
Krähen gefangen worden, werden sie auch ein-
gesalzen und angeräuchert und für später aufbe-
wahrt. Ausgeführt werden sie nicht, man erzählt
sich aber, daß die auf den Cranzer Tafeln prangen-
den Tauben oft „Nehrungstauben" sein sollen.
Wenn dies auch wahr sein sollte, so wäre es zwar
immerhin ein Betrug, aber doch noch kein Un-
glück, denn viele, auch der Verfasser, ziehen die
Krähen ihres ausgeprägteren Geschmacks wegen
den Tauben vor, — es gibt auch genug Anekdoten,
nach denen den ahnungslosen Gästen eines Nehrungs-
freundes die mitgebrachten „Tauben" vortrefflich
mundeten, obwohl sie sich nicht genug darüber
wundern und ekeln konnten, daß man so etwas
Abscheuliches tun könne wie Krähen essen. —
Ja, ja, so etwas bringen nur ganz rohe und un-
gebildete, jedenfalls aber unvernünftige Leute fertig!
— Früher sollen Krähen auf der Kurischen Nehrung
auch zur Pfarrkaiende gehört haben, auch auf der
Halbinsel Heia, wie mir erzählt wurde.
Auch die Möwen werden gegessen, zumal, wenn
sie den größeren Arten angehören, die kleineren
deshalb ungern, weil sie sehr tranig schmecken.
Aus diesem Grunde werden die Möwen auch für
gewöhnlich vor der Zubereitung, die sonst wie
die der Krähen ist, abgehäutet, da der unerwünschte
Tran hauptsächlich im Hautfettgewebe sitzt.
Die gelegentlich gefangenen Raubvögel werden
gerupft oder an die Vogelwarte der Kurischen
Nehrung — in Rossitten — verkauft, sonst wohl
auch hin und wieder gegessen.
Der Krähen- und Möwenfang wird aber nicht
nur von den Kuren betrieben, die Litauer auf
dem Festlande haben es ihnen abgesehen und auch
auf der Frischen Nehrung gibt es vereinzelte
Krähenfänger, diese sind aber meistens Fischer,
die von der Kurischen Nehrung stammen. Auch
an anderen Küstenorten der Ostsee wird den
Krähen und Möwen nachgestellt, zumal auf Heia,
wie schon erwähnt, aber auf eine ganz andere,
eigenartige Weise.
Hier werden die Vögel einzeln am Strande
mit äußerst findig ersonnenen Schlingen, den
„Klepsen", gefangen, ein gutes Beispiel dafür, wie
der Menschenwitz dasselbe Ziel auf verschiedenen
Wegen gleich gut erreichen kann.
Man kann beobachten, daß Krähen und Möwen
beim Futtersuchen längs der Schälung gehen oder
fliegen und nach angespülten Fischen, Krabben
u. clgl. spähen. Die Helaer Fischer stellen nun
dieser Beobachtung zufolge in ein bis zwei Schritt
Entfernung von der Schälung die mit einem Fisch
beköderten Klepsen auf und rechnen damit, daß
eine vorüberkommende Krähe oder Möwe oder
überhaupt ein Strandvogel den Köder aufnehmen
will und sich dabei in der Klepse fängt.
Fig. 3. Helaer Klepse.
An der Kreuzungsstelle muß die weiße Schnur über der
schwarzen liegen.
Fig. 4. Helaer Klepse, Vcrtikalschnitt.
Die Klepse beruht auf dem (irundgedanken,
dem nach dem Köder stoßenden Vogel eine Schlinge
überzuwerfen, sie ist demnach folgendermaßen zu-
sammengestellt: Eine aus einem Fichtenzweig ge-
schnitzte Gabel ist wie das Spannholz einer
Säge durch einen Flitzbogen mit doppelter
Schnur so gespannt und an ihn angelegt, daß
sie, losgelassen, durch die sich aufdrehende Schnur
des Bogens auf dessen andere Seite geschnellt
wird, auf der beistehenden Skizze 3 also dem Be-
schauer entgegen. In der Spannstelluiig wird diese
Gabel am Bogen durch eine Holzklammer fest-
gehalten, die gleichzeitig einen Dorn für den Köder
trägt und somit als Abzug dient. Über der Gabel,
die für diesen Zweck Kerben hat, liegt eine
Schlinge aus glatter, fester Schnur, die an einem
Ende des Bogens befestigt ist. Außerdem trägt
N. F. III. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
761
der Bogen noch einen kleinen Anker aus einem
Fichtenzweig, der tief in den Sand gegraben wird
und das etwaige Losreißen der Klepse durch den
gefangenen Vogel verhindern soll.
Die Klepse oder vielmehr gleich mehrere werden
nun am Strand, halb in den Sand vergraben und
mit Fisch beködert, aufgestelt, so daß die Öffnung
des Bogens nach dem Wasser zeigt, die der Gabel
nach der Düne. Dann werden sie sorgfältig mit
Sand oder Schnee verdeckt und nur der Köder
freigelassen. Kommt nun ein Vogel von der
Schälung her, was auch das Gewöhnliche ist, und
will den Fisch aufnehmen, so stößt oder zieht er
den locker sitzenden Abzug ab und die aufsprin-
gende Gabel wirft ihm regelrecht die Schlinge
über, die natürlich von dem zurückschreckenden
Vogel zugezogen wird. Unterdessen kommt schon
der Fänger, der hinter der Düne auf der Trauer
lag, heran, um den Vogel aus der Schlinge zu
nehmen. Übrigens ist es bemerkenswert, daß die
Vögel die Schlinge nie ganz zuziehen, so daß sie
etwa erwürgt werden, sondern ziemlich stillsitzen
und daher ebenso wie die im Schlagnetz ge-
fangenen ganz unversehrt bleiben. Auf diese Weise
werden im Laufe des Tages und Jahres eine hübsche
Anzahl von Krähen und Möwen gefangen, von
denen die Helenser denselben Gebrauch machen
wie die Leute der Kurischen Nehrung, die Möwen
werden jedoch nur von den ärmsten Fischern ge-
gessen.
Interessante Beispiele dies, wie man sich zu
helfen weiß! Nicht wahr?
Jetzt aber zum Schluß noch einige allgemeine
Bemerkungen ! — Ist es dir nicht aufgefallen, was
für ein gutes Beispiel diese unbedeutenden Leute
uns eigentlich geben? Oder hast du nicht etwa
öfters beim Lesen die Nase gerümpft ? — Wenn
nicht, so verzeihe mir diesen Argwohn, ich habe
recht traurige Erfahrungen.
Ja, traurige Erfahrungen, denn traurig ist es,
wenn man so die „gebildeten" Leute über Dinge
reden hört, die zu erproben ihnen natürlich nie
einfiel ; „Das weiß man doch schon so !" — Wie-
viel kommt nicht auf der Welt allein durch unsere
abergläubische Beschränktheit und mangelhafte
Schlußfolgerung um ? Und dabei hören wir so
oft von Notstand, Teuerung und Dürftigkeit ! Wie-
viel Wild wird nicht niedergeknallt und liegen
gelassen? — ,,Ja, solches unjagdgerechte Zeug ge-
genießt man doch nicht !" Und doch ! Es kommt
nur auf Vorurteilslosigkeit an — und die Zube-
reitung! Das merken wir so recht, wenn wir
hören, wie Reisende ferner und naher Länder mit
Entzücken reden von allerlei Gerichten der Wildnis,
von gebratener Reiher- und Schwanenbrust,
Schlangenschnitten, Rattenfrikassee, Haifischkote-
letts, Zebrafilet, Affenbraten, geschmortem Pinguin, —
und andere wieder mit dem größten Abscheu.
Wir brauchen aber gar nicht so weit zu gehen :
Seit unseren Vorfahren wegen der mit der Schlach-
tung verbundenen heidnischen Gebräuche das Pferde-
fleisch von der Geistlichkeit verboten und ver-
ekelt wurde, ist es mit einem Male ,, widerlich",
„ungesund" und was nicht alles ! Auch dem Hunde-,
Katzen- und Ziegenfleisch geht es nicht besser,
und doch hat wohl ein jeder, der nicht sein
eigener Schlächter und Koch ist, eins oder das
andere schon unter einem beliebteren Namen ge-
gessen, — geschmeckt hat's ihm und gestorben
ist er auch nicht dran, — aber — wenn er's
wüßte ! I
Dabei werden die sonderbarsten Dinge mit den
höchsten Preisen bezahlt und gierig genossen, man
denke nur an Salanganennester, Schnepfendreck
u. dgl. Und wenn es sich, wie bei den letzten
beiden, nur um nebensächliche Genüsse handelte,
das wäre ja noch zu verwinden, aber nein, dieses
Vorurteil, — um nicht stärkere Ausdrücke zu ge-
brauchen — , weicht nicht einmal der Not ! Man
stößt immer wieder auf das „Lieber verhungern
als ein liebes Vorurteil aufgeben", — ja, der Spötter
sagt lachend vom Ungebildeten : „Wat de Buer
nich kennt, dat frät hei nich", -- er merkt aber
nicht, daß er sich selbst damit trifft.
Kleinere Mitteilungen.
J. Bernstein, Elektrische Eigenschaften
der Zellen und ihre Bedeutung (Nat. Rundschau
XIX, Xr. 16, 21. IV. 1904).
Durch E. d u B o i s - R e y m o n d in erster Linie
haben wir einen Einblick in elektrische Vorgänge
an den Muskeln und Nerven erhalten , ohne daß
aber nach dem damaligen Stand der Wissenschaft
die Frage nach dem Ursprung dieser Elektrizität
hätte beantwortet werden können. Durch neuere
Untersuchungen von Ostwald, Bernstein u. a.,
die auf der neueren Anschauung von der Theorie
der Elektrizität beruhen, ist diese Untersuchung
ein großes Stück gefördert worden , und Bern-
stein hat über seine und fremde Arbeiten a.a.O.
zusammenfassend berichtet.
Durch Traube und Pfeffer kennen wir
Membranen, die wie Siebe einige Moleküle hindurch-
lassen, andere nicht. So läßt z. B. eine Haut von
Ferrocyankupfer Wasser , aber nicht Zucker hin-
durch, ferner Chlorkalium, aber nicht Chlorbaryum,
nicht Kaliumsulfat, nicht das SO^-Ion, nicht das
Cu-Ion usw.
Wenn nun eine solche Haut die Lösung eines
Elektrolyten umschließt, so können unter Um-
ständen die Ionen der einen Art durch ihre Poren
hilldurchtreten, die der anderen nicht. Dann muß
aber die Haut auf der einen .Seite positiv, auf der
anderen negativ geladen werden, und wenn eine
Verbindung zwischen den beiden Schichten her-
gestellt wird, muß ein Strom auftreten.
Bernstein hat nun in folgender Weise ge-
prüft, ob die vorstehende Theorie des Muskel-
762
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
Stroms richtig ist. Nacli ihr ist das elektrische
Organ des Körpers als sogenannte Konzentrations-
kette aufzufassen, wie man sie sich z. B. dadurch
herstellen kann, daß man ein U-rohr mit Zink-
sulfatlösung füllt , Zinkstäbe in die beiden Enden
taucht und auf der einen Seite der Lösung stärker
verdünnt als auf der andern. Für solche galvani-
schen Ketten, in denen keine chemischen Um-
setzungen stattfinden, gilt der Satz, daß die Elek-
trizitätsspannung der absoluten Temperatur (Null-
punkt bei — 273" C) proportional ist, und Bern-
stein hat nun gezeigt, daß in gewissen Temperatur-
grenzen , an die man ja bei Untersuchungen am
Tierkörper gebunden ist, in der Tat die elektro-
motorische Kraft der Muskel- und Nervenströme
in der angegebenen Weise mit der Temperatur
wächst.
Am besten mußte sich für diese Untersuchungen
das elektrische Organ des Zitterrochens (Torpedo)
eignen, den Bernstein in Gemeinschaft mit
Tschermak im Frühjahr 1903 in Neapel unter-
sucht hat. Dieses Organ besteht aus sehr vielen
platten Zellen, die je aus drei Schichten, einer
Nerven-, Zwischen- und Gallertschicht gebildet
sind. Da es wie eine Serie von kleinen galvani-
schen Elementen gebaut ist, so ist die Stärke des
Stromes nicht zu verwundern , auch wenn man
annimmt, daß die Ladung an jeder einzelnen
Schicht nicht stärker ist, als bei jedem Tier sonst.
Auch hier ergaben die Untersuchungen Bern-
steins, daß zwischen 3" und 30" C das elektri-
sche Organ als Konzentrationskette aufzufassen
ist; die Abweichungen über diese Temperatur-
grenzen hinaus sind dadurch zu erklären , daß
dort das Organ selbst durch die zu tiefe oder zu
hohe Temperatur leidet.
Diese Durchlässigkeit (Permeabilität) der Häute
im Körper ist auch in anderer Beziehung wichtig.
Aus Pflanzenzellen läßt die Zellmembran den
Zucker nicht austreten, aus den Blutkörperchen
das Hämoglobin, aus den Nierenzellen das Eiweiß
u. a. LTnd daß ein Nervenreiz imstande ist, die
Permeabilität der Zellhaut zu ändern, sehen wir
z. B. an den Einwirkungen von Schreck, Furcht
u. a. auf viele Organe unseres Körpers. Es har-
moniert also mit Beobachtungen, wenn angenom-
men wird, daß ein vom Nerven ausgehender Reiz
imstande ist, die Permeabilität der Zellhaut so zu
ändern, daß die Ionen in größerer Zahl hindurch-
treten und den Strom hervorrufen können.
A. S.
Das Staatswesen der Ameisen setzt sich aus
Männchen , Weibchen und Arbeitern zusammen,
die beiden ersteren erfüllen allein die Funktionen
der F~ortpflanzung, die letzteren übernehmen die
eigentliche Arbeit im Stock, Nestbau, Aufzucht
der Jungen, Verteidigung etc. Morphologisch sind
die Arbeiter als reduzierte Weibchen aufzufassen,
wobei die Reduktion sich in erster Linie auf die
Geschlechtsorgane erstreckt. Indessen weiß man
schon seit längerer Zeit, daß die Ovarien der
Arbeiter keineswegs immer derart stark reduziert
sind, daß sie nicht unter bestimmten Umständen
noch Eier zu produzieren vermöchten. Als Kenn-
zeichen einer echten Königin hat man deshalb
das Vorhandensein eines Receptaculum seminis,
einer Tasche am weiblichen Geschlechtsausführ-
gang, welche den bei der Begattung empfangenen
Samen zur Befruchtung der Eier aufbewahrt, als
ausschlaggebendes Moment in den Vordergrund
gestellt.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend stellte
nunMargaretHolliday') systematische Unter-
suchungen über die Reduktion des Genital-
apparates der Arbeiter verschiedener Ameisen-
familien an. Es ergab sich, daß von den Pone-
rinen, der am niedrigsten stehenden Ameisengruppe,
Leptogenys elongata, Pachycondyla harpax und
Odontomachus clarus neben typischen Weibchen
Arbeiter aufweisen, die wohlausgebildete kleine
Eiröhren und ein normal entwickeltes Recepta-
culum seminis besaßen, also wohl in jeder Hin-
sicht die Geschlechtsfunktionen eines echten Weib-
ciiens erfüllen können, während sie äußerlich in
nichts sich von einem gewöhnlichen Arbeiter
unterscheiden. Bei den Ponerinen ist nun an sich
schon der morphologische Unterschied zwischen
Weibchen und Arbeiter nur gering, weit stärker
ausgeprägt ist er bei den Myrmicinen, aber auch
hier fanden sich bei einer Form, bei Leptothorax
emersoni, welche allerdings zahlreiche Ubergangs-
formen zwischen Weibchen und Arbeitern besitzt,
die gleichen Verhältnisse vor, insofern unter lOOO
Ameisen neben 1 1 1 Männchen nicht weniger als
887 Individuen auftraten, die Ovarien und ein
Receptaculum seminis aufwiesen. Ein sehr großer
Teil der äußerlich als Arbeiter gekennzeichneten
Formen zeigte somit innerlich eine typisch weib-
liche Organisation. Erst bei den am höchsten
stehenden Ameisen, bei Camponotinen und Dory-
linen , sind die Gegensätze zwischen der Organi-
sation von Arbeiter und Weibchen schärfer aus-
geprägt. So ist bei dem Weibchen von Eciton
schmitti das Ovarium sowie Receptaculum seminis
sehr stark entwickelt, während bei den Arbeitern
beide äußerst rudimentär und kaum aufzufinden
sind. Ahnliche Verhältnisse weist Camponotus
marginatus auf, wo die Arbeiter nur einige wenige
Eiröhren, nie aber ein Receptaculum besitzen.
Indessen stets fehlt auch in diesen Gruppen das
Receptaculum nicht, es fand sich bei einigen Ar-
beitern von Camponotus fumides var. festinatus
noch vor.
Die Arbeiter vieler Ameisen sind also nicht
ohne weiteres als sterile Formen aufzufassen , sie
können noch durchaus funktionsfähige Ovarien
besitzen, sie können sogar unter Umständen noch
ein wohl entwickeltes Receptaculum seminis auf-
weisen, und nichts steht der Annahme entgegen,
daß diese Individuen dann in jeder Hinsicht die
•) Marg. Holliday, A study of some ergatogynic ants,
Zoolog. Jahrb. Abt. f. Syst. 1903.
N. F. m. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
763
physiologische Rolle eines typischen Weibchens
spielen können. Es ist dies ein höchst bemerkens-
wertes Resultat, dessen Verwertung uns vielleicht
in manchen noch unklaren oder rätselhaften Er-
scheinungen des Ameisenlebens Aufklärung zu
bringen vermag. J. Meisenheimer.
Die Schutzmittel der Flechten gegen Tier-
frafs. — Über diesen Gegenstand veröffentlicht
Prof E. Stahl in der Festschrift zum 70. Geburts-
tage E. Haeckel's (Jena, Fischer, 1904) auf Grund
experimenteller Arbeiten eine eingehende und
höchst interessante Studie. Vorarbeiten über diese
Frage finden sich bei Bachmann „Über nicht kristalli-
sierbare Flechtenfarbstofife", ferner bei Zukal „Mor-
pholog. und biolog. Untersuchungen über die
Flechten", in den Sitzungsber. der Akad. d. Wissen-
schaft in Wien 1895, endlich in einer Abhandlung
von Zopf ,, Zur biologischen Bedeutung der Flechten-
säure." (Biol. Zentralbl. Bd. 14, 1896).
Bei Beurteilung des Wertes der Schutzmittel
für die damit ausgerüsteten Pflanzen ist die zuerst
von Stahl in seiner bekannten Schrift „Pflanzen
und Schnecken" (Jen. Ztschr. f. Naturw.) gemachte
Unterscheidung der Tiere in Omnivoren und
Spezialisten von Bedeutung. Die Omnivoren
Schnecken fressen mit Vorliebe süße Pflanzenteile
(Früchte, süße Wurzel- oder Rhizomteile), einige
nehmen zuweilen auch tierische Kost zu sich.
Doch da sie nur selten in die Lage kommen,
derartige ihnen zusagende Pflanzenteile zu finden,
so nehmen sie auch allerdings nur geringe Mengen
solcher Pflanzen zu sich, die ihnen sonst nicht
sympathisch sind. Nur dürfen dieselben nicht zu
hart und auch nicht durch besondere Geschmacks-
eigcnschaften ausgezeichnet sein. Die Spezia-
listen nähren sich im F'reien hauptsächlich von
Pilzen. Wichtig ist die Tatsache, daß die Om-
nivoren die Fruchtkörper verschiedener Pilze ver-
schmähen , aber im ausgelaugten Zustande gern
fressen, während die Spezialisten begierig nur die
frischen Pilze angreifen. Jedenfalls sind es die-
selben chemischen Substanzen , welche die Om-
nivoren Schnecken abstoßen, die Spezialisten da-
gegen anziehen.
Stahl stellte zunächst Versuche mit Flechten
und Spezialisten an und fand bei mehreren Arten
von Schmetterlingsraupen , die sich vorwiegend
von Krustenflechten ernähren, folgendes: Frische
Flechten wurden von ihnen bevorzugt vor solchen,
bei denen gewisse chemische Stofte durch Aus-
laugen entfernt worden waren. Dasselbe Verhalten
zeigte eine Milbenspezies. Die Schädigungen der
Flechten durch Spezialisten sind jedoch immerhin
selten, und da Fraßspuren überhaupt an Flechten
nicht häufig vorkommen, so darf man mit Recht
vermuten , daß sie auch gegen omnivore Tiere
geschützt sein müssen. Nur durch vergleichende
Versuche kann eine befriedigende Lösung der
Frage erwartet werden. Stahl's experimentelle
Untersuchungen führten zu folgenden Ergebnissen :
In der i. Versuchsreihe wurden lebende Flechten
in Verbindung mit solchen, bei denen etwa in
Wasser lösliche Stoffe (Bitterstoffe, Gerbsäure,
Alkaloide) ausgelaugt waren, hungrigen Schnecken
und Asseln vorgelegt. Bei den geringen Fraß-
spuren, die sich zeigten, war ein Unterschied
zwischen toten ausgelaugten und frischen Flechten
nicht zu erkennen. Dagegen konnte nachgewiesen
werden, daß solche Flechten, bei denen man die
in verdünnter Soda löslichen Stoffe entfernt hatte,
dadurch für omnivore Tiere (Schnecken) genieß-
bar wurden. Nach diesen LTntersuchungen be
hauptet Stahl, daß es Flechtenspezialisten, d. h.
in ihrer Ernährung auf Flechten angewiesene
Schnecken überhaupt nicht gibt. Während die
Versuche mit Omnivoren Gehäuseschnecken, sowie
mit der Mauerassel (Oniscus murarius) und dem
Ohrwurm (Forficula auricularia) zeigten , daß die
zur Nahrung vorgelegten Hechten durch gewisse
in verdünnter Sodalösung lösliche Körper gegen
die genannten Tiere geschützt sind, in ausgelaug-
tem Zustande aber gern gefressen werden, so er-
gaben die Experimente mit der sonst so gefräßigen
Ackerschnecke (Limax agrestis) eine auffällige
Abweichung, indem sie die ausgelaugten Flechten
kaum berührte. , Der Grund dieser Erscheinung
lag, wie weitere Untersuchungen ergaben, darin,
daß die Flechte bei ihrem sehr geringen Zucker-
gehalt die zuckergierige Ackerschnecke nicht zum
Genuß reizt; der Mangel an Zucker kann dem-
nach hier sehr wohl als Schutzmittel gedeutet
werden. Wurde die Flechte durchtränkt mit
Zuckerwasser oder dem süßen Saft von Daucus
carota, so wurde sie ohne Zögern von der L.
agrestis aufgenommen.
Bezüglich der Natur und der Eigenschaften
der Flechtenschutzstoffe ließ sich im allgemeinen
feststellen, daß sie Flechtensäuren sind, deren
Natur auch bei zahlreichen Flechtenarten sicher
ermittelt ist; so enthält Evernia prunastrl z. B.
Atranorsäure, Evernsäure, Usninsäure, die alle in
kohlensauren Alkalien löslich sind. Eine besondere
Bedeutung als Schutzmittel kommt der bittern
Vulpinsäure zu. Für gewisse Flechtensäuren hat
sich ergeben, daß sie in Wasser so gut wie un-
löslich oder nur schwer löslich sind; und das ist
biologisch wichtig; denn die Stoffe sind nicht im
Innern des Flechtenorganismus, sondern auf oder
in den Membranen abgelagert und würden so bei
Befeuchtung z. B. durch Regen oder Tau in Ge-
fahr kommen , ausgewaschen zu werden. Sollen
die Flechtensäuren als Schutzstoft'e in Wirksam-
keit treten, so müssen sie in den Mundteilen der
benagenden Tiere löslich sein. Von besonderem
Interesse war daher die Untersuchung der Schleim-
absonderungen im vorderen Teile des Darmrohres
und in der gesamten Körperoberfläche des Tieres.
Stahl's Versuche mit Limax agrestis und Helix
hortensis ergaben aufs deutlichste, daß der äußere
und innere Schneckenschleim alkalische Reaktion
zeigt, also befähigt ist, die Flechtensäuren in
Lösung zu bringen. Lackmus- und Curcuma-
papierstückchen, mit Zuckerwasser getränkt, wur-
764
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
den von den Tieren als Speise aufgenommen und
zeigten selbst durch die helle Körperoberfläche
des unverletzten Tieres hindurch die charakte-
ristische alkalische Reaktionsfärbung. Bezüglich
des von der Körperoberfläche abgesonderten
Schleimes kann man die alkalische Reaktion leicht
beobachten, wenn man z. B. Helix pomatia über
rotes Lackmuspapier kriechen läßt. Durch Be-
rührung mit der alkalisch reagierenden Körper-
flüssigkeit der fressenden Tiere können die Flechten-
sauren also erst zu ihrer Wirkung als Schutzmittel
gelangen.
Menschenspeichel enthält im Mittel 0,08 "'(,
Natriumkarbonat, reagiert also alkalisch und übt
daher auch eine lösende Wirkung auf die Schutz-
stoffe der Flechten aus. Man kaim dieselbe leicht
z. B. an Variolaria amara, Imbricaria caperata,
Evernia prunastri u. a. beobachten, wenn man
Thallusstücke auf der Zunge hin- und herschiebt.
Es tritt bald die für die Flechtenbitterstoffe cha-
rakteristische Geschmacksempfindung hervor. Da
sich die Schutzstoffe vieler Flechten durch Speichel
extrahieren lassen, so war eine einfache Methode
gegeben, um nochmals ihre Wirkung auf omnivore
Tiere zu prüfen. Mauerasseln , Helix hortensia,
Limax agrestis bevorzugten die mit Speichel extra-
hierten Flechtenstücke. Mit dem ebenfalls alkalisch
reagierenden Schneckenspeichel, der in gröl3eren
Mengen Verwendung fand, ließen sich die gleichen
Wirkungen feststellen. Stahl erblickt in diesen
Tatsachen einen Hinweis darauf, daß die in Wasser
(mit dem sie zufolge der Organisation der Flech-
ten leicht in Berührung kommen) unlöslichen, aber
in alkalischen Sekreten der fressenden Tiere lös-
lichen Schutzstoffe sich unter dem züchtenden
Einfluß pflanzenfressender Tiere entwickelt haben
und hebt als theoretisch wichtiges Ergebnis dieser
Untersuchungen hervor, daß auch der Chemismus
der Pflanze, nicht nur die Formbeschaffenheit der
Anpassung unterliegt. Für diese Anschauung
sprechen überzeugend die vergleichenden Unter-
suchungen an Gallertflechten (Collemaceen). Bei
ihnen fehlen die Flechtensäuren; denn hier konn-
ten sie als Schutzstoffe nicht wirken, da diese
Abteilung der Flechten , wie Versuche zeigten,
wegen ihrer gallertigen Beschaffenheit weder von
Asseln noch von Schnecken geschädigt werden
können.
Die Flechtensäuren haben aber wohl nicht
allein darin ihre Aufgabe, für ihren Träger ein
Schutzmittel gegen pflanzenfressende Tiere zu sein;
vielmehr geht aus vorläufigen Orientierungsver-
suchen Stahl's hervor, daß sie den Flechtenorganis-
mus auch vor der Zerstörung durch Bakterien zu
bewahren imstande sind, eine Frage, die der ein-
gehenden Bearbeitung noch harrt.
Jena. F. Schleichert.
Neubildung von Steinkohle. — Eine Be-
obachtung wurde in der letzten Sitzung der geo-
graphischen Gesellschaft in Manchester mitgeteilt.
Es handelt sich um die Umwandlung von Kohlen-
staub in feste Kohle während einer Zeit von 2 — 3
Jahren. Aus einer Kohlengrube hatte man vor
einigen Jahren Wasser in die Höhe gewunden und
in einen hölzernen Trog gegossen, der im Boden
ein Loch hatte, so daß sich das Wasser in der
Erde verlor. Es stellte sich nun heraus, daß sich
im Laufe der Zeit an den senkrechten Stellen des
Troges ein winziges Kohlenflötz aus harter kristalli-
sierter Kohle entwickelt hatte, das in seiner Be-
schaffenheit ganz einer natürlichen Bildung glich.
Diese kleine Beobachtung gibt insofern zu denken,
als man für die Bildung eines Kohlenflölzes bisher
einen Zeitraum von Millionen Jahren unter gleich-
zeitiger Wirkung von Hitze und Druck für not-
wendig angenommen hat. Vielleicht ist hier ein
Weg gezeigt, um durch Versuche zu einer besse-
ren Aufklärung der Entstehung von Kohlenlagern
zu gelangen, als man sie bisher hat geben können.
So interessant auch diese Mitteilung ist, so
kann von einer Neubildung von Steinkohle natür-
lich gar nicht die Rede sein, da ja die Steinkohle,
wenn auch in Staubform , schon vorhanden war.
Es handelt sich also nur um eine Zusammenkittung
dieses Kohlenstaubes. Wahrscheinlich haben die
im Wasser gelösten Salze , bei der jahrelangen
Durcktränkung und Wiederverdunstung des Wassers,
den Kitt für die feinen .Staubteilchen abgegeben.
Man hat es offenbar mit einer den Tongesteinen
(Tonschiefern etc.) ähnlichen Bildung zu tun; hier
ist es Ton- dort Kohlenschlamm, welcher zu fester
Masse erhärtet. Immerhin ist auch so diese Be-
obachtung noch beachtenswert genug, weil man
zur Bildung solcher harter Massen aus weichem
Material , wie in dem Bericht hervorgehoben ist,
meistens große Zeiträume voraussetzte, unter
gleichzeitiger Einwirkung von starkem Druck und
Hitze. Dr. Odernheimer.
Schon wieder eine neue Art Ausstrahlung
glaubt Blondlot mit Hilfe des phosphores-
zierenden Schwefelcalciumschirmes entdeckt zu
haben (Comptes rendus vom 13. Juni 1904). Hält
man nämlich senkrecht über den leuchtenden
Schirm eine Münze (z. B. ein Zweifrankstück), so
soll die Phosphoreszenz deutlich gesteigert werden,
und dies sogar bei einer Höhe der Münze von
mehreren Metern, wofern sie nur genau senkrecht
über dem Schirm gehalten wird.*) Jede seitliche
Verschiebung oder Neigung bedingt dagegen so-
fortiges Aufhören der Wirkung und wenn die
Münze unter den Schirm gehalten wird, so wirkt
sie nur auf wenige Zentimeter Entfernung. Blond-
lot nimmt daher das Vorhandensein einer bestän-
digen und nach allen Richtungen erfolgenden
Ausströmung eines materiellen Stoffes an, der der
Schwere gehorcht und die Phosphoreszenz des
Schwefelcalciums beim Auftreffen zu steigern be-
fähigt ist. Die Experimente sollen außer mit
Silber auch mit Kupfer, Zink, Blei und befeuch-
1) Die Wiederholung des Versuches geUing dem Referenten
bei Benutzung eines Zweimarkstückes nicht.
N. F. m. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
765
tetem Karton gelungen sein, während Gold, Platin,
Glas und trockener Karton wirkungslos blieben.
Orientiert man die Münze in vertikaler Stellung,
so findet man Wirkung auf zwei Kurven , die
zwar keine genauen Parabeln zu sein scheinen,
aber sonst mit langsam nach beiden Seiten aus-
fließenden Flüssigkeitsstrahlen Ähnlichkeit haben.
Verschiedene Kontrollversuche (mit sich begegnen-
den, schrägen Strahlen etc.) sollen durchweg die
vorgetragene Auffassung bestätigt haben. Papier
und Karton werden von der Ausströmung durch-
drungen, Glas dagegen niclit; von letzterem prallt
dieselbe zurück wie ein Wasserstrahl. — So sehr
uns auch dieser neuesten Entdeckung gegenüber
dieselbe Skepsis am Platze erscheint wie bei den
N-Strahlen, glaubten wir sie unseren Lesern doch
nicht vorenthalten zu dürfen. Nach einer Mit-
teilung vom 26. Juni ist die in Rede stellende
Emanation vom Magneten ablenkbar und zwar
erklären sich Blondlot's Beobachtungen durch die
Annahme, daß von der Münze sowohl unelektri-
sche, als auch positiv und negativ geladene Teil-
chen ausströmen. Dementsprechend wirken auch
elektrisch geladene Körper ablenkend auf die
Emanation ein. Ein Luftstrom führt übrigens
gleichfalls die Emanation mit sich fort.
Ferner hat auch Bichat am phosphores-
zierenden Schirm eine Anzahl merkwürdiger
Helligkeitssclnvankungen, die z. B. durch die Nähe
gewisser Gase hervorgerufen werden, bei völlig
ausgeruhtem Auge beobachtet (Comptes rendus
vom 24. Mai), die ihn zu dem Ausspruch führen:
„Alle diese Tatsachen zeigen, daß die Helligkeits
Schwankungen eines phosphoreszierenden Schirmes
mit großer Empfindlichkeit alle Veränderungen
anzeigen, welche sich in einem Körper infolge der
verschiedensten physikalischen , chemischen oder
physiologischen Einwirkungen vollziehen.
I'. Kbr.
Himmelserscheinungen im September 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist in der zweiten
Hälfte des Monats bis Yi Stunden lang als Morgenstern sicht-
bar, Venus ist nur für wenige Minuten abends siebtbar,
Mars kann morgens 2'/.> Stunden lang im Löwen gesehen
werden, während Jupiter und Saturn ziemlich die ganze
Nacht hindurch beobachtbar sind, ersterer in den Fischen,
letzterer im Steinbock.
Verfinsterungen der Jupitermonde:
4. Sept. 9 Uhr 49 Min. 34 Sek. M.E.Z. ab., Eintr. d, I.Trab.
10. „ II „ 17 „ 29 „ „ „ „ „ II. „
11. „ II „ 24 „ 5 .. n .. .. " I- ..
17- ., 8 .. 56 „ 17 „ „ ,. n .. IIl- ..
17- ., 10 .. 51 .> 4 M .. ,. Austr. „ 111. „
27. „ 10 „ 2 „ 13 „ „ „ Eintr. ,. 1. „
Sternbedeckung : Am 29. wird der Stern ;■ Tauri durch
den Mond bedeckt. Für Berlin tritt der Stern um 10 Uhr
15,4 Min. M.E.Z. abends in den östlichen Mondrand ein und
kommt um 1 1 Uhr 8,8 Min. am westlichen Kandc wieder
hervor.
Eine in Europa unsichtbare , totale Sonnenfinsternis
ereignet sieh am Abend des 9. Die Totalitätszonc läuft von
Neu-Guinea nach Chile,
Algol-Minima-. Am 6. um 10 Uhr 53 Min. abends, am
9. um 7 Uhr 42 Min. abends und am 29. um 9 Uhr 22 Min.
abends.
Bücherbesprechungen.
Dr. Hans Hefs, königl. GymnasialProfessor in Ans-
bach, Die Gletscher. Braunschweig, 1904.
Vieweg & Sohn. — Preis geh. 15 Mk.
Die letzte zusammenfassende Darstellung der
Gletscherkunde gibt uns Heim's bekanntes Handbuch
aus dem Jahre 1885. Seitdem haben zahlreiche und
sehr wertvolle Arbeiten sowohl in den Hochgebirgen
wie in den Polargebieten unser Wissen von den Glet-
schern außerordentlich vermehrt und die Gletscher-
forschung auf eine ganz veränderte Basis gestellt.
Der durch seine Arbeiten an ostalpinen Gletschern
rühmlichst bekannte Verfasser hat sich nun der schwie-
rigen und dankenswerten Aufgabe unterzogen, eine
Gletscherkunde nach heutigen Gesichtspunkten zu
schreiben.
Schon beim Durcliblättern des Buches fällt ein
Faktor ins Auge : Die Fülle von exakten Daten. Wohl
die meisten äußeren Erscheinungen, die wir an Glet-
schern wahrnehmen können, sind schon den vortreff-
lichen Beobachtern aus der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts, den Hugi, Agassiz, Forbes und zuletzt
Tyndall bekannt gewesen. Aber für vieles hat erst
die messende Tätigkeit der letzten Jahrzehnte die
rechnerischen Belege, die mathematische Begründung
gebracht.
hl vielen theoretischen Fragen schließt sich Heß
an Finsterwalder an und entfernt sich von Heim und
seinen Anhängern. Im Gegensatz zu dem Züricher
Forscher sieht er im Gletscher ein Erosionsinstrument
von gewaltigster Wirkung. Nach seinen Versuchen
würde die Gletscherzunge des Hintereisferners jährlich
etwa 2 cm von ihrem Felsuntergrunde abtragen. In
der Bänderung der Gletscherzunge erblickt der Ver-
fasser nicht, wie Heim, eine Druckerscheinung, die
der Schieferung entspricht , sondern lediglich die
ursprüngliche F'irnschichtung, bei der Bewegung des
Gletschers spielt nicht die Regelation , sondern die
dem Eise innewohnende Plastizität die Hauptrolle.
Besonders interessiert hat mich der Abschnitt über
die Innenmoränen ; ich habe diesen Typus , auf den
man erst in neuerer Zeit aufmerksam geworden ist,
in großer Verbreitung auch an antarktischen Eisbergen
beobachten können.
Am wenigsten hat mir der letzte .\bschnitt des
Buches gefallen , der von den Erscheinungen der
diluvialen Eiszeit handelt. Gegenüber den Diluvial-
erscheinungen in den Alpen, die doch schließlich nur
einen räumlich beschränkten Spezialfall darstellen,
kommt die große allgemeine Vereisung Nordeuropas
und Nordamerikas zu kurz. Man kann unmöglich die
gesamten Diluvialerscheinungen Norddeutschlands in
einen Raum von zwei Seiten zusammenpressen, ohne
da oder dort arge Lücken zu lassen. So ist z. B.
von den für die glaciale Hydrographie so wichtigen
Uistromtälern gar nichts erwähnt und ebenso fehlt
z. B. bei Noidamerika der Hinweis auf die merk-
würdige „driftless area." Daß man bei der Verglet-
scherung des schwäbischen Juras, die in letzter Zeit
so oft diskutiert worden ist, sich nicht lediglich mit
einer Berufung auf Oskar Fraas begnügen darf, unter-
766
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
liegt wohl keinem Zweifel. Stand dem Verfasser für
einen weiteren Ausbau dieses Kapitels nicht mehr
Raum zur Verfügung , so wäre wohl ein Verzeichnis
der einschlägigen Literatur von größerem Nutzen ge-
wesen, als eine allzu knappe Darstellung.
Dem Buche sind 4 Karten , eine Übersichtskarte
der Gletscher und Schneehöhen auf der ganzen Erde,
je eine Spezialkarte eines Gletschergebietes aus dem
zentralen Kaukasus und des Justedals Bräen und eine
Rekonstruktion des eiszeitlichen Oglio-Gletschers, bei-
gegeben. Neben zahlreichen Zeichnungen schmücken
8 sehr instruktive Vollbilder, nach ausgezeichneten
Photographien, das Werk und man muß es nur be-
dauern , daß nicht auch die verschiedenen Moränen-
formen und die Erscheinungen der Gletscheroberfläche,
wie Gletschertische, Sandpyramiden etc., in gleicher
Weise zur Darstellung gelangt sind.
Wenn auch vielleicht nicht jeder Gletscherforscher
mit den Anschauungen des Verfassers übereinstimmt,
so wird er ihm doch für das überaus nützliche Buch,
mit dem Heß die deutsche Literatur bereichert hat,
seinen Dank wissen. Dr. E. Philippi.
Kapitän O. Sverdrup , Neues Land. Leipzig,
F. A. Brockhaus, 1903. 2 Bände mit 225 Ab-
bildungen und 9 Karten.
Es war im September 1896. „Fram" war soeben
von ihrer glorreichen ersten Fahrt zurückgekehrt und
löschte ihre Ladung im Christiania-Fjord. Da erhielt
ihr trefflicher Kapitän die Anfrage, ob er bereit wäre,
eine neue Reise nach Norden zu unternehmen. Wohl
wenige hätten in seiner Lage mit ja geantwortet.
Sverdrup jedoch willigte ohne Zaudern ein und damit
war die Expedition beschlossen , über deren erfolg-
reichen Verlauf ihr mutiger Führer nunmehr in einem
zweibändigen Werke berichtet.
Die Anregung und Finanzierung ging aus von
dem Konsul Axel Heiberg und den Gebrüdern
Ringnes. Bereitwillig lieh die norwegische Regierung
die „Fram" und trug die Kosten für die notwendigen
Veränderungen.
Der Plan war , durch den Smith-Sund längs der
Nordküste von Grönland möglichst weit vorzudringen
und wenn möglich , an der grönländischen Ostküste
zurückzukehren. Vom Vorstoß gegen den Nordpol
war nicht die Rede.
Am 24. Juni 1898 verließ die „Fram", vorzüglich
ausgerüstet und mit einem tüchtigen wissenschaftlichen
Stabe an Bord, den Heimatshafen. Zunächst wurden
verschiedene Punkte in Westgrönland angelaufen, um
Hunde und Kohlen an Bord zu nehmen. Am 5. August
verließ man LTpernivik. Die Melville-Bay erwies sich
als gut passierbar, im Smith-Sund wurde jedoch jeder
weitere Fortschritt durch geschlossen andrängendes
Packeis vereitelt. Ende August bezog „Fram" ihr erstes
Winterlager in der Rice- Straße, zwischen der kleinen
Pim-Insel und EUesmere-Land. Noch während des
Herbstes wurde durch mehrere Schlittenreisen die
Grenze von Ellesmere- und Grinnell-Land aufgeklärt.
Es stellte sich heraus, daß der Hayes-Sund nicht, wie
man bisher vermutete, beide Länder trennt, sondern
ein sich nach Westen verzweigender Fjord ist. Je-
doch schneiden seine Äste so tief in das Land ein,
daß es im Frühjahr gelang, hier das EUesmere-Land
zu durchqueren und einen Fjord der Westseite, den
Bay-Fjord, zu erreichen. Der erste Winter verlief
ohne Zwischenfälle, allein bei einer kurzen, sommer-
lichen Schlittenfahrt fand der Arzt der Expedition,
Dr. Svendsen, seinen Tod. Frisches Fleisch war
stets reichlich vorhanden, da das Ellesmere Land
große Herden von Moschusochsen beherbergte.
Einige Tagereisen nördlich von der „Fram" lag Peary's
Windward, dem die Framleute im Frühjahr einen
Besuch abstatteten. Sie selbst erfreuten sich am Ende
des Winters häufig des Besuches von Eskimos, welche
von der grönländischen Seite des Smith-Sundes herüber-
kamen.
Am 24. Juli 1899 konnte „Fram" wiederum die
Anker lichten, allein auch in diesem Sommer waren
die Eisverhältnisse im Smith-Sunde so ungünstig, daß
jedes weitere Vordringen nach Norden ausgeschlossen
erschien. Es blieb nichts anderes übrig, als zurück-
zugehen und südlich vom Ellesmere-Lande neue Auf-
gaben zu suchen. Am i. September 1899 bezog
Fram ihr zweites Winterquartier im Hafenfjord auf
der Nordseite des Jones-Sundes, an der Südküste des
Ellesmere-Landes.
Noch im Herbst wurde auf kleineren Schlitten-
reisen die Südküste des südwestlichen Ellesmere-
Landes, das die Framleute König Oskar-Land tauften,
erforscht. In dieser Zeit starb auf der „Fram" der
Heizer Braskerud, der zweite Todesfall. Im Frühjahr
1900 lernte man auf großen und teilweise sehr
schwierigen Schlittenreisen auch die Ostküste des
König Oskar- Landes bis zum 80. Grad kennen. Wäh-
rend Sverdrup auf einer Fahrt nach Norden begriffen
war, brach auf dem Oberdeck der „Fram" ein sehr
gefährlicher Brand aus, dessen jedoch die Mannschaft
nach hartem Kampfe Herr wurde.
Auch in diesem Jahre brach das Eis sjiät auf
Erst am 9. August 1900 konnte „Fram" ihr zweites
■Winterquartier im Hafenfjord verlassen und steuerte
durch den Jones-Sund nach Westen. Im Belcher
Kanal wurde Fram gegen Ende .August vom Eise
besetzt, kam aber Mitte September wieder frei und
kehrte durch die Cardigan-Straße nach dem Jones-
Sunde zurück, um im „Gänsefjord" an der Südkuste
des Köni<T Oskar-Landes wenig westlich von ihrem
zweiten Winterquartier ihr drittes zu beziehen.
Das dritte Polarjahr verlief ähnlich wie die frühe-
ren. Kleinere Schlittenfahrten fanden noch im Herbst,
größere im Frühjahr statt. Für die geographischen
Forschungen war dieses Jahr ganz besonders wichtig.
Westlich vom Ellesmere- und Grinnell-Lande und von
ihm getrennt durch einen schmalen Sund wurde eine
große Insel konstatiert, das Axel Heiberg-Land. Drei
weitere Inseln fanden sich westlich und nordwestlich
von Nord-Cornwallis : das König Christian-Land, das
EUef Ringnes- und Amund Ringnes-Land. Damit er-
schien die Aufgabe der Expedition gelöst; die bis
dahin fast unbekannte Westküste des Ellesmere- und
Grinnell-Landes und die Inseln zwischen ihr und dem
Belcher Kanal, bzw. Bathurst-Lande, eine weite Terra
N. F. m. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
767
incognita, waren mit genügender Genauigkeit erforscht.
„Fram" durfte nunmehr zurückkehren.
Allein in diesem .Sommer brach das Eis an der
Mündung des Gänsefjords nicht auf. Noch ein vier-
tes Mal mußten die tapferen Framleute den Unbilden
des Polarwinters trotzen. Daß auch dieses letzte Jahr
noch in vieler Hinsicht die bereits gewonnenen Re-
sultate bereicherte und ergänzte, versteht sich von
selbst.
Endlich, am 6. August igo2, nach vier langen,
arbeitsreichen Polarjahren, konnte „Fram" ihren Kiel
der HeuTiat zuwenden.
Sverdrup's Buch liest sich gut ; es ist durchweht
von einem derben Seemannshumor und hält sich frei
von jeder Sentimentalität und Prahlerei. Jagdaben-
teuer mit Eisbären, Moschusochsen, Seehunden und
anderem Polarwild nehmen einen breiten Raum ein.
Vielleicht erhält das Buch durch sie einen zu feuille-
tonistischen Ton, der manchen Leser zur Unterschätzung
der nichtsportlichen Resultate verleitet. Nur wer
selbst einmal auf dem Eise kampiert hat , weiß,
von wieviel schwerer und gewissenhafter Arbeit, von
wieviel Gefahr und Wagemut diese Zeilen erzählen.
An Sverdrup's Erzählung schließen sich einige
kurze wissenschaftliche Berichte über die geologischen
Arbeiten von Schei , die botanischen und meteoro-
logischen von Simmons und die zoologischen von
Bay an.
Die zahlreichen Abbildungen, welche das Werk
schmücken, sind meist recht gut gelungen.
Dr. E. Philippi.
z. B.
Dr. R. A. Wischin, Cheiniker und Fabriksleiter der
Naphthaproduktionsgesellschaft Gebr. Nobel, Die
Naplithene (zyklische Polymethylene des Erd-
öls) und ihre Stellung zu anderen hydrierten zykli-
schen Kohlenwasserstoffen. Braunschweig, Fr. Vie-
weg & Sohn. 1901. — Preis 5 Mk.
Ein unentbehrliches Handbuch für jeden über
Petroleum arbeitenden Naturwissenschaftler. Auf die
Einleitung , die über Vorkommen , Verbreitung und
mögliche technische Ausnutzung der Naphthene und
ihrer Derivate berichtet, folgen: Geschichte der
Xaphthenchemie, Allgemeine Eigenschaften , Darstel-
lung der reinen Naphthene, Synthese, Konstitutions-
bestimmung und die den größten Teil des Buches
einnehmende lexikalische Zusammenstellung der zykli-
schen Polymethylene und ihrer Derivate.
Die Naphthene, gesättigte Kohlenwasserstoffe mit
ringförmiger Konstitution, stehen im System der orga-
nischen Chemie zwischen der aliphatischen und der
aromatischen Reihe. Man könnte sie entstanden
denken aus Grenzkohlenwasserstoften durch einlache
Ringschließung unter Verlust von Wasserstoff;
z. B. GH.— GH,— GH.,
CR, -GH.,— GH,
GH.,— GH.,— GH. GH.,- GH.,— GH,
Oder aber aus Benzolkohlenwasserstoffen durch
Zerstörung des komplizierten Ringes und Absättigung
der freiwerdenden Valenzen ;
GH
gh/\ch
ghÜ Jgh
GH,
GHj
ghJ
\gh.,
GH,
GH GH.,
In der Tat sind die Naphthene von der Paraffin-
reihe wie von der Benzolreihe aus darstellbar. —
Dieser doppelköpfigen Konstitution entspricht auch
ihr chemisches \'erhaltcn , wenngleich sie im allge-
meinen den Fettk-ohlenwasserstoffen näher stehen als
den aromatischen. Sie sind, wie erstere, erheblich
beständiger als letztere. Indessen existieren auch
Naphthenderivate, die wiederum der aromatischen
Reihe sehr nahestehen.
Im Erdöl sind von diesen eigenartigen Verbin-
dungen mindestens drei verschiedene Gruppen vor-
handen , die man den Pentamethylenen (mit fünf-
gliedrigem Kern), den He.xamethylenen (mit sechs-
gliedrigem Kern) und den hexahydrierten Benzolen
zurechnet.
GH.,
GH.,/ \gH.,
GH,'\ JgH„
GH,— GH„
GH,
GH., -GH.,/
Pentamethylen
GH,— GH, — GH,
I
GH.,— GH,— GH2
Hexamethylen
GH.,
he.xahydriertes
Benzol
Nachgewiesen sind sie in allen Erdölen , bei den
kaukasischen machen sie sogar 80 — 90 "j^ des ganzen
Kohlenwasserstofifgemisches aus. H. Stremme.
i) Ignaz Dickl, Zur Effektberechnung von
Flug vor rieh tungen. Mit 27 Abb. Wien 1904,
Spielhagen u. Schurich. 43 Seiten. Preis 3 M.
2) Hans Lösner, Levitation und Flugpro-
blem. Gotha 1904. R.Schmidt. 18 Seiten. Preis
0,50 M.
i) Die Dickl'sche Schrift enthält nur eine Anzahl
von Formeln zur Berechnung des bei Flugvorrichtungen
aufzuwendenden Effekts, durch welche eine Anzahl von
Irrtümern anderer Autoren berichtigt werden sollen.
Wir müssen die Nachprüfung der hier gebotenen
Formeln den betr. Spezialisten überlassen. Allgemeiner
interessierende Fragen werden in der Schrift nicht
behandelt, der „zur Feststellung" überschriebene Anhang
über das Radium und die Eiriissionshypothese des
Lichts steht mit dem Gegenstande der Schrift in keinem
Zusammenhange.
In Nr. 2 wird die Lösung des Flugproblems durch
„Levitation" in Aussicht gestellt, d. h. durch eine Auf-
hebung der Schwerkraft auf mystischem Wege. Verf.
führt aus einem Werke du Prel's eine Anzahl von
„Fällen" magischen Schwebens an , die samt und
sonders nicht als erwiesen gelten können, und wagt
es daraufhin, kühn die Behauptung aufzustellen, daß
das Ziel des Flugproblems durch das Studium jener
okkultistischen Erscheinungen in der näclisten Zukunft
erreicht werden wird. Leichter kann man sich „eine
naturwissenschaftliche Studie" allerdings nicht machen !
F. Kbr.
768
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 48
Literatur.
Pfänder, Priv.-Doz. Dr. Alex. : Einführung in die Psychologie.
(VII, 423 S.) gr. 8°. Leipzig '04, J. A. Barth. — Geb. in
Leinw. 6 Mk.
Schneider, Camillo Karl: Handbuch der Laubholzliunde.
Cliarakteristik der in Mitteleuropa lieim. u. im Freien an-
gepflanzten angiospermcn Gehölz-Arten u. Formen m. Aus-
schluß der Bambuseen u. Kakteen. I. Lfg. (VI, IV, 100 S.
m. 95 Abbildgn.) Lex. 8". Jena '04, G. Fischer. — 4Mk.
Schroeter, Prof. Dr. C. ; Das Pflanzenleben der Alpen. Eine
Schilderung der Hochgebirgsflora, unter Mitwirkg. von Dr.
A. Günthart, Frl. Marie Jerosch und Prof. Dr. P. Vogler.
Mit vielen Abbildgn., Taf. u. Tab. Zeichnungen v. Ludw.
Schroeter. (In 4 Lfgn.) 1. Lfg. (124 S. m. 4 Tab., Titel-
bild und 5 Tafeln.) gr. 8°. Zürich '04, A. Raustein. —
2,80 Mk.
Wagner, Dr. Herrn. : Orometrie des ostfälischen Hügellandes
links der Leine. Dazu : Eine Höhenschichtenkarte d. ostfäl.
Hügellandes links der Leine. (55 S.) Stuttgart '04, J. Engel-
horn. — 4 Mk.
Winkler, Hub.: Betulaceac m. 178 Einzelbildern in 28 Fig.
u. 2 Verbreitungskarten. (149 S.) Leipzig '04, \V. Engel-
mann. — 7,60 Mk.
Briefkasten.
Herrn R. H. in Stettin. — Krage: Welches Futter kann
man fiir ganz junge Makropoden verwenden, wenn man Daph-
nien , die als geeignetes Futter bezeichnet werden, nicht in
genügender Menge bekommen kann? Welches Buch gibt Rat-
schläge in dieser Beziehung? Wie erhält man dem Aquarium-
wasser eine möglichst gleichmäßige, warme Temperatur ohne
Heizung, wie vermeidet man also möglichst die nächtliche Ab-
kühlung? — Ein Buch, das sich mit den von Ihnen gestellten
Fragen beschäftigt, ist E. Bade, Das Süßwasser-Aquarium,
Berlin l8g6, Preis 15 Mk. Speziell mit der Zucht der
Makropoden oder Paradies fische (Polyacanünis viridi-
aiiraiiis), beschäftigen sich G. Find eis, Der Makropode,
seine Pflege und seine Zucht, Wien 1887, Preis 40 kr. und
B. Dürigen, fremdländische Zierfische, Berlin 1886, Preis
1,50 Mk., im Auszug wiedergegeben in der Naturw. Wochen-
schrift Bd. 12, 1897, S. 545 — 47. — Über die Nahrung der
jungen Fische sagt Bade (S. 347): ,,Nach dem Schwinden
des Dottersackes ernähren sich die jungen Fische von Infusions-
tierchen, welche Nahrung mit der fortschreitenden Entwicklung
geändert werden muß. Cyclops sind für die jungen Fische
im jungen Alter eine sehr zweckmäßige Nahrung, später bei
fortschreitender Entwicklung werden auch Daphnien genom-
men." Erwachsene Makropoden fressen nach Benecke
(Brehm's Tierleben, 3. Aufl. Bd. 8, Fische, Leipzig 1892,
S. 186) auch Insektenlarven, Muschelkrebse und Würmer.
Große Regenwürmer wurden von Be necke in Stücke zer-
schnitten. — Einem Aquarium ohne Heizung eine dauernd
gleichmäßige höhere Temperatur zu geben, dürfte kaum
möglich sein. Doch gibt es nach Bade (S. 35 — 39) sehr
einfache Heizapparate. Es würde zu weit führen, hier näher
auf den Gegenstand einzugehen. Dahl.
Herrn E. J. K. in Nimwegen (Holland). — Frage; Bei
der Herstellung von Alkohol-Präparaten benutzte ich
zum Aufkleben der Objekte Glyzerin- Gelatine nach
Kaiser, bezogen von Dr. Grübler in Leipzig. Bei der
Wärme der letzten Tage wird aber die Gelatine flüssig und
die Präparate fallen herunter. Auch wird die Gelatine leicht
trübe. Können Sie mir etwas Besseres empfehlen f — Selenka
empfiehlt im Zoologischen Anzeiger (Bd. 5, 1882, S. 168)
Hausenblase. Im zoologischen Museum zu Berlin wird vielfach
Photo.Nylin verwendet. Dahl.
Herrn Dr. W. V. in Bern. — Frage: Welche Literatur
existiert über die Lebensweise von Anableps tetroph-
thalmus? Gibt es Arbeiten, die sich mit der Anatomie der
Augen dieses Fisches befassen? — In den bekannleren Lehr-
büchern der Zoologie und auch in der neuesten Auflage von
Brehm's Tierleben findet man tatsächlich über die Lebens-
weise dieses äußerst interessanten Fisches gar nichts oder sehr
wenig. Und doch zeigt gerade er und seine wenigen Gattungs-
genossen uns in ausgezeichneter Weise, wie der Bau und die
Lebensweise eines Tieres in engster Beziehung zueinander
stehen , wie die Natur die eigenartigsten Formen zu schaffen
vermag, wenn die Lebensbedingungen es verlangen. — Die
Hornhaut des Auges ist bei Anableps durch einen wagerechten
Pigmentstreifen in zwei Teile zerlegt und ebenso ist die Netz-
haut durch eine in gleicher Richtung verlaufende Falte in
zwei rechtwinklig zueinander liegende Teile geteilt. Die Ab-
schnitte der Retina entsprechen genau den beiden Pujiillen-
üffnungen. Der untere Teil der Cornea ist stärker gewölbt
und für das Sehen im Wasser geeignet, der obere für das
Sehen in der Luft (Klink o wström in: Skandinav. Arch. f.
Physiologie Bd. 5, 1893, S. 67; Auszug in: Zoolog. Zentral-
blatt Bd. I, S. 121). Die Arten der Gattung leben in Ame-
rika , besonders in Flußmündungen. Sie schwimmen an der
Oberfläche des Wassers und ragen so weit aus demselben
hervor, daß der Wasserspiegel das Auge in der horizontalen
Pigmentlinie trifft. Der obere Teil leistet offenbar bei der
Jagd auf Insekten , welche die Nahrung des Fisches bilden,
vorzügliche Dienste (A. C. L. G. Günther, An Introduction
to the study of Fishes, Edinburgh 1880, S. 113 und D. S.
Jordan und B. W. Evermann, The Fishes of North and
Middle America in: Bull, of the United States National-
Museum, Nr. 47, 1896, S. 684). Der Fall zeigt recht deutlich,
in wie weitgehendem Maße die äußeren Lebensbedingungen
es sind, welche die Gestaltung des Tieres bedingen. Es wäre
geradezu absurd, hier innere Ursachen für jene eigenartige
Form der Augen annehmen zu wollen und die vielen Autoren,
die auch heute noch fast die ganze Ausgestaltung des Tier-
körpers auf innere Ursachen zurückführen möchten, kann man
nicht genug auf Beispiele dieser Art hinweisen. In den
meisten Fällen, die wir in der Natur beobachten, ist der Zu-
sammenhang zwischen Bau und Lebensweise auch nicht an-
nähernd so augenfällig wie hier. In vielen Fällen ist die
Lebensweise nicht hinreichend bekannt. Ich meine deshalb,
daß derartig günstige Beispiele in keinem Lehrbuch der
Zoologie , das für Studierende an Universitäten bestimmt ist,
fehlen sollten. Dahl.
Berichtigung. In einem ganz interessanten Artikel über
Schleim von B. Schröder in der Naturw. Wochenschr. Nr. 36
vom 5. Juni, S. 570, erste Spalte im untern Drittel steht, daß
eine Schneckenart (Helix nigrocinerca) sich an einem Schleim-
faden herablassen könne. Helix ist eine Schnecke mit äußerer
Schale und eine H. nigrocinerea ist mir nicht bekannt, gibt es
wahrscheinlich auch nicht. Ohne Zweilei ist Limax cinereo-
niger Wolf gemeint, eine in Deutschland nicht seltene
Nacktschnecke , welche , wie auch andere Nacktschnecken
derselben Gattung Limax , sich an einem Schleimfaden von
Gebüsch oder Bäumen herablassen kann. Von Landschnecken
mit äußerer Schale wie Helix wüßte ich nicht, daß sie sich
an einem Schleimfaden herablassen können , sondern nur von
einzelnen ausländischen, daß sie sich mit derartigen Fäden an
fremde Gegenstände zeitweise anheften, wie es manche Muscheln
innerhalb des Wassers tun. Der Irrtum liegt also nur im Na-
men, nicht in der Sache.') Prof. E. v. Martens.
') Vgl. übrigens auch den Artikel von Ballerstedt in die-
ser Zeitschrift N. F. Bd. I, S. 463 : ,,Eine spinnende Schnecke."
Red.
Inhalt: Prof. Bokorny: Einiges über die Pilze im Dienste von Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft. — Dr. med.
Arthur Luerssen: Der Krähenfang an der Ostseeküste. — Kleinere Mitteilungen: J. Bernstein: Elektrische
Eigenschaften der Zellen und ihre Bedeutung. — Margaret Hollida y: Reduktion des Genitalapparates der Arbeiter
verschiedener Ameisenfamilien. — E. Stahl: Die Schutzmittel der Flechten gegen Tierfraß. — Dr. Odernheimer:
Neubildung von Steinkohle. — Blondlot: Eine neue Art Ausstrahlung. — Himmelserscheinungen im September 1904.
— Bücberbesprechungen : Dr. Hans Heß: Die Gletscher. — Kapitän (J. Sverdrup: Neues Land. — Dr. R. A.
Wischin: Naphthene. — i) I gnaz D ic kl: Zur Effektberechnung von Flugvorrichtungen. 2) Hans Lösner:
Levitation und Flugproblem. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: 1. V.: Dr. F. Koerber, Grofs-Lichterfclde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,-1^^^ NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 4. September 1904.
Nr. 49.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. S446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
^ Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Welches Lehrbuch der Zoologie soll man dem Unterrichte an höheren Schulen
zugrunde legen?
[Nachdruck verboten.]
Von Prof. Dr. Friedr. Dahl.
Vergleicht man die jetzigen Lehrbücher der
Zoologie mit denjenigen, welche vor etwa 25 Jahren
dem gleichen Zwecke dienten, so ist ein gewaltiger
Umschwung nicht zu verkennen, hi nahezu jeder
Hinsiclit ist das moderne Lehrbuch von jenem
früheren verschieden. Überall machen sich die
Fortschritte der Methodik, der Wissenschaft und
der Technik bemerkbar. — Es darf uns natürlich
nicht in den Sinn kommen, die früheren Büclier,
denen wir selbst unsere Ausbildung verdanken, zu
mißachten, bilden sie doch die Vorstufe zu dem,
was uns jetzt vorliegt und befinden wir uns doch
auch jetzt nur auf einer Stufe zum Bessern. Aber
immerhin dürfen wir stolz sein auf das, was ge-
wonnen ist. Eine genauere Durchsicht zahlreicher
Lehrbücher der Gegenwart zeigt uns nicht nur
die Fortschritte, sondern drängt uns auch die Über-
zeugung auf, daß noch weitere Fortschritte mög-
lich sind. Das Streben nach weiterem Vor-
dringen läßt sich in fast allen modernen Lehr-
büchern erkennen. Die Gleichförmigkeit, die früher
herrschte, ist geschwunden. Überall bemerkt man
ein Tasten, bald nach dieser, bald nach jener Seite,
ein eifriges Suchen nach dem rechten Wege und
man darf wohl annehmen, daß durch die prak-
tischen Erfahrungen vieler Fachleute das Rechte
immer mehr in den Vordergrund gedrängt werde.
— Aus der Verschiedenheit der jetzigen Lehr-
bücher, die sämtlich den neuen Lehrplänen gerecht
zu werden suchen, geht freilich hervor, daß die
Ansichten der Praktiker vorderhand noch weit aus-
einander gehen. Freilich dürfen wir annehmen,
daß eine gewisse Verschiedenheit immer bestehen
bleiben muß, weil die Individualität der Lehrer
eine verschiedene ist. Vielleicht ist es die erste
und allerwichtigste Aufgabe des Lehrers, das seiner
Eigenart am meisten entsprechende Lehrbuch zu
finden, und es sollte deshalb von offizieller Seite
dafür gesorgt werden, daß von Zeit zu Zeit eine
sorgfältig ausgearbeitete Übersicht des vorhandenen
Materials an Lehrbüchern den Lehrern zugängig ge-
macht werde. — Wenn ein Lehrerwünscht, daß das,
was er für das Wichtigste hält, im Lehrbuch in den
Vordergrund trete, so ist das sehr wohl zu ver-
stehen. Es ist aber auch sehr wohl verständlich,
wenn ein anderer Lehrer den Wunsch hat, daß
770
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 49
gerade das Allerwichtigste im Buche fehle, weil
er gerade dies ganz in seiner Art und vielleicht
nach der Eigenart seiner Gegend dem Schüler
bieten möchte. Es ist sehr wohl denkbar, daß
ein besonders tüchtiger Lehrer eine nackte Zu-
sammenstellung von Namen, Formeln, Übersichten
usw., zumal wenn dieselben von guten Abbildungen
begleitet sind, für den allerbesten Leitfaden beim
Unterricht hält. — Obgleich alle Lehrer darin
einig sein dürften, daß der Unterricht mit Einzel-
tieren zu beginnen hat und allmählich zu Ver-
allgemeinerungen fortschreitet, ist man durchaus
verschiedener Ansicht darüber, ob auch das Lehr-
buch diesen Gang innehalten soll. Sehr gewichtige
Gründe macht man für und gegen die Einteilung
in Lehrstufen geltend. —
Es würde viel zu weit führen, wenn ich alle
Standpunkte, die augenblicklich in Lehrbüchern
vertreten werden, hier ausführlich darlegen wollte.
Ich beschränke mich deshalb darauf, die verschiede-
nen Gesichtspunkte, die beim Unterricht in Frage
kommen, hier der Reihe nach aufzuführen. — Es
dürfte allgemein anerkannt sein, daß es die erste
und wichtigste Aufgabe des Unterrichts ist, das
Interesse des Schülers zu wecken und wach zu er-
halten. Wenn ich also alles das, was auf diesen
Punkt hinzielt nicht nur als vollwertig erachte,
sondern sogar mehr oder weniger in den Vorder-
grund meiner Betrachtungen rücke, so glaube ich
damit dem Sinne der allermeisten Praktiker zu
entsprechen.
Durch freundliches Entgegenkommen der Herrn
Verleger bin ich in der Lage 30 Lehrbücher,
welche für den Unterricht an höheren Schulen
Deutschlands, an Gymnasien, Realschulen, Semi-
narien etc. in Betracht kommen dürften, übersicht-
lich zusammenstellen zu können. Es sind das fast
die sämtlichen Bücher, die in den letzten 8 Jahren
entweder neu erschienen oder neu aufgelegt sind ;
nur 3 fehlen. Ich habe mich redlich bemüht, in
meiner Übersicht durchaus gerecht zu sein und
mit gleichem Maß zu messen. Natürlich konnte
nicht auf Einzelheiten, nicht auf Mängel und P'ehler
in Abbildung oder Text eingegangen werden. Der-
artige F'ehler finden sich natürlich in jedem Lehr-
buch und werden auch kaum ganz zu vermeiden
sein. Die Veröffentlichung derselben würde viel
Raum einnehmen, ohne einen entsprechenden Nutzen
zu haben. Sehr gerne bin ich bereit, alles, was
mir bei Durchsicht der Bücher an Mängeln auf-
gefallen ist, den Herren Verfassern bei Gelegen-
heit einer Neuauflage zur Verfügung zu stellen.
Liegt mir doch, wie jedem Deutschen, die Aus-
bildung unserer Jugend am Herzen.
Etwa folgende Gesichtspunkte sind es, die in
den mir vorliegenden Lehrbüchern hervortreten:
I. Punkt : Es wird die Lebensgeschichte des Tieres
anziehend erzählt. — Wie sehr derartige Er-
zählungen auf die Jugend und auf das Volk wirken,
beweist der Erfolg des bekannten B r e h m ' sehen
Werkes. 2. Punkt : Es werden dem Schüler die
vielen Wechselbeziehungen der Organismen zu-
einander und ihre Beziehungen zur Außenwelt aus-
führlich geschildert. — Da dieser Gesichtspunkt Aus-
flüge in die Natur verlangt, wird er ebenfalls seine
Wirkung nie verfehlen. 3. Punkt : Es werden
die Beziehungen zum Menschen besonders hervor-
gehoben, namentlich die Verwendung der einzelnen
Teile und Produkte für den Hausbedarf. — Auch
dieser Punkt hat für das Kind eine große An-
ziehungskraft, wie ich selbst aus meiner Jugend
weiß. 4. Punkt: Es wird dem Schüler Gelegen-
heit gegeben, möglichst viele Tiere kennen zu
lernen , mit Namen nennen und richtig ins
System einreihen zu können. — Auch das hat für
das Kind einen großen Reiz, zumal da die An-
lage einer eigenen Sammlung mit diesem Punkte
in Verbindung steht. 5. Punkt: Es wird jedes
Organ mit seiner Funktion und der Lebensweise
des Tieres in Beziehung gebracht und gezeigt, daß
das Tier genau so gebaut ist, wie es seine Lebens-
weise verlangt. — Dieser Punkt, der überall zum
Denken anleitet, wird im engen Anschluß an
Punkt 2 für den Schüler eine nie erlahmende
Triebfeder zu tieferem Eindringen in den Gegenstand
sein. 6. Punkt: Es wird der Schüler angeleitet einen
Blick in das dem Auge entrückte und deshalb etwas
geheimnisvolle Innere, in die Anatomie des Tieres
zu tun. — Auch dicfcr Punkt wirkt, namentlich
wenn die Physiologie nicht außer acht gelassen
wird, dauernd anregend. — 7. Punkt: Es werden
dem Schüler die schönen Formen in möglichst
schönen Bildern vorgeführt. — Dieser Punkt sucht
den Schüler an seiner ästhetischen Seite zu packen
und findet sicherlich überall Boden. 8. Punkt:
Es wird auf das Tier, wie es im Volksmunde, im
Liede, Gedicht, Rätsel, in der Fabel, in Sage und
Geschichte vorkommt, eingegangen. — Auch dieser
an das Gefühlsleben anknüpfende Punkt wird ge-
eignet sein in Form gelegentlicher Einschaltungen
den Unterricht zu beleben.
In keinem der mir vorliegenden Bücher ist
auch nur einer der hier genannten Punkte ganz
vernachlässigt worden. Dagegen treten in den
meisten Büchern einzelne Punkte sehr stark in den
Vordergrund; bisweilen treten sogar auf verschie-
denen Lehrstufen verschiedene Punkte hervor. Der
Grund des Vorwaltens gewisser Punkte kann ein
verschiedener sein. Entweder hält der Verfasser
wichtiger als andere, oder aber er
daß in anderen Punkten eine Er-
seiten des Lehrers eintritt. Ist doch
der für ein Schulbuch zulässige Umfang ein sehr
beschränkter, wenn der Preis nicht zu hoch steigen
soll. Welcher Grund für den Verfasser maßgebend
war, ist für die praktische Benutzung des Buches
gleichgültig. Das tatsächliche Vorwalten oder
Zurücktreten einzelner Punkte aber wird bei der
Wahl eines Buches meist ausschlaggebend sein
und deshalb werde ich mich bei meiner Übersicht
durch das Vorwalten bestimmter Gesichtspunkte
leiten lassen. Außerdem wird in jedem Buche
die Anordnung des Stoftes und die Zahl der Seiten
für die Hauptabschnitte gegeben. Eingehender
dieselben für
setzt voraus,
gänzung von
N. I-'. III. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wc
ischrift.
771
werde ich vor allem die Abbildungen behandeln,
da ihre Wahl vielfach die Stellung des Autors er-
kennen läßt. Ich werde unterscheiden : a) b i o -
cönotische Abbildungen, welche die Beziehungen
der Tiere zu ihrer Umgebung in bestimmter Form
zum Ausdruck bringen, b) ethologische, welche
Lebensgewohnheiten der Tiere wiedergeben, c) öko-
logische, welche ganz allgemein den Standort
des Tieres erkennen lassen, ob am Boden, auf
Bäumen, im Wasser etc., d) physiologische,
welche bestimmte Funktionen eines Organes an-
deuten, e) ontoge netische, welche die (meist
postembryonale) Entwicklung des Tieres wieder-
geben, f) systematische, welche dazu dienen,
das Tier von anderen zu unterscheiden und g) ana-
tomische, welche zur Vergleichung innerer oder
mikroskopisch feiner Teile dienen. — Natürlich
kann man bei manchen Bildern in bezug auf die
Stellung zweifelhaft sein. Dann entscheide ich
in der hier gegebenen Reihenfolge und suche in
den verschiedenen Büchern möglichst mit gleichem
Maß zu messen. Was als Einheit zusammengehört,
zähle ich auch als solche, ohne Rücksicht auf den
Holzschnitt; so werden die Entwicklungsstufen eines
Tieres stets als ein Ganzes aufgefaßt.
I. Die Tiere sind nach Lebensgemeinschaften,
meist mit den Pflanzen zusammen behandelt, Punkt 2
tritt also in den \'ordergrund, dann folgen Punkt
I, 3 und 5 etwa gleichwertig und dann Piuikt 6.
A. Die Darstellung ist sehr eingehend; überall
schieben sich Wiederiiolungen, systematische Ver-
gleiche, allgemeine Betrachtungen und Aufgaben
für den Schüler ein. Bilder müssen ergänzt werden.
a) Pflanzen und Tiere, Wirbeltiere und Wirbel-
lose sind bei den einzelnen Lebensgemeinschaften
zusammen behandelt, auf den beiden ersten Stufen
nur einheimische Biocönosen und auf der ersten
Stufe vielfach Lieder, Rätsel etc. eingefügt (Punkt 8).
0. Twichauscn (Dr. T. Kratishauer),
Der naturgcschkhtliclie Unterricht in ansycfiilü'tcn
Leliio)ien. Ausg. A. Leipz. 1900. — (Wunderlich).
1. Unterstufe, 8. Aufl., 268 S., Preis : 2,80 Mk., geb. 3,40 Mk-
1. Frühling; a) Wiese, b) Saatfeld, c| Garten, d| Laubwald'
2. Sommer; Wiese und Bach, Wald, Garten, Saatfeld. 3. Herbst'
Garten, Feld, Laubwald. 4. Winter; Wald, Haus und Hof'
Saatfeld. II. Mittelstufe, 8. Aufl., 272 S., Preis : 2,80 Mk., geb-
3,40 Mk. I. Frühling; Garten, Wald, Wiese. 2. Sommer'
Wald und Felsenhang, Heide. 3. Herbst; Bach, Garten und
Feld, Wald. 4. Winter ; Haus und Hof, Fluß und Teich.
III. Oberstufe, 5. Aufl., 415 S., Preis: 3,80 Mk., geb. 4,40 Mk.
Wald, Feld, Wiese und Weide, Bach, Fluß und Teich, Garten
und Feld, noch einmal Wald, Gebirge, nordischer Wald, Haus
und Hof, Schlußbetrachtungen. IV. Ergänzungsband, 3. Aufl.,
278 S., Preis: 2,80 Mk., geb. 3,40 Mk. Mittelmeerländer,
Tropenpflanzung, tropischer Urwald, Steppe, Wüste, Australien,
das Meer, die Erde. Jedes Heft mit kurzem Register.
b) Im ersten Heft (Quinta I) sind die Säuge-
tiere, und zwar äußerst eingehend, behandelt, vom
heimischen Wald zum tropischen Urwald, vom
offenen Lande zur Steppe und Wüste überge-
gangen etc., schließlich das Gebirge. Ausführliche
Schlüssel der verschiedenen Säugetiergruppen ein-
gefügt (vgl. auch weiter unten).
Dr. ]]'. B. Srlniiidt u. Oberlehrer B . L a n d s-
her(), Hilfs- nnd Ubuiif/shiich für den Ijotcinischen
und zuohxjischen Unterricld (in höheren Schulen und
Seininaricn. IL Zoologie, 2. Kursus, 1. Hälfte,
Leipzig 1001 (Teuhner).
189 S., Preis: 1,80 Mk. — Der heimische Wald, Baum-
tiere, Pflanzenfresser und Raubtiere, die am Boden leben, der
tropische Urwald ebenso behandelt ; das heimische offene
Land, die Steppen Europas und Sibiriens, die Tundren, Prärien,
Wüsten, die Steppen Südafrikas, Südamerikas und Australiens ;
Gebirgstiere. Mit Inhaltsübersicht.
B. Der gleichmäßig fortschreitenden Darstellung,
welche Pflanzen und Tiere der Lebensgemeinschaft
zusammen behandelt, sind zahlreiche Holzschnitte
und zwar meist recht gute eingefügt. Eine syste-
matische i'bersicht der behandelten Organismen
am Schluß.
Schulinspelior Lj. Kairnme yer u. H. Schulze,
Nid Urgeschichte in Lehensgemeinschaften u. Gruppen-
hildcrn für gehobene Schulen, ,1. Aufl., Bielefeld
1901—1003 (Velhagcn <('• Klasing).
3 Hefte, 132. 120 und 238 S., Preis: 1,20 Mk., 1,20 Mk.
und 1,80 Mk. Abbildungen, welche Tiere betreffen, im ganzen
60 biocönotischc, 40 ethologische, 20 ökologische, 20 physio-
logisclic, 30 ontogenetischc, 35 systematische. I.Stufe: Garten
und Feld im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Haus und
Hof. 2. Stufe: Anger und Wiese im Frühling; Wald im
F'rühling, Herbst und Winter; Teich; Wege und Hecken im
Sommer; Gewässer im Winter; Bau des Menschen (4 Abb.j.
3. .Stufe : Erweiterungen der früheren Kapitel ; Nadelwald ;
Alpen; der Norden; das Meer; Mineralien. 4. und 5. Stufe:
Erweiterungen ; im Körper des Menschen ; Mittelmeerzone ;
Wüste; indisch-chinesische Zone; Urwald und Feld Amerikas ;
Afrika; Australien. Systematische Übersicht. Jedes Heft mit
Inhaltsübersicht.
C. Der Betrachtung der einzelnen Lebensgemein-
schaften geht je ein Ausflug voraus; die Be-
sprechungen beim Ausflug sind angedeutet; halb-
jährige Zusammenfassungen; Bilder sind zu er-
gänzen.
E. Walther, Der Unterricht in der Natur-
hunde nach biologischen Gesicht spunMen geordnet;
1. Unterstufe, Leipzig 1903 (Hahn).
160 S., Preis: 2 Mk., geb. 2,50 Mk. Ich habe das Buch,
das eigentlich für die Volksschule bestimmt ist, aufgenommen,
weil es das einzige unter den mir vorliegenden Büchern ist,
das bestimmte Exkursionen voraussetzt: l. Garten im Frühling;
2. Wiese im Blütenschmucke ; 3. am Zaune ; 4. Tierleben des
Wassers; 5. Tiere, die im Walde gejagt werden; 6. auf der
Straße zur Winterszeit; 7. tierische Gäste in der Wohnstube;
8. Auf dem Bauernhofe. Mit Inhaltsübersicht und Register.
II. Die Tiere sind in systematischer Reihen-
folge angeordnet, entweder in Lehrstufen oder
durchgehend.
A. Die Parallele zwischen Bau, Funktion und
Lebensweise (Punkt 5) ist mehr als andere in den
Vordergrund der Betrachtung gerückt.
a) Einzelne Tiere sind sehr eingehend be-
sprochen , die Behandlung ist reich gegliedert,
und behält dadurch, trotz des umfassenden, teils
gesammelten, teils auf eigene Beobachtung be-
ruhenden Materials, die erforderliche Übersicht-
lichkeit.
«) Der Leser wird durch fortgesetzte Fragen
zu dauernder Aufmerksamkeit, zum Selbstfinden
und Vergleichen angeleitet; nur Tatsachen, die
772
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 49
weniger leicht beobachtet und gefunden werden
können, sind erzählend eingeschaltet; das Material
ist ganz außerordentlich reich; Bilder sollen ge-
trennt erscheinen.
Dr. W. B. Schmidt und B. Landsherg.
Vgl. oben. 1. Kursus (Sexta).
2o8 S., Preis: 2,20 Mk. Unser Körper (33 S.). Ausge-
wählte Säugetiere (18 Arten auf 107 S.). Ausgewählte Vögel
(12 Arten auf 68 .S.). Mit Inhaltsübersicht und sorgfältigem
Register.
ß) Der Text ist reich an z. T. vorzüglichen
biocönotischen und biocönotisch -physiologischen
Abbildungen. Fragen sind nur gelegentlich einge-
streut.
Dr. 0. Sc hm eil, Lehrbuch der Zoologie für
höhere LehranstaUen und die Hand des Lehrers
unter besonderer Bcri'iclsichtigung bioUigischer Ver-
hältnisse, 9. AitfL, Sluitgart^ 190:i (Nägele).
464 S., Preis: geb. 4,20 Mk. Zelle und (lewebe (8 S.
mit 13 Fig.); Lebenserscheinungen (2 S.) : Grundformen (4 S.
mit 3 Fig.); der Mensch (12 S. mit 8 Fig.). Das Tierreich
(438 S.) mit 70 biocönotischen, 20 ethologischen, 10 öko-
logischen, 45 biocönotisch-pliysiologischen, 25 ontogenetischen,
35 systematischen und 30 anatomischen Bildern. Mit Inhalts-
übersicht und Register der Tiernamen.
Dr. 0. S ahm eil, Leitfaden der Zoologie,
5. Aufl., Stuttgart 1904 (Nägele).
268 S., Preis: 3 Mk. Die Abbildungen wie oben. Als
Anhang: Der Mensch, Grundzüge der Menschenkunde und Ge-
sundheitsichre (57 S. mit 40 Fig.).
b) Die Besprechung der Einzeltiere ist knapper
gehalten, es können deshalb auf gleichem Raum
mehr Tiere zur Darstellung gelangen. Vorzüg-
liche Holzsclinitte sind dem Texte eingefügt.
a) Erste Lehrstufe. — Außer Punkt 5 und 2
treten besonders noch Punkt i und 6 hervor.
Schöne große Holzschnitte machen dem jugend-
lichen Schüler die immerhin schwierigen ana-
tomischen Verhältnisse zugängig.
Dr. C. Matzdorff, Tierkunde für den Unter-
richt an höheren Lehranstalten I. Lehrstoff der
Sexta. Breslau 1903 (Hirt).
64 S., Preis: 0,60 Mk. Von den Abbildungen sind 10
biocönotisch-ethologisch, 30 physiologisch, 30 systematisch und
10 vergleichend-anatomisch. Es werden nur einheimische Tiere
und Haustiere behandelt, 12 Säugetiere und 8 Vögel. Auf
den 10 Schlußseiten Zusammenfassungen und Vergleiche nach
physiologischen Gesichtspunkten. Mit Inhaltsübersicht.
ß) Keine Einteilung in Lehrstufen. Außer
Punkt 5 und 2 treten vor allem Punkt 7 und 4
in den Vordergrund. Die Hauptformen einheimischer
Schmetterlinge auf drei vorzüglich ausgeführten
farbigen Tafeln leiten den Schüler zum Sammeln
an und bringen ihn mit der Natur in Fühlung.
Prof. Dr. A. Nalepa, Grundriß der Natur-
geschichte des Tierreichs, Wien 1902 (Holder).
218 S. mit 3 färb., I schwarzen Tafel und i Karte. Preis:
2,15 Mk., geb. 2,55 Mk. Das Buch enthält loo biocönotische,
60 ethologische, 60 ökologische, 20 physiologische, 50 onto-
genetische, 35 systematische und 10 vergleichend anatomische
Bilder. Mit Inhaltsübersicht und Register der Tiernamen.
B. Die Schilderung der Lebensweise (Punkt i)
und die Beziehungen zum Menschen (Punkt 3)
treten in den Vordergrund. Unter der Fülle des
Textes treten die Abbildungen etwas zurück.
a) Neben Punkt i und 3 tritt als fast gleich-
wertig Punkt 5, die Beziehung zwischen Bau und
Lebensweise hervor. Nach ausführlichen Einzel-
darstellungen folgen immer Verallgemeinerungen,
Vergleiche und Übersichten; auch die wichtigsten
anatomisclien Verhältnisse sind an der Hand von
Abbildungen berücksichtigt.
c() Die Schilderung der Lebensweise tritt be-
sonders in den Vordergrund und verrät den Ver-
fasser als sorgfältigen Beobachter. Ausführliche
Vergleiche verwandter Tiere zeigen die Parallele
von Bau und Lebensweise.
Seminar -DireJdor F. Baade, Naturgeschichte
in Einzelbildern, Gruppenbildern und Lehensbildern,
1. Ted: Tierbetrachtungen, 10. Aufl., Halle a. S.
190:} (Schroedel).
323 S., Preis: 3 Mk., geb. 3,50 Mk. l'ls enthält 20 bio-
cönotische, 20 ethologische, 50 ökologische, 30 physiologische,
15 ontogenetische, 40 systematische und 15 anatomische Ab-
bildungen. Am SchluU kleine Kapitel über Zelle (4 S. mit
7 Fig.), Gewebe (6 S. mit 9 F"ig), Werkzeuge der Tiere (6 S.
mit 1 1 Fig.) und Lebenserscheinungen (6 .S.). Mit Inhalts-
übersicht.
ß) Die Beziehungen zum Menschen sind ganz
hervorragend behandelt, das Buch könnte desiialb
mehr als irgend ein anderes eine praktische Zoo-
logie genannt werden.
Kreisschulinspeldor J.Bra n d e n burger , Das
Tierreich. Der Mensch und seine Gesundheit.
4. Aufl., Paderborn 1899 (Schöningh).
570 S., Preis: 4 Mk. Es enthält 60, z. T. ganze Seiten
einnehmende, biocönotische, 10 ethologische, 10 physiologische,
25 ontogenetische, 50 systematische und 10 anatomische Bilder.
Die Übersichten der Tiergruppen sind immer in Schlüsselform
gegeben. Das Schlußkapitel, der Mensch und seine Gesund-
heit umfaßt 30 Seiten (3 Fig.) Mit ausführlichem Register
und Inhaltsübersicht.
b) Die Lebensweise der Tiere ist in Form
kleiner Naturgemälde geschildert und das Buch
deshalb mehr als Lesebuch gedacht.
L. E. Seidel, Das Leben der Tiere in Cha-
ralierbildern und abgerundeten Gemälden. Ein
naturhistorisches Lehrbuch für Schule und Haus,
sowie reichhaltiges Mcderial zur Ergänzung und
Belebung des naiurgeschichtlichen Unterrichts für
Lehrer und Le)iiende, 3. Aufl., Langensalza 1902
(Greßler).
479 S., Preis: 3,50 Mk., geb. 4,50 Mk. Es enthält 15
biocönotische, 20 ethologische, 50 ökologische und 20 systema-
tische Bilder. Der Stoff ist nach dem System angeordnet. Am
Schluß ein Kapitel über Metamorphosen (12 S.), Instinkt (18 S.)
und die Pflichten gegen die Tiere (3 S.). Mit Inhaltsübersicht.
C. Das Hauptgewicht ist auf gute bildliche Dar-
stellungen möglichst vieler, namentlich auch schöner
Formen gelegt (Punkt 7); stets sind farbige Ab-
bildungen ganzer Tiere gegeben.
a) Es sind ausschließlich farbige Abbildungen,
und zwar Bilder von ganzen Tieren im Texte ge-
geben, gegen 600 Tiere sind in dieser Weise
dargestellt und das Buch ist mehr als andere ein
geeignetes Bestimmungsbuch für den jugendlichen
Anfänger (Punkt 4). Auch auf die Lebensweise
N. F. m. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
m
(Punkt i), die Beziehungen zum Menschen (Punkt 3)
und die Anatomie (Punkt 6) ist eingegangen.
Prof. Dr. M. Dülitzsch, TIerbitcJi, ein Lehr-
buch der Zoologie zum Seihst Studium und zum
Schulgchrauch, Eßlingen 1900 (Schreiber).
374 S., Preis: 6,50 Mk. Es enthält 20 biocönotische, 40
ethologische, 150 ökologische, 15 physiologische, 5 paläonto-
logische, 30 ontogenetische, 340 systematische und loo ana-
tomische Bilder. Mit ausführlichem Register.
b) P'aibige Bilder sind auf Tafeln angefügt.
a) Auf 4 vorzüglich ausgeführten Tafeln sind
26 der schönsten deutschen Schmetterlinge und
z. T. auch deren Raupen dargestellt. Im Holz-
schnitt treten außer den Schmetterlingen besonders
die Vögel in den Vordergrund. Durch die Tafeln
wird der Schüler zum Sammeln angeregt (Punkt 4).
Außerdem kommt Punkt 8 und dann auch Punkt
3. I und 6 mehr zur Geltung.
Scmiiiarlehrcr C. Wächter, Methodischer
LeHfaden für den Unterricht in der Ticrhunde,
4. Aufl., Braunschweiy 1898— 1902 (Vieiveg £■ Sohn).
I. Teil. Wirbeltiere, 204 S. Preis: 2 Mk., geb. 2,40 Mk.
2. Teil. Wirbellose Tiere, 150 S. u. 4 Taf. Preis: 2 Mk.,
geb. 2,40 Mk. Das Buch enthält 50 biocönotische, 40 etho-
logische, 90 ökologische, 15 |jhysiologische, 5 paläontologische,
75 ontogenische, 120 systematische und 60 anatomische Bilder.
Der erste Abschnitt in den beiden Hälften enthält ausführliche
Besprechungen der wichtigsten Formen, der letzte Abschnitt
gibt Erweiterungen, die Anatomie und Übersichten in Schlüsscl-
form. Beide Teile mit Inhaltsübersicht und Register.
Hierher auch: A. Nalepa mit i6 farbigen Ab-
bildungen einheimischer Schmetterlinge auf 3 Tafeln.
5. oben.
ß) Prächtig gefärbte und eigenartig geformte
Meerestiere (24 Arten) sind auf drei Tafeln farbig
dargestellt. Auch sonst treten schöne Meerestiere,
z. B. die Schnecken, etwas in den Vordergrund,
es ist also dem zurzeit erhöhten Interesse für das
Meer entgegengekommen. Ausgestorbene Tiere
sind sehr eingehend am Schluß behandeU, der
Mensch in einem getrennten Hefte unter besonderem
Titel.
Dr. P. Wossidlo, Leitfaden der Zoologie
für höhere Lehranstalten, 11. Aufl., Berlin 1902
( Weidmann).
331 S., Preis: geb. 3 Mk. Das Buch enthält 40 bio-
cönotische, 50 ethologische, 120 ökologische, 30 physiologische,
50 ontogenetische, 190 systematische und 60 anatomische Bilder.
Manche Klassen beginnen mit Einzelformen um mit Über-
sichten bis auf die Familie zu schließen (z. B. die Wirbeltiere),
andere beginnen mit Allgemeinbetrachtungen (z. B. die In-
sekten). Am Schluß eine Übersicht der Tierkreise (5 S.),
kurze Betrachtungen über die geographische Verbreitung (4 S.)
und eine eingehendere Darstellung der ausgestorbenen Tiere
(11 S. mit 40 Bildern). Mit Inhaltsübersicht und Register der
Tiernamen.
y) Die vorzüglichen P'arbentafeln beziehen sich
auf verschiedene Tiergruppen.
* II Farbentafeln beziehen sich auf Säugetiere
( I Art), Vögel (8 Arten), Vogeleier (12), Insekten (40)
und Meerestiere (13) und demonstrieren z. T.
Anpassungsfarben und Mimikry; außerdem be-
finden sich anatomische P'arbenskizzen im Text,
23 meist beidseitig bedruckte schwarze Tafeln,
eine Karte und eine Farbentafel über Nährwerte.
Auf Punkt 5, 3 und 2 ist näher eingegangen, aber
in knapper Form, damit viele Tiere dargestellt wer-
den können (Punkt 4). Auch der Mensch und
ausgestorbene Tiere sind ausführlich berücksichtigt.
Prof. Dr. W. Oels, Lehrbuch der Natur-
geschichte. 1. Teil : Der Mensch und das Tierreich,
Braunschweig 1903 (Vieweg rf' Sohn).
470 S., Preis: geb. 5 Mk. Die Zoologie enthält 90 bio-
cönotische, 90 ethologische, 60 ökologische, 30 physiologische,
30 paläonlologische, 75 ontogenetische, 150 systematische und
90 anatomische Bilder. Verallgemeinerungen und vergleichend
anatomische Betrachtungen sind einleitend bei den Kapiteln
gegeben, die ausgestorbenen Formen sind mit den lebenden
in Beziehung gebracht. — Der Mensch (80 S. mit 80 Fig.),
Arbeitsteilung, Fortpflanzung und Veränderlichkeit I4 S.), Tier-
geographie (5 S.). Am Schluß eine Zusammenstellung der
nützlichen und schädlichen Tiere (11 S.). Mit Inhaltsübersicht
und ausführlichem Register.
** Die 24 Farbentafeln beziehen sich auf Vögel
(44 Arten), Reptilien (3), Amphibien (3) und Schmet-
terlinge (24), außerdem ist eine Karte vorhanden.
Außer Punkt 7 und 4 ist namentlich Punkt 5 und
3 und dann auch Punkt i und 8 berücksichtigt.
I'ol-orny, Naturgcscliichte des Tierreich&i für
höhere Lehranstattan , neu bearbeitet von Dr. R.
Latsel, 26. Aufl., Leipzig 190H (Freijtag).
233 S., Preis: geb. 4 Mk. Das Buch enthält 75 biocöno-
tische, 85 ethologische, 115 ökologische, 20 physiologische,
60 ontogenetische, 60 systematische und 20 anatomische Bilder.
Als Einleitung der Bau der Hauskatze (3 S.) und als Schluß
eine Übersicht der Tierklasscn (2 S.), sonst nur Darstellung
von Einzeltieren. Mit kurzer Inhaltsübersicht und ausführlichem
Namenregister.
D. Es ist ein besonderes Gewicht auf die ver-
gleichende Anatomie gelegt (Punkt 6).
a) Umfangreichere und dementsprechend teurere
Bücher; dafür wird durch Fititeilung in Lehrstufen
die Anschaffung erleichtert.
«) Vergleichend anatomische Betrachtungen mit
guten Abbildungen ziehen sich gleichmäßig durch
das ganze Buch hin, Zusammenfassungen und Ver-
gleiche, in sehr ausgedehntem Maße vorhanden,
sehr eingehende Darstellungen biocönotischer Ver-
hältnisse (Punkt 2) (vgl. unten), außerdem umfang-
reiche Bestimmungstabellen (Punkt 4).
Dr. C. Matzdorff, Tierhinde für den Unter-
richt an höliereu Lehranstalten, Breslau 1903 (Hirt).
I. Teil; (Sexta), s. oben; 2. Teil (Quinta), 78 S., Preis:
0,80 Mk. ; 3. Teil (Quarta), 136 S., Preis: 1,25 Mk. ; 4. Teil
(Untertertia), 164 S. mit 2 kol. Taf., Preis: 1,50 Mk. ; 5. Teil
(Obertertia), 171 S. mit Karte, Preis: 1,50 Mk., 6. Teil (Unter-
sekunda,), 127 S. mit 2 kol. Taf. und Karte, Preis: 1,30 Mk.
Die 5 ersten Hefte enthalten So biocönotische, 60 ethologische,
20 ökologische, 100 physiologische, 20 paläontologische, 45
ontogenetische, 150 systematische und 270 vergleichend ana-
tomische Bilder. 2. Teil : Wirbeltiere, Skelett des Menschen,
Zug der Vögel. 3. Teil : Wirbeltiere, vergleichende Anatomie
derselben mit z. T. farbigen Te.'ctbildcrn, Bestimmungstabellen
der Wirbeltiere. 4. Teil: Gliederfüßer, Schutzfärbung und
Mimikry (2 kol. Taf.), Blütenbiocönotik. 5. Teil: Niedere
Tiere, Wirken der Regenwürmer, Austernbänke, Korallenriffe,
Einfluß der Lebensbedingungen (Höhlen, Tiefsee etc.) Symbiose,
geographische Verbreitung, ausgestorbene Tiere. 6. Teil;
Anatomie und Physiologie des Menschen (85 S. mit loo Abb.
u. I Taf.) Menschenrassen (33 S. mit 30 Textbildern, 1 Farben-
tafel und I Karte). Der vorgeschichtliche Mensch (7 S. mit
16 Fig.). Jedes Heft mit Inhaltsübersicht.
774
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 49
ß) Die vergleichend anatomischen Betrachtungen
sind besonders im Schlußheft vereinigt.
I. In den ersten Heften treten genaue Be-
schreibung und Bestimmungstabellen in den \'order-
grund (Punkt 4). Die erste Lehrstufe enthält nur
Säugetiere und Vögel, die 3. und 4. nur Wirbel-
lose.
Br. 0. Vogel, Prof. Dr. K. Mällenhoff
mid Dr. P. Baseler, Leif faden für den Unfer-
richt in der Zoologie nach methodischen Grund-
sätzen, Berlin 1900—1902 (WincMmcmn). 1. Heft,
20. Aufl., 2. Heft, 5. Aufl., 3. Heft, 7. Aufl.
1. 204 S., Preis: 1,40 Mk. II. 187 S, Preis: 1,40 Mk.
III. 144 S., Preis: 1,20 Mk. Das Buch enthält 25 biocöno-
tische, 40 ethologische, 60 ökologische, 20 physiologische, 25
ontogenetische, iio systematische und 35 vergleichend ana-
tomische Bilder. I. Lehrstufe: Saugeliere und Vogel ; 2. Lehr-
stufe : Wirbeltiere; 3. Lehrstufe: Gliedertüßer ; 4. Lehrstufe:
Wirbellose mit .Vusschluß der Gliederfüßer ; 5. Lehrstufe : Zelle
und Gewebe und vergleichende Anatomie der Wirbeltiere mit
Einschluß des Menschen (vom Menschen 45 anatomisch-physio-
logische Bilder). Anhang: Vergleichende .Anatomie der Wirbel-
losen. Jedes Heft mit kurzer Inhaltsübersicht und Register.
2. In den ersten Heften tritt die Beschreibung
der Lebensweise mehr in den Vordergrund (Punkt i);
außerdem Punkt 8. Auf der ersten Lehrstufe wer-
den geeignete Beispiele aus fast allen Tiergruppen
(z. B. Maikäfer, Schlammschnecke, Regenwurm etc.)
ausgewählt. Die zweite Stufe erweitert den Stoff
Dr. H. Zwick, Lehrhuch für den Unterricht
in der Zoologie. Nach methodischen Grundsätzen
für höhere Lehranstalten, Berlin 1891 — 97 (Striclier).
1. Heft, 5. Aufl., 2. u. 3. Heft, 4. Aufl.
I. 131 S., Preis: 1,20 Mk., geb. 1,50 Mk. 11. 219 S.,
Preis: 1,80 Mk., geb. 2,20 Mk. 111. 103 S., Preis: 1,20 Mk.,
geb. 1,50 Mk. I. Kursus enthält Beispiele aus allen Wirbel-
tierklassen und außerdem Vertreter der Käfer, Immen, Schmetter-
linge, Spinnen, Krebse, Weichtiere und Würmer .\m Schluß :
Ergebnisse. 2. Kursus : Das ganze Tierreich. Gruppendiagnosen
überall vorangestellt, anatomische Darstellungen gelegentlich
eingeschaltet. 3. Kursus: Vergleichend-anatomische Übersicht
der Hauptgruppen des Tierreichs (30 S.), Lebensbedingungen,
Verbreitung und Wechselbeziehungen (9 S.l, der Mensch (50 S.,
vom Menschen 25 anatomisch-physiologische Bilder), Zelle und
Gewebe (10 S.), Unterschied von Pflanze und Tier {2 S.). Jedes
Heft mit Inhaltsübersicht und Register.
b) Lehrbücher von geringerem Umfange; der
Preis derselben mäßiger. Keine Einteilung in
Lehrstufen.
a) Nebst den vielfach farbigen anatomischen
Darstellungen treten besonders gute bildliche Dar-
stellungen ganzer Tiere hervor. Auf zwei kol.
Tafeln sind schön gefärbte Meerestiere dargestellt
(Punkt 7).
Dr. J. N. Woldrich, Leitfaden der Zoologie
für den höheren Scliulunterricht, 9. Aufl. von Dr.
A. B urgerstein, Wien 1903 (Holder).
258 S., Preis: geb. 3 Mk. Das Buch enthält: 20 bio-
cönotische, 25 ethologische, 30 ökologische, 35 physiologische,
20 paläontologischc, 30 ontogenetische, 140 systematische und
90 vergleichend anatomische Bilder von Tieren. Außerdem :
Zelle und (iewebe I3 S. mit 3 Fig.), Bau des Menschen (55 S.
mit 62 vielfach farbigen Fig.). Den Tiergruppen gehen all-
gemeine Betrachtungen voraus. Mit Register.
ß) Außer der systematisch-anatomischen Dar-
stellung ist ein besonders eingehend ausgearbeitetes
Kapitel über die Bedeutung der Tiere im Haus-
halte der Natur und des Menschen (Punkt 2 u. 3)
und eine kurze vergleichende Anatomie des Men-
schen und der Tiere vorhanden.
Prof. Dr. K. Kraepelin, Leitfaden für den
zoologischen Unterricht an mittleren und höheren
Schulen, 4. Aufl., Leipzig 1900 (Tenhner).
262 S., Preis: geb. 2,80 Mk. Das Buch enthält außer
etwa 10 Bildern, die sich auf den Bau des Menschen beziehen,
10 ethologische, 5 ökologische, 30 physiologische, 15 onto-
genetische, 180 systematische und 1 10 vergleichend anatomische
IMldcr. Allgemeine Kapitel gehen überall den Gruppen voran,
in den Gruppen verhältnismäßig viele Tiere mit Namen
aufgeführt. Am Schluß des Buches die Bedeutung der Tiere
im Haushalte der Natur (9 S.) und des Menschen (13S.) und
der innere Bau der Tiere und des Mensehen (49 S.). Mit
kurzer Inhaltsübersicht und Register der Tiernamen.
y) Eine kleine anatomische Darstellung der
Wirbeltiere, welche die Organsysteme einleitend
ganz kurz, innerhalb der Gruppen ausführlicher
und mit vielfacher Berücksichtigung der Funktion
(Punkt 5) vergleicht. Auf ausgestorbene Formen,
geographische Verbreitung und die Beziehungen
zum Menschen (Punkt 3) ist kurz eingegangen.
Prof. Dr. J. Ruska,^) Die Wirheitiere. Nach
rcrglcichcnd-anatomischen und biologischen Gesichts-
punkten, Stuttgart 1903 {Nägele).
58 S., Preis; 0,80 Mk. — 8 biocöuotische, 3 ökologische,
6 physiologische, 2 ontogenetische, 13 anatomische und 2
paläontologische Bilder.
E. Es wird besonders Wert darauf gelegt, mög-
lichst viele Tierarten kurz zu charakterisieren ; der
kurzen Beschreibung der Einzeltiere gehen, im
Anschluß an die Gruppencharaktere, allgemeine
morphologisch - biologische Darstellungen voraus.
a) Umfangreicheres Lehrbuch mit entsprechend
höherem Preis. Außer systematisch-anatomischen
Bildern sind besonders auch biocönotisch - etho-
logische Bilder vorhanden.
Prof. Dr. 0. W. Thome, Lehrhuch der Zoologie
für Gymnasien, Bealgymnasien etc., (i. Aufl., Braun-
schweig 1895 (Vieweg & Sohn).
455 S., Preis: 3 Mk., geb. 3,50 Mk. Erster Abschnitt
der Mensch (loo S. mit 8l z. T. farbigen Figuren). Außer-
dem 40 biocönotische, 25 ethologische, 65 ökologische, 15
physiologische, 60 ontogenetische, 140 systematische und 60
anatomische Bilder. Am Schluß ein Kapitel über Tiergeo-
graphie (20 S). Mit Inhaltsübersicht und ausführlichem Re-
gister.
b) Weniger umfangreiches und dementsprechend
billigeres Lelirbuch; ganze Tiere sind verhältnis-
mäßig zahlreich bildlich dargestellt.
Prof. Dr. J. Hof tn a n n , Grundzüge der Natur-
geschichte für den Gehrauch heim Unterricht. I. Teil:
Naturgeschichte des Menschen und der Tiere, 9. Aufl.,
München 1901 (Oldenhonrg).
288 S., Preis: geb. 2,20 Mk. — Der Mensch. L.Abschn. :
Der Bau (34 S. mit 40 Abbildungen). 2. Abschn. ; Leben und
Pflege des menschlichen Körpers (13 S.), Menschenrassen (öS.);
Zoologie, Bau im allgemeinen (6 S.), Einteilung und Be-
schreibung (200 S.) mit 15 biocönotischen, 20 ethologischen,
40 ökologischen, 10 physiologischen, 15 ontogenetischen, 120
systematischen und 30 anatomischen Bildern. Am Schluß die
') Das Buch kam mir erst nachträglich zu Gesicht.
N. F. ffl. Nr. 49
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
775
geographische Verbreitung der Tiere (12 S.). Mit Inhaltsüber-
sicht und ausfülirlichem Register.
F. Es tritt keiner der zu Anfang genannten
Punkte besonders in den Vordergrund und keiner
ganz zurück.
a) Beziehungen der Tiere zur Außenwelt (bio-
cönotische) treten, außer im Texte selbst, besonders
auch in der Melirzahl der Textabbildungen hervor.
a) Der Stoff nicht in Lelirstufen abgeteilt, die
.'\uswahl vielmehr dem Lehrer überlassen. Die
wichtigsten P^ormen sind in den Gruppen aus-
führliciier besprochen ; andere schließen sich un-
mittelbar an. Die Gruppencharaktere überall am
Schluß der Gruppen. Der Mensch zu Anfang.
Mit Anleitungen zum Zeichnen.
Dr. M. Kraß und l'ruf. J)r. IL Landois,
Lehrbuch für den Unterricht in der Zoologie für
Gi/nniasicn etc., 6. Aufl., Frcihnrr/ i. B. 1902
(Herder).
352 4- 23 S., Preis: 3,40 Mk., geb. 3,80 Mk. — Der
Mensch (27 S. mit 17 Abbildungen), Gesundheitspflege (l S.),
Menschenrassen (l S.). Das Tierreich mit 70 biocönotischen,
35 elhologischen, 15 ökologischen, 15 physiologischen, 5 palä-
ontologischen, 35 ontogenetischcn, öosysteniatisclien und 25 ana-
tomischen Bildern. .\m Schluß der Klassen und Kreise folgen
die Kennzeichen. Als Anhang ; Zelle, Gewebe und Organ-
system 123 S. mit 35 Fig.). Mit Inhaltsübersicht und ausführ-
lichem Register.
ß) Der Stoff in Lehrstufen abgeteilt. In der
ersten Stufe wichtige Tiere ausführlich besprochen
ohne voraufgehende Gruppencharaktere, die dritte
Stufe läßt umfassende systematische Übersichten
und Gruppencharaktere den Gruppen vorangehen;
in der letzten Stufe wird der Mensch mit ver-
gleichend-anatomischen Ausblicken behandelt.
* Dem Texte sind überall allgemeine Ergeb-
nisse und Aufgaben in Kursivdruck eingefügt. Ein
Schlußkapitel über Tiergeographie ist mit Ab-
bildungen und Karte versehen.
Dr. C. Baenitz, Leitfaden für den Unter rieht
in der Zoologie nach nwtliodischcn Grundsätzen.
Aiisi/ahe Ä.. \s. Aufl., Bielefeld 190.i> (VcJhagen et-
Kliisin(/).
262 S., Preis: geb. 2,20 Mk. Außer den 35 Bildern vom
Menschen enthält es 55 biocönotische, 65 ethologische, 50
ökologische, 30 physiologische, 3 paläontologische, 30 onto-
genetische, 80 systematische und 4.0 anatomische .-\bbildungen.
In der Ausgabe A enthält Kursus I (30 S.) Vertreter aller
Wirbelticrklassen und der Insekten, Kursus II {50 S.) außer-
dem Vertreter der Mollusken, Arachniden, Krebse und Würmer,
Kursus III (130 S.) das ganze System. Dann folgen die
Menschenrassen (2 S. mit 5 Fig.), der Bau des Menschen
(24 S. mit 30 Fig.), die Frnährung des Menschen (3 S.) und
die Tiergeographie (10 S. mit 6 Abbildungen und einer Karte).
Mit ausführlichem Register.
Dr. C. Baenitz, Leitfaden Ai<s(i(d)c B. nach
den netien Lehrplänen.
Dr. C. Baenitz , Lehrhnch der Zoologie.
i). Aufl. mit über 800 Abbildungen. Preis: geb.
3,40 ML
**) Text gleichmäßig fortschreitend. Im Schluß-
abschnitt ein Kapitel über Zelle und Gewebe und
ein sehr eingehendes Kapitel über Gesundheits-
pflege.
Prof. Dr. T. Bail, Neuer Methodischer Leit-
faden für den Unterricht in der Zoologie, 10. Aufl.,
Leipzig 1903 (Reisland).
277 S., Preis: geb. 2,20 Mk. .Außer 35 .Abbildungen vom
Menschen enthält es 40 biocönotische, 55 ethologische, 25 öko-
logische, 15 physiologische, 35 ontogenetische, 90 systematische
und 25 anatomische Bilder. Abschnitt I (38 S.) : Mensch,
Säugetiere und Vögel; .Abschnitt II (40 S.): Mensch und Wirbel-
tiere ; Abschnitt III (44 S.) : System der Wirbeltiere ; Abschnitt
IVu. V(8oS.): System der Wirbellosen. Anhang: Menschen-
rassen (2 S. mit 4 Fig.); Tiergeographie (5 S.); Zelle, Ge-
webe und Organe des Menschen und der Tiere (38 S.). Ge-
sundheitspflege fl8 S.V Mit Inhaltsübersicht und ausführlichem
Register.
b) Biocönotische Beziehungen gelangen, außer
im latifenden Texte, vor allem in besonderen
Kapiteln oder auf beigegebenen Tafeln zur Dar-
stellung.
a) Der Stoff in Lehrstufen gegeben; im Texte
gelegentliche Rückblicke und Ergebnisse; Punkt 8
eingehend berücksichtigt.
Dr. IL Zwick, Fjcit faden für den Unterricht
in der Tierkunde, 1. Kursus, 15. Aufl., 2. u. 3.
Kursus, 10. Aufl., Berlin 1897 (Strieder).'
Iig S., Preis: o,6o Mk., 164 S., Preis: 0,60 Mk. Außer
6 Abbildungen vom Menschen enthält das Buch lo biocöno-
tische, 15 ethologische, 20 ökologische, 15 physiologische,
15 ontogenetische, 40 systematische und 20 anatomische Bilder.
Im I. Kursus sind Vertreter aus fast allen Klassen bis zu den
Würmern behandelt, außerdem Ergebnisse 13 S.). Im 2. Kursus
(113 S.) sind Vertreter aus allen wichtigen Tierklassen be-
handelt, mit voraufgehenden Kennzeichen der Klassen und all-
gemeinen Betrachtungen. Im 3. Kursus Übersicht der Haupt-
gruppen (6 S.), Lebensbedingungen, Verbreitung und Wechsel-
beziehungen (10 S.), Menschenrassen (l S.), Organe des
menschlichen Körpers (22 S.), Nahrung des Mensehen (7 S.)
und Gesundheitsregeln (l S.). Jedes Heft mit Inhaltsübersicht
und Register.
li) Der Stoff einheitlich systematisch angeordnet,
dem Lehrer die jeweilige Auswahl überlassend,
einzelne anatomische Farbeskizzen im Texte. Die
Behandlung des Menschen geht voran.
* Die Gruppen mit Einzeltieren beginnend,
Gruppencharaktere und Verallgemeinerungen am
Schluß der Gruppen. Am Schluß des Buches eine
Darstellung der wichtigsten Lebensbedingungen.
O Umfangreicheres Lehrbuch ; die wissenschaft-
lichen Namen sind et)'mologisch erklärt, am
.Schluß des Buches eine physiologische Übersicht
der Organe und ein Kapitel über Tiergeographie
mit Karte.
SchiüinspeMor J. G. Paust, Tierkunde. Eine
synthetische Darstellung des Tierreiches, li. Aufl.,
Breslau 1900 (Hirt).
383 S., Preis: geb. 4 Mk. Die Organe des menschlichen
Körpers und ihre Pflege (36 S. mit 23 z. T. farbigen Figuren).
Beschreibung der Tiere (300 S.) mit 5 biocönotischen, 20
ethologischen, 45 ökologischen, 15 physiologischen, 20 onto-
genetischcn, 140 systematischen und 30 anatomischen Bildern.
.Am Schluß der Klassen Verallgemeinerungen und Übersichten.
Zelle und Gewebe (3 S. mit 5 Fig.) ; die Organe und ihre
Verrichtungen (9 S.) ; Lebensbedingungen ( lo S.); Entstehung
der Tiere (2 S.); Tiergeographie (3 S.) ; Aufenthalt (I S.); Ur-
weltliche Tiere (4 S. mit 5 Fig.); Rassen der Menschen (3 S. mit
12 Flg.). Mit Inhaltsübersicht und Register der deutschen
Tiernamen.
00 Kurzer Leitfaden ; Blutkreislauf der Wirbel-
tierklassen farbig dargestellt; außerdem zwei kolor.
n^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 49
Tafehi, Anpassungsfarben und Fälle von Mimikry
darstellend.
S. Schilling' s Kleine Schul-Naturfjesckichic.
I. Teil: Der Mensch und das Tierreich. Auf
Grund der preußischen Lchrpläne von 1901 umge-
arbeitet von Oherlchrcr J. Seiwert, 22. Aufl.,
Breslau 11)0.1 (Hirt).
232 S., Preis: geb. 2 Mk. Zelle und Gewebe (4 S. mit
8 Bildern u. I Tafel: Zellteilung) die Organe des Menschen
und deren Pflege (25 S. mit 30 Textbildern und i Tafel); Men-
schenrassen (4 S. mit 14 Bildern). Die Tiere systematisch ange-
ordnet (180 S.) mit 20 biocönotischen, 30 ethologischen, 30
ökologischen, 35 physiologischen, 4 paläontologischen, 25
ontogenctischen, 140 systematischen und 45 anatomischen
Bildern. Schlußkapitel : Lebensbedingungen (6 S. mit 2 Tafeln)
und Tiergeographie (i S.). Mit kurzer Inhaltsübersicht und
Register der Tiernamen.
** Umfangreiches Lehrbuch, Gruppencharaktere,
Allgemeinbetrachtungen und Übersichten den
Gruppen vorangestellt. Kurze Kapitel über Zell-
teilung, Fortpflanzungsarten, Zuchtwahl, Zug der
Vögel, Häringsfischerei, Austernbänke, Ameisen-
pflanzen, Anpassungsfarben (mit Taf), Mimikry
(m. Taf), Korallenriffe, Malariaübertragung, Tsetse-
fliegenseuche, Plankton etc. am entsprechenden
Ort eingefügt.
S. S c h illing' s Grundriß der Nuturgcsch ichte.
Teil I: Das Tierreich, 20. Aufl., von Prof. Dr.
H. Eeichenlach, Breslau 1003 (Hirt).
464 S., Preis : geb. 4,20 Mk. Zelle und Gewebe (8 -S.
mit 14 Textbildern und I Taf.: Zellteilung); Organe des Men-
schen und deren Pflege (56 S. mit 45 Textbildern und i Taf.) ;
Fortpflanzung (4 S. mit z Fig.); System (8 .S.) ; Menschen-
rassen (9 S. mit 15 Fig.); die Tiere (346 S. mit 40 biocöno-
tischen, 60 etliologischen, 55 ökologischen, 50 physiologischen,
4 paläontologischen, ^o ontogenctischen, 180 systematische),
und 95 anatomischen Bildern. Tiergeographie (3 S. mit Karten)
Planklon (3 S.) und Tiere der Urwelt (6 .S. mit 12 Bildern).
Mit Inhaltsübersicht und ausführlichem Register.
Ich hoffe, mit dieser Übersicht jedem, der ein
dem Standpunkte höherer Schulen entsprechendes
Lehrbuch anschaffen will, die für die Auswahl er-
forderlichen Andeutungen gegeben zu haben.
Kleinere Mitteilungen.
Leonardo da Vinci als Alpenfreund. (Ein Bei-
trag zurFrühgeschichte des modernenNaturgefühls.)')
Mit Petrarca 's Besteigung des Mont \'entoux
setzt langsam jene ästhetische Bewegung ein, die
empfindungsfähigen Gemütern das Hochgebirge
Europas nicht mehr als Vorratskammer von Hinder-
nissen und Schreckungen, sondern als unerschöpf-
liches Füllhorn reinster Begeisterung über die ver-
schwenderisch dargebotenen Xaturreize erscheinen
ließ. Freilich waren nur wenige auserwählte Geister
der Renaissance mit diesen Keimen des modernen
Naturgefühls begabt: Alfred Biese's klassisches
Werk über die Entwicklung des Naturgefühls im
Mittelalter und in der Neuzeit gibt uns ein lehr-
reiches Bild von den Anfangsstadien des monta-
nistischen Schönheitsgefühls. — Zu diesen wenigen
gottbegnadeten Geistern in der Renaissance gehört
auch der geniale Künstler und Denker Leonardo
da Vinci, dessen erst in den letzten Lustren
nach Gebühr gewürdigte Handschriften eine fast
unerschöpfliche Schatzgrube nicht nur für die streng
kulturgeschichtliche Forschung darstellen, sondern
uns auch höchst wertvolle Beiträge zur P'rüh-
geschichte des modernen Naturgefühls bieten.
Leonardo da Vinci ist einer der
ersten Europäer gewesen, die sich den
Alpen — aus wissenschaftlicher und natur-
ästhetischer Begeisterung getrieben — nicht
nur genähert haben, sondern trotz der einst
überall zu beklagenden Mangelhaftig-
keit der Kommunikationsmittel im Ge-
birge in die wilde Gletscherregion der
Hochalpen gedrungen sind.
. ,') Inzwischen ist bereits in der „Beil. zur Allgem. Zeitung"
(Juli 1904) der Alpinist Leonardo da V. von mir gewürdigt
worden.
Lieber den Alpinisten Leonardo ist gleichfalls
eine wenn auch zumeist minderwertige Literatur
erschienen, die ihren Kernpunkt in der Frage findet,
ob der von Leonardo bestiegene Gletscherberg
Monboso (oder Momboso) eine der Spitzen des
Monte-Rosa-Massivs gewesen ist. Sicher hat
diese Frage auch Gustavo LIzielli, der uner-
müdliche Biograph Leonardo's, in seinem vorzüg-
lichen Aufsatze , Leonardo da Vinci e le Alpi' (im
, Bolletino del Club Alpino Italiano', Bd. 23,
Torino 1890, Jahrgang 1889) nicht entscheiden
können. — Ebensowenig ist dies der Fall in
,Mario Baratta's ,Bibliotheca Vinciana' (Bd. I,
Torino 1903). — Der geniale Künstler und Denker
streift verschiedentlich in seinen physikalischen
Arbeiten diesen Aufstieg auf den Monboso, den
er zu wichtigen optischen Studien verwertet hat.
Besonders wichtig sind seine Auslassungen in
einem der Bibliothek zu Leicester einverleibten
Manuskript.
Dort erzählt Leonardo, er habe auf der
Jochhöhe des Momboso gestanden da, wo die
Alpen Italiens und Frankreichs aneinandergrenzen.
Entladen in jener Höhe Wolken ihre Feuchtigkeit,
so geschieht es zumeist als Hagel, der dann liegen
bleibt, ohne zu schmelzen und mit der Zeit die
gewaltigen Eisblöcke bildet, die auch den Strahlen
der Julisonne widerstehen.
Zum ersten Male wird hier eine wissenschaft-
liche Erklärung des Gletscherphänomens versucht
— ein Problem, das erst mit Agassiz' und
H u g i ' s grundlegenden Forschungen einwandsfrei
gelöst werden konnte.
Und weiter berichtet Leonardo über die
außergewöhnliche Durchsichtigkeit der Luft, die
er in diesen Höhen bemerkt habe. Die Berge
am Horizont, die Sonne am Himmel, ja das gesamte
Himmelszelt sei ihm nähergerückt erschienen, und
die von den Sonnenstrahlen hervorgezauberten
N. F. III. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
m
I'^arbeneffekte seien von bedeutend stärkererWirkung
als in der lombardischen Ebene. Daneben aber
habe er mit Erstaunen wahrgenommen, daß die
Blaufärbung des Himmels mit der Höhe verblasse,
ja geradezu einen schwärzlichen Ton erhalte. Diese
Beobachtung nutzt Leonardo in seinem berühmten
Trattato della pitturas und an verschiedenen
anderen Stellen zu der scharfsinnigen Hypothese
aus, daß die Blaufärbung des Himmels durch die
Dunstteilchen in der Atmosphäre hervorge-
rufen werde, welche in den unteren Luftschichten
viel zahlreicher vorhanden sind als in den oberen.
Leonardo bezeichnet weiterhin den Monboso
als Ouellberg von 4 in die verschiedenen Himmels-
richtungen fließenden Strömen. Seltsamerweise
bringt er nun die Rhone, den Rhein, den Po
und die — Donau zusammen.
Es wäre nun festzustellen, wo die , Alpen-
kraxelei' des Geisteshelden von statten gegangen ist.
Da ausdrücklich betont wird, die Jochgrenze
zwischen Frankreich und Italien berühre den Mon-
boso, so wird diese Frage auch von historisch-
topographischem Interesse. Zur Zeit Leonardos
war die Grenze zwischen dem französischen König-
reiche und Italien innerhalb der Hochalpen durch-
aus nicht sicher festgelegt, schon deswegen nicht,
weil man auf beiden Seiten dem Hochgebirge zuviel
Abneigung entgegenbrachte, um aus ökonomischen
oder fortifikatorischen Gründen der wichtigen Grenz-
frage näherzutreten. Erst Leonardo hat die
fortifikatorische Bedeutung einiger günstig ge-
legener Vorberge der italischen Alpen in der
Lombardei seinem Beschützer gegenüber, dem
Herzog Ludovico il Mara von Mailand, mehrfach
betont.
Berücksichtigt man ferner, daß nach der Angabe
des Leonardoschen Manuskripts der ,Monboso' die
Wasserscheide von 4 Strömen darstellt, so ist es
wohl nicht zu kühn, an einen Berg der Gotthard-
Gruppe zu denken. Der geographische ,lapsus'
Leonardo's mit der Donauquelle könnte dann da-
durch erledigt werden, daß man an einen der
Quellbäche des Inn im Engadin, in der Nähe der
Gotthardgruppe, denkt. Und noch das 18. Jahr-
hundert hat den Inn häufig als Quellfluß der Donau
betrachtet, die an dessen Einmündung bei Passau
bedeutend wasserärmer ist als der wildschäumende
Alpenfluß.
Ebenso leicht wäre die Angabe Leonardo's zu
rektifizieren, welche sich auf die Poquelle be-
zieht. Man darf eben nicht die Mangelhaftigkeit
der Alpenkartographie im Renaissancezeitalter
außer acht lassen, über die uns der zitierte Auf-
satz Dr. Uzielli's Näheres bringt. Hierzu kommt
noch, daß der große Künstler alle seine alpinistischen
Exkursionen, die ihm auch — es sei nebenher er-
wähnt — den staunenswerten geologischen Scharf-
blick verliehen, vom Comer See aus unternommen
hat, an dessen Gestade die mailändischen Fürsten
weite Landgüter besaßen. Auch die Kanalarbeiten
fesselten Leonardo mehr an die ladinische Grenze
der heutigen Schweiz und Italiens, als an die un-
wirtsame Monte Rosa-Gegend, die damals ganz
unbekannt gewesen ist ').
Nach alledem erscheint es berechtigter, d e n v o n
Leonardo da Vinci bezwungenen Alpen-
riesen im Gotthard-Massiv zu suchen.
Ganz unberechtigt sind jedenfalls gelehrte Streitig-
keiten darüber, ob dieser kühne Vorläufer des
modernen Alpinismus den Monte Rosa auf der
Macugnagaseite bestiegen habe ! Ebensowenig ist
E. S o 1 m i , der fleißige Leonardoforscher (in seinem
Büchlein ,Leonardo da Vinci' Florenz 1900, p. 184) be-
rechtigt, ohne weiteres den Monte Rosa als den von
Leonardo am 15. Juli 15 10 bezwungenen Schnee-
berg zu bezeichnen, den nur Leonardo mit einigen
anderen ,Momboso' genannt habe. Die freilich
etwas flüssige Nomenklatur des Monte Rosa
in der Geschichte weist diesen Namen
ohne willkürliche Konstruktionen nicht
auf! —
Nun noch einige Worte über die naturästheti-
schen Betrachtungen des genialen Künstlers im
Hochgebirge.
Es kann als zweifelsohne sicher gelten, daß
der poetisch-verklärte Sonnenkultus, der in
Leonardo's Naturphilosophie verwunderlich auffällt,
sein rein-ästhetisches Fundament in der Farben-
harmonie hat, welche dem empfänglichen Blicke
Leonardo's zum guten Teile durch die inten-
sive Strahlung und Reflexion des Sonnenlichtes im
Hochgebirge geboten worden ist. In begeisterten
Worten preist der sonst so nüchtern-kritische
Gelehrte das Lob der Sonne, die für ihn auch der
Konzentrationspunkt aller physischen Kräfte im
Weltall ist. Und die ästhetische Wertschätzung
des Sonnenlichtes hat auch Leonardo zu einem
folgenschweren Kampfe bewogen, der ihm in die
erste Reihe der Geistespioniere unserer modernen
Weltanschauung stellt: zum Kampf gegen das ver-
knöcherte aristotelisch-ptolemäische Weltsystem,
das in der Erde das ruhende Weltzentrum sah und
in einer Abart unberechtigten Eigendünkels alle
Gestirne um den kleinen Erdplaneten rotieren ließ!
— Man hat allen Grund, den Leonardokennern
dankbar zu sein, die uns einen Blick in das Zauber-
reich seiner Naturästhetik und damit auch einen
Blick in das harmonisch geordnete Kaleidoskop
seiner einzigartigen Weltanschauung werfen lassen^),
deren schwachen Abglanz wir übrigens in der
Naturphilosophie Cyrano de Bergerac's be-
merken können.
Und dies ganz modern geartete Naturgefühl
Leonardo's ist sicher auf seinen Wanderungen im
Hochgebirge zur Entfaltung und Blüte gelangt.
Es ist allen Verehrern der hehren Naturschönheit
unserer Alpenländer vergöimt, auch den gewaltigen
') Aus den Angaben Leonardo's über das Gletscher-
phänomen geht übrigens hervor, dafi er sicher die ewige
Schneegrenze überschritten hat — vielleicht also bis zu einer
Höhe von etwa 3000 — 3100 m vorgedrungen ist.
-) Hier sei besonders genannt der feinsinnige Aufsatz
Arturo Farinelli's in den ,Miscellanea di Studi Critici
edita in onore di Arturo Graf Bergamo 1903, p. 285 ff.
78
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 49
Meister des Pinsels und der Feder zu den Ihrigen
zu zählen: Leonardo da Vinci ein Alpen-
freund! Max Jacobi.
Die Anthropologie der Samoaner. — Im
zweiten Bande seiner Monographie der „Samoa-
inseln" gibt der Kaiserl. Marinearzt Dr. A u g u s t i n
K r a e m e r (Die Samoainseln, Entwurf einer Mono-
graphie mit bes. Berücksichtigung DeutschSamoas
Bd. II. I. Lief. p. 30 ff.) eine ausführliclie Schilde-
rung der Körperbeschafifenheit der „Samoaner".
Bei dem hohen Interesse, welche die Samoaner als
Kolonialvolk für uns Deutsche haben, wird es am
Platze sein, an dieser Stelle in Auszügen die anthro-
pologischen Forschungsergebnisse des genannten
Gelehrten hier wiederzugeben. Von den drei
Hauptvölkerkreisen , welche das tropische, pazi-
fische Inselgebiet bewohnen, den Melanesiern,
Mikronesiern und Polynesiern, gehören die Samo-
aner zu den letzteren. Zu diesem Kreise gehören
außerdem noch die Tonganer, Raratonganer, die
Eingeborenen von Tahiti, Marquesas und Paumatu,
ferner die nördlich des Äquator angesiedelten
Hawaiier und die schon jenseits des nördlichen
Wendekreises befindlichen Maori auf Neuseeland.
Außerdem findet sich dieser Menschenschlag noch
auf den kleinen, zwischen den polynesischen Haupt-
archipelen eingesprengten kleineren Inseln, ja poly-
nesische Völkerspuren lassen sich bis nach Mela-
nesien nachweisen.
Schon Forster leitete die Herkunft der Poly-
nesier aus Asien, von den indischen Inseln ab,
auch La Perouse äußerte sich in ähnlichem Sinne.
Diese Beziehungen wurden aber erst durch Marsdeus
Arbeiten über die malayische Sprache, durch W.
V. Humboldt, von der Gabelentz und durch Friedr.
Müller näher begründet und einwandfrei festgelegt.
In bezug auf die Zeitfrage der Wanderung der
Polynesier dürfte die Ansicht von de Ouatrefages,
daß dieses kurz vor oder seit Christi Geburt statt-
fand, immer noch Anerkennung finden.
F'ür die Zusammengehörigkeit der \^ölker Poly-
nesiens ist die Sprache das erste sichere Kenn-
zeichen gewesen, Somatologie und Ethnologie
wirkten hierbei unterstützend mit.
Überlieferungen beweisen zur Genüge, daß in
alter Zeit ein reger Verkehr zwischen Fiti, .Samoa
und Tonga bestand, weshalb auch die Anthropo-
logie der Fitianer eine Mischung von Melanesiern
und Polynesiern zeigt. Auch die Samoaner haben,
wenn auch in verhältnismäfjig geringem Grade,
melanesisches Blut durch die Fitianer in sich auf-
genommen, wie sich anthropologisch heute noch
unschwer feststellen läßt, und wie die Industrie
der Samoaner vielfach lehrt. Nur die Sprache hat
sich verhältnismäßig sehr rein von melanesischen
Einflüssen erhalten.
Die durchschnittliche Körperbeschaffenheit ist
eine durchaus gleichartige, es kann demnach die
samoanische Volksrasse im ganzen als rein auf-
gefaßt werden.
Was die Haare anbetrifft, so fand Kraemer auf
den Gilbert- und Marschailinseln das Haar bei den
Frauen und Mädchen fast durchweg lang und straff,
im Gegensatz hierzu die Haare der Samoanerinnen
in weichen, welligen Linien dahin fließend, wie
man besonders gut bei denjenigen sehen kann,
welche mit Weißen verheiratet sind, da sich diese
die Haare nicht abschneiden lassen. Andererseits
ist das Haar oft völlig kraus und muß in diesen
Fällen eine Beziehung zu Fiti , mithin ein mela-
nesischer Einfluß angenommen werden. Demnach
sind die Samoaner als schlichthaarig, aber mit einer
deutlichen Neigung zum Krauswerden, zur kurz-
welligen Form, aufzufassen, während die Mikro-
nesier mehr als strafthaarig anzusehen sind.
Kraemer hält es für unangängig, die Malayen,
Poh'nesier und Mikronesier als Straffhaarige unter
der Marke ,, schlichthaarig" zusammen zu vereinigen,
wie das Müller-Häckel'sche .System es vorschlägt,
oder als lockenhaarige, wie Ratzel es tut. \'iel
richtiger ist es, die Virchow'sche Plinteilung zu-
grunde zu legen, wonach die schlichte Form den
Mikronesiern, die wellige den Polynesiern (Kiebow
nennt die Samoaner feingelockt), die krause den
Melanesiern und die spiralgerollte Form den Papuas
zukäme. Die Farbe der Haare ist durchgehend
schwarz bis braunschwarz.
Die Körpergröf^e der Männer auf Samoa ist
eine ansehnliche. Größen von 190 — 200 cm sind
nichts Seltenes. Dabei sind sie wohlproportioniert
und man darf sagen, daß man unter den somoa-
nischen Jünglingen im Alter von 15 — 25 Jahren
die schönsten Gestalten antrifft, die man sich
denken kann. Nicht gleich schön an Gestalt sind
die P'rauen, indem die Beine hier häufig etwas zu
kurz und zu dick sind, namentlich über den Fuß-
gelenken, wo der Schollenmuskel, der Musculus
solens, unförmlich angeschwollen ist. Ihre Gesamt-
gestalt ist etwas untersetzt, wenn auch große
PVauen durchaus nicht selten sind. Ihre (iröf^e
bleibt aber im allgemeinen unter der der Männer
zurück, sie schwankt zwischen 150 — 170 cm.
Ihre Schädelform ist im Gegensatz zu den
dolichocephalen Melanesiern wie bei allen Poly-
nesiern eine brachycephale bis mesocephale, wie
im besonderen von Virchow, Krause und Volz durch
Messungen nachgewiesen ist. Weder irgend einem
seiner Bekannten, noch Kraemer selbst ist es ge-
lungen, einen samoanischen Schädel zu erhalten,
da hierin die Samoaner höchst zurückhaltend sind.
Danach beschleicht unseren Autor ein gelinder
Zweifel, ob alle die samoanischen Schädel in den
Sammlungen echt sind. \'on den wenigen Schädeln,
die Kraemer sah, kann er nur angeben, daß sie
ihm brachycephal erscheinen. Krause, der 13
Schädel gemessen hat, fand als Längenbreitenindex
77,5 und sagt : „Wir sehen hieraus, daß die Samoaner
zu den Mesocephalen gehören, indessen finden wir
neben den mittleren Indices ebenso oft ausge-
sprochene dolichocephale und brachycephale For-
men, wodurch das Gepräge der Vermischung zweier
entgegengesetzter Menschenrassen immer deut-
licher zutage tritt". Virchow fand durch Messungen
N. F. m. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
779
am Lebenden bei 6 Samoanern der Cunningham-
truppe, welche 1890 Berlin besuchte, 4 brachy-
cephal (81,3—85,2) und 2 mesocephal (77,7 — 79,2),
Reinecke bei 21 Lebenden 2 Mesocephale, 7 Brachy-
cephale und 1 2 Hyperbrachycephale. Danach darf
man entgegen Krause und Volz annehmen, daß
die^Samoaner brachycephal sind. Kraemer fiel bei
lebenden Samoanern, namentlich bei Häuptlingen,
die starke, massige Unterkieferausbildung vornehm-
lich auf.
Die Hautfarbe der Samoaner ist hellbraun und
zeigt nur selten dunklere Schattierung. Es ist ein
lichtes Braun, mit warmen roten Tönen gemischt.
Namentlich die besseren Familien sind heller wie
das \'olk; bei der Dorfjungfrau nähert sich ihr
Teint zuweilen dem süditalienischen. Die Farbe
bei Mischungen wie den Halbblut ist schon so hell
wie bei südromanischen Leuten und kann sogar
mit stark brünetten oder jüdischen Germanen un-
bedingt verglichen werden. Bei der Geburt ist die
Hautfarbe eine sehr helle, die aber bald nachdunkelt.
Die Kinder werden deshalb nach der Geburt mit
Curcumaöl eingerieben. Erwähnenswert ist auch
das X'orkommen von Geburtsflecken bei den
Samoanern. Balz hat dieselben schon 1883 nach-
gewiesen und betrachtet sie neuerdings als ein
mongolisches Rassenmerkmal, das den Japanern,
Koreanern, Malayen, Eskimo usw. zukommt. Er
fand einen markstück- bis handtellergroßen blauen
Fleck in der Sakralgegend regelmäßig oder
unregelmäßig auf beiden .Seiten. Die Flecken
können auch am übrigen Körper vorkommen und
zwar so umfang- oder zahlreich, daß fast die Hälfte
des Körpers bedeckt sein kann. Die Augen sind
im allgemeinen geradestehend, doch kommt ge-
ringer Schiefstand nicht gar so selten vor, wenn
auch die ausgeprägtere Schlitzform nicht oft be-
obachtet wird. Die Farbe der Regenbogenhaut
ist meist dunkelbraun, zuweilen auch hellbraun mit
blauem Außenring (Reinecke) und sogar schwarz
wie das Haar (Virchow). Die Augenbrauen sind
mäßig dicht, sanft geschwungen und stoßen zu-
weilen in der Mitte zusammen. Der Abstand der
Augen voneinander ist ein mäßig starker, wie denn
auch der Nasenrücken an dieser .Stelle zwar sattel-
förmig eingerückt, aber immer deutlich vorhanden
ist. Die regelmäßig vorkommende Nase ist eine
Stumpfnase geringen Grades. Die Nasenlöcher
sind stumpf und klein, was sich wohl auf die ge-
ringe Nasensekretion auf jenen warmen und frisch-
luftigen Inseln zurückführen läßt. Die mäßig stark
vorspringende Oberlippe hat einen hohen und stark
ausgeprägten Saum. Das Lippenrot ist breit, zeigt
häufig eine leichte Verfärbung ins Bläuliche. Die
Schaafhausen'schen breiten, oberen, mittleren
Schneidezähne sind auch den Samoanerinnen eigen.
Die Ohren sind unschön, da man die äußere Leiste
häufig völlig verstrichen findet. Die Läppchen
finden sich bei ihnen, wie bei den meisten Natur-
völkern, häufiger angeheftet als bei uns, in ca. 75 "/,,.
Vollbart wird zwar nicht häufig getragen, obwohl
Anlage dazu durchaus vorhanden ist; dagegen sieht
man kurz gehaltene Schnurrbarte desto regel-
mäßiger.
Kahlköpfigkeit ist selten und wurde als eine
.Straie der Götter betrachtet. Bei den Frauen er-
freut besonders der wohlgebaute Brustkasten, dessen
Linien fast in einer Geraden, leicht konvergierend
von den Achselhöhlen bis zum Gürtel laufen, von
wo sie stärker ausladend nach den Hüften ziehen.
Die Brüste sind recht verschieden gestaltet. Neben
den halbkugelförmigen, schalenförmigen, mit kleinen
Warzen und Mamillen gewahrt man häufig flaschen-
kürbisähnliche hängende und besonders häufig die
zitzenförmigen, ziegeneuterähnlichen, mit konisch
gestalteter Warze und breiten, dunklen Warzen-
höfen. Oft werden sie auch so lang, daß sie über
die Achsel geworfen werden können.
Die Schultern sind durchweg von schöner Form,
wohl gerundet, ebenso die Arme.
Die Waden sind kräftig entwickelt und nicht
selten bei den Mädchen, im besonderen auch der
Schollenmuskel, der Musculus solens, wodurch die
Gegend über dem Fußgelenk oft unförmlich dick
erscheint.
Die Füße haben einen wohlgeformten Spann,
sind aber in der Zehengegend sehr breit, fast fächer-
förmig. Die Zehen sind, mit Ausnahme der fünften,
nicht gekrümmt, sondern lang und gestreckt und
lassen einen deutlichen Raum zwischen sich. Die
Zehennägel sind im Gegensatz zur Hand breiter
als lang und meist platt, nicht gewölbt. Wie alle
barfußgehenden Völker sind die Samoaner geschickt
im Greifen mit der großen und der zweiten Zehe.
Eine Eigentümlichkeit der samoanischen
Frauen besteht darin, daß die untere Abgrenzung
der Gesäßbacken, die Glutäalfalten, entweder nur
sehr schwach vorhanden oder ganz verstrichen sind,
während sie bei den Männern deutlich vorhanden
sind. Ob das viele Herumsitzen der Mädchen in
den Häusern und die geringe körperliche An-
strengung hierbei nicht beeinflussend wirkt, möchte
Kraemer dahingestellt sein lassen.
Dr. Alexander Sokolowsky.
Ampullaria gigas Sp. — Die Ampullarien
sind Süßwasserschnecken und bewohnen die heißen
Gegenden Südamerikas, Afrikas und Ostindiens.
Im zoologischen System bilden sie den Übergang
von den Lungenschnecken zu den Vorderkiemern.
Zu Anfang dieses Jahres brachte mir ein See-
maschinist fünf Exemplare von Ampullaria gigas
Sp. aus dem La Plata mit. Ich war etwas ent-
täuscht, denn ich hatte ihn beauftragt, mir Süß-
wasserschnecken für meine Aquarien mitzubringen,
und nun bekam ich Ungeheuer von der halben
Größe einer Mannesfaust. Noch eine zweite Über-
raschung harrte meiner. Mein Beauftragter erzählte
mir nämlich freudestrahlend, eins der Tiere habe
unterwegs gelaicht und schöne rosenrote Eier
abgesetzt an einem Pflanzenstengel, und als ich
nun diese Eier sehen wollte , kam er mit einer
Wichsschachtel zum Vorschein, worin er sie fein
säuberlich aufbewahrt hatte. Die Farbe stimmte.
7 So
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 49
Die einzelnen Eier waren so groß wie die im
grobkörnigen Kaviar. Sie bildeten zusammen einen
Kuchen ungefähr von Größe und Form eines
Zweimarkstückes, aber gewölbt in der Mitte. Als
ich nun ganz erstaunt fragte, warum denn die Eier
nicht im Wasser belassen worden seien, erhielt
ich zur Antwort, man hätte befürchtet, daß die
alten Schnecken dieselben auffressen würden, und
den Laich dagegen schützen wollen. Das war
denn allerdings auch gelungen, aber die Brut war
zerstört.
Ampullaria gigas Sp. hat, abgesehen von der
Größe, bei oberflächlicher Betrachtung viel Ähn-
lichkeit mit unserer einheimischen Sumpfdeckel-
schnecke, Paludina vivipara. Die Schale ist nicht
so spitz ausgezogen wie bei der Paludina, sonst
aber von ziemlich gleicher h^orm und kann eben-
falls durch einen hornigen Deckel, den die Schnecke
auf dem Hinterende ihres Körpers trägt, verschlossen
werden. Die Färbung der Schale ist hell oliven-
bräunlich mit dunkelbraunen Längsbändern. Die
Grundfarbe des Fleisches ist weißlich- bis gelblich-
grau mit dichter, schwarzer Sprenkelung oder
Marmorierung an Kopf und Oberseite des Körpers,
soweit derselbe gewöhnlich aus der Schale hervor-
kommt. Das Maul sitzt am Ende einer rüssel-
artigen Verlängerung des Kopfes (Fig. i, m) wie
Fig. I. Ampullaria gigas Sp. '/, nat. Gr. a Kiemenöffnung,
d Deckel, m Mund.
bei unserer Paludina , aber zu beiden Seiten des-
selben steht wie ein mächtiger Schnurrbart je ein
starker Fühler. Auch oben am Kopfe sind zwei
Fühler, die bis zu einer Länge von lo cm heraus-
gestreckt werden können. An ihrem Grunde
stehen die beiden großen Augen auf kurzen,
dicken Stielen. Wenn das Tier im Wasser um-
herkriecht, bemerkt man auf der rechten Seite
einen fast immer weit offen stehenden Atemschlitz
(Fig. I, a), der in eine mit mehreren blattförmigen
Kiemenblättern ausgestattete Atemhöhle führt.
Diese K.iemenhöhle steht durch eine verschließ-
bare Öffnung inwendig mit einer anderen Atem-
höhle in Verbindung, die als Lunge funktioniert.
Wird der Sauerstofifgehalt des Wassers zu knapp,
so sieht man die Ampullaria mit weit vorgestreck-
ten Fühlern an der Glaswand des Acjuariums oder
an einem Pflanzenstengel emporklettern. Dabei
streckt sie auf der linken Seite ein langes Atmungs-
rohr empor, das ganz wie ein Spritzenschlauch
geformt und mit einem steiferen Mundstück ver-
sehen ist, an dessen Ende sich eine stecknadel-
kopfgroße Öffnung befindet (Fig. 2, s). Suchend
irrt diese Spitze umher, hebt sich höher und
höher, bis der Schlauch eine Länge von annähernd
lO cm erreicht hat, und schrumpft dann, falls sie
nicht an die Oberfläche des Wassers kommen
Fig.
2. Ampullaria gigas Sp. a Auge, d Deckel, m Mund,
s Atemöffnung, v Ventil.
konnte, wieder zusammen , worauf die Schnecke
höher emporklettert. Erreicht die Spitze des
Atemrohres die Oberfläche des Wassers, so wird
erst die Atemöffnung auf der rechten Seite ge-
schlossen, und nun führt die Schnecke mit ihrem
Kopfe Bewegungen aus, etwa wie ein Maikäfer,
der vom emporgehaltenen Finger in die Höhe
fliegen will. Sie pumpt ihren Lungensack voll Luft.
Ist sie damit fertig, so zieht sie ihren Atemschlauch
zurück und läßt sich zu Boden fallen. Das will
aber nicht immer gelingen. Manchmal nimmt sie
zu viel Luft ein und treibt dann an der Wasser-
oberfläche. In solchen Fällen öffnet sie ein Ventil
(Fig. 2, v) , welches sich am Grunde des .^tem-
schlauches befindet und läßt die überschüssige
Luft entweichen, worauf sie sofort untersinkt.
Die Ampullarien sind also, wie man sieht, vor-
züglich auf alle Wechselzustände, wie das heiße
Klima ihrer Heimat sie für ihre Wohngewässer
mit sich bringt, eingerichtet. Wenn diese aus-
trocknen, so warten sie während der heißen Jahres-
zeit im Schlamme die Regenzeit ab. Ampullarien,
die von d'Orbigny zu Buenos-Ayres in Kisten ver-
packt und verschickt wurden, sollen noch nach
acht und nach dreizehn Monaten am Leben ge-
wesen sein.
Ampullaria gigas ist sehr gefräßig. Ich hörte
mit ungläubigem Staunen die Berichte des See-
mannes, der sie für mich mitgebracht hatte. Zu-
hause setzte ich sie in ein mittelgroßes, dicht mit
Vallisneria spiralis bepflanztes Aquarium, dessen
Wassertemperatur durch eine Nachtlichterheizung
N. F. III. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
781
dauernd auf 18" R gehalten wurde. Am anderen
Morgen war das Aquarium wie rasiert. Die fünf
großen, ausgehungerten Schnecken hatten sich über
die Pflanzen hergemacht und sie sämtlich bis auf
die Wurzelstümpfe verzehrt, nur einige Blätter
trieben auf dem Wasser umher. Dieses Futter war
mir aber zu kostbar; ich bepflanzte das Aquarium
nun mit verschiedenen Arten von Myriophyllum,
aber sie rührten nichts davon an. Ich wechselte
die Pflanzen also aus gegen unsere Sumpfprimel
oder Wasserfeder, Hottonia palustris, die ein recht
weiches Laub hat, aber auch diese Nahrung wurde
verschmäht. Jetzt mache ich es wie die Leute an
Bord des Dampfers, ich werfe ihnen Kopfsalat vor,
und das hat endlich Gnade vor ihren Augen ge-
funden, wenn sie auch nicht so gierig darüber
herfallen, wie über die Vallisnerien. Da nun die
meisten Süßwasserschnecken auch Aasfresser sind,
so hielt ich meinen Ampullarien Streifen rohen
Fleisches von der Dicke und auch von der Länge
eines Schwedenstreichholzes mit einem Futterstocke
vors Maul. Die Tiere bekamen sofort Witterung
und faßten gleich zu. Es sah aus, als wenn ein
Regenwurm in die Erde kriecht, so rutschte das
Fleisch in ihren Schlund hinein. Ab und an habe
ich ihnen auch einen toten Fisch gegeben. Ein
kleiner Kaulbarsch wurde bis auf die festeren
Skeletteile vollständig verzehrt. Ebenso ging es
mit der Leiche einer mittelgroßen Karausche, nur
an einen toten Gurami wollten sie nicht recht
heran, wahrscheinlich nicht, weil die Ctenoid-
schuppen des Frisches ihrer Radula zu großen
Widerstand entgegensetzten.
Daß die Ampullarien auch lebenden Tieren
gefährlich werden können, möchte ich wohl an-
nehmen, denn auch unsere einheimischen Schlamm-
Schnecken nehmen lebende, tierische Nahrung zu
sich. (Siehe „Räuberische Süßwasserschnecken",
Naturwissenschaftliche Wochenschrift, III. Jahrgang
der neuen Folge, Nr. i pag. 9). Außerdem bemerkte
ich vor einiger Zeit, wie ein Männchen des Kampf-
fisches, Betta pugnax, welches still, vielleicht
schlafend, in einer Ecke des Aquariums sich auf-
hielt, beinahe von einer Ampullaria erfaßt worden
wäre, wenn es nicht schleunigst — ■ es schoß im
Schrecken über die Oberfläche des Wassers empor
— sich durch die Flucht gerettet hätte.
C. BrüningHamburg.
Eine Röntgen - Einrichtung für Kriegs-
zwecke. — Bei allen Kulturnationen ist es das
ernsteste Bestreben, die Schrecken des Krieges nach
Möglichkeit herabzumildern dadurch, daß man dem
verwundeten Soldaten ärztliche Behandlung, sorg-
samste Pflege und Wartung in dem bestmöglichsten
Umfange zuteil werden läßt. Zu dem Zwecke
werden die Feldlazarette mit allem versehen, was
von ärztlichen Einrichtungen und Apparaten unter
den besonderen Verhältnissen, wie der Krieg sie
bietet, sich nur beschaffen und verwenden läßt.
Man ist bemüht, alle die Errungenschaften der
Wissenschaft wie der Technik, die man zu Hause,
in der Klinik zu Hilfe nimmt für die Tätigkeit des
Arztes und die Behandlung des Patienten, auch
im Felde unter Anpassung an die veränderten, ein-
schränkenden und beengenden Verhältnisse sich
dienstbar zu machen, zum Heile für die verwundeten
Krieger.
Jedoch, es ist ohne weiteres klar, daß im Kriege
der Arzt nur zu oft gezwungen ist, manches Hilfs-
mittels sich zu entschlagen , dessen Anwendung
oft geradezu lebensrettend gewesen wäre. Es gibt
ja der Schwierigkeiten zu viele, die der Benutzung
und Ausnutzung aller ärztlicher Hilfsquellen hin-
dernd im Wege stehen; schafft doch der Krieg
so viel Plötzlichkeiten und Unvorhergesehenes, daß
man ganz außerstande ist, auch nur in annähern-
der Voraussicht seine ärztlichen Vorbereitungen
zu treffen.
In den letzten Jahren hat ein ärztliches Hilfs-
mittel physikalischer Natur die gesamte Ärztewelt
erobert, das ganz neue Perspektiven für die Er-
kennungskunst geschaffen hat und auch, als Heil-
mittel verwandt, gegenüber einer großen Zahl be-
stimmter Krankheitsformen schätzbare Dienste
leistet; ich meine die Röntgenstrahlen.
So wie heute keine chirurgische Klinik mehr
ohne Röntgeneinrichtung gedacht werden kann,
so wie der praktische Arzt schon Röntgenstrahlen
für seine Privatpraxis, im eigenen Sprechzimmer
für die Diagnose zahlreicher Krankheitsfälle zu
Rate zieht, so ist es für den Kriegsfall von aller-
höchstem Werte, wenn dem Arzte ein Röntgen-
Instrumentarium zu Gebote steht. Nirgends mehr
als im Felde bietet sich Gelegenheit, Röntgen-
strahlen mit unschätzbarem Erfolge zu verwenden,
geben sie doch die beste und zuverlässigste Aus-
kunft über den Zustand der Verwundung, über die
Art der Knochenverletzung, den Sitz des Geschoß-
stückes, mahnen sie hier zu schnellem Eingreifen,
zu rascher Operation, dort zu abwartender Be-
handlung. Gerade für die „konservative" Methode
der Chirurgie sind sie ein jederzeit zuverlässiger
Berater.
Lange schon ist der Wunsch brennend ge-
worden, die ausgezeichnete diagnostische Unter-
stützung, wie die Röntgenstrahlen sie liefern, auch
im Felde verwerten zu können bei der Behand-
lung des Verwundeten. Mußte man sich doch
eine ganze Reihe neuer Erfolge für die ärztliche
Tätigkeit aus ihrer Anwendung versprechen. Wie
groß aber die Schwierigkeit sein mußte, diesem
Wunsche nachzukommen und ein für Kriegszwecke
wirklich brauchbares, den Anforderungen vollauf
genügendes Röntgen-Instrumentarium zu schaffen,
das vermag ein jeder, der sich mit Röntgographie
beschäftigt hat, zu ermessen. Schon unter den
sicheren heimischen Verhältnissen stellt eine Röntgen-
einrichtung einen sehr diffizilen Apparat dar, der
nicht allein sehr umfangreich ist, sondern dessen
Anlage auch auf das Sorgfältigste durchgeführt
sein muß.
Es wird deshalb für jeden ein doppeltes Inter-
esse haben, eine Röntgeneinrichtung kennen zu
782
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 49
lernen, die ausdrückUch für Kriegszwecke kon- leuchtungsresultate auf dem Schirm, wie Herstellung
struiert ist und dabei eine vollbefriedigende Leistungs- scharfer Bilder auf der photographischen Platte,
fähigkeit besitzt, sowohl in bezug auf gute Durch- Unsere Abbildungen veranschaulichen eine von
Fig. I.
Fig. 2. Röntgenapparat für Kriegszwecke geliefert von der Eleklriziläts-
gesellscliaft Sanitas-IScrlin für die russischen Lazarette im russisch-japanischen
Kriege.
Fig. ;3.
ELtCTR.ClS. SnNIISS, BERUN.
'•'lg- 4-
N. F. ni. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
783
den Kriegs-Röntgeneinrichtungen, mit denen die
Klektrizitäts-Gesellschaft „Sanitas" zu Berlin, der
wir schon verschiedene Neuerungen im Röntgen-
Instrumentarium verdanken, die russischen Lazarette
für den gegenwärtigen russisch-japanischen Krieg
ausgestattet hat.
Wie das erste Bild zeigt, ist der gesainte .'\pparat
in drei starken, eisenbeschlagenen Holzkästen mit
Tragringen untergebracht; die Kästen sind so fest
gebaut und in ihrem Innern für die Aufnahme
der verschiedenen Teile des Instrumentariums so
zweckentsprechend eingerichtet, daß Beschädi-
gungen des Apparates oder Bruch einzelner Teile
vollkommen ausgeschlossen sind.
In dem obersten Kasten ist die aus sechs
Zellen bestehende Akkumulator-Batterie unterge-
bracht, deren Zellengefäße aus Celluloid hergestellt
sind. Ihre Kapazität beträgt 60 Amperestunden.
Den mittleren Kasten sehen wir auf Abbildung 2
geöffnet vor uns. Die Vorderwand des Kastens
ist aufzuklappen, worauf dann die Schalttafel mit
dem gesamten Schaltapparate sichtbar wird. Wie
die Abbildung zeigt, wird die Akkumulator-Batterie
vermittels der Leitungsschnüre an die Tafel an-
geschlossen. Der Funkeninduktor liegt hinter der
Schalttafel im Innern des Kastens, während die
Unterbrechungsvorrichtung an der rechten Seite
(vom Beschauer aus) des Kastens sich findet, und
nach Öffnen einer Klappe zu Zwecken der Be-
stimmung der Unterbrechungszahl von außen zu-
gänglich ist. Auf dem Dache des Kastens sehen
wir das Stativ aufgebaut, welches die Röntgen-
röhre und die von dieser zum Induktor führenden
Kabel trägt. Die Anschlußklemmen des Induk-
tors sind auf dem Dache sichtbar. Links neben
dem Kasten steht das Kryptoskop, welches den
Leuchtschirm birgt.
Das Stativ ist zusammenlegbar und findet, wie
Abbildung 3 zeigt, unter dem Deckel des untersten
der 3 auf Abbildung i veranschaulichten Kästen
Aufbewahrung. Das Innere dieses Kastens besitzt
2 sorgfältig gepolsterte Fächer, in denen die beiden
Röntgenröhren aufbewahrt werden, während in
einem Nebenfache das zusammenschiebbare Krypto-
skop untergebracht ist.
Die für die photographischen Aufnahmen be-
nötigten Chemikalien sind in kleine Tuben ver-
packt und haben ebenso wie die photographischen
Platten ihren Platz in einem anderen Nebenfache
des Kastens Nr. 3.
Man sieht, daß alles bis ins kleinste Detail
genau vorgesehen ist, was zu einem vollständigen
Röntgen -Instrumentarium gehört. Trotz ihres
kompendiösen Baues, trotz ihrer relativen Einfach-
heit ist diese Kriegs-Röntgeneinrichtung ein wirk-
licher Gebrauchsapparat, der seinen Zwecken in
jeder Weise gerecht zu werden vermag.
Für die Wiederaufladung der Akkumulator-
Batterie ist eine besondere Ladevorrichtung vor-
gesehen, die in einem, wie Abbildung 4 und 5
zeigen, starken, gleichfalls eisenbeschlagenen , von
zwei Männern bequem zu transportierenden Kasten
untergebracht ist und aus einer Dynamomaschine
und einem Benzinmotor besteht. Der Motor
gleicht in seiner Konstruktion den bei Auto-
mobilen üblichen. Er besitzt Wasserkühlung und
automatische elektrische Zündung. Ein Widerstand
mit Regulierkurbel dient zur Regulierung der
Spannung der Dynamomaschine auf 16 Volt,
welche man am Voltmeter abließt.
EUECTR.GES.SflNITAS. BERUH.
So ist denn heute auch der im F"elde stehende
Arzt in den Stand gesetzt, mit Hilfe der Röntgen-
strahlen seine Diagnose zu schärfen und zu prä-
zisieren und gestützt auf das Bild, das sie ihm
vom Zustande des verwundeten Gliedes geben,
den richtigen Weg zu wählen für sein thera-
peutisches Eingreifen. W. Otto.
Bücherbesprechungen.
Fridtjof Nansen, Eskimoleben. Aus dem Nor-
wegischen übersetzt von M. Langfeldt. Leipzig,
G. H. Meyer. 1903. — Preis geb. 4 Mk.
Nansen's liebenswürdige Schilderung der Grön-
länder liegt nun zum ersten Male vollständig in deut-
scher Übersetzung vor. Der berühmte Reisende hat
nach seiner Durchquerung des grönländischen Inland-
eises einen langen Winter unter den Eskimos der
Westküste gelebt und das harmlose Naturvolk gründ-
lich kennen gelernt. Nicht mit einer kühlen , objek-
tiven Darstellung ihrer Sitten und ihrer Lebensweise,
ihrer künstlerischen Fähigkeiten und religiösen Emp-
findungen hat er sich begnügt. Er zeigt sich uns
als warmherzigen Verteidiger des unglücklichen Volkes,
das durch die Berührung mit europäischer Kultur dem
Tode geweiht ist. Zwar erkennt er den guten Willen
der dänischen Regierung und der Missionen an, die
grönländische Urbevölkerung sittlich und wirtschaft-
lich zu heben ; aber leider haben sich bisher alle
„Segnungen" der Kultur und des Christentums für
die Eskimos nur als unheilvoll erwiesen. Nansen's
Buch klingt in einer scharfen Verurteilung jener Be-
784
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 49
strebungen aus, welche dahin gehen, den Naturvölkern
unsere Zivilisation und unsere Religion aufzudrängen.
Dr. E. Philippi.
H. Gewecke, Neue Karte des Sternhimmels.
Aufgezogen auf Pappe (51X51 cm) mit ver-
schiebbarem Gradmesser. Berlin 1904, Dietrich
Reimer. — Preis 2 Mk.
Die Karte umfaßt das Himmelsgebiet vom Nord-
pol bis — ^,2" Deklination, also ziemlich die Gesamt-
heit der für unsere Gegenden sichtbaren Sterne und
stellt dieselben in geschmackvoller Weise weiß auf
dunkelblauem Grunde dar. Die Konfigurationen
treten im ganzen gut hervor, jedoch wären die Sterne
vierter Größe besser durch kleinere Vollkreise, als
durch Kreisringe dargestellt worden. Leider fehlt die
Bezeichnung der helleren Sterne durch griechische
Buchstaben, obgleich der begleitende Text darauf
Bezug nimmt. Wertvoll ist der drehbare Meridian-
streifen, der eine schnelle Ablesung der Koordinaten
bzw. Aufsuchung von Planetenörtern u. dgl. nach
angegebener Position leicht ermöglicht. Besonders
angenehm ist dabei auch die doppelte Einteilung der
Peripherie nach Bogen- und Zeitmaß. Die Genauig-
keit, die bei der Einstellung zu erreichen ist, wird
bei dem papierenen Material naturgemäß nicht sehr
groß sein können. Einige Stichproben, die Ref. an-
stellte und die wir hier anfuhren wollen , zeigen aus
leicht ersichtlichem Grunde in den Rektaszensionen
größere Abweichungen als in den Deklinationen. Man
liest an unserem Exemplar ab bei
«Tauri 4'» 37™, -1-17,2" anstatt 4'' 30™, -{-16,3"
Sirius 6i»43™, — 15,0"
a Ursae maj. 1 1 '' 1 o™, -[-62,0''
aBootis 14*' 16", -(-19,9"
aLyrae i8''4o™, +38,00
öAquilae 19'' 47™, -[- 9,0*'
—16,6»
+62,3»
— 19.7<*
18" 34-, +38,0«
6''4i''
io''5J
r4'' II
19'' 46™,
8,6»
F. Kbr.
Literatur.
Ahrens, Dr. W. : Scherz u. Ernst in der Mathematik. Ge-
flügelte u. ungeflügelte Worte. Gesammelt u. hrsg. (X,
522 S.) gr. 8". Leipzig '04, B. G. Teubner. — Geb. in
Leinw. 8 Mk.
Arthus', Maurice, Elemente der physiologischen Chemie.
Deutsch bearb. v. Jobs. Starke. 2., vollständig neu durch-
geseh. u. vielfach umgearb. Aufl. (Abel's medizin. Lehr-
bücher.) (VI, 314 S. m. 15 Fig.) kl. 8". Leipzig '04,
J. A. Barth. — Geb. in Leinw. 6 Mk.
Delbrück. Geh. Reg.-R. Prof. M., und Reg.-R, A. Schrohe,
DD. : Hefe, Gärung u. Eäulnis. Eine Sammig. d. grundleg.
Arbeiten v. Schwann, Cagniard-Latour u. Kützing, sowie v.
Aufsätzen zur Geschichte der Theorie der Gärung und der
Technologie der Gärungsgewerbe. (V^ , 232 S. m. 14 Ab-
bildgn. u. 6 Bildnissen.) gr. 8". Berlin '04, P. Parey. —
6 Mk.
Detto, Assist. Dr. Carl: Die Theorie der direkten Anpassung
u. ihre Bedeutung f. das Anpassungs- u. Deszendenzproblem.
Versuch c. methodolog. Kritik des Erklärungsprinzipes und
der botan. Tatsachen des Lamarekismus. (VI, 214 S. m.
17 Abbildgn.) gr. 8". Jena '04, G. Fischer. — 4 Mk.
Schröter, Zeichn. Ludw. : Taschenflora des Alpen- Wanderers.
207 kolor. u. 10 schwarze Abbildgn. v. verbreiteten Alpen-
pflanzen, nach der Natur gezeichnet u. gemalt. Mit kurzen
botan. Notizen in deutscher, franzos. u. engl. Sprache von
Prof. Dr. C. Schröter. 9. verb. Aufl. (26 [24 färb.] Taf.
m. je 2 S. Text nebst III u. VIII S. Text.) 8°. Zürich '04,
A. Raustein. — Geb. in Leinw. 6 Mk.
Sterne, Carus (Dr. Ernst Krause): Werden und Vergehen.
Eine Entwicklungsgeschichte des Naturganzen in gemein-
verständl. Fassg. 6. neubearb. Aufl., hrsg. v. Wilh. Bölsche.
(In 40 Helfen.) i. Heft. (32 S. m. Abbildgn. u. 4 \z färb.]
Taf.) Le.^. 8". Berlin ('04), Gebr. Bornträger. — 50 Pf.
Briefkasten.
Herrn F. Z. in Wesel. — Am besten nehmen Sie Det-
mer's ,, Kleines pflanzenphysiologisches Praktikum" (Jena), in
dem Sie über Wurzelknöllchen etc. Auskunft finden. Vgl.
Sie auch den Artikel von Kienitz- Gerloff in der Naturwiss.
Wochenschr. vom 20. Dez. 1903.
Herrn W. J. in Eger. — Ein gutes Lexikon der natur-
wissenschaftlichen Termini wäre vielen Seiten sehr erwünscht;
leider gibt es ein solches nicht.
Herrn F. J. B. in Grünhagen, Ostpr. — Frage: Wie
präpariert man auf die einfachste Weise frische Tierskelette,
speziell Schädel? — Beim Zurichten von Skeletten hat man
zweierlei zu unterscheiden: l) die vorläufige Herstellung des
Rohskelettes für wissenschaftliche Zwecke und 2) die Auf-
stellung des Skelettes für die Sammlung. — Beim Herstellen
von Rohskeletlen, namentlich auf Reisen, trennt man einfach,
nachdem der Balg abgezogen und die Eingeweide heraus-
genommen sind, alle Fleischteile roh von den Knochen ab,
doch achte man darauf, daß freiliegende, mit dem übrigen
Knochengerüst nicht verbundene Knochen, wie die Schlüssel-
beine mancher Raubtiere, die Beckenknochen der Waltiere,
die Zungenbeine, der Penisknochen etc. nicht verloren gehen.
Alle Bänder müssen erhalten bleiben. Die Gehirnmasse holt
man mittels eines Drahthakens aus dem Hinterhauptloch her-
aus und spült mit Wasser nach. Ist das Skelett blutig , so
legt man es einige Tage lang in Wasser. Dann trocknet man
scharf ein, vergiftet aber nicht, weil dadurch später das
Mazerieren erschwert würde (vgl. F. Dahl, Kurze Anleitung
zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Konservieren von
Tieren, Jena 1904, Preis I Mk.). — Um das Skelett für die
Sammlung aufzustellen, muß man es zunächst durch Mazerieren
reinigen. Dies kann entweder durch Einlegen in Wasser oder
aber durch Eingraben in Pferdemist etc. geschehen. Nach
I — 2 Wochen sind die Fleischteile soweit zerfallen, daß sie
nun abgebürstet oder vorsichtig abgeschabt und die Knochen
dann gebleicht werden können. Endlich wird das Skelett auf-
gestellt. Alles das erfordert soviel Umsicht und Sorgfalt, daß
hier nicht auf alles Einzelne eingegangen werden kann. Eine
kurze Anleitung finden Sie in L. E g e r , Der Naturaliensammler,
5. Aufl., Wien 1882 (Preis 3,20 Mk.), S. 128 — 140. Kleine
Objekte kann man nach Eger auch rasch mazerieren, indem
man sie an einem trockenen Orte in feines Kohlenpulver
legt. Ferner kann man durch aasfressende Insekten das Skelett
abnagen lassen. Zu dem Zweck legt man es entweder in
einen nicht dicht verschlossenen Topf und stellt diesen im
Freien auf oder man umgibt es mit einem Drahtnetz und
steckt es in einen Haufen der braunen Waldameise. In bei-
den Fällen muß man aber aufpassen, daß die Insekten nicht
auch die Bänder zerfressen, so daß der Zusammenhang ver-
loren geht. Insekten pflegen selten alle Teile gleichmäßig zu
reinigen.
Dahl.
Inhalt: Prof. Dr. Friedr. Dahl: Welches Lehrbuch der Zoologie soll man dem Untcrriche an höheren Schulen zugrunde
legen? — Kleinere Mitteilungen: Max Jacobi; Leonardo da Vinci als Alpenfreund. — Dr. Augus ti n K raemer :
Die Anthropologie der Samoaiier. — C. Brüning: Ampullaria gigas Sp. — W. Otto: Eine Röntgen-Einrichtung für
Kriegszwecke. — Bücherbesprechungen: Fridtjof Nansen: Eskimoleben. — H. Gewecke: Neue Karte des
Sternhimmels. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: I. V.: Dr. F. Koerber, Grors-Lichterfelde-We";! h. Berlin.
OriicU vim I .ipperl Ä Co. (O. Patz'sche Itiichilr.), Naunibiirg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,L)iC iNätUr (Halle a. S.) seit i. April igo2.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin,
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-'West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den IL September 1904.
Nr. 50.
Abonnement : Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate : Die zweigespaltenc Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Geisdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstrafle 46, Buclihändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Gifhorner Hochmoor bei Triangel.
[Nachdruck verboten.] Vom Geheimen Bergrat Prof.
Am Sonntag, den 24. April dieses Jahres, einem
herrlichen Frühlingstage, an dem die Sonne heil
und warm vom wolkenlosen blauen Himmel herab-
schien, unternahmen zwanzig Mitglieder der deut-
schen Gesellschaft fiir voll<stümliche Naturkunde
zu Berlin, darunter zwei Damen, unter der Führung
des Verfassers einen geologischen Ausflug nach
Triangel bei Gifhorn, um die Entstehungsgeschichte
dieses von der Aller im Süden und der Ise im
Westen begrenzten Hochmoores und die gegen-
wärtige wirtschaftliche Nutzung desselben kennen
zu lernen.
Die Teilnehmer des Ausfluges benutzten vom
Bahnhofe Cliarlottenburg aus den hannover-
schen Frühsciinellzug und erreichten über Isen-
bültel nach fast vierstündiger Eisenbahnfahrt die
Station Triangel der IsenbüttelÜlzener Eisenbahn,
wo sie am Bahnhofe von Herrn Okonomierat
Rothbarth, dem Leiter des Herrn Arnold Rimpau
in Braunschweig gehörigen Gutes Triangel, sowie
von dem Sohne des Besitzers und den jüngeren
Wirtschaftsbeamten empfangen wurden. Zunächst
ging es zum „Braunschweiger Hof", einem freund-
lich gelegenen, von Herrn A. Rimpau erbauten
Dr. F. Wahnschaffe-Berlin.
Gasthofe, wo ein treffliches Frühstück unserer
harrte. Nach demselben gabzunächstHerr()konomie-
rat Rothbarth an der Hand einer großen Wand-
karte von Triangel eine Übersicht über die ge-
schichtliche Entwicklung des Gutes und die wirt-
schaftliche Nutzung des Hochmoors. Er führte
aus, daß die jetzt ungefähr 1178 Hektar (4700
Morgen) große Besitzung aus dem Areal der
„Norddeutschen Torfmoor - Aktiengesellschaft",
deren Aktien im Anfange der achtziger Jahre vom
jetzigen Besitzer aufgekauft worden seien, sowie
durch Zukauf des früheren kleinen Gutes Triangel
(100 Hektar = 400 Morgen), sowie einer 500 Hektar
(2000 Morgen) großen, früher vom Hskus ver-
pachteten Moorfläche entstanden sei. Als dem
gegenwärtigen Leiter im Jahre 1873 von der ehe-
maligen „Norddeutsciien Torfmoor- Gesellschaft"
die Verwaltung übertragen wurde, bestand der
ganze damalige und im Jahre 1874 ausgetauschte
Besitz teils aus ursprüngliciien, noch nicht kulti-
vierten, teils aus abgebrannten und in dürftigster
Kultur befindlichen Hochmoorflächen ohne Ab-
zugskanäle, Gebäude und Zugangswege. Erst nach
der Anlage eines 10 km langen, bis zur .'\ller ge-
786
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 50
führten Entwässerungsl<anales, und nachdem die
Eisenbahn von Isenbüttel nach Triangel vom Staate
und ein daran anschließendes normalspuriges Ge-
leise von 8 km Länge auf Rechnung des Herrn
Rimpau hergestellt war , konnte eine rationelle
landwirtschaftliche Kultur der abgetorften und
noch mit Torf bedeckten Flächen, sowie ein nutz-
bringender Abbau des Torfes stattfinden. Das
Areal des Gutes Triangel, das ungefähr die Form
eines sich von NNO nach SSW erstreckenden
Eies besitzt, zerfällt in drei verschiedene Teile.
Zunächst im Süden ein ungefähr 150 Hektar (600
Morgen) großes, um den Gutshof herumliegendes
Areal, das teils aus neu abgetorften Moorflächen,
teils aus vor hunderten von Jahren abgetorften
und früher mit Heide bestandenen Flächen ge-
bildet wird. Der mittlere Teil, der etwa 208
Hektar (830 Morgen) Moorfläche umfaßt, dient zur
industriellen Ausbeutung und der nördliche noch
nicht abgetorfte Teil des Hochmoors (550 Hektar
^= 2200 Morgen) ist durch Anlage von IVIoorwiesen
und Weideflächen in landwirtschaftliche Kultur ge-
nommen. Hierzu kommen noch 88 Hektar (350
Morgen) am Rande des Moores liegende sandige
Hochflächen, die in Forstkultur genommen sind.
An diese statistischen Angaben schlössen sich noch
einige Bemerkungen über das Verfahren bei der
Kultivierung der Hochmoorflächen und die tech-
nische Ausbeutung des Torfes.
Der wissenschaftliche Leiter des Ausfluges gab
sodann eine kurze Darstellung der Entstehung und
Einteilung der verschiedenen Moore. Die Moore
sind in geologischer Hinsicht jüngste Bildungen
der Erdoberfläche, die aus Resten von Pflanzen
hervorgegangen sind. Diese Pflanzenreste haben
bei ungenügendem Luftzutritt unter Wasser einen
Gärungs- und Humifikationsprozeß erlitten, wobei
der Kohlenstoffgehalt relativ angereichert wurde
und aus ihnen eine Ablagerung entstand, die man
petrographisch als ,,Torf' bezeichnet.
Die Moore sind vorwiegend in den kälteren,
niederschlagsreichen Teilen der gemäßigten Zonen
entstanden,währendunterdenTropen die Zersetzung
der Pflanzenwelt so schnell vor sich geht, daß hier
keine Torfablagerungen sich bilden können. Welche
Bedeutung die Moore für Norddeutschland besitzen,
wird ersichtlich aus dem Umstände, daß ganz
Deutschland rund 500 Quadratmeilen Moor be-
sitzt, von denen allein 450 auf Norddeutschland
entfallen. Besonders reich an Mooren ist die
Provinz Hannover mit 1 5 "/o Moor und namentlich
die Regierungsbezirke Aurich und Stade mit 25
und 28 % Moorfläche. Nach ihrer äußeren Form,
Entstehungsweise und Lage teilt man die Moore
ein in Flach- oder Niederungsmoore und
in Hochmoore, indem letzterer Name nicht
etwa bezeichnen soll, daß sie in besonders hoher
Lage vorkommen, sondern daß sie sich z. T. in
urglasartiger Form ganz allmählich über ihre
nähere Umgebung und über den Grundwasserstand
derselben erheben.
Die Flach- oder Niederungsmoore
besitzen eine flache und ebene Oberfläche, sind
an Niederungen gebunden und hervorgegangen
aus wasserreichen Sumpfgebieten, aus ehemaligen,
vielfach innerhalb der Diluvialhochflächen gelegenen
Seebecken und Teichen, oder aus alten in Stagna-
tion versetzten Flußbetten. Die Sumpfvegetation,
aus der die Niederungsmoore entstanden, bean-
sprucht ein nährstoffreiches, namentlich auch Kalk
enthaltendes Wasser. Bei der Vertorfung von
Wasserbecken bildet sich zunächst vom Rande her
ein Gürtel von Sumpfpflanzen aus, der sich immer
weiter nach der Mitte zu vorschiebt und schließ-
lich das ganze Becken überzieht. Bei einigen Torf-
mooren findet man zu unterst einen eigentümlichen
Schlammtorf, der in feuchtem Zustande oft eine
gallertartige Beschaffenheit besitzt und daher auch
als „Lebertorf ' bezeichnet worden ist. Er bildete
sich am Grunde des noch offenen Gewässers aus
den von Wassertieren zernagten Resten der See-
rosen (Nymphaeaceen) und Laichkräuter (Potamo-
getonarten) sowie aus den Samen dieser Pflanzen,
vermischt mit den Exkrementen und abgestorbenen
Exemplaren der niederen Wassertiere. Hat sich
der Boden des Sees durch diesen einem Fäulnis-
prozesse unterworfenen Schlamme (Faulschlamm
Potonie's^)) mehr und mehr erhöht, so siedeln sich
namentlich Schilfrohr (Phragmites communis) und
andere Sumpfpflanzen, wie Binsen (Juncaceen), Igels-
kolben (Sparganium ramosum), Rohrkolben(Thypha
latifolia), Schilf (Calamagrostis arundinacea), Laich-
kräuter usw. darauf an, und ihre abgestorbenen
Reste geben Veranlassung zur Torfbildung. LIber
den weichen Torfgrund schieben sich Seggenwiesen
(Cyperaceen) vom Ufer aus gegen das offene Wasser
vor und bilden z. T. schwimmende Rasen. Ist
durch die Pflanzenrückstände das Becken bis zur
Wasseroberfläche ausgefüllt, so siedeln sich Erlen
(Alnus glutinosa), Weiden (Salix repens und aurita),
Birken (Betula pubescens) darauf an, während in
den trockenen Teilen Kiefern (Pinus silvestris),
Fichten (Picea excelsa) und Eichen (OuercusRobur)
erscheinen. Die abgestorbenen Stämme und Wurzeln
dieser Bäume bleiben oft in wohlerhaltener P'orm
mit anderen Pflanzenresten gemischt im Bruch-
waldtorf aufbewahrt. Der Torf der Niederungs-
moore, der aus Nährstoff liebenden Pflanzen her-
vorgegangen ist, besitzt meist einen reichlichen
Gehalt an Kalk und Stickstoff". Sein Aschengehalt
ist jedoch großen Schwankungen unterworfen, je
nachdem bei seiner Bildung andere Mineralstoffe
durch Wasser mechanisch hinzugeführt worden
sind. Ein in den Randmooren der Flußmarschen
im westlichen Norddeutschland besonders regel-
mäßig vorkommender Schilftorf ist im Gezeiten-
gebiete gewöhnlich mit so großen Mengen von
Schlick und feinem Sand vermischt, daß er als
Brenntorf nicht verwertet werden kann. Ein der-
artiger Torf wird als „Darg" bezeichnet.
') H. Potonie, Eine rezente organogenc Schlanimbildung
des Cannellkolilentypus (Jahrb. d. Königl. Prcuß. Geolog.
Landesanstalt. Kcrlin 1904.)
N. F. III. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
787
Der Aschengehalt des Niederungstorfes steigt un-
gefähr bis auf 5o"/n; überschreitet er 25"/,,, so
ist der Torf für Brennzwecke nicht mehr geeignet.
Die Niederungsmoore werden meist als Wiesen-
flächen oder zur Torfgewinnung benutzt. Bei ge-
nügender Entwässerung hat man sie auch für den
Ackerbau verwertet, indem man nach dem Muster
der Hermann Rimpau'schen „MoordammKulturen",
wie sie zuerst auf dem Niederungsmoore des Dröm-
lings bei Cunrau zur Anwendung kamen, das
Moor durch ein System von Gräben entwässerte,
eine Decke von 10 cm Sand auf den sogenannten
„Dämmen" aufbrachte und durch Zufuhr von Kainit
und Thomassciilacke das fehlende Kali und die
Phos[)horsäure ersetzte. So konnte man bei dem
reichlichen Stickstoff- und Kalkgehalte des Niede-
rungsmoores Ackerbau ohne Anwendung anima-
lischen Düngers treiben.
Wesentlich verschieden von den Niederungs-
mooren durch ihre Zusammensetzung, Entstehung
und die Form ihres Auftretens sind die Hoch-
moore, zu denen das Gif horner Moor bei Triangel
gehört. Im nordwestlichen Deutschland sind die
Hochmoore im allgemeinen viel verbreiteter als
die Niederungsmoore, da zu letzteren etwa nur
5 "/„
aller dortigen Moorflächen gehören. Es hängt
dies zusammen mit dem Umstände, daß die Hoch-
moore zu ihrer Entstehung sehr reicher atmo-
sphärischer Niederschläge bedürfen und darum
auch vorwiegend an das niederschlagsreichere Klima
der Küstengebiete oder der Gebirge gebunden sind.
So finden sich außer in Westdeutschland und
Holland noch Hochmoore im pommerschen und ost-
preußischen Küstengebiete, sowie auf dem Brocken.
In vielen Fällen sind die Hochmoore von l^ber-
gangswaldtorf (Bruch waldtorf) oder Schilftorf,
also von Niederungsmooren, unterlagert. Hat sich ein
Niederungsmoor gebildet und erhöht sich die Torf-
masse durch den darauf angesiedelten Bruchwald-
torf mehr und mehr, so kann das für die Ernäh-
rung der Bäume erforderliche fruchtbare Grund-
wasser nur noch durch Kapillarkraft im Torf bis
zu den Wurzeln gehoben werden, und dieser Vor-
gang vollzieht sich um so langsamer, je tiefer sich
der Grundwasserstand durch das Dickenwachstum
des Torfes oder auch durch andere Umstände ge-
senkt hat. Die Bäume erhalten infolge dessen
die Pflanzennährstofife nicht in der erforderlichen
Schnelligkeit und Menge zugeleitet und beginnen
daher zu kränkeln, abzusterben und nur noch
spärlichen Nachwuchs zu erzeugen. Auf den Lich-
tungen siedeln sich die in ihren Ernährungsbedin-
gungen sehr anspruchslosen Moose (Polytrichum
(Haarmoo.s), Hypnum (Astmoos) und andere) an,
und bei reichlicher Regenzufuhr erscheinen die
noch anspruchsloseren Torfmoose , die Sphagna-
ceen (siehe Figur i), die schließlich alles über-
wuchern und den Bruchwald zum völligen Ab-
sterben bringen. Die Reste dieser Torfmoose
bilden den überwiegenden Bestandteil des Hoch-
moortorfes. V^on diesem Sphagnum treten inner-
halb der nordwestdeutschen Moore namentlich
folgende Arten auf: S. medium, S. imbricatum,
S. recurvum, S. papillosum, S. cuspidatum, S. fus-
cum, S. acutifolium und S. molluscum, die z. T.
etwas verschiedene Vegetationsformen besitzen. Die
Torfmoose bilden sehr dichte schwammige Polster,
die sich nach den Rändern immer weiter aus-
breiten und sich in der Mitte mehr und mehr er-
heben. Sie bedürfen zu ihrem Wachstum nur sehr
geringer Mengen mineralischer Nährstoffe, dagegen
eine stetige Befeuchtung durch Tau und Regen,
den sie infolge ihres maschigen Baues wie ein
Schwamm in sich aufsaugen und festhalten. Eine
unter lebender Decke von Herrn Dr. C. A. Weber
im Augstumalmoor entnommene Probe von Sphag-
numtorf enthielt in lOO Teilen Trockensubstanz
97,13 % verbrennliche Stoffe und nur 2,87 "„ Asche.
Die älteren abgestorbenen Teile werden durch die
Fig. I. Sphagnum acutifolium (Torfmoos). Fig. 2. Calluna vulgaris (Besenheide).
Fig. 3. Erica tetrali.K (Glocken- oder
Rosmarinheide).
788
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 50
Nässe, die ihnen immerfort durch die lebenden
Polster zugeführt wird, vor der Verwesung ge-
schützt und fallen daher unter Luftabschluß dem
Vertorfungsprozeß anheim. Wo ein Wald durch
die überwuchernden Torfmoose zum Absterben
gebracht wird, bleiben die Wurzeln und unteren
Stammteile im Wasser gegen die Verwesung ge-
schützt. Die oberen Stammteile aber vermodern
und je näher der Moostoifoberfläche, um so mehr, so
daß die Stümpfe der Baumstämme sämtlich zu-
gespitzt erscheinen. An einigen Stellen kommen
im Gifhorner Moor drei Baumhorizonte überein-
ander vor.
Die Ausbildung des Wurzelsystems der auf dem
Moore wachsenden Bäume ist meist sehr eigen-
tümlicher Art. Bei den Kiefern verkümmert die
Pfahlwurzel oft vollständig, weil der Baum seinen
Wasserbedarf nicht aus der Tiefe zu holen braucht,
daeeeen entwickelt sich aber ziemlich nahe unter
der Oberfläche und meist in einer Ebene ein teller-
förmiger Kranz langer und oft außerordentlich
starker Seitenwurzeln. Dies beruht auf dem Um-
stände, daß die Bäume sich auf dem weichen
Moorboden fest verankern müssen, um nicht vom
Sturme umgeworfen zu werden und daß sie nament-
lich auf Hochmoortorf in dem nährstoffarmen
Boden aus Nahrungshunger die Seitenwurzeln weit-
hin tastend aussenden. Am Ausgange des Wirt-
schaftshofes des Gutes Triangel sind diese teller-
oder radförmigen , mächtigen Wurzelstöcke der
aus dem Moore stammenden Kiefern als Zaun
benutzt worden und bieten ein sehr bizarres Aus-
sehen.
Würden sich die klimatischen Niederschlags-
verhältnisse in einem Hochmoorgebiete nicht ändern,
so würden die Sphagnaceen infolge ihres unbe-
grenzten Spitzenwachstums gewissermaßen ein
ewiges Leben besitzen. Aber Mangel an Feuchtig-
keit ist ihr größter Feind und bringt sie alsbald
zum Absterben. Durch Anlage von Kanälen, durch
ausgedehnte Torfstiche hat der Mensch in hohem
Maße in die Weiterentwicklung der lebenden Hoch-
moore eingegriffen und bereits die meisten der-
selben zum Absterben gebracht. Auch das Gif-
horner Hochmoor ist bereits ein totes Moor, das
sich infolge der stattgehabten Wasserentziehung
nunmehr mit Heide (Calluna vulgaris und Erica
tetralix) (siehe Figur 2 u. 3) überzogen hat.
Nach diesen einleitenden Vorträgen begann die
Besichtigung des Moorgutes. Der Weg führte zu-
nächst durch die noch jugendlichen, auf abgetorftem
Moorgebiet befindlichen Parkanlagen, in deren
Mitte später ein herrschaftliches Wohnhaus er-
richtet werden soll, da die Absicht besteht, daß
der Sohn des Besitzers die Bewirtschaftung des
Gutes übernimmt. In dem Park ist ein 60 Ar
großer, künstlicher Teich angelegt, der durch eine
artesische, aus 38 m Tiefe aufsteigende Quelle ge-
speist wird. Das Wasser ist klar und hell, frei
von Humussäuren und für die Lebensbedingungen
von Lachsforellen, Golddorfen, Karpfen und Krebsen
wohlgeeignet. Die um den Gutshof herumliegen-
den Flächen sind kultiviertes Ackerland. Ein Ver-
such, dieselben durch Drainierung zu entwässern,
mißlang infolge des hohen Gehaltes an Eisen im
oberen Grundwasserstrome, welches sich alsbald an
den Wänden der Röhren in dicker Schicht ab-
setzte und dieselben verstopfte. Aus diesem Grunde
ist die Entwässerung durch zuerst 50 cm tiefe
und breite Gräben, sogenannte Grippen, herbei-
geführt worden, welche nach der völligen Ab-
torfung des Gebietes in 30 m Entfernung ange-
legt worden sind. Die zwischen den Gräben
liegenden, als ,, Dämme" bezeichneten Ackerflächen
werden nach der Abtorfung umgepflügt, die Reste
des noch liegen gebliebenen Torfes und der Holz-
wurzeln durch einmaliges Brennen möglichst be-
seitigt und das Land sodann mit Buchweizen besät.
Nach der Ernte desselben werden die Gräben bis
auf I '/4 m verbreitert und bis zu ^ m vertieft.
Darauf wird mit einem Rajolpfluge die noch vor-
handene, oberste, dünne Moorschicht und die bei
Gewinnung des Moostorfes abgestochene obere
Verwitterungsschicht, die sogenannte „Bunkerde",
mit dem im Untergrunde des Torfes befindlichen
feinen Sande bis zu 20 cm Tiefe gemengt und
pro '/j Hektar mit 30 Zentner Kalkmergel, 5 Zentner
Kainit und 3 Zentner Thomasschlacke bestreut.
Zur Gründüngung werden Lupinen gesät, unter
Beigabe von 6 bis 8 Fuder Stalldung. Fls hat
sich dort folgende Fruchtfolge bewährt. Zuerst
Kartoffeln (Magnum bonum), dann Roggen unge-
düngt mit Untersaat von Klee und Timothee, Hafer,
Kartoffeln, stark gedüngter Roggen und Zucker-
rüben. Die Kartoffeln brachten pro Morgen iio
bis 140 Zentner, der Roggen 7 — 13 Zentner und
Klee bis zu 60 Zentner Kleeheu. Bei Hafer und
Zuckerrüben schwankten die Erträge sehr stark.
Auf dem Wirtschaftshofe wurden den Teil-
nehmern des Ausfluges in der liebenswürdigsten
Weise be(]ueme Wagen zur Verfügung gestellt,
wodurch es ermöglicht wurde, das ganze Gut mit
allen seinen Anlagen in der nur knapp bemessenen
Zeit zu besichtigen. Der Weg führte zunächst an
dem Hauptentwässerungsgraben entlang zu dem
mittleren, zum Teil abgetorften oder in Abtorfung
begriffenen Teile des Hochmoors. Man konnte
hier deutlich beobachten, wie dasselbe allmählich
nach Norden zu ansteigt. Der auf Talsand ge-
legene Bahnhof Triangel hat eine Höhenlage von
54,2 m über Normal Null, während zwischen den
Vorwerken Mathildenhof und Arnoldshof die Höiien-
lage des Hochmoors 60,4 m beträgt. Das braune,
moorige Wasser des Hauptentwässerungsgrabens
hat im Winter und Sommer die gleichmäßige
Temperatur von 9 " C. An der Grabenböschung
ist mehrfach der Untergrund des Moores aufge-
schlossen. Er besteht aus einem ziemlich fein-
körnigen Sande, dessen Oberfläche im Durch-
schnitt I m über dem Grundwasserspiegel gelegen
ist. Die Mächtigkeit des Moores beträgt im Durch-
schnitt etwas über 4 m, steigt jedoch bei Mathilden-
hof bis auf 6 m.
Der erste Halt wurde bei der elektrischen
N. F. m. Nr. 50
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
789
Zentrale und der einen, unmittelbar daran an-
stoßenden Torfstreufabrik gemacht, deren Ein-
richtungen uns Herr Rimpau junior und der Sohn
des Herrn Rothbarth näher erläuterten. Durch drei
Dampfkessel werden hier zwei Dampfmaschinen
von je 100 Pferdekräften angetrieben, sowie eine
Elektrodynamomaschine, welche 3000 Volt Dreh-
strom liefert. Eine zweite Torfstreufabrik findet
sich in der Nähe der Kantine und der Arbeiter-
baracken, in denen 400 russisch-polnische Arbeiter
untergebracht werden können. In einem Trans-
formatorhause werden die 3000 Volt in 500 Volt
umgesetzt, und von hier aus in die einzelnen Ar-
beitsfelder geleitet. Der Antrieb der beiden ge-
nannten Torfstreufabriken und der 5 Preßtorf-
maschinen geschieht durch den elektrischen Strom
der Zentralstelle, welche außerdem durch eine
Leitung noch Kraft für den landwirtschaftlichen Be-
trieb nach dem Gutshofe zum Dreschen, Häcksel-
schneiden usw. abgibt. In der elektrischen Zen-
trale werden nur der minderwertige Torf und die
Holzrückstände, die sich nicht zum Preßtorf eignen,
aber doch abgebaut werden müssen, um die Fläche
in landwirtschaftliche Kultur zu nehmen, verheizt.
Außer den 5 mit elektrischer Kraft betriebenen
Preßtorfmaschinen werden noch 5 andere mit
Dampf betrieben. Die beiden Torfstreufabriken
besitzen eine tägliche Leistungsfähigkeit von 12
Ladungen Torfstreu, Torfmull und Torfmehl. Die
Preßtorfmaschinen können von Mitte April bis
Anfang August ungefähr 200CX30 Zentner Preßtorf
liefern, wovon etwa '/4 zu Torfkohle vermeilert
wird. Zur Herstellung der in Ballen zusammen-
gepreßten Torfstreu wird der obere filzige Moos-
torf, der im Durchschnitt von Triangel bis zur
Mitte der beiden Vorwerke eine Mächtigkeit von
I '-j^ m besitzt, verwendet, zur Preßtorffabrikation
dient dagegen der ältere, schon in kompakte Torf-
massen übergegangene ältere Moostorf. Die Ver-
kohlung des Preßtorfes in Meilerhaufen wurde zu-
erst im Jahre 1876 begonnen. Diese Fabrikation
erhielt einen besonderen Aufschwung, als aus den
Torfkohlen Preßkohlen hergestellt wurden, die als
Heizungsmaterial der Eisenbahnabteile Verwendung
fanden, ist dagegen seit Einführung der Dampf-
heizung in den Eisenbahnzügen wieder eingegangen.
Während früher der Preßtorf in Braunschweig zu
Heizzwecken viel verbraucht wurde, leidet gegen-
wärtig der Absatz durch die Konkurrenz der
Braunkohlenbriketts, so daß die Fabrikation etwas
eingeschränkt werden mußte.
Die ausgedehnten Torfstiche, von denen die
beigegebene Abbildung (Fig. 4) eine Anschauung
gewährt, bieten Gelegenheit, um die verschiedenen,
übereinander folgenden Schichten und ihre Zu-
sammensetzung näher zu untersuchen. Auf der
Ausstellung für Moorkultur und Torfindustrie in
Berlin vom 15. — 21. P^ebruar 1904 befand sich ein
Profil aus dem südlichen Teile des Gifhorner
Moores, dessen Schichten von Herrn Dr. C. A.
Weber ') von oben nach unten in folgender Weise
angegeben worden sind:
a) Jüngerer Sphagnumtorf ca. 1,5 m.
Oben mit der lebenden Torfmoosdecke, unter
der sich zunächst eine Lage von weißlichem Roh-
torf (erst undeutlich vertorftem Torfmoos) findet,
die unten allmählich in den bräunlichen Moostorf
übergeht. Der Torf besteht aus Resten verschie-
dener Sphagnumarten, hauptsächlich Sphagnum me-
') Mitteil. d. Ver. z. Förderung der Moorkultur im Deutsch.
Reiche XXll. Jahrg. 1904, S. 4.
Fig. 4. Torfstich im Gifhorner Moor bei Triangel. (Phot. von Th. Wahnschaffc am 24. April 1904.)
790
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 50
dium und S. fuscum, daneben aus wenigen Resten
der Heide, des Wollgrases, der Schnabelsimse und
der Scheuchzerie.')
b) Grenzhorizont aus Wollgrastorf. 0,30 m.
An dieser Stelle wesentlich aus den Resten des
scheidigen Wollgrases (Eriophorum vaginatum) zu-
sammengesetzt, denen sich ziemlich zahlreiche Reste
von Calluna vulgaris und Erica tetralix beigesellen.
Die vorhandenen spärlichen Sphagnumreste sind
auffallend stark zersetzt.
c) Älterer Sphagnumtorf 2,00 m.
Aus verschiedenen Sphagnumarten, meist den-
selben wie im jüngeren Sphagnumtorf, gebildet,
hin und wieder mit den Resten der Scheuchzerie
durchsetzt. Zahlreiche binsenförmige Einlagerungen
(Bultlagen) eines, hauptsächlich aus scheidigem
Wollgras und Calluna vulgaris bestehenden Torfes
sind hier eingeschaltet.
d) Scheuchzeriatorf 0,15 m.
Bildet an der Stelle, wo das Profil genommen
war, den obersten Abschnitt des Übergangs-
Fig. 5. Scheuchzeria palustris.
horizontes. Er enthält außer einigen Moos- und
Seggenresten reichlich Reste der Scheuchzerie.
e) Übergangswaldtorf 0,35 m.
Aus den Resten eines stark mit Weißbirken
durchsetzten Föhrenwaldes (Pinus silvestris) her-
vorgegangener Torf An seiner unteren Grenze
waren Reste der Erle vorhanden.
f) Hypnumtorf 0,15 m.
Ein wesentlich aus Astmoosen (hauptsächlich
Hypnum vernicosum) entstandener Torf, der außer-
dem die Reste des Schilfrohrs, einiger Seggen und
anderer Sumpfgewächse enthält.
g) Flußsand mit Resten des Schilfrohres und
einiger Wassergewächse, namentlich Laichkräuter.
Die Mächtigkeit des Sandes konnte nicht ermittelt
werden. Er wird wahrscheinlich von spätglazialem
^) Scheuchzeria palustris L., zur Familie der Juncagina-
ceen gehörig, hat binsenähnliche Blätter, lockere mit wenig
gelblich-grünen Blüten besetzte Trauben und große gelbgrüne
Früchtchen. (Siehe Fig. 5.)
Sand oder von Geschiebesand unterlagert, beides
Rückstände des abschmelzenden Landeises.
Zu diesem Profil bemerkt Weber ferner, ,,daß
die vier untersten Schichten an verschiedenen
Stellen des Gifhorner Moores eine sehr verschie-
dene Ausbildung und Mächtigkeitsentfaltung zeigen.
An manchen Stellen ist unter dem Übergangs-
horizont Erlenbruchwaldtorf vorhanden, strecken-
weise auch Schilftorf und, wie es scheint, Mudde-
torf In dem Profil von Triangel gehören die
unter dem Übergangshorizonte vorhandenen Schich-
ten dem Nieder ungsmoore an, das an den
betreffenden Stellen entstanden war und über dem
sich erst in der Folgezeit das Hochmoor ent-
wickelt hat."
Der wissenschaftliche Führer der Exkursion
machte darauf aufmerksam, daß den Hochmooren
gewöhnlich Seen und Teiche eigentümlich sind, die
alsKolke,MeereoderBlecken bezeichnet werden, sich
aber nur in den noch lebenden Hochmooren finden
und Ansammlungen des von den Moorpflanzen nicht
verbrauchten Regenwassers darstellen. Aus ihren
Abflüssen entstehen die sogenannten Moorbäche oder
Rüllen. An beiden entwickelt sich eine von den
eigentlichen Moorflächen verschiedene Vegetation.
In dem entwässerten Gifhorner Hochmoore sind
die Kolke und Rüllen verschwunden, aber man
findet sie beispielsweise noch in dem von C. A.
Weber ') genau untersuchten Augstumalmoore in
Ostpreußen, das ich im Jahre 1903 besuchte und
wo ich von einigen Kolken die beigefügten Photo-
graphien aufnahm (Fig. 6 u. 7).
Ein besonderes Interesse bietet die Entstehung
der Bulte, die in dem Moostorf später als Bult-
lagen hervortreten. Die verschiedenen Torfmoose,
aus denen sich das Hochmoor aufbaut, besitzen
nämlich verschiedene Wuchsformen, einige wachsen
polsterförmig empor, andere bilden flache Rasen.
Dadurch entstehen Unregelmäßigkeiten der Ober-
fläche, die bis zu einem halben Meter betragen
können. Auf den etwas trockeneren Polstern siedeln
sich Heidegewächse und andere dem Hochmoor
eigentümliche Pflanzen an, während die nasseren
Stellen in ihrer Umgebung vorwiegend von dem
scheidigen Wollgrase (Eriophorum vaginatum) be-
siedelt werden. Im Torf sieht man dann die
zähen, faserigen Schöpfe dieser Pflanze als bräun-
liche Massen hervortreten, die in den westlichen
Hochmooren von den Torfstechern als „Bullen-
fleesch" bezeichnet werden und sich schwer durch-
stechen lassen. Man hat versucht, dieses faserige
Material zu Stoßen, Pferdedecken usw. zu ver-
arbeiten, es eignet sich jedoch nicht dazu, da die
Faser in trockenem Zustande brüchig ist und sich
bei Nässe zu sehr mit Feuchtigkeit sättigt.
Nachdem die Exkursionsteilnehmer sich in der
Kantine durch ein Glas Bier gestärkt, ihre Namen
in das dort ausliegende Fremdenbuch eingetragen
und sich mit Ansichtspostkarten aus dem Hoch-
') C. A. Weber, tJber die Vegetation und Entstehung des
Hoclimoors von Augstumal im Memeldelta. Berlin 1902.
N. F. m. Nr. sc
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
791
moor versehen hatten, wurde die Fahrt durch den
nördlichen, noch nicht abgebauten Teil des Moores
über die Vorwerke Mathildenhof und Arnoldshof
fortgesetzt. Die bis vor einigen Jahren auch auf
Vorwerke besitzt ein Wohnhaus für 2 Familien,
einen Pferdestall und einen Jungviehlaufstall für
250 Stück Jungvieh mit daran gebauter Heuscheune,
der auf dem bei Mathildenhof 6 m tiefen Hoch-
Fif;. 6. Iloclimoortcich im .Augslumalmoor nahe der Rugulncr RüUe. (Phot. von F. Walinschalifc am ^c. Juni 190J.)
Fig. 7. Hochmoorteich im Augstumalmoor nahe der Rugulner RüUe. (Phot. von F. Wahnschaffe am 30. Juni 1903.)
dem hier noch unabgetorften Hochmoor betriebene
Ackerkultur ist ganz aufgegeben worden und anstatt
dessen die gesamte 2200 Morgen große Fläche in
Wiesen und Weiden gelegt. Jedes der beiden
moor, sowie auch bei Arnoldshof auf Pfahl-
rosten gebaut ist. Jedes Vorwerk besitzt 4 Weide-
koppeln von je 100 Morgen und 700 Morgen
Wiesen, welche zweimal geschnitten werden, so
792
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. qo
daß ausreichendes Futter für 400 Stück Jungvieh
vorhanden ist.
Auf den vorher noch niclit beackerten Flächen
geschieht die Anlage der Wiesen in der Weise,
daß die mit Heidekraut bestandene Mooroberfläche
umgehackt, mit Scheibeneggen bearbeitet und, um
die Heidewurzeln los zu werden, oberflächlich ein-
mal gebrannt wird. Darauf wird Buchweizen ge-
sät, und, nachdem die Fläche im Winter mit 25
Zentner Kalkmergel, 5 Zentner Kainit und 4 Zentner
Thomasmehl pro Morgen gedüngt worden ist,
folgt im Frühjahr die Kinsaat von Gras und Klee.
Der Dünger der Jungviehställe, deren Einstreu ge-
wöhnlich aus Sand besteht, wird als Kompost-
dünger für neue Wiesenanlagen verwertet. Bei
dem im Norden der Besitzung gelegenen Vorwerke
Arnoldshof fehlt die Moostorfschicht und es tritt
dort der schwarze Brenntorf an die Oberfläche.
Fig. 8. Andronicda poliift>lia.
Dielfgesamte Torfschicht hat hier nur noch eine
Mächtigkeit von 5,5 m.
Bei Arnoldshof wurden die Wagen verlassen
und nach einer kurzen Wanderung durch nasse
Wiesen ein noch im Urzustände befindlicher kleiner
Bruchwald besucht, in welchem die abgestorbenen
Stammreste von mächtigen Moosbulten überzogen
werden. An den mehr trockenen Stellen findet
man hauptsächlich Hypnum und Polytrichum, an
den nasseren Sphagnumarten. Dabei enthält der
zum Teil gelichtete Bruchwald die für ihn charakte-
ristischen Pflanzen. Am Rande fanden wir das
helllila blühende Moorveilchen (Viola palustris) mit
seinen nierenförmigen Blättern. Auf den Sphag-
numbulten im Walde blühte bereits Andromeda
polüfolia (s. Fig. 8), ein zierlicher, kleiner, gerad-
aufsteigender Strauch mit glockenförmigen rosa
Blüten und schmalen umgerollten, unterseits weiß-
lichen Blättern. Daneben fand sich Vaccinium
uliginosum, die Rauschbeere, ein etwas größerer
Strauch als die Heidelbeere mit elliptischen, unter-
seits blaugrünen Blättern und einer ähnlichen Frucht
wie bei der Heidelbeere. Auch die Moosbeere
(Vaccinium oxycoccos (s. Hg. 9)) mit ihren lang-
kriechenden, fadendünnen Stengeln und den kleinen
spitzen, etwas zurückgerollten Blättern wurde ge-
funden, daneben Empetrum nigrum, die Krähen-
beere, ein kleiner niederliegender buschiger Strauch
mit schwarzen Beeren und ebenso noch manche
charakteristische Pflanze der mit Heide bedeckten
Sphagnummoose. Auch der würzig duftende
Gagel (Myrica Gale) mit seinen kleinen lanzett-
lichen, etwas gesägten Blättern ist ein in den
westdeutschen Hochmooren häufig vorkommender
kleiner Strauch. Er vertritt hier den im Westen
fehlenden Porst (Ledum palustre).
Auf der Straße durch den langgedehnten Ort
Platendorf fuhren wir zurück. Die Gehöfte und
Fig. 9. Vaccinium oxycoccos.
P'elder beiderseits der Straße liegen auf abgetorften
Plächen, während die Straße auf einem stehen-
gebliebenen Damme des Hochmoors angelegt
worden ist, der mit Sand beschüttet und gepflastert
wurde. Infolge dessen ist diese Straße immer-
währender Verbesserungen bedürftig. Eigentüm-
lich berührt der Umstand, daß man die Eisenbahn-
7,üge nördlich von Platendorf in einem durch das
Hochmoor geführten Einschnitte verschwinden sieht.
Nach der Rückkehr nahmen die Exkursionsteil-
nehmer im ,, Braunschweiger Hof" ein einfaches,
aber gutes Mittagsessen ein, bei dem verschiedene
Reden gehalten wurden, und begaben sich von
dort zum Bahnhofe Triangel, um mit dem Abend-
schnellzuge über Isenbüttel nach Berlin zurückzu-
kehren. Alle hatten die Empfindung, ein sehr
interessantes Hochmoorgebiet kennen gelernt zu
haben, dessen Ausbeutung und Kultivierung ihnen
in gelungenster Weise das Zusammenwirken von
Industrie und Landwirtschaft vor Augen geführt
hatte.
N. F. m. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
793
Kleinere Mitteilungen.
Weshalb pflegen unsere Musikstücke mit
herabgehenden Noten zu schlieTsen? — Auf
die vorstehende Frage kam ich gelegentlicli einer
gemeinverständlichen physikalischen Krörterung
über Wellen und Strahlen, und versuchte die
folgende Antwort zu geben: Von einer fernen
Musik hören wir vorzugsweise die tiefen Töne.
Sollte da nicht der übliche Schluß der Musik-
stücke eine unbewußte Nachahmung derjenigen
Gehörsempfindungen sein, welche wir haben, wenn
eine Musik in der Ferne verklingt?
Dabei würde derjenige Vorgang in Betracht
kommen, welcher unter dem Namen „Beugung"
in der Physik längst bekannt ist. Zwischen dem
tönenden Körper, welcher Schallwellen aussendet,
und dem Ohr, das die Wellen empfängt, befinde
sich eine Anzahl von Gegenständen, die den
Schall nicht hindurchlassen, z. B. Bäume. Die
Schallwellen können dann nicht geradlinig zum
Ohre gelangen; dennoch werden sie empfunden,
und zwar, weil sie auf gekrümmten Bahnen um
die Hindernisse herumgehen, gebeugt werden.
Um davon eine Anschauung zu gewinnen, erinnern
wir uns, daß die Schallwellen Erschütterungen der
Luft sind, und daß jede einzelne Stelle der Luft,
an welche eine solche Erschütterung gelangt, da-
durch selbst befähigt wird, wiederum Erschütte-
rungen nach allen Seiten auszusenden. Danach
ist es begreiflich, wenn Schallwellen durch solche
Räume hindurchdringen können , in welchen
Bäume, Häuser und sonstige für die Wellen un-
durchdringliche Gegenstände eine geradlinige Fort-
pflanzung unmöglich machen. Zu den Eigen-
schaften der Beugung gehört es nun, daß sie für
lange Wellen stärker als für kurze in Betracht
kommt. Dies folgt nicht nur aus theoretischen
Erwägungen, auf die wir hier nicht eingehen kön-
nen, sondern auch aus der Erfahrung, nämlich so.
In der Musik haben die hohen Töne kurze Wellen,
die tiefen Töne lange. Bei dem Klavier z. B.
beträgt die Wellenlänge der höchsten Töne we-
niger als 10 cm, diejenige der tiefsten Töne etwa
12,5 m. Wenn wir nun eine Musik hören, deren
Schall durch einen mit Hindernissen erfüllten
Raum, z. B. durch einen Wald zu uns dringt, so
können wir die stärkere Beugung der langen
Wellen am deutlicheren Hervortreten der tiefen
Töne bemerken. Besser noch erkennen wir das
Gleiche, wenn die Musiker sich allmählich ent-
fernen, und zunächst die hohen, nachher erst die
tiefen Töne unhörbar werden. Das hat Weber
im „Freischütz" sehr schön nachgeahmt, indem
er den Walzer zuerst auf der Bühne spielen und
dann beim Abziehen der Musikanten verklingen
läßt : zuerst beginnt die Oberstimme zu verschwin-
den, ihre Melodie kehrt in mittlerer Lage noch
einmal wieder, und schließlich sind nur die tiefen
Töne der Begleitung übrig.
Nun scheint mir der Gedanke nicht eben fern
zu liegen, daß der gleiche Vorgang hergebrachter-
maßen auch am Schluß der Musikstücke darge-
stellt und den letzten Noten eine Gruppierung
gegeben wird, als ob die Musik in der Ferne ver-
klingt. Die allgemeine Verbreitung solcher Schluß-
weise läßt uns vermuten , daß sie sehr alt und
daß ihre ursprüngliche Entstehungsweise längst
vergessen ist. Die Zuverlässigkeit der hier ver-
suchten Erklärung sei den berufenen Fachleuten
zur Erwägung empfohlen. R. Börnstein.
Über die systematische Stellung von Gor-
dius schafft eine Arbeit von M. Rauther Klar-
heit (Zool. Anz. Bd. XXVII, Nr. 19). Das merk-
würdige Vermal hat den Systematikern von jeher
arge Kopfschmerzen bereitet, so oft auch die
Forschung ihm ihre Aufmerksamkeit zugewendet
hat. Als ältesten Zeugen seiner Existenz möchte
ich hier den alten G e ß n e r zitieren, der in seiner
Naturgeschichte (1557) folgendes vom „Vermis
aquaticus" oder „Wasserkalb" zu berichten weiß :
„Das Wasserkalb ist bey uns bekannt, wirt in
faulen brunnenwassern gefunden, bedunckt sich
dahär genennt seyn, daß solche vnd manches mal
von den Kelbern gesoffen werdend, von welchen
sy nach und nach abnemmend vnn sterbend. Sy
wachsend auch auff dem kraut : sy vergleychend
sich gentzlich einem wyssen Rossshaar; beduncked
sich auch ein Rossshaar seyn , wo sy sich mit
bewegtind: synd hart, also dass sy nit mögend
zerknütschet werden. So sy von einem menschen
gesoffen werdend, so serbet er ab und stirbt.
Artzney ist Tausend gülden kraut in weyn ge-
sotten vnn gesoffen, darauff sich wol erbrächen.
Sy bewegend sich wunderbarlich, vnd flächten
sich in vil zweifelstrick. Etlich habend vermeint
sy wachsind auss dem Rossshaar, welches in sol-
chen wassern gelegt, beweglichkeit vnd laben an
sich nemmen sol. Ist doch endtlich nit zu glau-
ben." In der Tat kann man sich über den Ver-
gleich mit einem Roßhaar und über die beim
damaligen Stande der LIntersuchungsmittel daraus
fast mit Notwendigkeit folgende Identifizierung
des Wurmes nicht sonderlich wundern , erreicht
dieser doch, kaum einen Millimeter dick, unter
Umständen eine Länge von 80 cm.
Schon C u V i e r stellte den Wurm provisorisch
in seinem Regne animal an das Ende des Anne-
lidenstammes. Aber auch die gleichgerichteten
Versuche späterer Autoren mußten bis zum heu-
tigen Tage sehr skeptisch angesehen werden, da
es keinem gelungen war, die Existenz eines Cere-
bralganglions und einer Schlundkommissur, einer
sekundären Leibeshöhle und von Segmentalorganen
zu erweisen, was allein zu einem solchen Vor-
gehen berechtigt hätte.
Diese Lücke füllt die Rautlier'sche Unter-
suchung aus, und zwar gelangt ihr Autor zu dem
sehr wichtigen Resultat, daß Gordius „im Bauplan
wie in der feineren Struktur aller Organsysteme
bemerkenswerte Beziehungen zu den Archianne-
liden offenbart." Rauther findet ein mächtiges
Cerebralganglion, daß hier noch, ganz ähnlich wie
794
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. so
bei den höheren Coelenteraten, die Achse des
Oesophagusrudimentes kreisförmig umgibt und
nach hinten durch mächtige, den eigentUchen
Schlundring darstellende Kommissuren mit dem
primitiv gebauten Bauchmark sich verbindet. Die
Scheidung der Leibeshöhle von Polygordius in eine
Intestinal- und Podialkammer findet ihr Homologoii
bei Gordius in dem ganz gleiche Lagebezieh-
ungen aufweisenden Ovariallängsgang und dem
Ovarialdivertikel. Hier wie dort entstehen die
Geschlechtszellen an der lateralen Wand der
Intestinalkammer. Und endlich erinnern die mit
einem flimmernden Trichter frei ins Lumen
des Samensackes ragenden Gonodukte an die im
Prinzip ganz ähnlichen Segmentalorgane der Poly-
chaeten, und sind wohl gleich diesen funktionell
an die Stelle von improvisierten oder auch prä-
formierten Gonoporen getreten.
Dr. Wolfif (Berlin).
hl seiner Arbeit „Über normale und intra-
molekulare Atmung der einzelligen Alge Chlo-
rothecium saccharophilum" ist W. Pal lad in
zu folgenden Schlüssen gekommen (Zentralbl. f.
Bäkteriolog. II. Abt. XI. Bd. 1903 Nr. 4/5):
1. Die Alge Chlorothecium saccharo-
philum erscheint als eine typische Aerobe.
Ihr Atmungskoeffizient ist kleiner als die Plinheit
j— -^ <^ I j. Das Wachstum ist nur bei Anwesen-
heit von Sauerstoff möglich.
2. Ungeachtet des Unterbrechens der Ver-
mehrung in einer saue rstof freien Atmo-
sphäre, fahren die Algen fort, Kohlen-
säure auszuscheiden. Die Menge der in
sauerstoffreier »Atmosphäre ausgeatmeten Kohlen-
säure fällt sehr schnell. Glykose und Saccharose
verursachen ein langsameres Sinken als Raffinose
und Mannit.
3. Nach längerem Aufenthalt in sauer-
stoffreier Atmosphäre hört dieKohlen-
säureerzeugung vollständig auf, nicht
aber die Lebensfähigkeit der Alge; in die Luft
versetzt, beginnt sie wieder, stark Kohlensäure
auszuatmen.
4. Wird Wasserstoff wieder von Luft
ersetzt, so steigert sich nicht nur die
Kohlensäureausscheidung, sondern sie
übersteigt sogar bedeutend (einige Mal bis
viermal, ja mehr noch als viermal) die normale
Kohlensäureausscheidung in der Luft.
Besonders starke Erhöhung der Atmungsintensität
bei diesen Bedingungen nimmt man auf der Raffi-
nose wahr.
5. Diese erhöhte Kohlensäureaus-
scheidung dauert nicht lange, sie fängt all-
mählich an zu sinken, bis sie schließlich fast
den normalen Grad erreicht.
6. Die in der Luft eintretende, nach vor-
herigem Verweilen in einer sauerstoffreien Atmo-
sphäre sehr erhöhte Kohlensäureausschei-
dung zeigt sich als sehr interessant zur Erklärung
eines Zusammenhanges zwischen Atmungs- und
Gärungsprozessen. Die in der Luft hervorgehen-
den Oxydationsprozesse hören mit Entfernung des
Sauerstoffes auf und es treten die für die Gä-
rungen charakteristischen Zertsetzungs-
prozesse zusammengesetzter organischer Ver-
bindungen ein. Erhalten die Algen wieder Sauer-
stoff, so beginnt ein erhöhtes Verbrennen der ge-
bildeten Zersetzungsprodukte. Es könnte sein,
daß diese Zersetzungsprodukte nicht nur als Brenn-
material erscheinen, sondern gleichzeitig auch stark
die Oxydationsprozesse stimulieren. Sind die
Zersetzungsprodukte oxydiert, so fällt
die Atmungsenergie sehr stark, bis sie die
anfängliche Größe erreicht.
Die Kohlensäureausscheidung in
einer sauerstoffreien Atmosphäre bei
der Alge Chlorothecium saccharophilum
kann nicht als typische Gärung, sondern als intra-
molekulare Atmung angesehen werden.
Dr. Liedke.
Zwei neue fossile Vertebraten, einen Ba-
trachier und ein Reptil, aus der Trias von Arizona
beschreibt FredericAugustusLucas, Kurator
der Abteilung für fossile Wirbeltiere am U. S.
National-Museum zu Washington, in den „Proceed.
U. S. Nat.-Mus." Bd. XXVII, 1904, S. 193- 195
(mit Taf. 3 und 4). Der nach dem Stuttgarter
Paläontologen benannte Batrachier Metoposaurus
fraasi Luc. gehört zu den großen Labyrinthodonten,
die bis jetzt nur von Europa bekannt sind. Das
Fundstück ist ein recht gut erhaltenes, 43 cm
langes und 30 cm breites Episternum, das charak-
teristisch ist durch die grobe Skulptur und durch
die Längsfurchen, in welche die unregelmäßigen
Gruben der Mitte des Knochens nach den Rän-
dern hin auslaufen und die namentlich an der
Vorderseite scharf ausgebildet sind. Die neue
Art steht dem Metop.diagnosticus von Meyer nahe;
während aber bei diesem der postero - internale
Winkel des Schlüsselbeins eckig ist, ist derselbe
hier gerundet. Zu diesem Episternum gehört
vielleicht der vordere Teil einer linken Mandibel,
der an derselben Stelle gefunden wurde. Dieses
etwas verwitterte Stück ist an der äußeren Seite
grob skulptiert und weist die Spuren von 2 großen
Zähnen und hinter diesen 15 kleine Zähne auf.
Das neue Reptil Placerias hesternus Luc, für
das eine neue Gattung aufgestellt werden mußte,
gehört zu den Cotylosauriern. Von demselben
wurde ein etwas defekter rechter Humerus ge-
funden, dessen Länge 398 mm beträgt. Charak-
teristisch für diese Gattung und Art ist die starke
und plötzliche Verbreiterung des Deltoidteils, die
Kontraktion des Humerus in dessen Mitte und
die scharfe Differenzierung des Radial- und Ulnar-
gelenkes. Die bisher bekannten nordamerikani-
schen Cotylosaurier stammen aus dem Perm, und
die neue triassische Spezies hat etwa die Größe
N. F. m. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
795
des permischen Pariasaurus, in dessen Verwandt-
schaft sie scheinbar gehört. S. S.
Mit Bezug auf den von uns in Nr. 29 (S. 459)
teilweise abgedruckten Artikel von Kapitän H.
Meyer über ,, Totwasser" äußert sich Fr. Nansen
in den „Annalen der Hydrographie" (1904, VII)
folgendermaßen :
„Die Abhandlung „Totwasser" von Kapitän
11. Meyer („Ann. d. Hydr. etc." 1904, S. 20) habe
ich mit großem Interesse gelesen; denn fürs erste
sind darin mehrere sehr schöne Fälle von Tot-
wasser in Gegenden beschrieben , von denen bis
jetzt nur vereinzelte Fälle bekannt geworden sind,
und fürs andere ist diese Abhandlung eine sehr
lehrreiche Warnung, wie man, nur von Spekula-
tionen ausgehend , leicht ein ganzes System von
scheinbar sehr plausiblen Schlüssen aufbauen kann,
die aber auf falschem Grunde ruhen. Zwar ist
es so, daß durch Verschiedenheit der Stromrich-
tung in den verschiedenen Wasserschichten Wir-
kungen hervorgerufen werden können, die mit
Totwasser eine gewisse Ähnlichkeit haben, trotz-
dem ist aber dieses ein davon ganz verschiedenes
Phänomen. Daß z. B. die Fälle von Totwasser
während der „Fram"-Expedition mit den Strom-
richtungen oder Stromgeschwindigkeiten der
oberen Wasserschichten nichts zu tun hatten, wäre
schon daraus zu schließen, daß die „Fram" Tot-
wasser hatte, in welcher Richtung sie sich auch
bewegte, was ja in meiner Beschreibung erwähnt
ist. In dem Taimür-Sund war zu der Zeit bei-
nahe kein Strom, weder in der Oberflächenschicht,
noch in der unteren Salzwasserschicht.
Auf die Veranlassung von Prof. Vilhelm Bjerknes
und dem Verfasser hat Dr. V. Walfried Ekman
eine eingehende Untersuchung, mit Experimenten,
von dem Totwasser gemacht. Seine Ergebnisse
werden jetzt in einer umfangreichen Abhandlung
gedruckt, die in „The Norwegian North-Polar
Expedition 1893 — 96, Scientific Results, Band V"
(Brockhaus, Leipzig), bald erscheinen wird. Ich
finde es daher nicht zweckmäßig, auf dieses Thema
hier näher einzugehen; nur so viel kann ich sagen,
daß das Totwasser auf einem den Physikern bis-
her ganz unbekannt gebliebenen Phänomen be-
ruht. Durch Ekman's zahlreiche Experimente
hat es sich gezeigt, daß, wenn eine Schicht von
verhältnismäßig leichtem Wasser (warmem oder
salzarmem Wasser) auf schwererem Wasser ruht,
und wenn ein Schiff (oder im Laboratorium ein
kleines Schiffsmodell) sich durch die obere Schicht
bewegt, auf der Oberfläche des schwereren Wassers
hinter dem Schiffe eine große Welle auf Kosten
der Bewegungsenergie des Schiffes sich bildet.
Solche Wellen können sich, je nach ihrer Wellen-
länge mit einer jeden Geschwindigkeit, doch nicht
über einer gewissen maximalen Geschwindigkeit
bewegen. Nur wenn das Schiff sich mit einer
geringeren Geschwindigkeit bewegt, wird es diese
Wellen bilden, wobei seine Geschwindigkeit bis
auf ein Fünftel reduziert werden kann. Daher
erklärt sich leicht, warum Segelschiffe mehr als
die öfters schnelleren Dampfschiffe dem Totwasser
ausgesetzt sind. Es erklärt sich hierdurch auch
leicht, warum die Segelschiffe dem Totwasser be-
sonders ausgesetzt sind, wenn sie durch den Wind
wenden sollen, denn eben dann mag die F'ahrt
genügend reduziert sein. An vielen Stellen, wie
z. B. an der Mündung von Glommen (Fredrikstad),
ist das Totwasser ein beträchtliches Hindernis der
Seefahrt, besonders für bugsierte Schiffe und Segel-
schiffe; eine genaue Kenntnis des Phänomens und
der Art und Weise, wie ihm zu entgehen ist,
mag auch von praktischer Bedeutung sein. Es
würde von Interesse sein, so viele Erfahrungen in
dieser Beziehung wie möglich von den verschie-
denen Gegenden zu sammeln. Von den norwegi-
schen Küsten haben wir jetzt ein ziemlich reich-
haltiges Material, aber von anderen Weltteilen
liegt noch sehr wenig vor.
Lysaker, 15. März 1904.
Fridtjof Nansen."
Über den Einflufs des Mondes auf die
Niederschläge. — Die Frage, ob die verschiede-
nen Mondstellungen auf die Niederschläge Einfluß
haben oder nicht, ist nicht bloß in Laienkreisen,
sondern auch noch in der wissenschaftlichen
Wetterkunde unentschieden, obgleich sie von jeder
Stelle, welche die nötigen Beobaclitungsreihen zur
Hand hat, binnen kurzem erledigt werden könnte.
Jedenfalls wird es aber vielen erwünscht sein,
darauf hinzielende Untersuchungen kennen zu ler-
nen und so gestatte ich mir hier ein Ergeb-
nis meiner Berechnungen vorzulegen.
Der Mond durchläuft seine elliptische Bahn
um die Erde durchschnittlich in 27,55 Tagen;
man bestimmt seine Stellung in der Ellipse durch
den Winkel, den die Richtung nach dem augen-
blicklichen Mondort mit der großen Achse der
Ellipse macht, indem man diesen Winkel von der
Richtung der letzten Erdnähe ab zählt. Dieser
Richtungsunterschied heißt Anomalie und danach
die Zeit von 27,55 Tagen zwischen zwei aufein-
anderfolgenden Erdnähen der anomalistische Monat.
Unterdessen vollendet die Erde mit dem Monde
etwa Vis ihres Laufes um die Sonne, infolgedessen
ist die Zeit zwischen zwei benachbarten Neumon-
den, der synodische Monat, fast genau zwei Tage
länger, nämlich 29,53 Tage. Den Winkel im
synodischen Monat, vom Neumond ab gerechnet,
nennt man die Phase.
So kommt es, daß die Erdnähe des Mondes,
das Perigäum , den synodischen Monat rückwärts
durchläuft ; fällt die Erdnähe zu irgendeiner Zeit
auf den Neumond, so verschiebt sie sich auf das
letzte Viertel, dann auf den Vollmond usw. Fol-
gende dem Kalender entnommene Zahlen machen
dies noch deutlicher:
Erdnähe Neumond Unterschied
1904. 26. April 15. April 11 Tage
22. Mai 15. Mai 7 „
17. Juni 13. Juni 4 „
796
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 50
Erdnähe Neumond Unterschied
15. JuH 13. Juli 2 Tage
12. August II. August I „
9. September 9. September o „
Am 22. Mai 1904 fällt die Erdnähe auf das
erste Viertel, am 9. September auf den Neumond.
Untersucht man den Einfluß der synodischen
Bewegung des Mondes auf das Wetter, oder den
der anomalistischen getrennt für sich, so findet er
sich im Durchschnitte der Jahrzehnte gleich Null 1
Dagegen zeigt er sich über Erwarten groß, wenn
man die Neumonde und Vollmonde trennt, je
nachdem sie mit der Erdnähe zusammenfallen
oder nicht.
Um irgendwelche monatliche Wetter-
beobachtungen nach dieser zusammengesetzten
Periode zu gruppieren, habe ich die einzelnen
Stellungen des Mondes in jedem dieser Kreisläufe
nach Hundertsteln ausgedrückt und dann für den
Anfang des Monats ihren Unterschied gebildet.
Es wurden alsdann die Beobachtungen geordnet
nach Zehnteln der Differenz: Mittlere Anomalie
(d. i. der Winkel Erde — Mond in der elüptischen
Mondbahn von der Erdnähe ab gezählt) weniger
Mittlere Phase (Winkel Erde— Mond von der Rich-
tung Erde — Sonne ab gemessen). Bei 0,00 dieser
Periode fällt also die Erdnähe auf den Neumond,
bei 0,25 auf das letzte Viertel, bei 0,50 auf den
Vollmond, bei 0,75 auf das erste Viertel. Die
Dauer dieser Doppelperiode beträgt 41 1,79 Tage.
Ich benutzte nun die monatlichen Niederschlags-
summen i) von 40 norddeutschen Stationen in
den 38 Jahren von 1857 bis 1894 und 2) von
durchschnittlich 98 Stationen auf Java und Madeira
in den 24 Jahren von 1879 bis 1902. Diese
niederländischen Beobachtungen umfassen die un-
geheure Niederschlagssumme von 5900 Metern !
In jeder Monatsreihe wurde endlich die halbe
Anzahl mit den größten Summen als naß, die
andere Hälfte als trocken bezeichnet, um den
Einfluß der Jahreszeiten möglichst auszuschalten.
Das Ergebnis ist folgendes:
Zehntel der Mondperiode 3. 4. 5. 6. 7.
Norddeutschland ; Zahl Vollmond-Erdnähe
der trocknen Monate 23 21 20 19 15
„ nassen „ 23 26 22 26 32
Java : trockne ,,
8. 9. 10. I. 2.
Neumond- Erdnähe
26 27 34 23 20
19 18 U 22 16
15 13 10 13 10 13 15 18 21 16
16 18 17 16 19 15 13 11 8 II
Die Zahlen besagen folgendes : In Norddeutsch-
land wie auf Java ist abgesehen von anderen Ur-
sachen Trockenheit zu erwarten , wenn die Erd-
nähe des Mondes dem Neumond näher liegt als
dem Vollmond (Nordd. 10. Zehntel der Tabelle
34 : 14, Java i. Zehntel 21 : 8), umgekehrt Nässe,
wenn die Erdnähe dem Vollmonde näher fällt als
dem Neumonde (4. bis 7. Zehntel der Tabelle:
Nordd. 75 : 106, Java 46 : 70). Diese Regel gilt
für alle Länder, wo der meiste Regen beim höch-
sten Sonnenstande fällt.
Ferner ist deutlich zu erkennen, warum man
keinen Einfluß des Mondes auf den Niederschlag
feststellen kann, wenn man nur den synodischen.
oder nur den anomalistischen Monat allein unter-
sucht, denn die Stellung Vollmond — Erdnähe
[=: Neumond — Erdferne) erzeugt im Mittel mehr
Niederschlag, die Stellung Vollmond — Erdferne
(= Neumond — Erdnähe) mehr Trockenheit, und
das gleicht sich gerade aus, wenn man diese von
mir getrennten Stellungen nicht unterscheidet.
Für Anfang Juli und August 1904 sind die
Differenzen Mittl. Anomalie weniger Mittl. Phase
gleich 0,84 und 0,91, der Juli fällt also auf das
neunte, der August auf das zehnte Zehntel in
obiger Tabelle, und das ist gerade der Abschnitt
in unserer Periode, für welchen Trockenheit wahr-
scheinlicher ist als Nässe. Es spricht übrigens
noch die Stellung des Mondes zum Äquator in
dieser Zeit dafür, daß sich in Norddeutschland
der heurige Juli und August durch trocknes und
warmes Wetter auszeichnen werden.
Guido Lamprecht in Bautzen.
Anmerkungen: i) Es ist wohl zu beachten,
daß es sich in unserer Untersuchung nicht um
einzelne Tage, etwa Vollmonds- oder Neumonds-
tage , sondern immer um ganze Monate handelt.
2) Die Namen der 40 norddeutschen , meist
preußischen Stationen sind folgende : Tilsit, Klaußen,
Königsberg, Konitz, Köslin, Stettin, Regenwalde,
Putbus, Rostock, Berlin, Prenzlau, Frankfurt a. O.,
Posen, Bromberg, Breslau, Eichberg, Görlitz, Torgau,
Halle, Erfurt, Heiligenstadt, Göttingen, Klausthal,
Eutin, Otterndorf Lüneburg, Hannover, Olden-
burg, Jever, Emden, Löningen, Lingen, Münster,
Gütersloh, Kleve, Köln, Trier, Birkenfeld, Frank-
furt a. M., Darmstadt.
3) Die Niederländisch-Indischen Beobachtungen
finden sich in den „Regenwaarnemingen in Neder-
landsch-Indie. Vier en twintigste Jaargang 1902.
Batavia 1903. Seite 504 und 505. Tabel IX:
Gemiddelte maandelijksche regenval in millimeters."
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der Lecomte-Preis von 50000 Fr. ist seitens der Pariser
Akademie der Wissenschaften dem Prof. Blondlot für seine
Untersuchungen über die N-Strahlen verliehen worden.
Es starben :
Jules Etienne Marey, der vorzugsweise durch seine
Untersuchungen bewegter Objekte mit Hilfe der Augenblicks-
photographie berühmt gewordene Forscher, zu Paris am 16. Mai
d. J. im Alter von 74 Jahren (geb. 5. 3. 1830).
Friedrich Siemens folgte am 26. Mai seinen be-
rühmten Brüdern Werner und Wilhelm im Alter von 78 Jah-
ren in den Tod. Er hat sich durch die Erfindung der sog.
Regenerativfeuerung, bei welcher durch Ausnutzung der Wärme
der Verbrennungsgase zur Vorwärmung des Brennstoffs und
der Lult ein wesentlich höherer ElTekt erzielt wird, große
Verdienste um die Technik erworben. Seine Erfindungen ver-
wirklichte er zunächst in den von ihm geleiteten Glashütten
in Dresden , doch wirkten dieselben auch für andere Zweige
der Technik umwälzend und Siemens selbst übertrug das
Regenerativprinzip noch auf Gasheizungsapparate und Lampen.
Der Astronom Isaac Roberts, der sich namentlich
durch hervorragend gute photographische Aufnahmen von
Nebelflecken (Entdeckung der spiraligen Struktur des Andro-
medanebels) verdient gemacht hat, starb am 1 7. Juli in Crow-
borough (Busses) im Alter von 75 Jahren.
N. F. III. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
797
Bücherbesprechungen.
W. F. Wislicenus, Astronomischer Jahres-
bericht. V. Band, enthaUend die Literatur des
Jahres 1903. Berhn 1904, G. Reimer. 660 S.
— Preis 20 Mk.
Der vorHegende, pünkthch erschienene Jahrgang
des in der astronomischen Welt bereits aufs vorteil-
hafteste eingeführten Nachschlagewerkes enthält 2582,
wiederum zum bei weitem größten Teile aus der Feder
des Herausgebers stammende Referate und ist daher
wieder etwas umfangreicher als der vorige Band. Nach
einer vom Herausgeber angestellten Untersuchung ist
dieser Umstand, der bei dem Mangel einer außer-
gewöhnlichen Himmelserscheinung im Jahre 1903
auffallen könnte, durch das Zusammenwirken ver-
schiedener, die beobachtende und publizierende
Tätigkeit der Astronomen anregender Erscheinungen
bedingt, von denen wir nur die gut beobachteten
Mondfinsternisse, die günstigen Mars- und Jupiter-
oppositionen, das Erscheinen weißer Flecke auf dem
Saturn, die Sichtbarkeit hellerer, photometrisch und
spektralanalytisch sorgfältig beobachteter Kometen und
das Aufleuchten der Nova Geminorum erwähnen
wollen. Das Studium des Bandes gestaltet sich in-
folge dieser stofflichen Reichhaltigkeit recht anregend.
— Die beigegebenen Druckfehlerverzeichnisse der
früheren Bände sind recht kurz und geben erfreu-
liches Zeugnis von der sorgfältigen Behandlung, die
auch der typographischen Seite des Werkes zuteil
wird. F. Kbr.
Jacques Danne, Das Radium. Mit einem Vor-
wort von Ch Lauth. Mit 35 Figuren. Leipzig
1904, Veit & Co. 84 Seiten. — Preis 2,40 Mk.
Der Verfasser, der als Privatassistent von Pierre
Curie Gelegenheit hatte, seine Kenntnisse über das
Radium aus erster Quelle zu schöpfen, gibt in der
vorliegenden Schrift eine außerordentlich übersicht-
liche und durch die zahlreichen Figuren anschaulich
gemachte Zusammenstellung der gegenwärtigen Kennt-
nisse über die Radioaktivität. Die Darstellung zeich-
net sich durch gleichmäßige Berücksichtigung aller
an der Erforschung dieses modernsten Gebietes der
Physik beteiligten Forscher aus. Das vollständige
Literaturverzeichnis am Schluß wird allen denen von
hohem Wert sein , die über Einzelheiten noch die
Originalpublikationen nachlesen wollen. F. Kbr.
Monographien über angewandte Elektrochemie.
Herausgegeben von Victor Engelhardt, Oberingenieur
und Chefchemiker der Siemens & Halske A.-G.,
Wien. — • Halle a. S. Wilhelm Knapp.
Diese „Monographien" erscheinen unter Mitwirkung
zahlreicher Autoritäten aus Wissenschaft und Praxis in
zwanglosen Heften. Sie behandeln die verschiedensten
Zweige der gesamten Elektrochemie und haben in der
kurzen Zeit ihres Erscheinens bereits eine sehr günstige
.Aufnahme gefunden.
I ) II. Band. Die Gewinnung des Alumi-
niums und dessen Bedeutung für Handel
und Industrie von Adolphe Minet, Officier de
rinstruction Publique, Herausgeber der Zeitschrift
„L'Electrochimie" in Paris. Ins Deutsche übertragen
von Dr. Emil Abel, Chemiker der Siemens & Halske
A.-G., Wien. Mit 57 Figuren und 10 Tabellen im Text.
— 1902. — Preis broschiert 7 Mk.
2) IV. Band. Einrichtungen von elektro-
lytischen Laboratorien unter besonderer
Berücksichtigung derBedürfnisse für die
Hüttenpraxis von H. Nissenson, Direktor des
Zentrallaboratoriums der Aktiengesellschaft zu Stolberg
und in Westfalen. Mit 32 in den Te.\t gedruckten
Abbildungen. — 1903. — Preis broschiert 2,40 Mk.
3) VI. Band. Elektrometallurgie des
Nickels von Dr. W. Borchers, o. Professor und Vor-
stand des Laboratoriums für iNIetallhüttenwesen und
Elektrometallurgie an der Königl. Technischen Hoch-
schule zu Aachen. Mit 4 in den Text gedruckten
Abbildungen. — 1903. — Preis broschiert 1.50 Mk.
4) VIL Band. Cy an idpro zesse zur Gold-
gewinnung. Nach einschlägigen (Quellen bearbeitet
von Manuel von Uslar, dipl. Hütteningenieur, unter
Mitwirkung von Dr. Georg Erlwein, Vorstand der
elektrochemischen Abteilung der Siemens & Halske
A.-G., Berlin. Mit 30 Figuren im Texte und 3 Tafeln.
— 1903. — Preis broschiert 4. — Mk.
5) IX. Band. Die Elektrometallurgie der
Alkalimetalle von H. Becker, Herausgeber von
„L'Industrie Electrochimiciue" Paris, Elektrochemiker.
Mit 83 Figuren und 3 Tabellen im Text. — 1903-
— Preis broschiert 6. — Mk.
6) X. Band. Die elektrolytische Raffi-
nation des Kupfers von Titus Ulke, M. E., Kon-
sultierender Elektrochemiker, Mitglied der Americ. El.
Chem. Soc. und Americ. Inst. Min. Engeneers. — Ins
Deutsche übertragen von Victor Engelhardt, Ober-
ingenier und Chefchemiker der Siemens & Halske A.-G.,
Wien. Mit 86 Figuren und 23 Tabellen im Text. —
1904. Preis broschiert 8. — Mk.
i) Der Verfasser entrollt in dem ersten Teile der
Broschüre ein fesselndes Bild von der Gewinnung des
Aluminiums. Er bespricht zuerst die chemi-
schen Verfahren, unter denen vornehmlich jene
beiden wichtigsten Methoden eingehendere Berück-
sichtigung fanden, deren eine auf der Reduktion mit
Natrium beruht, deren andere die Verwendung von
Natrium ausschließt. Besonders interessant sind aber
die heute am meisten angewandten elektrochemi-
schen Methoden zur ( lewinnung des weißen Metalls.
Sowohl die el e k t ro th ermisch en Verfahren mit
den dazu erforderlichen Ofen, wie auch die elektro-
ly tischen Verfahren sind eingehend behandeU.
Es ist hierbei nur auffallend, daß sich die eigenen
Versuche des Verfassers ziemlich in den Vordergrund
drängen, während einige andere, besonders wichtige
Verfahren, wie das von Heroult, das weitaus die
meiste Verbreitung gefunden hat, nicht in entsprechen-
der Weise gewürdigt werden. — Der zweite Teil des
Buches ist dem Aluminium und seinen Legierungen,
seinen Bearbeitungs- und Verwendungsarten einge-
räumt. So ist es u. a. von Interesse, den gewaltigen
Aufschwung der Aluminiumproduktion in einem Zeit-
raum weniger Jahre und die damit verbundene be-
798
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
50
trächtliche Preisabnahme zu verfolgen. In dem Ab-
schnitte über das Aluminium und seine Legierungen
hätte manches eingehender besprochen werden können.
So hat der Verfasser nicht einmal des ,,Magnaliums"
dem Namen nach Erwähnung getan, obgleich heute
jedermann diese neue .Muminium-Magnesium-Legierung
kennt. Auch hätten m. E. die Untersuchungen berück-
sichtigt werden können, die über die Verwendbarkeit
des Aluminiums zu Kochgeschirren u. a. vorgenommen
worden sind.^) In gleicher Weise ist die Anwendung
des Metalls in Handel und Gewerbe in nur wenigen
Zeilen erledigt worden. Als wichtiger hat er die Ver-
wendung in der (Großindustrie, in der Chemie und
Metallurgie hervorgehoben. Ein interessanter Ab-
schnitt über die wichtigen Entdeckungen der Alu-
minothermie beschließt das Buch. Jedenfalls
überwiegt der Wert des ersten Teils den des zweiten,
und der Verfasser, ein in der Praxis stehender Mann,
der selbst wesentlich an den Fortschritten der .«Mu-
niiniumfnbrikation beteiligt ist, hat seine umfang-
reichen Fachkenntnisse auf diesem Gebiete in äußerst
geschickter Weise verwertet.
2) Die Analyse durch Elektrolyse wird
selbst in den Kreisen , die den meisten Gewinn daraus
ziehen könnten, noch vielfach verkannt. Darum will
der Verfasser in der vorliegenden Arbeit das Inter-
esse an der elektrolytischen Analyse wecken und
fördern, und da es zugleich und vor allem dem
gebildeten Laien ein Wegweiser sein soll zum Ver-
ständnis der Sache, so hat er gut getan, nach einer
kurzen Einleitung den Zweck und Wert der Elektro-
lyse, dann aber auch die Fundamentalbegriffe und
Leitungsberechnung in kurzem zu besprechen. Er
wirft anschließend einen kurzen Blick auf die Bestand-
teile der Elektrolyseneinrichtung und der Stromquellen,
Meßinstrumente, Stromregulatoren, Leitungen, Schalt-
tafeln, Arbeitsräume usw., um im zweiten Teile seiner
Arbeit die Einrichtungen der elektrochemischen Hoch-
schullaboratorien in Aachen, Breslau, Clausthal, Darm-
stadt, Freiberg i. S., Gießen, Königsberg, Leoben,
München, Pennsylvania und dreier industrieller Labo-
ratorien, der lediglich praktischen Zwecken dienenden
Anlagen der Usine de Desargentation in Hoboken bei
Antwerpen, des Zentrallaboratoriums eines Großhütten-
werks von Dumont Freres in Lüttich und des Zentral-
laboratoriums der Aktiengesellschaft zu Stolberg und
in Westfalen in Stolberg, Rheinland, zu beschreiben,
welch letzteres unter der Leitung des Verfassers steht.
— Die Broschüre dürfte vor allem jüngeren Kollegen,
die meist nur e i n System von Laboratorien und Labo-
ratoriumseinrichtungen auf der Universität kennen lernen,
zur Information über die verschiedenen bestehenden
Systeme willkommen sein. Aber auch weitere Kreise,
wie kaufmännische Leiter von Erzgruben, Hütten usw.
und andere nichtfachmännische Vorgesetzte werden
sich durch die Lektüre dieser Schrift wenigstens soweit
ein Bild von der Sache machen können, daß sie den
berechtigten Forderungen und Bestrebungen ihrer
') Dem Verf. liütte hierfür die Arbeit von R. Köhler
über Darstellung und Verwendbarkeit des Aluminiums gute
Dienste geleistet.
Chemiker dann ein besseres Verständnis entgegen-
bringen, als dies oft der Fall ist.
3) Nach einer einleitenden Betrachtung über das
Nickel vorkommen und seiner bei der Verhüttung
resultierenden, nutzbaren Abfall- und Zwischenprodukte
gibt Borchers im ersten Teile des vorliegenden Heftes
einen historischen Überblick über die zahlreichen Unter-
suchungen undVorschläge zur elektrochemischen Nickel-
fällung, um sodann mehrere Verfahren der Aufbereitung
und Verarbeitung der Nickelerze eingehender Be-
sprechung zu würdigen. So schildert der Verf. das
Verfahren der Zugutemachung nickelhaltiger Erze,
Hütten- und Abfallprodukte, zunächst ohne Rücksicht
auf die Scheidung etwa vorhandenen Kupfers vom
Nickel während der Schmelzarbeiten, in den einzelnen
Stadien seiner Durchführung. Aber auch die Scheidung
von Kupfer und Nickel durch Steinkonzentrationsarbeiten
ist eingehend besprochen, und unter diesen beiden
Hauptabschnitten zugleich die einzelnen .Stadien der
Aufbereitung, die .\nreicherungsarbeiten, die Rohinetall-
arbeit und die Scheidearbeit zur Gewinnung von Rein-
kupfer, Reinnickel und eventuell vorhandenen Edel-
metalle behandelt. Zürn Schluß findet noch das Aus-
bringen des Nickels mit Hilfe flüssiger Lösungsmittel
und das Ausbringen des Nickels mit Hilfe von gas-
förmigen Lösungsmitteln kurze Berücksichtigung. Das
Buch ist hochinteressant und jedem zu empfehlen, der
sich über die elektrometallurgische Gewinnung des
Nickels orientieren will.
4) Das Buch ist in erster Linie für den praktischen
Chemiker bestimmt. Aber auch der dem Spezialfach
der elektrolytischen Goldgewinnung Fernerstehende
findet Anregung indem aus der Praxis hervorgegangenen
Buche. Vor allem dürfte sich das Interesse daran
insoweit rechtfertigen, als, abgesehen von der Ver-
hüttung des Eisens, kaum eine andere metallurgische
Methode so große Umwälzungen auf hüttenmännischem
Gebiete bewirkt hat, als die Cyanidprozesse der Gold-
gewinnung. Bekanntlich ist das Prinzip der Cyanid-
prozesse das, metallisches Gold durch Cyankalium in
wässriger Lösung in das Doppelsalz AuKCy.,, Kalium-
goldcynid, überzuführen und dieses in Lösung zu er-
halten. Hiervon ausgehend, entwirft der Verfasser ein
Bild von der Extraktion des Goldes aus den mannig-
faltigsten .\ufbereitungsprodukten nach verschiedenen
Methoden, und die darauffolgende Fällung des Metalls
aus jenen Cyanidlaugen auf chemischem und elektro-
chemischem Wege wird eingehend besprochen. Das
erste Kapitel befaßt sich mit dem Betrieb nach dem
sog. Siemens-Prozeß, d. h. der elektrolytischen Ab-
scheidung des Goldes, nnd einer andern Methode, nach
der die Cyanidlaugen durch Einwirkung von Zinkspänen
entgoldet werden. Das zweite Kapitel bringt Beispiele
aus der Praxis und bespricht die Kosten der Prozesse.
Den der Praxis Fernstehenden wird die im 3. Kapitel
abgehandelte „Chemie des Prozesses" namentlich inter-
essieren, wenn dieser Abschnitt auch, z. B. bezüglich
einiger Formeln, einige Unklarheiten aufweist. Den
Modifikationen des Cyanidprozesses ist das sehr um-
fangreiche 4. Kapitel eingeräumt. Das Buch ist mit
zahlreichen Abbildungen versehen, auch Arbeitsschemata
erläutern den Text, und maimigfache wertvolle Bei-
N. F. m. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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spiele aus der Praxis erhöhen den Wert desselben.
Freilich hätte der Verf., um den Erfordernissen einer
„Monographie" vollauf zu genügen, den Inhalt seiner
Schrift noch auf mancherlei andere Tatsachen auf
diesem Gebiete ausdehnen können.
5) Das Buch bringt eine ausgezeichnete Darstellung
der verschiedenen Methoden zur Gewinnung der Alkali-
metalle, und zwar hauptsächlich der in der Natur am
weitesten verbreiteten: Natrium, Kalium und Lithium.
Die Zahl der zur Gewinnung erfundenen Verfahren ist
zwar groß, doch haben nur wenige Eingang in dielndustrie
gefunden, die aber der Verfasser um so eingehender
behandelt. Er gliedert diese Methoden in rein chemi-
sche und elektrochemische und behandelt von letzteren
sowohl die elektrolytischen wie elektrothermischen Ver-
fahren in ihrer ganzen Ausführlichkeit. Besondere
Berücksichtigung ist auch der zur (Gewinnung erforder-
lichen Apparatur zuteil geworden, und auch die Dar-
stellung von Legierungen der Alkalimetalle wird be-
sprochen. Im Schlußkapitel sind Versuche und Apparate
für Laboratorien beschrieben, und ein Anhang bringt eine
tabellarische Übersicht über die besprochenen i) elektro-
lytischen Verfahren für die Darstellung von Natrium,
2) elektrolytischen Verfahren für die Darstellung von
Natriumlegierungen und 3) elektrothermischen Verfahren
für die Darstellung von Natrium. — Die Übersichtlichkeit
des ganzen Buches wird durch Angabe der Disposition
am Rande wesentlich erhöht, und zahlreiche gute Ab-
bildungen erläutern den Text.
6) Der Verf. hat Gelegenheit gehabt, zahlreiche
wichtige elektrolytische Kupferanlagen persönlich zu
besichtigen, in die sonst Sachverständige oder Bericht-
erstatter nur schwer eindringen können, und ist in
mehreren derselben selbst tätig gewesen. Er ist
deshalb in den Stand gesetzt, über bisher nicht ver-
öffentlichte Einzelheiten genaue Mitteilungen zu geben.
.So ist denn das Buch aus der Praxis hervorgegangen
und für den Praktiker, wenn es auch in erster Linie
dem Kupferhüttenchemiker von Wert ist , bestimmt.
Aber es bietet doch für jeden eine reiche Fundgrube,
der sich mit dem Wesen der elektrolytischen Raffi-
nation des Kupfers vertraut machen will. Der Verf
hat jede elektrolytische Kupferanlage, die gegenwärtig
in Europa, wie in Amerika auf industrieller Grundlage
im Betrieb ist, in die umfangreiche Arbeit aufgenom-
men. Auch sind die Ausbeuten der einzelnen Werke,
ihre Lage, die Anordnung der Elektroden genau be-
zeichnet und viele Illustrationen dem Te.xte beigegeben.
Der erste Teil behandelt die Entwicklung, Verfahren
und Einrichtungen der elektrolytischen Kupferraffination,
ein zweiterbringt eine Beschreibung der elektrolytischen
Kupferhütten , und im Schlußkapitel gibt der Verf.
den Anlage- und Betriebskostenüberschlag einer elektro-
lytischen Kupfer- und Nickelhütte amerikanischen
Systems samt zugehörigen generellen und Detailplänen.
In einem Anhange sind schließlich ein chronologisches
Verzeichnis der wichtigsten Patente, und .\ngaben
der über die elektrolytische Kupferraffinalion vorhan-
denen Literatur zusammengestellt. Dr. R. Loebe.
Abb. 41 Seiten. Leipzig, B. G. Teubner. — Preis
80 Pf
Verf glaubt eine Verbesserung und Vereinheit-
lichung des naturwissenschaftlichen Unterrichts dadurch
anstreben zu sollen, daß überall von den bei der
gegenwärtigen Methodik im Vordergrund stehenden
„Prozessen" zu den diese beherrschenden „Kräften"
vorgeschritten wird. In breiter Ausführung legt Verf.
diesen Gedanken näher dar und gelangt dabei zu einer
neuen Gruppierung des Lehrstoffs. Für das erste Jahr
denkt er sich als Pensum einen propädeutischen,
dynamologischen (d. h. physikalisch-chemischen) Vor-
kursus und die Meteorologie, welch letzterer er eine
ganz außergewöhnlich zentrale Stellung im Unterricht
anweist. Die folgenden vier Jahre würden dann
parallel gehend resp. abwechselnd im Sommer und
Winter die Biologie und Technik zu absolvieren haben,
wobei unter Technik das verstanden wird, was von
der heutigen Physik und Chemie übrig bleibt, wenn
die allgemeine Kräftelehre (also auch die elemen-
tarsten Erscheinungen der Wärme, des Lichts etc.)
vorweggenommen ist. Diese Vorschläge erscheinen uns
in mancher Hinsicht diskutierbar und beachtenswert,
es fragt sich nur, ob das, was aus der Kräftelehre
und Meteorologie zum Verständnis der Lebewesen
nötig ist, nicht -im biologischen Unterrichte selbst mit
gegeben werden kann, wie es gewiß schon Jetzt viel-
fach geschieht, so daß eine Umkehrung des heutigen
Lehrplans gar nicht nötig wäre. Höchst bedenklich
erscheint uns aber des Verfassers Geringschätzung
der Systematik und damit auch der Entwicklungs-
lehre , die ihn so weit führt , das System nicht
mehr als Einteilungsprinzip gebrauchen zu wollen
und direkt einer „Ablehnung des Darwinismus" das
Wort zu reden. Dies entspricht dem in der Einleitung
ausgeführten Gedanken, daß die Schule den Fort-
schritten der Wissenschaft zu folgen habe, gar wenig.
Das natürliche System ist doch zweifellos ein mit vieler
Mühe errungenes Ergebnis strengster Forschung und
ebenso wird niemand leugnen, daß gerade die gegen-
wärtige Biologie direkt auf dem Entwicklungsprinzip
sich aufbaut. So trocken und öde ein nur formal be-
schreibender, ,, systematischer" Unterricht sein kann,
sind doch andererseits gerade die Hauptlinien des
Systems der Tiere und Pflanzen die Grundlage, von
der aus allein aus dem Chaos der dem Kinde ent-
gegentretenden Lebewesen ein harmonisch gegliederter
Kosmos entwickelt werden kann. F. Kbr.
K. Remus, Das dynamologische Prinzip.
Bd. I, Heft 8 der Sammlung naturw.-pädagogischer
Literatur.
Gewecke, Herrn. : Neue l-varte des Sternhimmels. SO'SXS'^iS ^"^■
Mit Text auf der Rückseite. Berlin ('04), D. Keimer. —
."Vuf Pappe m. Gradmesser 2 Mk.
Herrmann. Oberförst. E. : Tabellen zum Bestimmen der wich-
tigsten Holzgewächse des deutschen Waldes u. v. einigen
ausländischen angebauten Gehölzen nach Blättern u. Knos-
pen, Holz u. Sämereien. (31 S.) qu. 4". Neudamm '04,
J. Neumann. — 2,40 Mk.
Nernst, W. , und A. Schönflies, Proff. : Einführung in die
mathematische Behandlung der Naturwissenschaften. Kurz-
gefaßtes Lehrbuch der Differential- u. Integralrechnung mit
besond. Berücksicht. der Chemie. 4. Aufl. (XII, 370 S.
m. 69 Fig.) Le.x. 8". München '04 , R. Oldenbourg. —
u Mk. ; geb. 12,50 Mk.
8oo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 50
Briefkasten.
Herrn P. F. in Leipzig. — Das v. Slavik'schc Papier zur
Herstellung farbiger Kopien nach gewöhnlichen Negativen
wird unter dem Namen „Multico-Papier" durch die Firma Dr.
A. Hesekiel & Co., Berlin W , Lützowstr. 2, in den Handel
gebracht.
Auf die Seite 335 dieses Jahrgangs gestellte Anfrage der
Redaktion der Naturwiss. Wochenschrift nach einem Werke
über praktische l'hysik teilt ein Leser freundlichst mit,
dafl es ein sehr praktisches Werk gibt in der Amerikanischen
Zeitschrift Scientific American und zwar in deren Supplementen,
welche alle einzeln zu haben sind zum Preise von 20 — 22
Americ. Cents, also 80— go Pf. Darin wird, mit sehr vielen
Figuren erläutert, die Konstruktion von Elektrisier-, Dynamo-
maschinen, Tele- und Mikrophonen, Gas-, Heiflluftmotoren
etc. etc. behandelt. Für den Käufer hat dieses noch das An-
genehme, daß er, wenn er sich nur für die eine oder andere
Kategorie interessiert, nicht alles übrige in den Kauf zu neh-
men hat. Man läßt sich am besten eine Inhaltsübersicht vor-
legen und wählt dann die betreffenden Nummern aus. Zwar
ist hier vorausgesetzt, daß der betreffende Käufer der eng-
lischen Sprache mächtig sein muß.
Von anderer Seite werden wir für den gleichen Zweck
auf das im Verlage von A. Holder (Wien) 1S98 — 1900 in
drei Teilen erschienene ,,E.'cperimentierbuch für den Unter-
richt in der Naturlehre" von Dr. Karl Rosenberg (Preis geb.
jeder Teil 2 Kronen) aufmerksam gemacht, das in Deutsch-
land viel Anklang gefunden hat.
Herrn W. S. in Kaaden. — Das Zöppritz'sche Buch:
Gedanken über die Eiszeiten etc. ist seiner Zeit in diesem
Blatte nicht besprochen worden, weil es keinen wissenschaft-
lich brauchbaren Gedanken enthält. Es ist auch schwer, den
leider ganz unhaltbaren Grundgedanken aus der Fülle der
harmloseren Einzelirrtümer (wohin z. B. die Annahme gehört,
daß die Alpen erst nach der letzten Eiszeit gefaltet wären)
herauszuschälen. Er ist in der Hauptsache der folgende: Ein
Planet nach dem anderen ist von der Sonne fortgeschleudert
worden, bei jedem Fortschleudern verringerte sich die Sonnen-
masse, ihre Anziehung auf die älteren Planeten wurde geringer,
diese wurden etwas weiter in den Weltraum hinausgeschleudert.
Beim Fortfliegen eines solchen Planeten, z. B. der Erde,
blieb ein Teil seiner Masse zurück und bildete einen
Mond. Der dadurch bedingte Substanzverlust wurde von den
Polen her ergänzt und erzeugte deren Abplattung. Gleich-
zeitig soll dies Hinausfliegen in den Weltraum die Eiszeiten
bedingt haben. Die .\tmosphäre konnte nicht so schnell mit,
und die ,, vorübergehende Entblößung von den schützenden
Luftschichten" führte zu einer starken Abkühlung der Erd-
oberfläche (Zöppritz S. 36). — Begnügen wir uns mit diesem
Teil der Dichtung! Schon ihre astronomischen Grundanschau-
ungen sind irrig. Ich will aber nur ailf die falschen geologi-
schen F'olgerungen hinweisen: Denken wir uns einmal ein
solches Hinausrücken der Planeten, so ist gar nicht einzusehen,
warum dabei ein Teil der Planetenmasse unterwegs verloren
werden soll. Das erinnert an einen Mann, der bei eiligem
Aulbruch sein Gepäck nicht mitnehmen kann. In Wirklich-
keit würde eine plötzliche Verminderung der Sonnenanziehung,
wenn sie möglich wäre, auf alle Teile des Planetenkörpers
einschließlich dessen Atmosphäre gleich wirken und sie im ganzen
forttreiben, aber weder zur Mondbildung noch zur ,, Entblößung
von den schützenden Luftschichten" führen. Im Vorbeigehen
sei übrigens noch folgendes bemerkt : Zur Zeit, wenn die Venus
zwischen Sonne und Erde steht, sich also in ,, Konjunktion"
befindet, ist die Anziehung von Sonne und Venus zusammen
auf die Erde sicher noch größer, als wenn die Venusmasse
mit der Sonncnmassc vereinigt wäre, d. h. wir haben dann
mindestens solche Anziehungsverhältnisse, wie sie nach Zöpp-
ritz vor der ersten Eiszeit herrschten, und in den wenigen
Jahren bis zur nächsten Venuskonjunktiou müßte die Erdbahn
ebenso große , wenn auch nicht so plötzliche Störungen er-
leiden , wie sie nach unserem Autor zur Abgrenzung des
Mondes geführt haben. Solche Absurditäten sind fast immer
die Folge, wenn astronomische ,, Theorien" von Persönlich-
keiten aufgestellt werden, die nicht imstande sind , sie rech-
nerisch zu prüfen. Wie phantastisch aber überhaupt der Ge-
danke an das plötzliche Eintreten so ungeheurer Katastrophen
ist, das fühlt man am klarsten, wenn man sich das fressend
von der Eiszeit überraschte Rhinozeros (Zöppritz S. 23) einmal
genauer vorstellt: Eben noch fraß es, da ist es schon stehend
eingefroren, etwa wie zur Zeit des Schwarzen Todes, wo man
gesund zu Bett ging und plötzlich als Leiche aufwachte. —
Es ist mir unmöglich, noch weiter ernsthaft über das Buch
zu schreiben. F. Solger.
Herrn v. L. in B. — Frage: Die sogenannte August-
milbe tritt in manchen Sommerfrischen so massenhaft auf,
daß der Aufenthalt an diesen Orten von Ende Juli ab gerade-
zu unmöglich wird. Bei Kindern kommt zu dem unerträg-
lichen Jucken oft noch Fieber hinzu, so daß auch der Schul-
besuch sehr erheblich beeinträchtigt wird. Wie gelangen
diese Tiere auf den Menschen und wie schützt man sich vor
ihnen? — Die Ernte- oder Grasmilbe, französisch ,,rou-
get" genannt, wurde früher für eine besondere Milbenart ge-
halten und deshalb mit einem besonderen lateinischen Namen
Leptiis autuinualis belegt. Nachdem man aber erkannt hatte,
daß die sechsbeinigen Milben Larven anderer, achtbeiniger
Formen sind, mußte auch Leptus zu den Larven gestellt wer-
den. Man glaubte anfangs, daß es die Larve der Spinnmilbe
[7'elranychiis telariiis) st\. Als aber die Verwandlung von Tetra-
iiychiis genau erforscht war, erkannte man auch diese Annahme als
einen Irrtum (vgl. R. v. Hanstein in: Zeitschr. f. wissensch.
Zoologie Bd. 70, 1901 , S. 58 — 108). Von H. Henking
war inzwischen festgestellt, daß eine sehr ähnliche Larve von
Trombidiiiin fiili^'inosiim auf Blattläusen schmarotzt (Zeitschr.
f. wissensch. Zoologie Bd. 37, 1882, S. 553 — 663). Die An-
nahme, daß auch die Parasiten des Menschen, der Säugetiere,
der Mücken, Weberknechte etc. die Larven von Trombidien
seien, lag also nahe. Es scheint jetzt fest zu stehen, daß
in den verschiedenen Ländern die Larven verschiedener Troin-
b!iliuin-hx\en auf dem Menschen vorkommen und daß es bei
uns namentlich die Larve der schönroten Erdmilbe ist, welche
man im ersten Frühling so häufig auf frisch umgegrabener Garten-
erde findet, von 'rrombidiiitn hohsericeuin (vgl. Br ucker,
S. Jourdain und P. Megnin in: Comptes rendus de
l'.Academie des Sciences de Paris T. 125, 1897, p. 879, 965
und 967). Nach F. Brand is, der die neueste und sorg-
fältigste Arbeit über den Gegenstand geschrieben hat (Fest-
schrift anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Provinzial-
Irrcnanstalt zu Nietleben, Leipzig 1897, S. 416 — 429), befinden
sich die Larven ursprünglich an der Erde. Sie erklettern
kleine Steinchen, Halme und Kräuter und gelangen von diesen
aus, vielleicht aber auch von abgeschnittenen Blumen etc. auf
Säugetiere und auf den Menschen. .An Hautstellen, die wenig
behaart sind, saugen sie sich an. Der Rüssel dringt tief in
die Haut ein und bewirkt in seiner Umgebung eine eigen-
tümliche Umwandlung der Gewcbeteile. Medizinisch nennt
man die Krankheitserscheinung H e r bs t- Er y t h em. Wird
das Tier abgekratzt, so bleibt der Rüssel in der Haut stecken
und das unangenehme Jucken dauert fort. Spätestens nach
48 Stunden ist das Tier vollgesogen und fällt ab. Seine
Nahrung besteht, wie der Mageninhalt zeigt, nicht in Blut,
sondern in Fett und Gewebeteilen. Brandis empfiehlt, zur
Verhütung der Infektion, Unterarm und Unterschenkel mit
Vasclin einzureiben. Es wird dadurch den Milben ein schwer
zu überwindendes Hindernis entgegengestellt. Gegen das
Jucken empfiehlt er Betupfen mit ganz schwacher Karbol-
lösung oder mit .\ther. Dahl.
Inhalt; Prof. Dr. F. VVahnsc li af fe ; Das Gifhorner Hochmoor bei Triangel. — Kleinere Mitteilungen: R. B ö r n s t e i n :
Weshalb pflegen unsere Musikstücke mit hcrabgehenden Noten zu schließen.' — M. Rauther: Über die systematische
Stellung von Gordius. — W. Pallad in: Über normale und intramolekulare Atmung der einzelligen Alge Chlorothe-
cium saccharophilum. — F'rederic Augustus Lucas: Zwei neue fossile Vertebraten. — Fridtjof Nansen: l'ot-
wasser. — Guido Lamprecht: Über den Einfluß des Mondes auf die Niederschläge. — Aus dem wissenschaft-
lichen Leben. — Bücherbesprechungen: W. P\ Wisli cenus : Astronomischer Jahresbericht. — Jacques Danne:
Das Radium. — Dr. R. Loel)e: Monographien über angewandte Elektrochemie. — K. Remus: Das dynamologische
Prinzip. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von I.ippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DIC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 18. September 1904.
Nr. 51.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größereu
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
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Der Schlaf.
Von Dr. L. Reinhardt.
Unter den vielen Rätseln des Lebens, an welche
sich die Menschheit wie an etwas Selbstverständ-
liches gewöhnt hat, und über das sie sich des-
halb auch für gewöhnlich keinerlei Rechenschaft
zu geben pflegt, nimmt eine hervorragende Stelle
das periodische Schwinden der höheren Geistes-
tätigkeit ein, das wir mit dem Worte Schlaf zu
bezeichnen pflegen. Ein jeder von uns weiß zwar
aus Erfahrung, was der Schlaf bedeutet; aber was
für Vorgänge ihn einleiten und erzeugen, welche
psycho - physiologischen Prozesse sich dabei ab-
wickeln, das einmal kennen zu lernen dürfte sich
der Mühe wohl lohnen, da das Wissen darüber
nicht so allgemein ist, als es der Fall sein könnte.
Mit dieser für uns alltäglichen Erscheinung haben
sich Jahrtausende hindurch die hervorragendsten
Denker beschäftigt, ohne daß sie eine Lösung des
geheimnisvollen Rätsels auch nur annähernd ge-
funden hätten. Erst die letzten Jahrzehnte haben
einiges Licht in das Dunkel gebracht, und wenn
auch heute die Wissenschaft noch nicht auf alle
die hier in Frage kommenden Vorgänge eine be-
friedigende Antwort zu geben vermag, so können
wir doch mit einiger Förderung für unser
Wissen über uns selber, ein Wissen, das schon
der griechische Philosoph als das erste Erfordernis
unseres Strebens nach Erkenntnis überhaupt auf-
gestellt hat, diesen interessanten Erscheinungen
nachgehen.
Beginnen wir zunächst, die Bedeutung des
Schlafes und die damit einhergehenden Erschei-
nungen zu betrachten. Der Schlaf tritt ein, wenn
das Gehirn, das Organ der geistigen Tätigkeit,
seine Funktionen einstellt und zur Ruhe gelangt.
Für ein so hochorganisiertes und angestrengt ar-
beitendes Organ ist diese periodisch eintretende
Ruhe von der größten Wichtigkeit, wichtiger noch
als die Nahrungszufuhr; denn ohne Nahrung kann
ein Mensch, wenn es sein muß, einen Monat und
noch länger leben; aber wenn wir ihm den Schlaf
nähmen, so ginge er mit aller Bestimmtheit schon
nach wenigen Tagen zugrunde. Tatsächlicli hat
man diesen Versuch am Menschen begreiflicher-
weise noch nie gemacht. Auch ist es bewiesener-
maßen falsch, daß es in China eine Art Todes-
strafe gäbe, wonach der Verbrecher dadurch um-
gebracht würde, daß man ihn nicht einschlafen
läßt. Aber nach Tierversuchen an jungen Hunden,
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über die eine Frau, Marie von Manassein, auf dem
internationalen medizinischen Kongresse in Rom
im Jahre 1894 berichtete, wissen wir, daß die
Tiere an Schlaflosigkeit weit rascher zugrunde
gehen als an Hunger. Wurden diese jungen Hunde
nur 4 — 5 Tage des Schlafes beraubt, so gingen
sie in der Folge rettungslos verloren, wenn man
ihnen dabei auch die beste Pflege angedeihen ließ.
Das Körpergewicht hatte zwar bei ihrem Tode
nur 5 — 13 Prozent seines Gewichts verloren, während
ein hungernder Hund bis zu 50 Prozent seines
Körpergewichts verliert, ehe er an Entkräftung
stirbt. Dabei gingen die jüngeren Tiere rascher
zugrunde als die älteren.
Nun ist allerdings ein junger Hund ein schlaf-
bedürftigeres Wesen als der Mensch, wie über-
haupt die Hunde mehr Schlafbedürfnis haben als
die Menschen. Aber wenn wir auch nicht wissen,
wie bald ein Mensch an Schlaflosigkeit zugrunde
geht, so wissen wir aus Erfahrung, daß er schneller
daran zugrunde ginge, als am Hunger.
Das Schlafbedürfnis richtet sich zunächst nach
dem Maße der geistigen Arbeit und nach der
Höhe der intellektuellen Entwicklung. Die größere
Hirnarbeit erfordert auch mehr Ruhe. Danach
sollte der Mensch ein größeres Schlafbedürfnis
haben als der Hund. Demgegenüber ist aber zu
bedenken, daß die Größe des Schlafbedürfnisses
nicht nur nach der Zeit des Schlafes zu bemessen
ist, sondern vor allem auch nach der Tiefe des
Schlafes. Die Tiefe des Schlafes messen wir nach
der Stärke der Sinnesreize, die zum Wecken er-
forderlich sind. Diese sind beim Hunde bekannt-
lich sehr gering. Der Hund hat einen sehr flachen
Schlaf, er ist sehr wachsam und durch die ge-
ringsten Geräusche zu wecken, während der Mensch
auffallend tief schläft, tiefer als alle Tiere.
„Es scheint", sagt Prof. G. v. Bunge in seinem
Lehrbuch der Physiologie des Menschen, „daß diese
verschiedene Art des Schlafes wesentlich dazu bei-
getragen hat, den treuen Freundschaftsbund von
Mensch und Hund zu stiften, welcher älter ist als
die Geschichte der Menschheit. Soweit die Spuren
des Menschen sich zurückverfolgen lassen, ist der
Hund sein steter Begleiter. Es scheint, daß der
Mensch nur mit Hilfe des Hundes aus dem Natur-
zustande zur Kultur sich hat durchringen können.
Die hohe Intelligenz gewährte dem Menschen einen
gewaltigen Vorsprung im Kampf ums Dasein; das
mit der hohen Intelligenz zusammenhängende Be-
dürfnis nach tiefem Schlaf dagegen einen schweren
Nachteil , insbesondere den großen Raubtieren
gegenüber. Die treue Freundschaft des wachsamen
Hundes überwand diesen Nachteil. Die Freund-
schaft erwies sich ferner für beide Teile vorteil-
haft auf der Jagd: der Spürsinn des Hundes im
Bunde mit der Intelligenz des Menschen über-
listete alle anderen Tiere. Es scheint fast, als
wenn die Freundschaft von Mensch und Hund
eine Erscheinungsform der Symbiose, d. h. des
Zusammenlebens zum Zweck gegenseitigen Vor-
teils ist, welche unbewußt die Natur zustande ge-
bracht hat und nicht die bewußte Überlegung
des Menschen."
Das Großhirn, als der Sitz der Geistesarbeit,
bedarf des langen und tiefen Schlafes zu seiner
Erholung und zwar wissen wir nach den inter-
essanten Beobachtungen der schon genannten PVau
von Manassein, einer Russin, daß die linke Groß-
hirnhälfte, die bei uns vorzugsweise tätig ist, auch
in tieferen Schlaf versinkt als die rechte. Wir
arbeiten nämlich nicht mit beiden Großhirnhälften
gleicherweise, sondern vorzugsweise mit der einen,
während die andere in Reserve steht. Und zwar,
da alle Gehirnnerven sich kreuzen, arbeitet bei
allen normalen rechtshändigen Menschen die linke
Hirnhälfte fast ausschließlich ; wir sind mit anderen
Worten linkshirnige Sprecher, Denker und Ar-
beiter, ebenso wie alle linkshändigen Menschen
rechtshirnig arbeiten. Die am meisten arbeitenden
Teile des Gehirnes versinken folgerichtig zu ihrer
Erholung in den tiefsten Schlaf. Frau von Ma-
nassem hat nun an 50 Personen jeden Alters und
Geschlechts, an Kindern von 3 Jahren bis zu
Männern und Frauen von 65 Jahren, diese Ver-
hältnisse studiert und gefunden, daß die normalen
rechtshändig arbeitenden Menschen während der
zweiten Stunde des Schlafens mit einer Feder am
Gesicht gekitzelt, stets mit dem linken Arme Ab-
wehrbewegungen machten , selbst wenn sie auf
der linken Seite lagen, also auf den Reiz deS
Kitzeins reflektorisch durch die weniger tief
schlafende Hirnhälfte antworteten, während um-
gekehrt einzig die Linkhänder — 8 an der Zahl —
sich dadurch als solche verrieten, daß sie im Schlafe
alle Abwehrbewegungen mit der rechten vornahmen.
Es war bei diesen Versuchen gleichgültig, welche
Seite des Gesichts gekitzelt wurde.
Was die Tiefe des Schlafes anbetrifft, die durch
die Stärke des Reizes gemessen wird, welcher
zum Wecken des betreffenden Schläfers nötig ist,
so hat schon Kohlschütter im Jahre 1S63 durch
Versuche festgestellt, daß eine Stunde nach dem
Einschlafen der Schlaf weitaus am tiefsten ist,
etwa 6- bis /mal tiefer als eine Stunde später;
daß um die letztere Zeit er wieder weniger tief
wird und sich bis zum Erwachen am Morgen
immer mehr abflacht. Da wir nun aber durch
zweistündigen Schlaf nicht ebenso gestärkt sind,
als wie durch achtstündigen, so geht daraus her-
vor, daß die Festigkeit oder Tiefe des Schlafes
nicht identisch ist mit der Stärkung, der Erquickung
durch den Schlaf.
Um einen Menschen zu wecken, kommt es
aber nicht nur auf die Intensität eines Schalles
oder Geräusches an, sondern darauf, ob der Schall
ein gewohnter oder ungewohnter ist. „Manche
sorgsame Mutter", sagt Prof. Aug. F'orel in seinem
Werk über den Hypnotismus, „wird durch das
leiseste Geräusch ihres Kindes geweckt, während
sie beim Schnarchen ihres Ehemannes oder sonstigem
gewohnten Lärm durchaus nicht erwacht." Ein-
tönige Geräusche machen bekanntlich sogar schläfrig,
wie das Plätschern eines Brunnens, das Rauschen
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eines Wasserfalles oder der Brandung, eintöniges
Vorlesen und dergleichen. Aufhören des Ge-
räusches kann dann umgekehrt auch wecken, wie
z. B. der Müller erwacht, sobald der für ihn ge-
wohnte Lärm des Mühlwerks aufhört.
Eine Abweichung vom gewöhnlichen normalen
Schlafe zeigen die in bezug auf iiir Nervensystem
geschwächten Menschen, die sogenannten Neur-
astheniker, die nach der regulären Verflachung
des Schlafes gegen Morgen wieder eine Vertiefung
zeigen. Diese Menschen wachen oft des Morgens
zu früh auf und sind nur dann für den folgenden
Tag er(]uickt, wenn sie noch ein zweites Mal ein-
schlafen.
Da der Schlaf hauptsächlich zum Ausruhen
des Geistes dient, so ist das Schlafbedürfnis bei
dem mehr geistig arbeitenden Städter ein größeres
als bei der mehr körperlich sich abmühenden Land-
bevölkerung. Kinder bedürfen ihrerseits eines
längeren Schlafes als Erwachsene, und diese wieder-
um eines längeren als Greise. Je jünger das In-
dividuum, um so tiefer ist auch der Schlaf, desto
größere Reize sind auch nötig es zu wecken.
IJbrigens ist das Schlafbedürfnis je nach Gewohn-
heit und Temperament verschieden. Wohlbeleibte
Menschen schlafen in der Regel mehr als magere.
Dauer und Tiefe des Schlafes nehmen meist zu,
wenn größere körperliche und geistige Anstren-
gungen vorausgegangen sind. Indessen tritt bei
körperlicher Übermüdung sowohl als bei solchen
geistigen Anstrengungen, die eine nachhaltige Er-
regung der Phantasie bewirken, nicht selten das
Gegenteil ein.
Die erste und bekannteste Bedingung zum Ein-
schlafen ist eine Herabsetzung aller Sinneseindrücke;
wir schlafen am raschesten ein im Dunkeln, in der
Stille, wenn uns nichts drückt, wenn es weder zu
kalt noch zu warm ist. Daß wir in der Tat nur
durch beständige .Sinneseindrücke wach erhalten wer-
den, geht aus dem in medizinischen Kreisen bekann-
ten Versuche Prof Strümpells in Erlangen (jetzt in
Breslau) hervor, der während seiner Lehrtätigkeit an
der Klinik zu Leipzig einen 1 5jährigen Schuhmacher-
lehrling längere Zeit zu beobachten Gelegenheit
fand, bei dem durch ein nervöses Leiden allmäh-
lich alle Hautempfindung, sowohl Temperatur-,
Tast- und Schmerzempfindung als Muskelsinn und
Ermüdungsgefühl an der ganzen Körperoberfläche
vollkommen schwand. Der Patient verlor ferner
den Geruchs- und Geschmackssinn, sowie die Emp-
findungen des Stuhl- und Harndranges. Schließ-
lich trat Erblindung des linken Auges und Taub-
heit des rechten Ohres ein. Wurde nun diesem
Kranken sein sehendes Auge verbunden und sein
hörendes Ohr mit Watte verstopft, so machte der
Kranke einige Äußerungen der Verwunderung,
versuchte vergeblich sich durch Schlagen mit der
Hand Gehörseindrücke zu verschaffen. Nach
wenigen, etwa 2 — 3 Minuten ließen diese Be-
wegungen schon nach. Puls und Atmung wurden
ruhiger, letzterer gleichmäßiger, tiefer. Man konnte
jetzt die Binde von den Augen entfernen. Die-
selben waren geschlossen; der Kranke lag da in
festem Schlaf Überließ man den am Tage künst-
lich in Schlaf versetzten Kranken sich selbst, so
dauerte der Schlaf unter günstigen äußeren Be-
dingungen mehrere Stunden lang fort. Erst dann
erfolgte ein Erwachen, sei es bei der jedenfalls
zunehmenden Erregbarkeit des Gehirns durch ge-
ringe äußere, nicht zu vermeidende Reize, sei es
durch sogenannte „innere Reize". Wollte man den
Schlafenden künstlich wecken, so war dies nur
möglich durch einen Reiz auf sein hörendes Ohr
oder durch einen in sein sehendes .-Xuge fallenden
Lichtreiz. Stechen, Kneifen der Haut, Rütteln
und Schütteln des ganzen Körpers blieben erfolg-
los. „Ich habe", sagt Strümpell, „den Kranken
oft nachts, wenn alles im tiefsten Schlafe lag, be-
sucht, habe ihn aus dem Bette gehoben, ihn auf
die kalte Erde gelegt, ihn an den Haaren gerissen
usw. — er schlief ruhig weiter. Wenn aber sein
rechtes Auge geöffnet und ein brennendes Licht
davor gehalten wurde, oder wenn man ihm seinen
Namen wiederholt ins linke Ohr hineinrief, dann
wachte er langsam auf"
Zwei ähnliche Fälle dieser Art wurden später
auf der v. Ziemssen'schen Klinik in München be-
obachtet. Aus allen diesen Beobachtungen können
wir mit Sicherheit schließen, daß die Vermeidung
von Sinneseindrücken die wichtigste Bedingung des
Einschlafens ist. Sie ist aber nicht die einzige.
Strümpell bemerkt zu seinem Versuche, daß ein
Gebildeter wohl nicht so rasch eingeschlafen wäre,
wie dieser Junge, dessen Intelligenz übrigens zur
Zeit vor der Erkrankung eine normale gewesen
war.
„Wer einen großen Vorrat an Erinnerungs-
bilden! und Kenntnissen in seinem Hirn aufge-
speichert hat", sagt Prof. G. v. Bunge in Basel,
„zehrt unwillkürlich von diesem Vorrate. Die
Gedankenarbeit kommt nicht so leicht zur Ruhe.
Das ist der Grund, warum kenntnisreiche und
denkende Menschen mit lebhaftem Interesse oft
so schwer einschlafen. Karl Ernst von Baer sagt
in einer seiner berühmten Reden, wenn ein junger
Mann sich der akademischen Lehrtätigkeit widmen
wolle, so pflege man durch ein Examen sein
Wissen zu prüfen ; man sollte lieber festzustellen
suchen, ob er schon Nächte durchwacht hat, um
über eine Frage ins klare zu kommen."
Was von der Geistesarbeit gilt, das gilt aber
noch mehr von allen leidenschaftlichen Erregungen
des Gemütes. Auch diese müssen zur Ruhe
kommen, damit das Einschlafen möglich wird. Es
kommen aber noch alle möglichen anderen psy-
chischen Bedingungen hinzu, die erfüllt sein müssen,
um das Einschlafen zustande zu bringen.
Bei vielen Personen ist das Einschlafen durch
bestimmte Gewohnheiten bedingt. Jede Unter-
brechung derselben hat bei sensiblen Naturen eine
schlaflose Nacht zur Folge. Bei solchen Naturen
gilt es als selbstverständlich, daß sie an einem
fremden Orte, in einem neuen Bette die erste
Nacht schlecht schlafen. Versäumen sie es zur
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gewohnten Zeit ins Bett zu gehen, so tritt gleich-
falls Schlaflosigkeit ein. Wiederholen sich solche
Unregelmäßigkeiten, so kann bleibende Schlaf-
losigkeit die Folge sein.
Eine Hauptursache der Schlaflosigkeit ist die
Furcht vor der Schlaflosigkeit. Der bloße Ge-
danke, man werde nicht zur rechten Zeit ein-
schlafen, quält und verfolgt die Patienten und
macht einen regelmäßigen und anhaltenden Schlaf
unmöglich. Hier hat die ärztliche Tätigkeit ein
dankbares Feld, um diese krankhafte Autosuggestion
durch verständiges Erklären der Ursache der
Störung zu bekämpfen. Auch sollen solche Leute,
die an Schlaflosigkeit leiden, sich mehr wie bis
dahin körperlich anstrengen und viel in frischer
Luft spazieren gehen ; dann wird sich ein gesunder
Schlaf von selbst wieder einstellen.
Zu den Bedingungen des Einschlafens scheint
ferner die Blutleere des Gehirns und des ganzen
Kopfes zu gehören. Jeder kann es an sich selbst
beobachten, daß, wenn der Kopf blutreich ist, —
was wir am leichtesten daran erkennen, daß die
Ohren gerötet sind und sich warm anfühlen —
man nicht gut einschläft. Wenn man schläfrig ist
sind die Ohren kalt und blaß. Deshalb schläft
man besser in einem kühlen Zimmer, als in einem
sehr warmen, schläft auch besser auf einer harten
Kopfunterlage als auf einem weichen Kissen, in
das der Kopf stark einsinkt und sich infolgedessen
nicht abkühlen kann. Möglichst horizontale Lage
des Oberkörpers und Körpers überhaupt ist die
angenehmste und beste Schlafstellung.
Daß das Gehirn im Schlafe blutleer wird und
das Blut, das aus dem Gehirne abströmt, sich über
den übrigen Körper verbreitet, sieht man an Leuten,
die durch Unfall sich einen Defekt der Schädel-
decke zugezogen haben. Mißt man den Blutdruck
an dieser Stelle im wachen Zustande und wieder
im Schlafe, so kann man mit Leichtigkeit fest-
stellen, daß der Blutdruck während des Schlafes
abnimmt, als Zeichen dafür, daß weniger Blut als-
dann zum Gehirn strömt. Umgekehrt werden wir
auch nach einer reichlichen Mahlzeit leicht schläfrig,
indem das Blut in Menge in die Verdauungsorgane
strömt und das Hirn dadurch blutarmer wird.
Eine auffallende Beobachtung, die jeder macht,
der einen Schnupfen hat, ist die, daß während des
Schlafes die Absonderung der Nasenschleimhaut
aufhört. Diese Tatsache erklärt sich am unge-
zwungensten gleichfalls aus der Blutleere des ganzen
Kopfes während des Schlafes.
Ist die Blutleere des Gehirnes eine Bedingung
des tiefen Schlafes, so erscheint es zweckmäßig,
daß der Hirnteil, der am meisten gearbeitet hat,
auch am blutärmsten wird während des Schlafes.
Dieser Hirnteil ist bei den meisten Menschen, bei
allen Rechtshändern, wie schon gesagt, die linke
Hemisphäre des Großhirns. Damit hängt es offen-
bar zusammen, daß die meisten Menschen instinktiv
auf der rechten Seite liegend schlafen. Die linke Kopf-
hälfte wird dabei kühler. Ein zweiter Grund auf
der rechten Seite zu liegen, ist der, daß das Herz
dabei ruhiger, ungehinderter arbeitet. Bei den
Linkshändern tritt in dieser Beziehung eine Kollision
ein. Zur Abkühlung der rechten Kopfhälfte sollten
sie auf der linken Seite schlafen, um dem Herzen
bei seiner Arbeit nicht entgegen zu wirken auf der
rechten. Deshalb schlafen nicht alle Linkshänder auf
der linken Seite, wohl aber die Mehrzahl derselben.
Ein Teil der Linkshänder macht dem Herzen die
Konzession auf der rechten Seite zu schlafen. Ein
anderer Teil schließt instinktiv ein Kompromiß
und schläft auf denr Rücken. Dr. Fr. Lueddeckens
hat im vorletzten Jahre eine Statistik darüber an-
gestellt und gefunden, daß von 62 Linkshändern
35 auf der linken Seite schliefen, 19 auf der rechten
und 8 auf dem Rücken.
Studieren wir nun etwas die Art und Weise,
wie wir einschlafen. Wenn auch Kinder und müde
Erwachsene in der Regel schnell einschlafen, so
vergeht doch eine merkliche Zeit, bis vollständige
Bewußtlosigkeit eintritt. .Stets geht dem Ein-
schlafen ein überaus wohliges Empfinden voraus,
daß sich die müden Glieder ausruhen und der
schlafbedürftige Kopf sich der erwünschten Ruhe
hingeben darf, im Bewußtsein dann neu gestärkt
zu erwachen. In der uns umgebenden Stille und
Dunkelheit, verbunden mit dem Aufhören aller
den Tag über auf uns einstürmenden Sinnesein-
drücke, fallen uns unsere Augendeckel von selbst
zu, unsere Sinne werden einer nach dem anderen
aus ihrer Tätigkeit ausgeschaltet. Zuerst verlassen
uns das Geschmacksvermögen, dann das Gesicht,
bald auch das Tastvermögen. Von allen Sinnes-
organen arbeitet am längsten noch das Gehör.
Bevor es noch verschwindet, haben die erschlafften
Glieder des Schlafenden sich gelöst, sie liegen
in halber Beugung, so wie es dem Körper behagt ;
die Muskeln entspannen sich, sie gehorchen nicht
mehr dem Willen. Man könnte noch erwachen,
wenn man möchte, der Wille und das Geistesver-
mögen wachen noch einige Zeit, aber gradweise
wie die Sensation erlöschen auch sie, unsere Ge-
danken werden unzusammenhängend und das Be-
wußtsein ist bald völlig geschwunden, — wir
schlafen.
Aber die Fähigkeit Gedanken zu bilden hat
das im Schlafe ruhende Gehirn nicht ganz ver-
loren. Es erzeugt fortwährend Bilder, die wir als
Träume empfinden. Aber diese Traumbilder sind
nicht durch logisches Denken und Überlegen ge-
zügelt und kontrolliert, sie sind unlogisch und
meist zusammenhanglos, sind Erinnerungsbilder
teils angenehmer, teils unangenehmer Art und
erschrecken in letzterem Falle oft dermaßen den
vom Schlafe umfangenen Geist des Schlafenden,
der ja, wenn auch gelähmt, so doch nicht ganz
außer Tätigkeit gesetzt ist, daß der übrige Körper
aufwacht und der Schlafende oft mit Entsetzen
in die Höhe fährt. Wenn auch der Wille sein
Regiment scheinbar aufgegeben hat, so ist er
trotzdem nicht ganz gelähmt und ausgeschaltet;
denn wenn wir uns vornehmen, zu einer bestimmten
Zeit zu erwachen, so kann dieser Wille bewirken,
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daß wir oft mit größter Präzision zu gewollter
Zeit aufwachen, ohne daß wir uns doch im be-
wußtlosen Zustande des Schlafes über die Länge
des Schlafes und die absolute Zeit orientieren
können.
„Einen Anhaltspunkt für die Beurteilung der
Tiefe des Schlafes können wir vielleicht aucJi ge-
winnen an der Art der Träume", sagt Prof. G.
V. Bunge. „Viele Personen behaupten", fährt er
fort, „häufig gar nicht zu träumen; sie könnten,
wenn man sie wecke, sich manchmal durchaus
keines Traumbildes entsinnen. An mir selbst habe
ich dieses trotz vielfacher Bemühungen niemals
beobachten können ; man mag mich wecken, zu
welcher Zeit nach dem Einschlafen man wolle,
stets habe ich lebhafte Träume gehabt. Dagegen
beobachtete ich folgenden Unterschied. Träume
ich von Dingen, die ich vor langer Zeit erlebt
habe, so habe ich ruhig und fest geschlafen, denn
ich fühle mich gestärkt. Träume ich dagegen
von den Erlebnissen der letzten Tage, so habe
ich unruhig geschlafen : ich bleibe müde und ab-
gespannt. In meinen jungen Jahren bin ich ein
leidenschaftlicher Jäger gewesen, habe jetzt aber
seit 20 Jahren keine Flinte mehr in die Hand ge-
nommen. Wenn ich nun träume, daß ich auf der
Jagd bin — was immer noch sehr häufig vor-
kommt — , so fühle ich mich stets durch den
Schlaf für den ganzen kommenden Tag erquickt
und gestärkt.
Die Hirnteile, die zuletzt am ange-
strengtesten tätig waren, ruhen im tief-
sten Schlafe; ihre Funktionen erlöschen
und machen alten Erinnerungsbildern
Platz.
Hieraus ergibt sich eine wichtige diätetische
Regel: wem der traumlose Schlaf nicht vergönnt
ist, der sollte wenigstens das Ziel sich setzen, die
Bedingungen des Schlafes so zu wählen, daß er
im Traume sich zurückversetzt finde in die glück-
lichen Jugendjahre, in die selige Kinderzeit. Wenn
wir dieses nicht erreichen können, wenn die Sorgen
und Mühen des letzten Tages uns in den Traum
verfolgen, so beweist das, daß Störungen in unseren
Funktionen eingetreten sind, und wir sollen nicht
eher ruhen, als bis wir die Ursachen dieser Stö-
rungen erkannt und beseitigt haben."
Einige Personen geben an, daß sie in den
ersten Stunden nach dem Einschlafen gar nicht
träumen, darauf von alten Zeiten und erst kurz
vor dem Erwachen von den zeitlich jüngeren und
jüngsten Erlebnissen. Dieses stimmt zu dem von
uns zu Beginn geschilderten Verlaufe des normalen
Schlafes.
Dr. A. Pilcz, Assistenzarzt an der Irrenanstalt
in Wien, teilt in der Wiener klinischen Rundsciiau
1898 mit, er werde als Assistenzart häufig in der
Nacht geweckt. Ein oder anderthalb Stunden nach
dem Einschlafen habe er „recht häufig" gar keine
Traumerinnerungen oder Träume, welche „längst-
vergangene Situationen zum Gegenstande hatten".
,,In dem Maße," so fährt er fort, „als der Augen-
blick des plötzlichen, unerwarteten Gewecktwerdens
sich der Zeit nähert, da ich spontan zu erwachen
pflege, tauchen neuere, später gewonnene Vor-
stellungsbilder und Ideenkomplexe auf in dem
Spiele der Assoziationen."
Auf den Inhalt der Träume ist die Lage des
.Schlafenden, sind körperhche relative Vorgänge
überhaupt von großer Bedeutung. So bewirkt
eine unbequeme Lage oder ein körperlicher Schmerz
einen Traum, in dem man glaubt angegriffen oder
gefesselt zu sein, ein brenzlicher Geruch erregt
Träume von Feuersgefahr. Plötzliches Ausstrecken
im Schlafe erzeugt das bekannte meist mit Er-
wachen verknüpfte Gefühl eines Ausgleitens von
einer Treppe oder eines tiefen sonstigen Sturzes.
Wenn der Schlaf gegen Morgen an Tiefe nach-
läßt, werden Töne und Geräusche aller Art, in
der Nähe gesprochene Worte und dergleichen mit
wunderbarer Schlagfertigkeit zu einem Traume
ausgesponnen , indem das ruhende Großhirn im
Halbschlummer anfängt am Traumdenken sich zu
beteiligen. Diese Morgenträume werden dann
logischer und deutlicher in der Erinnerung haftend.
Innere Empfindungen oder krankhafte Zustände
spiegeln sich häufig in Träumen wieder. So
träumen an Atmungsbeschwerden Leidende von
einem bedrückenden Gespenst und spricht man
dann von Albdrücken. Die Erklärung des Namens
ist sehr einfach. Unter Alben oder Elfen ver-
standen unsere heidnischen germanischen Vorfahren
koboldische Wesen , die sich nach dem Volks-
glauben auf die atmende Brust des Schläfers werfen
sollten und so das Albdrücken hervorriefen. Bei
zu starker Anfüllung des Magens nach opulentem
Mahl, wobei ebenfalls die Zvverchfellbewegung und
damit das Atmen gehemmt ist, träumt man etwa
an der Brust gefaßt zu werden, oder in Menschen-
gedränge zu geraten. LIerzleidende haben oft be-
ängstigende Träume. Vergebliche Anläufe die
Willensvorstellungen auszuführen, etwa um Hilfe
zu rufen oder sich anzukleiden und davonzulaufen,
bringen die sogenannten Hindernisträume hervor.
Abgesehen von solch äußeren .A.nregungen be-
steht der Inhalt der Träume meist aus Wieder-
belebung und Verbindung von Erinnerungsbildern,
wobei frische Erinnerungen, Dinge, mit denen
man sich zurzeit stark beschäftigt, oder an die
man in der Stunde vor dem Einschlafen lebhaft
erinnert wurde, den Vordergrund einnehmen. Die
dramatische Lebendigkeit der Traumbilder, welche
den Träumer verleitet, sie für wirklich Erlebtes zu
halten und zu glauben, daß er seinen Traum mit
offenen Sinnen erlebt habe, erklärt sich hinlänglicli
durch die Abwesenheit der Sinneskontrolle und
des wachen Urteils, vor denen im wachen Zu-
stand alle solche inneren Bilder erblassen; deshalb
sind die Träume meist so unsinnig und zusammen-
hanglos. Unkontrolliert von der Kritik des logischen
Denkens im Wachen folgen die Ideen und Bilder
einfach den Gesetzen der Ideenassoziation, d. h. die
Empfindungen und Vorstellungen sind willkürlich
miteinander verknüpft. Selbst das Erinnerungs-
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vermögen ist so unsicher, daß verstorbene Per-
sonen lebend erscheinen, daß die Einheit des Ortes
nicht beachtet wird, jedes Zeitmaß schwindet und
sogar die einheitliche Persönlichkeit des Träumen-
den sich in ihren Urteilen und Handlungen oft-
mals in mehrere Personen spaltet.
Es werden nie Dinge, die man voll ausgedacht
hat, zu Traumerregern, sondern immer nur solche,
die einem unfertig im Sinne liegen, oder die den
Geist flüchtig streifen. Wenn jemand beispiels-
weise mit einer Erfindung beschäftigt ist, die sein
ganzes Denken in Anspruch nimmt, mithin neben
dem im Geiste sich klar Ausgestaltenden eine
Masse unfertiger, unreifer Gedanken in ihm ent-
stehen läßt, träumt er Nacht für Nacht davon. Ist
ihm seine Erfindung gelungen, hat er seine Auf-
gabe gelöst, so ist es mit seinem Träumen über
den Gegenstand in der Regel zu Ende.
Unzweifelhaft haben die Blinden Träume wie
sehende Menschen; die Frage aber, ob sie in ihren
Träumen sehen, wurde von einer wissenschaftlichen
Gesellschaft, die 200 Blinde darüber ausforschte,
dahin beantwortet, daß Blindgeborene oder solche,
die das Augenlicht vor dem fünften Jahre ver-
loren, auch in ihren Träumen niemals sehend sind.
Von denjenigen, die zwischen dem fünften und
siebenten Jahre erblindeten, war ein Teil im Traume
sehend, der andere nicht. Die erst nach dem
siebenten Jahre Erblindeten sahen stets, wenn sie
träumten.
Ein bedeutendes Licht auf dieses abnorme
Seelenleben im Traume wird durch das Studium
des Hypnotismus und die Möglichkeit einer Sug-
gestion auf den Träumenden geworfen. Unter
Hypnotismus versteht man , wie allgemein be-
kannt sein dürfte, jenen schlafähnlichen Zustand,
in den man durch die suggestive Einwirkung,
durch Beredung von seilen eines anderen gerät,
der seinen Willen einem aufzwingt. In diesem
hypnotischen Zustand, in den alle geistig gesunden
Menschen gebracht werden können, vorausgesetzt
natürlich, daß sie sich hypnotisieren lassen wollen,
ist die Tätigkeit des bewui3ten Denkens und Willens
eingeschläfert, während die Sinnesorgane weiter
funktionieren. Der Hypnotisierte ist Sklave eines
fremden Willens, vollführt blindlings, was man ihn
heißt, und wäre es noch so töricht und wider-
sinnig, zeigt sehr großen Nachahmungstrieb, ist
mit einem Wort: ein Automat, von fremdem Willen
geleitet.
Nicht nur in der ärztlichen Praxis, auch im
gewöhnlichen Leben spielt die Suggestion eine
größere Rolle, als man gemeinhin glaubt. In
unseren Gewohnheiten sind wir Menschen alle
autosuggeriert , das heißt wir suggerieren , reden
uns das betreffende ein. Wenn ein Mensch gähnt,
so gähnen diejenigen, die ihm zusehen, unwillkür-
lich auch mit, das ist Suggestion. Die Gewohn-
heit zu einer bestimmten Zeit einzuschlafen, ruft
in uns gewöhnlich eine große Schläfrigkeit zu der
betreffenden Zeit hervor. „Eine bestimmter Ort,"
sagt Prof A. F o r e 1, der berühmte Irrenarzt und Er-
forscher der Hypnose, „die Stimme einer be-
stimmten Person, das Liegen in einem gewissen
Lehnstuhl, wo man gewöhnlich einschläft, das An-
hören einer Predigt, das Liegen in einer bestimmten
Körperstellung, beim Hans eine Roßhaar-, beim
Jakob eine Federmatratze usw. usw., vor allem
noch der Lidschluß sind sehr gewöhnliche schlaf-
erzeugende Mittel." Warum das? — Man hat es
bisher Gewohnheit, assoziierte Angewöhnung ge-
nannt. Wir müssen aber anerkennen, daß diese
Tatsachen einer unbewußten Autosuggestion (d. h.
Selbsthypnose) völlig gleichkommen. — „Mein
zweites Söhnchen", schreibt Prof. Forel weiter, „hatte
sich angewöhnt, mit einem Taschentuch in der
rechten Hand, am Gesicht angelegt, einzuschlafen.
Als wir es ihm wegnahmen, konnte er lange Zeit
nicht mehr einschlafen. Bei gewissen Leuten
müssen sogar gewisse Handlungen dem. Schlafe
vorangehen, damit er erfolgen kann, wie Lektüre,
Aufziehen der Uhr usw. Die kräftigste aller jener
Assoziationen ist aber die Schwere der Augenlider,
ihr unwiderstehliches F'allen. Daher ist dieses die
beste Suggestion des Schlafes."
Wollen wir jemand hypnotisieren, so sugge-
rieren wir ihm, daß seine Augenlider schwer werden
und zufallen und alsbald hält ihn schon, ohne
daß er es merkt, der hypnotische Schlaf umfangen.
Nun können wir ihm alles Mögliche suggerieren,
d. h. eingeben, er wird uns willenlos in allem ge-
horchen. Und wenn wir ihn zu der von uns ge-
wünschten Zeit aufwachen lassen, so weiß er von
allem, was inzwischen mit ihm vorging, nichts. Die
hypnotischen Suggestionen sind wie die Traum-
eindrücke gewöhnlich so schwach, daß sie nach
dem Erwachen mehr oder weniger vollständig
aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Nur
wenn man mitten in einem Traume geweckt wird,
pflegt eine genauere Erinnerung an denselben zurück-
zubleiben.
Wie ein Hypnotisierter willenlos am Gängel-
band des Willens eines Fremden einhergeht, so
kann unter bestimmten Körperbedingungen das
Daniederliegen der Urteilskraft im gewöhnliclien
Schlafe den Schläfer weiterträumend nachtwandeln
lassen, so daß er wie ein Hypnotisierter im Schlafe
weite Strecken oft unter den gefährlichsten Um-
ständen zurücklegt, gewöhnlich sich dabei sehr
zweckmäßig benimmt, vom obersten Stock in den
untersten geht und sich wie ein Wacher, ohne
sich in der Dunkelheit anzustoßen, in ein anderes
Bett legt oder andere ähnliche Dinge vornimmt.
Was ließen sich da nicht für merkwürdige Ge-
schichten vom Schlaf- oder Traumwandeln er-
zählen !
Doch können wir uns nicht länger mit dem
psychologisch für jeden denkenden Menschen so
überaus interessanten Traumleben beschäftigen, über
das schon ganze Bücher geschrieben worden sind.
Es genüge an dieser Stelle zu bemerken, daß das
Traumleben nicht nur höchst merkwürdige Seelen-
zustände wiederspiegelt, sondern geschichtlich und
kulturjiistorisch eine höchst wiciitige Rolle ge-
N. F. III. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
807
spielt hat und bei vielen tiefer wie wir in der
Kultur stehenden Völkern noch spielt. Die Völker-
psychologie muß zur Erklärung so vieler religiöser
Vorstellungen bei allen Volksstämmen der Erde
immer wieder zu den Tatsachen und Erfahrungen
des Traumlebens zurückgreifen; denn sozusagen
ausschließlich aus ihnen haben alle diese Völker
den Glauben an übernatürliche, den Schranken der
Leiblichkeit , der Zeit und des Raumes entrückte
Wesen, ein Fortleben nach dem Tode, die soge-
nannte Unsterblichkeit der Seele geschöpft. Der
Naturmensch nimmt eben kritiklos,wiederSchlafende,
das Geträumte für Wirklichkeit, er glaubt im
Traume von seinen verstorbenen Vorfahren und
Freunden, von seinen Göttern besucht zu werden
und meint, daß sein Ich, seine lebende Seele, wenn
er von fremden Orten träumt, sich vorübergehend
aus dem im Schlafe ruhenden Körper gelöst, hier
und dort, wie es der phantastische Traum mit
sich bringt, frei von aller Körperlichkeit uniher-
geschwärmt und alles Mögliche und Unmögliche
erlebt habe.
Wie heute noch bei allen Völkern auf
relativ niedriger Kulturstufe, so war auch ehe-
mals bei unseren Vorfahren als eine logische
Weiterentwicklung dieses Gedankens der unum-
stößliche Glaubenssatz allgemein verbreitet, daß
der Traum das natürliche Verbindungsmittel mit
der übersinnlichen Welt sei und daß die im Traume
im Jenseits wandelnde Seele beim Verkehr mit
verstorbenen Menschen und Göttern von ihnen
Ratschläge und Winke für die Zukunft in einer
Art Bildersprache erhalte. Um diese Traumbilder
zu deuten hielten sich die mächtigen Könige des
Altertums besondere Gelehrte, die Traumdeuter,
die den in den Träumen kundgegebenen Willen
der Gottheit deuten mußten, und ob ihrer wich-
tigen Stellung am Hofe sehr geehrt waren. Er-
langten doch Josef und Daniel beispielsweise nur
als Traumdeuter ihren großen Einfluß.
Bei den meisten Naturvölkern übernimmt der
sogenannte Medizinmann oder Schamane gegen
Bezahlung den .'\uftrag, sich durch erprobte Mittel
in Traumzustände zu versetzen und dann die Götter
oder Vorfahren über das Schicksal einer Person
zu befragen. Diese Traum- oder Totenorakel be-
standen noch bei Griechen und Römern. Die
peruanischen Priester bedienten sich einer scharf
narkotischen Nachtschattenart, der Datura san-
guinea, um Götter- und Ahnenerscheinungen zu
haben. In Assyrien befand sich auf der Plattform
der Stufenpyramiden das Gemach, in welchem die
babylonische Sybille den nächtlichen Besuch des
Orakelgottes empfing, und das Amt Daniels bei
dem assyrischen Könige Nebukadnezar finden wir
schon im altbabylonischen Heldengedicht von
Izdubar, dem sein Traumausleger Eabani als steter
Begleiter zur Seite steht.
Die Ägypter übten zu solchen Zwecken die
Hypnotisierung durch Anschauen glänzender Gegen-
stände. Bei den Griechen und Römern fanden
Traumorakel, außer an den Stätten der Toten-
orakel, in den Tempeln des Heilgottes Aesculap
statt. Hier streckten sich die Kranken oder an
ihrer Stelle manchmal auch die Priester des Gottes
auf den Fellen frisch geopferter Widder nieder,
schliefen ein und erwarteten im Traume von dem
Heilgotte zu erfahren, mit welchen Mitteln sie
sollten behandelt werden um Heilung zu finden.
Aus der Art ihres Traumes wurde dann das ein-
zuschlagende Heilverfahren, wenn es nicht deutlich
zu erkennen war, von den Priestern gedeutet.
Für die Kreise des Volkes dienten früh schon
Traumbücher, die Aufzeichnungen über die an-
gebliche Bedeutung der einzelnen Träume ent-
hielten. Das älteste derselben hat man bruch-
stückweise auf gebrannten Ziegelsteinen in der
Bibliothek des alten Ninive gefunden. Im klassischen
Altertum genoß dann des höchsten Ansehens da
ausführliche und von relativ vernünftigen Grund-
sätzen ausgehende Traumbuch des Artemidoros,
welches bald nach Erfindung der Bruchdrucker-
kunst auch in lateinischer und deutscher Über-
setzung erschien.
Gerade das Studium der Hypnose, die mit dem
Schlafe so nahe verwandt ist, ist geeignet über
die merkwürdigsten und geheimsten Vorgänge des
Seelenlebens uns die wertvollsten Aufschlüsse zu
geben. Wenn auch der Hypnotisierte, wie der
Schläfer, sich alles dessen, was er in der Hypnose
gehört, gesprochen, getan und erlebt hat, nicht
mehr erinnert, so erinnert er sich oftmals dessen
in der nächsten Hypnose und zwar auch dann
noch, wenn zwischen der ersten und zweiten Hy-
pnose Jahre verflossen sind. Dr. Albert Moll gibt
in seinem Buche „Der Hypnotismus" an, daß selbst
nach 13 Jahren in der Hypnose die Erinnerung
an das in einer früheren Hypnose Erlebte mög-
lich sei.
Bei dem Versuche, diese interessante Erschei-
nung zu erklären, stößt man auf analoge Zustände
beim spontanen Somnambulismus, wo im schlaf-
ähnlichen Zustand ungewöhnliche, wenn auch nicht,
wie manche gerne glauben möchten, übernatürliche
körperliche und geistige Handlungen ausgeführt,
auch Dinge und Ereignisse wahrgenommen werden,
die mittels wacher, gesunder Sinne nicht wahr-
genommen werden. Es ist dies das sogenannte
Hellsehen, das schon vielfach von Ärzten be-
obachtet und studiert wurde. Am bekanntesten
ist hier die von dem Arzt und Dichter Justinus
Kerner in Weinsberg geschriebene Geschichte der
,, Seherin von Prevorst", die in den dreißiger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts viel Staub aufwarf.
Ist auch der Somnambulismus Gegenstand vieler
absichtlicher und unabsichtlicher Täuschungen ge-
wesen, bei dem hysterische und geisteskranke Per-
sonen eine oft bedenkliche Rolle gespielt haben,
so kann doch in manchen reellen Eällen aus ihm
und den Erscheinungen des sogenannten Doppel-
ichs, wo die Persönlichkeit in zwei verschiedene
Persönlichkeiten gespalten wird, manches Wichtige
für psychologische und psychiatrische Forschungen
geschlossen werden.
8o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 51
Leider müssen wir es uns aus Mangel an
Raum versagen, auf diese höchst interessanten
Gebiete, über die in letzter Zeit viel geforscht
wurde, näher einzutreten, da es uns zu weit von
dem vorgenommenen Thema abseits führen würde.
Kehren wir nunmehr zum eigentlichen Schlafe
zurück und überlegen wir uns, worauf eigentlich
der Schlaf, also der gesunde, normale Schlaf
zurückzuführen ist. Von all den zahlreichen Er-
klärungsversuchen, die hier zutage gefördert wur-
den, sind nur zwei erwähnenswert. Die eine, und
zwar die ältere, gab der Jenaer Prof. W. P r e y e r,
der das Eintreten des Schlafes durch eine An-
häufung von Ermüdungsstoffen im Gehirn erklärte,
die in um so größerer Menge dort und im Körper
überhaupt entstehen, je intensiver die Sinnestätig-
keit und je größer die vorausgegangene körper-
liche Anstrengung war. Diese Erzeugnisse der
Gehirn- und Muskeltätigkeit erscheinen leicht
säurebildend und reißen bei genügendem Vor-
handensein im Gehirn, sobald Reize fehlen, den
Sauerstoff des Blutes an sich, um sich selbst da-
mit zu oxydieren, also zu verbrennen, was wäh-
rend der Ruhe und zumeist im tiefen Schlafe ge-
schieht. Ist die Oxydation und damit die Besei-
tigung der Ermüdungsstoffe weit fortgeschritten,
so genügen schon schwache Reize, den Sauerstoff
des Blutes der Ganglienzelle, dem eigentlichen
Organ der Psyche , wieder zuzuwenden , weil er
nichts mehr zu oxydieren vorfindet. Häufen sich
jene Stoffe wäiirend des Wachseins wieder an, so
nimmt die Erregbarkeit des Gehirns ab, die Be-
wußtseinsschwelle steigt, es wird immer schwerer
die Aufmerksamkeit anzuspannen, es tritt Ermüdung
und Schlaf ein, wenn nicht starke Reize den
Sauerstoff verhindern, die Ermüdungsstoffe zu ver-
brennen, indem sie ihn selbst benötigen. Denn
im wachen Zustande ist es eben dieser Sauerstoff,
welcher für die Imganghaltung der geistigen Vor-
gänge sowohl wie der willkürlichen Muskel-
bewegungen verbraucht wird. An die Anwesen-
heit von Sauerstoff ist alles Leben gebunden;
ohne Sauerstoff kein Leben , keine organische
Tätigkeit.
Diese früher fast allgemein angenommene
Hypothese, die heute nur noch wenig Anhänger
zählt, hat einer neueren und, wie wir gleichzeitig auch
sagen können, besseren Erklärung weichen müssen,
welche im Anschluß an die moderne Lehre von
den Neuronen ausgebildet wurde. Zuerst wurde
sie von Johann E. Purkinje formuliert und später
von Mathias Duval, Professor der Gewebelehre an
der Faculte de medecine in Paris, nach den Resul-
taten der neuesten Gehirnforschung modifiziert.
Sie nimmt an, daß die Verbindung der letzten
Nervenverzweigungen im Gehirn teilweise unter-
brochen wird, indem die sogenannten Endbäum-
chen ihre Fäserchen, die beweglich sind und nach
Belieben ausgestreckt und eingezogen werden
können, zurückziehen. Diese Leitungsunterbrechung
erstreckt sich beim Schlafe nur auf gewisse Hirn-
teile; denn andere — man denke nur an das
Atemzentrum im verlängerten Mark — arbeiten
ununterbrochen weiter. Auch in den Großhirn-
hälften scheint die Unterbrechung immer nur eine
teilweise zu sein, wenigstens bei den Personen,
die keinen traumlosen Schlaf haben. Wie im
Wachen alle Nervenketten verbunden sind, durch
die vorausgegangenen Erfahrungen des ganzen
Lebens geordnet und richtig funktionierend, so
sind beim Träumenden nur ein Teil der Ketten
verbunden. Die Vorstellungsreihen des Träumen-
den sind deshalb weit bildsamer als die des
Wachenden ; sie lassen sich leicht zu neuen Ketten
zusammenfügen, deren Bildung beim Wachenden
durch vorgebildete feste Ketten verhindert wird.
Ähnlich verhält sich der Hypnotisierte. Deshalb
ist er suggestibel, kann man ihm alles Mögliche
einreden und er wird es kritiklos glauben. Es
bilden sich bei ihm leicht neue Vorstellungsketten,
weil die alten gelockert sind. Gleicherweise lassen
sich krankhafte Autosuggestionen überwinden.
Durch diese letztere Hypothese finden wir auch
eine glaubhafte Erklärung für die Wirkung des
künstlichen Schlafes durch Schlafmittel ; ebenso
erklärt sie uns ganz befriedigend die so auffallende
Erscheinung des plötzlichen Auftretens und Ver-
schwindens von motorischen und sensiblen Läh-
mungen bei Hysterischen. Doch bleibt hier der
Forschung noch ein unendlich großes Feld offen,
um die dunkeln Gebiete des Seelenlebens unserer
Erkenntnis näher zu bringen.
Kleinere Mitteilungen.
Bewegungen an Zellen während der Tei-
lung. — Die meisten Metazoen teilen sich auf
mitotischem Wege, d. h. durch Ausbildung eines
komplizierten Spindelapparates, der eine fibrilläre
Dlffenzierung annimmt und durch dessen Bewegun-
gen und Verkürzungen die in besonderer Weise
angeordneten, färbbaren Kernsubstanzen (Chromo-
somen) im Sinne der beiden Tochterzellen nach
zwei entgegengesetzten Seiten transportiert werden.
Die Spitzen dieser Spindelfigur krönen mehr oder we-
niger deutlich entwickelte, selbst wiederum kompli-
ziert differenzierte Gebilde — die Centrosomen, die
eigentlich Schwesterkerne des großen Kernes sind,
die bei der Erbschaft nur mit anderen Gütern
bedacht wurden. Den Centrosomen wird bei der
Zellteilung im allgemeinen eine aktive Rolle zu-
geschrieben.
Nach zahlreichen, neueren cytologischen Unter-
suchungen bleibt nach vollzogener Zellteilung das
Centrosoma oder Zentralkörperchen nicht in
seiner ursprünglichen Lage liegen , sondern ver-
läßt die Achsenrichtung der Teilungsfigur und führt
zuerst um den Kern meist eine Bewegung um 90"
herum aus. Derartige Bewegungen kann man
N. I'. ni. Nr. --,1
Nalurwisseiischaftliche Wochenschrift.
809
während des Lebens an den pigmenthaltigen
Epithelzellen der jungen Salanianderlarve (Textfig.)
beobachten. Von den Zentralkörpern laufen näm-
lich sogen. Strahlen nach allen Richtungen aus,
die nach bestimmten physikalischen Gesetzen, die
besonders R h u m b 1 e r genau studiert hat , das
schwarze, bewegliche Pigment gegen den Äquator
der Zelle treiben, so daß an den Polen pigment-
freie, helle Stellen entstehen, in denen eben die
Zentralkörper mit ihren Sphären ruhen. Durch
die nach der eigentlichen Teilung im Äquator
sich ausbildende Trennungsfurche werden auch die
Pigmentmassen geteilt und in entsprechender
Weise auf die beiden so entstandenen Tochter-
zellen verteilt (um 5 Uhr 39 Min.). Nach diesem
Prozeß bemerkt man , daß plötzlich die hellen
Sphären um 90" um den Kern zu wandern
beginnen, denn sie erscheinen jetzt über dem
Kern und das Pigment nimmt ihren früheren
Platz ein (um 6 Uhr der Beobachtung, x ^ Pig-
ment. — Früherer Ort des Centrosoms).
Schließlich nehmen in den Epithelzellen die
Centrosomen eine oberflächliche Lagerung
ein; auf diese haben Zimmermann, Cohn und
Ballowitz bereits hingewiesen. Der letztere
Autor nimmt auch an , daß sie imstande sind,
äußere Reizeinflüsse zu perzipieren und auf das
Zellprotoplasma zu übertragen, — sie sind gleich-
sam sensitive , zentrale Primitivorgane der Zelle,
eine Vorstellung, die der \'on K. C. Schneider
nahe kommt, der die Zentralkörner für Positions-
reize empfindlich sein läßt, wodurch ihre Ein-
stellung in der Zelle bedingt wird ; nach ihm löst
sich der ganze Entwicklungsgang des Organismus
in Arbeitsleistungen dieser sensiblen Zentren auf.
— Für das Differenzierungsproblem ist die Tat-
sache wichtig, daß alle Centrosomen des Organis-
mus von dem Spermacentrosom , das auch redu-
ziert wurde, abstammen, nur daß sie im Laufe
der Entwicklung gleichsam heterodynam wurden,
— sie werden nicht in allen Zellen gleichzeitig
tätig, Vorgänge, die bei den Blepharoplasten der
Protozoenzelle eine Analogie finden, nur daß sich
hier alles dies innerhalb einer Zelle abspielt und
zu anderen Dift'erenzierungen den Anstoß gibt
(Trypanosomen, Herpetomonaden).
Auf postmitotische Wanderungen der Centro-
somen und ihrer Sphären haben in den Embryonal-
zellen Jennings, Conklin, zur Strassen
(Ascaris) hingewiesen.
Aber auch die Kerne beteiligen sich an einer
solchen Rotation, wie man sehr gut bei der Sper-
matogenese des Flußkrebses und der Weinberg-
schnecke beobachten kann. Strassen kommt
zu dem Schluß, daß diejenigen Kerne, die von
der Mitose an eine polardifferenzierte Gestalt be-
sitzen , an postmitotischen Verschiebungen im
gleichen Maße wie die Cytozentren teilnehmen;
die eigenartige Centrosomstellung wäre auf eine
ererbte Polarität der Zelle (Hatschek, Rabl)
zurückzuführen. Freie Zellen (z. B. hlagellaten-
zellen, Polytoma) führen aber überhaupt solche
Rotationen aus, während Zellen eines Epithel-
verbandes durch einen überwiegenden Cj'totropis-
mus und die ausgebildeten Intercellularbrücken
an solchen Bewegungen wohl gehindert werden.
Zum Teil werden sie aber noch ausgeführt, sobald
einzelne Zellen z. B. aus einer Seeigelblastula
künstlich herausgesprengt wurden und sich her-
nach doch unter Umständen aneinanderfügen, da
sie ganz bestimmte Bewegungen und Rotationen
ausführen. Zum Teil spielt dabei der von R o u x
entdeckte Cytotropismus eine Rolle. Alles Mo-
mente, die bei der Analyse des Problems der
Epithelbildung nicht zu unterschätzen sind. Aus
allen diesen Beobachtungen geht aber hervor, daß
dem zweiten Kern , dem Centrosom, bei der
Formenbildung nicht bloß bei den Protozoen
wie Heliozoen, Flagellaten etc., sondern auch bei
der Metazoenentwicklung sehr wichtige Aufgaben
zufallen. S. Prowazek.
Über den Pilz des Taumellolchs hat soeben
G. Lindau') eine interessante Beobachtung ver-
öffentlicht. Bekanntlich wurde im Jahre 1898
zuerst von Vogl darauf hingewiesen, daß in
den Samen von Lolium temulentum sich ein
Pilzmycel befindet. Noch in demselben Jahre
wies dann Nest 1er nach, daß das Mycel aus dem
Samen in die junge Pflanze übergeht und sie
durchwächst, bis es wieder im Samen zur Aus-
bildung des Hyphenlagers schreitet. Der Pilz ist
außerordentlich weit verbreitet und findet sich
mit geringen Ausnahmen in jedem Samen vor.
In europäischen Samen wurde er überall nach-
gewiesen, gleichzeitig konnte auch in anderen
Lolium -Arten ein ähnliches Mycel aufgefunden
werden.
Obwohl es nun wahrscheinlich war, daß auch
in orientalischen Samen das Mycel sich finden
würde, konnte doch bisher niemand derartige
Untersuchungen aus Mangel an Material anstellen.
Eine Lücke in unseren Kenntnissen konnte des-
halb Lindau durch Untersuchung von Samen
des Taumellolchs ausfüllen, die Prof. Seh wein -
furth aus Ägypten mitgebracht hatte. Doch
nicht bloß rezente, sondern auch altägyptische
Samen konnten untersucht werden. Sie stammten
aus Gräbern des mittleren Reiches (ca. 2000 v. Chr.),
wo die Ahrchen des (jrases zusammen mit Spreu
von Emmer (Triticum dicoccum) in großer Menge
gefunden wurden, hi beiden Arten von Samen
1) Sitz.-Ber. der k. Preuß. Akad. d. Wiss. Berlin.
S. 1033. Hier die Literatur über den Pilz.
1904.
JIO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 51
fand sich das Pilzmycel in schönster Ausbildung
vor. Damit ist also bewiesen, daß der Pilz auch
außerhalb Europas vorkommt und daß er bereits
vor etwa 4000 Jahren unter genau denselben
äußeren Verhältnissen in Ägypten gelebt hat wie
in heutiger Zeit.
Die altägyptischen Samen konnten ohne jede
Präparation mit dem Rasiermesser geschnitten
werden und lieferten Präparate, die Schnitten von
von rezenten Samen in nichts nachgaben. Es
liegt hier also der bisher einzig dastehende Fall
vor, daß ein Pilz von so hohem Alter noch so
unmittelbar der Präparation zugänglich ist.
Auf Grund dieses Befundes lohnte es sich, auch
die übrigen altägyptischen Gräberfunde einmal
auf Pilze zu untersuchen ; vielleicht lassen sich da
noch manche interessante Funde machen.
G. Lindau.
Lehmgerölle.') — Herr Lehrer Gust. Schaafif im
Schmalfelderhof in der bayerischen Pfalz sandte mir
im Juli 1903 ,,Lehmkugcln", die er „öfters aufwiesen
in großer Zahl vor den Erdlöchern" gefunden hatte.
Unsere Fig. i gibt dieselben in natürlicher Größe wie-
der. Daß es sich in den in Rede stehenden Gebilden
•■"«>.
sich in diesem Falle um Putzwolle, jedenfalls um
ein P'adengewirr irgend eines künstlichen Stoffes,
dessen einzelne Fäden wie Perlen mit Kugeln aus
Braunkohlenpulver besetzt sind. An einzelnen
Fäden (Fig. 2 a u. b) konnte man beobachten, daß
sie von der braunkohligen Masse so umgeben waren
ivv
xr
Fig. 2.
Fig. I.
um „eine mechanische Naturbildung" handle, hielt
der Genannte für ausgeschlossen „schon wegen
der kartoffelähnlichen Form". Diese Form ent-
spricht aber durchaus dem, was wir von Gerollen
her kennen, die durch bewegtes Wasser anein-
ander gerieben schließlich die Kieselsteinform an-
nehmen. Bemerkenswert war für mich an den
Lehmkörpern, die, in Wasser getan, leicht zergehen
und zerfallen, nur das Vorhandensein von Malen,
punktförmigen oder etwas anders gestalteten Ein-
drücken, die in 2- oder 3-Zahl in regelloser Ver-
teilung oder zwei derselben ungefähr wie Pole
einer Kugel gegenüber gelegen stets deutlich
markiert waren. Die Körper in Fig. i zeigen diese
Male (Marken) in auffälliger Weise.
Diese Körper brachten mir ein Pseudofossil in
Erinnerung, das der Kgl. Geologischen Landes-
anstalt in Berlin zugegangen war, Fig. 2, und dessen
Erklärung keine Schwierigkeit bereitete. Es handelt
wie etwa ein Lichtdocht von Stearin. Das Fadengewirr
hat offenbar in stark durch Braunkohlenpulver
getrübtem Wasser oder Schlamm von solchem Pul-
ver gelegen, so daß sich Partikel des Pulver an die
Pfaden ansetzten. Bei Bewegung brachen dann die
lichtartigen Bekleidungen durch und bei weiterer
Bewegung wurden die einzelnen Stücke aneinander-
gerieben und wie Geschiebe (Kiesel u. dergl.) ab-
gerollt, wodurch die Perlenketten zustande kommen.
Dieselbe Erscheinung spielt sich an den Schwänzen
von Kühen ab, die in schmutzigen Ställen gehalten,
den Schwanz durch die halbflüssigen Exkremente
hin- und herbewegen, wodurch die Schwanzquaste
stark besudelt wird und schließlich mehr oder
minder große Klunkern trägt: Fig. 3.
Die Male an den in Fig. I abgebildeten Lelim-
körpern deuten offenbar die Ein- und Austrittsstellen
von Wurzeln an, die wohl ähnlich wie die Putz-
wollefäden in dem Fall Fig. 2 gewirkt haben.
Übrigens gibt es auch Gerolle aus Lehm. Herr
Prof. C. Schröter, dem ich die von Herrn Prof.
O. Kirchner in Hohenheim angefertigte Photo-
graphie verdanke, die in Autotypie in unserer
Fig. 4 wiedergegeben ist, schildert das Entstehen
dieser Lehmgerölle in der folgenden Weise : ')
Als er im Oktober 1894 das Nordwestufer des
„Rohrspitz" am Bodensee beging, „wütete gerade
') Obiges ist die Beantwortung einer Frage aus dem
Leserkreise.
') Schröter und Kirchner, Die Vegetation des Bodensees.
Teil. Lindau i. B. 1902, p. 35.
N. F. m. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
811
ein starker VVeststurm, der mächtig die Wellen
gegen das Land trieb. Brüllend stürzten sich die
gischtgekrönten Wogen unter die unterhöhlten
Lehmterrassen, der Boden zitterte von ihrem An-
sturm und sie rissen große Lehmblöcke aus der
Böschung heraus". — Diese Blöcke gaben Ver-
anlassung zu den Lehmgeröllen, Fig. 4. „Sie werden
durch den Wellenschlag gerollt, kleinere rings
umher, so daß sie kugelige und ellipsoidische Ge-
stalt annehmen: größere erhalten durch das Zer-
schellen der Wogen auf ihrem Haupt eine ge-
rundete Oberfläche. Ihr Zusammenhalt wird ver-
stärkt durch das sie durchziehende Wurzelgeflecht
des Schilfs, dessen F'asern anfänglich herausragen,
bald aber abgenagt werden".
4. 0.20"" heller Sand;
3. 0.50™ brauner, gebänderter, sandiger Lehm;
2. 0.70™ heller Sand, darin Lehmbänder mit
kleinen Geschieben ;
I. 0.40™ grober Sand mit einzelnen größeren
Geschieben.
In der untersten, ältesten Schicht i nun „lagen
zu Hunderten Lehmgerölle der verschiedensten
Größe und Gestalt . . . Alle bestehen aus dem
gelben Lehm, wie er die Bänder der Schicht 2
zusammensetzt, und sind umkrustet von einer
dünnen Sandschicht".
„Die Bildung dieser Lehmgerölle erklärt sich
ungezwungen — sagt Kissling — durch die An-
nahme eines Wasserlaufes, der Stücke von Lehm-
bändern abgerissen, auf dem Transport gerollt
und dann deponiert hat, ein Vorgang, der heute
noch in gewissen Wildbachgebieten beobachtet
werden kann." H. Potonie.
/
Fig.
Fig. 4. ,,Sclicingcröllc" aus Lehm am Westufer des Rohrspitz am Bodensee etc.
Ich selbst habe öfters an Ostsee-Steilküsten
aus Geschiebe-Mergel, der von der Brandung auf-
gearbeitet wurde, schnell vergängliche Scheingerölle
beobachtet.
Auch fossil oder subfossil ~ wenn man so
sagen will — sind Lehmgerölle bekannt. E. Kiss-
ling beschreibt solche') in einem Profil, das bei
einem Bau auf der Rutti bei Zollikofen bloßgelegt
wurde. Das Profil zeigte:
7. 0.20"" „Humus" (wohl Ackerboden, humoser
Boden gemeint (P.));
6. 0.20'" heller Sand;
5. 0.40"" brauner, gebänderter, sandiger Lehm;
') Lehmgerölle in Huvioglazialem Sand (Mitteilungen der
Naturforschenden Gesellschaft in Bern igoi. Bern 1902, p. 81.
Der tägliche Gang des Luftdrucks in Berlin
ist auf Grund 20jähriger Registrierbeobachtungen
von Prof. ßörnstein untersucht worden (Sitz.-
Ber. der Wiener Akad. v. 13. Mai 1904). Die
Zahlen der für das Jahr, sowie für die verschiede-
nen Monate erhaltenen Tabellen lassen die be-
kannten zwei Schwankungen verschiedener Größe
erkennen, im Jahresmittel ein Hauptmaximum um
10 Uhr vorm., Hauptminimum um 5 Uhr nachm.,
zweites Maximum um II Uhr abends, zweites
Minimum um 4 Uhr morgens. Mit Eintritt der
warmen Jahreszelt entfernen sich die Extreme von
der Mittagszeit, um für die kältere Jahreshälfte
von beiden Seiten wieder gegen Mittag hinzu-
rücken. Die Größe der Tagesschwankung liegt
zwischen 0,576 (November) und 0,929 mm (Mai)
8l2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. Si
und beträgt im Jahresdurchschnitt 0,6414 mm.
— Zur näheren Untersuchung des täglichen Ganges
des Luftdrucks wurde der Barometerstand y, der
der Tageszeit x entspricht, durch eine Sinusreihe
von folgender Form dargestellt:
y = 3-1 sin (Aj -f- x) -^ a., sin (A., -j- 2 x) -(-
33 sin (A.5 + 3x) -f a/ sin (A/ + 4x),
d. h. es wurde also angenommen, daß der Ver-
lauf der Barometerkurve zustande komme durch
Übereinanderlagerung einer ganztägigen Schwingung
von der Amplitude a^ , die zur Zeit Aj einsetzt
und je einer halbtägigen, drittel- und vierteltägigen
Schwingung, für welche a., A,,, a.j A,, und a^ A4
die entsprechende Bedeutung haben. Es ergab
sich dabei in Übereinstimmung mit älteren, ähn-
lichen Arbeiten von Hann, daß die Amplitude a,
der ganztägigen Schwankung sehr ähnlich verläuft
wie die Lufttemperatur, daß dagegen die halb-
tägige Amplitude a^, zweimal im Jahre schwankt
und ihre Maxima zur Zeit der Nachtgleichen hat.
Interessant ist nun ein Vergleich mit den ent-
sprechenden harmonischen Konstituenten der
Temperaturkurve. Die Amplituden aj zeigen näm-
lich bei Druck und Temperatur ähnlichen Gang,
ein Maximum im Sommer und ein Minimum im
Winter. Auch die Amplituden a.. haben nahezu
gleichzeitig eintretende Extreme, während aber
beim Luftdruck a., im Jahresmittel doppelt so
groß ist wie a^, ist bei der Temperatur a.j durch-
gängig viel kleiner und beträgt im Mittel nur
etwa ein Sechstel von a,.
Fragt man nach einer Erklärung der beschrie-
benen Tatsaciien, so ist gewiß die tägliche Druck-
welle als eine Wirkung der täglichen Temperatur-
welle aufzufassen. Bei der halbtägigen Weile
könnte es wegen der viel höheren Werte von a.,
beim Luftdruck unwahrscheinlich erscheinen, dal3
die Druckschwankung durch die halbtägige Tem-
peraturwelle verursacht ist. Jedoch hat Margules
rechnungsmäßig gezeigt, daß die Dauer einer
freien atmosphärischen Schwingung mit Berück-
sichtigung der Erddrehung und Luftreibung nahezu
12 Stunden beträgt und es erklärt sich daher
leicht, daß gerade die halbtägige Druckwelle durch
Resonanz erheblich verstärkt auftritt. Auch die
Unabhängigkeit von örtlichen Zuständen , welche
in der Größe und Eintrittszeit der halbtägigen
Druckschwankung festgestellt ist , kann als eine
Bestätigung der Auffassung dienen , welche jene
Schwankung als eine von der ganzen Atmosphäre
ausgeführte und den Erdball regelmäßig um-
kreisende Schwingungsbewegung ansieht.
F. Kbr.
Einen Kreiselversuch zur Messung der
Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde hat
A. Föppl in München ausgeführt (Sitz.-Ber. d.
bair. Akademie der Wiss., 1904 H. ij. Wiewohl
derartige Versuche bereits von Foucault und an-
deren insceniert worden waren, ließ doch die
Genauigkeit dieser älteren Versuche sehr zu
wünschen übrig. Durch Benutzung eines trifilar
aufgehängten, elektrisch betriebenen Kreisels mit
horizontaler Achse, dessen Schwungräder bei 50 cm
Durchmesser und je 30 kg Gewicht bis zu 2400
Umdrehungen in der Minute machen konnten,
gelang es Föppl jedoch eine Genauigkeit zu er-
zielen, welche selbst die des Foucault'schen Pendel-
versuchs erheblich übertrifft. Die anfängliche
Hoffnung P'öppl's, einen deutlichen Unterschied
zwischen der aus genauen Messungen an irdischen
Bewegungsvorgängen zu erschließenden Um-
dreliungsgeschwindigkeit der Erde und jener gegen-
über dem Mxsternhimmel nachweisen zu können,
hat sich nicht erfüllt. Bis auf etwa 2 Prozent
wenigstens ist durch die Münchener Versuche
Übereinstimmung mit den unter Zugrundelegung
der astronomischen Umdrehungszeit berechneten
AblenkuntTswerten erzielt worden. F. Kbr.
Vergleichende Versuche mit Gleich- und
Wechselstrom bei 70000 Volt. Die Frage der
Kraftübertragung auf große Entfernungen wird mit
der zunehmenden Verbreitung elektrischer Be-
förderungs- und Beleuchtungsanlagen immer drin-
gender, zumal die in der Nähe des Verbrauchsortes
verfügbare Kraft mehr und mehr aufgebraucht wird.
So ist in der Schweiz die Stadt Zürich zurzeit
mit dem Studium eines umfangreichen Projektes
beschäftigt, bei dem es sich um die Nutzbarmachung
von Wasserkräften handelt, die nicht weniger als
130 Kilometer vom Verbrauchszentrum entfernt
sind, während man in Frankreich sogar ernstlich
daran denkt, für die Stadt Paris Wasserkräfte in
einer P^ntfernung von 400 Kilometern nutzbar zu
machen. Wenn man vielfach auf die Ausnutzung
ganz enormer Wasserkräfte hat verzicliten müssen
(wie z. B. in Ägypten, wo im Nildelta allein für
landwirtschaftliche Zwecke 30000 Pferdekräfte be-
nutzt werden, die aber nicht entfernt dem wirk-
lichen Bedürfnis entsprechen, während man anderer-
seits die ungeheuren Kräfte des oberen Nils gänz-
lich unbenutzt läßt), so liegt dies nur daran, daß
die Elektrotechnik mit den Mitteln, über die sie
zurzeit verfügt, noch nicht imstande war, die großen
in P'rage kommenden Entfernungen zu überbrücken ;
man müßte dazu Ströme von ganz ungeheuren
Spannungen anwenden, von Spannungen, die bei
Gleichstrom noch nicht dem Versuche unterworfen
worden sind, während man sie bei Benutzung von
Wechselstrom als zu hoch erkannt hat.
Folgende Zahlen mögen einen Begriff von den
zur Kraftübertragung auf große Entfernung er-
forderlichen Potentialdifferenzen geben : Wenn man
einen Kraft verlust von io"/„ auf der Linie und
ein Kupfergewicht von 30 Kilogramm pro über-
tragene elektrische Pferdekraft annimmt, so muß
man bei Gleichstrom eine Anfangsspannung von
4200 Volt pro 10 Kilometer Entfernung anwenden,
die sich jedoch bei 100 Kilometer Entfernung auf
42000 und bei looo Kilometer auf 420000 Volt
erhöhen würde. Wenn man die Erde zur Rück-
leitung oder zur statischen Spannungsbegrenzung
benutzt, so kann man allerdings bei gleichei'
N. F. m. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
813
Spannung, gleichem Verlust und demselben Kupfer-
gevvicht diese Entfernungen auf das Doppelte
treiben oder aber bei gleicher Entfernung die
Spannung auf die Hälfte reduzieren. Andererseits
stellen sich die Entfernungen bei Wechselstrom
infolge der in der Leitung auftretenden Sekundär-
erscheinungen erheblich kleiner.
Aus dem eben Gesagten erhellt die Wichtigkeit
von Versuchen, aus denen man das Verhalten von
Gleichstrom bei sehr hoher Spannung ersehen
könnte: Über 25000 Volt hinaus bestehen keine
glaubwürdigen Versuche, so daß die Erwartung
nicht ungerechtfertigt erscheint, es könnten bei
doppelten oder dreifachen Spannungsdifferenzen
Verhältnisse auftreten, mit denen man bisher noch
nicht gerechnet hat, so daß man weit früher, als
man dies bisher vermutet hat, auf einen kritischen,
nicht zu überschreitenden Punkt käme.
Aus diesem Grunde nehmen wir mit großem
Interesse von den Versuchen Kenntnis, welche die
Compagnie de l'Industrie Electrique et Mecanique
in Genf in ihren Laboratorien an sehr hoch ge-
spanntem Gleichstrom angestellt hat.
Es wurden drei Gleichstromdynamos, von denen
die eine 20000 und die beiden anderen je 2 5 000\'olt
mit Leichtigkeit geben konnten, in Serie geschaltet,
so daß sich eine Gleichstromspannung von bis 70000
Volt erzielen ließ. Da jede der drei Dynamos
im Maximum i Ampere geben konnte, so verfügte
man über eine Energiemenge von 60 — 70 Kilowatt,
was für den fraglichen Zweck mehr als aus-
reichend war.
Man hatte bei den Versuchen besonders das
Verhalten der Isolatoren gegenüber Gleichstrom
und Wechselstrom im Auge. Da zurzeit zahl-
reiche praktische Daten mit Bezug auf Wechsel-
strom vorhanden sind, hat es Interesse, einen \'er-
gleich zwischen beiden Stromgattungen anzustellen
und im einzelnen zu bestimmen, welche Gleich-
stromspannung einer gegebenen Wechselstrom-
spannung mit Bezug auf die Isolierfähigkeit der
Isolatoren entspricht, und welche Übertragungs-
entfernungen bei beiden Systemen dieselbe .Sicher-
heit gewähren und dieselben \'erluste mit sich
bringen.
Da der vom Genfer städtischen Elektrizitäts-
werkgelieferte Wechselstrom infolge des \'erhaltens
seiner Potentialkurve, sowie wegen des wechseln-
den Betriebes zahlreicher sjnchroner und asyn-
chroner Motoren sehr veränderliche Werte ergab,
so mußte man eine besondere Wechselstrom([uelle
benutzen, und verwandte zu diesem Zwecke eine
Maschine von 75 Kilowatt mit rotierendem Anker;
der feststehende Induktor besaß 6 Pole und die
Geschwindigkeit des Ankers wurde regelmäßig auf
1000 Umdrehungen erhalten, was eine Frequenz
von 50 Perioden pro Sekunde ergibt. Der Anker
war ein glatter Trommelanker mit 12 Halbspulen,
die einfach mit Hilfe von Neusilberbändern an die
Außenfläche angelegt waren. Die Induktorpole
umfaßten -j.^ des Umfanges, während die Anker-
spulen etwas weniger als die Hälfte des Ankcr^
umfanges einnahmen.
In Figur I ist die Kurve der elektromotorischen
Kräfte des Generators aufgetragen; wie man sieht,
ist diese Kurve stark abgeplattet, so daß die
maximale e. m. K. nicht }2 mal soviel wie die
wirksame e. m. K. (was einem sinusförmigen \'er-
laufe entsprechen würde), sondern nur 1,255 dieses
Wertes ausmacht. Infolge dieser eigentümlichen
Form der Kurve sind die Isolationsverhältnisse bei
dem benutzten Wechselstrom ganz besonders
günstig; da die Schlagweiten auf ein Minimum
reduziert werden, können die Isolatoren den hohen
Spannungen einen weit besseren Widerstand leisten,
als dies bei gewöhnlichem in der Praxis benutzten
:s:
X
5
^
^
-y
t
Wechselstrom der Fall ist. Dies wurde durch be-
sondere Versuche bestätigt, indem man in den
Stromkreis eine Kapazität einbrachte, wodurch
die Kurve eine Deformation erfuhr; dann wurden
die Schlagweiten ganz außerordentlich höher.
Andererseits lagen bei dem zu den Versuchen
benutzten Gleichstrom die Verhältnisse insofern
ungünstig, als infolge der Anordnung der Anker-
spulen in den Rinnen eines Paccinotti'schen Ringes
die Selbstinduktion erhöht und Stromschwingungen
erzeugt wurden ; außerdem ist zu bedenken, daß
die Kollektoren aus 96 Sektoren bestanden. Wenn
auch die Rolle der auf diese Weise entstehenden
Stromschwingungen nicht sehr erheblich sein konnte,
so stellen sie doch einen gewissen Nachteil dar,
während die Verhältnisse beim Wechselstrom weit
günstiger als in der Praxis waren. Trotzdem
sprechen die Ergebnisse der Versuche ganz ent-
schieden zugunsten von Gleichstrom. Alle
Isolatoren halaen ohne Ausnahme bei Gleichstrom
weit höhere Spannungen als bei Wechselstrom
ausgehalten. Dasselbe gilt von den isolierenden
Substanzen, die man Durchschlagsversuchen unter-
zog. Außerdem war bei den der Einwirkung von
Gleichstrom ausgesetzten Isolatoren niemals ein
erheblicher Wärmeefifekt zu beobachten, ganz im
Gegensatz zu ihren X'erhalten bei Wechselstrom;
hieran ist wohl das Nichtvorhandensein von Kapa-
zitätswirkungen bei Gleichstrom Schuld. Isolatoren,
die man mit Wechselstrom durchschlagen hatte,
$14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 51
konnten im Laboratorium noch recht bedeutenden
Gleichstromspannungen Widerstand leisten, während
bei Regenwetter die Grenzspannungen begreif-
licherweise um etwa die Hälfte vermindert wurden.
Bei Gleichstrom tritt mit der Annäherung an
die Grenzspannung, die der Isolator aushalten kann,
kein erhebliches prasselndes Geräusch auf, wie dies
bei Wechselstrom der Fall ist. Ebenso tritt erst
in der nächsten Nähe der Entladungsweite ein
Glimmlicht auf. Zwischen 50 cm voneinander
entfernten Drähten sieht man selbst bei 60000 Volt
Gleichstromspannung keine Leuchterscheinung.
Scharfe Spitzen hingegen zeigen ein leichtes Glimm-
büschel, welches dem Funken vorausgeht; diese
Erscheinungen zwischen Spitzen sind jedoch so
unregelmäßig, daß sie sich nicht genau mit dem
Experiment verfolgen ließen.
Einfache Isolatoren, wie man sie für Telegraphen-
zwecke anwendet, und auch solche, die man seit
Jahren schon bei gewissen Kraftübertragungen auf
mäßige Entfernung benutzt, ließen sich selbst bei
65 OOo\'olt Gleichstromspannung nicht durchbohren.
Das Porzellan muß nur recht gut verglast und
homogen sein, während es auf die Dicke wenig
ankommt. Glas ist mit Gleichstrom sehr schwer
zu durchbohren; gewöhnliches weißes Glas von
0,3 Millimeter leistet bei 25000 Volt noch gut
Widerstand und wird erst dann durchschlagen,
wenn man die Entladung durch Einschaltung eines
Kondensators zum Oscillieren bringt. Eine Scheibe
Fensterglas hält 50000 und wohl noch mehr \'olt
Gleichstromspannung aus.
Die \'ersuche bestätigen also vollauf das, was
nach den Kraftübertragungsversuchen zwischen
St. Maurice und Lausanne (60 Kilometer, 5000 Pferde-
kräfte, 22 000 Volt Gleichstrom) zu erwarten war.
Dort hatte man nämlich selbst bei Nebel nur ganz
geringfügige Verluste durch Isolationsfehler bei der
Spannung von 22 000 \'olt (0,02 Watt pro Isolator)
beobachtet, so daß eine ganz bedeutende Erhöhung
der Spannung vorauszusehen war, bevor diese Ver-
luste sich in nennenswerter Weise fühlbar machen
würden. Es scheint also festzustehen, daß die
Grenzspannung, die man mit den zurzeit verfüg-
baren Mitteln nicht überschreiten darf, weit hinter
70000 \^olt zwischen Leitung und Erde bei Gleich-
strom liegt.
Wenn die Isolatoren im Laboratorium unter-
sucht werden, wo sie gegen Wind und Wetter
geschützt waren, konnte man die Grenzspannung
im Durchschnitt 1,65 mal weiter treiben, als im
PVeien nach 24 stündigem, feinen Regen. Es
empfiehlt sich daher, die modernen, weitausge-
bauchten Mehrfachglocken-Isolatoren zu benutzen,
bei denen selbst dann, wenn sie ganz durchnäßt
sind, kein erheblicher Isolationsfehler eintritt.
Man kann demnach in industriellem Maßstabe
und auf durchaus ökonomische Weise mit Gleich-
strom mehr als 2 mal so große Entfernungen über-
brücken, als dies bisher nur noch notdürftig mit
Drehstrom der Fall gewesen ist; es ließen sich
daher schon jetzt 335 Kilometer mit nur 10 «/(,
Verlust und 30 Kilogramm Kupfergewicht für
jede übertragene Pferdekraft überwinden, während
bei 1000 Kilometern dasselbe Kupfergewicht und
etwas weniger als j,o'% \'erlust in Rechnung zu
ziehen wäre.
Um die Bedeutung der eben beschriebenen
Versuche begreiflich zu maclien, möge nur er-
wähnt werden, daß die kleine Schweiz jährlich
mehr als 14 Millionen Francs an das Ausland für
die für ihre Lokomotiven notwendige Kohle zahlt,
während sie bei Verwendung von elektrischer
Kraftübertragung diese ganze Summe und noch
weit höhere Beträge sparen könnte.
A. Gradenwitz.
Wetter-Monatsübersicht.
Das trockene, sonnige Wetter dieses Sommers gab auch
dem August in ganz Deutschland sein Gepräge , wenngleich
viel weniger deutlich als dem vorausgegangenen Juli. In den
ersten Augusttagen steigerte sich die Hitze nochmals in unge-
wöhnlich hohem Grade. Wie aus der beistehenden Zeichnung
ersichtlich ist, wurden am 5. im größten Teile des Binnen-
UmperafurjViaxima eingcpOrf^im ^UÄnSfl90^
^6. 3t.
v.--^
BEflinErWzIftrburBau,
Uindcs 30" C überschritten , Magdeburg und Cöthen sowie
Brauweiler bei Cöln brachten es bis auf 36" C. Dann
trat überall eine merkliche .Abkühlung ein, die bis gegen
Mitte des Monats anliielt. Um den 15. erhob sich die Tem-
peratur wiederum an vielen Orten auf 30" C oder darüber.
In der zweiten Hälfte des August aber, namentlich zwischen
dem 20. und 26., war es oft schon empfindlich kühl ; während
der Nächte ging das Thermometer vielfach auf 6° herab, und
am 25. stieg es in München auch am Tage nur bis auf 11" C.
Die mittleren Temperaturen des Monats waren in Nord-
west- und Süddcutschland um etwa einen Grad zu niedrig,
während nordöstlich der Elbe die normalen .Augusttempera-
turen ungefähr erreicht wurden. Doch an den meisten Orten
gab es mehr Sonnenschein als gewöhnlich ; in Berlin z. B.
betrug die Dauer der Sonnenstrahlung 276 Stunden, dagegen
nur 228 Stunden im Mittel der letzten 12 .Augustmonate.
Die Niederschläge blieben, der nachstehenden Zeichnung
zufolge , während der ersten fünf Tage des August im
größten Teile Norddeutschlands völlig aus und waren
auch in Süddeutschland wenig ergiebig. Infolge der anhal-
N. F. m. Nr. ;i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
815
tenden Dürre trat bei Weizen und Hafer vorzeitige Reife
ein, der Futtermangi?l nahm zu, und ebenso erlitt der Schiff-
lahrtsvcrkehr immer größere Störungen, da z. B. die Oder
bei Breslau den niedrigsten, bisher überhaupt beobach-
teten Wasserstand erreichte. I">st vom 6. bis 8. August
gingin weit verbreitete Gewitterregen hernieder, die am
Nachmittag des 5. an einzelnen Orten Schleswig-Holsteins
sowie in Lüdenscheid von schweren Hagelschlägen ein-
geleitet wurden. Dann wiederholten sich die Gewitter an
der Küste bei starken, oftmals stürmischen Westwinden
bis zum 21. sehr häufig, so daß der Erdboden dort nach und
nach genügend durchfeuchtet wurde, wogegen im gröfsten
Teile des Binnenlandes, namentlich in Süd- und Mittel-
deutschland, die trockene Witterung bald wiederkehrte.
Am 22. August stellten sich endlicli in Sclilcsirn und
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27.bis31.August. ■
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Süddeutschland starke Regengüsse ein , die bis zum 26. an-
hielten ; am 24. wurden zu Breslau 31 , am folgenden Tage
zu Metz 37 Millimeter Regen gemessen. In den letzten
fünf Tagen des Monats herrschte abermals trockenes Wetter
vor. Während des ganzen August betrug die Niederschlags-
höhe für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen nicht
mehr als 4^,9 Millimeter; seit Beginn des vorigen Jahrzehntes
hat nur der August 1899 noch weniger Regen geliefert.
Am Anfang des Monats wurde der größte Teil des euro-
päischen Festlandes von einem Hochdruckgebiet eingenommen,
während Minima von mäßiger Tiefe auf dem atlantischen
Ozean und dem Nordpolarmecre lagen. Allmählich schritt
das atlantische Minimum in nordöstlicher Richtung vorwärts,
wobei die bisherige, außerordentlich trockene Ostströmung in
etwas feuchtere Südwest- und Westwinde überging, die dann
in ganz Deutschland bis Ende August vorherrschten. Dem
ersten Minimum folgten nämlich weitere vom atlantischen
Ozean nach. Fast gleichzeitig mit jedem Minimum drang
aber vom biscayischen Meer oder der iberischen Halbinsel
ein neues Maximum vor, so daß die Depressionen ihr Gebiet
meist nur auf die britischen Inseln und Skandinavien oder die
Umgebung der Nordsee und Ostsee ausdehnen konnten, ehe
sie in Rußland einrückten. Nur vom 21. bis 23. August
wurden auch Mittel- und Südeuropa von ausgedehnteren De-
pressionsgebieten durchzogen, die in Österreich-Ungarn, der
Schweiz und Italien sowie in einzelnen Gegenden Süd-
deutschlands starke Wolkenbrüche herbeiführten.
Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
F. V. Bellingshausen's Forschungsfahrten im
südliciien Eismeer 1819 — 1821. Auf Grund
des russischen Originalwerks herausgegeben vom
Verein ftir Erdkunde zu Dresden. Leipzig, S. Hirzel,
1902. — Preis geb. 5 Mk.
Bellingshausen's Werk lag bisher nur im russischen
Originalte.xt vor und war deswegen für die Mehrzahl
der Interessenten unverständlich. Auf Veranlassung
des Vereins für Erdkunde zu Dresden hat sich Pro-
fessor Graveliiis der äußerst dankenswerten Aufgabe
unterzogen, das wichtige Reisewerk ins Deutsche zu
übertragen und dabei eine wohl recht notwendige
Kürzung des Originals vorzunehmen.
Uellingshausen verließ bekannthch Kronstadt im
Juli 1819 mit den Schiffen „Wostok" und „Mirnyj".
Er suchte im ersten Sommer die Meere östlich von
der Südspitze Südamerikas auf, umfuhr Südgeorgien
an der Südseite und entdeckte nördlich von den be-
reits Cook bekannten Süd-Sandwich-Inseln drei neue
Eilande, die Traversey-Inseln, deren eine, Sawodowskij,
einen tätigen Vulkan trägt. Am 21. Januar 1820
wurde 69" 25' s. Br. auf i^ii'w. L. erreicht, nahezu
dieselbe Breite (69" 6' s. Br.) am 6. Februar auf 15"
51' ö. L. Nun wandte sich Bellingshausen der Eis-
kante folgend nach Osten und lief Ende Mäiz 1820
Port Jackson (Sydney) an.
Den Südwinter 1820 füllte ein Besuch von Neu-
seeland, den Paumotu- und Gesellschaftsinseln aus,
wobei eine Reihe von bisher unbekannten Inseln ent-
deckt wurde.
Ende Oktober 1820 ging Bellingshausen von Port
Jackson wieder nach Süden in See. Nach einer
kurzen Landung auf der Macquarie-Insel wurde bei
62" 18' s. Br. und 164" 13' ö. L. die Eiskante erreicht
und bei der weiteren Fortsetzung der Reise nicht
weniger als viermal der Polarkreis gekreuzt. Das
wichtigste Ergebnis dieser zweiten antarktischen Fahrt
war die Entdeckung der Insel Peters I. unter 68'^ 57'
s. Br., 90^46' w. L., und des Kaiser Alexander- Lan-
des, das wahrscheinlich schon dem südpolaren Kon-
tinente angehört. Darauf wurden die kurz zuvor ent-
deckten Südshetlands- Inseln besucht und aufgenommen.
Im Juni 1821 kehrte Bellingshausen nach Kronstadt
zurück.
Sein Reisewerk ist auch heute noch deswegen für
die Südpolar- Forschung von größter Wichtigkeit, weil
es für viele der von ihm entdeckten Inseln bisher
die einzige Quelle geblieben ist. Dr. E. Philippi.
Prof Dr. A. Winkelmann, Handbuch der Phy-
sik. 2. Aufl. VL Band, i. Hälfte. Optik L
Mit 170 Abb. 432 Seiten. Leipzig 1904, J. A.
Barth. — Preis 14 Mk.
Der vorliegende Teil des großen Handbuchs der
Physik stammt fast vollständig aus der Feder von
S. Czapski , dem derzeitigen Leiter der Zeiß-Werk-
stätten in Jena, und behandelt in meisterhafter Weise
die geometrische Optik und die Theorie der opti-
schen Instrumente nach den von E. Abbe an der
Jenaer Universität gehaltenen Vorlesungen. Da Abbe
8i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 51
selbst eine zusammenfassende Darstellung seiner epoche-
machenden , von ganz neuen , allgemeinen Gesichts-
punkten (lediglich Annahme der collinearen Verwandt-
schaft von Objekt- und Bildraum) ausgehenden Theorie
der optischen Abljildung noch nicht gegeben hat, so
ist die Czapski'sche Bearbeitung das wichtigste Quellen-
werk für das Studium dieser Arbeiten. Außer Czapski
haben sich noch M. v. Rohr und O. Eppenstein an
der Ausarbeitung des vorliegenden Halbbandes be-
teiligt. Von ersterem sind die Kapitel über das
Sehen, das photographische Objektiv und die Brillen
verfaßt , während Eppenstein die Kapitel über die
Blende, über vergrößernde Projektionssysteme und
Beleuchtungssysteme bearbeitet hat. Die Literatur
ist durchweg mit wohl lückenloser Vollständigkeit
angegeben und die Darstellung bleibt selbst bei der
Behandlung schwieriger Materien von wohltuender
Klarheit. So sind wir überzeugt , daß das Studium
der Optik mit Hilfe dieses Werkes für jeden ernst-
haft Arbeitenden höchst genußreich sein wird.
F. Kbr.
H. Poincarö, La theorie de Maxwell et les
oscillations Hertziennes. La Telegra-
phie Sans fil. Nr. 23 der Sammlung „Scientia".
Paris 1904, C. Naud. 110 p. — Prix 2 frcs.
Mit Meisterschaft setzt der berühmte Pariser
Theoretiker im vorliegenden Büchlein die Grundlagen
der Maxwell'schen Theorie, der Hertz'schen Schwing-
ungen und der drahtlosen Telegraphie in einer durch-
aus leicht verständlichen und klaren Sprache ausein-
ander. Durch die Einteilung in 15 Kapitel, deren
jedes sich wieder in eine Anzahl besonders über-
schriebener Paragraphen gliedert, gewinnt die Schrift
große Übersichtlichkeit, so daß sie als erste Einfüh-
rung in das Gebiet bestens empfohlen werden kann.
F. Kbr.
A. Rieh! , H. y. H e 1 m h o 1 1 z in seinem Ver-
hältnis zu Kant. Berlin, Reuther & Reichard,
1904. 48 Seiten. — Preis 80 Pf.
Daß Helmholtz eine durchaus philosophisch an-
gelegte Natur war und daß er es war, der die
Naturforscher mit Nachdruck wieder auf Kant hin-
wies, ist allgemein bekannt. Die Studie Riehl's setzt
die Beziehungen der beiden großen Geister in klares
Licht und zeigt uns, wie weit Übereinstimmung zwi-
schen beiden herrschte und an welchen Punkten
Helmholtz die Kant'sche Philosophie nicht akzeptieren
konnte. Die Vertiefung in die dabei erörterten, wich-
tigen Grundfragen der Erkenntnistheorie kann jedem
angehenden Naturforscher nur angelegentlichst ans
Herz gelegt werden. F. Kbr.
Literatur.
Schenck, Prof. Dr. F.: Kleines rraktikum der Physiologie.
Anleitung f. Studierende in physiolog. Kursen. (VIII, 78 S.
m. 35 Abbildgn.) 8». Stuttgart '04, F. Enke. — i,6oMk. ;
geb. in Leinw. 2,20 Mk.
Verworn , Max ; Naturwissenschaft u. Weltanschauung. Eine
Rede. (48 S.) 8». Leipzig '04. J. A. Barth. — I Mk.
Windelband, Prof. Dr. Wilh. : Geschichte u. Naturwissenschaft.
Rektoralsrede. 3. unveränd. AuH. (27 S.) gr. 8". Straß-
burg '04, J. II. E. Heitz. — 60 Pfg.
Zenetti, Lyc.-Prof. Dr. Paul: Der geologische Aufbau des
bayerischen Nord-Schwabens u. der angrenzenden Gebiete.
Mit einer geolog. Übersichtskarte. (VllI, 143 S.) gr. 8".
Augsburg '04, Th. Lampart. — 4 Mk. ; geb. in Leinw.
4,80 Mk.
Zograf, Prof. Dr. Nicol. v. : Das unpaare Auge, die Frontal-
organe u. das Nackenorgan einiger Branchiopodcn. (44 S.
ni. 3 Fig. u. 3 lith. Taf) 4". Berlin '04, R. Friedländer
& Sohn. — 8 Mk. ^___
Briefkasten.
Herrn A. S. in Wien. — Erklärungen der lateinischen
Pflanzennamen bringen die meisten Floren. Für mitteleuro-
päische Pflanzen nenne ich: Ascherson , Flora der Provinz
Brandenburg; Ascherson und Graebner, Synopsis der mittel-
europäischen Flora (im Erscheinen). Für die Gattungsnamen
kommen in Betracht: Leunis, Synopsis und vor allem Witt-
stein , Etymologisch-botanisches Handwörterbuch (Ansbach
1852). Die volkstümlichen Namen werden behandelt in:
Pritzel und Jessen, Volksnamen der Pflanzen (Hannover 1S82),
ferner in Ascherson und Graebner, Synopsis. Für einzelne
Länder und Bezirke liegt eine reiche folkloristische Literatur
vor, die aber sehr zerstreut ist und wohl kaum für Sie in
Betracht kommt. G. Lindau.
Herrn H. R. in Frankfurt a. M. — Oberirdische Knollen-
bildung bei der Kartoffel ist eine nicht seltene Erscheinung.
Meist tritt sie auf, wenn die unterirdische Knollenbildung
durch irgend einen Zufall behindert oder erschwert wird. Die
Literatur über diese teratologische Erscheinung ist außerordent-
lich reichhaltig, eine Zusammenstellung findet sich bei I'enzig,
Pflanzenteratologie 11, 173. Auch an anderen Pflanzen kommt
die Erscheinung gelegentlich vor, so bei Zwiebelgewächsen,
wo an den Blättern normale Zwiebeln gebildet werden (von
Masters als Displacement bezeichnet).
Die Erscheinung, daß die Blüten sich nicht öffnen und
durch Selbstbefruchtung trotzdem normale Samen hervor-
bringen, nennt man Kleistogamie. Sie findet sich als normale
Erscheinung bei sehr vielen Pflanzen, worüber jedes Lehrbuch
der Botanik Auskunft gibt, und gelegentlich auch bei sonst
normal blühenden Gewächsen. G. Lindau.
Herrn N. Sl. in Kaaden. — Der letzte, zusammenfassende
Artikel über das Radium ist in Nr. 2 dieses Jahrganges (vom
II. 10. 1903) erschienen. Ein weiterer, die Entdeckungen
des letzten Jahres zusammenstellender Artikel befindet sich in
Vorbereitung. Wir glauben, durch größere Sammelreferale
unseren Lesern besser zu dienen als durch allzu häufige, kleine
Ergänzungen, die das Interesse leicht erlahmen lassen und
verwirrend wirken.
Herrn W. Kl. in Wansleben. — Über Blondlotstrahlen
finden Sie die ersten Berichte in Bd. II, Seite 370 und 500,
sowie III , Seite 268. Im übrigen empfehlen wir Ihnen das
Seite 640 dieses Jahrgangs besprochene Büchlein von Blondlot.
Inhalt: Dr. L. Reinhardt: Der Schlaf. — Kleinere Mitteilungen: S. Prowazek: Bewegungen an Zellen während der
Teilung. — G. Lindau: Über den Pilz des Taumellolchs. — H. Potonie: Lehmgcrölle. — Prof Börnstoin:
Der tägliche Gang des Luftdrucks in Berlin. — A. Föppl: Kreiselversuch zur Messung der Umdrehungsgeschwindig-
keit der Erde. — A. Graden witz: Vergleichende Versuche mit Gleich- und Wechselstrom bei 70000 Volt. —
Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: F. v. Bellingshausen: Forschungsfahrten im südlichen
Eismeer 1819— 1821. — Prof Dr. A. Winkelmann: Handbuch der Physik. — H. Poincare: La theorie de Max-
well et les oscillations Hertziennes. La Telegraphie sans fil. — A. Riehl: H. v. Helmholtz in seinem Verliältnis zu
Kant. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippen & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naombnrg a. S.
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i,-J . 'SiV ■
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[ Fofsctiuny aulgihr an wellur
I la^^enden Ideen und an locke
der Gebilden det Phantasie, wird '
reichlich erselil durch den |
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Sth«
Einschlierslich der Zeitschrift „Die NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 25. September 1904.
Nr. 52.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei gröfleren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Goblis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Zellverbindungen.
[Nachdruck verboten. J
Nachdem es im Jahre 1 838 M. J. S c h 1 e i d e n ge-
kmgen war, den Nachweis zu führen, daß der
Pflanzenkörper aus bestimmten Formelementen,
den Zellen, aufgebaut sei und 1839 Th. Schwann
das Analoge für den Tierkörper gezeigt hatte, trat
die Anatomie der Tiere und Pflanzen in ein neues
Stadium. Die Zelle rückte natürlich jetzt in den
Mittelpunkt des Interesses der Gelehrten und es
entstand die Lehre von der Zelle und den aus ihr
sich aufbauenden Geweben, die Histologie. Hand
in Hand mit der Vervollkommnung der Unter-
suchungsmittel, des Mikroskopes und der histo-
logischen Färbemethoden drang die Wissenschaft
tiefer in den Bau der organischen Welt ein. Die
Kenntnis der Gewebe, der von diesen gebildeten
Organe und ihrer Tätigkeit, ihrem Nutzen für das
Ganze, den Organismus, gewann nach und nach
eine hohe Ausbildung. Allgemein bekannt ist,
welche Förderung diese Fortschritte der Morpho-
logie auch der Kenntnis von den Krankheiten und
ihrer Erkennung zuteil werden ließen, nachdem
Virchow in seiner „Cellularpathologie" gezeigt
hatte, daß eine Erkrankung des Organismus auf einer
Veränderung seiner Elemente, der Zellen, beruhe.
Von Dr. Ernst Rüge.
Die Beurteilung des Verhältnisses zwischen der
Zelle als Baustein und dem Organismus, als dem
Ganzen, hat im Laufe der seit der Entdeckung
der Zelle dahin gegangenen 65 Jahre mannigfache
Phasen erlebt.
Ein Tier, eine Pflanze ist ein in sich abge-
schlossenes Ganzes mit einem genau begrenzten
Körper, einem wohl charakterisierten Stoffwechsel,
kurz eine Einheit in morphologischem und physio-
logischem Sinne. Ausnahmen, z. B. Kolonie- oder
Stockbildungen oder auch Symbiosen, sind sekun-
däre Entwicklungserscheinungen.
Ebenso steht es aber auch mit den Elenientar-
bausteinen des tierischen und pflanzlichen Körpers,
den Zellen. Jede derselben ist ein wohlumschrie-
benes, mit einer Anzahl von „Zellorganen" (Kern,
Centrosom, Vakuolen etc.) ausgerüstetes Gebilde,
das seinen Stoffwechsel und seine mehr oder
weniger von den Genossen unabhängige Lebens-
führung besitzt. Worin besteht das sie zum Or-
ganismus vereinigende gemeinsame Band? Für
den Körper des höheren Tieres scheint diese
Frage leichter zu beantworten. Dort führen von
einer Zentrale, dem Gehirn und Rückenmark, un-
8i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 52
zähhge feitie Fäden, die Nerven, in die Peripherie,
welche zentrifugal und zentripetal Impulse und
Reize leiten und alle Grundelemente unter einer
für das Ganze zweckmäßigen Oberhoheit, gewisser-
maßen'einer Idee vereinigen. Steigen wir aber in
der Reihe der Wirbellosen abwärts, so kommen
wir endlich an Organismen, denen ein solches
Zeilverbindungsnetz, denen ein Zentralorgan fehlt,
und im Pflanzenleibe suchen wir ebenfalls ver-
gebens nach einer ähnlichen Einrichtung. Hier
wenigstens und in diesem Sinne hinkt jener groß-
artige Vergleich des Organismus mit dem Staate.
Für den Begründer der Zellenlehre, M. J. Schiei-
den, bestand die Pflanze noch aus äußerlich aneinan-
der gekitteten Individuen. Jedoch die auf den Vorteil
des Ganzen gerichteten Vorgänge, wie z. B. das
Wachstum des Vegetationspunktes, vermochten
Hofmeister, wiederum die morphologische und
physiologische Einheit des Ganzen zu proklamieren ;
Sachs erklärte die Pflanze für ein in sich einheit-
liches Gesamtprotoplasma, das sich durch den
„sekundären Vorgang der Zellteilung" in unter-
geordnete Teile- sondere, und Nägel i postulierte
geradezu zwischen den Zellen als logische Kon-
sequenz „feine Stränge, die überall im Pflanzen-
körper die Zellen verbinden". Die Forschung der
Folgezeit gab ihm Recht. Schon 1878 sah Bornet
bei Florideen einen direkten Zusammenhang des
Protoplasmas benachbarter Zellen. Aber erst Tangl
brachte 1S80 mit der Entdeckung zahlreicher Ver-
bindungsfäden im Endosperm von Strychnus nux
vomica den Stein ins Rollen. Seither beschäftigten
sich zahlreiche Forscher mit diesen zarten Ge-
bilden und den mannigfachen Fragen nach Ent-
stehungsweise, Lokalisierung, Funktion und näherer
Beschaffenheit der Zellverbindungen oder „Plasmo-
desmen" im Pflanzenreich.
Für das Studium der Protoplasmaverbindungen
empfehlen Rubla und Strasburger besonders
Viscum album. Man kann sie sich am bequemsten
dadurch deutlich machen, daß man frische Schnitte
des zu untersuchenden Objektes möglichst rasch
in einprozentige Osmiumsäure einbringt, nach etwa
5 — 7 Minuten in Wasser abspült und 20 — 30 Mi-
nuten in Russow's Jodjodkaliumlösung (0,2 "'u
Jod und 1,64"/,, Jodkalium) nachbehandelt, sie dann
mindestens eine halbe Stunde lang in 25 "/„ iger
Schwefelsäure quellen läßt, wo sie bei Gegenwart
von Jod und einem Tropfen Meyerscher Pyo-
ktaninlösung in Wasser, im Verhältnis von 1:30,
in etwa 5 , Minuten die gewünschte Färbung er-
halten. Bei dickwandigen Endospermien ruhender
Samen gelingt so der Nachweis der Zellverbin-
dungen verhältnismäßig leicht. (Strasburger,
Jahrb. f. wiss. Bot. 1901.)
Die Mehrzahl der Plasmaverbindungen bei
Pflanzen geht ausschließlich durch die „Tüpfel",
jene verschiedenartig gestalteten Verdünnungen der
Zellscheidewände, doch in manchen Fällen auch
direkt durch die Membranen, unabhängig von den
Tüpfeln. Letzteres Verhalten findet sich z. B. bei
der Brechnuß, Strychnus nux vomica, bei Tamus,
Dioscorca u. a. Beiderlei Verhalten zugleich findet
sich im Endosperm der Palmen Howea und Kentia,
von Asperula u. a. (Strasburger 1. c.). Die Zahl
der Verbindungen zwischen zwei Zellen schwankt
sehr, doch hält sie sich bei demselben Individuum
innerhalb gewisser, enger Grenzen. Bei Volvox-
arten fand A. Meyer die Sporen und Eizellen im
entwickelten Zustande mit ihren Nachbarzellen
Fig. I. Umrisse einer Rindenparcnchymzelle des Stammes von
Viscum album. Vergr. 1000 (n. Strasburger) pl zalilreiche un-
regelmäßig verteilte Plasmodcsmenkanäle, z Zellhöhle.
u
,-••■'0
\ 0
a.
Fig. 2. Teile von Zellmembranen (nach Strasburger), a zwischen
Parenchymzellen des Senkers von Viscum album bei schwacher
(JuelluDg. Vergr. looo. b außer Tätigkeit gesetzter Sieb-
gefäßc von Kraunhia floribunda, von Callusbildungen befreit.
Vergr. 1500. c zwischen Rindcnparenchynizellen von .\bies
nobilis. Vergr. 1000. Bei a und b gehen die Kanäle der
Plasmodesmen durch die Tüpfel t, bei c ist von Tüpfelbildung
kaum etwas zu erkennen („aggregierte" und „soliläre" Plasmo-
desmen n. Kohl).
zumeist durch besonders zahlreiche Plasmafäden
verbunden.
Bezüglich der Lage der Zeilverbindungsfäden
unterscheidet K ohl zwischen solitären und aggre-
gierten Plasmaverbindungen, d. h. solchen, welche
einzeln in verhältnismäßig gleichmäßiger Verteilung
die Zellmembran durchbohren und solchen, welche,
mehr in Gruppen vereinigt, an bevorzugten Stellen,
N. F. III. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
819
z. B. den Tüpfehi, liegen. Doch finden sich mannig-
fache Übergänge zwischen diesen beiden Anord-
nungsweisen, selbst bei derselben Pflanze. Stras-
burger bildet (1. c.) Plasmafäden zwischen zwei
benachbarten Parenchymzellen der Rinde von Abies
nobilis ab, die sich noch annähernd deutlich in
Gruppen vereinigt zeigen, wobei sich jedoch diese
Gruppen stark genähert haben und von einer
Tüpfelbiidung kaum noch die Rede sein kann
(s. Fig. 2C).'
Als Funktionen der Plasmaverbindungen
werden von verschiedenen Autoren vor allem die
der Reizleitung (Gardiner, Schmitz, Haber-
landt, Russow u. a.) und der Nährstoffwande-
rung angesprochen. Reaktion auf Reize aller Art
und Fortleitung derselben gehören ja zu den ele-
mentaren Eigenschaften des Protoplasmas und da
erscheint es natürlich nach dem im Anfang Ge-
sagten außerordentlich plausibel, diese Plasmaver-
bindungen als die so lange gewünschten Fort-
leitungsbahnen für Plasmareize zu deuten. Wenn
man bei der Mimosa pudica, der Sinnpflanze, ein
einziges Blättchen eines Zweiges durch einen kleinen
Schlag reizt, so falten sich nacheinander alle ge-
fiederten Blätter nach unten zusammen und die
Blattstiele senken sich. Wir haben da ganz un-
zweifelhaft eine Reizfortpflanzung vor uns und die
Plasmaverbindungen zwischen Zellen bieten uns
eine bequeme und einleuchtende Erklärung für die
Übertragung des Reizes auf den motorischen
Apparat.
Ebenso einleuchtend ist die Annahme, daß die
Protoplasmafäden zwischen den Zellen den Nähr-
stoffverkehr unterhalten, wenigstens soweit es sich
um gelöste Nahrungsstofie handelt. „Wenn es
sicher wäre — meint A. Meyer (Bot. Zeitg. 1896)
sehr vorsichtig — , daß die Siebröhren Leitungs-
bahnen für Nährstoffe seien, und wenn es sicher
wäre, daß die Plasmaverbindungen der Siebröhren
und der übrigen Zellformen gleicher Natur wären,
so würde dies eine Stütze für die Ansicht sein,
daß die Plasmaverbindungen auch als Leitungs-
bahnen für Nährstoffe dienen können." Diese
beiden Voraussetzungen sind aber, wenn auch nicht
sicher, so doch hochgradig wahrscheinlich.
Eine dritte Hypothese für die Funktion der
Plasmafäden ist die von Wortmann, Kienitz-
Gerloff u. a. vertretene Anschauung, daß sie
Wege darstellen für die Wanderung des Proto-
plasmas, sogar für ganze Protoplasten, die beim
Absterben ihrer Zellen in die zentraler gelegenen
sich zurückziehen sollen. Eine eigentliche Proto-
plasmabewegung hat man aber in diesen dünnen
Protoplasmafäden noch nicht wahrgenommen, was
allerdings bei der Feinheit des Objekts kaum zu
verwundern ist.
Zu der Frage, inweich erLebcnsperiode
der Zellen die Plasmodesmen entstehen und wie
ihre Entwicklung vor sich geht, hat man sich ver-
schieden ausgesprochen. Jedenfalls existieren sie
schon bei Zellen, deren Scheidewand noch in den
ersten Anfangen ihrer Entwicklung ist. A. IVIeyer
sah sie zwischen sich teilenden Zellen sofort bei
ihrem Auseinanderrücken am Schluß des Teilungs-
vorganges. Damit ist natürlich noch nicht be-
wiesen, daß sie bei einer unvollständigen Zellteilung
stehen gebliebene Plasmabrücken seien. Vorher
war eben die Scheidewand so dünn, daß man
über ihr Vorhandensein oder Fehlen nichts er-
kennen konnte. Russow (1883) und Gardiner
(1900) nehmen an, daß sie ihren Ursprung von
dem Kernteilungsvorgang und zwar von den im
Bilde derselben so wesentlichen Spindelfasern
nehmen. Dagegen spricht nun zunächst ihre Plasma-
natur, während doch jene Fasern aus achroma-
tischer Substanz bestehen, dann die Tatsache, daß
auch Zellen gänzlich verschiedener Herkunft Plasmo-
desmen vorweisen und endlich die interessante
Erfahrung, die Strasburger mitteilte, daß sie
sogar zwischen sekundär zur Verwachsung ge-
brachten Pflanzenteilen (bei der Pfropfung von
Reisern auf fremdes Holz) ausgebildet werden.
Wenn die Plasmodesmen also im allgemeinen wohl
schon bei sehr jungen Zellen entstehen, können
sie sich auch nachträglich noch ausbilden. (Kienitz-
Gerloff, Bot. Zeitg. 1901 ; A. Meyer, Bot. Zeitg.
1896; Strasburger 1901.) In diesem Falle ent-
stehen sie durch Aufeinandertreffen und innige Be-
rührung der von benachbarten Zellen einander
entgegengestreckten Protoplasmafortsätze.
Im Tierkörper bieten sich bei dem Studium
der Zellverbindungen entsprechend dem kom-
plizierteren Aufbau desselben ungleich mannig-
faltigere Bilder als im Pflanzenleibe. Und der tief-
gehende Unterschied zwischen der Hauptmasse der
tierischen von der Mehrzahl der pflanzlichen Zellen
macht sich auch hier in hohem Maße geltend.
Während eine Zellmembran bei den pflanzlichen
Zellen immerhin zu den wesentlichen Bestandteilen
der Zelle gehört, fehlt eine solche bei den Grund-
elementen des Tieres in der Regel. Während in
der erwachsenen pflanzlichen Zelle das Protoplasma
bei weitem nicht immer die Hauptmasse des Zell-
körpers bildet, ist dies bei der tierischen Zelle
wohl fast stets der Fall. Und diese Unterschiede
vergrößern sich, je höher entwickelte Spezies beider
Reiche wir unter das Mikroskop nehmen, während
sie nach unten hin, nach dem Reiche der Pro-
tisten zu, sich nach und nach verwischen.
Im Körper eines hochorganisierten Metazoon
findet sich eine reiche Mannigfaltigkeit von Zell-
formen. Kubische, Spindel-, säulen-, kugel-, stern-
förmige, kurze, flache, sehr gestreckte oder flächen-
haft sehr ausgedehnte wechseln nach bestimmter
Anordnung in Geweben und Organen miteinander
ab. Entweder liegen sie dicht aneinander ge-
schlossen oder voneinander durch Mengen von
Kitt- bzw. Grundsubstanz weit getrennt. Durch
die außerordentliche Mannigfaltigkeit der gegen-
seitigen Beziehungen ergibt sich die oft hohe
Kompliziertheit ihrer Verbindungen. Durch ihre
meist viel geringere Größe als die mittlerer Pflanzen-
zellen wird die oft geringe Sicherheit bezüglich
820
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 52
des Vorhandenseins so zarter Gebilde, wie der
Zellverbindungen erklärlich.
In folfjender, nur das Allerhauptsächlichste
berücksichtigenden Zusammenstellung über die
Plasmaverbindungen im Tierkörper folge ich im
Knz
, Knk
Fig. 3. Klcine^Partic aus'dem^Querschnitt eines menschliclien
Röhrenknocliens (Original)'. Knie Knochenkanal, knl um diesen
konzentrische Knochenlamellen, knz Knochenzellen mit zahl-
reichen, zum Knochenkanal senkrecht stehenden, unter ein-
ander vielfach kommunizierenden Zellfortsätzen.
k —
Fig. 4. Hornhautzellen (nach Sobotla's Atlas d. Histologie).
Die Zellen hängen durch ihre Fortsätze vielfach miteinander
zusammen, k k Kerne.
Verbindungen zwischen den Zellen tierischer
Organismen sind seit lange bekannt. Die über
sie handelnde Literatur ist eine sehr umfang-
reiche. Schon Schwann sah im Jahre 1839
die verästehen Ausläufer der Pigmentzellen in der
Haut der Froschlarve häufig kommunizieren. Und
nach ihm wurde bei den Zellen der verschieden-
artigsten Stütz Substanzen, unter die auch die
den Farbstoff der Haut tragenden Pigmentzellen
gehören, dasselbe konstatiert, zum Beispiel bei
Knorpelkörperchen, Knochenzellen (siehe Fig. 3),
zwischen den Zellen des gallertigen Gewebes im
Nabelstrange und im Embryonenkörper, ferner bei
Hornhautkörperchen (siehe Fig. 4) und den Zellen
des Unterhautbindegewebes (siehe Fig. 5). Nur
in dem sogenannten hyalinen, das heißt durch-
scheinenden Knorpel, aus dem z. B. ein Teil des
Kehlkopfskeletts und der Nase besteht, ist das
ib
Fig. 5. Bindegewebszelle aus dem Schwänze der Larve der
Geburtshelferkröte (Alytes). Nach A. Meyer. Vergr. 1480 fach.
p Zellprotoplasma, k Kern, ib Zellverbindungen.
wesentlichen den „Untersuchungen über Zellver-
bindungen" von A. Schuberg (Zeitschrift f, wiss,
Zool. Bd. 74, 1903).
pr.
Fig. 6. Netzförmig verbundene sogenannte ,, farblose" Pigment-
zellen aus dem Unterhautzellgewebe des A,xolotl (nach Schu-
berg). Vergr. 500. k Kern, pr Protoplasma.
Fehlen von Zellverbindungen jetzt definitiv ge-
sichert, während im übrigen die Verbindung der
Zellen des Bindegewebes untereinander feststehende
Tatsache ist.
Allen den aufgezählten Zellen ist eine stern-
förmige Gestalt mit verästelten Ausläufern, die in
solche anderer gleicher Zellen übergehen, gemein-
sam; zwischen den Zellen und ihren Ausläufern
liegt die das betreffende Gewebe charakterisierende
„Binde"substanz, also entweder Knochen-, Knorpel-,
Gallert-, Hornhaut- oder Fasermasse.
Auch bei den Ganglienzellen, die das
Substrat der nervösen Funktionen sind, sollte man
von vornherein eine weitgehende plasmatische Ver-
knüpfung untereinander vermuten. Doch war es
bis vor kurzem noch niemandem gelungen, ein
Präparat herzustellen, das die Plasmakontinuität
N. F. m. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
821
der Zellen überzeugend dartat. Heute stehen sich
zwei Gru[)pen von F"orscliern schroff gegenüber.
Die einen, welche zum Studium dieser Verhält-
nisse die (jolgi'sche Darstellungsmethode an-
wenden, verwerfen die Kontinuität der Nerven-
zellen, die anderen, die Apathy 's Färbemethode
folgen, sind Anhänger der plasmatischen Verbin-
dungen zwischen Nervenzellen.
Im Gegensatze zu Bindegewebs- und Nerven-
zellen sind die E p i t h e 1 z e 1 1 e n , welche als hpithel-
gewebe die Außenfläche des 'I'ierkörpers bedecken
Fig. 7. Epilhelzelle aus dem Schwänze der Larve der Ge-
burtshelferkröte (.Mytes). Nach A. Meyer. Vergr. i48o;fach.
p Zcllprotofilasma, k Kern, il) Interzellularbrückeu.
kez
ib
kez
ib
ez
h7.
pz.
Fig. 8. Aus der Haut des Schwanzes vom Axolotl (n. Schu-
berg). Vergr. 1000. ez Epithelzellen, kez deren Kern, bz
Bindegewebszellen, kbz deren Kern, ib InterzellularbrUcken zw.
d. EpithelzcUen, prv Protoplasmaverbindung zw. Epithel- und
Bindegewebszelle, pz Pigmentzellenfragment.
und manche Hohlräume (Mundhöhle, Speiseröhre,
Darmtractus, Urogenitalapparat u. a.) auskleiden,
voneinander nur durch geringe Mengen von Zwischen-
substanz getrennt und grenzen, wie die meisten
pflanzlichen Gewebselemente, mit einfachen 1-^lächen
aneinander. Zwischen ihnen gehören Zellverbin-
dungen oder, wie sie hier meist genannt werden,
Interzellularbrücken zum gewöhnlichen Befund (siehe
Fig. 7). Im Gegensatz dazu stehen die entwick-
lungsgeschichtlich vom Epithelgewebe abstammen-
den Drüsen (Leber, Keimdrüsen, Speicheldrüsen,
Darmdrüsen etc.).
Zwischen Zellen des Muskelgewebes hat
man ebenfalls Zellbrücken gefunden. Nicht zu
verwechseln sind sie mit den sich treffenden, aber
nicht konfluierenden, sondern nur durch Kittleisten
verlöteten Fortsätzen der Herzmuskelzellen und
denen des Insektendarmes. Leydig fand 1885
eigentliche Ouerbrücken bei Muskeln der Hirti-
dineen und Kultschit zky (1887) und Barf urt h
(1891) dasselbe bei Wirbeltieren. Sie wurden von
Schaffer (1899) als irrtümlich erklärt.
Diese Angaben beziehen sich nur auf soge-
nannte „glatte", nicht auf „quergestreifte" Muskel-
zellen. Bei diesen äußerst kompliziert gebauten,
langgestreckten Zellen hat man Zellverbindungen
bisher nicht ermittelt. Als gesichert erscheinen
uns also nur die Verbindungen zwischen Zellen
aller möglicher Arten der Bindesubstanzen und die
Interzellularbrücken der Epilhelzellen. Bezüglich
aller anderen Gewebe schwanken die Angaben
hin und her. Ganz umstritten aber sind endlich
Verbindungen zwischen Zellen verschiedener
Gewebe, während solche im Pflanzenkörper zum
gesicherten Besitztum der Wissenschaft zählen.
Auch auf diesem Gebiete der tierischen Histologie
sind eine große Anzahl von Beobachtungen mit-
geteilt worden , doch hat sich die Wissenschaft
ihnen gegenüber bisher ablehnend verhalten. Nur
eine Art von Verbindungen zwischen Zellen ver-
schiedener Art hat eine Zeitlang allgemeine An-
erkennung gefunden, die zwischen Epithelzellen
und Nervenfasern. Diese letzteren sind aber nichts
weiter als sehr lange Fortsätze von Ganglienzellen
des Hirns und Rückenmarks, die, zu Bündeln ver-
einigt (Nerven) in die verschiedenen Körperregionen
verlaufen und an Muskelzellen als motorische, an
Epithelzellen als sensible Organe endigen. Diese
sensiblen Nervenenden sollten einfach in die Epithel-
zellen übergehen, die Nervenfasern also nichts als
Zellverbindungen zwischen Muskel- oder Epithel-
zelle einerseits und Ganglienzelle andererseits sein.
Leider erhoben sich jedoch bald so viele Zweifel
an diesen Beobachtungen, daß man jetzt wieder
mehr wie je in diesen Dingen vor dem ,,Igno-
ramus" steht.
Dafür aber hat uns die jüngste Zeit eine hier-
her gehörige Untersuchung von Schuberg (1. c.)
beschert, die so überaus genau und detailliert
durchgeführt ist, daß das Ergebnis überzeugend
wirkt. Mit neuen Färbemethoden behandelte er
die Haut vom Axolotl, der Larve von Amblystoma
tigrinum, und fand in seinen Präparaten sehr deut-
liche plasmatische Verbindungen der Bindegewebs-
zellen der Lederhaut mit den angrenzenden Epithel-
zellen der Epidermis. Figur 8 bringt eine solche
Stelle in looofacher Vergrößerung.
Zum Schlüsse noch einige VVorte über die
Verbindung aller Zellen im tierischen Organis-
mus. Während der Annahme einer solchen im
Fflanzenleibe sehr viele Erwägungen und Beob-
achtungen zur Seite stehen, gibt es in der tierischen
Histologie einige feststehende Tatsachen (z. B. das
L'elilcn von Verbindungen zwischen Zellen des
822
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 52
hyalinen Knorpels u. v. a.), die der Anwendung
eines Parallelschlusses auf das höher organisierte
Tier direkt widersprechen. In seinen allerfrühesten
Entwicklungsstadien freilich scheint es anders.
Sedgwick (1886) glaubte alle Zellen der Gastrula
von Peripatus, Kl aa t sc h (1898) die der Gastrula
von Ami)hioxus untereinander zusammenhängen
zu sehen. Doch blieben solche Angaben verein-
zelt. Was die Zukunft bringt, ist abzuwarten. Für
heute müssen wir uns mit der Feststellung be-
gnügen, daß für die Annahme des Tierkörpers als
„Syncytium", also als ein Konglomerat von un-
vollständig getrennten Zellen, manche Andeutungen
vorliegen , aber selbst nur für einen Wahr-
scheiniichkeitsbeweis genügendes Material nicht
vorhanden ist.
Über den gegenwärtigen Stand der Lehre von der Kurzsichtigkeit.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. med. Max Weinhold.
Ein theoretisches Kapitel aus der Medizin, wie
das in der Überschrift genannte, in einer verbreiteten
naturwissenschaftlichen Zeitschrift zu besprechen
dürfte sich damit rechtfertigen lassen, daß erstens
die Medizin als Wissenschaft nichts anderes als ein
Zweig der Naturwissenschaften ist, insofern als sie,
ein Seitenstück zur Biologie oder Physiologie, den
Einfluß abnormer Lebensbedingungen auf Menschen
und Tiere und deren Reaktion auf diese abnormen
Lebensbedingungen nach rein naturwissenschaft-
lichen Grundsätzen untersucht. Zweitens dürfte
die außerordentliche praktische Wichtigkeit des
genannten Gegenstandes seine Besprechung an
dieser Stelle nicht unangebracht erscheinen lassen.
Kurzsichtig nennt man bekanntlich ein Auge,
das in seiner Ruhelage nur mehr oder minder
nahe gelegene Gegenstände deutlich zu erkennen
vermag, während alle ferneren Dinge undeutlich
und verschwommen gesehen werden. Das kurz-
sichtige Auge vermag nur divergente Lichtstrahlen
auf seiner Netzhaut zu vereinigen, während parallel
aus der Unendlichkeit kommende Strahlen sich
vor der Netzhaut schneiden , die Netzhaut also
hinter dem Brennpunkte des aus Hornhaut, Kammer-
wasser, Linse und Glaskörper gebildeten optischen
Systems liegt. Beim normalen Auge dagegen liegt
dieser Brennpunkt in der Ebene der Netzhaut,
parallel aus der Unendlichkeit kommende Strahlen
werden auf ihr zum Bilde vereinigt. Wir sehen
also: die Kurzsichtigkeit ist bedingt durch das
Mißverhältnis zwischen Brechkraft des optischen
S3'stems und Abstand der Netzhaut von demselben;
sie ist nicht an absolute Zahlenwerte gebunden,
sondern kann durch zu große Brechkraft des Auges
oder durch zu großen Abstand der Netzhaut von
der Linse bedingt sein. Die zu große Brechkraft
kann wieder ihre Ursache haben entweder in zu
starker Krümmung der brechenden Medien: Horn-
haut und Linse, oder aber in zu hohem Brechungs-
index von Hornhaut plus Kammerwasser oder Linse
oder in zu geringem Brechungsindex des als Zer-
streuungslinse wirkenden Glaskörpers. Die zu
starke Krümmung der Hornhaut z. B. kann ange-
boren oder erworben vorkommen, bildet aber nur
sehr selten die Ursache der Kurzsichtigkeit. Auf
Veränderung des Brechungsindex beruht beispiels-
weise die gelegentlich als Vorbote der Starbildung
auftretende Kurzsichtigkeit, aber auch dies sind
nur seltene Fälle. Die weitaus häufigsten sind be-
dingt durch zu große Entfernung der Netzhaut von
der Linse, verursacht durch Verlängerung des Aug-
apfels in seinen hinteren Partien. Diese Ver-
längerung muß ein erworbener Zustand sein, da
bei Neugeborenen fast gar keine Kurzsichtigkeit
vorkommt, mit zunehmendem Alter aber dieselbe
an Häufigkeit und Stärke immer mehr zunimmt.
Was ist nun die Ursache dieser Verlängerung, mit
anderen Worten : Wodurch entsteht Kurzsichtigkeit ?
Jedermann weiß : durch Nahearbeit. Bei den sog.
wilden Völkern ist die Kurzsichtigkeit unbekannt;
je höher ein Volk in seiner geistigen Entwicklung
steht, desto häufiger ist diese Krankheit, am
häufigsten bekanntlich in Deutschland und be-
sonders unter den gelehrten Berufen, deren An-
gehörige die meiste Zeit ihres Lebens mit Lesen
und Schreiben verbringen. Daß die Nahearbeit
die Kurzsichtigkeit hervorruft, oder mindestens
steigert, ist eine so allgemeine Erfahrung, daß
darüber nicht weiter verhandelt zu werden braucht,
aber die Frage, wodurch die Nahearbeit schäd-
lich wirkt, ist noch heute nicht endgültig ent-
schieden.
Es lag nahe, die Akkommodation als das schäd-
liche Moment anzusehen. Will ein normales Auge
in der Nähe deutlich sehen, so bewirkt es eine
stärkere Krümmung der Kristallinse, wie Helm-
holtz zuerst einwandfrei nachgewiesen hat, dadurch,
daß es den sog. Musculus ciliaris sich zusammen-
ziehen läßt. Dieser bewirkt seinerseits eine Er-
schlaffung des Strahlenbändchens (Zonula Zinnii),
an dem die Linse aufgehängt ist. Dieses Strahlen-
bändchen ist in der Ruhelage straff gespannt und
hält so die Kristallinse, die ein natürliches Be-
streben hat, sich der Kugelform zu nähern, in
abgeplatteter Linsenform. Wird durch Zusammen-
ziehung des Ziliarmuskels das Strahlenbändchen
erschlafft, so kann die Linse ihrem Bestreben nach-
geben und nähert sich mehr der Kugelform, die
Krümmungsradien der Vorder- und Hinterfläche
werden kleiner, die brechende Kraft nimmt zu ;
die von einem nahe gelegenen Punkte divergent
ausgehenden Strahlen werden durch die Zunahme
der Linse an Brechkraft jetzt ebenso auf der Netz-
haut vereinigt, wie vorher die parallel aus der
Unendlichkeit kommenden. Dieser als Akkommo-
dation bekannte Vorgang ist nun bei der Nahe-
N. F. III. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
823
arbeit dauernd vorhanden. Da der ZiHarmuskel
sich im ganzen Umkreis an der Aderhaut ansetzt,
die den Augapfeünhalt umspannt, etwa wie das
Netzwerk den Luftballon, so glaubte man, daß bei
der Zusammenziehung des Ziliarmuskels und der
dadurch bewirkten .Spannung der Aderhaut der
Druck im Augeninnern steige und somit eine Aus-
dehnung des Augapfels nach hinten verursachen
könne.
Zunächst ist es schon unwahrscheinlich, daß
die normale physiologische Tätigkeit eines Or-
ganes dieses schädigen sollte; weiterhin ist aber
jetzt einwandfrei nachgewiesen worden, daß bei
der reinen Akommodationstätigkeit keine Druck-
steigerung im Auge stattfindet. Mit der Akkommo-
dation ist nun unlösbar die Konvergenz verbunden.
Wenn das betrachtete Objekt dem Gesicht immer
mehr genähert wird, müssen die Augen immer
mehr nach der Nase zugedreht, die ursprünglich
parallelen Blicklinien immer mehr konvergent ge-
macht werden; die Konvergenz ist also bei der
Nahearbeit dauernd vorhanden, die Augenmuskeln,
die die Bewegung des Augapfels hervorbringen,
sind dauernd in Tätigkeit. Diese sind aber so
angeordnet, daß sie, in der Tiefe der Augenhöhle
entspringend, nach vorn verlaufen und den Aug-
apfel z. T. umgreifen, auf ihn aufgerollt sind. Folg-
lich sind sie, wenigstens mitder aufgerollten Strecke,
sehr wohl imstande, bei ihrer Kontraktion einen
Druck auf den Augapfel auszuüben, und da sie
ihn von oben und unten, von rechts und links
umfassen, wird der Augapfel nur in der Richtung
von vorn nach hinten nachgeben und sich aus-
dehnen können. Besondere Abweichungen des
Schädelbaucs und dadurch veränderte Lagebe-
ziehungen der Muskeln zu dem Auge sollen diese
Druckerhöhungen besonders leicht hervorrufen und
dadurch besonders zur Entwicklung von Kurz-
sichtigkeit führen können. Der Druck der Muskeln
auf die das Auge versorgenden Blutgefäße soll
ferner die Blutzufuhr stören und dadurch den
Augapfel in seinem hinteren Teile schädigen und
in seiner Widerstandsfähigkeit herabsetzen. Die
Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen,
aber haben jedenfalls vieles für sich. Daß eine
Dehnung des Augapfels vorliegt, dürfte wohl heute
nicht mehr bezweifelt werden, nachdem man die
mit dem .'\ugenspiegel bei Kurzsichtigkeit im
Augenhintergrunde erkennbaren Veränderungen
nicht mehr wie früher als entzündliche, sondern
als rein mechanische, durch Dehnung und Zerrung
verursachte hat deuten lernen. Mögen nun aber
die angeführten Ursachen für die Drucksteigerung
im Auge und die dadurch bedingte Dehnung des
Auges die einzigen sein oder nicht, sicher ist, daß
noch eine individuelle Dispostion zur Kurzsichtig-
keit hinzukommen muß. Denn viele Leute, aber
durchaus nicht alle, die sich dauernd mit Nahe-
arbeit beschäftigen, werden kurzsichtig.
Die oben angeführten Anomalien des Schädel-
baues würden eine solche Disposition darstellen,
wenn sie bei allen Kurzsichtigen und nur bei
diesen vorkämen ; das ist aber wohl nicht aus-
schließlich der Fall. Daß noch andere Verhält-
nisse disponierend mitwirken müssen, dafür spricht,
außer der ausgesprochenen Erblichkeit der Kurz-
sichtigkeit, folgender Umstand : Vergleicht man
gut präparierte kurzsichtige Augen mit normalen,
so erscheint auf dem Durchschnitt der hintere
Teil der den Augeninhalt umschließenden Leder-
haut gedehnt, wie aufgeblasen, und verdünnt gegen-
über dem normalen. Daß mit der Dehnung eine
Verdünnung Hand in Hand gehen muß, ist natür-
lich; aber rechnerische Vergleiche haben ergeben,
daß die Verdünnung bedeutend größer ist, als der
Ausdehnung entsprechen würde , mit anderen
Worten: würde ein normales Auge ebensoweit
ausgedehnt, so würde die Lederhaut doch nicht
so hochgradig verdünnt werden. Also muß wohl
schon, ehe der Dehnungsprozeß einsetzte, eine ab-
norme Dünnheit der hinteren Augenwand be-
standen haben. Die Richtigkeit dieser Theorie
wird sich natürlich kaum beweisen lassen, da es
nicht möglich ist, am lebenden Menschen die Dicke
der Lederhaut zu messen und vergleichend fest-
zustellen, ob etwa Augen mit im hinteren Teile
abnorm dünnen Lederhäuten vorkommen und dann
im Laufe der Zeit allmählich kurzsichtig werden.
Man hat versucht, zwei verschiedene Arten von
Kurzsichtigkeit aufzustellen: die gewöhnliche leichte
bis mittelschwere Form, durch Nahearbeit bedingt,
und die schwere, deletäre F~orm, die gelegentlich
selbst bei Personen auftritt, die sich nie in ihrem
Leben mit Lesen oder Schreiben beschäftigen, und
die zu ganz kolossalen Dehnungen und Verun-
staltungen des Augapfels führen kann. Ob diese
Unterscheidung gerechtfertigt ist, wird sich nicht
entscheiden lassen, ehe man alle Ursachen der
Kurzsichtigkeit kennt und zu bewerten vermag.
In Kürze noch ein paar Worte über die Be-
handlung der Kurzsichtigkeit, die ebenso wie deren
Ursachen noch heute zum Teil strittig ist. Rein
optisch ist die Frage leicht zu beantworten : durch
Vorsetzen eines entsprechenden Konkavglases wer-
den die parallel aus der LJnendlichkeit kommenden
Strahlen so divergent gemacht, als ob sie aus dem
Fernpunkt des Auges herkämen, d. h. aus dem
Punkte, auf den das Auge in der Ruhelage ein-
gestellt ist und der beim kurzsichtigen Auge in
endlicher, mehr oder minder kurzer Entfernung
liegt; mit dem Korrektionsglase ist auch das kurz-
sichtige Sehorgan imstande, die parallel ankommen-
den Strahlen auf seine Netzhaut zu vereinigen.
Dieser Weg der Behandlung ist auch von jeher
eingeschlagen worden. In den meisten Fällen er-
zielt man damit eine volle Sehschärfe, und das
Auge verhält sich nun in allen seinen Funktionen
wie ein normales. Bei der Nahearbeit macht der
korrigierte, d. h. Glas tragende. Kurzsichtige genau
dieselbe Akkommodationsanstrengung wie der
Normalsichtige, und da mit der Akkommodation
die Konvergenz unlösbar verbunden ist, ist jetzt
zwischen beiden Funktionen das normale Ver-
hältnis wieder hergestellt. Dies Verhältnis ist ge-
824
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5:
stört, wenn, wie es vielfach beliebt wird, der Kurz-
sichtige in der Nähe ohne Glas arbeitet, denn
dabei muß er einen gewissen Betrag von Kon-
vergenz aufbringen, oline daß er zu akkommo-
dieren braucht, weil sein Auge schon für die
Nähe eingestellt ist; und dieses Mißverhältnis
zwischen Akkommodation und Konvergenz ist ge-
eignet, allerhand Störungen hervorzurufen, be-
sonders Divergenzschielen. Im Alter, wo der
Normalsichtige für die Nahearbeit sich eines Kon-
vexglases bedienen muß,' da ihm das Vermögen
der Akkommodation allmählich verloren gegangen
ist, hat der korrigierte Kurzsichtige das einfache
Hilfsmittel, sein Konkavglas abzusetzen, aber in
jüngeren Jahren empfiehlt es sich, das Glas dauernd
zu tragen. Die oft behauptete Schädlichkeit des
Tragens von Konkavgläsern hat der kritischen
Statistik nicht standhalten können; im Gegenteil
hat sich gezeigt, daß die .'\ugen, die ständig und
sowohl für die Ferne als für die Nähe das gleiche
vollkorrigierende Glas getragen haben, durchschnitt-
lich die geringste Zunahme der Kurzsichtigkeit
aufzuweisen haben, während bei Vollkorrektion für
die P'erne und Unterkorrektion (d. h. Tragen eines
schwächeren oder gar keines Glases) für die Nähe
die Kurzsichtigkeit durchschnittlich stärker zu-
nimmt und bei Mangel jeglicher Korrektion für
Ferne und Nähe am meisten steigt. Daß das
Tragen zu starker Konkavgläser nicht schadet, be-
weisen die zahlreichen Fälle, wo Normalsichtige
im Glauben, kurzsichtig zu sein, Konkavgläser,
oder Kurzsichtige viel zu starke Konkavgläser
jahrelang trugen, ohne irgendwelche Beschwerden
und ohne daß ircrend ein Schaden dadurch ang-e-
richtet wurde. Theoretisch ist also die ständige
und volle Korrektion der Kurzsichtigkeit durch
Konkavgläser für Ferne und Näiie zu fordern.
Praktisch ist diese Forderung bei jungen Individuen
wohl auch immer durchzuführen. Bei älteren
Patienten mit höherer Kurzsichtigkeit allerdings
erlebt man öfters, daß die Vollkorrektion nicht
vertragen wird, sondern Kopfschmerzen und son-
stige Beschwerden macht. Daraus ist aber nicht
der Schluß zu ziehen, daß die Vollkorrektion an
sich schädlich ist, sondern daß sie bereits in der
Jugend einsetzen muß, zumal da sie wenigstens
mit Wahrscheinlichkeit eine Steigerung der Kurz-
sichtigkeit hintanzuhalten imstande ist.
Zum Schlüsse sei noch erwähnt, daß die bei
höchstgradiger Kurzsichtigkeit angewandte Opera-
tion darin besteht, daß man die an und für sich
normale Linse aus dem Auge entfernt, dein op-
tischen Systeme also einen Teil seines Brechungs-
vermögens nimmt, um dadurch das Mißverhältnis
zwischen Brechungskraft des optischen Systems
und Länge des Augapfels auf Kosten der ersteren
wieder der Norm zu nähern. Fehlt die Linse, so
werden die das Auge treffenden Strahlen durch
das jetzt nur noch aus Hornhaut und Glaskörper
bestehende optische System viel schwächer kon-
vergent gemacht, so daß sie sich nunmehr wieder
auf der durch die Dehnung des Augapfels weit
nach hinten verlagerten Netzhaut schneiden. Das
Akkommodationsvermögen für die Nähe geht dabei
allerdings verloren, aber der ständige Gebrauch
der starken und daher sehr schweren, lästigen
Konkavgläser, die oft überhaupt nicht vertragen
werden, wird damit überflüssig.
Kleinere Mitteilungen.
Zurückziehung einer Ameisenkolonie durch
den Mutterstaat. — Am Sonntag, den 8. Mai
il. J., einem herrlichen Frühlingstage, beobachtete
ich auf dem Kugelfang des verlassenen Militär-
Kchießstandes am Südabhange des Harrl's bei
Bückeburg ein auffälliges Treiben von Ameisen.
Am oberen Rande des Kugelfanges, über wel-
chen der Länge nach ein vielbetretener Pfad zu
einem beliebten Aussichtspunkte führt, befand sich
unter zwei '^4 "^ voneinander entfernten, etwa
40jährigen Fichten ein nur unterirdischer
Bau einer Ameisenart, die der bekannten roten
Waldameise Formica rufa so ähnlich erschien, daß
ich nicht imstande war, zu entscheiden, ob die
den Bau bewohnende Ameise der genannten Art
angehörte, wogegen zu sprechen schien, daß ein
Oberbau aus Tannennadeln, kleinen Holz- und
Harzteilchen usw. dem Neste ganz fehlte, das gut
bevölkert zu sein schien.
Am genannten Tage sah ich zunächst, wie ein
Arbeiter eine Ameise in der Weise trug, daß sich
beide von vorne mit den Kiefern verbissen hatten.
Die getragene Ameise krümmte ihren Körper ring-
förmig zusammen, so daß ihr Hinterleib unter den
mächtigen Kopf des Trägers zu liegen kam. In
dieser Haltung trug der Träger die gleichgroße
getragene Ameise ohne merkliche Anstren-
gung.
Ich glaubte zunächst, daß es sich um einen
Samariterdienst handle, und daß der Träger eine
kranke Ameise seiner Art zum Neste zurücktrage.
Als ich den Träger aufnahm, ließ er nach i bis
2 Sekunden seine Last los. Gegen Erwarten sah
ich nun, daß die bisher getragene Ameise ohne
jedes Zeichen von Krankheit oder Schwäche eiligst
davonlief. Jetzt bemerkte ich auch, daß gleich-
zeitig Dutzende von Trägern tätig waren, andere
Ameisen, die sie in gleicher Weise gefaßt hatten,
fortzutragen und zwar nicht nach dem beschrie-
benen Bau hin, sondern von demselben fort,
alle quer über den meterbreiten Pfad nach der
anderen Seite des Kugelfanges in eine dichte
Tannenschonung hinein, die durch Brombeergestrüpp
und am Rande vorgelagertes Gras schwer er-
kennen ließ, wohin der Weg der Träger führte.
Weiter bemerkte ich, daß die Träger mit ihret
Last aus den Ausgängen des unterirdischen Nestes
unter den beiden älteren Rottannen hervorkamen.
N. F. III. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
825
Diese Ausgänge waren von Ameisen dicht um-
lagert, so daß der Bau wohlbevölkert erschien.
Die Zahl der an diesem Nachmittage in etwa
2^2 Stunde fortgetragenen Ameisen schätzte ich
auf 150 bis 200. In der folgenden Nacht und am
anderen Morgen regnete es bis gegen 10 Uhr,
zwischen 11 und 12 und am Nachmittage um 4 Uhr
war ich wieder am Bau und sah dasselbe Treiben,
wie am Tage vorher, wenn auch jetzt viel weniger
lebhaft.
Hiernach war es naheliegend, daß es sich bei
dem beobachteten Vorgang einfach um die Ver-
legung des Nestes handelte, zumal die alte Lage
wegen des unmittelbar am Bau vorbeiführenden,
vielbetretenen Pfades offenbar ungünstig war, und
ich suchte deswegen in der dichten Schonung den
Neubau ausfindig zu machen, was mir jedoch an
dem betreffenden Tage nicht mehr gelang. Da-
gegen bot der folgende Tag eine neue Über-
raschung. Ich sah, daß die getragenen Ameisen
nicht etwa nach einem neuen Bau gleicher Art
geschleppt wurden, sondern nach einem etwa
13 m vom alten Nest entfernten, recht stattlichen
Bau der roten Waldameise, der als solcher durch
seinen mächtigen Oberbau alsbald kenntlich war,
und offenbar schon ein Alter von mehreren Jahren
aufzuweisen hat, was auch durch Zeugenaussage
bestätigt wurde. Am gleichen Tage konnte ich
auch noch feststellen , daß Dutzende von
Trägern mit ihrer Last bei diesem Baue
eintrafen.
Vom 8. bis 20. Mai war ich mit Ausnahme
eines Tages täglich bei den Bauten. Dasselbe
Treiben dauerte die ganze Zeit hindurch fort, und
wenn auch an einigen Tagen nur einzelne Ameisen
getragen wurden, so fanden doch an 2 oder 3 be-
sonders schönen Tagen ebenso massenhafte Ver-
schleppungen statt, als am ersten Beobachtungs-
tage. Schöne, warme Sonnentage machten sich
übrigens nicht nur dadurch geltend, daß die Ver-
schleppungen weit zahlreicher und das ganze
Treiben an den Bauten viel lebendiger war, sondern
es zeigte sich auch sehr auffällig eine gesteigerte
Sinnestätigkeit der einzelnen Ameisen in der Weise,
daß ich mich an solchen Tagen viel ruhiger und
ferner halten mußte, um das Treiben nicht zu
stören, als an weniger freundlichen Tagen.
Erst am 26. Mai konnte ich dann die Bauten
wieder besuchen und fand, daß das alte Treiben
nun aufgehört hatte; der zuerst beschriebene Bau
schien ausgeräumt und verödet zu sein.
Durch die Feststellung, daß sehr zahlreiche
Arbeiter des zuerst beschriebenen Nestes — es
muß sich dabei jedenfalls um viele Hunderte ge-
handelt haben — nach dem Bau der roten
Waldameise geschleppt wurden, war mir die
Sache sehr rätselhaft geworden, zumal ich wegen
der Verschiedenheit der Bauten annahm, es müsse
sich um verschiedene Ameisenarten handeln. Ich
hatte darum Dutzende von Trägern und Getragenen
sorgfältig getrennt aufgesammelt, um die Arten
zu bestimmen, konnte aber über dieselben zu keiner
Entscheidung kommen.
Durch freundliche Vermittelung des Herrn Dr.
v. Dalwigk in Marburg übernahm Herr Meisen-
heimer daselbst die Bestimmung. Er stellte fest,
daß Träger, wie Getragene der Species Formica
rufa angehörten, und nimmt an, daß es sich bei
den beschriebenen Vorgängen um die Zurück-
ziehung einer Kolonie seitens des Mutterstaates
gehandelt hat. Das Fehlen eines Oberbaues beim
Nest der roten Waldameise soll nach Herrn Meisen-
heimer bisweilen vorkommen und möchte wohl
durch besondere Boden- und Ortsverhältnisse ver-
anlaßt werden.
Der verlassene Bau mußte nach seinem Aus-
sehen und nach seiner zahlreichen Bevölkerung
sicher schon im Vorjahre, wenn nicht schon länger,
bestanden haben. Durch Nachfrage konnte ich
darüber nichts Sicheres feststellen.
Bei den getragenen Ameisen müßte es sich
hiernach wohl um Arbeiter gehandelt haben, die
nur Innendienst im Bau getan hatten, und die
freiwillig ihr altes Heim nicht hatten verlassen
wollen.
Besonders interessant müßte hiernach der lang-
dauernde Zusammenhang zwischen Mutter- und
Tochterstaat erscheinen.
Zum Schluß möchte ich nicht verfehlen, Herrn
Meisenheimer an dieser Stelle meinen verbind-
lichsten Dank für die übernommene Mühe und
seine freundliche Auskunft auszusprechen.
Max Ballerstedt.
Das Flugvermögen der Tiere ist wohl ge-
eignet, dem Menschen bei seinen Bemühungen,
diese Kunst ebenfalls zu erwerben, als Lernstoff
zu dienen. Haben wir doch auch das Schwimmen
den Fröschen abgeguckt! Wie A. H. K. in
Nr. 749 des „Prometheus" mitteilt, sind der Vor-
bilder in dieser Beziehung nicht wenige. Denn
etwa 62 % aller lebenden Tierarten haben das
Flugvermögen vor dem Herrn der Schöpfung vor-
aus! Und unsere große Lehrmeisterin Natur hat
viele Methoden erprobt, bis sie aus kleinen An-
fängen den vollendeten Flug entwickelte.
Auf die Arthropodenflügel, die sich als reine
Hautgebilde darstellen, geht der erwähnte Aufsatz
nicht ein. Bei den Wirbeltieren stützt sich die
Flügelbildung auf die Extremitäten und zwar speziell
auf die vorderen Gliedmaßen, nur beieiner Eidechsen-
art auf Verlängerungen der Rippen. Die ur-
sprüngliche Form ist die des „Fallschirms", eine
Einrichtung, die es dem fliehenden oder verfolgen-
den Tiere ermöglicht, sich von einem erhöhten
Standpunkte aus ungefährdet durch die Luft herab-
gleiten zu lassen, wobei der Schwanz häufig als
Steuer dient. Bei fliegenden Fischen und einer
Froschart kommt ein solcher Fallschirm durch
bedeutende Vergrößerung der Handfläche zustande,
bei den fliegenden Eidechsen und vier Säugetier-
gruppen durch eine zwischen Vorder- und Hinter-
extremität (bzw. Vorderextremität und Körper)
826
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 52
ausgespannte Flughaut. Den erhöhten Standpunkt
erreichen die Tiere durch Emporschnellen aus
dem Wasser (Fische), durch Springen (Frosch)
oder aber durch Klettern.
Daß der echte Flügel der Wirbeltiere, der das
Tier selbständig emporzuheben vermag, sich aus
dem „Fallschirm" entwickelt hat, erhellt unter
anderem auch daraus, daß die drei mit eigent-
lichem Flügel begabten Wirbeltier-Gruppen teils
das Klettervermögen beibehalten haben , teils
Anklänge daran zeigen. Es sind dies die
Fledermäuse, die Vögel und die ausgestor-
benen Pterodaklylier oder Flugsaurier. Bei den
ersteren wird der Flügel durch bedeutende
Verlängerung von 3 Fingern , bei den Pterodak-
tyliern durch extreme Vergrößerung nur des
„kleinen", als dem Körper nächstliegenden Fingers,
bei den Vögeln dagegen durch fast völlige Ver-
kümmerung der Finger und ihre Ersetzung mittels
leichterer, aber gleich leistungsfähiger Schwung-
federn hergestellt. Die Fledermäuse behalten zum
Klettern einen , die Pterodaktylier 3 Finger frei.
Aber bekanntlich besaß auch der Urvogel Archä-
opteryx noch drei wohlentwickelte Krallen an den
Flügeln, und neuerdings sind sie sogar an Jugend-
formen eines brasilianischen Vogels beobachtet
worden. Edw. Hennig.
Die Biologie unserer Wiesenpflanzen war
der (iegenstand eines Vortrages, den Prof. Dr.
R. v. Wettstein im Verein zur Verbreitung
naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien im ver-
gangenen Winter hielt, und dessen Text in dem
soeben erschienenen Jahrbuch des genannten Ver-
eins vorliegt.
Die Wiesen sind eine Formation der heimischen
Flora, an deren Anblick wir von Jugend auf ge-
wöhnt sind, und die wir deshalb für weniger inter-
essant als manche andere, seltene Formation zu
halten geneigt sind. Prüfen wir jedoch die bio-
logischen Verhältnisse unserer Wiesen genauer, so
ist es geradezu erstaunlich, welche F'ülle von An-
Anpassungen der dort lebensfähigen Pflanzen.
Andererseits müssen wir in Betracht ziehen, daß
die Wiesen eine vom Menschen geschaffene For-
mation sind, daher das Entstehen gewisser An-
passungen in einen abschätzbaren Zeitraum, vom
Beginne der Wiesenkultur nämlich angefangen,
fällt. Unter „Wiesen" sind in diesem Falle nur
jene Formationen zu verstehen, die dauernd unter
dem Einfluß des Menschen stehen, nicht nur von
ihm geschaffen, sondern auch erhalten werden.
Man darf sich nun die Sache nicht so vorstellen,
als hätte der Eingriff des Menschen die Anpas-
sungen direkt hervorgerufen; in den meisten Fällen
hat der Mensch nur insofern mitgewirkt, als er
bestimmte Lebensbedingungen schuf In der Wiesen-
formation konnten nur solche Pflanzen gedeihen,
die entweder an jene Lebensbedingungen von vorn-
herein angepaßt waren, oder aber, wenn sie aus
anderen Formationen einwanderten, die der Wiese
entsprechenden Eigentümlichkeiten annahmen. —
Die Eigenartigkeit der I^ebensbedingungen auf
der Wiese wird geschaffen durch das ein- oder
mehrmalige Mähen. — Lassen wir den Lebenslauf
einer beliebigen Wiesenpflanze an uns vorüber-
ziehen. Der Winter wird im Zustand der Vegeta-
lionsruhe überdauert, die oberirdischen vegetativen
Organe der Pflanze sind fast ganz reduziert. Jeder-
mann weiß, daß der Pflanzenwuchs der Wiesen
zur Winterszeit sehr gering ist: das ist die Periode
des I. Tiefstandes. Im Frühling treiben die Pflanzen
aus, es kommt zum i. Hochstande. Imjnni/Juli
wird dann gemäht: 2. Tiefstand. Allmählich wachsen
die Wiesenpflanzen wieder heran, es kommt zu
einem 2. Hochstande, der jedoch an Reichtum
der Formen und Höhe der Individuen hinter dem
ersten zurückbleibt. Die 2. Mahd schafft dann
den 3. Tiefstand. In manchen Gegenden kommt
es dann noch zu einem 3. Hochstand und zu einer
3. Mahd, an deren Stelle auch das Weiden des
Viehes treten kann.
Die folgende Kurve soll den geschilderten
Lebenslauf der Wiesenpflanze veranschaulichen.
I. Tiefstand
I, Hoclistand
2. Tiefstand
2. Hochstand
3. Tiefstand
1 3. Hochstand
4. Tiefstand
Winter
P'rüliline
Sommer
Herbst
Winter
regung wir erhalten. Jede einzelne Pflanzenform
stellt sich uns nicht nur als Äußerung eines höchst
komplizierten Entwicklungsprozesses, sondern auch
als Ergebnis eines ebenso merkwürdigen Anpassungs-
vorganges dar. Die Wiesenformation ist in doppelter
Hinsicht interessant. Die darin herrschenden eigen-
artigen Lebensbedingungen schufen charakteristische
Sollen nun die Wiesenpflanzen dauernd er-
halten bleiben, zur Fortpflanzung und Vermehrung
kommen, so müssen sie sich diesen abnormen
Verhältnissen anpassen, denn es ist klar, daß z. B.
eine einjährige Pflanze, die während des 2. Tief-
standes auf verlängerter Achse blüht und fruchtet,
auf einer solchen Wiese undenkbar ist. In bezug auf
N. F. m. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
827
Anpassung unterscheidet Prof. Wettstein 4 Pflanzen-
typen auf der Wiese.
Zum ersten Typus gehören jene Pflanzen, die
mit niedrigen ober- und unterirdischen
Organen ausdauern und bei günstigen Ver-
hältnissen mehrmals austreiben. Diese Pflanzen,
z. B. die Gräser, Schafgarbe, Thymian sind noch
am wenigsten angepaßt, was daraus hervorgeht,
daß sie auch in anderen Formationen gedeihen.
Der zweite Typus unterscheidet sich vom ersten
nur dadurch, daß die Pflanzen nur einmal ver-
längerte Sprosse treiben. Diese Pflanzen schützen
sich durch geringe Höhe gegen die Mahd, meist
haben sie grundständige Blätter, die während der
ganzen Vegetationszeit assimilieren. Es gibt nun
Pflanzen dieses Typus, die während eines Hoch-
standes sich an der Wiesenbildung beteiligen und
solche, die einen Tiefstand benutzen.
Im ersten Tiefstand der Wiesen findet man
z. B. die Primula acaulis und Viola hirta, während
des folgenden ersten Hochstandes die Primula
elatior und officinalis, in der Zeit des zweiten
Tiefstandes die Eberwurz (Carlina) und Cirsium.
Den dritten Typus repräsentieren jene Pflan-
zen, die nur während einer Periode
blühen, die ganze übrige Zeit unterirdisch ver-
bringen. Hierher gehören die meisten Zwiebel-
und Knollengewächse: Leucojum, Muscari, Col-
chicum, Crocus, Cyclamen.
Der vierte Typus endlich ist der interessanteste.
„Es kommt hier zur Ausbildung paralleler Arten,
von denen je eine einer Wiesenperiode, oder von
denen eine einer VViesenperiode, die zweite den
Existenzbedingungen an einem anderen Standort
entspricht." Man nennt diese Erscheinung Saison-
Dimorphismus. Das schönste Beispiel hierfür bietet
wohl die Gattung Euphrasia (Äugentrost). Im
ersten Hochstand findet man blühende Euphrasien
mit langen Stengelgliedern, wenig Blättern und
schwacher Verzweigung. Zur Zeit des zweiten
Tiefstandes wachsen solche mit kurzen Stengel-
gliedern, starker Beblätterung und Verzweigung.
Im ersten Falle zeigt sich deutlich die Tendenz
möglichst rasch zur Entwicklung zu gelangen, um
noch vor Eintreten der Mahd zur Fortpflanzung
zu kommen.
Sehr interessant sind auch die Ausführungen
Wettstein's über die Schutzmittel der Pflanzen
gegen Tierfraß. — Die Wiesenpflanzen, die während
des ersten Tiefstandes und ersten Hochstandes
blühen , bedürfen ihrer nicht , da im Frühling das
Vieh nicht auf die Weide getrieben wird.
Anders die im Herbst blühenden Pflanzen. Ent-
weder sind sie giftig (Colchicum) oder dornig
(Carlina). Charakteristisch ist auch der Umstand,
daß die im Frühjahr blühende Ononis foetens
dornenlos ist, die spätblühende Ononis spinosa
scharfe Dornen besitzt.
Hiermit sind die Probleme, die uns die an-
scheinend so uninteressante Wiesenformation bietet,
noch keineswegs erschöpft. — Auch die Tierwelt,
vor allem die Insekten, wird sich an die mehr-
malige Mahd angepaßt haben. Wie ? ist noch völlig
unbekannt. — Dr. G. Stiasny.
Ein geophysikalisches Observatorium ist
seitens des itaUenischen Alpenvereins mit staat-
licher und privater Subvention in 4560 m Meeres-
höhe auf dem Monte Rosa errichtet worden.
Dieses neue Bergobservatorium ist nächst dem auf
dem Montblanc das höchste Europas und soll im
Sommer beständig, im Winter zeitweise von einem
Assistenten bewohnt werden, der neben den rein
meteorologischen auch andere geophysikalische
Beobachtungen anstellen wird. Auch ist die Mög-
lichkeit vorgesehen , fremde Forscher zu Studien-
zwecken vorübergehend aufzunehmen.
Elektrische Kraftlinien sind kürzlich von
M. Seddig in schöner Weise zur Darstellung
gebracht worden (Annalen der Physik, Bd. 11).
Während die Darstellung des Verlaufs der mag-
netischen Kraftlinien durch Eisenfeilspäne außer-
ordentlich leicht gelingt und einen allgemein be-
kannten Schulversuch bildet, stellten sich der
Sichtbarmachung der elektrischen Kraftlinien er-
hebliche Schwierigkeiten in den Weg, die erst
nach langem Probieren überwunden wurden. Seddig
ist schließlich durch Benutzung feiner, in Terpentinöl
suspendierter Teilchen von Glyzerin oder auch
Chininsulphat zum Ziele gelangt. Das Kraftfeld
wurde zwischen kugelförmigen oder plattenförmi-
gen Elektroden erzeugt, die mit den Belegungen
einer durch eine Influenzmaschine auf konstanter
Ladung erhaltenen Leidener Flaschenbatterie in
Verbindung standen. Außer dem regelmäßigen,
ungestörten Verlauf der Kraftlinien konnte auch
die Störung durch einen genäherten Metallklotz,
sowie die Abbiegung nach innen bzw. außen
durch zwischen die Elektroden gesetzte Ringe aus
Metall oder Hartgummi , sowie die elektrische
Schirmwirkung im ersteren Falle deutlich sichtbar
gemacht werden. Das Einbiegen bzw. Ausbiegen
der Kraftlinien bei Zwischenschaltung von Dielek-
trica höherer bzw. niedrigerer Dielektrizitäts-
konstante wurde realisiert durch Anwendung einer
Glaskugel , die das eine Mal mit Methylalkohol,
das andere Mal mit Luft gefüllt war. — Auch
geschmolzenes Paraffin mit darin suspendiertem
Holzkohlenpulver gestattete die Hervorrufung eines
schönen Kraftlinienbildes , das den Vorteil bietet
sich beim Erstarren des Paraffins von selbst zu
fixieren, während die in Terpentin erzeugten An-
ordnungen der Teilchen nur durch Hilfe der
Photographie festgehalten werden konnten. Bei
Versuchen in Luft mit auf Hartgummi aufgestreutem
Sande bildeten sich merkwürdigerweise anstatt
der Kraftlinien .die auf diesen senkrecht stehenden
Niveauliniensysteme aus, eine Erscheinung, die
Seddig nur hypothetisch durch die Wirkung
Bjerknes'scher hydrodynamischer Kräfte zu erklären
versucht. F. Kbr.
828
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 52
Himmelserscheinungen im Oktober 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist nur am AntLing
des Monats morgens für kurze Zeit sichtbar. Venus wird
als Abendstern siclitbar und kann zuletzt ^/.i Stunde lang ge-
sehen werden. Mars stellt im Löwen und kann 2 bis 2'/.,
Stunden lang vor Beginn der Dämmerung beobachtet werden.
Jupiter tritt am iS. in Opposition zur Sonne und strahlt
daher die ganze Nacht hindurch, er steht im Walfisch. Sa-
turn ist im Steinbock abends tief im S bis SVV zuletzt noch,
etwa 5 Stunden lang sichtbar.
Verfinsterungen der Jupitermonde:
4. Okt. II Uhr 57 Min. 6 Sek. M.E.Z. ab., Eintr. d. I. 'l'rab
5- >, 8 .. '9 „ 34 „ ,. ,. ,. .. "■ ..
6. „ 6 „ 25 „ 48 „ „ „ „ „ 1. „
12. „ 10 „ 54 „ 38 „ „ „ „ „ II. „
13- .1 8 „ 20 „ 40 „ „ „ „ ,, I. „
22. „ 6 „ 53 „ 39 „ „ „ Austr. „ I. „
23. „ 6 „ 53 „ 26 „ „ „ „ „ 111. „
29. „ 8 „ 48 „ 54 „ „ „ „ „ 1. „
30. „ 7 ., 47 .. n .1 " .. .. " ••■ ..
30- .. 'o " 54 .. 24 „ „ „ „ „ III. „
Algol- Minima finden statt am 19. um II ühr 8 Min.
abends, sowie am 22. um 7 Uhr 57 Min. abends.
Bücherbesprechungen.
Meyer's Grofses Konversations -Lexikon. Ein
Nachscliliigewerk des allgemeinen Wissens. 6.,
gänzlich neubearb. u. venu. Auflage. 7. Band.
Franzensbad bis Glashaus. Leipzig und Wien.
Bibliographisches Institut. 1904. — Preis geb.
10 Mk.
Der neueste (7.) Band der 6. Auflage von Meyer's
Konversations- Le.xikon reiht sich würdig den bisher
erschienenen an auch hinsichtlich der Naturhistorie,
die gebührend vertreten ist. Wir erwähnen diesbe-
züglich die gut illustrierten Artikel Gang, Geiser, Ge-
birge, Gewitter, Giftpflanzen, Gemüsepflanzen, Gehirn,
Gartenschädlinge, Früchte, Gehör, Geologische For-
mationen usw.
Geologische Karte von Preufsen und benach-
barten Bundesstaaten in I : 25000, herausgegeben
von der Königlich Preußischen Geologischen I^andes-
anstalt und Bergakademie. Lieferung 107. Blätter:
Oliva, Danzig und Weichselmünde (mit Neufahiwasser)
bearbeitet durch O. Z e i s e ; Blätter Braust und
Trutenau von W. W^olff, Blatt Käsemark von B.
Kühn und Blatt Nickelswalde von A. Jentzsch,
nebst Erläuterungen. (Vielfach haben die einzelnen
Bearbeiter auch Beiträge zu den Erläuterungen der
Nachbarblätter geliefert.)
Die 7 Blätter umfassen die Umgebung von Dan-
zig, und damit ein Stuck Meeresküste der Danziger
Bucht, die Nordwestecke des Weichseldeltas und den
östlichen Abfall des Danziger Höhenlandes aufwärts
bis 160 m Meereshöhe. Die Oberfläche besteht vor-
wiegend aus Alluvium und Diluvium ; punktförmig
tritt vielorts Miocän zutage ; spärlich und wohl nur
als Scholle das Oligocän; durch zahlreiche Bohrungen,
deren Profile genau beschrieben werden, sind die
Schichtenfolgen dieser 4 Formationen aufgeklärt und
als deren Unterlage Kreideformation nachgewiesen.
Jede einzelne dieser Formationen bot bemerkenswerte
Aufschlüsse.
Im Alluvium werden die geschichtlich nach-
weisbaren Veränderungen der Meeresküste dargestellt
teils durch Auszüge aus Geschichtsquellen und Wieder-
gabe älterer Karten, teils durch die neuesten Tiefen-
messungen, welche die über- und unterseeische .Aus-
gestaltung der 3 Mündungsdeltas erkennen lassen,
welche der Weichselstrom baute : das neueste , seit
dem künstlichen Durchstich bei Nickelswalde vom
Jahre 1895; das seit dem natürlichen Durchbruch
von 1840 bei Neufähr aufgebaute, seit 1895 lang-
samer Zerstörung anheimfallende Delta; und das
noch ältere, seit 1840 nicht mehr wachsende und
teilweise dem frischen Küstenabbruche verfallene
Delta von Weichselmünde und Neufahrvvasser, dessen
Gestaltung durch 9 Kärtchen von 1594 bis 1899
verfolgt wird.
Die Küstendünen erreichen bis 34 m Meereshöhe.
Sie bilden einen zusaminenhängenden Zug , der sich
nordostwärts als „Frische Nehrung" fortsetzt. Der
Durchstich derselben in der künstlichen Weichsel-
mündung ergab, in Verbindung mit einer Reihe von
Bohrungen, das in den Erläuterungen zu Blatt Nickels-
walde abgebildete Querprofil. Danach liegen diese
Dünen auf diagonal geschichtetem Meeressand , wel-
cher von alluvialen Süßwasserschichten unterteuft wird.
Neu für das preußische Küstenland sind die che-
mischen Analysen des Dünensandes und seiner Ein-
lagerungen, nämlich eines Alten Waldbodens, des den
letzteren unterteufenden ,,Aschgrauen Sandes", ferner
eines in den Küstendünen Ost- und W'estpreußens als
dünne Lage weitverbreiteten , auffallend grünlichen
Sandes, sowie der Fuchserde und des tief unter letz-
terer entnommenen älteren Dünensandes im Vergleich
mit frisch aufgeworfenem Meeressand.
Die ebenen, inmitten der Niederung emporragen-
den Sande, welche auf der älteren i : 100 000 teiligen
Geologischen Karte der Provinz, Blatt Danzig durch
Berendt, und (demselben folgend) auch auf Blatt
Dirschau durch Jentzsch zum altalluvialen „Haide-
sand" gestellt wurden , sind nunmehr , den neueren
Darlegungen von Jentzsch Rechnung tragend , als
jungalluviale, teilweise durch Weichselfluten eingeebnete
Dünensande erkannt und dargestellt. In der einge-
deichten eigentlichen Niederung zeigen die Karten
weite Flächen von Schlick in gesetzmäßiger Verbin-
dung mit Sand, Moorerde und Torf. Man überblickt
die tiebiete der mit je i oder mehreren, geschicht-
lich nachweisbaren Weichseldeichbrüchen verbundenen
Übersandungen, deren größte, vom Jahre 1526, bei
Schöneberg auf Blatt Käsemark liegt, und ebenso
Gebiete , in denen auf weite Erstreckungen Schlick
einen jungalluvialen , abbaufähigen Torf überlagert,
der also dort gewissermaßen den ersten Schritt zur
Kohlewerdung zeigt.
Das Alluvium der im Hochsande verteilten
Kessel, Talsohlen und Talgehänge zeigt die auch aus
anderen ( legenden des norddeutschen Flachlandes be-
kannten Typen. Taidiluvium findet sich als Talsand
und zumal als Talgrand (,,Kies") in den größeren
Tälern. Im dem größten derselben, dem der Radaune,
wurde es auf Blatt Praust in 3 Stufen gegliedert.
Es erfüllt auch jenes tote (diluviale) Tal, welches am
Nordrande des Blattes Oliva die 91 m hohe „Hoch-
N. F. III. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S29
redlauer Kämpe" von dem eigentlichen Hochlande
abtrennt, und zieht sich , in 2 Stufen gegliedert, am
Rande des Meeres 60 m hoch südwärts bis Danzig.
Zeise folgert daraus, daß am Ende der Vereisung,
während das Land westlich und südlich bereits eisfrei
war, der Weichseltal-Gletscher in der Danziger Bucht
und im Deltagebiet noch längere Zeit verharrte, und
für eine Strecke wenigstens die östliche Begrenzung
des Weichselstromes bildete. Ihre Fortsetzung nach
Westen finden diese Stufen in dem Lauenburger
Urstromtal, dessen Mangel an gleichsinnigerem Gefälle
Jentzsch und nachher Keilhack auf postglaziale Küsten-
bewegung zurückzuführen versucht haben.
Das Höhendiluvium ist nach der bis zum Jahre
1902 bei den preußischen Aufnahmen maßgebenden
Weise gegliedert und abgegrenzt, so daß alle die-
jenigen Diluvialbildungen , deren jungglaziales Alter
nicht sicher erwiesen werden konnte , einschließlich
der Vorschüttungssande der jüngsten Vereisung, dem
„Unteren Diluvium" zugerechnet wurden.
Sowohl Oberer Geschiebemergel wie Deckton
ziehen sich von großen Höhen bis zum Rande des
Weichseldeltas hinab, und ragen aus dem Alluvium
des letzteren noch in vereinzelten Inseln empor.
Unterer Geschiebemergel, dessen Vorhandensein bei
Danzig durch Zeise früher bestritten wurde, ist nun-
mehr auch dort in mehreren Aufschlüssen nachge-
wiesen. Auch haben verschiedene Bohrungen 2, 3,
4 und selbst 6 Geschiebemergelbänke getroffen.
Kiese und namentlich Sande treten in verschiedenen
Horizonten des Diluviums in großer Mächtigkeit auf,
ebenso Tonmergel. Nach Bohrungen ist das Diluvium
oft mehr als 100 m mächtig und an einer Stelle
(St. Albiecht) mit 140 m Mächtigkeit noch nicht
durchsunken ; an einer anderen Stelle (Hochkelpin)
erbohrte man sein Liegendes bei 141 m. Es um-
schließt große Schollen tertiärer und älterer diluvialer
Schichten.
An Fauna fanden sich Yoldiaton und im Süß-
wasser Sand mit Dreissenia polymorpha und Valvata
piscinalis an zwei Stellen des steilen Meeresufers von
Adlershorst bei Hochredlau, beide jedoch unter Lage-
rungsverhältnissen , über welche eine einstimmige
Deutung der Beobachter noch nicht erzielt wurde.
Unter den verhältnismäßig spärlichen (vermutlich um-
gelagerten) Knochen des Diluviums sind bemerkens-
wert die 2 einzigen bekannten Reste des Bos Pallasi
Baer, deren Fundschicht leider nicht bekannt ist.
M i o c ä n tritt in meist gestörter Lagerang als
zahlreiche, im Diluvium eingebettete Schollen punkt-
förmig in Gruben und Talgehängen zutage ; als
schmaler , wahrscheinlich anstehender Saum unter
mächtigem Diluvium am Meeresufer bei Hochredlau
und endlich in vielen Tiefbohrungen. Doch fehlt
es auch in mehreren Bohrungen, ist mithin nicht ganz
gleichartig verbreitet. Es ist kalkfrei und als Braun-
kohlenbildung entwickelt ; vorwiegend feine, z. T.
glimmerhaltige Quarzsande, ferner gröbere Quarzsande
und Kiese, sowie Bänke von Ton, Letten und gering-
mächtigen, z. Zt. völlig unbauwürdigen Braunkohlen.
Seine senkrechte Mächtigkeit schwankt von o bis
80 m. Die wirkliche Mächtigkeit ist geringer, da
die Schichtenlagerung stark gestört ist. Das Streichen
ist in den größten Aufschlüssen etwa SW — NO, aber
von diluvialen Einwirkungen so stark beeinflußt, daß
diese Richtung noch nicht als endgültig festgestellt
werden kann, da sich Aufschlüsse mit fast senkrecht
dazu liegender Streichrichtung finden. Fallen von o"
bis fast go".
Erwähnenswert ist das Vorkommen von Braun-
kohlenquarziten (Knollensteinen). Solche fanden sich
als Diluvialgeschiebe mehrorts bei Danzig, z. T. mit
herrlichen Laubblatt-Abdrücken. Ohne letztere, jedoch
mit Stengel- und Wurzelabdrücken bilden sie nester-
weise feste Bänke im Miocänsande der sogenannten
„Braunkohlenschlucht" bei Brentan und des Carls-
berges bei Oliva. Auch haben sich verkieselte Hölzer
gefunden, insbesondere ein zu Cupressinoxylon ge-
höriger, 5 m langer Stamm von 1 m Umfang. Die
Oberfläche des Miocäns schwankt bedeutend , z. B.
auf dem einen Blatte Danzig zwischen -j-45 m und
— 47 m, mithin um 92 m.
Von Interesse sind einige neue Analysen tertiärer
Schichten , durch welche insbesondere der miocäne
Quarzsand von Kladan (Blatt Braust) als hinreichend
rein zur Glas- und Porzellanfabrikation befunden
wurde , wozu er schon früher durch einen der Geo-
logen vorgeschlagen worden war.
Das Oligocän ist glaukonitisch und marin. Es
enthält feine Grünsande mit Bernstein , grobe Grün-
sande mit Haifischzähnen und Phosphoritknollen und
endlich glaukonitische Erden und Tone mit Radio-
larien, Foraminiferen, Diatomeen und Kieselschwamm-
nadeln. Da es sonst zweifellos marin ist und von
Miocän überlagert , von Senon unterteuft wird , hat
man es dem petrographisch sehr ähnlich entwickelten,
in einzelnen Ghedern zum Verwechseln gleichen
Unteroligocän des Samlandes zu parallelisieren. Seine
Tagesaufschlüsse sind die diluvialen Schollen von
Neukau und Schüddelkau ; außerdem ist es mehrfach
erbohrt und durchbohrt, aber hier nirgends mehr als
12m mächtig.
Die Kreide formation ist vielorts unmittelbar
unter Diluvium , Miocän oder Oligocän erbohrt und
mit 40 m Mächtigkeit nicht durchsunken. Alle ihre
Schichten bestehen aus feinem Quarzsand mit oft
höchst zahlreichen Glaukonitkörnchen, und sind
durchweg mit Kreidestaub durchmischt , welcher in
einzelnen Bänken sich zu kreideähnlichen Gesteinen
anhäuft, in denen Knollen von Feuerstein und harter
Kreide vorkommen. Die wenigen Versteinerungen
entsprechen den petrographisch gleichen , als Mucro-
natenstufe nachgewiesenen Kreideschichten von
Marienburg und Königsberg. Es sind Foraminiferen,
Belemniten, Echiniden, Austern usw., welche aber
meist nur in Bruchstücken vorliegen. Bemerkenswert
sind die artesischen Quellen, welche in der
Niederung fast in jedem Dorfe bei 80 — 100 m Tiefe
unter dem Meere in der Kreide erbohrt wurden. Sie
sind für die Trinkwasserversorgung des Weichseldeltas
von hoher Bedeutung.
RüdorfT, Grundriß der Chemie. Ausgabe B.
13. Auflage. Berlin 1904, H. W. Müller. Mit
8-,o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 52
56 Holzschnitten und i Spektraltafel. 289 Seiten.
■ — Preis geb. 4,50 Mk.
Nachdem die 12. Auflage des beliebten Rüdorff-
scben Leitfadens unter der Redaktion des inzwischen
verstorbenen Dr. Lüpke nach Inhalt und Umfang über
den Rahmen des Schulunterrichts hinausgewachsen
war, hat sich die Verlagshandlung entschlossen, neben
dieser als Ausgabe A geltenden , ausführlichen Be-
arbeitung ein kürzeres, dem Unterricht wieder ange-
paßtes Lehrbuch als Ausgabe B der Srhule zur Ver-
fügung zu stellen. Als Herausgeber dieser Neuauf-
lage wurde Prof. Dr. Arthur Krause gewonnen, der
sich seiner Aufgabe mit groijer LTmsicht und Sorgfalt
entledigt hat, die durchweg den erfahrenen Pädagogen
erkennen läßt. In der Anordnung sich wieder mehr
dem ursprünglichen, Rüdorft''schen Grundriß an-
schließend , hat der Herausgeber innerhalb des Rah-
mens elementarer Darstellung die Grundlehren der
physikalischen Chemie zur Geltung gebracht und
insbesondere auf die thermochemischen Tatsachen
mit Nachdruck hingewiesen. In reichem Maße wird
auch die chemische Technologie behandelt und die
Fabrikationsweise der wichtigsten Erzeugnisse derselben
wird an der Hand sehr instruktiver und deutlicher
Abbildungen veranschaulicht. Den Abschluß des un-
organischen Teils bilden eine Zusammenstellung von
175 stöchiometrischen Aufgaben und einige Zahlen-
tabellen. Erst dahinter beginnt der organische Teil,
da der unorganische mit Rücksicht auf die Beschrän-
kung der Lehrpläne mancher Schulen selbständig
käuflich bleiben sollte. Der organische Teil ist von
Prof. Krause von Grund aus neu bearbeitet worden.
Es wird hier auf einigen sechzig .Seiten eine gedrun-
gene Übersicht über das ganze Gebiet gegeben, die
sehr wohl geeignet erscheint, im Sinne des Verf. das
Verständnis des Zusammenhangs der organischen
Stoffe unter Verzicht auf die Darbietung allzuvieler
und leicht verwirrender Einzelheiten zu fördern. Mit
Recht wird auch in diesem Teil bei den praktisch
wichtigen organischen Verbindungen länger verweilt.
F. Kbr.
Max Verworn, Beiträge zur F' rage des natur-
wissenschaftlichen LInterrichts an den
höheren Schulen. Jena 1904. G. Fischer.
89 Seiten.
Die Schrift ist eine Sammlung selbständiger und
voneinander unabhängiger Meinungsäußerungen be-
kannter Hochschullehrer und soll neben einer den
mathematisch-physikalischen Unterricht im Auge haben-
den Schrift von Klein und Riecke das Material für
eine auf den 22. September anberaumte Sitzung der
diesjährigen Naturforscherversammlung auf etwas brei-
terer Grundlage entwickeln. Da an der Festsetzung
der neuen, preußischen Lehrpläne nur die Vertreter
der Schulen, nicht aber die der Hochschulen beteiligt
gewesen sind, so ist es gewiß berechtigt und erwünscht,
daß auch diejenigen, denen die Schule das Studenten-
material vorbildet, ihre Stimme hören lassen und auf
gewisse Mängel der heutigen Schulbildung hinweisen,
die sich eben erst auf der Universität fühlbar machen.
Indem wir hinsichtlich des näheren Inhalts auf die
Schrift selbst verweisen müssen , sei noch bemerkt,
daß Prof. Verworn den naturwissenschaftlichen
LTnterricht im allgemeinen (S. i — 15) behandelt,
Hertwig betrachtet alsdann denselben vom Stand-
l)unkt des Zoologen (S. 16 — 30), Detmer von dem
des Botanikers (S. 31 — 46), J. Wagner läßt sich
über den chemischen Unterricht (S. 47 — 69), VV a 1 1 h e r
über die Geologie (S. 70 — 77) und H. Wagner über
die Erdkunde im Schulunterricht (S. 78 — 89) ver-
nehmen. Wir zweifeln nicht, daß diese gewichtigen,
auf eigene Erfahrung gestützten Stimmen die gebüh-
rende Beachtung sowohl in den Kreisen der Schul-
männer , als auch namentlich an den maßgebenden
Stellen finden werden. F. Kbr.
Literatur.
Bertelsmann, Chcm. Dr. : Der Stickstoff der Steinkohle. [Aus:
„Sammig. ehem. u. cheraisch-techn. Vortr."] {86 S.) Lex. 8".
Stuttgart '04, F. Enke. — 2,40 Mk.
Bloch, Assist. -Arzt Bruno: Die geschichtlichen Grundlagen
der Embryologie bis auf Harvey. (120 S.) Leipzig '04,
W. Engelmann in Komm. — 6 Mk.
Guenther, Priv.-Doz. Dr. Konr. : Der Darwinismus und die
Probleme des Lebens. Zugleich e. Einführg. in das ein-
heim. Tierleben. 2. Aufl. (XV, 460 S.) gr. 8". Freiburg
i. B. '04, F. E. Fehsenfeid, — 5 Mk. ; geb. 6 Mk.
Hamberg, H, E. : Die Sommernachtfröste in .Schweden 1S71
bis 1900. [Aus: ,,Svcnska Vctenskaps-Akademiens hand-
lingar."] (94 S. m. 4 Taf.) 4". Stockholm '04. Berlin,
R. Fricdländer & Sohn in Komm. — 6,90 Mk.
Hollös, Oberrealsch. - Prof. Dr. Ladisl. : Die Gasteromyceten
Ungarns. Mit 31 zum Tl. kolor. Taf. nach Orig.-Zeichngn.
u. Photographien. Deutsche Übersetzg. (278 S.) 42, 5X
31 cm. Leipzig '04, O. Weigel in Komm. — Geb. 80 Mk.
Briefkasten.
Herrn E. M. in Sarstedt. — Frage i: Welches Werk
gibt eine praktische Anleitung zur Planktonforschung? — Das
Plankton oder die Gesamtheit der frei im Wasser schwe-
benden Organismen bildet mit den beweglicheren, freischwim-
menden Tieren, dem ,,Nekton", zusammen eine Biokönose
oder Lebensgemeinschaft. Man darf wohl sagen , daß von
allen Lebensgemeinschaften gerade diese in ihren Wechsel-
beziehungen am eingehendsten erforscht ist. Zahlreiche For-
scher haben sich in neuester Zeit dem gleichsam neu er-
schlossenen Forschungsgebiete zugewendet und die Methodik
hat von Jahr zu Jahr Fortschritte gemacht. Es ist klar, daß
bei derartigen Fortschritten jede praktische Anleitung in kürze-
ster Zeit veralten müßte. Ein einzelnes Werk, welches den
augenblicklichen Stand der Plankton forschung
erschöpfend darlegt, dürfte schon deshalb kaum existieren.
Wollen Sie sich der Planktonforschung zuwenden, so müssen
Sie mehrere Abhandlungen studieren. Ich hebe deren vier
besonders hervor. Durch sie werden Sie auf andere, z. T.
nicht weniger wichtige Arbeiten hingewiesen; I. V. Henscn,
Über die Bestimmung des Planktons in 5. Ber. Komm. wiss.
Unters, d. deutsch. Meere, 1887, S. i IT. 2. V. Hensen,
Methodik, in Ergebn. der Plankton-Expedition, Bd. 1 B, Kiel
1895. 3. C. Apstcin, Das Süßwasserplankton, Kiel 1896.
4. II. Loh mann, Neue Untersuchungen über den Reichtum
des Meeres an Plankton, in Wissenschaftl. Meeresunters., N.
F. Abt. Kiel, Bd. 7, 1903, S. i ff. — Unterscheidet man als
,, Auftrieb" oder ,,Pleuston" die Gesamtheit derjenigen Orga-
nismen, welche unmittelbar an der Oberfläche des Wassers
leben und oft mehr oder weniger aus dem Wasser vorragen,
welche also gleichsam treiben (F. Dahl, Kurze Anleitung
zum wissenschaftl. Sammeln, Jena 1904, S. 18), so bleibt der
Name Plankton dem in verschiedenen Tiefen lebenden sog.
zonarischen Plankton und gerade auf dieses zonarischc Plankton
beziehen sich die Methoden der Planktonfischerei. Der Auf-
trieb im engeren Sinne wird beim Planktonfang meist nicht
N. F. III. Nr. -.i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
831
gelangen, weil er von dem treibenden Scliiffe fortgeschoben
wird, wenn man auf der Leeseite fängt. — Man ist jetzt wohl
:illgemein einig darin, daß zur Feststellung des Stoffwechsels
im Wasser quantitative Untersuchungen gemacht werden
müssen. Während aber die früheren Forscher Schätzungen
iür ausreichend hielten (E. H aecke 1 , Plankton-Studien, Jena
1890), dürften die neueren ohne Ausnahme eine exaktere
Methode, welche Messungen, Zählungen und Wägungen ver-
langt, für unbedingt erforderlich halten. — Der Fang wird in
verschiedener Weise gewonnen: Hensen verwendete das
sogenannte Planktonnetz, liel3 dasselbe bis zu einer ge-
messenen Tiefe hinab, um es dann senkrecht aufzuziehen.
Der Inhalt an Plankton stammte dann aus der filtrierten
Wassersäule von gemessener Größe. Diese Methode, welche
sehr bequem ist, gilt nach dem neuesten Stande der Forschung,
für bestimmte Zwecke auch jetzt noch als ausreichend , vor-
ausgesetzt, daß der Netzstoff nicht geschrumpft und nicht ver-
stopft ist und daß das zu untersuchende Wasser klar und ver-
hältnismäßig arm an Plankton ist (CD. Marsli in Wisconsin
Geol. and Nat. Hist. Survey, Bull. 12, 1903). P'reilich be-
kommt man bei dieser Fangmethode nur das sog. mesoskopi-
sche Plankton (F. Schutt, Analytische Plankton - Studien,
Kiel 1892, S. 2) vollständig. Für das Mikro[ilankton und für
planktonreiche Gewässer genügt die Methode nicht, wie zuerst
C. A. Kofoid nachgewiesen hat (Science, N. S. Vol. 6,
1897, p. 829 ff.). Deshalb benutzt man jetzt vielfach Pumpe
und Schlauch. Ein von Hensen gewonnenes Resultat,
daß das Plankton ganz außerordentlich gleichmäßig verteilt
ist, hat sich bei neuerer Forschung immer mehr bestätigt.
Frülier hatte man sich fälschlich durch Beobachtungen am
Auftrieb oder Pleuston dazu verleiten lassen, eine ebenso un-
gleichmäßige Verteilung auch beim Plankton anzunehmen. Die
gleichmäßige Verteilung läßt für das mikroskopische Plank-
ton eine weitere bequeme Methode als zulässig erscheinen.
Es dürfte nämlich vielfach schon der Inhalt einer Mey er-
sehen Flasche oder eines Krümmel'schen Schöpf-
apparats zur Bestimmung des Mikroplanktons ausreichen
(Lo hmann a. a. O. S. 22). — Was die Behandlung des
Fanges anbetrifft, so werden, um das Wichtigste zuerst zu
nennen, Zählungen der einzelnen Formen mittels des sog.
Zählmikroskops (Hensen, Methodik S. 145) ausgeführt.
Für verhältnismäßig kleine Formen ist oft die Zählung eines
kleinen Teiles des Fanges hinreichend. Man nimmt dann mit
einer Stempelpipette (Hensen, Methodik S. 144) einen
gemessenen Bruchteil zum Zählen heraus. — Ferner bestimmt
man das Volumen des Fanges, indem man die Masse ent-
weder in einem Meßzylinder sich absetzen läßt, oder indem
man zur schnelleren und vollkommeneren Erreichung dieses
Zweckes nach C. J. Cori's Vorgang (Zeitschrift für Mikro-
skopie Bd. 12, 1896, S. 303) sich einer Zentrifuge
bedient, oder indem man erst die Planktonmasse in der sie
aufnehmenden Konservierungsflüssigkeit mißt, darauf die
Flüssigkeit abfiltriert und mißt und die Differenz feststellt
(Verdrängungsmethode, Hensen, Methodik, S. 137), oder
endlich indem man das Volumen der einzelnen Organismen
berechnet und den Wert mit der im Fange gefundenen Zahl
multipliziert (Loh mann a. a. O. S. 71). — Für das Ver-
ständnis des Stoffwechsels ist es außerdem sehr wichtig, die
chemische Zusammensetzung einzelner Planktonorganismen fest-
zustellen, wie dies K. Brandt getan kat (Wissensch. Mecres-
unters. N. F. Abt. Kiel, Bd. 3, 1898, S. 45 ff.). Man erkennt
dann den Nährwert der einzelnen Formen. — Ebenso wichtig
ist es, den Vermehrungskoeffizienten der Formen zu bestimmen,
wie dies für einige Peridineen und Diatomeen von Hensen,
.\p stein und G.Karsten geschehen ist (Wissensch. Meeres-
unters., N. F. Kiel, Bd. 2, 1897, S. 82 ff. und Bd. 3, 1898,
S. 6 ff.). — Bei den bis jetzt genannten Methoden bleiben die
allerkleinsten Planktonorganismen, die Bakterien, unberück-
sichtigt. Ihre Zahl läßt sich nur auf indirektem Wege finden.
So fand B. Fischer (Ergebn. d. Plankton-K.\p., Bd. IV g),
daß an Bakterien in einem Liter Ozeanwasser 781; 000 Individuen
leben. Loh mann fand in der gleichen Wassermenge nach
seiner Methode 2500 Meeresorganismen und das Hensen-
sche Planktonnetz liefert 120. Man sieht also, daß die Bak-
terien der Zahl nach ganz außerordentlich überwiegen und
gerade ihnen kommt nach K. Brandt's Untersuchungen zum
Teil, wegen ihrer denitrifizierenden Tätigkeit, für den Stoff-
wechsel im Meere eine außerordentlich wichtige Bedeutung
zu (Wissensch. Meeresunters., N. F. Abt. Kiel, Bd. 6, 1902,
S. 46 ff. und Beihefte z. botan. Zentralbl. Bd. 16, 1904, S. 383 ff.).
— Bei den vergleichenden Planktonuntersuchungcn handelt es
sich eineiseits um die geographische Verbreitung der einzelnen
Organismen. Dieselbe richtet sich im Meere in erster Linie
nach den Temperaturverhältnissen und nach den Meeresströ-
mungen (F. Dahl in Zool. Jahrbücher, Abt. Syst. Bd. 6, 1892,
S. 499 ff. und H. H. Gran in Report Norweg., Fishery- and
Marine-lnvestigations, Vol. 2 1902, Nr. 5) in den Flußmün-
dungen und I3innenmeercn nach dem Salzgehalt (F. Dahl,
in Ber. naturf. Ges. Freiburg i. P.. , Bd. 8, 1894, S. lo ff.).
Andererseits kommt die vertikale Verbreitung in Betracht. Um
festzustellen, was in bestimmten Tiefen vorkommt, kann man
entweder an derselben Stelle Stufenfänge von verschiedener
Tiefe machen und aus der Differenz der Inhalte erkennen,
was aus größerer Tiefe stammt (Schüft a. a. O. S. 35) oder
man kann sogenannte Schlieft netze verwenden, die ent-
weder mittels nachgeschickter Gewichte (A. Agassiz, Three
cruises of the Blake, Vol. I, Washington 1888, p. 37 und
W. E. Hoyle in Proc. Liverpool biol. Soc, Vol. i88g,
p. 100) oder durch einen an der Mündung angebracliten
Mechanismus (Hensen, Methodik S. 103 ff.) geöffnet und
nach Durchfischung einer bestimmten Strecke wieder geschlossen
werden. Aus geringeren Tiefen kann man kleinere Wasser-
mengen auch mit der Mey er 'sehen Schöpfflasche heraufholen.
Die Erfahrung hat ergeben, daß nur an wenigen Orten unterhalb
200 m keine pelagischen Organismen mehr vorkommen, daß da-
gegen in großen Tiefen (z. B. von 1 300 — 1 500 m) ganz bestimmte
Tierarten leben (F. Dahl, in Verh. d. deutsch, zool. Gesell-
schaft, Bd. 1894, S. 61 ff.). — Die Lebensgemeinschaften des
Planktons zeichnen sich besonders dadurch aus, daß die
Pflanzen oder Nahrungsproduzenten ganz außerordentlich klein,
die Tiere oder Nahrungskonsumenten z. T. zu den größten
Riesen gehören. Beides ist in den Lebensbedingungen be-
gründet: Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Ernährung
der Pflanze auf Flächenwirkung beruht. Die Mathematik
lehrt aber, daß bei zwei ähnlichen Körpern die Oberfläche
dem Quadrat des Durchmessers, die Masse dem Kubus des
Durchmessers proportional ist. Die Pflanze hat also eine
verhältnismäßig um so größere F.rnährungsfläche, je kleiner sie
ist. Da bei den im Wasser schwebenden Pflanzen die Gefahr
des Eintrocknens nicht besteht, sind die kleinsten am günstig-
sten gestellt. Durch die Bewegung des Wassers werden die
Pflanzen so gleichmäßig auf die Wassermasse verteilt, daß die
kleinen Pflanzenfresser (die Copepoden usw.) einer nur sehr ge-
ringen Eigenbewegung zur Erlangung ihrer Nahrung bedürfen.
Ein Tier aber, daß sich von Tieren mit einer auch nur ge-
ringen Eigenbewegung, wie es jene kleinen Pflanzenfresser sind,
nähren muß, ist um so günstiger gestellt, je größer es ist.
Die Reibung wächst nämlich mit der Größe der Oberfläche,
also im Quadrat des Durchmessers, die Bewegungsenergie da-
gegen, die an die Masse gebunden ist, mit dem Kubus des
Durchmessers : Ein Stein sinkt z. B. als Ganzes viel rascher
im Wasser zu Boden als wenn man ihn zu Pulver zermahlt
(F. Dahl in Westermann's illustr. Monatsheften, Jahrg. 1893,
S. S34ff.). — Die Pflanzen und die pflanzenfressenden Tiere
des Planktons zeichnen sich durch vorzügliche Schwebeein-
richtungen aus. Schwebeeinrichtungen sind für sie wichtiger
als Bewegungsorgane, da sie keine Ausgaben für den Organis-
mus erfordern und doch , ebenso wie Schwimmbewegungen,
das Untersinken verhindern (F. Schutt und K. Brandt in
Reisebeschreibung der Plankton-Expedition, Kiel 1892, S. 243 ff.
und340ff.). — Interessant ist im Plankton das Massenverhältnis
zwischen Pflanzen und Tieren. Während auf dem Lande die
Tiere den Pflanzen gegenüber, die ihnen zur Nahrung dienen,
der Masse nach meist ganz verschwinden, bilden im Plankton,
namentlich im Plankton der Tropen, die Tiere einen sehr er-
hebliclicn Bruchteil. Auf dem Lande kann nämlich die Zer-
störung geringer Teile den Tod einer größeren Pflanze zur
Folge haben. Bei den einzelligen Pflanzen des Planktons da-
gegen geht nur soviel durch Fraß zugrunde wie unmittelbar
gefressen wird und den Pflanzenfressern zugute kommt (D ah 1,
in Illustr. Monatsh. , 1892, S. 541). — Eine eigenartige Er-
scheinung bei zahlreichen Planktonorganismen ist das perio-
dische Auf- und Niedersteigen. Man unterscheidet ein täg-
liches Auf- und Absteigen (R. v. Wi 11 em ö es- Suh m, in
832
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 52
Proc. Roy. Soc. Vol. 24, 1S76, p. 5S5 und A. Weismann,
Das Tierleben im Bodensee, 1877, S. 13 ff.), das nach neueren
Untersuchungen nicht über 18 m zu betragen scheint (T. S c o 1 1
in Trans. Linn. Loc. London 2. Ser , Zool. Vol. 6, 1894,
p. I ff.), ein jährliches Auf- und Absteigen, (C. Chun in
Bibliotheca Zoologica, Bd. i, 1887, S. 50) und ein ontogene-
tisches -Auf- und Absteigen (W. Gi esbre ch t, in Fauna und
Flora des Golfes von Neapel, 19. Monogr., 1892, S. 808).
Das ontogenetische Auf- und Absteigen kann in einem Auf-
wärtssteigen der jungen Tiere bestehen (Gi esbre cht a. a. O.)
oder in einem Abwärtssteigen derselben (V. Hensen in
4. Ber. Komm. Unters, d. d. Meere, 1884. S. 299 ff. und Fr.
Heincke und E. Ehrenbaum in Wiss. Meeresunters. N.
F. Abt. Helgoland, Bd. 3, 1900, S. 131 ff.) bestehen. — Bei
dem Auf- und Absteigen muß man den Nutzen, den der Or-
ganismus aus demselben zieht, (den Zweck) und die physikali-
sche Ursache desselben streng unterscheiden. Den Vorteil
der täglichen Wanderung sucht F. A. Forel darin, daß die
zarten Organismen bei der Seebrise weniger leicht auf den
Strand geworfen werden (Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 30
Suppl., 1878, S. 389), Weismann darin, daß das Nährgebiet
erweitert wird. Die Ursache wird von Weismann, T.
T. Groom und J. Loeb (Biol. Zentralbl. Bd. 10, 1890,
5. 160) in der Lichtwirkung, von Chun und W. Ostwald
(Biol. Zentralbl. Bd. 22, 1902, S. 596 ff.) in der Temperatur-
wirkung gesucht. — Damit glaube ich die Hauptgesichts-
punkte der Planktonforschung an der Hand eines Teils der
Literatur in aller Kürze dargelegt zu haben.
Frage 2: Wo erhält man die Geräte für die Plankton-
forschung? — Manche der Apparate wird Ihnen der Mecha-
niker Zwickert in Kiel liefern. Planktonnetze liefert Ihnen
der Diener Hantke am zoologischen Institut in Kiel.
Frage 3: Eignen sich die Werke von Haeckel und
Bütschli zum Studium? — Wer Zoologie studieren will,
muß die Anschauungen aller Forscher auf dem Gebiete kennen
lernen und sich danach ein eigenes Urteil zu bilden suchen.
Für den Anfänger ist ein gutes Lehrbuch an erster Stelle zu
empfehlen und ein Lehrbuch der Zoologie hat meines Wissens
weder Haeckel noch Bütschli geschrieben. Dahl.
Von Herrn Oberlehrer Caesar in Havelberg gehen uns
die nachstehenden Beobachtungen über wahrgenommene Töne
am Telephon zu :
Hält man das Telephon (Hörer) vor den Sprechtrichter
des Mikrophons, so entsteht ein Ton. Dieser Ton wird lauter
und springt bei allmählicher Entfernung der Telephonmembran
in die höhere Oktave. Etwa 5 cm von dem Schalltrichter
erreicht die Tonstärke laut pfeifend das Maximum , um bei
weiterer Entfernung ziemlich plötzlich ganz zu verschwinden.
Nähert man allmählich die Telephonmembran dem Trichter,
so wiederholen sich die Vorgänge in umgekehrter Reihen-
folge. Am besten hört man den Ton, wenn die Mitte der
Membran genau senkrecht über der Mitte des Trichters liegt.
Bei seitlichen Bewegungen, sofern die Membran parallel dem
Mikrophonbrettchen bleibt, wird der Ton schwächer und än-
dert, wenn auch nur sehr wenig, seine Höhe. Fällt die Pro-
jektion der Membran (senkrecht) außerhalb der Trichteröffnung,
so verschwindet der Ton. Verschließt man die Trichteröffnung
durch ein Stück Schreibpapier und hält die Mitte der Membran
vor die Mitte des Trichters, so wird der Ton etwa einen hal-
ben Ton tiefer. Dasselbe (d. h. einen Ton, der ca '/s Ton
tiefer ist als der ursprüngliche) erreicht man, wenn man die
Trichteröffnung etwa zur Hälfte verschließt durch ein Stück
Kartonpapier (Postkarte) oder eine Glas- oder Metallscheibe.
Wird die Trichteröffnung ganz durch das Kartonpapier oder
die Glas- oder Metallscheibe bedeckt, so verschwindet der
Ton.
Merkwürdigerweise habe ich bisher nur an einem Tele-
phon diese Beobachtungen machen können, bei drei .anderen
Telephonen war nichts zu hören. Ein Postbeamter, mit dem
ich darüber sprach, wußte auch, daß bei einigen Telephonen
durch Vorhalten der Membran ein Ton entsteht, bei anderen
nicht. Die beschriebenen Vorgänge habe ich versucht , mir
auf folgende Weise zu erklären : durch das Abhaken des
Hörers geht ein elektrischer Strom durch das Mikrophon und
ein anderer Strom durch das Telephon. Die beiden Ströme
wirken bei geeigneter Lage des Telephons aufeinander ein
und bringen die Luftsäule zwischen Telephon und Mikrophon
in Schwingungen. Der entstehende Ton erinnert durch seine
Klangfarbe an den einer Orgelpfeife (Lippenpfeife). Durch
weitere Entfernung der Membran wird die Einwirkung der
beiden Ströme aufeinander stärker und der Grundton geht,
wie bei der Lippenpfeife durch stärkeres Anblasen , in die
Oktave über. Wie bei der Orgelpfeife durch stärkeres An-
blasen die Knoten verschoben werden und die Tonhöhe sich
etwas ändert, so wird durch das völlige oder teilweise Ver-
schließen der Trichteröffnung die gegenseitige Einwirkung der
Ströme geschwächt, es wird eine Verschiebung der Knoten
der Luftsäule eintreten und die Tonhöhe ändert sich.
Die Telephonmembran schwingt jedenfalls mit, ob diese
Schwingungen im Verhältnis zu denen der Luftsäule primär
oder sekundär sind, wage ich nicht zu entscheiden.
Das Tönen rührt, wie ich an anderen Apparaten
feststellte, her von der Membran des Hörers, gleich-
gültig, ob die Station mit einer andern verbunden ist
oder nicht. Die Stärke der Mikrophonelemente, die durch
das .Abhaken des Hörers eingeschaltet werden, ist von großer
Wichtigkeit. Bei einem Hörer, der früher laut pfiff, hat die
Erscheinung aufgehört, nachdem die Spannung der Elemente
um etwa 1 '/2 Volt abgenommen hatte. Wird eine Station
mit einer andern verbunden, und hält man auf der einen den
Hörer nahe genug an den Schalltrichter des Mikrophons, so
tönt auf der andern Station der Hörer mit, wenn er ange-
hängt ist, und auch , wenn er abgehakt wird. Infolgedessen
haben sich zwei hiesige kaufmännische Geschäfte, die ständig
miteinander verbunden sind , wenn sie miteinander sprechen
wollten, nicht mehr ,, angeklingelt", sondern ohne Benutzung
der Klingel ,, angepfiffen".
Soviel ich weiß, ist der Hörer, wenn er angehakt ist,
ausgeschaltet und die Klingel eingeschaltet. Darum kann ich
mir in diesem Falle das Mittönen nicht erklären.
Über die Erscheinung selbst möchte ich auch noch einiges
hinzufügen. Wenn die Ränder der beiden Schalltrichter sich
berühren, so ist der Ton verhältnismäßig tief und geht, wie
ich schon mitteilte, in die höhere Oktave über, wenn man
den Hörer entfernter hält. Dies erklärt sich wohl durch die
Erscheinung bei der offenen und gedeckten Pfeife.
Wie kommt es aber, daß durch eine dazwischen gehaltene
Postkarte der Ton aufhört, während dies nicht der Fall ist,
wenn man den Schalltrichter durch ein Stück Schreibpapier
(dünn) verschließt? Auch das vermag ich nicht zu erklären,
woher es kommt, daß der Ton etwa einen halben Ton höher
wird, wenn man die Öffnung des Mikrophontrichters teilweise
durch eine Glas- oder Metallscheibe verschließt.
Bisher habe ich in keiner Zeitschrift oder sonst in einem
wissenschaftlichen Werk etwas über das Tönen des Hörers
gefunden. Vielleicht lassen sich Fachgenossen veranlassen,
die Erscheinungen an Telephonen zu studieren, besonders in
größeren Städten, wo ihnen mehr Material zur Verfügung steht.
3ur J^achriebt, — Um die „Naturwissenschaftliche
Wochenschrift" mit dem Kalenderjahr in Übereinstimmung
zu bringen, schließt der 111. Band der Neuen Folge nicht mit der
vorliegenden Nummer ab, sondern wird bis zum 31. Dezember
weitergeführt. Es wird also dieser Band nicht 52 , sondern
65 Nummern umfassen. Nr. 53 wird mit Berechnung für die
Monate Oktober bis Dezember 1904 geliefert.
Inhalt: Dr. Ernst Rüge: Zellverbindungen. — Dr. med. Max Weinhold: Über den gegenwärtigen Stand der Lehre
von der Kurzsichtigkeit. — Kleinere Mitteilungen: Max Ballerstedt: Zurückziehung einer Ameisenkolonie durch
den Mutterstaat. — Das Flugvermögen der Tiere. — R. v. Wettstein: Die Biologie unserer Wiesenpflanzen. — Ein
geophysikalisches Observatorium auf dem Monte Rosa. — M. Seddig: Elektrische Kraftlinien. — Himmelserscheinungen
im Oktober 1904. — Bücherbesprechungen: Meyer's Großes Konversations Lexikon. — Geologische Karte von
Preußen und benachbarten Bundesstaaten. — Rüdorf f: Grundriß der Chemie. ~- Prof. V e r w o r n : Beiträge zur Frage
des naturwissenschaftlichen Unterrichts an höheren Schulen. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: i. V. : Dr. F. Koerber, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 2. Oktober 1904.
Nr. 53.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 rig. extra. ro.stzeilungslisle Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
^^;j§i Gohlis, Blumenstrafle 46, Buchhändlerinseratc durch die
Verlagshandlung erbeten.
Über den biologischen Arsen-Nachweis.')
f Nachdruck verboten.
Die Gesundheitsschädlichkeit des Aufenthalts
in Räumen, deren Wände mit arsenhaltigen An-
strichfarben bzw. Tapeten bekleidet sind, ist schon
seit sehr langer Zeit bekannt; so z. B. warnt be-
reits 1839 die badische Regierung vor der Ver-
wendung arsenhaltiger .'Anstrichfarben und Tapeten;
Preußen erließ 1848 ein Verbot der Benutzung
arsenhaltiger Kupferfarben für die Herstellung von
Tapeten und für Wandanstriche, hob dasselbe aber
bereits 1854 wieder teilweise auf, indem es die
Fabrikation derartiger Tapeten, wenn auch nicht
für das Inland, so doch für das Ausland wieder
gestattete; unter diesen Verhältnissen kann es nicht
Wunder nehmen, daß trotz dieses Verbotes auch
in Preußen sehr viele arsenhaltige Tapeten (bis in
die 70 er Jahre) Verwendung fanden. Die in der
damaligen Literatur festgelegten Fälle von Arsen-
vergiftungen sind daher auch nicht selten. Die
Schädlichkeit derartiger Tapeten bzw. Zimmer läßt
sich leicht erklären, wenn man berücksichtigt, daß
z. B. das sog. Scheele' sehe Grün (CuHAsO..),
') Nach einem im Naturwissenschaftlichen Verein zu I'^lber-
feld gehaltenen Vortrage.
Von G. Wesenberg-Fiberfeld.
welches etwa 2 5 'Vi, arsenige Säure (As.jO.,) enthält, mit
Vorliebe direkt alsWasserfarbe bzw. für Tapetendruck
Verwendung fand. Durch den Luftzug wurden natür-
lich immerfort Teilchen der arsenhaltigen Farbe
von der Wand abgelöst und gelangten so in die
Atmungsorgane der Bewohner. Sonnenschein
schildert in seinem Handbuch der gerichtlichen
Chemie (1869), daß er in einem Zimmer, in dem
kurz vorher ein Kind unter Zeichen der Arsen-
vergiftung gestorben war, einen Tiscli aufstellen
ließ und dann das Zimmer einige Tage verschlossen
hielt ; nach dieser Zeit war der Tisch mit einem
dünnen grünen Anflug bedeckt, welcher von den
Wänden stammte und sich als stark arsenhaltig
erwies. Sonnenschein war auch wohl der
erste, welcher, durch gewisse Krankheitserschei-
nungen darauf hingeleitet, in der Luft der-
artiger Räume gasförmige Arsenver-
bindungen vermutete und auch wirklich nach-
wies, indem er die von korpuskularen Elementen
in geeigneter Weise befreite Luft im Glasrohr er-
hitzte und so einen deutlichen Arsenspiegel er-
zielte. Hamberg bestätigte 1875 diesen Befund.
Als Ursache dieser Arsenverflüchtigung findet sich
834
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 53
in älteren Arbeiten verschiedentlich die „Fäulnis"
bzw. „Zersetzung" des Kleisters angegeben, zumal
in solchen Räumen häufig ein knoblauchartiger
Geruch, namentlich bei feuchter Witterung waiir-
genommen wurde. Die Frage nach der Art der
hierbei tätigen Lebewesen konnte erst nach dem
Ausbau der exakten Bakteriologie gelöst werden,
und zwar war es vor allem der Italiener Go s i o ,
welcher 1892 seine erste diesbezügliche Mitteilung
machte; G. hatte auf arsenhaltigem Kleister alle
möglichen Schimmelpilze, Hefen und Bakterien
wachsen lassen und gefunden, daß eine Anzahl
Schimmelpilze, die er infolgedessen kurz als „Arsen -
Schimmel" bezeichnet, befähigt sind aus arsen-
haltigen Materialien knoblauchartig riechende flüch-
tige Verbindungen zu bilden. Unter den geprüften
Schimmelpilzen war es besonders das Penicillium
brevicaule, welches sich durch rasches Wachs-
tum und starke Geruchsbildung auszeichnete.
Als Arsenschimmel können außer dem Peni-
cillium brevicaule noch angesehen werden : Mucor
mucedo, M. racemosus, Aspergillus glaucus, vires-
cens, niger, Sterigmatocystis ochracea, Cephalo-
thecium rosaceum. Das zu dem biologischen Arsen-
nachweis wegen seiner verschiedenen Vorzüge am
meisten gebrauchte, von G o s i o aus verschimmelten
Tapeten isolierte Penicillium brevicaule
(brevicaule = kurzgestielt) steht dem gemeinsten
aller Schimmelpilze, dem grünen Brotschimmel
(Penicillium glaucum) am nächsten ; es ent-
wickelt ein nur sehr niedriges, weißes, im Alter
graugelbes Mycel; an den sehr kurzen Hyphen
bilden sich bald die runden Sporen, welche an
der Spitze häufig ein wenig ausgezogen und an
der Basis verdickt und abgeplattet erscheinen, so
daß sie an Gestalt etwa einer Zitrone gleichen.
Bringt man zu einer Kultur des Penicillium brevi-
caule eine Spur irgend einer Arsenverbindung, so
nimmt man nach einigen Stunden bis Tagen einen
mehr oder weniger intensiven knoblauchartigen
Geruch wahr, der noch bei 0,001 mg As._,Oj
(also einem Millionstel Gramm arseniger Säure)
meist deutlich zu erkennen ist, bei 0,01 mg tage-
lang deutlich anhält und bei größeren Mengen den
ganzen Raum damit parfümieren kann (Demonstra-
tion von Kulturen, welche von 0,001 mg bis 1,0 mg
steigend arsenige Säure enthieltenj. Das Wachs-
tum des Pilzes ist am besten bei 25 — 35 " C, findet
aber auch, wenn auch langsamer, bei Zimmertem-
peratur statt.
Zum Arsennachweis in irgendeiner
Substanz verfährt man am einfachsten in der
von Abel und Buttenberg angegebenen Weise :
in kleinen Kölbchen vermischt man getrocknetes
und in kleinere Bröckchen zerteiltes Graubrot mit
der zu untersuchenden Substanz, befeuchtet ev.
schwach mit Wasser und sterilisiert im Dampftopf
2 mal je i Stunde lang, oder i mal im Autoklav bei
1 — i',, Atm. Überdruck '/^ — '., Stunde lang; dann
wird mit einer Sporenaufschwemmung des Peni-
cillium brevicaule infiziert und im Brutschrank bei
etwa 35 " C gehalten; zur Verhütung einer Ver-
flüchtigung der entwickelten Geruchsstoffe wird das
mit Walte verschlossene Kölbchen am besten noch
mit einer Gummikappe überzogen. Diese Methode
eignet sich zum Arsennachweis in allen möglichen
Objekten, z. B. Haaren und Harn nach medikamen-
tösem Arsengebrauch, Magen -Darminhalt , Kot,
Leichenteilen bei Arsenvergiftungen, Fellen, Schrot,
Papier etc., auch in Arzneistoften , sofern diese
nicht die Entwicklung des Pilzes verhindern (Leichen-
teilen etwa anhaftender Fäulnisgeruch geht beim
Sterilisieren meist verloren).
Als Arsenquelle können alle möglichen Arsen-
verbindungen in Betracht kommen, da Maggiora,
welcher 51 verschiedene Arsenpräparate prüfte,
mit allen derselben durch Penicillium brevicaule
einen mehr oder weniger intensiven knoblauch-
artigen Geruch erzielen konnte. Kobert fand
als einzige Verbindungen, welche vom Penicillium
brevicaule nicht angegriffen wurden, das (un-
giftige) Triphenylarsin und seine Homologen.
Die wichtige Frage, ob die Entwicklung des
knoblauchartigen Geruches für Arsen spezifisch ist,
kann ruhig bejaht werden, da das Tellur, welches
einen dem Arsen sehr ähnlichen Geruch ent-
wickelt, nur äußerst selten in Betracht kommen
dürfte; Selen entwickelt einen mit Arsen nicht zu
verwechselnden merkaptanartigen Geruch, ebenso
können unter Umständen Schwefel- und phosphor-
lialtige Substanzen durch Entwicklung fremder, mit
Arsen aber nicht zu verwechselnder Gerüche die
Arsenprobe stören. Die Verwechslung des Arsen
mit Selen und Tellur kann nach Maaßen noch
leicht dadurch ausgeschaltet werden, daß man
eine zweite Probe ansetzt unter Benutzung von
Schimmelpilzen, welche wohl aus Selen und Tellur
flüchtige, riechende \'erbindungen entwickeln, nicht
aber aus Arsenverbindungen. Einige Bakterien-
arten (Proteus, Coli, Typhus, Bac. caps. Pfeiffer)
zersetzen wohl lösliche Selen- und Tellur-
Verbindungen, nicht aber Arsenverbindungen.
Als riechende Substanz hat Biginelli das
Diätliylarsin — AsH (CH,,,).^ — nachgewiesen,
welches beim Durchleiten durch Salzsäure Oueck-
silberchloridlösung mit diesem ein wohl cliarakleri-
siertes Doppelsalz — AsH(CH3),, -f- 2 HgCI.,,—
bildet. Die Entstehung des Diäthylarsins denkt
sich Biginelli so, daß der von den Pilzen frei
gemachte Arsenwasserstoff (AsH^) sich sofort mit
dem von den Schimmelpilzen ebenfalls gebildeten
Alkohol verbindet; in vitro gelang ihm diese Syn-
these aber, nicht.
Die Giftigkeit dervonden Arsen kulturen
exhalierten Gase steht nach den am Menschen
gemachten Erfahrungen wohl aufSer Zweifel ; waren
doch eine ganze Reihe von Erkrankungen vorge-
kommen in Räumen, in denen eine Vergiftung
durch verstäubte Arsenteile vollständig ausge-
schlossen war, da die ursprünglich vorhandene
Tapete von einer, mitunter sogar von mehreren
Lagen arsenfreier Tapete überdeckt war; in diesen
Fällen war mit dem neuen Kleister ein guter
Nährboden für die verschiedenen Schimmelpilze
N. I'. III. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
835
auf die arsenhaltige Tapete aufgctrafjen worden,
auf dem dann die Arsenschimmel ihre gefährlichen
chemischen Kunststücke vollführen konnten. Ex-
perimentell konnte die Giftigkeit dieser Arsengase
noch nicht einwandfrei festgestellt werden; die
Befunde Gosio's, welcher Mäuse in Arsenkultur-
gläser hineingebracht in wenigen Minuten verenden
sah, sind leicht als KohlensäureA^ergiftungen zu
erklären, da die Luft in derartigen Kulturen, wie
Abel und Buttenberg zeigten, infolge des
Lebensprozesses des Pilzes 22,5 bis 33,75 ",,
Kohlensäure (CO.,) und dementsprechend nur 4,7
bis 7,5 % Sauerstoff (0.,) enthielt; dagegen blieben
Mäuse, welche stundenlang den entsprechend mit
Luft verdünnten Gasen ausgesetzt wurden, schein-
bar ohne jede Schädigung am Leben; diese Be-
obachtung an Tieren kann nicht Wunder nehmen,
da die Schädigungen sich beim Menschen auch erst
nach oft jahrelanger Benutzung der betreffenden
Räumlichkeiten einstellten.
Bietet uns nun das Verfahren des biologischen
Arsen-Nachweises gegenüber dem chemischen
Nachweise wesentliclie Vorteile, welch letzteres
doch den unzweifelhaften Vorzug besitzt, daß wir
etwas Sichtbares vor Augen bekommen, während
wir uns bei dem biologischen Verfahren ausschließ-
lich auf die Nase verlassen müssen ? Diese Frage
ist in allen den Fällen, in denen es sich um den
qualitativen Nachweis von Arsen und in gericht-
lichen Fällen um eine „Vorprobe" handelt, zu be-
jahen. Als Vorzüge des biologischen Verfahrens
seien erwähnt: I. Das V^erfahren ist einfach und ver-
hältnismäßig mühelos und ohne wesentlichen
Arbeitszeitverlust auszuführen, 2. es werden Chemi-
kalien, die so leicht zu Irrtümern Veranlassung
geben , ganz vermieden , sofern nicht bei stark
sauren oder alkalischen Objekten eine Neutrali-
sation erforderlich ist. \'or allem aber ist 3. das
biologische Verfahren schärfer als die chemischen,
denn mit dem bekannten Ma rsh 'sehen Apparate
können wir noch ziemlicli sicher 0,01 mg As.iO.,
nachweisen , wenn die Arsenverbindung in ge-
eigneter Form in Wasser vorliegt, ebensoviel auch
nach der Methode von Gutzeit; bedeutend
schwieriger aber werden die Verhältnisse , wenn
das Arsen in Mischung mit organischen Substan-
zen, z. B. Leichenteilen vorliegt, da mit dem not-
wendigen Aufschließen der Substanz mehr oder
weniger große Arsenverluste wohl unvermeidlich
sind. Das biologische Verfahren arbeitet stets
prompt, mag das Arsen vorliegen, in welcher
Form und Materie es auch sein mag, nur die ein-
zige -Voraussetzung besteht, daß das Wachstum
des Pilzes unbeeinflußt bleibt; wir können aber
mit dem biologischen Verfahren noch stets mit
großer Sicherheit Mengen von 0,01 mg, meistens
sogar noch bis zu 0,00 1 mg herunter, nachweisen.
Mit wenigen Worten sei noch zum Schluß auf
eine interessante Frage verwiesen:
Das von der französischen Schule be-
hauptete Vorkommen von geringen Mengen von
Arsen im menschlichen Körper als normalem
Bestandteile desselben, (Gauthier, Garrigout),
konnte bislang von deutschen Forschern nicht
bestätigt werden (Ziemke, Cerny, Hödl-
m o s e r) ; der Unterschied zwischen diesen Angaben
wird von Ziemke dadurch erklärt, daß in
Deutschland ') infolge der sehr strengen Gesetz-
gebung ein unbeabsichtigtes Einbringen von Arsen
in den Körper mit den Nahrungsmitteln etc. fast
völlig ausgeschlossen ist, während im Auslande
die entsprechenden Bestimmungen meist nicht
derart strenge sind und auch nicht so gewissen-
haft befolg-t und kontrolliert werden wie bei uns.
') In Deutschland verbietet z. B. das Reichsgesetz vom
5. Juli 1887 die Herstellung und den Verkauf von Tapeten,
Möbelstoffen, Teppichen, StoiTen zu Vorhängen oder Bekleidungs-
gcgcnständen, Masken, Kerzen sowie künstlichen Blättern,
Blumen und Früchten, mit Farben, welche Arsen enthalten.
Dieselben dürfen auch nicht Verwendung finden für Schreib-
materialien, Lampen- und Lichtschirme, sowie Lichtmanschetten.
— Arsenhaltige Wasser- oder Leimfarben dürfen zur Her-
stellung des .-Vnstrichs von Fußböden, Decken, Wänden, Türen,
Klappläden oder Vorhängen, von Möbeln und sonstigen häus-
lichen Gebrauchsgegenständen nicht verwendet werden. — Die
Verwendung von arsenhaltigen Beizen zum Färben oder Be-
drucken von Gespinsten oder Geweben ist nur dann gestattet,
wenn das fertige Produkt das Arsen in wasserunlöslicher
Form und nicht mehr als 2 mg Arsen in loo qcm des ferti-
gen Gewebes enthält.
Die Tierwelt in der bildenden Kunst.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. F.
Die Darstellung der Tierwelt gehört zu den
ältesten Objekten der bildenden Künste, ja man
kann sogar behaupten, daß die Nachbildung der
Tiere überhaupt die erste künstlerische Betätigung
des Menschen war. Schon in ])rähistorischen bild-
lichen Darstellungen, die in Rentiergeweihe und
Knochen eingeritzt sind, finden wir fast nur Tiere
und zwar solche, welche Gegenstand der Jagd
waren; in erster Linie Rentier und Mammut, aber
auch Wisent, Auerochs, Moschusochs und Pferd.
Diese Abbildungen sind sowohl in den Proportionen
als auch in den Konturen, wenn man die Kultur-
Werner, Wien.
Stufe in Betracht zieht, überraschend gut ausge-
führt. Ihnen gleich kommen die bekannten Felsen-
gravierungen der Buschmänner in Südafrika, auf
welchen gleichfalls Jagdtiere die erste Rolle spielen,
wie Strauße, Antilopen (verschiedene Arten, nament-
lich Oryx), Rhinozeros (besonders gelungen), aber
auch Hyänen und Schlangen. Die ersten Haus-
tiere in Europa finden sich in alten Grabstätten so-
wohl auf Urnen eingraviert, als auch plastisch dar-
gestellt; doch ist aus diesen Darstellungen nicht
durciiweg zu erkennen, ob diese Tiere schon da-
mals domestiziert, oder Gegenstand der Jagd
836
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. III. Nr.
53
waren. Mit einiger Sicherheit läßt sich dies nur
für den Hund, der auf Jagdszenen (Hirschjagd, auf
einer Urne aus einem Tumulus von Oedenburg,
der Hallstattperiode angehörig) und das Pferd
(Reiter aus Blei, aus den Tumulis von Frög, Be-
zirk Rosegg in Kärnthen) behaupten, während das
Rind (Köpfe als Henkel einer Urne aus Gemein-
lebarn, Bezirk Herzogenburg in Niederösterreich)
und Schaf, sowie das Schwein (welche in kfeinen
Bronzeplastiken aus kaukasischen Gräbern bekannt
sind) zu dieser Zeit zwar höchst wahrscheinlich,
aber nicht notwendigerweise schon Haustiere
gewesen sind. In letzteren Gräberstätten (Ko-
ban) finden sich auch Hirsch , Steinbock und
Bär in ziemlich kenntlichen, plastischen Darstel-
lungen. Diesen stehen in künstlerischer Ausfüh-
rung nahe die aus Elfenbein u. dgl. geschnitz-
ten Figuren nordostasiatischer Völkerschaften;
in Naturtreue übertreffen sie aber die Gräberfunde
bedeutend und gleichen in diesen Beziehungen den
prähistorischen und südafrikanischen Gravierungen;
namentlich ist Walroß und Seehund, aber auch
der Tiger, der Eisfuchs, ein Wildschaf u. dgl. oft
vorzüglich in der Körperstellung wiedergegeben.
Bilder aus Jagd (und Fischerei) finden sich
noch vielfach in altägyptischen, den älteren grie-
chischen und assyrischen Reliefs, bzw. Wand-
malereien. Die Wandmalereien in den Gräbern von
Sakkara, Theben u.a.O. lassen nicht nur die jagdbaren
Tiere Ägyptens, sondern auch viele des tropischen
Afrika erkennen, wovon manche freilich damals
weit nördlicher gingen als jetzt. Wie viele Fische,
manche Reptilien und Insekten aus dem tropischen
Afrika noch jetzt in Mittel- und Unterägypten
vorkommen, wie das Krokodil noch vor nicht
vielen Jahrzehnten, das Nilpferd vor wenigen Jahr-
hunderten noch Ägypten bewohnte, so mag dies
auch für manche jetzt auf das äquatoriale Afrika
beschränkte Arten gelten. Von Säugetieren werden
Elefant, Nilpferd, Antilopen, Spitzmaus, Löwe,
Ichneumon, Schakal, Pavian, von Vögeln Ibis, Enten,
F'cldhühner, Geier, Sperber, Eulen, von Reptilien
Krokodil, Hornviper und Kleopatraschlange, von
Fischen (namentlich in Sakkara) die charakteristi-
schen Welse, ferner die sehr kenntlichen Nilfische
Mormyrus, Lates, Tilapia, Alestes u. a. , von
Insekten Wespe und Pillendreher (Ateuchus) am
häufigsten abgebildet gefunden.^) Unter den Haus-
tieren finden sich Rind, Schaf, Hund, Katze be-
sonders oft auf bildlichen Darstellungen. Daß der
jetzt in Ägypten, namentlich im Delta so überaus
häufige Büffel, sowie das Dromedar in diesen alten
Darstellungen fehlt, ist leicht daraus zu erklären,
daß sie erst viel später eingeführt wurden, und
ebenso ist mit Sicherheit anzunehmen, daß Land-
schildkröten und Chamäleons, welche so auffallende
Tiere sind, daß sie kaum von den alten Ägyptern
unbeachtet geblieben wären, die aber auf allen
') Ob die niclit allzuhäufig abgebildeten Kröten die cir-
cummediterrane Art Bufo viridis oder bereits die aus den
Tropen nilabwärts gewanderte, jetzt vorherrschende Panther-
kröte (B. regularis) vorstellen soll, ist nicht erkennbar.
ihren bildlichen Darstellungen fehlen, erst von
Syrien und dem Sudan aus später eingewandert
sind. Es ist bekannt, daß die Haustiere der alten
Ägypter, wie überhaupt alle Tiere, so exakt ab-
gebildet sind, das man z. B. noch die Hunderassen,
welche damals existierten, unterscheiden kann;
und ebenso bekannt ist, daß viele Tiere, die be-
sonders auffallend waren, in die Hieroglyphen-
schrift als Schriftzeichen Aufnahme fanden, wie
Naja haje (die ,, Schlange der Kleopatra" und der
„Stab Mosis"), Cerastes cornutus, die Hornviper,
ferner verschiedene Vögel (Aasgeier, Sperber, Ibis
Schon in Ägypten finden wir eine wichtige
Erscheinung in der Entwicklung der Tierdarstellung.
Waren die Tiere anfangs als Objekte der Jagd,
als Haustiere, oder wegen besonderer Eigentüm-
lichkeiten abgebildet worden und zwar in sehr
naturgetreuer Darstellung, so finden wir mit dem
Auftreten religiöser Begriffe in Verbindung mit
der Tierwelt, d. h. mit der Vorstellung der In-
karnation von Gottheiten in Form von Tieren oder
der symbolischen Darstellung von Göttern in Tier-
gestalt die Bilder von Halbtieren auftreten, die
sich — allerdings ohne religiöse Bedeutung —
bis in die modernste Kunst erhalten haben. Die
Götter mit Stier-, Löwen-, Hunde-, Schakal-, Pavian-,
Ibis-, Sperber-, Geierköpfen, die das Umgekehrte
vertretenden menschenköpfigen, aber Tierleiber be-
sitzenden Sphinxe sind die ersten Anfänge einer
auf religiösen Prinzipien beruhenden symbolischen
Naturverhunzung, welche ein Zeichen der Ent-
fernung des Menschen von der Natur und Natur-
beobachtung ist und mit welcher auch die „Styli-
sierung" der unverändert gebliebenen Tierfiguren
(besonders der Naja haje, der ägyptischen Brillen-
schlange) Hand in Hand ging. Während also die
ältesten bisher besprochenen Darstellungen sich
damit begnügten, die bemerkenswertesten und auf-
fallendsten Tierformen im Bilde möglichst getreu
festzuhalten, so wurden unter dem Einflüsse re-
ligiöser und zwar polytheistischer Vorstellungen
jene Verschmelzungen von Tier- und Menschen-
körpern im Bilde vollzogen, welche dem Zoologen,
dem die Werke der Natur noch immer ästhetisch
höher stehen, als die schönsten Mißgeburten der
Künstlerphantasie, einen entschiedenen Niedergang
bedeuten. Diese Halbtiere, welche wir zuerst in
der ägyptischen Kunst antreffen, werden auch bei
den Babyloniern in Gestalt der geflügelten Löwen
und Stiere mit schönbärtigen Königsköpfen, in
Griechenland als Centauren, P'aune und Satyrn, als
Sirenen, Harpyien u. dgl., wieder gefunden und
spinnen sich nicht nur in der modernen Malerei
und Plastik (mit Beibehaltung der griechischen
Vorbilder), sondern bis zu einem gewissen Grade
auch in die religiösen Begriffe der christlichen
Völker (Teufel mit Pferdefuß, Schwanz und Bocks-
hörnern) fort.
Was schon von den älteren ägyptischen Dar-
stellungen bemerkt wurde, gilt auch für die älteren
griechischen, sowohl auf Vasen, als auch (was
N. F. III. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
837
seltener ist) in plastischer Form. So roh diese
Bilder auch sind — manche stehen nur in der
Technik, nicht aber in den Konturlinien, über den
Buschmanngravierungen — • so sieht man ihnen
doch an, dai3 sie möglichst getreue Nachbildungen
des Objekts sein sollen. Außer Haustieren (Pferd,
Rind, Schaf, Ziege, Hund, Hahn) sind Jagdtiere
(Löwe, Wildschwein, ersterer in historischer Zeit,
letzteres noch jetzt in Griechenland heimisch) und
namentlich, was für die Griechen infolge der großen
Küstenentwicklung und der dadurch bedingten
Vertrautheit mit dem Meeresgetier charakteristisch
ist, Fische sehr häufig dargestellt, freilich die
meisten nicht recht wiedererkennbar (nur einen
Zitterrochen, Torpedo narce, ferner Barsche, Thun-
fische konnte ich identifizieren) ebenso überaus oft
Delphine, Schildkröten und Cephalopoden (Tinten-
fische).
Was die orientalische Kunst anbelangt, so
können wir die der mohammedanischen Völker,
welchen ihre Religion die Wiedergabe lebender
Wesen verbietet, übergehen. Die indische Kunst
mit ihrer gelenklosen Plastik hat es in der Dar-
stellung von Tieren sehr weit gebracht und ihre
heiligen Tiere (Elefant, Krokodil, Zebu, Schild-
kröte etc.) präsentieren sich weit besser als die
Menschenbilder, ja sie sind teilweise ausgezeichnet
und heben sich schon deshalb vorteilhaft von den
Götterbildern ab, weil jede der so beliebten
symbolischen Verschönerungen durch Vermehrung
von Armen, Köpfen etc. vermieden ist, während
die griechische Kunst auch hier nicht Halt machte
und zum mindesten in der Poesie die Kopfzahl
(Cerberus und Hydra) vermehrte. — Beiläufig be-
merkt , sind auch moderne vorder- und hinter-
indische Holzplastiker äußerst geschickt in der
Wiedergabe lebender Tiere, namentlich Schlangen
und Eidechsen, die sie auch naturgetreu zu be-
malen verstehen.
Die japanische und chinesische Kunst haben
die Eigentümlichkeit gemeinsam, in ihren bildlichen
Darstellungen neben peinlichster Genauigkeit die
ausschweifendste Phantasie zu Worte kommen zu
lassen. Die japanischen Bronzefiguren von Kröten
(Bufo japonicus), Schildkröten (Clemmys japonica),
Krabben (Lupa) u. a. sind einfach unübertreft'lich
in Naturtreue, und auch bei den meisten Dar-
bietungen der japanischen Tiermalerei ist man im-
stande, die Art des dem Künstler vorgelegen haben-
den Tieres wiederzuerkennen. Ist dies auch nicht
mehr Kunst im gewöhnlichen Sinne des Wortes,
Lebewesen in derartig peinlich genauer Weise
nachzubilden, weil ja der Künstler aus Eigenem,
aus seiner Seele heraus etwas hinzutun soll, weil
an diesen Darstellungen die schöpferische Phan-
tasie vermißt wird , so ergänzt es doch in glück-
licher Weise manche Produkte modernster Kunst,
in denen außer Stimmung, tiefsinnigen Ideen u. dgl.
überhaupt nichts zu sehen ist, was ein normaler
Mensch ohne Kommentar verstehen und ohne
Katalog erkennen kann.
Schlimmer steht es mit den chinesischen Ticr-
abbildungen; hier herrscht die Neigung zur Ver-
schönerung und Verbesserung der Natur bedeutend
und daher erhalten viele Tiere einen fratzenhaften,
karrikiertcn Anstrich, der dem Volksgeschmack be-
hngt. Ist doch auch der himmlische Drache ein
Produkt chinesischer Phantasie, und von der
phantasiearmen europäischen Künstlerschaft hat
sich noch keiner bei den zahlreichen Gelegenheiten,
da Darstellungen von Drachen erforderlich sind,
bis auf den heutigen Tag über die chinesischen
Drachenbilder erhoben. St. Georg ersticht noch
immer den himmlischen Drachen der Chinesen,
und jeder Chinese darf sich füglich über diese
Verunglimpfung des ihm heiligen Tieres be-
schweren.
Von den festländischen Kunstprodukten Ost-
asiens bis zu denjenigen der indisch-australischen
Inselwelt geht der Weg — wenn wir die Tier-
darstellung im Sinne haben — stark abwärts. Die
Kunst der Inselbewohner leistet zwar in der orna-
mentalen Verzierung der Gerätschaften und Waffen
Ansehnliches, aber die Bilder des Menschenkörpers,
die in dieser Kunst eine große Rolle spielen,
werden gegen Osten zu immer scheußlicher, bis
sie in den Tanzmasken der papuanischen Völker
den Höhepunkt der Plntartung erreicht haben.
Wenn die Entfernung \-on der Natur Kunst wäre,
so wäre dies die höchste Kunst. An Abbildungen
von Tieren kenne ich wenig aus dem ganzen Ge-
biete. Eine aus Holz geschnitzte und bemalte
Schlange von Pulo Milu läßt sich noch als Python
reticulatus, eine sehr idealisierte Schildkröte eben-
daher als Chelonc imbricata deuten; bei einem
Götzen aus Neu-Irland findet sich eine erträgliche
Nachbildung der größten dort heimisciien Eidechse
(Varanus Indiens) und auch fliegende Fische, Haie
(Salomons-Inseln), Nackenstützen in Krokodilsform
(Deutsch-Neuguinea) wären noch zu erwähnen.
Auch die einheimische afrikanische Kunst ist
mehr Kunstgewerbe; nur in wenigen Fällen finden
wir Nachbildungen von Tieren; von Benin kenne
ich ein wunderbar ausgeführtes Huhn aus Metall,
welches sich ähnlichen P'iguren aus Ostasien würdig
an die Seite stellt, sonst aber ist, von einzelnen
Schlangennachbildungen abgesehen, unsere Aus-
beute an zoologischen Kunstobjekten fast gleich
Null.
Reich ist dagegen wieder die Kunst der Ur-
einwohner Amerika's an zoologischen Motiven.
Zwar sind die Gefäße der nordamerikanischen In-
dianer in Tierform, obwohl oft bunt bemalt, doch
bezüglich der Art des Modells total unkenntlich ;
man erkennt eben nur, daß ein Tier vorgestellt
werden soll ; dagegen sind die Peruaner in dieser
Beziehung viel weiter vorgeschritten und verwenden
zu ihren Gefäßen mit Geschick die l'orm von
Kröten, Pinguinen, Eulen, Katzen, Springmäusen.
Daß das Llama in den plastischen Nachbildungen
der Andenbewohner ebensowenig fehlt, wie der
Elefant in den indischen , ist leicht einzusehen.
Der japanischen Tierbildnerei schließt sich —
so grolä der Sprung auch der Zeit und dem Räume
838
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 53
nach sein mag — eng die Tiermalerei der älteren
niederländischen Kunst (Jan van Huysum, Elias
van den Broek, Roeland Savery, Snyders u. a.) an.
Mit peinlicher Sorgfalt und Genauigkeit malten diese
alten Holländer Schmetterlinge und Schnecken,
Reptilien, Fische, Krebse etc. nach der Natur, sich
von ihren ostasiatischen Kunstkollegen jedoch
durch die weit mehr vorgeschrittene Technik,
speziell durch die Plastik der Darstellung infolge
der (bei den Japanern bekanntlich stark vernach-
lässigten) Schattengebung und Perspektive unter-
scheidend. Auch bei ihnen ist jede Art von Tieren
wohl erkennbar und ich erinnere mich lebhaft noch
eines im Amsterdamer Reichsmuseum gesehenen
Gemäldes, welches den ersten Anstoß zu diesem
— erst lange danach begonnenen — Artikel gab
und Herakles in der Wiege vorstellt, der die beiden
Schlangen erwürgt. Diese waren auf den ersten
Blick als getreue Konterfeie der ostindischen Süß-
wasserschlange Homalopsis buccata zu erkennen.
Dem Fleiß holländischer Maler verdanken wir auch
die gegenwärtig noch existierenden Abbildungen
eines ausgestorbenen Riesen vogels, desDronte, Dodo
oder Walgvogels (D i d u s i n e p t u s), welche in
verschiedenen Museen sich finden und nicht nur
als alleinige, sondern auch, wie sich aus der völligen
Übereinstimmung der vorhandenen Bilder und ihrer
peinlich sauberen Ausführung ergibt, als vollkom-
men naturgetreue Erinnerungen an dieses durch den
Menschen ausgerottete Tier von hohem Werte sind.
Nur selten wichen die alten Niederländer von
dieser Genauigkeit ab; mir sind, wenn wir von
den entsetzlichen Spukgestalten von Bosch und
Brueghel absehen, nur zwei im Wiener kunst-
historischen Hofmuseum befindliche Ausnahmen
bekannt. Die eine ist die bekannte Rubens'sche
Tigerin, die viel aus dem Gedächtnis gemalt zu
sein scheint, daher auch eine deutliche Schwanz-
quaste trägt und drei einfarbig gelbbraune Junge
säugt, obwohl der Tiger schon im Fötalzustande
die Querstreifung zeigt. Die andere auf einem
Bilde von Rubens und Snyders dargestellte, welches
ebenfalls sehr bekannt ist und das abgeschlagene
Medusenhaupt zeigt, von welchem sich ansonsten
sehr wohlgetrofifene einheimische Schlangen (Tropi -
donotus natrix und Coronella austriaca)
losringeln, und vor welchem ein ebenfalls wohl-
getroffener norddeutscher gestreifter Erdmolch, eine
Kreuzspinne und ein Skorpion herumkriechen, ist
ein Wesen, welches aus miteinander verwachsenen
Vorderhälften zweier Eidechsen (anscheinend eine
Wühlechse, Ch aleides sepoides) gebildet zu
sein scheint. Wenn wir aber bedenken, daß in
Cuvier's Regne animal, einem wissenschaftlichen
Werke mit sehr exakt ausgeführten Abbildungen
auch ein Fisch auftritt, welcher aus zwei ver-
schiedenen Gattungen (Vorderhälfte der nordischen
Seekatze, Chimaera monstrosa, und Hinter-
hälfte der antarktischen Seekatze, Callorhyn-
chus) zusammengesetzt ist, so erscheint uns dieser
künstlerische Verstoß gegen die Naturtreue nicht
mehr so arg.
Außer Tierstilleben, welche entweder Blumen-
stücke mit tierischer Staffage (Schmetterlinge:
Papilio, Pieris, Lycaena, Polyommatus, Pararge,
Melitaea, Satyrus, Argynnis, Vanessa, Spilosoma
etc.; Raupen; Fliegen: Calliphora, Syrphus; Wespen,
Libellen, Käfer, z. B. Trichius, Schnecken wie Helix
hortensis, Eidechsen und Nattern : Lacerta agilis
und Tropidonotus natrix) oder Fischmärkte (be-
sonders Franz Snyders mit zahlreichen Fischen
wie Petromyzon, Squatina, Raja, Accipenser, Cyclo-
pterus, Trigla, Belone, Cyprinus etc., ferner Schild-
kröten tropischer Provenienz: Testudo radiata und
tabulata, Wassersäugetieren wie Seehund und Fisch-
otter und schließlich Tintenfischen, Pfeilschwanz-
krebsen, Krabben und Schnecken) oder endlich
Jagdtrophäen (bei welchen der Künstler in der
Wiedergabe des Gefieders von Rebhühnern, Fasanen,
Pfauen, Truthühnern etc. und des Pelzwerkes von
Hasen usw. excellierte) vorstellen, finden wir fast nur
Haustiere in Bildern aus dieser und späterer Zeit
selten abgebildet ; das Pferd, als notwendiges Requisit
des Reiters von jeher mit Vorliebe dargestellt und
immer mehr im Detail ausgeführt, wird schließ-
lich — in den Gemälden, welche berühmte Renn-
pferde darstellen, mit wahrer Porträtähnlichkeit
wiedergegeben; Rinder, Ziegen, Schafe, eventuell
noch Esel und Schweine und Geflügel finden sich als
Staffage für Landschaften oder als Tierstücke für sich,
Hunde .und Hirsche bei Jagdszenen, schließlich
Katzen und Hunde bei Interieurstücken oder direkt
als „Hauptpersonen" auf kleineren Gemälden; eine
besondere Kategorie würden noch die bei sym-
bolischen Darstellungen vorkommenden Löwen und
Adler, sowie die bei Bildern religiösen Inhalts auf-
tretenden Tiere (tlsel und Ochs bei der Krippe,
die Tiere der Evangelisten, die Schlange im Para-
diese, die Kamele der heiligen drei Könige, die
von den ausgetriebenen Teufeln in Besitz genom-
menen Schweine etc.) bilden. Tiere abzubilden,
welche rein zoologisches Interesse besitzen, ist von
den alten Malern nur wenigen eingefallen ; so finden
wir auf einem Gemälde von Michiel van Coxcie
Dianaaffen, Zibethkatzen, bei Roeland Savery außer
dem schon erwähnten Dodo Kronenkraniche, Ca-
suare, Strauße, Trappen usw.
Die Ausbeute an zoologischen Motiven ist in
der ganzen übrigen mittelalterlichen und neuzeit-
lichen Malerei und Skulptur nicht so reich, als
bei den Niederländern; wir finden zumeist in Ver-
bindung mit klassischen und mythologischen Motiven
Drachen, die so ziemlich rein der Phantasie ent-
sprungen sind, Schlangen (Adam und Eva; Kleo-
patra), Hunde, Pfauen (Juno), Adler, Fische etc.
Nur wenige Künstler, wie Bassano, der auf einem
Gemälde Kaninchen, Hasen, Löwen, Füchse, Hunde,
Schafe, Hirsche, Hühner, Pfauen, Truthühner und
Schildkröten vereinigt, erinnern noch an die alten
Arche-Noah's-Stücke der Holländer.
Erst der neueren Malerei und Plastik war es
vorbehalten , andere zoologische Motive in die
Kunst einzuführen. Das Bild „Löwe und Löwin
auf der Lauer", welches sich, wenn ich nicht irre.
N. F. III. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
839
in der Berliner Gallerie befindet und durch zahl-
reiche Reproduktionen bekannt geworden ist, das
vor kurzer Zeit auch in Wien ausgestellte Kuhnert-
sche Bild: „Angriff von Löwen auf einen Kap-
büffel" sind Beispiele dafür. Solche Kunstwerke,
in denen freilebende Tiere in anderen als kon-
ventionellen Stellungen erscheinen, sind das Pro-
dukt einer erleichterten Naturbeobachtung (durch
die modernen zoologischen Gärten, durch Moment-
aufnahmen wildlebender Tiere) und der Kombina-
tion exakter Wiedergabe des lebenden Objekts
mit künstlerischer Behandlung des Stoffes, wodurch
sich erst ein derartiges, dramatisch belebtes Bild
von einer wissenschaftlichen Abbildung, welche
alle zur Erkennung eines Tieres wichtigen Teile
in möglichst klarer Weise zeigen soll, unterscheidet.
Ein Löwe, der auf seinem Schwanz sitzt, so
daß von demselben nur die Schwanzquaste zu
sehen ist, ein afrikanischer Elefant, der, dem
Beschauer zugewendet , mit ausgebreiteten Ohren
dasitzt, so daß Schwanz und Hinterbeine un-
sichtbar bleiben, tun dem Auge des Zoologen
weh; ihm muß der Löwe, der Elefant voll-
ständig, wenn möglich genau von der Seite,
gezeigt werden: dadurch unterscheidet sich
eine rein künstlerische Tierdarstellung von der
wissenschaftlichen: ersterer kommt es auf die Wir-
kung, den Eindruck auf den unbefangenen Be-
schauer an, letzterer auf die Klarheit, Übersichtlich-
keit und Korrektheit der Darstellung. Der Sa-
vannen-P^lefant Kuhnert's (Haacke und Kuhnert,
Tierleben der Erde, III. Band) ruft in dem Be-
schauer sicherlich andere, mit der Zoologie in
keinem Zusammenhange stehende Gedanken wach,
als dieselbe Art in Normalstellung ohne LJmgebung,
welche wieder keinen anderen Gedanken als den
an die Artmerkmale des afrikanischen Elefanten
aufkommen läßt.
Darum ist das Prachtwerk von Haacke und
Kuhnert, was die Abbildungen anbelangt, ein Kunst-
werk, soweit die von Meister Kuhnert gefertigten
Säugetier- und Vogelbilder in Betracht kommen;
dagegen vom Range einer besseren Mittelschul-
Naturgeschichte in Bezug auf die übrigen Tier-
gruppen, aus deren Vertretern der Künstler, sogar
Kuhnert oft selbst, ebensowenig, als der Verfasser
des mageren und nichts weniger als interessanten
Textes etwas zu machen wußte. Die Abbildungen
der Säuger und Vögel wird auch der Kenner ihres
Freilebens stets wieder mit Vergnügen betrachten,
namentlich die farbigen; die der Reptilien und
Fische sind im besten Falle recht brave Leistungen,
die farbigen dagegen fast ausnahmslos verfehlt in
Kolorit oder Zeichnung oder in Beidem, wie die Horn-
viper, die indische Pythonschlange, die afrikanischen
Fische. Die Abbildungen der niederen Tiere sind recht
gute Schulbuchbilder; hier hört die Kunst im
höheren Sinne auf; an einer Schnecke lassen sich
ohne Karrikierung keine originellen Ideen aus-
drücken; man zeichnet sie entweder richtig oder
falsch, exakt oder nachlässig. Tiere, die keinen
schmiegsamen Körper und nicht einmal einen (wie
dies bei den Schlangen trotz ihrer sonstigen Gleich-
förmigkeit der Fall ist) spezifischen Gesichtsaus-
druck bzw. überhaupt kein „Gesicht" haben, sind
für eine rein künstlerische Behandlung unbrauch-
bar, einem Hirschkäfer wird kein Künstler ein
anderes Aussehen verleihen können, als er in
jedem guten Käferbestimmungsbuchc hat, er kann
ihn höchstens als Motiv zu einem modernen,
Stiefelknecht benutzen.
Eine Hauptschwäche der bildenden Künste sind
die Schlangen. t~s möge dies nicht allein so auf-
gefaßt werden, als ob die Kunst eine besondere
Vorliebe für diese Tiere hätte, sondern auch im
eigentlichen Sinne des Wortes. Schlangen sind
in der Kunst auffallend reich vertreten. Der Künstler,
der sich mit dem einst so sehr beliebten Thema
des ersten Sündenfalles befaßte, sowie derjenige,
welcher die Hygieia, die Sünde, die Kleopatra, das
Haupt der Medusa, Grillparzer's ,, Traum ein Leben"
oder eine Vase mit Henkeln darstellen will, sie
alle brauchen die Schlange, aber noch keiner hat
sich eine solche angesehen. Die meisten von ihnen
glauben, es genüge, einem schraubenförmigen Ding,
welches wie ein Korkzieher oder wie die Sprung-
feder eines Springteufels aussieht, den Kopf eines
Türklopfers, Wasserspeiers oder chinesischen
Drachen aufzusetzen und die Schlange sei fertig.
Sie büßt den Sündenfall „in effigie" noch jetzt.
Kein Tier wird, sogar in der Heraldik, so ver-
hunzt wie sie, da anscheinend jeder Maler und
Plastiker glaubt, ein wurmförmiges Tier könne man
ohne weiteres und jederzeit aus dem Kopfe zeich-
nen und modellieren ; daher sind auch die beiden
berühmten .Schlangen der Laokoongruppe zoo-
logisch total unmöglich, obwohl ich gerne zugebe,
daß der Künstler in dem Dilemma, entweder
Schlangen von normalen Dimensionen darzustellen,
welche mit ihren Körpern den weitaus größten
Teil der schönen Muskulatur der Familie Laokoon
verdeckt hätten oder aber der Natur Zwang an-
zutun, lieber das letztere tat. Denn die Schlangen
waren ihm ja nur Mittel zum Zweck, obwohl die drei
Personen mit Schlangen von der vorliegenden
Dicke jedenfalls bei einiger Geschicklichkeit leicht
hätten fertig werden können, umsomehr als keiner
am Atmen verhindert ist.
Daß die .Schlange auf dem Wiener Grillparzer-
Denkmalrelief vom Kopf an nach hinten allmäh-
lich dünner wird, wie ein malayischer Dolch und
daß sie ein ganz unmögliches Gesicht schneidet,
ist jedem Zoologen ebenso schmerzlich als die
Opernschlange, welche in der ,, Zauberflöte" in
vertikalen statt horizontalen Wellenlinien über die
Bühne kriecht. Daß die Maler der ,, Sünde" etc.
den betreffenden Schlangen einfach Smyrnateppiche
auf den Leib malen, anstatt sich ein .Spiritus-
exemplar einer Boa constrictor in irgendeinem
zoologischen Museum anzusehen, will ich gleich-
falls noch — aber nicht lobend — hervorheben.
Und warum dies alles ? Jeder unbefangen denkende
Künstler wird zugeben müssen, daß die Natur ge-
rade bei der Schlange weit Ästhetischeres ge-
840
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 53
schaffen hat, als die Künstler aller Zeiten. Weder
die harmonischen Körperlinien, noch die Farben-
pracht der Haut der Boa, noch auch der bald
furchtbar drohende, wütende, bald starre Blick der
Vipern kann von den lächerlichen Karrikaturen
mit Schnurrbärten, Stoßzähnen und Hörnern, welche
von unseren sonst so fein empfindenden Künstlern
für dämonisch wirkend angesejien werden, erreicht
werden : keinem wird es einfallen, einem Löwen
zur Verschönerung ein Hörn auf die Nase zu setzen,
oder dem Adler einen Schnurrbart oder ein Paar
Hauer wachsen zu lassen; die Schlange glaubt
man zur Befriedigung eines gesteigerten „Schön-
heits"bedürfnisses stilisieren zu müssen.
Die Tierdarstellung in der Plastik hat in der letzten
Zeit insofern Fortschritte gemacht, daß nicht nur die
vorkommenden Tiere (von den Pferden vielleicht
abgesehen, in deren Wiedergabe schon früher eine
hohe Vollkommenheit erreicht wurde) naturge-
treuer ausgeführt werden (I^öwen), sondern daß
auch mancherlei Tierformen, die früher nicht Gegen-
stand plastischer Darstellung waren, nun in Be-
tracht gezogen werden. Außer den katzenartigen
Raubtieren, deren Kampf mit dem Menschen schon
frühzeitig die Plastiker reizte, da diese mit eben-
mäßigster Körpergestalt gewaltige Muskeltätigkeit
hier vereinigt fanden, und die daher auch jetzt
noch (wenngleich nur Löwe und ein leoparden-
artiger Typus bei dem Umstand, daß die Plastik
die Zeichnung des Katzenfelles nicht wiedergibt,
unterscheidbar ist) für „(iladiatorenkämpfe" u. dgl.
sehr beliebt sind, kommen nun auch Seelöwen
(Brunnen in Antwerpen) und für Brunnen nament-
lich Frösche, Kröten, Molche, Eidechsen, Schild-
kröten (Undine-Brunnen im Kurpark zu Baden bei
Wien) und Krokodile (Springbrunnen um das
Mariatheresienmonument in Wien) in trefflicher
Ausführung zur Wiedergabe. Sind Kriechtiere
und Lurche auch schon früher als Brunnenschmuck
plastisch zur Verwendung gelangt (Neptunsbrunnen
in Schönbrunn bei Wien) so sieht man den neueren
Kunstwerken schon an, daß sie nach lebenden
Modellen und nicht nach schlechten Bildern oder
aus dem Gedächtnis geschaffen wurden.
Auch im Kunstgewerbe finden Tierformen
mannigfache Anwendung, was uns ja nichts Neues
ist, wie wir aus unserer Übersicht zu Anfang gesehen
haben; sind doch eigentlich alle seit den ältesten
Zeiten zu Gefäßen verwendeten Tierformen, alle
auf Gebrauchsgegenstände eingeschnitzten, eingra-
vierten und aufgemalten Tierbilder dieser Kategorie
zuzuweisen. Heutzutage ist die Verwendung viel-
leicht noch allgemeiner und sind Tiere in mannig-
fachster Weise, wenn auch oft zu bestimmten
Zwecken gedehnt, gezerrt, verdreht und gekrümmt
in Bronze und Schmiede- oder Gußeisen als Halter
von Glühlampen, Stöcken und Schirmen als Rahmen
und Stockgriffe, Kleider- und Huthalter, in Por-
zellan und Glas als Vasen und Vasenhenkel im
Gebrauch; schließlich auch noch in neuerer Zeit
im Buchdruck bei Büchereinbänden, Kopfleisten
und Schlußvignetten und zwar nicht nur bei
Büchern zoologischen Inhalts. Bekannt ist ja die
,, Zoologie für Setzer", die eine Sammlung von
Klichee-Abdrücken der verschiedensten Tiere in
Schwarzdruck \7orstellt, die bereits, wie ich ge-
sehen habe, in den verschiedensten Druckwerken,
namentlich als Schlußvignetlen Aufnahme gefun-
den haben. Hier wäre aucli die Stelle, auf Ernst
Häckel's monumentales Werk „Die Kunsiformen
in der Natur" hinzuweisen, welches in prachtvoll
ausgeführten, meist wohlgelungenen (nur auf der
Schildkrötentafel, weil ohne Modelle, nur nach
rechtmäßigen Abbildungen gemacht, recht schlecht
ausgefallenen) farbigen Abbildungen die schönsten
Naturgebilde, vor allem aus der Zoologie, vorführt
und dem Kunstgewerbe dienstbar macht.
Sind wir einmal bei den Büchern , so ist zu
den Buchillustrationen nur mehr ein kurzer Weg.
Sehen wir uns die Lehrbücher der Naturgeschichte
an, aus denen man vor 30 Jahren gelernt, so
müssen wir, wenn wir überhaupt Abbildungen
darin finden und der Lehrer nicht (wie es auch
heute noch mancher sonderbare, mehr bequeme
als naturfreundliche Pädagoge tut) die Tierbeschrei-
bungen einfach auswendig lernen ließ, gestehen,
daß sie teilweise den Vergleich mit den Silhouetten
der Setzer- Zoologie nicht aushalten können. Die
hölzernen Stellungen der Tiere, die rohe Zeich-
nung und schlechte Reproduktion lassen den Ab-
stand von den prächtigen Abbildungen jetziger
Naturgeschichtsbücher, von denen manche der in
Österreich gebräuchlichen Reproduktionen nach
Zeichnungen ausgezeicimeter Künstler wie Mercu-
liano enthalten, himmelweit erscheinen. Auch in
der bekannten Schubert'schen Naturgeschichte,
die seinerzeit als ein sehr schön illustriertes Buch
galt, sind die Tiere vielfach nicht nach der Natur,
sondern nach schlechten Präparaten abgebildet
und die P'arben oft schreiend grell, was nament-
lich bei den Insekten hervortritt; weit besser sind
die Tiere in der ebenfalls allgemein bekannten
und verbreiteten Naturgeschichte von Martin. So-
gar in dem berühmten Tierleben Brelim's sind die
Abbildungen durchaus nicht inmier mustergültig
und neben vielen vortrefflichen von Specht und
Mützel gibt es — • auch in der neuesten Auflage
— noch immer etliche, die verfehlt und ohne
Unterschrift nicht erkennbar sind. Es rührt
dies offenbar daher, daß einem und demselben
Künstler nicht jederlei Art von Tieren gelingt und
ein ausgezeichneter Vogelzeichner außer stände
sein kann, eine Eidechse oder Schlange richtig
darzustellen, während ein vortrefflicher Zeichner
von Insekten bei der Abbildung von Säugetieren
unrettbar entgleist. Daher haben sich die besten
Zeichner für Zoologie immer mehr zu spezialisieren
begonnen. Was Kuhnert, Leutemann und Specht
für die Säugetiere sind, das ist Keulemans für die
Vögel, Konopicky, Green und Peter Smith für
Kriechtiere und Fische.
Die ausgezeichnetsten Tierzeichner sind es,
welche die Abbildungen zu den zoologischen Ab-
handlungen der Wiener und Berliner Akademie,
N. F. m. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
841
der Zoological Society in London und anderer
Vereins- und Zeitschriften ausführen oder die
modernen zoologischen Prachtwerke illustrieren,
deren namentlich England und das Deutsche Reich
so viele aufweist. Die prächtigen Abbildungen
zu den englischen Büchern über katzenartige Raub-
tiere (Elliot, Monograph ofFcIidae), über Antilopen
(Sclater and Thomas, the Book of Antelopes), über
das' Wild Indiens, Afrikas und Amerikas, über die
Hirsche, die hohlhörnigen Wiederkäuer, alle von
Lydekker, ferner die Royal Natural History (der
„englische Rrehm") desselben Verfasser, BuUer's
Vögel von Neuseeland, Sharp's Monographie der
Paradiesvögel, ferner die Biologia Ceiitrali-Ameri-
cana, Sinith's Illustrationen zur Zoologie Südafrikas
u. a. sind unübertreffliche Beispiele wissenschaft-
licher Illustrationskunst. Von deutschen Werken
ähnlicher Art wäre außer Brehm und dem bereits
öfter hier erwähnten Werke von Haacke und
Kuhnert, in welchem namentlich die herrlichen
und mit stimmungsvollem landschaftlichem Hinter-
grund geschmückten farbigen Tafeln Kuhnert's
eine Quelle steten Genusses für den Naturfreund
darbieten, ferner das Kobelt'sche Buch „die Ver-
breitung der Tiere", die neue Auflage von Nau-
manns „Vögel Deutschlands", Haeckel's ,, Kunst-
formen der Natur", von französischen Werken
Grandidier's und Milne Edwards Naturgeschichte
von Madagaskar, die „Expedition Scientifique au
Mexii]ue et ä l'Amerique centrale", Guichenot's
Zoologie von Algerien u. a. hervorzuheben.
Aber schon in früheren Jahrzehnten des ver-
flossenen Jahrhunderts und im i8. waren manche
zoologische Werke bereits bewunderungswürdig
illustriert. Man denke z. B. nur an Ratzeburg's
P'orstinsekten, an das „Regne Animal" Cuvier's
und die „Organisation du Regne Animal" von
Blanchard, Rusconi's Werk über den Erdsala-
mander , Rösel's Froschbuch , und die vielen
guten alten Insektenbücher (Rösel, Reaumur,
Latreille u. a.).
Namentlich von den Gliedertieren mit ihrem
starren Außenskelett existieren schon viel länger
ausgezeichnete Abbildungen als von den Wirbel-
tieren ; an ihnen wurde höchstens im Kolorit mit-
unter gesündigt, während die letzteren noch viel-
fach (Fitzinger's Bilderatlas, Schinz u. a.) in Körper-
haltung, Gesichtsausdruck, in den Dimensions-
verhältnissen der Gliedmaßen, in Färbung usw.
mehr oder weniger verunglückt sind; nament-
lich ein gewisser Hang zum Verschönern , zu
einer sozusagen „geleckten" Ausführung ist zu be-
merken, auf welchen ja auch die Fehler in der —
immer zu grellen — Kolorierung zurückzuführen
sind. Daß dieses Verschönern und Egalisieren
auf Kosten der wissenschaftlichen Genauigkeit
ging, ist leicht einzusehen.
Wir haben also gesehen, daß zwei Richtungen
in der Darstellung der Tierwelt fast von den
ersten Anfängen der Kunst an nebeneinander
laufen ; Die Darstellung von Tieren , die dem
Menschen als Nahrung, oder wegen ihrer Gefähr-
lichkeit oder wegen absonderlicher Erscheinung
besonders auffielen — sie stellt das erste Stadium
der wissenschaftlichen zoologischen Abbildungen
vor und geht der zweiten Richtung zeitlich etwas
voran — und dieDarstellung von Tieren mit bezugauf
religiöse Vorstellungen, entweder unverändert oder
stylisiert oder schließlich karrikiert und mit der
des menschlichen Körpers verquickt (Vorläuferin
der künstlerischen Tierdarstellung ohne Rücksicht
auf genaue Wiedergabe der Form und mit mehr
oder weniger Beziehung auf Kultus, Mythologie etc.).
Eine Mittelstellung nehmen die staffierten Land-
schaften ein, auf welchen Tiere, namentlich Haus-
und Jagdtiere mehr oder weniger deutlich und
genau in den Einzelheiten ausgeführt sind. Je
kleiner nun die Tierbilder im Verhältnis zur Land-
schaft sind, desto flüchtiger wird natürlich die Aus-
führung und die zoologische Abbildung, in der
die Tiere Hauptobjekte der Darstellung waren,
geht in die staffierte Landschaft über, in der
schließlich Farbenflecke sowohl Ganztiere, als auch
Faune und Satyrn , Centauren u. dgl. Halbtiere
vorstellen. Die Renaissance hat sich in der
Schaffung solcher „Halbtiere" nicht schöpferisch
erwiesen , sie hat dieselben nur aus der Antike
übernommen und bis zum heutigen Tage haben
sie sich (siehe Böcklin) nicht mehr verändert.
Die Mythologie gibt uns übrigens auch einen
Hinweis auf den Grad der Intensität, in dem sich
die Völker als solche mit der Tierwelt beschäftigt
haben ; solche, die der Natur nahe stehen und gute
Naturbeobachter sind , haben gar keine oder nur
wenige Mißgestalten in ihrer mythologischen Tier-
welt. Die Mitgardschlange und der Wolf Fenrir
der Germanen unterscheiden sich durch das Fehlen
aller verzerrenden Charaktere sehr vorteilhaft von
den mehrköpfigen griechischen Sagengebilden, der
Hydra und dem Cerberus; die Japaner haben
außer dem himmlischen Drachen, der sicher kein
Vorbild in der gegenwärtigen Tierwelt hat und
anscheinend absichtlich so verschieden von jedem
existierenden Tier konstruiert ist, um seine Nicht-
dazugehörigkeit zu dokumentieren, keinerlei kom-
biniertes oder karrikiertes Tier; auch in der indi-
schen Mythologie fehlen Darstellungen solcher
Tiere vollständig; dagegen haben die Ägypter,
Babylonier und Griechen die meisten teratologisch
aussehenden Tiere in ihrer mythologischenMenagerie,
entsprechend ihrer nicht nur hohen, sondern auch
großenteils von der Naturbeobachtuiig sich abkehren-
den Kultur. Merkwürdig ist es übrigens, daß diese
Völkerschaften ihre mythologischen Fratzen so
von Grund aus verschieden haben; wie die Spiiinxe
und tierköpfigen Götter nur den Ägyptern, so
waren die geflügelten, königsköpfigen Löwen und
Stiere den Babyloniern , die Centauren , Satyrn,
Sirenen u. dgl. den Griechen eigentümlich und
die spätere Kunst verhielt sich ihnen gegenüber
bloß nachahmend.
Die Tierdarstellungen, welche in der frühesten
Kunst eine so große Rolle spielten, haben mit der
Zunahme der Kunstfertigkeit ihre frühere Bedeutung
842
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 5;
in derselben verloren. Im modernen Kunstgewerbe
wird zwar die Tiergestalt in der mannigfaltigsten
Weise zur Verwendung gebracht, jedoch stets nur
als Mittel zum Zweck; in der Kunst im strengeren
Sinne hat sie seit den Zeiten der alten Nieder-
länder entschieden an Boden eingebüßt. Dagegen
hat sie sich aber in den modernen zoologischen
Prachtwerken , von denen ja eine nicht geringe
Zahl auch der allgemeinen Bildung dienstbar ge-
macht ist und eine weite Verbreitung auch in
Familienkreisen gefunden hat (Brehm, Chun etc.)
ein neues Gebiet erobert , in welchem sie eine
große Zukunft noch vor sich hat. Von den gra-
vierten Renntierknochen zu den mit allem Raffine-
ment der modernen Illustrationstechnik hergestellten
Abbildungen bei Haacke und Kuhnert u. a. —
welch weiter Weg in der Entwicklungsgeschichte
der Menschheit!
Kleinere Mitteilungen.
Indische Rassentypen. — Der bekannte eng-
lische Gelehrte H. H. Risley, ehemaliger Super-
intendent des Census von Indien, hat eben neue
Beiträge zur Völkerkunde des indischen Reiches
veröffentlicht, die es gerechtfertigt erscheinen lassen,
sie einer Besprechung zu unterziehen. Die Arbeit
Risley 's') bietet manches Neue und strittige
Fragen der indischen Ethnologie werden in ein
neues Licht gerückt; als Grundlage dienten die
eigenen anthropometrischen Untersuchungen R.'s,
wie jene von Sir William Turner, dem Leiter der ethno-
graphischen Aufnahme Südiiidiens, F. H. Hollands,
welcher Daten betreffend die Coorgs, Jeruvas etc.
lieferte, ferner die Messungen von Leutnant-Colonel
Waddell (Assam und Bengalen), sowie die von B. A.
Gupte und Rai Sahib Kumud Bchari Samata (Be-
lutschistan, Radschputana, Bombay Orissa) usw.-')
Es ist wohl nicht schwer, unter der Bevölkerung
Indiens gewisse wohlmarkierte Typen zu unter-
scheiden; die Schwierigkeiten beginnen erst, wenn
man versucht, jene ,,Sub-Typen" zu klassifizieren,
welche durch Kreuzung der verschiedenen Rassen
entstanden sind. Es war möglich, folgende drei
Hauptrassentypen festzustellen: i. die indo arische
Rasse; 2. die dravidische Rasse; 3. die mongolische
Rasse.'') Diesen fügt Risle}' folgende weitere vier
Rassent)'pen hinzu: f .den arisch-dravidischen Typus;
2. den mongoIisch-dravidischenTypus; 3. denskytho-
dravidischen Typus und 4. den turko-iranischen
Typus.^)
Zur Unterscheidung dieser Rassentypen wurden
besonders in Betracht gezogen: die Ergebnisse der
Messungen der Kopfform, der Nase und der Körper-
gestalt. Vor allem ist zu bemerken, daß die an-
geführten Rassen, obwohl jede für einen bestimmten
Teil Indiens charakteristisch ist, vielfach ineinander
verschmelzen, so daß bei der kartographischen
•) General Report of the Census of India, 1901, Chap. u,
p. 489—557 (1904).
'-) Ethnogr. Append. Calcutta 1904. (Nicht im Buch-
handel.)
') Die Negritos der Andamanen bleiben außer Betraclit,
weil sie die anthropologischen Verhältnisse des Reiches selbst
in keiner Weise beeinflußten.
■•) E. Sclimidt (Globus, Bd. LXl, Nr. 2—3) hat nach der
Hautfarbe und der Form der Nase vier Typen unterschieden:
I. schmalnasige hellhäutige Inder; 2. breitnasige hellhäutige
luder; 3. schmalnasige dunkclhäutigc Inder; 4. breitnasige
dunkelhäutige lader.
Darstellung der ethologischen Verhältnisse die an-
gegebenen Grenzen immer bis zu einem gewissen
Grade willkürlich gezogen erscheinen.
Der indo-arische Typus ist im Pundschab,
Radschputana und Kaschmir vertreten. Ange-
hörige dieser Rasse sind namentlich die Radsch-
puts, Khatris und Jats (.Sikhs). Obwohl mit ver-
schiedenen anderen Elementen assoziiert, nament-
lich mit Ttirko-Iraniern, können die Indo-Arier von
diesen doch leicht unterschieden werden. Die-
selben sind immer dolichocephal; der durchschnitt-
liche Index variiert von 72,4 bei den Radschputs
bis 74,4 bei den Awan ; ebenso ausgesprochen ist
die Leptorrhinie ; der mittlere Nasalindex schwankt
von 66,9 bei den Gujars bis 75,2 bei den Clnihra;
höhere individuelle Indiccs sind selten. Der mitt-
lere orbito-nasale Index variiert von 117,9 bei den
Radschputs bis 113,1 bei den Khatris. Die Indo-
Arier haben unter allen Einwohnern des Reiches
die höchste Körpergestalt; der Durchschnitt
schwankt von 174,8 bei den Radschputs bis 165,8
bei den Arora; individuelle Maße steigen bis zu
192,4 cm bei den erstgenannten und 190,5 bei den
Jats. Innerhalb dieser Gruppe ist die vorherr-
schende Farbe der Haut ein sehr leichtes trans-
parentes Braun mit einer Tendenz zu dunkleren
Scliattierungen bei niedrigen sozialen Schichten.
Die Farbe der Haare und Augen ist dunkel, der
Bartwuchs reichlich. — Es ist hier zu bemerken,
daß Variationen in der Farbe der Haare und Augen
sehr selten zu beobachten sind; helleres Haar wurde
in manchen Fällen , namentlich bei den hohen
Kasten, angetroffen. Die Farbe der Augen ist
nahezu immer dunkelbraun; sehr selten wurden
graue Augen (und zwar bei den Konkanasth-
Brahmanen von Bombay) und die Kombination
von blauen Augen, rotbraunen oder blonden Haaren
(in den Nordwest-Grenzprovinzen) angetroffen.
Blaßblaue und graue Augen traf Thurston aber
auch in .Südindien.
Wenn man von den Meos und Minas von
Radschputana absieht, wo eine Kreuzung mit Bhils
anzunehmen ist, so zeigt die indo-arische Rasse
keine Zeichen der Modifikation durch Kontakt
mit den Dravidas. Sowohl die physischen wie
die sozialen PZigenheiten derselben weisen darauf
hin, daß sie von der Mischung mit anderen Rassen
verhältnismäßig wenig betroffen wurde. Die geo-
graphischen Verhältnisse der Wohnsitze dieser
Rasse sind solche, daß schon aus dem Grunde
N. F. ni. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
843
eine Mischung mit den dunl;leren Rassen des
Südens zum guten Teile verhindert war. In Be-
zug auf ihren sozialen Charakter unterscheiden
sich die Indo-Arier namentlich dadurch von dem
Rest der Bevölkerung Indiens, daß bei ihnen die
Bande der Kastenorganisation weniger straff er-
scheinen, obwohl sie sich den Einflüssen des
Kastensystems keineswegs zu entziehen vermochten.
(Risley, a. a. O., p. 508.) Dies gilt auch hinsicht-
lich der Bestimmungen betreffend die Eheschließung ;
diese ist innerhalb großer Gruppen nach dem
Prinzip der Hypergamie geregelt, während bei den
anderen Rassentypen vielfach der Kreis, innerhalb
dessen Heiraten stattfinden dürfen, ein weit engerer
ist. Selbst gegenwärtig kommt es noch vor, daß
Radschputs Frauen von den Jats nehmen; diese
erhalten aber von den ersteren niemals Frauen,
weil es zufolge der Hypergamie ausgeschlossen
ist, daß der iMann einer niedrigeren Kaste ange-
hören darf als die Frau. Was die Ausnahme heute
ist, hat aller Wahrscheinlichkeit nach, meint Risley,
früher die Regel gebildet. Es gibt nur zwei Er-
klärungsgründe für die Gleichartigkeit der Charakter-
merkmale der Indo-Arier: i. daß dieselben im
Pundschab einheimisch .sind; 2. daß sie nach Indien
in einer kompakten Masse oder in einem kon-
tinuierlichen Strom von Familien kamen. Die
Theorie, daß der Pundschab die Heimat der arischen
Rasse sei — die hauptsächlich auf philologischen
Argumenten fußt — , ist nun wohl endgültig- wider-
legt; es wird vielmehr als zweifellos betrachtet,
daß die Indo-Arier vom Nordwesten her eindrangen.
Zur Zelt ihrer Ankunft war das ganze Gebiet
Indiens, auch im westlichen Teil der Halbinsel,
im Besitze der Dravidas. Die „gelbe Rasse", welche
Ujfalvy') (nach Fergusson) mit „Nagas" -) be-
zeichnet, und von der er annimmt, daß sie das
nordwestliche Indien bewohnte, als die Arier ein-
drangen, wird von Risley überhau[it nicht erwähnt.
Die relative Einheitlichkeit der physischen Er-
scheinung der heutigen Indo-Arier ist nur damit
zu erklären, daß diese — als sie sich im Pundschab
niederließen — ihre eigenen Frauen mitbrachten,
während die folgenden Eindringlinge darauf an-
gewiesen waren, unter den Eingeborenen Indiens
Frauen zu suchen.
Wenn aber die klimatischen und geographischen
Zustände des indischen Grenzlandes in jenen Zeit-
läufen dieselben gewesen wären als gegenwärtig, so
ist es schwer zu erklären, wie die langsame Ein-
wanderung in geschlossener Familien- und Stammes-
organisation, die in der Okkupation des Pundschab
resultierte, möglich war; ein pastorales Volk, das
in Clans und Familien organisiert von einer Re-
gion mit günstigen klimatischen Verhältnissen aus-
wandert, würde in den wüsten Hügeln des indischen
Grenzlandes ein Hindernis der weiteren Migration
') Pol.-.\nthrop. Rev., 2. Bd., Nr. lo.
'■') Die Bezeichnung ,, Nagas" ist in diesem Falle wenig
zutreffend, da dies der Name eines gegenwärtig im
äußersten Osten Indiens lebenden Vollies ist. Vgl. Journ.
Anthr. Inst., 1902, 2 Hälfte.
angetroffen haben, das zu überwinden nur die
stärksten Mitglieder der Gemeinschaft in der Lage
gewesen wären. Doch ist es gewiß nicht ausge-
schlossen, daß im Laufe der letzten drei bis vier
Jahrtausende erhebliche klimatische Änderungen
Platz griffen. Hierfür gibt es einige Beweise. Schon
im Jahre 1873 hat W. F. Blanford die Überzeugung
ausgesprochen, das Klima Zentralasiens undPersiens
sei in moderner Zeit ein viel trockneres geworden,')
was er u. a. mit der Abholzung weiter Landstriche
in Verbindung brachte. Damit ist die Kultur und
auch die Bevölkerungszahl zurückgegangen. Zu
ähnlichen Resultaten gelangte E. Vredenberg.
(Mem. Geol. Survey of India, Bd. XXXI, 2.) In
den wüsten Tälern von Kharan wurden hunderte
von Steinmauern angetroffen, lokal als ,, Gorbands"
bekannt, welche die Reste ehemaliger terrassierter
Felder darstellen. Niemand würde diese Bauten
in einer regenlosen Wildnis aufgeführt haben. Man
kann vielmehr den Schluß ziehen , daß diese
Terrassenfelder die Ausbreitung einer gedeihenden,
ackerbautreibenden Bevölkerung der Ebenen bis
in die Berge bedeute. Als nun der Regenfall un-
genügend wurde, sah sich diese Bevölkerung ver-
anlaßt, ihre bisherigen Wohnsitze nach und nach
zu verlassen; sie drang in den Pundschab vor. Das
Bild, welches uns Vredenburg von den geologischen
Geschehnissen in dem Gebiet vom mittleren Persien
bis zur indischen Grenze gibt — wo die Indo-
Arier vor ihrer Einwanderung nach Indien an-
sässig waren — läßt uns die Besiedelung des nord-
westlichen Indiens durch dieselben erklärlich er-
scheinen. Diese Wanderbewegung war nach Risley
eine sehr langsame; sie hat sich auf einige Jahr-
hunderte erstreckt, während welcher Zeit die Ver-
schlechterung des Klimas im Westen andauerte.
Als der heutige Zustand dort bereits eingetreten
war, ist es nur noch Nomaden und kriegerischen
Scharen möglich gewesen, vom Nordwesten nach
Indien einzudringen. Dies war denn auch der
Fall. Aber die Einwanderer, wie mächtig sie auch
sein mochten, konnten in keinem Fall eine größere
Anzahl Frauen mitbringen; dies ist das bestimm-
teste Faktum in der anthropologischen Geschichte
Indiens. Jede Welle neuer Eindringlinge, die
Griechen, Skythen, Araber etc. wurden mehr oder
weniger von der einheimischen Bevölkerung ab-
sorbiert und ihre physischen Charaktere sind ver-
schwunden.
Die zweite selbständige Rasse, die D r a v i d a s ,
werden von Risley als die Ureinwohner Indiens
bezeichnet; mindestens können sie als die älteste
bekannte Bevölkerung dieses Landes gelten. Eine
Zuwanderung derselben vom Norden ist ausge-
schlossen. Dieser Rassentypus ist gegenwärtig
hauptsächlich im nördlichen Ceylon, in Madras,
Travancore, Mysore, Haiderabad, Berar, den Zentral-
provinzen und Zentralindien, sowie in Chota Nag-
pur verbreitet. Der Jumna und Ganges bilden
die Nordgrenze des Wohngebietes der Dravidas.
') Quart. Journ. of tlie Geol. Soc. (London) 1873.
844
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 53
Die am meisten charakteristischen Repräsentanten
dieser Rasse sind die Paniyans von Südindien und
die Santals von Chota Nagpur. Die Körpergestalt
der Dravidas ist klein, die Kopfform mesocephal,
oft aber auch dolichocephal (mittlerer Index 71,7
bei den Badaga bis 76,6 bei den Schanans von
Tinnevelly). Die Nase ist in der Regel bedeutend
breiter als bei irgend einer anderen indischen
Rasse; leptorrhine Individuen werden nur selten
getroffen. Der nasale Index beträgt z. B. in Chota
Nagpur und Westbengalen bei den Kurmi durch-
schnittlich 82,6 bis 94,5 bei den Male (Santal Para-
ganas). Auffallend sind die Beziehungen zwischen
Körpergröße und der Form der Nase.
Es betrug
1^ • ^ die mittlere der mittlere
Körpergröße Nasalindcx
Agamudaiyan . . . 165,8 74,2
Badoga 164,1 75,6
Tujan 163,7 75,0
Tamil-Brahmanen . 162,5 76,7
Palh 162,5 77,3
Tamil-Paraiyan . . 162,1 80,0
Iruba 159,9 80,4
Kadir 157,7 89,8
Paniyan i57,o 95,1
Die Farbe der Haut, ebenso wie die der Haare
und Augen, ist dunkel, fast schwarz. — Man hat
früher angenommen , daß die Dravidas in den
Australnegern ihre nächsten Verwandten haben ;
die kraniologischen Studien Sir William Turners
haben jedoch diese Vermutung gar nicht bestätigt.
Bisher war es nicht möglich, über die Herkunft
der Dra\'idas Befriedigendes festzustellen.
Die Mischrasse der Indo- Arier und der Dravidas
bezeichnet Risley als den arisch -dravidischen
Typus oder die Hindustani. Dieser Typus
ist namentlich im Tal des Ganges und Jumma ver-
breitet, von der Ostgrenze des Pundschab bis nach
Bihar einerseits und von der Grenze Nepals bis
südlich des Ganges andererseits.
Dieselbe Rasse ist auch im südlichen Ceylon
vertreten.
Die Hindustani stellen eine ausgesprochene
Mischrasse dar, und „niemand würde einen solchen
selbst der oberen Klassen für einen Indo-Arier
halten können". Die Kopfform ist lang, mit einer
Tendenz zu mesocephal, die durchschnittlichen
Indices variieren von 72,1 bei den Kachi und Kori
von Hindustan bis 76,8 bei den Dosadh von Bihar.
Die auffallendste Verschiedenheit gegenüber den
Indo- Ariern liegt in der Form der Nase; der durch-
schnittliche Index steigt von 73 bei den Bhuinhar
von Hindustan bis 86 bei den Hindustani Chamar
und 88,7 bei den Musahar von Bihar. Die Nase
ist besonders bei den unteren Kasten von erheb-
licher Breite. Die Komplexion variiert von licht-
bis dunkelbraun.
Es wird angenommen, daß der ersten Ein-
wanderung arischer Stämme nach Indien eine
zweite folgte, veranlaßt sowohl durch den Druck
anderer Völker als die Änderung der klimatischen
Verhältnisse in den früheren Wohngebieten. Diese
zweite arische Invasion drang aber in die Ebene
des Ganges vor; hier kamen die Arier in Kontakt
mit den Dravidas und es entwickelte sich infolge
dieses Zusammenlebens das Kastensystem, ebenso
wie die orthodoxen religiösen Riten. Es wird an-
genommen, daß dieser zweite Strom arischer Ein-
wanderer hauptsächlich aus Männern bestand, die
gezwungen waren, sich ihre Ehegenossinnen bei
den Dravidas zu suchen. Die physischen Eigen-
heiten der Bevölkerung und die Ergebnisse philo-
logischer Forscher sprechen für die Annahme Ris-
ley's. Der Typus der Bevölkerung des Mittel-
landes ist genau jener, den man als das Resultat
der Kreuzung von Ariern und Dravidas erwarten
kann. Ist man nicht geneigt, einen zweiten, zeit-
lich getrennten, Zuzug arischer Einwanderer an-
zunehmen, sondern setzt man voraus, daß die am
meisten ostwärts vorgedrängten Elemente eines
und desselben Einwandererstromes sich mit den
Dravidas vermischten, so würde ein Typus mehr
in den anderen übergehen, während aber tatsäch-
lich ein auffallender Wechsel in der physischen
Erscheinung der Bevölkerung etwa in der geo-
graphischen Länge von Sirhind eintritt.
Die mongolische Rasse ist im indischen
Reich in Assam und Birma vertreten; sie ist durch
Brachycephalie und Platyrrhinie ausgezeichnet.
Charakteristisch für die mongolische Rasse ist der
niedrige orbito-nasale Index, durch welchen, im
Verein mit der Form der Backenknochen, das
Gesicht der Angehörigen dieser Rasse den Aus-
druck besonderer Flachheit erhält. Der mittlere
orbito-nasale Index beträgt bei den verschiedenen
Gruppen (Stämmen oder Kasten) 106,4 bis 109,1.
Die P'lachheit des Gesichts bildet eines der haupt-
sächlichsten Merkmale, durch welches sich die
mongolische Bevölkerung von den übrigen brachy-
cephalen Rassen Indiens (in Belutschistan, Bom-
bay und Coorg) unterscheidet; sie fällt auch dem
zufälligen Beobachter sofort auf. Die Farbe der
Haut ist stark geblich braun, der Bartwuchs spär-
lich. Die Depression des inneren Augenwinkels
ist gleichfalls unverkennbar. Die Gestalt i.st in
der Regel klein; das höchste Mittel wurde bei
den Gurungs mit 169,8, das geringste bei den
Miris mit 1 56,4 festgestellt.
Eine Mischrasse der mongolischen Völker des
äußersten Ostens und der Dravidas bildet der
mongolisch-dravidische Typus oder die
Bengali, deren Wohnsitze vom Delta des Ganges
bis in den Himalaya reichen, während sie in west-
östlicher Richtung sich von Chota Nagpur bis
Assam erstrecken. Die Kopfform der Angehörigen
des mongolisch- dravidischen Typus ist breit, der
mittlere Index variiert von 79 bei den Brahmanen
Bengaleiis bis 83 bei den Rajbansi Magh. Die
Form der Nase ist zumeist breit ; es wurden mitt-
lere Indices bis zu 84,7 registriert. Die mittlere
Körpergröße schwankt von 167 bei den Brahmanen
Westbengalens bis 1 59 bei den Kochh der sub-
N. F. III. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S45
liimalayischen Region. Die Hautfarbe ist dunkel,
der Bartwuchs meist entwickelt. Teils treten die
charakteristischen Merkmale der Dravidas, teils jene
der Mongolen deutlich hervor. Doch findet man
in den höheren Kasten auch Individuen, bei welchen
eine Beimischung arischen Blutes wahrscheinlich
ist. Als Grund der physischen Degeneration der
Bevölkerung Bengalens, die nicht zu leugnen ist,
sieht Risley den Einfluß des Klimas und der Er-
nährung, weiter aber auch die Kinderheiraten an,
die gerade in diesem Teil Indiens der ärgste
Schaden des gegenwärtigen Systems sind.
Die Bevölkerung der Präsidentschaft Madras,
des westlichen Mysore, des westlichen Teiles der
Zentralprovinzen etc. bezeichnet Risley als die
skytho-dravidische Gruppe, in der Annahme,
daß in ihr die Nachkommen der Skythen (Sakas,
Yuetschi), welche im 2. Jahrhundert v. Chr. in
Indien eindrangen, zu suchen seien, die sich mit
den Dravidas vermischten. Ujfalvy sucht hingegen
die Nachkommen dieser Skythen (oder Turko-
Tartaren) im indischen Nordwestgrenzgebiete und
im Pundschab. Es kann hier nicht entschieden
werden, welche Annahme die richtige ist,') ob-
wohl man derjenigen Ujfalvy's mehr VVahrschein-
liclikeit zusprechen kann. Der ,, skytho-dravidische
Typus" würde in diesem Falle vielmehr der gelben
Rasse Fergusson's entsprechen, über die Risley,
wie bemerkt, keinerlei Andeutung macht. Typische
Repräsentanten der skytho-dravidischen Gruppe
sind die Maratha-Brahmanen, die Kunbis und die
Coorgs. Der Kopf ist breit (mittlerer Index bei
den Deschasth-Brahmanen 76,9, bei den Nagar-
Brahmanen 79,7; maximale Indices von 92 wurden
bei den Maratha Kunbis gemessen. Die Nase ist
mäßig schmal, aber nie so lang wie bei den Turko-
Iraniern, welche dieser Gruppe am nächsten stehen,
der mittlere orbitonasale Index schwankt zwischen
113,1 bei den Son Koli bis 120 bei den Coorg.
Die Körpergestalt variiert von durchschnittlich 160
bei den Kunbis bis 168,7 bei den Coorgs. Die
Skytho Dravidas sind meist kleiner als die Turko-
Iranier. Die Hautfarbe ist hell , der Bartwuchs
spärlich.
Die Turko-Iranier unter welcher Bezeich-
nung Risley die Baloh, Brahui und Afghanen zu-
sammenfaßt, werden als eine Mischrasse der Turki
mit persischen Elementen geschildert; die Kör].ier-
gestalt ist zumeist über Mittel (162 bei den Baloch
von Makran bis 172 bei den Achakzai Pathan des
nördlichen Belutschistan im Durchschnitt), der
Kopf breit (mittlere Indices von 80 bis 85), die
Nase schmal und sehr lang, die Hautfarbe hell,
der Bartwuchs gut entwickelt.
In Bezug auf die Kopfform kann Indien, im
Gegensatz zum übrigen Asien, als ein Land mit
vorherrschend langköpfiger Bevölkerung bezeichnet
werden. Dolichocephalie herrscht vor sowohl bei
den Indo-Ariern wie auch bei den Dravidas und
1) Vgl. .Arch. f. Anthrop., XXVI. Bd., i. Heft, sowie Pol.
Anthr. Rcv., Jan. 1904.
der aus diesen beiden Rassen hervorgegangenen
Mischrasse der Hindustani. Wenn wir von der
Bevölkerung des äußersten Westens sowohl wie
des äußersten Ostens absehen, so ist im übrigen
Gebiete Indiens nur der skytho dravidische Rassen-
typus Risle)''s mit breiter Kopfform zu nennen.
Die Form der Nase ist hingegen im Westen des
Reiches, bei den indo-arischen, turko-iranischen
und skytho-dravidischen Völkern in der Regel
schmal, in den übrigen Gebieten breit. Hohe Körper-
gestalt treffen wir nur im Nordwesten Indiens
allein. In Indien sind die Bewohner mäßiger Höhen
kleiner als jene der Ebenen, hingegen die Einwohner
gebirgiger Landstriche groß; die letztereErscheinung
mag dem Einfluß des rauhen Klimas zuzuschreiben
sein, durch welchen nur die besser anpassungs-
fähigen Individuen überleben. In den Ebenen
dürfte die Malaria eine ähnliche selektorische Wir-
kung ausüben. Der Hautfarbe nach bilden die
Typen des Westens Indiens, die Indo- Arier, Skytho-
Dravidas und Turko-Iranier ebenfalls eine Gruppe,
die sich durch lichte Farben auszeichnet; ihr sind
die meist dunkeln Typen des östlichen Indien ent-
gegenzustellen ; allerdings kommen namentlich in
dieser Hinsicht zahlreiche Ubergangsformen vor.
H. Fehlinger.
Zum Vorkommen von Drepanothrix den-
tata. — In Nr. 46 der „Naturwiss. Wochenschr."
(14. Aug. 1904) publiziert Herr L. Keilhack einen
Aufsatz über die-Cladoceren der sogen. Krummen
Lanke (einem Gewässer des Grunewalds bei Ber-
lin), worin eine Reihe interessanter Mitteilungen
betreffs der Verbreitung niederer Cruslaceen ent-
halten sind. Namentlich teilt der Genannte mit,
daß er in der Krummen Lanke neben vielen an-
deren gewöhnlicheren Krebstieren auch die selte-
neren Spezies: Drepanothrix dentata, Leydigiaacan-
thocercoides, Chydorus gibbus und Anchistropus
emarginatus vorgefunden habe. Hinsichtlich der
ersterwähnten Art bemerkt Herr Keilhack, daß
sein am 5. Mai 1903 aufgefischtes Exemplar das
erste sei , das in Deutscliland gefangen wurde.
Diese Behauptung ist irrtümlich , insofern Herr
Dr. R. Lauterborn den nämlichen Krebs schon
weit früher im Vogelwoog des Pfälzerwaldes ent-
deckt hat. Ich selbst konstatierte sein Vorkommen
etwa um die gleiche Zeit, wie Herr Keilhack
(Sommer 1903), in einem Karpfenweiher der Gör-
litzer Haide bei Kohlfurt in Schlesien. \'gl. Plön.
Forschungsberichte XI. Bd., 1504.
Dr. Otto Zacharias (Plön).
Über das Vorkommen von Insektenresten
im Zusammenhange mit Petroleum vorkommen.
— In Nr. 38 S. 606 f dieser Zeitschrift veröffent-
lichte der Unterzeichnete einen Bericht über „das
Erdölvorkommen in Norddeutschland". Es wird
darin das Vorkommen von Insektenresten in einem
diluvialen Tone des Erdölgebietes von Boryslaw
erwähnt. Ich erhalte hierzu von M. Stümcke
folgende interessante Mitteilung:
846
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 53
In den Beiträgen zur Naturkunde des Herzog-
tums Lüneburg, gesammelt von Hofmedikus Johann
Taube aus dem Jahre 1769, findet sich pag. 262
folgender Passus: „IVIerkwürdig war es, daß die
Teererde sowohl in, als bei dieser alten Grube
(es handelt sich um eine verschüttete Tongrube
in der Nähe von Sehnde), als auch noch weit
unter derselben voll von schwarzen Roßkäfern
(Scarabaeus stercorarius) steckte. Etliche Millionen
tote, aber nicht so viele lebendige, sah ich aus-
graben. Die Fugen zwischen dem harten blauen
Ton waren gänzlich damit ausgefüllet. Sie finden
sich noch in einer Tiefe von sieben Fuß. Die
meisten waren daselbst tot, allein viele, ob sie
gleich sozusagen im Teer schwammen, lebendig.
Der Geruch desselben mußte ihnen angenehm
sein, denn nachdem die Grube fertig, oben aber
noch nicht bedeckt war, fand sich dabei beständig
eine außerordentliche Menge derselben und es
stürzten sich ihrer viele Tausende in den Teer,
wo sie endlich ihren Untergang fanden."
Während also bei dem von Lomnicki be-
schriebenen Vorkommen von Insekten in dem
diluvialen Tone des Erdölgebietes von Boryslaw
die merkwürdige Anhäufung von wohl erhaltenen
Insektenresten durch die anlockende Spiegelung
eines diluvialen Erdöltümpels zu erklären gesucht
vi'ird — und diese Erklärung hat ja auch viel
Wahrscheinlichkeit für sich — , liegt hier die
direkte Beobachtung eines Augenzeugen vor, daß
der Geruch der teerigen Produkte des Erdöls auf
gewisse Insekten anziehend wirkt. Bei dem
Scarabaeus stercorarius, zu deutsch Mistkäfer, ist
diese Vorliebe für , .starke" Gerüche ja nicht wun-
derbar, denn durch den starken Duft seiner Lieb-
lingsnahrung angezogen, finden wir ihn oft mehrere
Fuß unter der Erdoberfläche eingegraben. Wie
die Motte dem verderbenbringenden Lichte ent-
gegenflattert, so fand hier unser Scarabaeus, von
dem trügerischen Gerüche verleitet, seinen Tod
in den teerigen Massen. E. Odernheimer.
allen gipfeldürren Fichten, die mir zugängig wur-
den, die Grapholitha in einem Maße vertreten war,
welches die Gipfeldürre vollständig erklärte. (\'gl.
hierzu Naturw. Wochenschr. Nr. 35 (1904).
Die wahre Ursache der angeblich durch
elektrische Ausgleichungen hervorgerufenen
Gipfeldürre der Fichten betitelt sich ein gegen
V. Tubeuf gerichteter Aufsatz von A. Möller in
der ,, Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen" (1904,
Heft 8), in welchem er sagt: Ich fand, wie ich
seinerzeit mitgeteilt habe, in der Oberförsterei
Zehdenick dieselbe Erkrankung der Fichten, welche
von Tubeuf geschildert hatte; die Bilder, welche
er gab, hätten ebenso gut in Zehdenick gemacht
worden sein können; ich überzeugte mich, daß
die Raupe der Grapholitha pactolana an den
Stämmen fraß, daß die Wipfel genau über dem-
jenigen Astquirl abgestorben waren, bei welchem
die Zerstörung durch den Raupenfraß einen voll-
ständigen Ring um den Stamm schloß. Ich wies
auf die Literatur hin, welche mitteilt, daß Grapho-
litha pactolana primär angreift und die Gipfel
zum Absterben bringen kann. Ich fuhr nach
München und überzeugte mich davon , daß an
Die radialen Geschwindigkeiten von sechs
Plejadensternen sind von W. S. Adams er-
mittelt worden (Astrophys. Journal, Juni 1904).
Die Untersuchung war wegen des Spektraltypus
besonders schwierig, da nur Maja wohldefinierte,
kräftige Wasserstofflinien zeigt, während die übri-
gen nur recht verwaschene Heliumlinien erkennen
lassen. Die Ergebnisse der sich bei jedem Stern
auf mindestens drei Platten erstreckenden Messun-
gen sind ;
Elektra entf. sich von der Sonne pro Sek. um 14 km
^ tiy^^ta ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, 3 ij
Merope „ „ „ „ „ „ „ „ 6 „
Alkyone , „ „ „ „ „15 „
Atlas ,, ,, ,, ,, ,, „ ,, ,,13 ij
Maja zeigt veränderliche Geschwindigkeit (zwi-
schen -|- 21 und — 7 km). Maja und Taj'geta
scheinen, nach der BescliafTenhcit ihres Spektrums
und der geringen Geschwindigkeit zu schließen,
mit den umgebenden Nebeln nicht physisch zu-
sammenzuhängen. F. Kbr.
Bücherbesprechungen.
i) Dr. J. Mooser, Theorie der Entstehung
des Sonnensystems. Neue Bearbeitung. St.
Gallen, Fehr'sche Buchh. 1904. 39 Seiten. —
Preis I Mk.
2) Baurat J. Kubier, Woher kommen die
\V el t g ese t zc ? Mit 3 Figuren. Leipzig, B. G.
Teubner, 1904. 30 Seiten.
3) Th. Schubert, Die Ursachen aller Be-
wegungen der Himmelskörper. Bunzlau,
G. Kreuschmer, 1904. 47 Seiten mit 11 Fig. —
1,50 Mk.
Der ^lenschengeist hat nun einmal die unausrott-
bare Neigung, die seinem Forschen gesteckten Gren-
zen zu überschreiten und versucht daher immer wieder
von neuem — natürlich vergeblich — zu erkennen,
was die Welt im Innersten zusammenhält. Diesem
Streben sind die oben aufgeführten kleinen Schriften
entstanden, die sich die Arbeit insofern recht bequem
machen , als sie auf jedes Zurückgehen auf die Er-
gebnisse früherer Forscher verzichten und das Welt-
rätsel durch einige auf wenige Seiten zusammen-
gedrängte, mehr oder minder willkürliche Hypothesen
zu lösen glauben.
Nr. I ist unter den drei Arbeiten noch diejenige,
die am ehesten Beachtung verdient, insofern sie doch
wenigstens an die Kant-Laplace'sche Nebularliypothese
anknüpft. Allerdings scheint uns die mathematische
Behandlung, durch welche das Tiiius'sche Gesetz der
Planetenentfernungen abgeleitet werden soll, auf recht
hypothetischer Grundlage zu ruhen und die nahe
Ubereinstimtnung der erlangten Rechnungsergebnisse
mit der doch nur teilweise und ganz roh zutreffenden
Titius'schen Reihe nicht beweiskräftig. Im übrigen
N. F. m. Nr. 53
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
847
sind all die Schwierigkeiten der Nebularhypothese,
die in einer umfangreichen Literatur über dieselbe
ausführlich diskutiert worden sind, in der vorliegenden
Schrift nicht gestreift.')
Nr. 2 ist eine Abhandlung, deren Verständnis dem
Referenten nicht hat aufgehen wollen. Nur soviel
kann hier verraten werden, daß Verf die ,, Entwick-
lung" des Stoffes mit dem goldenen Schnitt in Be-
ziehung zu bringen weiß und daß die nähere Aus-
führung seiner Ideen mit einigen Integralzeichen, ge-
lösten Differentialgleichungen und anderen scliönen
Dingen verziert ist. Ref. muß bekennen , tiotz der
verheißungsvollen Überschrift das Buch aus der Hand
gelegt zu haben , ohne hinter des Pudels Kern ge-
kommen zu sein.
Auch bei Nr. 3 müßte man erst physikalisch von
Grund aus umlernen, um verstehen zu können, was
der Verf meint. Als Beweis dafür seien hier die
ersten beiden Gesetze über die Bahnbewegungen aller
Himmelskörper wiedergegeben , zu denen Verf. am
Schluß des ersten Teils gelangt. Sie lauten: „i) Jeder
Himmelskörper hat zwei oder mehrere verschiedene
Schwerpunkte, die in Kurven mit ungleichen Ge-
schwindigkeiten nach verschiedenen Richtungen fort-
rücken. 2) Nach jedem dieser Schwerpunkte fällt
jeder Himmelskörper in einer gekrümmten Falllinie."
Solcher Gesetze folgen dann am Schluß des ersten
Teils noch fünf weitere, worauf im zweiten Teil die
Rotationen der Gestirne ursächlich erklärt werden.
F. Kbr.
') Eine gute Zusammenstellung der hierher gehörigen
Probleme bietet eine Abhandlung von F. K. Ginzel im V. Bande
von ,, Himmel und Erde", die auch separat als Nr. 21 der
Urania-Schriften bei H. Paetel-Berlin (Preis 1,20 Mk.) er-
schienen ist.
Prof. Paul Gerber, Über den Einfluß der Be-
wegung der Körper auf die Fortpflan-
zung der Wirkungen im Äther. (Programm-
Abhandlung der Realschule in Stargard i. P., 1904).
Die Schrift bietet ausführliche Auseinandersetzun-
gen über die Vorstellung, die wir uns auf Grund der
gegenwärtigen wissenschaftlichen Erfahrungen vom
Äther zu machen haben und stellt im Abschnitt III
die wichtigsten Untersuchungen zusammen , die seit
den Arbeiten von Fresnel und Fizeau über die Wir-
kungen der Bewegung von Körpern auf die im Äther
sich ausbreitenden Wellensysteme angestellt worden
sind. Der Vollständigkeit wegen hätte sich wohl auch
eine Erwähnung der experimentellen Prüfung des
Doppler'schen Prinzips empfohlen, die Belopolski vor
einigen Jahren mit gutem Erfolge durchgeführt hat.
F. Kbr.
Ernst Bloch, Alfred Werner's Theorie des
Kohlenstoffatoms und die Stereochernie der
karbocyklischen Verbindungen. 8". IV und 87
Seiten. iVIit 48 Figuren und 3 Tafeln. Wien und
Leipzig 1903. Carl Fromme. — 3 Mk.
A. Werner hat in einer Abhandlung, die im Jahre
1891 in einer nicht eben leicht zugänglichen Zeit-
schrift (Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesell-
schaft in Zürich, Bd. 36) erschienen ist, Ansichten
über die Wirkungsweise der .Affinität und über die
Valenz der Atome entwickelt, die den Ausgangspunkt
der von dem Verfasser in der vorliegenden Schrift
angestellten theoretischen Betrachtungen bilden. Nach
jenem Forscher ist die Affinität eines Atoms eine von
seinem Mittelpunkt aus gleichmäßig nach allen Rich-
tungen hin wirksame anziehende Kraft und die Valenz
lediglich ein empirisch ermitteltes Zahlenverhältnis,
dessen Wert nicht allein von dem anziehenden Atom,
sondern von der Natur sämtlicher in der Molekel
enthaltener Atome abhängt. Zur Bindung eines jeden
der letzteren ist ein bestimmter Affinitätsbetrag er-
forderlich, welcher einem gewissen Teil der Oberfläche
einer Kugel entspricht , wenn man — was am ein-
fachsten ist — dem Atom eine kugelförmige Gestalt
beilegt. Lagern sich also an ein Kohlenstoffatom
vier andere Atome (oder Radikale), so hat man sich
dessen Oberfläche in vier Kalotten (Bindeflächen)
zerlegt zu denken, die in dem Falle, daß es sich um
gleiche Atome (oder Radikale) handelt, von gleicher
Größe sind; ist das Kohlenstofifatom dagegen unsym-
metrisch, so ist auch die Größe der vier Bindeflächen
vollkommen verschieden. In jedem Falle gibt ihr
Cirößenverhältnis ein Maß für die Stärke der den
einzelnen Atomen oder Radikalen gegenüber ge-
äußerten Affinitäten, und die nicht innerhalb der
Bindeflächen gelegenen Teile der Kugeloberfläche
entsprechen den Residualaffinitäten Armstrong's (1886)
oder den im wesentlichen damit identischen Partial-
Valenzen J. Thieles (1S991. Eine stabile Lagerung
der Atome innerhalb der Molekel tritt ein, wenn die
Bindeflächen so groß wie möglich sind, ohne sich,
wenn auch nur teilweise, zu decken. Der Verfasser
zeigt nun zunächst , wie man auf Grund dieser Vor-
stellungen zahlenmäßig die relative Stärke der ein-
fachen, doppelten und dreifachen Kohlenstoffbindung
in der aliphatischen Reihe ausdrücken kann und führt
weiter aus, dal;! die Ergebnisse einer derartigen Rech-
nung mit denen übereinstimmen, die J. Thomsen im
4. Bande seiner thermochemischen Untersuchungen
veröffentlicht hat, deren Richtigkeit allerdings in
neuester Zeit angezweiffit worden ist. Andererseits
liefert diese Weiterentwicklung der Werner'schen An-
sichten eine wesentliche Ergänzung der oben erwähn-
ten Hypothese von J. Thiele und beseitigt die Mängel,
die der v. Bayer'schen Spannungstheorie (namentlich
hinsichtlich der Polymethylenverbindungen) noch an-
haften.
Den größten Teil der Schrift nehmen die Er-
örterungen über den Benzolkern ein. Der Verfasser
unterzieht zunächst auf Grund der Anforderungen, die
an eine Benzolformel zu stellen sind, die bisherigen
Benzoltheorien einer kritischen Betrachtung, wobei
insbesondere auch die stereochemischen Ringformeln
eingehender berücksichtigt werden, als dies sonst selbst
in größeren Handbüchern der organischen Chemie
zu geschehen pflegt. Als die nach dem gegenwärtigen
.Stand der chemischen Forschung besten Formeln er-
scheinen ihm die von Vaubel (Stereochemische For-
schungen I, 12) und von Sachse (Ber. d. ehem. Ges.
21, 2530) aufgestellten, und indem er nun auf beide
848
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 53
die Werner'schen Ansichten anwendet, gelangt er zu
dem überraschenden Ergebnis, daß die in beiden
Fällen entstehenden Konfigurationen vollkommen
identisch sind, so daß das neue Modell die Vorzüge
der beiden früheren in sich vereinigt und außerdem
wegen der Einfachheit der ihm zugrunde liegenden
Werner'schen Kohlenstoffiheorie einen tieferen Ein-
blick in die Reaktionen nicht nur des einfachen
Benzolkerns, sondern auch der kondensierten Kerne
gestattet, wie sie im Naphthalin, Anthrazen, Phenan-
thren und Pyren angenommen werden. Auf die Aus-
führungen im einzelnen einzugehen ist leider im Rahmen
dieser Anzeige der lesenswerten Schrift nicht möglich.
Böttger.
Literatur.
Lehmann, Mfr. : Die Schnecken u. Muscheln Deutschlands.
Eine Anleitg. zur Bcstimmg. u. Beobachtg. der deutschen
Land- und SüßwasscrmoUusken , sowie zur Anlegung einer
Schnecken- u. Muschelsammlg. Mit je I Taf. in Farben-
u. Schwarzdr. (VIII, 82 S. m. Abbildgn.) kl. 8". Zwickau
'04, Förster & Borries. — Geb. in Leinw. 2 Mk.
Briefkasten.
Herrn J. Weber in Kassel. — Herr Prof. Precht in
Hannover beantwortet die von Ihnen gestellte Frage nach
einem monochromatischen, blauen Glase freundlichst folgender-
maiSen :
Jenaer Blauviolettglas O 3086 (i qdm 17 Mk.) vom Glas-
werk Schott u. Genossen läßt durch von 405 bis 480 (voll-
kommene Absorption von etwa 490 ab). Dieses ist das beste,
was mir bekannt geworden. Ein engerer Blaubezirk läßt sich
nur mit Anilinfarben z. B. in Gelaüneschicht auf Glasplatten
herstellen.
Herrn G. R. in Moskau. — Ein ausführliches Werk über
den Einfluß der Naturwissenschaften auf die neuere Philosophie,
das gewiß recht wünschenswert wäre, ist uns nicht bekannt.
Herrn W. G. in Göhren auf Rügen. — Sie schicken
eine kleine Raupe, die in einem pergamentartigen Futteral
von 9 mm Länje und 2 mm Dicke steckend auf den grünen
Schoten von As/iagai'iis glycypliylliis lebt und möchten Näheres
über das Tier erfahren. — Aus der vorliegenden kleinen
Raupe entwickelt sich eine Tineide oder Motte Coltophora
gallipeiinella Hb., einer jener Kleinschmetterlinge, die durch
ihre Lebensweise so interessant sind, aber wegen ihrer Klein-
heit so wenig beachtet werden. Wie ihre Verwandten zeich-
nen sich die Coleop/wia-ArXen durch schmale Flügel und lange
Franzen an den Hinlerflügeln aus. Die Vordtrflügel der vor-
liegenden Art sind etwa 7 mm lang und, wie der Thorax, weiß
gefärbt, nur in der Mitte der Endhälfte goldbräunlich. Man findet
sie im Juli auf der Nährpflanze der Raupe. Die Zucht der Raupe
ist schwierig , weil sie überwintert (vgl. H. v. Heinemann,
Die Schmetterlinge Deutschlands und der Schweiz; Klein-
schmetterlinge Bd. 2, Braunschweig 1876, S. 567 und J. H.
Kaltenbach, Die Pflanzenfeinde aus der Klasse der In-
sekten, Stuttgart 1874, S. 138). — Interessant ist bei der vor-
liegenden .^rt die eigenartige Form der Schutzröhre, in
welcher die Raupe steckt. .Am Vorderende ist dieselbe
etwas gebogen , so daß sie sich der Länge nach der Schote
anlegt und deshalb weniger leicht bemerkt wird. Am Hintcr-
ende befinden sich drei Klappen, die sich mit ihren Rändern
aneinandcrlegen, die sich aber durch einen sehr leichten
Druck von innen zurückbiegen lassen. Der aus der Puppe aus-
schlüpfende zarte Schmetterling würde nicht aus der festen
Pergamenthülle hervorkommen können , wenn nicht diese
Klappentür vorhanden wäre. — Die Raupe frißt nicht die
ganze SchotcnhüUe, sondern nur die Samen der Futterpflanze.
Um zu diesen zu gelangen, spinnt sie das Vorderende des
Futterals an die Schote an, frißt ein rundes Loch durch die
Schütenwand und kann nun mit dem größten Teil des Körpers
in die Schote hineinsteigen. Bei allen Bewegungen in dem
Futteral kommen nur die drei eigentlichen, vorderen Beinpaare
und das hinterste Paar der sogenannten Bauchfüße, die Nach-
schieber, in Tätigkeit. Die vier mittleren Paare der für die
Raupen so charakteristischen, zum Anhaften des langen Körpers
dienenden Bauchfüße würden hier nur hinderlich sein und sind
deshalb rückgebildet. Sie liegen in Querfalten der Körper-
ringe. Nur bei der ganz jungen Raupe unseres Falters, die
noch nicht in einem Futteral lebt, sondern sich ganz in die
Schote hineinfrißt, kommen alle Füße zur Geltung. —
Da A.^hagaliis glycypJiyllus nur auf mergelhaltigem, sandigen
Diluvialboden vorkommt und deshalb in manchen Gegenden
Deutschlands, z. B. um Berlin, selten vorkommt, nenne ich einen
zweiten Kleinschmetterling, dessen Raupe ein sehr ähnliches, nur
etwas längeres und dünneres Futteral herstellt. Trotz der .'\hnlich-
kei'. der Schulzröhre gehört sie freilich in eine ganz andere Gruppe.
Es ist Talaeporia pseudobombycella Hb. (P. C. Z e 1 1 e r in : Lin-
naea enioraologica Bd. 7, 1852, S. 341). Die Raupe dieser
Motte nährt sich von Flechten und ist an den Kiefernstämmen
unserer Wälder zahlreich zu finden. Der Falter fliegt im Mai
und Juni. Tote Tiere bemerkt man während dieser Zeit leicht
in den Netzen der Spinnen, die am Kiefernstamme ihrer Nah-
rung nachgehen (vgl. F. Dahl, Das Tierleben im Deutschen
Walde, Jfna 1902, S. 46). Um einer Verwechselung vorzu-
beugen, nenne ich noch eine weitere Mottenart, deren Raupe
gleichfalls und ebenso häufig an Kiefernstämmen vorkommt,
Sokiwb':a piiieti Zell. (P. C. Zell er a. a. O. S. 349). Die
Schutzröhre bei dieser Art unterscheidet sich leicht durch
anhaftende Nadel- und Rindenstücke. — Von ganz besonde-
rem Interesse ist bei den beiden erstgenannten Tieren die
Klappeneinrichtung am Hinterende der Larven-
hülle. Die Raupe kann, wenn sie die Klappen herstellt, den
späteren Zweck derselben unmöglich ahnen und hat niemals
Klappen der genannten Art gesehen. Auf den Bau des Raupen-
körpers den Bau der Röhre zurückführen zu wollen ist unzu-
lässig, da andere Coleophora-hrien, mitsehr ähnlichem Körperbau,
eine ganz andere Röhre herstellen (vgl. v. H e i n e m a n n a. a. O.
S. 532 ff.). — Die Raupe folgt bei Herstellung der Röhre
zweifellos einem arterhaltenden l'riebe, einem Instinkte. —
Die Frage ist nun; Ist dieser Instinkt durch Vererbung erwor-
bener Eigenschaften zu erklären? Wäre das der Fall, so
müßten wir annehmen , daß die Vorfahren unserer Tiere im
Klappenbau Erfahrungen machen und sich üben konnten.
Ich kann mir jedoch ein Erfahrungmachen bei den Vorfahren
ebensowenig vorstellen wie bei unseren jetzt lebenden Raupen.
— Durch natürliche Zuchtwahl kann man sich die
Röhrenform sehr wohl entstanden denken : Gleichzeitig mit
dem Instinkte, eine feste Schutzröhre zu spinnen , entwickelte
sich der Instinkt, eine Einrichtung an der Röhre anzubringen,
welche der ausschlüpfenden Motte den Ausgang aus derselben
möglich machte. Individuen, die einerseits am besten geschützt
waren und andererseits beim Ausschlüpfen am bequemsten
den .Ausweg fanden , hatten am meisten Aussicht , zur Fort-
pflanzung zu gelangen. Dahl.
Inhalt; G. Wesenberg: Über den biologischen .Arsen-Nachweis. — Dr. F. Werner: Die Tierwelt in der bildenden
Kunst. — Kleinere Mitteilungen: H.H. Risley: Indische Rassentypen. — Dr. Otto Zacharias: Zum Vorkommen
von Dre|)anolhrix dentata. — E. Odernheimer: Das Vorkommen von Insektenresten im Zusammenhange mit Petro-
leumvorkommcn. — A. Möller: Die wahre Ursache der angeblich durch elektrische Ausgleichungen hervorgerufenen
Gipfcldürre der Fichten. — W. S. Adams: Die radialen Geschwindigkeiten von sechs Plejadensternen. — Bücher-
besprechungen: i) Dr. J. Mooser: Theorie der Entstehung des Sonnensystems. 2) Baurat J. Kubier: Woher
kommen die Weltgcsetze ? 3) Th. Schubert: Die Ursachen aller Bewegungen der Himmelskörper. — Prof. Paul
Gerber; Über den Einfluß der Bewegung der Körper auf die Fortpflanzung der Wirkungen im .Äther. — Ernst
Bloch: .Mfred Werner's Theorie des Kohlenstoffatoms. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Veranlworllicher Keilal<teiir: i. V.: Dr. F. Koerber, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
t>rucl( vnii l.ipperl Ä Co. (C Patz'sclie Itiicli.lr.l, Naiimburt; a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,DiG NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902,
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 9. Oktober 1904.
Nr. 54.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Nesselkapseln der Äolidier.
[Nachdruckverboten.] Von Prof. iJr.
Zu den merkwürdigsten Gebilden des tierischen
Körpers gehören die Nesselkapseln. Sie nehmen
auf der einen Seite durch ihre Leistungen sowie
durch ihren Bau unser Interesse in Anspruch, auf
der anderen muß uns ihre Verbreitung im Tier-
reiche auffallen. Als das Gebiet, dem sie in be-
sonderer Weise eigen sind, dürfen ohne Zweifel
die Cölenteraten gelten, unter denen sie nur den
Rippenquallen oder Ctenophoren fehlen, während
sie in den übrigen Gruppen derselben so allge-
mein und ausnahmslos auftreten, daß man diese
danach geradezu als Nesseltiere, Cuidaria, bezeichnet.
Sie sind für diese in solchem Maße charakteristisch,
daß man in ihrem Mangel bei den Rippenquallen
nicht mit Unrecht ein schwerwiegendes Argument
gegen die nähere Zusammengehörigkeit dieser Tiere
mit den übrigen Cölenteraten erblickt hat.
Nun aber ist das Vorkommen der Nesselkapseln
nicht auf diesen Tierstamm beschränkt, sondern
man kennt solche auch von gewissen Würmern
und Mollusken. Unter den ersteren sind es zwei
Klassen, in denen sie auftreten, die Turbellarien
und die Nemertinen. Zwar kommen sie nicht
allen X'ertretern derselben zu, im Gegenteil nur
J. W. Spengel.
einer beschränkten Zahl; allein diese sind dafür
mit so wohl ausgebildeten Nesselkapseln ausge-
staltet, daß an deren Deutung und Vergleichbarkeit
mit denen der Cölenteraten nicht zu zweifeln ist.
Ja, manche Tatsachen sprechen dafür, daß gewisse
andere Gebilde, die die nicht mit Nesselkapseln
versehenen Turbellarien und Nemertinen ausnahms-
los besitzen, die sog. Rhabditen, jenen entsprechende
Teile sind. Und man darf wohl sagen, daß die
fast allgemein verbreitete Annahme der Ver-
wandtschaft der Nemertinen oder Schnurwürmer
mit den Turbellarien oder Strudelwürmern in nicht
unerheblicher Weise durch die Tatsache des Vor-
kommens von Nesselkapseln bzw. Rhabditen bei
beiden gestützt wird.
In konsequenter Verfolgung dieses Schlusses
dürfte man zu der weiteren Annahme kommen,
daß verwandtschaftliche Beziehungen dieser beiden
Würmergruppen auch zu den Cölenteraten be-
stehen, einer Ansicht, für die sich wenigstens hinsicht-
lich der Turbellarien auch andere Gründe anführen
lassen, während die Nemertinen allerdings wohl
sicher nur durch Vermittlung jener, also indirekt,
von den Cölenteraten hergeleitet werden können.
850
Naturwissenschaft! i ch e Wochensch rift.
N. F. m. Nr. 54
Immerhin hegen die Dinge so, daß es berechtigt
erscheint, die Ausstattung des Körpers dieser
Würmer mit Nesselkapseln aus deren Abstammung
von Cölenteraten zu erklären und insofern zu einem
gewissen Verständnis der Verbreitung der Nessel-
kapseln auch auf diese zu kommen.
Wesentlich anders liegt die Sache mit den
Mollusken, bei denen Nesselkapseln vorkommen.
Erstens haben die nicht mit Nesselkapseln ver-
sehenen Mollusken keine Teile, die diesen, wie bei
den genannten Würmern, zu vergleichen sind.
Zweitens kommen solche nur in einer im Ver-
hältnis zur Größe des ganzen Stammes sehr be-
schränkten Weise vor. Und drittens ist für die-
jenigen Mollusken, die Nesselkapseln besitzen, eine
nähere Verwandtschaft, sei es mit Cölenteraten,
sei es mit den erwähnten Würmern, mit Sicher-
heit auszuschließen. Sie finden sich nämlich, wenn
wir von einem Vorkommen einstweilen einmal ab-
sehen wollen, in der verhältnismäßig kleinen Ab-
teilung der kladohepatischen Nudibranchier, bei
den Äolidiern. Diese bilden eine zwar nicht ganz
formenarme , aber doch recht eng geschlossene
Gruppe der Opisthobranchier oder Hinterkiemer,
einer der beiden großen Hauptabteilungen der
Gastropoden oder Schnecken. Von den Hinter-
kiemern wissen wir aber so sicher, wie ein Wissen
auf diesem Gebiete überhaupt sein kann, daß sie
nicht die ursprünglichsten, den Würmern am nächsten
verwandten Schnecken sind, sondern durch Formen
wie die Aktäoniden und dieBulliden von den Proso-
branchiern oder Vorderkiemern abzuleiten sind.
Diese besitzen eine hochentwickelte Schale. In ge-
wissen Gruppen der Opisthobranchier nun geht
diese nach und nach verloren, bis zum vollständigen
Schwunde, und solche schließlich schalenlos ge-
wordene Tiere sind die Nudibranchier oder Nackt-
schnecken, von denen wieder die Äolidier einen
Seitenzweig darstellen, dessen Vertreter zu einer
vielfach sehr eigenartigen Ausbildung gekommen
sind. In dieser Familie nun finden wir, ganz plötz-
lich und unvermittelt, sozusagen, die Nesselkapseln,
während solche nicht nur den übrigen Opistho-
branchiern, sondern ebenso allen Prosobranchiern,
d. h. mit dieser Ausnahme allen Schnecken, fehlen.
So ist die Frage natürlich sehr berechtigt : wie
sollen wir uns das Auftreten der Nesselkapseln
auf diesem Punkte des Tierreichs erklären , wo
uns die Abstammung von anderen Tieren mit
Nesselkapseln augenscheinlich als Erklärungsgrund
abgeschnitten ist? Es wird für ihre Beantwortung
nicht gleichgültig sein, ob der Befund von Nessel-
kapseln bei den Äolidiern unter den Mollusken
allein steht oder ob es unter diesen auch andere
gibt, welche solche Gebilde besitzen. In diesem
Sinne schien es von großer Bedeutung zu sein,
daß Troschel im Jahre 1857 bei einem Cephalo-
poden, den er Plülonexis imcrostovios nannte, auf
den Saugnäpfen durchsichtige Zylinder fand, die
mit Nesselkapseln besetzt waren. Zumal da diese
Entdeckung durch Joubin im Jahre 1893 be-
stätigt wurde, hatte es den Anschein, als sei da-
durch der Beweis geliefert, daß Nesselkapseln bei
den Mollusken zwar nur vereinzelt vorkommen,
aber dennoch zu den typischen Teilen dieser ge-
i-.ählt werden müßten, da sie nicht nur bei Opistho-
branchiern, sondern auch bei Tintenfischen, wenn
auch nur bei der einen Art, nachgewiesen waren.
Allein schon im Jahre 1896 wurde diese Be-
obachtung an dem Tintenfisch durch Bedot in
einer Weise aufgeklärt, welche dieser Schlußfolge-
rung den Boden entzog: er zeigte, daß die mit
den Nesselkapseln versehenen Zylinder Tentakel
von einer Meduse sind. Ihr, wie es scheint,
in gewissem Grade regelmäßiges Auftreten auf
den Saugnäpfen des Tintenfisches bedarf allerdings
noch der Erklärung, ebenso wie die genauere
Feststellung der Medusenart, deren Tentakel an
einer so eigentümlichen Stelle gefunden werden.
So viel steht indessen fest, daß es sich in diesem
Falle nicht um Nesselkapseln handelt, die der
Tintenfisch in seinen Organen erzeugt hat, sondern
um solche eines Cölenteraten, und so stehen
die Äolidier unter den Mollusken in dieser Hin-
sicht wieder allein da.
In der Literatur, in der deren Nesselkapseln
beschrieben werden, sind nun wohl da und dort
leise Zweifel geäußert worden, ob diese nicht eben-
falls von außen in den Körper der Äolidier hin-
ein gekommen sein möchten, und wir werden gleich
sehen, daß es an Gründen für eine solche Annahme
nicht gefehlt hat. Dennoch war bis in die jüngste
Zeit die Ansicht allgemein verbreitet, daß wir es
hier mit Nesselkapseln zu tun hätten, welche diesen
Tieren in demselben Sinne eigen seien wie den
Cölenteraten.
Was in erster Linie einen Zweifel zu erwecken
geeignet war, war die Tatsache, daß sämtliche je
bei Äolidiern gefundenen Nesselkapseln in ihrer
Größe, ihrer Gestalt und ihrem Bau vollkommen
identisch sind mit denen von Cölenteraten und
zwar teils von Hydroiden, teils von Actinien oder
Seerosen, d. h. mit denen solcher Tiere, von denen
viele Äolidier bekanntermaßen sich nähren. Dazu
kam dann später der weitere Nachweis, daß nicht
jede Aolidierart immer gleichartige Nesselkapseln
hat, wie es bei jedem Cölenteraten der Fall ist,
der zwar oftmals Nesselkapseln von mehreren ver-
schiedenen Formen hat, aber stets dieselben, die
für die Art durchaus typisch sind. Statt dessen
hat man bei Äolidiern bisweilen Nesselkapseln be-
obachtet, die von den bei anderen Individuen der-
selben Art gefundenen abweichen.
Ehe wir nun in unserer Betrachtung fortfahren,
wollen wir sehen, an welchen Stellen des Körpers
der Äolidier die Nesselkapseln gelegen sind, und
zu diesem Zweck müssen wir uns über den Bau
dieser Tiere etwas orientieren. Wie erwähnt, ge-
hören dieselben zu den kladohepatischen Nackt-
schnecken, d. h. während andere Nacktschnecken
wie die meisten Schnecken einige wenige große
Drüsen besitzen, welche aus je einer großen An-
zahl von Schläuchen bestehen und mit je einem,
vielen von ihnen gemeinsamen Ausführungsgang
N. F. III. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
851
in den Darmkanal einmünden, gehen von dem
Darmkanal der Äolidier zahlreiche Seitenäste ab
und in jeden von diesen münden eine Anzahl von
isolierten Schläuchen ein (Fig. i). Diese, die in ihrer
Gesamtheit die Leber darstellen, sind nun gegen die
2—
Fig. I . Darmsystem von Aiolis (nach S o n 1 c y c t , aus L a n g -
Hescheler). I Schlund; 2 Magen; 3 Lebergänge mit den
Einmündungen von den (abgeschniUcnen) Rückcnpapilien ;
4 After ; 5 Enddarm.
Maut dieser Tiere ausgestreckt und ragen, von
dieser überkleidet, als eine große Menge von
keulenartigen Fortsätzen, Papillen oder Cerata
(Hörner) genannt, nach außen hervor, wo sie die
ganze Rückenseite bedecken, ein Bild hervorrufend,
das an ein ganz kleines Stachelschwein erinnert.
Diese Papillen sind oftmals sehr lebhaft gefärbt,
während der übrige, ganz darunter verborgene
Körper mit dem zum Kriechen dienenden langen
schmalen Fuß und der mit I'"ühlern ausgestattete
Kopf farblos ist. Sie werden ferner hin und her
bewegt und können oftmals bedeutend verlängert
und verkürzt werden.
nach außen geöffnet ist(ö), andererseits durch einen
engen Kanal (P) an seinem Grunde in Verbindung
steht mit dem Ende des Leberschlauches {L), der
die Papille durchzieht. Es besteht also durch
diesen Schlauch hindurch ein Zusammenhang mit
dem Darmkanal des Tieres. Es sei endlich noch
erwähnt, daß, wie durch einige neuere Beobach-
tungen festgestellt ist, diese Nesselsäckchen als
kleine Ausstülpungen am Ende der Leberschläuche
entstehen und später die Öffnung erhalten, durch
die sie nach außen, ins Wasser, ausmünden.
Jedes Nesselsäckchen ist von Zellen ausgeklei-
det und in diesen liegen die Nesselkapseln und
zwar im Ruhezustande ganz so, wie man sie vor
ihrer Entladung im Körper der Cölenteraten fin-
det, d. h. als rundliche oder längliche Bläschen
mit einer ziemlich derben hellen Wand, einer
wasserklaren Flüssigkeit und einem feinen, oftmals
sehr langen und immer aufgerollten Faden im
Innern.
Über die Verwendung der Nesselkapseln weiß
man, daß diese ausgestoßen werden und dabei wie
bei den Cölenteraten sich entladen, indem der
Faden aus der Blase hcrvorgeschnellt und die
Flüssigkeit dabei, wie anzunehmen, entleert wird.
Fig. 2. Aeolis riifiliranchialis , von der rechten Seite ("nach
Aid er und Hanweck, aus Lang-Hescheler). a Auge,
/> und <■ Tentakel, d After, e Geschlechtsöffnung, /Papillen
oder Cerata.
Die Nesselkapseln sind nun in den End-
abschnitten dieser Papillen angebracht, und zwar
finden sie sich dort im Innern von kleinen sog.
Nesselsäcken (Fig. 3, A^), deren bei den meisten
Äolidiern jede Papille einen besitzt. Von diesen
wissen wir durch mehrere Untersuchungen, daß
ihr Hohlraum einerseits an der Spitze der Papille
Fig. 3. Schnitt durch 3 junge Papillen von .Uo/is papulosa
(nach Hecht, aus Lan g-Hcschcl e r). Erklärung der
Buchstaben im Text.
Diese Beobachtungen enthaUen also keine Tat-
sache, welche gegen die Annahme der Entstehung
der Nesselkapseln in den Zellen der Wandung der
Nesselsäcke sprächen.
Dagegen ist eine andere Tatsache bekannt,
die wieder geeignet erscheint, den oben erwähnten
Zweifel daran zu nähren. Man findet nämlich die
Nesselkapseln nicht nur in den besprochenen Ab-
schnitten der Papillen, sondern auch, und zwar
in großen Mengen, im Darmkanal der Äolidier,
wo sie einen großen Teil der Kotmassen bilden.
Für diese sind zwei Auffassurigen möglich: ent-
weder entstammen sie der Nahrung, welche die
Äolidier gefressen, haben, oder sie sind aus den
Nesselkapseln auf dem Wege durch die Leber-
säckchen dorthin gelangt. Dieser ist sicher offen,
aber nach beiden Richtungen hin: die Nessel-
852
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 54
kapseln können a priori sowolil aus dem Darm
in die Nesselsäckchen liinein als umgekehrt aus
diesen in jenen hineingelangen.
Die Natur der Nesselkapseln der Aolidier er-
scheint danach unzweifelhaft unklar, aber augen-
scheinlich sind die Unklarheiten derart, daß man
mit Sicherheit erwarten darf, durch genaue Be-
obachtungen ihrer Herr zu werden. Und tatsäch-
lich sind schon vor einer langen Reihe von Jahren
solche gemacht worden, die im Grunde ausschlag-
gebend waren , leider indessen an einem wenig
zugänglichen Orte veröftentlicht wurden und des-
halb bis in die jüngste Zeit unbeachtet geblieben
sind. Es war T. S t r e t h i 11 W r i g h t , der i. J.
1858 der Royal Physical Society zu Edinburgh
eine Abhandlung vorlegte, in der er glaubte den
Beweis führen zu können , daß die Nesselkapseln
der Aolidier den Hydroiden entstammten , von
denen jene Tiere lebten. Die Schrift blieb in den
weiteren Kreisen der Zoologen unbemerkt, und
daran wurde auch dadurch nichts geändert, daß
ihr Verfasser ein paar Jahre später einen Auszug
derselben im Microscopical Journal erscheinen
ließ. Ein späterer amerikanischer Untersucher,
der zu dem gleichen , aber auf viel weniger ent-
scheidende Beobachtungen gestützten und daher
sehr zurückhaltend ausgesprochenen Ergebnisse
kam, Glaser, hatte offenbar von der Existenz
jener früheren Publikationen keine Kenntnis. Erst
ganz kürzlich sind sie durch G. H. Grosvenor
in einer der Royal Society zu London vorgelegten
Schrift „On the nematocysts of Aeolids" der Ver-
gessenheit entzogen worden. Gleichzeitig hat
deren Verfasser nicht nur die älteren Beobach-
tungen bestätigt und erweitert , sondern er ist
an die ganze Frage herangetreten und hat sie so
gründlich bearbeitet , daß sie nunmehr wohl als
endgültig gelöst betrachtet werden kann.
Ich teile nun zunächst die Beobachtungen
Wright's mit: ^)
1. Eine Aeolis nana, die in einem Campanu-
laria johnstoni enthaltenden Tümpel auf einer mit
Hydractinia besetzten Schneckenschale gefunden
war, hatte zwei Sorten von Nesselkapseln gleich
denen von Hydractinia und ferner große, andere
Nesselkapseln gleich denen von Campamilaria
johnstoni.
2. Eine auf Coryne eximia gefundene Aeolis
coronata enthielt Nesselkapseln gleich denen der
letzteren.
3. Eine Aeolis landsbnrgii, die auf Eudendrimn
7'ameum gefunden war, enthielt große bohnen-
förmige Nesselkapseln gleich denen im Körper
des Hydroiden und sehr kleine, wie sie dieser in
seinen Tentakeln hat.
4. Eine Aeolis drnmnwndi , die auf Tidndaria
divisa gefunden war, hatte die gleichen vier Sorten
von Nesselkapseln wie diese. Nachdem es „lange
Zeit" gefastet hatte, wurde dieses Exemplar mit
Coryne eximia gefüttert. Am nächsten Morgen
') Nach Grosvenor.
waren ihre Papillen und ihr Darmkanal voll von
<l"()r_j'«£--Nesselkapseln, gemischt mit solchen von
Tidndaria.
Die Untersuchung von vier verschiedenen
Äolidiern hat also ergeben , daß jede von ihnen
gerade diejenigen Nesselkapseln besaß, die dem
ihr zur Nahrung dienenden Hydroiden eigen waren.
Die Beobachtungen haben Bestätigungen er-
fahren einerseits durch Glaser, der in einer auf
einer /'rtrz/'/'rt-Kolonie gefundenen Aeolis alba die
jener Art eigenen zwei Sorten von Nesselkapseln
traf, andererseits in sehr umfassender Weise durch
Grosvenor. Dieser stellt fest, daß von den
Mitgliedern der Familie der Aeolidiadae propriae,
welche gewöhnlich typische Actinien-Nesselkapseln
besitzen, für viele bekannt ist, daß sie von Actinien
leben: Eine Aeolidia papulosa, die bei Plymouth
zwischen den mit zahlreichen roten Seeanemonen
besetzten Steinen gefunden wurde, enthielt deren
Nesselkapseln ; eine Acolidiella aldcri enthielt Nessel-
kapseln txn^x Sagartia, von der sie bekanntermaßen
lebt. Ferner fand er in zwei Ampliorina coeridea,
die auf Sertidarclla lebten, in einer Facelina auf
Antcnnularia , in einer Cutliona aiirantiaca und
drei Facelina coronata auf Tnbularia, einer Face-
lina punctata auf Pennaria cavolinii, in drei Riz-
zolia peregrina auf Eudendrimn rameiini und in
vier Rizzolia peregrina auf einer Eudendriiim-hxS.
Nesselkapseln , die von denen des die Nahrung
bildenden Tieres nicht zu unterscheiden waren.
Da man nun aber von vielen Äolidiern nicht
weiß, von welchem Cölenteraten sie leben, die
Nesselkapseln der von jenen gefressenen Tiere aber
in ihrem Kot findet, so untersuchte Verfasser
diesen und fand darin in allen Fällen die gleichen
Nesselkapseln , welche die Aolidier auch in ihren
Nesselsäcken hatten.
In voller Übereinstimmung mit diesen positiven
Ergebnissen stehen die negativen Befunde an sol-
chen Äolidiern , von denen man weiß , daß sie
nicht von Cölenteraten leben. So ist von vielen
Gliedern der Familie der Janiden bekannt, daß
sie nicht Hydroiden, sondern Bryozoen, sogen.
Moostierchen, fressen, und diese haben sämtlich
keine Nesselkapseln, ja sie entbehren sogar der
Nesselsäckchen. Das gleiche gilt von der typischen
Äolidierart Calina glaucoides , die nach Hecht
Eier und Embryonen von Fischen frißt. Dahin-
gegen gibt es in dieser Gattung eine andere Art,
Cahna cavoliini , die von Hydroiden lebt, und in
dieser fand Grosvenor die gleichen Nessel-
kapseln wie in ihrem Magen auch in den Nessel-
säcken, welche dieselbe besitzt.
Von ganz besonderem Interesse ist aber die
letzte der oben mitgeteilten Beobachtungen
Wright's, nämlich, daß nach der Fütterung
einer auf Tnbularia gefundenen Aeolis druniuwndi,
die bis dahin die Nesselkapseln jenes Hydroiden
enthielt, mit einer anderen Hydroidengattung,
Coryne eximia, deren Nesselkapseln bei der-
selben auftraten. Derartige, für die Frage
ganz besonders entscheidende Versuche hat nun
N. F. m. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
853
Grosvenor wiederholt, und zwar mit dem
gleichen Erfolge. Er hat 4 Exemplare von Ria-
zolia pcrcgrina, die auf Eudcndriuin gefunden
waren und nur deren Nesselkapseln besaßen , mit
Fcnnaria cavolinii, einer Form, deren Nesselkapseln
sehr charakteristisch von jenen untersciiieden sind,
gefüttert und nach 9 Tagen die letzteren in den
Nesselsäcken des Aolidiers konstatiert, und nach
4 Wochen der Fütterung waren letztere fast allein
noch vorhanden. Vier andere Exemplare der-
selben Art wurden in einem Aquarium mit Eudcn-
driuin , Fcnnaria, Tubidaria und der Aktinie
Aiptasia variabilis gehalten. Anfangs besaßen
diese nur Nesselkapseln von Eudcndriuin , bald
aber traten neben diesen — dieses Tier befand
sich ja auch bei der Nahrung im Aquarium —
solche der beiden anderen Hydroiden und der
Actinie. Ferner brachte er mit 2 Exemplaren
derselben Art zwei amputierte Rüssel eines Cerc-
bratulus urticans, also einer durch den Besitz von
echten Nesselkapseln ausgezeichneten Art der
Nemertinen oder Schnurwürmer, zusammen und wies
nach kurzer Zeit deren Nesselkapseln in den Nessel-
säcken der Aolidie nach. Endlich fütterte er zwei
der mit Actinien - Nesselkapseln ausgestatteten
Aolidierform Spurilla ncapolitana mit der Aiptasia
variabilis und beobachtete das Auftreten der ab-
weichend gestalteten 2 Sorten von Ncsselkapseln
dieser Actinie.
Zum Schluß will ich noch zwei Beobachtungen
erwähnen. Die eine zeigt, daß auch in der Natur
ein solcher Nahrungsvvechsel vorkommt, wie er
hier künstlich veranlaßt worden ist, wenn auch
gewöhnlich die Aolidier sich an die gleiche halten.
Krembzow fand ein Exemplar von Acolidiclla
glauca mit Nesselkapseln von anderer Art ver-
sehen als alle übrigen. Aus der anderen geht
hervor, daß verschiedene Aolidier gleiche Nessel-
kapseln aufweisen können. Unter diesen sind
Flabcllina affinis und Coryphella lansburgii An-
gehörige zweier verschiedener Unterfamilien, ein-
ander äußerlich sehr ähnlich, haben annähernd die
gleiche Verbreitung und sind vom Verfasser mehr-
mals beide zusammen gefunden worden. Die beiden
haben nun die gleichen 3 Arten von Nesselkapseln
und ernähren sich danach augenscheinlich von den
gleichen Hydroiden.
Durch diese sämtlichen Beobachtungen ist nun
wohl die Annahme, daß die Aolidier in ihren
Nesselsäcken die Nesselkapseln erzeugen, end-
gültig zurückgewiesen und der Beweis erbracht
worden, daß diese und damit, nachdem der Fall
bei einer Cephalopodenform schon vorher sich in
anderer Weise aufgeklärt hatte, die Mollusken über-
haupt nicht „Nesseltiere" sind in dem Sinne, wie
es die Cölenteraten sind, zu dessen typischen Ge-
webselementen Zellen gehören, welche Nessel-
kapseln bilden und danach Nesselzellen genannt
werden.
Damit ist das Hauptziel dieser Besprechung
erreicht. Ehe wir sie verlassen, wollen wir in-
dessen noch die Fragen erörtern, wie sich die
Nesselkapseln zu den Zellen der Nesselsäcke ver-
halten und wie sie von den Aolidiern verwendet
werden.
Die ausgebildeten Nesselsäcke enthalten un-
zweifelhaft in den Zellen ihrer Wandung die Nessel-
ka])seln und zwar im geschlossenen Zustande, noch
nicht explodiert. Nach den Untersuchungen von
Grosvenor werden nun solche Nesselkapseln,
die aus den Lebersäckchen in die Nesselsäcke ein-
treten, von den Zellen, die sie mit pseudopodien-
artigen Fortsätzen umfassen, aufgenommen. Diese
werden dann allmählich durch membranöse Cysten,
welche ein Erzeugnis gewisser anderer, zwischen
den ,, Nesselzellen" vorhandener Zellen sind, um-
hüllt. Eine Bildung von Nesselkapseln findet hier
nicht statt. Daß man gelegentlich dennoch Bil-
dungsstadien von Nesselkapseln gefunden hat, er-
klärt sich daraus, daß mit der NaJirung nicht nur
fertige aufgenommen werden, sondern naturgemäß
auch die in Bildung begriffenen, die aber größten-
teils der \'erdauung unterliegen, ehe sie in die
Nesselsäcke gelangen und dort eingeschlossen
werden.
Was macht nun aber die Schnecke mit den
Nesselkapseln? An sich wäre es ja denkbar, daß
diese hier einfacii allmählich aus dem Körper aus-
geschieden würden. Die Beobachtung lehrt in-
dessen, daß die Aolidier ihre Papillen in einer
Weise benutzen, welche darauf hinweist, daß sie
sich ihrer zur Verteidigung oder zum Angriff be-
dienen, und dann können dabei nur die Nessel-
kapseln eine Rolle spielen. Die Papillen werden
gestreubt, lebhaft bewegt, bisweilen bedeutend
gestreckt und alles oftmals deutlich auf einen an-
greifenden Körper hin. Es kommt hinzu, daß die
Papillen die einzigen mehr oder weniger lebhaft
gefärbten Teile des Äolidierkörpers und dadurch
geeignet sind, die Aufmerksamkeit auf die damit
ausgestatteten Tiere zu lenken. Man beobachtet,
daß die Nesselkapseln bei einem Angriff auf einen
Aolidier entleert, aus der Nessclkapsel ausgestoßen
werden und dann explodieren, d. h. daß an den
ausgestoßenen Nesselkapseln der vorher im Innern
der Kapsel gelegene Faden ausgestreckt ist, gerade
wie an den Nesselkapseln des Cölenteratenkörpers
nach der Verwendung. Bei diesen dürften nun
die Nesselkapseln eine doppelte Rolle spielen. Es
ist einerseits sehr wahrscheinlich, daß sie ihren
Besitzern einen Sciiutz gegen Feinde verleihen,
also Verteidigungswaffen sind, indem diese nach
der für sie schmerzhaften Berührung mit den
Nesselkapseln und dem von diesen entleerten gif-
tigen oder ätzenden Safte derselben von ihrer
Beute ablassen. Andererseits steht es durch viel-
fache Beobachtungen fest, daß gewisse Tiere, die
den Cölenteraten zur Nahrung dienen, durch die
Nesselkapseln gelähmt oder getötet und so ver-
liindert werden, sich der Erfassung zu entziehen:
sie sind also in diesem Falle Angriffswaffen.
Da nun die einzigen Tiere, gegen welche die
mit Nesselkapseln ausgestatteten Aolidier einen
Angriff' richten könnten, die ihnen zur Nahrung
854
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 54
dienenden Hydroiden und Actinien sind, es aber
gerade deren Nesselkapseln sind, mit welchen die
Aolidier sich beladen, so müssen wir ihre Ver-
wendung zu einem solchen Angriff als ausge-
schlossen betrachten, da wir doch nicht wohl an-
nehmen können, daß die Cölenteraten gegen ihre
eigenen Waffen empfindlich sind. Auch müssen
die Aolidier einen gewissen Schutz gegen die
Nesselkapseln der Cölenteraten — durch Schleim-
absonderung oder dgl. — genießen, da sie ohne
diesen sich dieser Tiere nicht würden als Nahrung
bemächtigen können. Unter solchen Umständen
können bei den Äolidiern die Nesselkapseln nur
als Verteidigungswaffen in Betracht kommen, und
es fragt sich jetzt, gegen wen diese gerichtet sein
dürften. Grosvenor tut nun dar, daß die
verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen Nessel-
kapseln der Aolidier, die alle ziemlich klein sind,
auf einen größeren Feind kaum eine Wirkung
ausüben können, die diesen veranlassen dürfte,
von seiner Beute abzustehen. Es kommt in ganz
evidenter Weise zu einer Entleerung der Nessel-
kapseln und ihrer alsdann erfolgenden Explosion
fast ausschließlich, wenn eine einzelne Papille vom
Körper abgerissen wird. Die dadurch entstandene
Beschädigung wird, nebenbei bemerkt, durch Re-
generation rasch wieder ausgeglichen. Derartige
Verletzungen werden nun wohl vorzugsweise durch
kleine, junge Fische ausgeübt. Gegen diese müssen
die Nesselkapseln sehr wirksame Verteidigungs-
waffen bilden. Und wenn das der Fall ist, so
erklären sich auch die bunten Farben der Papillen
als unverkennbare Trutzfarben, die, wie in anderen
ähnlichen Fällen, dazu dienen, den durch Schaden
bei einem früheren Angriff „klug gewordenen"
Feind zu warnen, einen solchen aufs neue zu ver-
suchen , und ihn sich dadurch vom Leibe zu
halten.
Das Eolithen-Problem
in der Gesellschaft für Anthropologie etc
[Nachdruck verboten.] Von E. Mey
Seit Kramberger's Skelettfunde und deren Be-
arbeitung durch Klaatsch und Schwalbe den Nach-
weis einer niederen, altdiluvialen Menschenrasse
in Europa erbrachten, haben auch die roh bear-
beiteten Feuersteine, welche man hie und da in
diluvialen, ja sogar tertiären Schichten Frankreichs
und Belgiens aufgefunden und als menschliche
Werkzeuge erklärt und unter dem Namen „Eolithe"
zusammengefaßt hat, in weitesten Kreisen großes
Interesse erregt. Freilich fanden diese Steine,
deren „Bearbeitung" oft recht problematischer
Natur ist, zunächst mehr Beachtung unter den
Anthropologen als unter den Geologen, die sich
— vielfach mit Recht — sehr skeptisch verhielten.
Ein großer Teil der „Eolithe" stellt nämlich ganz
einfach cylindrische, keilförmige oder hammer-
ähnliche, handliche Feuersteinknollen dar, deren
vorspringende Ecken eine gewisse Abnutzung
zeigen, welche angeblich ein denkendes Wesen
durch Gebrauch hervorgebracht haben soll.
Waren nun auch die meisten dieser Stücke sehr
wenig beweiskräftig, so sind doch in Deutschland
zuerst durch Paul GustafKrause bei Ebers walde, durch
Klaatsch in Cantal (Süd-Frankreich) und in neue-
ster Zeit besonders durch Dr. Hahne bei Magde-
burg Stücke gesammelt worden, deren Bearbeitung,
resp. Benutzung zweifellos erscheint. Auch unter
den Rutot'schen Funden aus Belgien befinden sich
solche Stücke. Es ist das Verdienst der Gesellschaft
für Anthropologie, im Museum für Völkerkunde
in Berlin kürzlich eine kleine Ausstellung solcher
Eolithe veranstahet und in der Sitzung vom 19. März
eine Diskussion über den Gegenstand angeregt zu
haben, in welcher sich die meisten der anwesen-
den Geologen für die Werkzeug-Natur besonders
der von Dr. Hahne vorgelegten interglacialen
in Berlin, Sitzung vom 19. März 1904.
er, Berlin.
Stücke, jedoch auch eines Teiles der französischen,
angeblich miocänen Steine mit aller Entschieden-
heit äußerten.
Dr. Hahne fand seine Stücke in Kies- und
Sandgruben der Magdeburger Gegend. Sie lagen
dort meist nesterweise beisammen im oberen Teile
der Sande, die von einem älteren Geschiebemergel
unterteuft, von der sogenannten „Steinsohle" an
der Basis des Löß überlagert werden. Diese
„Steinsohle" entspricht nach Wahnschaffe dem
jüngeren Geschiebemergel, in den sie stellenweise
übergeht.
Die meist eisenschüssigen Stellen, welche die
Feuensteinnester enthielten, mögen also einer ehe-
maligen, interglacialen Oberfläche entsprechen, wie
Keilhack und Hahne vorläufig annehmen, was je-
doch noch näher zu untersuchen ist. Wahnschaffe
folgerte aus der geringen Abrollung, daß diese
Steine an primärer Lagerstätte liegen.
Die z. T. diesen Funden ganz ähnlichen Eolithe
von Cantal (Süd Frankreich) sollen nach den fran-
zösischen Geologen, ebenso wie die belgischen
Steine, tertiären und zwar miocänen Alters sein,
da sie mit miocänen Fossilien zusammen in einer
Schicht unter Lavaströmen von angeblich tertiärem
Alter liegen.
Über die Sicherheit dieser Altersbestimmung
waren die Meinungen sehr geteilt:
Keilhack enthielt sich des Urteils über die
belgischen Funde, wies aber in bezug auf die
französischen daraufhin, daß Eruptionen dort wohl
auch noch in späterer, posttertiärer Zeit stattge-
funden haben, einzelne der Lavaströme also ganz
wohl jünger sein könnten als die Hauptmasse und
daß die miocänen Fossilien an sekundärer Lager-
stätte eingeschwemmt dort liegen könnten. Ganz
N. F. ni. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
855
unsicher sei die Altersbestimmung der Eolithe
von Kent, die dort auf dem Kreideplateau, aber
oline Bedeckung- durch jüngere Schichten, liegen.
Diesen Ausführungen schlössen sich Wahnschaffe
und Jentzsch vollkommen an, während Nöthling
am tertiären .Alter der Manufakte nicht zweifelte,
da er selbst bei Birma bereits 1896 aus einem
Sivalik- Geröll „pliocänen" Alters 2 Feuerstein-
schaber zusammen mit einem Hipparionzahne
eigenhändig herausgezogen hat. .Auch Branco
glaubte, in die Angaben mindestens der belgischen
Geologen keinen Zweifel setzen zu dürfen , und
machte auf eine sehr interessante Verschiedenheit
der Steine aufmerksam : die einen seien wirklich
,, bearbeitet", die anderen nur ,, benutzt". Die
älteren Steine, die nur von einem denkenden
Wesen „benutzt" seien , dürften nicht mit Sicher-
heit als Zeugnis für den Menschen gelten, da
auch höhere .'\ffen sie in vorübergehendem Ge-
brauch gehabt haben könnten.
Das Hauptinteresse des Abends konzentrierte
sich jedenfalls auf die Ausführungen von Dr.
Hahne und die Vorlegung seiner Interglacialfunde
von Magdeburg.
Unter denjenigen Steinen, die mit Sicherheit
als bearbeitet gelten können, lassen sich hier be-
sonders drei charakteristische P'ormtypcn unter-
scheiden , deren wiederholtes Auftreten kein zu-
fälliges sein kann :
Den ersten Typus stellen kleine, flache, rund-
liche Steine dar mit meist nach einer Seite ge-
richteten .■\bsplissungen an der Peripherie, die
sich zuweilen um das ganze Stück herumziehen;
an einer Stelle des Randes jedoch befindet sich
der etwa 2 mm im Querschnitt messende Stumpf
einer abgearbeiteten Spitze, die, wie man deutlich
erkennt, aus dem Steine herausgearbeitet ist durch
Absplissungen , welche rechts und links von der
Spitze je eine kleine Hinkehlung in der Peripherie
des Steines erzeugen. Man hat an anderen Orten
Renntierschaufeln gefunden, aus denen durch lange,
annähernd parallele Rinnen Speerspitzen oder dgl.
lierausgeschnitten sind. Vielleicht dienten auch
diese Feuersteinspitzen dazu, um in Knochen
oder Holz solche Rinnen zu reiben oder Löcher
zu bohren.
Den zweiten Typus stellen Tafeln von etwa
rhombischer F"orm dar, bei denen zwei benachbarte
Seiten Absplissungen tragen, und zwar ist, wenn man
das Stück wie einen Radiergummi in die rechte
Hand nimmt, die Fläche links vom Daumen an der
Unterkante „retuschiert", die Fläche vor dem
Daumen an der Oberkante. Dadurch ist es
möglith , die Lage der beiden retuschierten
Flächen in der Weise zu vertauschen , daß links
vom Daumen stets die Unter kante, mit welcher
die Arbeit (Schaben) erfolgte, die retuschierte ist.
Dr. Hahne meint, daß die Kante ursprünglich
schart und glatt war, und daß erst durch die Ar-
beit auf Knochen die Retuschen unabsichtlich ent-
standen' seien, wie es auch seine eigenen Ver-
suche in dieser Richtung ergaben. In h'rankreich
nennt man solche nach einer Drehung von 180"
kongruenten Splissungen „Retouches changees".
Der dritte T>'pus wird durch „Holilschaber"
repräsentiert — Stücke etwa von der Größe, aber
nur von der halben Dicke einer Zündholzschachtel.
Sie haben unten an der längsten Seite eine
Schneide, die ähnlich wie bei einem Meißel in
einem der Schabeverrichtung entsprechenden
Winkel sich abböscht , so daß auch hier die Be-
nutzung durch die rechte Hand sich nachweisen
läßt. \"orn haben diese Steine meist einen spitzen
Winkel, etwa wie ein Brotmesser, dessen unteren
Schenkel die Schneide, dessen oberen eine Fläche
bildet, auf die man meist bequem den Zeigefinger
legen kann, wenn man den Stein zum Gebrauche
bereit in die Hand nimmt. Im vorderen Teil
der Schneide hat der Stein eine ebenfalls schräge
und etwas schief nach außen abgeböschte Aus-
kehlung, die durch Schaben auf einem runden
Stabe entstanden zu sein scheint, wie dergleichen
auch an einem Glasscherben durch feine Aus-
splitterung beim Schaben zustande kommt.
Nimmt man diese Steine zum Gebrauche in
die Hand, so erweist es sich stets, daß die Aus-
kehlungen dann auch an der zur Arbeit geeignet-
sten Stelle liegen, auf welche sich der Druck kon-
zentriert, und daß die Steine bequem in der Hand
liegen.
Dr. Hahne stellt sich die Entstehung dieser
Fabrikate in der Weise vor, daß man einige
größere Feuersteine zertrümmerte und dann hand-
hche , geeignete Bruchstücke auswählte , deren
Schneide nun fast allein durch den Gebrauch die
geeignete Form erhielt. Ist diese Überlegung
richtig, so muß auch die Umkehrung der obigen
Probe ein Resultat ergeben. Hahne hat eine große
Zahl solcher Versuche in der Weise ausgeführt,
daß er stets einige der unzweifelhaft bearbeiteten
Steine in der Tasche bei sich führte und hier —
ohne hinzusehen — ihre bequemste Lage in der
Hand ausprobierte. Zog er dann die Hand her-
aus, so zeigte es sich stets, daß der .Stein so in
der Hand oder zwischen den Fingerspitzen lag,
wie er als Werkzeug benutzt werden konnte.
Dieses auch von anderen Personen mit Erfolg
ausgeführte Experiment gilt auch für die anderen
beiden Typen. Zuweilen hatten die Steine meh-
rere günstige Lagen imd dann auch meist mehrere
Benutzungsstellen. Einige am 19. März vormittags
zur Besichtigung eingeladene Geologen, unter denen
auch der Schreiber dieser Zeilen sich befand, fanden
diesen Sachverhalt durchaus bestätigt — minde-
stens ließ sich für jede Gebrauchsstellung auch
eine wohl dazu passende Handlage finden.
Diese Typen entsprechen den belgischen
„Messvinien-Formen" Rutots. Weniger gewiß er-
scheint der Gebrauch der roheren Eolithe, die nur
zum Klopfen oder dgl. benutzt sein sollen , doch
wies Hahne darauf hin, daß hier unter den Tausen-
den der an Ort und Stelle in Belgien etc. herum-
liegenden Steine nur diejenigen die fragliche
Eckenabsplitterung und Abnutzung zeigen, welche
8s6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 54
ihrer Größe und Gestalt nach eine gewisse Hand-
lichkeit aufweisen, nie aber die großen, uno-e-
schickten Blöcke. ^
Als ganz problematisch erscheinen die als
„Eolithe" gedeuteten Steine aus der Umgegend
von Berlin (Rüdersdorf), denen gegenüber
Keilhack und die anderen anwesenden Geo-
logen vorläufig die größte Reserve aufrecht er-
halten möchten.
Jedenfalls hat durch die V'erhandlungen am 19.
März die Eolithenfrage eine große Bedeutung erlangt,
da durch sie wohl der Nachweis erbracht ist, daß
interglaciale Manufakte des Menschen in Deutsch-
land eine große Verbreitung haben und nicht
selten sind, während ähnliche oder noch primitivere,
aber doch sicherlich benutzte Stücke in Frankreich
und Belgien in noch älteren Schichten liegen,
deren Zugehörigkeit zur Tertiärzeit mindestens
noch nicht widerlegt wurde. Freilich ist es von
diesen ältesten Eolithen nicht sicher, ob sie „be-
arbeitet", oder nur „benutzt" sind, d. h. ob "der
Mensch oder ein Menschenaffe ihnen ihre Form
gegeben.
Immerhin wäre vielleicht noch eine eingehen-
dere Untersuchung darüber wünschenswer^t, ob
Formen, wie die beschriebenen, nicht doch auch
zufällig durch natürliche (nicht künstliche) Ur-
sachen — Rollen in der Brandung, etc. — in
größerer Anzahl entstehen können, was man bis-
her vermeint hat. Wie ich höre, hat Dr. Hahne
neuerdings in Rügen sich solchen Untersuchungen
gewidmet, deren Resultat wohl abgewartet werden
muß, ehe man ein endgültiges Urteil in der
Eolithenfrage fällt.
Hoffentlich werden jedenfalls die neuen Funde,
besonders von Dr. Hahne, überall im deutschen Lande
den Sammeleifer entflammen, und wenn dann erst
eine größere Anzahl Stücke mit genügend genau
bestimmten Fundorten vorliegt, so wird das zu
einem klareren Urteil über Verbreitung und Alter
des diluvialen, vielleicht des tertiären Menschen
in Deutschland führen.
Kleinere Mitteilungen.
Der Richtungssinn bei den solitären Wes-
pen. — Die Sicherheit, mit der Bienen und Wes-
pen das Flugloch ihres Nestes wiederzufinden ver-
mögen, muß für jeden Beobachter etwas Frappieren-
des haben. Lange Zeit hindurch hat man nach
einer Erklärung der einschlägigen Tatsachen in
der Tat vergeblich gesucht und sich damit be-
gnügt, daß man den betreffenden Tieren einen
besonderen mythischen Richtungssinn zu-
erkannte, der unabhängig von der Erfahrung und
demzufolge auch in hohem Grade unfehlbar den
glücklichen Besitzer in den Stand setzen sollte,
sich nach einer bestimmten Stelle immer wieder
mühelos zurückzufinden. Ihren letzten Triumph ver-
dankt diese Theorie vom Richtungssinn der eigent-
lich viel zu viel besprochenen .Abhandlung"^ von
B e t h e über die psychischen Qualitäten der Ameisen
und Bienen. Bekanntlich stellte der genannte Autor
die Hypothese auf, die Bienen würden durch eine
rätselhafte Kraft, die uns vorläufig völlig un-
bekannt sein, und deren Wirkungskreis sich auf
ein Gebiet von etwa 3—4 km im Umkreise be-
schränken sollte, zu ihrem Stocke zurückgeführt.
Welcher Art diese unbekannte Kraft ist, darauf
hat bald nach dem Erscheinen der B et he 'sehen
Arbeit der berühmte Bienenforscher von Büttel-
Reepen eine zutreffende Antwort gegeben. Es
gelang ihm, den einwandsfreien Beweis zu liefern,
daß die Bienen bei ihren Flügen durch ein Orts-
gedächtnis geführt werden, das natürlich nur
soweit reicht, wie die Tiere geflogen sind, d. h.
etwa 3—4 km. Besonderen Fleiß verwenden die
Bienen auf die Einprägung der Lage ihres Stockes,
wenn sie diesen das erste Mal verlassen : sie schweben
auf und nieder immer den Kopf dem Stocke zu-
wendend und umfliegen ihr Heim in kleineren
oder größeren Kreisen.
Daß ganz ähnliche Verhältnisse auch bei den
solitären, d. h. einzeln lebenden, Wespen vor-
liegen, dafür enthält das Buch von George und
Elisabeth Beckham, das für das Studium der
genannten Tiergruppe eine vorzüghche Anleitung
darbietet, eine Reihe wertvoller Belege. ^) Wir geben
im Nachstehenden einige davon wieder.
Zunächst ist es für die Frage nach dem Orien-
tierungsvermögen einer Tierart von großer Wichtig-
keit, wenn sich diese ihre ganze Lebenszeit oder
wenigstens den größten Teil derselben an einer
und derselben eng umgrenzten Lokalität aufhält.
Ein derartiges Gebundensein an die Scholle
treffen wir nun nicht allein bei den landbewohnen-
den Tieren, sondern auch bei einer sehr beträcht-
lichen Anzahl der Flieger. Der Garten z. B., der
den Beckhams als Beobachtungsfeld diente, war
bewohnt von einer bestimmten Anzahl bestimmter
Wespenspezies, die entweder von Geburt an hier
hausten oder den Platz zufällig gefunden und sich
dort niedergelassen hatten. Wie sehr die Wespen
Gelegenheit haben, mit ihrem Wohngebiet vertraut
zu werden, das sei an dem Beispiel einer Sand-
wespe {Ammophila uriiaria) erörtert. Von Juni
ab fliegen diese Tiere umher, um von den Blüten
Honig zu nippen. Im Juli kommt dann die Zeit
der Paarung, während der es wiederum von Blüte
zu Blüte geht. Dann gilt es, einen geeigneten
Platz für die Anlage des Nestes ausfindig zu machen,
wobei wiederum ein längeres Umhersuchen un-
erläßlich ist. Der erwählte Platz wird dann, noch
bevor die Nahrung für die Brut eingetragen wird
wiederholt besucht, so daß das Tier mit" der Um-
gebung seines Nestes allmählich völlig vertraut
werden muß. Nach alledem ist es auch nicht im
mindesten wunderbar, wenn die Wespe schließlich
ihre Beute, die als Proviant ins Nest gelegt werden
') In Übersetzung erschienen bei P. Parey. Berlin 1904.
N. F. III. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
857
soll, in einer nahezu geraden Linie an den Nist-
platz zu bringen imstande ist. Durch den langen
Aufenthalt auf einem und demselben Gebiete wer-
Einzelheiten schließlich
der Umgebung unserer
den die Tiere mit allen
so vertraut, wie wir mit
Heimatstadt.
Manche der solitären Wespen unternehmen,
bevor sie ihre Nester verlassen , übrigens ganz
ähnliche Orientierungsflüge, wie sie von
Buttel-Reepen bei der Honigbiene beobachtet
hat. Interessant sind hier namentlich die Angaben
über die große gelbe Grabwespe (S/>/u\v ichncii-
vwned). Diese Tiere sind bei der Auswahl ihres
Nistplatzes außerordentlich wählerisch : sie fangen
oft ein halbes Dutzend von Nestern an, um sie
bald darauf wieder zu verlassen. Niemals aber
wird bei einem derartigen unvollendet bleibenden
Neste ein Orientierungsflug unternommen. Wohl
aber geschieht dies bei den wirklich fertiggestellten
Bauten , und zwar besteht der Orientierungs-
flug in einer Spirallinie, deren Touren sich all-
mählich mehr und mehr erweitern, während sich
die Wespe gleichzeitig immer höher in die Luft
erhebt (Fig. i). Hat das Tier ein derartiges ein-
Fig. I. Erster Oricnüerungsllug von Sphex khiictimoiiea.
gehendes Studium der Topographie seines Nist-
platzes hinter sich, so pflegt es, wenn es sein Heim
ein zweites Mal verläßt, weit weniger oder wohl
auch gar keine Spiraltouren zu beschreiben (vgl.
Fig. 2).
In anderer Weise als Sphex ichneuuwnea er-
wirbt sich Astata bicolor ihre Lokalkenntnis. Sie
fliegt von dem Neste zunächst nach einem nahe-
gelegenen Punkte, setzt sich dort einen Augen-
blick nieder und kehrt dann entweder zum Neste
zurück oder fliegt zu einem Ruhepunkte. So fährt
sie eine Zeit lang fort, um endlich mit einem
raschen Zickzackflug ihre Studien zu beenden.
(Vgl. Fig. 3, auf der die einzelnen Flugstrecken
der Reihe nach mit Ziffern bezeichnet sind.) Ähn-
lich verfährt die verwandte Astata unicolor: doch
läuft sie auf der Erde von einem Ruheplatz
zum anderen, ohne dabei das Nest wieder zu be-
rühren , erst zum Schluß bedient auch sie sich
ihrer Schwingen (vgl. Fig. 4 u. 5). Daß das Resultat
solcher Studien in der Tat in einem gewissen
Ortsgedächtnis besteht, scheint uns aus den
folgenden Beobachtungen hervorzugehen. Ein Nest
von Astata unicolor wurde ausgegraben ; die Wespe
legte sogleich in einer Entfernung von etwa 10 cm
Fig. 2. Späterer Orienticrungsflug von Sphex khiieumonea.
Fig. 3. Orientierungsbewegung von Astata bicolot
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Fig. 4. Orientierungsbewegung von Astata unicolor.
ein neues an. Nachdem dies fertiggestellt war,
flog das Tier für 2V4 Stunden fort. Nach der
Rückkehr fand die Wespe nicht sogleich das
richtige Nest wieder. Zunächst begab sie sich
zum alten und begann einige Bauarbeiten daran
858
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 54
vorzunehmen; erst nach einiger Zeit fand sie den
richtigen Platz wieder auf. Hier war der Wespe
offenbar eine Verwechslung zwischen dem alten
und dem neuen Neste untergelaufen. — In Zick-
zackflügen, die nur die eine Seite des Nestes halb-
Kig. 5. Orientierungsbewegung von Astala iiuicolor.
kreisförmig umschließen, gewiimt Cerceris deserta
ihre Lokalkenntnis. Erst zum Schluß fliegt sie
einige Male rings um das Nest herum (Fig. 6).
Ganz ähnlich verfährt die Spezies Cerceris ni-
grescens, während C. clypcata gleich mit vollen
Kreisfliigen beginnt.
Will man trotz der im vorstehenden referierten
Beobachtungen bei der Annahme, die Wespen
würden von einem besonderen Richtungssinn oder
von einer rätselhaften Kraft geleitet, verharren, so
müßte diese Kraft sich in der Praxis als unfehl-
bar erweisen. Wie wenig dies der Fall ist, be-
weist die Gattung Pouipilus. Sie ist dadurch aus-
gezeichnet, daß sie ihre Beutetiere bereits einfängt,
bevor sie zum Nestbau schreitet. Der Platz, auf
dem die Beute deponiert wird, ist von dem Neste
bei P. quinquenotatus 0,3—3 m> bei P. fiiscipemtis
höchstens 35 cm entfernt. Solange diese Wespen
mit dem Graben beschäftigt sind, besuchen sie
oftmals ihre Beute. Dabei haben sie oft die größte
Mühe, diese aufzufinden. Namentlich zeigte sich
dies bei der Beobachtung eines P. fuscipennis, der
soeben sein Nest beendet hatte und nun seine
Beute aufsuchen wollte. Obwohl diese nur 20 cm
vom Neste entfernt und leicht sichtbar war, machte
die Wespe einen großen Umweg, ehe sie ihr Ziel
erreichte; und als sie hierauf zu ihrem Neste
zurückkehren wollte, verfehlte sie zunächst auch
dieses (vgl. Fig. 7). Ähnliches konnten die Peck-
Fig. 7. Weg
,-on Pompiltis fiiscipcnnh zum Beutelier und
zum Neste.
Fig. 8. Weg von Tachyies zum Neste.
ham's noch an zehn Individuen derselben Spezies
feststellen. In einem Falle suchte die Wespe
15 Minuten lang in wilder Hast nach ihrer Beute;
dabei entfernte sie sich immer mehr und mehr
von ihr, und sie hätte sie wohl überhaupt nicht
gefunden, wenn ihr nicht der Beobachter mitleidig
zu Hilfe gekommen wäre. Solche Unsicher-
heit, wie sie Ponipilus beim Auffinden der Beute
und des Nestes zeigt, beweist auf das deutlichste,
daß ein unfehlbarer „Richtungssinn" diesen Ge-
schöpfen nicht zukommt. Eine ähnliche Unsicher-
heit beim Wiederauffinden des Nestes zeigt auch
das Genus Pacliytcs, das seine Nester mit jungen
Grashüpfern verproviantiert. Die F"iguren 8 und 9
geben die vielfachen Windungen wieder, die ein
Individuum der genannten Gattung beim Trans-
porte zweier Grashüpfer zum Neste sich leistete.
N. F. III. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
859
Daß solitär lebende Wespen sicherlich eine
Kenntnis, eine Anschauung von ihrem
Nestplatze besitzen, beweist das Benehmen von
Aporus fasciatits. Diese Spezies erkannte ihr Nest
nicht wieder, wenn das darüber gedeckte Blatt
entfernt wurde, während sie es nach Wiederauf-
legen des Blattes sogleich wieder auffand. In
ähnlicher Weise zeigten alle Angehörigen der Gat-
tung Cerceris eine große Unruhe, wenn irgend
ein neues Objekt in die Umgebung ihres Nestes
gelegt wurde. Animoplüla verließ sofort ihr Nest,
nachdem einigre tiefe Furchen in den davorliegen-
Fig. g. Weg von Tachyles zum Neste.
den Staub eingeschrieben waren. Auch zeigte sie
sich in hohem Maße beunruhigt, wenn auf dem
Platze, wo sie ihre Beute niedergelegt hatte, irgend
eine Veränderung vorgenommen wurde. Mit vollem
Rechte kann man aus all diesen Beobachtungen
schließen, daß die solitären Wespen die Fähig-
keiten zum Erwerb einer Ortskenntnis besitzen,
und daß ihnen ein Ortsgedächtnis zugesprochen
werden muß. Es stimmen also diese Resultate sehr
gut überein mit denen, die von Buttel-Reepen
aus dem Studium der sozialen Bienen abgeleitet
hat. Dr. Walther Schoenichen.
Der gegenwärtige Stand der Mykoplasma-
theorie. — Die F"rage nach dem Ursprung und
\'erbrcitungswege der Getreiderostpilze hat seit
den epochalen Untersuchungen A. De Bary's
zwar viele und gewissenhafte Bearbeiter gefunden,
aber dennoch stehen wir, wenigstens was den
praktischen Teil der Frage, die Bekämpfung des
Rostes betrifft, eigentlich dort, wo wir vor De
Bary gestanden sind; wir wissen gar nichts Be-
stimmtes. 30 Jahre rastloser Forschung haben
uns eine Kompliziertheit der Form- und Lebens-
verhältnisse dieser Parasiten enthüllt , welche uns
wahrhaft in Verwirrung setzt und den einst schein-
bar schon abgeklärten Anschauungen über Rost-
verbreitung wieder ihre Sicherheit raubt.
Diese destruktive Arbeit leistete namentlich
Prof. Eriksson, dessen großes Werk über die
Getreideroste bei Licht betrachtet uns nur von
einer Reihe falscher Meinungen befreite, ohne
eigentlich genügenden Ersatz dafür zu bieten. Die
Mykoplasmatheorie, welche er an die .Stelle der
Alleinherrschaft der De Bary'scheii Zwischenwirts-
lehre setzen wollte, konnte niemanden, ihn selbst
nicht befriedigen, abgesehen davon, daß sie von
den Forschern fast einstimmig abgelehnt wurde.
Da seine neuesten Arbeiten jedoch wieder an
die Anschauung einer derartigen Symbiose zwischen
Pilzkörper und Zellsubstanz anknüpfen, dürfte es
angezeigt sein, vorerst in Kürze die Gründe und
Tatsachen vorzulegen, welche ihn zur Aufstellung
dieser Theorie veranlaßten.
D e B ary hatte nachgewiesen, daß der Schwarz-
rost (Puccinia graminis Pers.) ein Stadium
besitzt, in welchem seine Sporen nur auf den
Blättern und Früchten des Berberitzenstrauches
(Berberis vulgaris L.) keimen, dort im Früh-
jahr die bekannten Becherfrüchtchen (Aecidien)
bilden, deren winzige Sporen wieder das Getreide
anstecken. Gleiches wies er für den Braunrost
(Puccinia rubigo-vera) nach, dessen Zwischen-
wirt eine gewöhnliche Wiesenpflanze (Anchusa
officinalis L.) ist. Nach dieser Anschauung ge-
nügte es also, die Umgebung der Getreidefelder
von Berberitzen und Anchusen zu befreien, um dem
Rost die Existenzmöglichkeit zu benehmen.
An diese allgemein bestätigte Lösung des Rost-
problems knüpfte nun Eriksson an. Er wies
darauf hin, daß der Krankheitsverlauf sich im
ganzen nicht so einfach gestaltet, wie man anfangs
glaubte. Vor allem zeigte er, daß die alten 3
Rostarten in Wirklichkeit 18 ph\-siologische F'ormen
sind, von denen 8 autoecisch leben , d. h. eines
Zwischenwirtes nicht bedürfen. Für diese wird
also De Bary's Anschauung von selbst hinfällig.
F"erner zeigte er, daß die Wintersporen der
neuen P. d isp ersa - Form, welche A n ch u sa als
Zwischenwirt besiedelt, bereits im Herbst keimen,
so daß sich das Anchusaaecidium schon im Sep-
tember entwickelt und mit der Pflanze gegen den
Winter zu abstirbt. Die F"rühjahrsansteckung des
Getreides kann daher nicht durch die Anchusa-
sporen erfolgen, da sich experimentell nachweisen
ließ, daß die Acidiosporen nicht überwintern können.
Immer fand sich ein Zeitraum von mindestens
6 — 8 Wochen zwischen dem Erlöschen der Winter-
generation und dem ersten Auftreten von Rost
auf den Getreidepflanzen.
Des ferneren machte er geltend, daß sich heteroe-
cische d. h. eines Zwischenwirtes bedürfende Rost-
formen auch in solchen Ländern finden, wo deren
Zwischenwirte überhaupt nicht vorkommen. So
verwüstet P. dispersa die Ernten Australiens,
Nordamerikas und Indiens, während dort Anchusa
noch niemals gefunden wurde. Aber auch bei
uns bewährte sich De Bary's Anschauung nicht
in genügender Weise, denn es ließ sich experimentell
nachweisen, daß die Ansteckung durch Acidio-
sporen nur etwa 25 — 26 m weit reicht. Unsere
Felder werden alljährlich von Rost befallen, während
doch die Zwischenwirtspflanzen ziemlich ausge-
rottet sind, sich zumindestens auf kilometerweiten
Strecken nicht mehr finden. Durch alles dies
wurde die Erklärung der Rostepidemien immer
schwieriger.
86o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 54
Die De B a r y ' sehe Hypothese war zerstört,
aber positive Anhaltspunkte zu einer neuen Er-
klärung wurden nur wenige gefunden. Nur eine
Erscheinung gab einen merkwürdigen Fingerzeig.
Es ließ sich feststellen, daß der Rost immer zuerst
das unterste Blatt der jungen Pflänzchen befällt
und dann gewissermaßen mitwächst, indem er sich
von Blatt zu Blatt in dem Maße des Wachstums
verbreitet. Dadurch aufmerksam gemacht, versuchte
Eriksson jede Möglichkeit einer Außeninfektion
dadurch zu verhindern, daß er aus Samen Pflanzen
in besonders konstruierten Vegetationsschränken
kultivierte, welche zwar durch Wattepfropfe mit
der Außenluft in Verbindung standen, jedoch trotz-
dem vor dem Eindringen von Rostsporen behütet
schienen. An solchen abgeschlossen kultivierten
Pflanzen traten nach i — 2 Monaten Rostpusteln
auf, was Eriksson als Beweis einer inneren
Krankheitsursache deutete. Er schritt nun zur
Aufstellung einer Theorie, welche die De Bary-
sche ersetzen, beziehungsweise ergänzen sollte.
Seine Grundidee war, daß das Pilzplasnia imstande
sei, mit dem Zellinhalt seiner Wirtspflanzen eine
so innige Verbindung einzugehen, daß es für unsere
Mikroskope ununterscheidbar sei. In diesem Zu-
stand — den er als Mykoplasma bezeichnete —
verharre es in dem Samen einer rostkranken
Pflanze; erst nach der Keimung unter günstigen
Bedingungen trete es aus dem Plasma heraus und
beginne dann jenen Entwicklungszyklus, welcher
den Pilzforschern bekannt sei.
Diese M)-koplasmatheorie entbehrte so ziemlich
jeder positiven Grundlage, sie stützte sich vor-
nehmlich nur auf die Kritik De Bary's und hatte
daher auch nicht viel Glück. Die meisten Bo-
taniker lehnten sie als überflüssig und gewagt ab.
Und als man die Vegetationsschrankversuche
Eriksson's wiederholte, fand man keine Be-
stätigung seiner Angaben. Ich stellte in dieser
Beziehung drei Jahre lang Kulturversuche an mit
Gerstensamen, den Prof. Eriksson dem pflanzen-
physiologischen Institute zu Ung.-Altenburg als
von „rostkranken Eltern" stammend, zugesendet
hatte. Zwei Jahre hindurch hatten die Versuche
negativen Erfolg, das dritte Jahr trat auf den
isolierten Pflanzen wirklich Gelbrost auf, doch
konnte ich damals den Verdacht nicht unter-
drücken, daß vielleicht doch eine Außeninfektion
möglich war. Ähnlich ging es auch anderen P"or-
schern; schließlich einigte man sich dahin, die
Eriksso n 'sehen Freilanderfahrungen für nicht
genug beweiskräftig und seine Isolierversuche für
nicht einwandfrei zu halten. Nur ein Forscher,
Prof. Z u k a 1 in Wien, machte eine Ausnahme ; er
fand, daß die ganze Getreidepflanze mit den Pilz-
fäden infiziert sei, so daß der Rost nicht eine
lokale, sondern eine allgemeine Erkrankung dar-
stelle, und in einem Privatgespräch versicherte er
mich, daß er sich durch Versuche von der Richtig-
keit der Eriks so n'schen Anschauungen überzeugt
habe. Doch die Veröffentlichung dieser Unter-
suchungen unterblieb, daZukal inzwischen starb.
So stand die Angelegenheit unentschieden und
verworren, bis vor wenigen Monaten eine über-
raschende Wendung eintrat.
Prof. Eriksson versuchte der Frage nach der
Existenz des Mykoplasmas auf mikroskopischem
Wege beizukommen. Nach seiner neuesten Ver-
öffentlichung ') hatte er hierbei vollen Erfolg.
Er untersuchte gemeinsam mit Dr. Tischler
aus Heidelberg die Blattgewebe besonders rost-
empfänglicher Weizen- und Gerstesorten, sowohl
Fig. I. Keimpflanze des Winterweizens, 23 Tage alt, in
welcher , .Mykoplasma" gefunden wurde. — Fig. 2. Myko-
plasmaführende Zellen aus dem ersten Keimblatt der obigen
Pflanze ; 44 Tage nach der Saat. — Fig. 3. Protomycelinm
des Gelbrostes, aus einem kranken Bett (mäßig vergrößert).
(Nach Eriksson und Tischler.)
im Herbst als vom Frühjahr an bis zur vollen
Entwicklung der Rostpusteln des Gelbrostes (Uredo
glumarum). Vor dem Ende Juni war noch
keine Spur der Krankheit zu sehen, ebenso zeigten
viele hundert Schnitte, daß kein überwinterndes
') J. Eriksson, Über das vegetative Leben der Ge-
treiderostpiize. 1. J. Eriksson und Georg Tischler. —
Puccinia glumarum (Schm.) Eriks, und Henn. in der heran-
wachsenden Weizenpflanze. (Kungl. Svenska Vetenskaps. Akad.
Ilandlingar. Bd. 13, Nr. 6, 1904). —
N. F. III. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
86 1
Mycehum da war, sondern dieses trat erst von
Anfang Juli ab auf.
Dagegen fand sich im Herbst und Frühjahr
in vielen (jedoch nicht allen) Zellen des Blatt-
parenchyms ein eigentümliches ,, dickes" Plasma,
das die Zellen ganz oder zum Teil anfüllte (Fig. 2).
Da es nicht in allen Zellen vorhanden war und bei
notorisch rostfrei befundenen anderen Gramineen
nie vorkommt, mußte es wohl als ein fremder
Bestandteil der Zellen angesehen werden und
Eriksson hatte mehr als einen Grund, darin sein
solange gesuchtes Pilzplasma zu erblicken. Damit
boten die Anfänge der Rostkrankheit dasselbe Bild,
wie die unter dem Namen ,,la maladie de Cali-
fornie" bekannte VVeinstockkrankheit, für die doch
bekanntlich Debray ein mit dem Zellplasma zu-
sammenlebendes Amöbenplasma, das anfangs mit
der übrigen Zellsubstanz innig gemischt ist, nach-
wies. Das Voriiandensein solch endocytischer
Plasmodien hat übrigens nichts Absonderliches
an sich, da derartiges bereits in den verschie-
densten Fällen beobachtet wurde. Indem es nun
bei den Gramineen in so ungeheurer Verbreitung
nachgewiesen wurde, gewinnen alle jene spora-
dischen Beobachtungen solcher plasmodienartiger
Körper in tierischen Geweben, namentlich die merk-
würdigen Untersuchungen Rohde's über das
selbständige Leben der Zellsphären , worüber vor
kurzem hier berichtet wurde,') einen eigenartigen
Hintergrund.
Mit dem Auffinden parasitischer Plasmodien
waren übrigens Eriksson's neue Erfahrungen
noch nicht erschöpft. In späteren Stadien fanden
sich interzellulare Plasmabildungen erst ohne, dann
mit Zellkernen (F"ig. 3), welche Eriksson als
Protomycel bezeichnet. Diese Protomycelien
beginnen auch bereits mit der für die Rostpilze
charakteristischen Bildung von Saugapparaten, sog.
Haustorien. An einem feinen Schlauche senden
sie eine Miniaturzelle in die chlorophyllhaltigen
Zellen der Blattspreite (Fig. 4), welche alsbald
unter dem Einfluß der Haustorien ihren normalen
Inhalt verlieren. Die Chlorophyllkörner ballen
sich zusammen, schließlich schrumpfen sie samt
dem plasmatischen Iniialt zu braunen Resten zu-
sammen, wie solche auf Figur 6 sichtbar sind.
Zur Zeit der Haustorienbildung beginnt sich das
Protomycel durch Scheidewände zu gliedern (Fig. 5)
es entsteht durch Querteilungen ein richtiges Pilz-
mycel, welches sich an Stelle des fast ganz auf-
gezehrten Zellgewebes setzt (Fig. 6) und alsbald
auch zur Fruktifikation, d. h. zur Rostpustelbildung
schreitet.
Soweit reichen die positiven Angaben Eriks-
son's. Sie haben uns in der Kenntnis der Her-
kunft und Entwicklungsgeschichte des Getreide-
rostes um ein wesentliches Stück vorwärts ge-
bracht. Aber sie sind noch immer lückenhaft.
Namentlich fehlt der Zusammenhang zwischen
Mykoplasma und Protomycel und dann ließ sich
auch die wichtigste Frage nicht entscheiden : wo-
her stammt das M)-koplasma ? Wie gelangt es in
die Pflanze ?
Da erscheint gerade zu richtiger Zeit ein Be-
richt über Untersuchungen des bekannten Ham-
burger Pilzforschers O. Klebahn, welcher wenig-
stens in dem ersten Punkte wünschenswerte Klar-
heit bringt.') Klebahn hatte unabhängig von
Eriksson dieselben Tatsachen beobachtet und
damit sichergestellt. Er fand sowohl das „dicke
Plasma" als auch das Protomycel. Aber er fand
in dem dicken Plasma zweierlei Zellkerne — einen,
welcher der Wirtszelle zugehört, und mehrere,
welche den Pilzzellkernen ,, ähnlich" sahen. Des
ferneren wurden in einer Wirtszelle dickes Plasma
und Haustorien gefunden, nicht minder in un-
Fig. 4. Haustorienbildung aus einem gelbrostkranken Blatt.
Fig. 5. Beginn der Mycelbildung von ebendort. — Fig. 6.
Pseudoparenchym und Hymeniumstadium des Gelbrostes, aus
der unmittelbaren Fortsetzung von Pusteln (müßig vergrößert).
Nach Eriksson und Tischler.
mittelbarer Nähe des dicken Plasmas auch Zell-
fäden des Gelbrostes.
Damit war eine weitere Forderung der Myko-
plasmatheorie erfüllt, denn wenn das Mykoplasma
wirklich eine Mischung darstellt, so mußten in dem
Mischplasma auch Pilzkerne gefunden werden ; auch
ist die logisch notwendige Kommunikation zwischen
Mykoplasma und Hyphen dadurch erwiesen.
Die letzte Frage fand freilich noch keine Auf-
') Neue Untersuchungen über den Bau der Zelle. (Natur-
wiss. Wochenschrift. 1904. 31. I. Nr. 18.)
') H. Klebahn, Einige Bemerkungen über das Mycel
des Gclbrostes und über die neueste Phase der Mykoplasma-
hypolhese. (Berichte d. deutsch, botan. Gesellschaft. Bd. XXII.
1904. Heft 4.)
862
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 54
klärung, wir wissen noch immer nichts von dem
wichtigsten Verbreitungswege des Getreiderostes,
durch welchen das „Mykoplasma" in die jungen
Pflänzchen kommt und deshalb hält K 1 eba h n' in
etwas übertriebener Vorsicht die Ansicht Eriks -
son's noch für eine „kaum glaubliche Hypothese".
Jedenfalls ist das eine sicher, daß es noch einen
solchen Weg geben muß; die dadurch angeregte
Forschung wird uns wohl bald neue Resultate be-
scheren, die vielleicht für die Praxis der Rost-
bekämpfung wichtig sein können. Aber auch
schon jetzt rückt die noch immer so rätselhafte
Frage des Parasitismus durch diese Untersuchungen
in eine neue Beleuchtung und dadurch wird diese,
langsam doch schon '^„glaubhafte" Mykoplasma-
theorie zu einem der interessantesten Probleme in
der Botanik. r. France.
Die Stammesgeschichte der Archäoceten
oder Urwale, deren einzige Vertreter bisher die
interessanten Zeuglodonten aus dem Eocän dar-
stellten, wird durch wichtige ägyptische Funde
klargelegt, die Prof Dr. E. Fr aas in den von
Koken herausgegebenen „geologischen und palä-
ontologischen Abhandlungen" (Neue Folge Bd. VI,
Heft 3) ausführlich beschreibt unter dem Titel:
„Neue Zeuglodonten aus dem unteren Mitteleocän
vom Mokattam bei Kairo".
Von einem unter dem Namen Protocetus atavus
E. Fraas beschriebenen Exemplar konnte aus dem
Kalkstein ein verhältnismäßig gut erhaltenes Skelett
bis auf Brust- und Beckengürtel, Extremitäten,
Schwanzwirbel und Unterkiefer herauspräpariert
werden. Hohes Interesse beansprucht vor allem
die Bezahnung, die als „atavistisches Zeuglodonten-
gebiß" bezeichnet wird, da sie auf Vorfahren mit
vollständig entwickeltem Gebiß hinweist (Formel:
nj-j .-)■ In Übereinstimmung mit den Merkmalen
des Schädels und dem geologischen Alter macht
sie die Kreodontier als Vorfahren der Archäoceten
im höchsten Maße wahrscheinlich. Auch die Wirbel-
säule trägt durchaus Raubtiercharakter und würde
einen Gedanken an Verwandtschaft mit den Zeuglo-
donten gar nicht aufkommen lassen, wenn nicht der
Bau des Schädels mit dieser Gruppe fast vollständig
übereinstimmte. Wir haben also unzweifelhaft ein
neues Genus vor uns, das als erster bekannter
Meersäuger den Namen Protocetus erhielt, während
der Speziesname atavus die sehr deutlichen An-
klänge an die Vorfahren zum Ausdruck bringen soll.
Zu demselben Genus wären die von Stromer
als Zeuglodon Zitteli beschriebenen Reste aus dem
oberen Mitteleocän des Fajüm zu rechnen.
Besondere Bedeutung gewinnt dieser erste
Fund noch durch einen zweiten aus der Grenze
vom oberen und unteren Mitteleocän Ägyptens:
Unter dem Namen Mesocetus Schweinfurthi macht
Fraas zugleich eine weitere Form bekannt, die der
Entwicklungsstufe nach zwischen Protocetus und
Zeuglodon die Mitte einnimmt und somit die An-
passung eines ursprünglich landlebenden Raub-
säugers an das Wasserleben noch klarer zur An-
schaung bringt. Während das Gebiß noch zum
Protocetustypus gehört, zeigt der Rumpf mit seinen
langgestreckten Cetaceenwirbeln bereits Anklänge
an die Gruppe des Zeuglodon macrospondylus.
Diese Art zeichnet sich noch durch außergewöhn-
liche Größe aus.
Eine engere Verwandtschaft zwischen Archäo-
ceten, Walen und Pinnipediern glaubt Fraas leugnen
zu müssen. Er erklärt die mannigfachen Ähnlich-
keiten zwischen diesen 3 Gruppen vielmehr als
„Konvergenzerscheinung, hervorgerufen durch die
Anpassung an das Wasserleben". Indessen nimmt
er eine gemeinsame Wurzel, die Kreodontier, an.
Das Werk erfährt durch drei schöne Tafeln
eine vortreffliche Ergänzung. Edw. Hennig.
. Bei Untersuchungen über die lichtelektrische
Ermüdung hat Hall wachs (Physik. Zeitschrift,
V, Nr. i6j beobachtet, daß hochpolierte Kupfer-
platten in ihrer lichtelektrischen Empfindlichkeit
beim Liegen im Freien sehr bald erheblich (nach
1V2 Stunden bis auf die Hälfte) zurückgingen,
während die gleiche Abnahme im Zimmer die
doppelte Zeit, in einem großen Glaskasten fast
emen vollen Tag und in einer Stöpsel-Literflasche
sogar bis zu 20 Tagen erforderte. Als Ursache
für die schnelle Ermüdung im Freien wurde bei
genauerer Untersuchung das Ozon erkannt, ohne
daß es bisher gelungen wäre, die Art der Wirk-
samkeit dieses Stoffes näher zu ergründen.
Bemerkenswert ist dabei, daß auch die von
besonntem Papier und Holz im Dunkeln aus-
gehenden photographischen Wirkungen, die Prof.
Blaas zuerst in der Naturvv. Wochenschr. (Bd. III,
Seite 200 und 316) bekannt gemacht hat, nach
neuerdings von ihm in Gemeinschaft mit Czermak
angestellten Versuchen ebenfalls dem Ozon zuzu-
schreiben dürften (vgl. Physik. Zeitschrift, \', S. 363).
Sehr verwandt sind ferner auch die merkwürdigen
Strahlungserscheinungen, w^elche Russell 'bei
verschiedenen Metallen und organischen Körpern
wahrgenommen und auf die Wirkung von Wasser-
stoffsuperoxyd (H.jO.,) zurückgeführt hat, und deren
Strahlungscharakter des näheren von Graetz
untersucht wurde (vgl. Physik. Zeitschr., V, S. 160
und 271). F. Kbr.
Bücherbesprechungen.
Dr. phil. Franz Strunz, Naturbetrachtung und
Naturerkenntnis im Altertum. Eine Ent-
wicklungsgeschichte der antiken Naturwissenschaften.
Leopold Voß; Hamburg und Leipzig. 1904 —
5 Uk.
Gewiß ist es verdienstvoll, die geistige Entwick-
lung der antiken Welt zu verfolgen, soweit sie in der
Erforschung der Natur zum Ausdruck gekommen ist,
und man kann zugeben, daß Str. auf dem knappen
Raum seiner Schrift daß einschlägige Material recht
gut zusammengefaßt hat. Daß er bei der Darstellung
N. F. m. Nr. 54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
863
der theoretischen (Grundlagen großenteils ausgetretenen
Spuren folgte, ließ sich nicht vermeiden, und anderer-
seits konnte er, ohne den Raum zu überschreiten, die
Ijraktische Naturkenntnis der Alten nicht in der
wünschenswerten Ausführlichkeit vorführen. Der
schwächste Teil ist sicher das 2. Kapitel, wo er „die
theoretischen (Grundlagen der Naturbetrachtung der
orientalischen Völker" mit großer Anstrengung und
nicht ohne Phrasen vergeblich in ein System zu
bringen sucht. Bei der Darstellung der klassischen
Zeit läßt sich nicht ve:kennen, daß Verf., trotzdem er
sich entschieden dagegen verwahrt, doch selbst mehr-
fach moderne Ideen in die alte Naturphilosophie
hineinlegt. Andererseits wird man einem Plato
zweifellos nicht gerecht , wenn man sein System auf
naturphilosophische statt auf erkenntnistheoretische
Probleme zu gründen versucht.
Alles in allem bleibt das Büchlein , auch wegen
seiner guten Literaturangaben, besonders zur Einfüh-
rung auf dem behandelten Gebiete sehr geeignet.
-' Fritz Graebner.
Dr. Wilhelm Wächter, Das Feuer in der Natur,
im Kultus und Mythus, im Völkerleben. A. Hart-
leben. Wien u. Leipzig. 1904. — 4 Mk.
Wenn ein Mann mit guter allgemeiner Bildung
nach nicht allzu tiefgründiger Lektüre der landläufi-
geren völkerkundlichen Schriften über das angegebene
Thema schreiben würde, so könnte das Ergebnis etwa
dem von W. gebotenen gleichkommen. Besonders
das erste Kapitel „Das Feuer in der Natur" geht nur
darin über das Maß mittlerer Schulkenntnisse hinaus,
daß der Verf. in die urwüchsige Symbolik arischer
Mythen die tiefste Erkenntnis neuerer Naturwissen-
schaft hineinliest. Die beiden übrigen Kapitel sind
wesentlich Kompilationen ohne Vollständigkeit und
ohne genauere Kenntnis der einschlägigen I^iteratur.
Für die erste Behauptung verweise ich nur auf die
Aufzählung der Feuerzeuge. Daß Verf. die Maori
noch ohne Skrupel aus Hawaii einwandern läßt, paßt
ja gut in sein Thema, zeugt aber ebenso für die
Gründlichkeit seiner Literaturbenutzung. Das Bild,
das im 3. Kapitel von dem Einfluß des Feuers auf
die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ent-
worfen wird, ist reines Phantasieprodukt und als
solches vielleicht das beste an der ganzen Schrift.
Überhaupt ist das Büchlein flott, mit Wärme und
Eifer geschrieben. Nur sollte Verf. nicht den An-
spruch der Wissenschaftlichkeit erheben , indem er
sein Schriftchen neben die im Vorwort angeführten
stellt, die außerdem durchaus nicht, wie er meint,
die einzigen über sein Thema handelnden sind.
Fritz Graebner.
Victor Engelhardt, Hypochlorite und elek-
trische Bleiche. Technisch-konstruktiver Teil.
Mit 266 Figuren und 64 Tabellen im Text. VIIL
Band der Monographien über angewandte Elektro-
chemie. Halle a. S. 1903. W. Knapp. XIV und
275 S. — Preis 12 Mk.
Die Elektrolyse der Leichtmetallsalze in wässriger
Lösung ist ohne Zweifel derjenige Prozeß, der unter
den elektrochemischen Vorgängen in der chemischen
Technik bis jetzt die größte wirtschaftliche Bedeutung
erlangt hat. Namentlich hat die gleichzeitige Ge-
winnung von Ätzkali (in zweiter Linie von Ätznatron)
und von Chlor mittels der unter geeigneten Bedin-
gungen stattfindenden Elektrolyse der Alkalichlorid-
lösungen die früheren Darstellungsmethoden dieser
Stoffe fast ganz verdrängt und in unserem Vaterlande
hinsichriich des für die Textil- und Papierindustrie
gleich wichtigen Chlorkalks eine vollständige Um-
änderung der friüieren Verhältnisse hervorgerufen.
Während Deutschland noch bis in die 90 er Jahre
des verflossenen Jahrhunderts hinein einen großen
Teil seines Chlorkalks vom Auslande (England) be-
ziehen mußte, ist es schon seit etwa einem Jahrzehnt
in der Lage, nicht nur den gesteigerten Bedarf an
diesem wertvollen Stoff im Inlande zu decken , son-
dern auch namhafte IMengen davon auszuführen, so
daß beispielsweise im vergangenen Jahre die Ausfuhr
an Chlorkalk dessen Einfuhr um mehr als 1500
Tonnen überstieg. Da nun bekanntlich bei der Elek-
trolyse der Alkalichloridlösungen Chlor und Alkali
gerade in dem Mengenverhältnis gleichzeitig entstehen,
in dem sie zur rein chemischen Erzeugung der als
Eau de Javelle und Eau de Labarraque bekannten
Bleichflüssigkeiten aufeinander wirken müssen, so lag
es nahe, die Darstellung von Chlorkalk zu umgehen
und statt seiner die durch unmittelbare Einwirkung
der erwähnten elektrolytischen Produkte entstehenden
Bleichmittel anzuwenden. In der Tat hat sich schon
vor 20 Jahren der französische Chemiker Hermite
mit der Lösung des in Rede stehenden Problems
beschäftigt, und nicht viel jünger sind die Versuche
des Österreichers Kellner. Wie viel Fleiß seitdem
darauf verwendet worden ist, das nämliche Ziel zu
erreichen, lehrt der Inhalt des vorliegenden Werkes,
in welchem der Verfasser unter eingehender Berück-
sichtigung der deutschen und außerdeutschen Patent-
literatur in erschöpfender Weise die konstruktive Ein-
richtung der zahlreichen Apparate schildert, die dem
genannten Zweck dienen sollen — eine mühsame
Arbeit , wenn man bedenkt , daß es sich um einige
90 derartige Apparate handelt, die in den verschie-
densten Kulturstaaten patentiert wurden. Für den
technischen Elektrochemiker ist damit ein wertvolles
Handbuch geschaffen, von dessen reichhaltigem, nach
den verschiedensten Richtungen hin Interesse dar-
bietenden Inhalt indes auch jeder andere gern Kennt-
nis nehmen wird, der sich mit elektrochemischen
Fragen beschäftigt. Es wird Gelegenheit sein, nach
dem Erscheinen des zweiten Teils, der neben der
Ökonomie der Apparate, die sich in der Praxis be-
währt haben und der Beschreibung der Untersuchungs-
methoden von Rohmaterialien und Faljrikationsproduk-
ten auch eine Schilderung der namentlich durch die
Untersuchungen von Oertel sowie von Foerster und
dessen Schülern aufgeklärten theoretischen Grund-
lagen der Chlorkalielektrolyse enthalten soll, nochmals
auf dieses Werk zurückzukommen.
Berlin. Böttger.
864
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 54
Literatur.
Conwentz, H. : Die Gefährdung der Naturdenkmäler u. Vor-
schläge zu ihrer Erhaltung. Denkschrift, dem Herrn Minister
der geistl., Unterrichts- u. Medizinal-Angelegenliciten über-
reicht. (XII, 207 S.) 8". Berlin '04, Gebr. Horntraeger.
— Geb. in Leinw. 2 Mk.
Stahl, Prof. Ernst: Matthias Jakob Schleidcn. Rede, geh.
zur Säkularfeicr seines Geburtstages, nm i8. VI. 1904.
Progr. (28 S.) LcK. 8». Jena '04 (G. Neuenhahn. —
1,20 Mk.).
Buchen)? Ist er vielleicht als .Schutz gegen zu starke Tran-
spiration anzusehen? E. K., Reibersdorf.
Der genannte Überzug heißt Honigtau und ist ein Aus-
scheidungsprodukt von Pflanzenläusen. Ausführliches in
Büsgen's Schrift „Der Honigtau" (Jena, Gustav Fischer). Über
den Gegenstand findet sich ein ausführliches Referat in der
Naturw. Wochenschr. vom 29. März 1891, p. 130.
Briefkasten.
Herrn H. in Neunkirchen (Reg. -Bez. Trier). — Zum
Studium der phylogen. Entw. d. Thallophyten und Pterido-
phyten (sogen. Kryptogamen) ist zu empfehlen v. Wettstein,
Handb. d. System. Botanik, Leipzig u. Wien (Franz Deuticke).
Herrn F. B. in Brüssel. Apparate zu Versuchen mit
Radium dürfte Ihnen jede leistungsfähige Firma für Unter-
richtsapparate liefern, sicher z. B. M. Kohl in Chemnitz, Adorfer-
straße 20, und Ernecke in Berlin SW, Königgrätzer.'-tr. 112.
Das wirksamste Radiumbromid stellt Prof. Giesel in Braun-
schweig her.
Herren Dr. W. L. und Direktor R. L. in W. — l) Die
pflanzenartigen Zeichnungen auf denFugenflächen des übersandten
Porphyrs von Rothenbach sind ,,D e n d r i t e n". Dendriten und
hiermit verwandte Objekte sind früher allgemein für pflanz-
liche Fossilien gehaUen worden. Dendriten sind mineralische
Ausscheidungen, oft in Bäumchen- oder Moosform, wonach
der Moos-Achat benannt ist, der dendritische Einschlüsse von
Mangan- oder Eisenhydroxyd oder von Chlorit enthält. Den-
dritische Bildungen treten zwischen zwei Gesteinsschichten
oder besser gesagt in einer Gesteinsfuge auf, wie z. B.
ein zwischen zwei Papierblätter gequetschter Tintenklecks,
der unter Umständen ebenfalls moos- bis strauchbaum-
förmige oder blattartige Gestalten bildet. Noch Saporta
war in den Fehler verfallen, eine solche Bildung (also ganz
anorganischen Ursprungs) für einen Pflanzenrest zu erklären.
Er beschreibt und bildet unter dem Namen Eopteris dendri-
tische Ablagerungen von Schwefelkies aus dem Mittelsilur ab,
die, oberflächlich gesehen Farnwedelreste vortäuschen. Die
vermeintliche Spindel mag in der Tat durch einen vollständig
durch Verwesung verschwundenen stengeiförmigen Pflanzenteil
gebildet worden sein, und kann so die Veranlassung zu einer
Rinnenbildung gegeben haben, welche die Infiltrationsflüssig-
keit benutzte. Künstliche Dendriten kann man leicht dadurch
(f^ür Unterrichtszwecke) darstellen, daß man das eine Ende
eines Fadens in Salzwasser taucht und das andere zwischen
zwei Glasscheiben führt. Das Salzwasser wird dann durch
Aufsaugung seitens des Fadens zwischen die Scheiben geleitet,
breitet sich rechts und I' ' . _ .
Die Anfrage über Wiesen wachs in Nr. 46 findet aus
dem Leserkreise die folgenden Antworten:
In meiner Heimat (Miltelschlesien) bezeichnet man mit
,, Wiesewachs" (nicht Wiesenwachs) zuweilen die Wiesen selbst.
Man sagt: Zu der Wirtschaft gehören so und soviel Morgen
,, Wiesewachs" (soll heißen: so und soviel Morgen Wiese);
oder: Der Wiesewachs ist gut resp. schlecht (gute resp.
schlechte Wiesen). Max Rolle, Mittelschullehrer.
Vermutlich ist der Ausdruck ,, Wieswachs" gemeint, und
darunter versteht man z. B. in Oberschwaben das, was auf
der Wiese wächst, oder Wiese schlechthin. Man sagt z. B. :
ein Gut hat so und soviel Morgen „Wieswachs", d. h. Morgen
Wiesen. In gleicher Weise wird auch das Wort ,, Obstwachs"
gebraucht. — Vielleicht genügt diese Antwort.
Dr. J. Götz in Ravensburg.
In den Gedichten von Wilibald Alexis befindet sich fol-
gende Stelle :
Ich komme von dem Wiesewachs
Da, wo die Biene sammelt Wachs
Ich komme aus dem grünen Wald
Da, wo sie ihren Honig halt (hält).
Der Wiese wachs, so heißt das Wort richtig, steht
hier im Gegensatz zu dem ,, grünen Wald" als Kollektivbegriff
für die auf den Wiesen wachsenden Kräuter, schließlich für
,, Wiesen" überhaupt, jedenfalls hat das Wort mit dem Stoff
, .Wachs" nichts zu tun. Daß Alexis die Biene ,, Wachs" sam-
meln läßt, ist eine poetische Freiheit, die er sich wohl erlaubt
hat, um auch den zweiten und vierten Vers gegenüberstellen
zu können. Also: Wiese und Wald, Wachs und Honig. Ich
glaube, daß die Frage damit durch unsern alten märkischen
Dichter befriedigend beantwortet ist.
Dr. phil. Erich Janke (Gr.-Lichterfelde).
Herrn K. in E. — Von Sambucus nigra gibt es
Gartenformen mit zerteilten Blättchen, so die Form laci-
niata Dippel bis auf die Mittelrippe fiederteilig und line-
aris der Gärtner mit meist fast fadenförmig verkümmerter
Blattfläche.
Herrn Dr. M. in G. — Anfragen, die sich nicht auf die
Disziplinen beziehen, die von einem naturwissenschaftlichen
Blatt gepflegt werden, können wir nicht beantworten.
■nach der stattfindenden allmählichen Verdunstung des Wassers
in pflanzlichen Formen zurück. p.
2) Das übersandte Steinkohlenfossil heißt Syringodendron ;
es handelt sich um einen subepidermalen Erhaltungszustand
einer Sigillarie (vgl. Potonie, Lehrb. der Pflanzenpaläoatologie
p. 247 — 249 und Fig. 233).
„ . Herrn Dr. F. in Charlottenburg. — Ich habe zwar von
mks von dem Faden aus und bleibt dem Artikel auch anderweitig gehört, habe ihn aber leider
■,llm?,M,V),„„ v.v^„„„,„„„ j„. w „i(,^( jjj jig Hände bekommen, so daß ich die Äußerungen
des Autors nicht zu kritisieren in der Lage bin. Ich mache
aber darauf aufmerksam, daß ein näheres Eingehen auf den
Gegenstand nur möglich sein würde, wenn genau definiert
würde, was unter Braun- und Steinkohle zu verstehen
sei. Petrographisch gibt es Steinkohle vom Paläozoikum
„ xj ■ D j ^'^ ^""^ Tertiär (also bis zur „Braunkohlen"-Zeil) in allen
. , !."° "• '" l^^^yerode. — Wenn auch gewisse Tufte vulka- Formationen, und br.aunkohlige Gesteine gibt es auch im
nische Gesteme smd, so können sie doch bei ihrer Entstchungs- Paläozoikum (so in der „Steinkohlen"-Formation). Im all-^e-
weise als ausgeworfenes Material , namentlich wenn dasselbe meinen ist die Literatur zum Gegenstande sehr dilettantenhaft,
dann vom Wasser zusammengeschwemmt wird, organische jedoch mag die von ihnen zitierte Arbeit einmal eine Aus-
-Keste wie solche von Pflanzen enthalten. nähme machen: ich müßte sie sehen. Demnächst werde ich
,„,...,,,,,. .. in der Naturwiss. Wochenschrift einen historischen Überblick
Woher rührt der klebrige, glänzende Überzug bieten über die Bemühungen die Genesis der Steinkohle zu
latter im Sommer (besonders bei Linden und erkennen. p.
der LaubbU
Inhalt: Prof. Dr. J. W. Spengel: Die Nesselkapseln der Äolidier. — E. Meyer: Das Eolithcn-Problem. — Kleinere
Mitteilungen: Dr. Walther Schoenichen: Der Richtungssinn bei den solitären Wespen. — R France- Der
gegenwartige Stand der Mykoplasmatheorie. - Prof. Dr. E. Fr aas: Die Stammesgeschichte der Archäoceten. — Hall-
wachs: Über die hchtelektrische Ermüdung. — Bücherbesprechungen: Dr. phil. Franz Strunz: Naturbetrachtuna
und Na urerkenntms im Altertum. - Dr. Wilhelm Wach ter: Das Feuer. - Victor Engel hard t : Hvpochlorit?
""° elektrische Bleiche. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-We.it b Berlin
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'.sche Buch.lr.), Nanmburg 3. S.
Einschlierslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge 111. Band;
derfganzen Reihe XIX. Baud.
Sonntag, den 16. Oktober 1904.
Nr. 55.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagsbandlung erbeten.
Die geologischen Linien im Landschaftsbilde Mitteldeutschlands.
,,,.,, , , 1 Von Dr. Hans Stille.
[Nachdruck verboten.]
Die geologische Karte Mitteldeutschlands lehrt
uns, daß ganz bestimmt gerichtete Linien in der Um-
grenzung der einzelnen Formationen vorherrschen.
So erkennen wir z. B., daß die archäischen und
paläozoischen Schichtsysteme des Fichtelgebirges,
Franken- und Thüringerwaldes gegen die jüngeren
des südlich anschließenden Gebietes an emer
scharfen nordwestlich gerichteten Linie ab-
schneiden, daß gleichfalls etwa nordwestlich bis
westnordwestlich verlaufende Linien den paläo-
zoischen Kern des Harzes umgrenzen und weiter-
hin im Hannoverschen Berglande so häufig die
mesozoischen Formationsglieder voneinander
trennen. In dem oft so außerordentlich kom-
plizierten geologischen Oberflächenbilde der eben
erwähnten, von Nordwestlinien begrenzten paläo-
zoisclicn Gebirgsstücke, wie auch im weiten Ge-
biete des Rheinischen Schiefergebirges, tritt nun
eine andere Richtung, die südwest-nordöst-
liche, immer wieder auf; und verfolgen wir
schließlich die Ränder des Einbruchgebietes junger
Schichten, das in der Verlängerung des oberen
Rheintales als die Hessische Senke bezeichnet wird,
oder halten wir Umschau in dem geologischen
Bilde des südlichen Hannover, so tritt uns die
dritte Hauptrichtung, die nord -südliche, ent-
gegen.
Dieselben Richtungen finden wir auch im Ver-
laufe der Gebirge und Talsysteme wieder; wir er-
kennen die nordwestliche im Thüringer Walde,
im Harze, im Teutoburger Walde, im Wesergebirge
und die nordöstliche im Taunus, Hunsrück und
anderen Höhenzügen des Rheinischen Schieferge-
birges, wie auch in Mitteldeutschland im Fichtel-
und Erzgebirge; die Nord-Süd-Richtung endlich
begegnet uns weniger im Verlaufe der Höhenzüge,
als in derjenigen der Täler, die in Hessen und
Hannover das Gebirgsland durchziehen.
Diese Übereinstimmung der Hauptrichtungen
in geologischem Aufbau und Oberflächengestaltung
ist keine zufällige, sondern der Ausdruck der engen
Beziehungen, die zwischen beiden bestehen.
Zwei Gruppen von Erscheinungen sind es, die
das heutige Landschaftsbild zustande gebracht
haben. Die dynamischenWirkungeninder
Erdrinde schieben die Schichten zusammen oder
zerreißen sie zu mächtigen Schollen, und wie unter
der Hand des Künstlers der rohe Marmorblock
866
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 55
Gestalt gewinnt, so setzen an den zerrissenen
Partien die äußerlich umgestaltendenVor-
gänge an, um das wechselvolle Bild der Land-
schaft hervorzubringen.
Diese äußerlich umgestaltenden Vorgänge, die
Erosion des rinnenden Wassers, die Abrasion des
bewegten Meeres, die Deflation des Windes und
die Exaration des Gletschereises streben dahin,
die Hervorragungen des Landes abzutragen und
mit dem losgelösten Materiale die Senken auszu-
füllen. Das Endziel, der Ausgleich der Höhen und
Tiefen, wird jedoch nicht erreicht, da neue Krusten-
bewegungen neue Höhendifferenzen schaffen. Aber
bei dem Versuche ihn herbeizuführen, erfolgt eine
Vermehrung der Unebenheiten des Bodens durch
Einreißen von Tälern und Rinnen, und erst hier-
vor Ablagerungder permischen Schichten entstanden,
die das im niederländischen Sinne gefaltete ältere
Paläozoikum diskordant überlagern. Das ganze
Gebiet Mitteldeutschlands ist von dieser Faltung
ergriffen worden, und so finden wir ihre Spuren
in den älteren paläozoischen Schichtensystemen,
wo immer sie zutage treten. Dabei zeigt der
geologische Grundriß in den Hauptzügen große
Ähnlichkeit mit demjenigen unserer heutigen mäch-
tigen Faltengebirge, wie der Alpen. Hier haben
wir es aber mit den Alpen vergangener geologischer
Perioden zu tun, die durch jüngere Abtragung be-
seitigt wurden, und heute finden wir nur noch
die zerstückelten Rudimente dieses einheitlichen
alten Gebirges, das Sueß als das variscische
bezeichnet hat.
Maßstab I : 300000
durch entsteht der große Formenreichtum des
Landschaftsbildes. Den Vorgängen der Abtragung,
der Denudation, leisten aber die einzelnen Gesteine
der Erdkruste entsprechend ihrer Festigkeit sehr
verschiedenen Widerstand, und somit kommt im
Wechsel der Oberflächenformen der verschiedene
Grad der Angreifbarkeit der Gesteine des Unter-
grundes zum Ausdruck.
Die Zusammenschiebung und Zerreißung der
Schichten des Untergrundes ist in Mitteldeutsch-
land namentlich nach drei Systemen erfolgt, die
durch die oben hervorgehobenen Hauptrichtungen
im geologischen und landschaftlichen Bilde cha-
rakterisiert werden.
Das älteste ist das südwest-nordöstliche,
das sogenannte erzgebirgisc he oder nieder-
ländische System ; es ist zur Zeit des Oberkarbon
Die tektonischen Verschiebungen in der süd-
ost-nordwestlichen, der herzynischen,
und der nord-südlichen, der rheinischen
Richtung gehören einer jungen Periode der Erd-
geschichte, der Tertiärzeit, an. Das ältere von
beiden Faltungssystemen ist das herzynische, wie
man namentlich daraus folgert, daß die Gebirgs-
störungen der rheinischen Richtung die herzynischen
Brüche verwerfen oder als Grabenversenkungen
oder in der Richtung der Täler in herzynisch zu-
sammengeschobenen Gebieten erscheinen.
Die Südost-Nordwest- und die Nord-Süd-Brüche
in Mitteldeutschland sind aber nur Teile gewaltiger
Bruchsysteme, die weite Gebiete unseres Kon-
tinents durchsetzen. Die herzynischen Brüche sind
etwa vom Vogelsberge im Süden bis zum Rande
der Tiefebene überall anzutreffen. Die nördlichsten
N. F. III. Nr. 55
Naturwissenschaftliche VVoclienschrift.
867
verschwinden nebst den mesozoischen Schichten,
in denen sie aufsetzen, in der Gegend von Osna-
brück unter dem Diluvium. Nach Südosten sind
sie in ziemlich gradlinigem Verlaufe entlang dem
Thüringer Walde, Frankenwalde, P'ichtelgebirge,
Bayrischen Walde bis hin nach Linz, also im
ganzen auf eine Erstreckung von 900 km, verfolgt
worden. Das nord-südliche Bruchsystem verläuft
aus dem südlichen Hannover entlang dem Ost-
rande des Rheinischen Schiefergebirges bis Frank-
furt. Seine unmittelbare Verlängerung ist der Ein-
bruch der Oberrheinischen Tiefebene zwischen
Frankfurt und Basel, und nach v. Koenen setzt es
von hier unter zeitweiliger Annahme einer mehr
südwestlichen Richtung entlang dem Schweizer
Jura und weiter durch das Saone- und Rhonetal
bis zum Mittelmeere fort.
Das IVIitteldeutsche Gebirgsland gliedert sich
in folgende vier Landschaften : in das Rheinische
Schiefergebirge, das Hessische Berg- und
Hügelland, die Landschaft Thüringen und
das Niedersächsische Hügelland. Rheini-
sches Schiefergebirge, Hessisches Berg- und Hügel-
land und Thüringen folgen einander von Westen
nach Osten. Die Höhen des rheinischen Schiefer-
gebirges sind vorwiegend nordöstlich gerichtet,
diejenigen Thüringens nordwestlich, also senkrecht
zu ihnen, und zwischen beide legt sich mit vor-
wiegend nordsüdlich gerichteten Bergzügen und
Talungen das Hessische Berg- und Hügelland, ge-
wissermaßen als Achse der Symmetrie der nach
hier von Osten und Westen konvergierenden Berg-
züge. Diese Symmetrie geht aber im nördlichen
Teile des Deutschen Mittelgebirges vollständig ver-
loren. Die Höhen verlaufen hier, anschließend an
die Bergzüge Thüringens, zu denen als nördliches
Randgebirge auch der Harz zu zählen ist, vor-
wiegend nordwestlich, legen sich dabei im Han-
noverschen quer vor die nördlichen Ausläufer des
Hessischen Berglandes, und indem sie sich weiter
westlich immer mehr vom Nordrande des rheini-
schen Schiefergebirges entfernen, schiebt sich da-
zwischen eine nach Westen an Breite gewinnende
Landmulde, die Münster'sche Bucht, ein.
Diese Symmetrie in der Anordnung der ver-
schiedenen Erhebungssysteme in den erwähnten
drei Gliedern des Mitteldeutschen Gebirges ist
keineswegs der Ausdruck einer einheitlichen sym-
metrischen Auffaltung , sondern sie ist rein zu-
fällig und durch mehrere zeitlich verschiedene
Faltungsvorgänge herbeigeführt, die z. T. nur an
bestimmte Bezirke gebunden waren oder doch
hier nur größere Bedeutung für die Gestaltung
der Erdoberfläche erlangten. Nur die älteste Auf-
faltung, diejenige im niederländischen Sinne, scheint,
wie wir schon sahen, gleichmäßig das ganze Ge-
biet Mitteldeutschlands ergriffen zu haben. Im
Rheinischen Schiefergebirge kommt diese Faltung
im Verlaufe der Bergzüge weithin äußerlich zum
Ausdruck; in der Landschaft Thüringen ist sie
nur noch in den Kernen des Thüringer Waldes
und Harzes, auf die das Auftreten der älteren
paläozoischen Schichten beschränkt ist, schwach
angedeutet.
Im Rheinischen Schiefergebirge sind
die sich am höchsten über das Plateau erheben-
den nordöstlichen Bergzüge nur in selteneren Fällen
auch die Linien höchster Auffaltung, wie das im
allgemeinen für unsere jungen Faltungsgebirge zu-
trifft; ich erinnere an die Alpen, wo die Zentral-
kette die ältesten Schichten enthält und also die
höchst aufgefalteten Teile darstellt. Ähnliche Ver-
hältnisse haben in Mitteldeutschland wohl auch
in präpermischer Zeit geherrscht, als das gewaltige
alte Faltengebirge der variscischen Alpen noch
bestand, von dem heute im Rheinischen Schiefer-
gebirge, Harze und Thüringer Walde nur noch
die abgetragenen Kerne vorliegen. Auch dieses
Gebirge hat seine aus archäischen Gesteinen be-
stehende Zentralkette in den Linien der höchsten
Auffaltung besessen. Aber als diese gewaltigen
Ketten eingeebnet waren, ist der Kern der Zentral-
kette zerrissen und durch Einbrüche junger Schichten
unterbrochen und nur aus dem Auftreten archä-
ischer Gesteine an drei getrennten, in nord-
östlicher Richtung angeordneten Punkten, nämlich
bei Asciiaffenburg, im Thüringer Walde bei Ruhla
und Brotterode und am Kyffhäuser ist noch die
Folgerung zu ziehen, daß hier einstmals eine nord-
östlich gerichtete Zentralkette gelegen hat. Die
Höhenzüge der heutigen Reste des alten Falten-
gebirges, z. B. des Rheinischen Schiefergebirges,
sind vorwiegend auf Denudationswirkungen zurück-
zuführen. Sie enthalten die härtesten Partien der
alten Schichtfolgen , die länger der Abtragung
Widerstand leisteten, als die umhüllenden mürben;
da aber die Schichtfolgen in niederländischem
Sinne eingeschaltet sind, so kommt in den Ober-
flächenkonturen des Schiefergebirges zwar nicht der
Grad der alten Auffaltung, wohl aber deren Rich-
tung zum Ausdrucke.
Der Charakter des Schiefergebirges ist mehr
der eines von Talrinnen durchfurchten Plateaus,
als der einer gegliederten Gebirgslandschaft. Es
spielen sich hier, wie überhaupt in den paläo-
zoischen Rumpfgebirgen, die vielfach so außer-
ordentlich komplizierten Verhältnisse des Unter-
grundes im Landschaftsbilde nicht annähernd in
dem Maße wieder, wie z. B. im mesozoischen Berg-
lande, wo jeder Wechsel des Gesteins, möchte
man sagen, jede einigermaßen beträchtliche Störung
der Landschaft ihre Spur aufdrückt. Ein Grund
hierfür mag darin liegen, daß bis in noch späte
Zeit die Plateaus der Kerngebirge von jungen Bil-
dungen überdeckt waren, wie auch heute noch
hier und da dünnere Decken mesozoischer Ge-
steine auf ihnen anzutreffen sind, und daß zunächst
diese jungen Bildungen entfernt werden mußten,
ehe die Skulpturierung des Kerngebirges beginnen
konnte, die deshalb zurzeit noch nicht sehr weit
fortgeschritten ist; daß also, mit anderen Worten,
in der heutigen Oberfläche in manchen Fällen
noch annähernd die alte Abrasionsfläche uns ent-
gegentritt, die während langer Zeiträume der Erd-
868
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 55
geschichte unter der Bedeckung jungpaläozoischer,
mesozoischer oder tertiärer Bildungen verhüllt lag.
Aber ein anderer Umstand kommt noch hinzu.
In den mesozoischen Gebieten sind die Wege des
rinnenden Wassers in zahllosen Fällen an Ver-
werfungslinien oder an das Streichen der mürberen
Gesteinslagen gebunden, sie folgen also den durch
die Tektonik des Gebirges vorgezeichneten Linien,
die vielfach gerade hierdurch einen ganz besonderen
Ausdruck in der Physiognomie der Landschaft er-
langen; in den paläozoischen Kerngebirgen er-
scheinen sie aber in zahllosen Fällen als ein vom
Untergrunde unabhängiges F'ormenelement, das in
der nunmehr entschwundenen Bedeckung der jungen
Schichten vorgebildet war, und bei weiterer Ver-
tiefung die dort erhaltene Richtung auch in dem
nach ganz anderer Richtung zusammengeschobenen
Grundgebirge beibehalten mußte.
Ist die innere Struktur des Ganzen und damit
die Grundlage der heutigen Ausgestaltung im
Rheinischen Schiefergebirge, wie überhaupt in
unseren paläozoischen Gebirgskernen, eine uralte,
so ist die Umrandung relativ jung; sie ist zwar
keine einheitliche, indem die Grenze nach Osten
und wahrscheinlich auch nach Süden durch das
rheinische System bedingt wird, der Abbruch oder
stellenweise auch nur die flache Einsenkung unter
jüngere Schichten nach Norden mindestens auf
weite Strecken aber mit herzynischen Krusten-
bewegungen im Zusammenhange steht. Doch auch
am Ostrande stellen sich lokal Begrenzungen in
herzynischer Richtung ein und erklären den hier
und da zackenartigen Verlauf, der seinen deut-
lichsten Ausdruck in der Ausbildung der Franken-
berger Bucht zwischen der Hauptmasse des Schiefer-
gebirges und dem halbinselartigen Vorsprunge des
Kellerwaldes findet. Den nördlichen Rand der
Frankenberger Bucht bezeichnen Sprünge der
Südost-Nordwest-Richtung, den westlichen solche
der Nord-Süd- bis Nordost-Südwest-Richtung. Die
Sprünge der Nordwest-Richtung liegen in der Ver-
längerung von Störungen, die am Nordrande des
Vogelgebirges aufsetzen und in die z. B. bei Lauter-
bach Lias eingebrochen ist, und von anderen geologi-
schen Gräben , die nach Fulda und weiter durch
das Gebiet der Rhön nach Franken hineinführen.
Die Nordwest-Brüche am Nordrande der Franken-
berger Bucht sind also herzynisch und damit älter,
als die rheinischen Nord-Süd- Brüche, gleichzeitig
mit denen der Abbruch erfolgte. Aber bei diesem
Abbruche sind die älteren herzynischen Sprunglinien
benutzt worden, an ihnen setzen die Nord-Süd-
Brüche ab, und diese Verhältnisse spiegeln sich
aufs allerdeutlichste in den Konturen des Westran-
des des Schiefergebirges wieder.
Den Aufbau des Hessischen Berg- und
Hügellandes bestimmen die Dislokationen der
Nord-Süd-Richtung; namentlich im Grabenein-
bruche der Hessischen Senke, die den Ostrand des
Rheinischen Schiefergebirges begleitet, ist diese
rheinische Richtung deutlich ausgeprägt; an ihr
erstreckt sich gewissermaßen ein Ausläufer der
Oberrheinischen Tiefebene bis hinan an das nieder-
sächsische Hügelland. Untergeordnet finden sich
auch Gräben herzynischer Richtung, wie z. B. in
der Gegend von Fulda, die zum Teil als becken-
förmige Einsenkungen in der Landschaft zu er-
kennen sind. Die Terraingestaltung des Hessischen
Berglandes ist außerordentlich unruhig und schein-
bar weithin regellos, und das liegt namentlich in der
großen Verbreitung der eruptiven Gebilde begründet,
die unabhängig in ihrer Gestalt von der Struktur
der Erdkruste, der sie aufsitzen, gewissermaßen als
Fremdlinge in der Landschaft auftreten und sich
dabei gelegentlich , namentlich in der Rhön und
dem Vogelsgebirge, zu gewaltigen Berggruppen
zusammenschließen. Die Kuppen der tertiären
Eruptivgesteine fehlen auch dem Rheinischen
Schiefergebirge nicht, haben im Gegenteil in manchen
Bezirken, wie im Westerwalde und der Eifel, eine
weitere Verbreitung; ganz besondere Bedeutung
als Formenelement der Landschaft gewinnen sie
aber im Hessischen Berglande, über das sie nach
Norden und Osten kaum hinausgehen. Die ba-
saltischen Kuppen sind an die Schichtenstörungen
der Tertiärzeit, namentlich diejenigen der rheini-
schen Richtung geknüpft, und ihr .Auftreten zeigt
im Landschaftsbilde die Ausdehnung der Bruch-
zonen an, mag auch nach Untersuchungen der
jüngsten Zeit in allen Fällen der unmittelbare
Zusammenhang der einzelnen Basaltkuppen mit den
tertiären Bruchsystemen nicht zu erweisen sein.
Gegenüber dem rheinischen Schiefergebirge
zeigt die Landschaft Thüringen eine sehr mannig-
faltige Gliederung und doch wieder mancherlei
Gesetzmäßigkeiten in der Verbreitung von höherem
und niederem Lande. Der Hauptteil Thüringens
ist ein flaches Landbecken, das im Norden vom
Harze, im Süden vom Thüringer Walde umsäumt
wird. Beide sind Horste der paläozoischen Schichten
inmitten der jungen mesozoischen Landschaft. Der
Harz ist dabei ein Pfeiler für sich, während der
Thüringer Wald sich als ein Ausläufer des Böhmi-
mischen Massives darstellt, der sich keilförmig
zwischen Franken und Thüringen einschiebt. Die
innere Struktur dieser Randgebirge wird durch
die niederländische Richtung beherrscht, in der
hier wie auch im Schiefergebirge die Schichten
zusammengeschoben sind. In der Terrainentwick-
lung ist sie an dem Verlaufe der harten, wider-
standsfähigeren Gesteine zu erkennen, z. B. im
Harze in dem breiten Quarzitrücken des Bruch-
berges und Acker an der Scheide von Unter-
und Oberharz. Die uralte Faltung im nieder-
ländischen Sinne tritt aber im Landschaftsbilde
gegenüber der mannigfaltigen Gliederung des Lan-
des infolge der herzynischen Krustenbewegungen
der Tertiärzeit weit zurück.
Zunächst ist die Umrandung der Kerngebirge
eine herzynische, und das tritt sowohl beim Harze
in Erscheinung, als auch im Thüringer Walde,
wo dem Ausbiegen, der Knickung oder dem Ab-
setzen der randlichen Dislokationslinien jedesmalig
eine Änderung in den Konturen des Gebirges ent-
N. F. m. Nr. 55
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
869
spricht. Hiner streng nordwestUch gerichteten
Linie folgt namentlich der südliche Rand des
Thüringer Waldes gegen das fränkische Vorland,
der seine geradlinige Hortset/.ung im Abbruche des
Frankenwaldes und Fichtelgebirges findet. Topo-
graphisch erreicht der Thüringer Wald nach Nord-
westen an der Werra in der Gegend von Eisenach
seinen Abschluß, nicht aber geologisch ; geologisch
ist er ein herzynischer Horst älterer Schichten in
der jüngeren Landschaft, in dem nicht überall das
altpaläozoische Gebirge zutage tritt, sondern weit-
hin, namentlich im nördlichen Teile, durch Rot-
liegendschichten überdeckt wird. Unter noch jün-
gerer Bedeckung setzt aber der Horst über die
Werra hinaus nach Nordwesten fort; da aber hier
die überdeckenden Schichten zum Teil viel weniger
widerstandsfähig gegen die Verwitterung sind, als
die noch jüngeren Schichten , die an den her-
cynischen Brüchen in ihr Niveau einsanken, so
erscheint bei Sontra die geologische Fortsetzung
des Thüringer Waldes als Terrainvertiefung! Es
bestimmt also nicht allein der Umstand, daß die
Schichten des Thüringer Waldes gegen die Um-
gebung relativ gehoben sind den Gebirgscharakter,
sondern nicht weniger die Widerstandsfähigkeit
seiner Gesteine im V^ergleich zu derjenigen der
Schichten des angrenzenden Gebietes.
Das l^and zwischen Thüringer Wald und Harz
bildet geologisch eine von Verwerfungen vielfach
zerrissene Mulde, topographisch ein IBecken. In-
mitten des Beckens liegt eine zentrale Partie, die
nach Norden, Westen und Süden mit einem aller-
dings mehrfach unterbrochenen Steilabsturze ab-
fällt; das Material, das den Steilhang zusammen-
setzt, ist der Wellenkalk, das tiefste Glied des
Muschelkalkes, nach dem diese Landstufe als die
„Thüringer Muschelkalkstufe" bezeichnet wird; ihr
Verlauf im Hainich, Dün, der Hainleite und der
.Schmücke spiegelt die Anordnung der Schichten
zu einer flachen Mulde mit herzynischer Achse
wieder. Die Mulde ist nicht einheitlich, sondern
aus mehreren flachen Wannen und sie trennenden
niederen Bergrücken zusammengesetzt, die aber
alle die herzynische Richtung erkennen lassen.
Die trennenden Rücken enthalten die härteren
Schichten des Muschelkalkes, die flachen Wannen
die mürberen des Keupers. Die Störungen, die
das Becken zwischen Harz und Thüringer Wald, wie
auch das fränkische Vorland südlicli des Thüringer
Waldes durchsetzen, beeinflussen das Landschaftsbild
sehr wesentlich; hier finden sich ältere Schichten
horstartig in jüngere eingepreßt, dort durchziehen
Streifen jüngerer Gebilde als Gräben die älteren. Die
dislozierten Gebilde erscheinen als Bergrücken, wenn
sie härteres Material, als Talungen, wenn sie
weicheres als ihre Umgebung eiitlialten. So ziehen
sich die Einbrüche von Keuper in wechselnder
Breite als Täler oder Rinnen durch die Muschel-
kalklandschaft, während andererseits die Einbrüche
des Muschelkalkes in den mürberen Schichten des
Buntsandstein, z. B. am Kleinen Dolmar am Süd-
abfalle des Thüringer Waldes, als Bergrücken zu
verfolgen sind. Auch hier ist es also nicht dei
Senkungsprozeß der Schichten , der den Wechsel
von Berg und Tal bestimmt, sondern ihre ver-
schiedene Widerstandsfähigkeit gegen die Abtra-
gung. Am verwickeisten gestaltet sich der geo-
logische Bau und damit auch die orographische
Gliederung der Landschaft in der Nähe der Rand-
gebirge, also des Harzes und Thüringer Waldes;
in der stark gestörten Zone am Südrande des
Harzes, von ihm getrennt durch die Goldene Aue,
ragt als herzynisch gerichteter Horst archäischer
und permischer Schichten das kleine Kyffhäuser-
gebirge auf.
Die vielgestaltigen Bergzüge, die nördlich des
Harzes, des Hessischen Berglandes und des Rhei-
nischen Schiefergebirges das Randgebiet gegen
die Norddeutsche Tiefebene einnehmen, bilden zu-
sammen das Niedersächsische Hügelland.
Eine Dreigliederung ist hier möglich, in die öst-
liche Partie, das Vorland des Harzes, eine mittlere
Partie, das Ostfälischc Hügelland im Norden des
Hessischen Berglandes, und eine westliche Partie,
das Wesergebirgsland im Norden des Rheinischen
Schiefergebirges, von ihm getrennt durch die
Münstersche Bucht. Die P'ormen der Oberfläche
sind auljerordentlich vielgestaltig; gemeinsam ist
allen drei Abteilungen das Vorherrschen der her-
zynischen Richtung, die ganz vorwiegend den
Verlauf der Bergzüge bestimmt.
In enger Beziehung stehen die Dislokationen
zu denen der Landschaft Thüringen. Wir fanden
das ganze Thüringer Becken von solchen durch-
setzt und erkennen deren Fortsetzung im nörd-
lichen Hessen und südlichen Hannover; wir fanden
aber eine Steigerung an Zahl und Intensität, je-
mehr wir uns den Randgebirgen Thüringens, dem
Harze und Thüringer Walde näherten und die
beträchtlichsten Dislokationen in deren unmittel-
baren Nachbarschaft. Diese Hauptstörungszonen
der Thüringer Landschaft setzen nun nach Nord-
westen fort, diejenige des Harzes durch das Ost-
fälischc Hügelland zur Weserkette, dem Grenz-
gebirge gegen die Tiefebene , diejenige des
Thüringer VValdes quer durch Niederhessen über
Kassel und Warburg zum Südende des Teuto-
burger Waldes. Indem sie nun hier in die nord-
südiiche Richtung einbiegt und dabei den Verlauf
des Egge - Gebirges, des südlichen Teiles des
Teutoburger Waldes, bestimmt, nähert sie sich
der nördlichen Zone, um von Detmold an im
nördlichen Teutoburger Walde, im Osning, wieder
parallel mit ihr zu verlaufen. Bei weitem am
kompliziertesten ist die nördlichste Störungszone,
stellenweise sehr einfach gebaut die südliche, und
oft sind es nur schmale Grabeneinbrüche, die
ihren Weg zwischen dem Teutoburger und Thüringer
Walde bezeichnen. Während infolgedessen auch
bei der nördlichen die Konturen der Bergzüge
den Verlauf der Dislokationssysteme leicht er-
kennen lassen, hat es bei der südlichen sehr müh-
samer geologischer Untersuchungen bedurft, um
den Zusammenhang der Störungszone des süd-
870
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 55
liehen Teutoburger Waldes mit derjenigen des
Thüringer Waldes durch das nördliche Hessen zu
ermitteln. Es ist also die Nord-Süd-Richtung des
Teutoburger Waldes nicht durch rheinische Dis-
lokationen bedingt, sondern als lokale Auslenkung
des herzynischen Systemes erkannt worden, und
es ist dieses ein Beispiel dafür, daß die großen
Dislokationssysteme ihre vorherrschende Richtung
gelegentlich aufgeben, um auf kürzere Erstreckung
einer abweichenden zu folgen.
Der östlichste Teil des niedersächsischen Hügel-
landes, das Vorland des Harzes, zeigt sowohl
in der Oberflächengestaltung als in der Tektonik
gewisse Ähnlichkeit mit Thüringen. Gleich diesem
ist es ein zwischen zwei paläozoischen Horsten
eingesunkener Komplex jüngerer Schichten. Der
eine dieser Horste ist der Harz, der andere ist
der Flechtinger Höhenzug zwischen Magdeburg
und Öbisfelde, der sich nur wenig über das an-
grenzende Diluvialgebiet heraushebt. Störungen
zerreißen das Gebiet und umgrenzen mehrere
Horste von Buntsandstein und Muschelkalk, die
im Hug, der Asse und dem Elm als herzynisch ge-
richtete Bergzüge über die umliegende, im Unter-
grunde namentlich Lias, Kreide und Tertiär ent-
haltende Landschaft aufragen. In der Linie Braun-
schweig— Wolfenbüttel verschwinden mit den
mesozoischen Schichten auch die herzynischen
Störungen des nördlichen Harzvorlandes unter
der Diluvialbedeckung, sind aber im Fortstreichen
in der Gegend von Celle durch Bohrungen auf
Petroleum unter dem Diluvium wieder nachge-
wiesen worden.
ImOstfälischenHügellande, im Gebiete
zwischen Weser und Harz, politisch etwa im Ge-
biete des südlichen Hannover, sind die Bergzüge
dicht geschart und das Relief ist außerordentlich
unruhig. Das liegt nicht allein daran, daß sich
hier das herzynische Faltungssystem stark zer-
splittert, so daß vielfach Spezialmuldungen und Auf-
faltungen auftreten, die von Brüchen stark zer-
rissen sind, sondern zum großen Teil auch an dem
so bunten Wechsel des Gesteinsmaterials, der auch
bei ruhigeren Lagerungsverhältnissen eine größere
Zahl weit fortreichender Bergzüge zur Folge
haben würde. Lher und da bilden die Bergzüge
geschlossene, nach außen ihren Steilhang wendende
Ellipsen und bringen dadurch eine muldenförmige
Anordnung der Schichten im herzynischen Sinne
zum Ausdrucke. Als Mittelpunkt einer solchen
Ellipse beobachten wir den aus Kreideschichten
aufgebauten Hils; um ihn legt sich der allerdings
stellenweise unterbrochene Zug der Weißjura-
Rücken, deren westlicher Teil als Ith steil zur
Weser abbricht; diesen Zug umkränzen niedrigere
triadische Höhen. Gleichfafls im allgemeinen nord-
westlich gerichtet sind die Bergzüge der Gronauer
Kreidemulde und diejenigen der Gegend von
Hildesheim. Weiter nordwestlich gewinnen in
den Höhen des Osterwaldes, des Deislers, des
Süntels und der Bückeberge die Schichten des
Wealden große Bedeutung in der Ausgestaltung
der Physiognomie der Oberfläche. In den Bücke-
bergen tritt inmitten der mesozoischen Landschaft
eine Richtung auf, die ihr sonst fremd ist, die
nordöstliche. Aber auch dieser Bergzug ist ein
nur abweichend streichender Teil des herzynischen
Gebirges; er ist der Gegenflügel des nordwestlich
gerichteten Deislers, von dessen Nordende ihn
eine schmale Senke trennt, und geht nach Westen
ganz allmählich unter Verringerung seiner Höhe
und Breite in westnordwestlich gerichtete Züge
über, die im Harri und der Klus bei Bückeburg
als Parallelkette den jurassischen Zug der Weser-
berge an seiner Nordseite begleiten. Die Ver-
ringerung in Höhe und Breite ist aber die Folge
des Zurücktretens der Sandsteinschichten im
Wealden gegenüber den Schiefertonen, und noch
weiter westlich, jenseits der Weser, verschwin-
det der fast ganz aus mürben Schichten zu-
sammengesetzte Wealden als Formenelement der
Landschaft.
Inmitten dieser herzynischen Bergzüge des
Ostfälischen Berglandes treten nun die Rheinischen
Störungen namentlich als Grabenversenkungen und
in der Richtung der Täler in Erscheinung. Sie
hängen in vielen Fällen nachweisbar mit den
rheinischen Schichtenversenkungen Hessens zu-
sammen, die wiederum nach Süden ihre P'ort-
setzung im Rheintale finden.
Der westlichste Teil des Niedersächsi-
schen Hügellandes ist nur recht schmal und
wird von zwei scharfen Gebirgskämmen umgrenzt,
nach Norden von der Weserkette, nach Süden
vom Teutoburger Walde. Geologisch sind Weser-
kette und Teutoburger Wald Flügel und Gegen-
flügel eines herzynisch gerichteten Sattels, dessen
Kern die Keuperschichten in der Landmulde
zwischen beiden Gebirgen einnehmen. In der
Gegend von Osnabrück verschwindet das schmale
vom Teutoburger Walde und Weserketle flankierte
Band mesozoischer Schichten samt den in ihm
aufsetzenden herzynischen Störungen unter den
Diluvialbildungen der Norddeutschen Tiefebene.
Kurz vorher kommen aber im Piesberge und der
Ibbenbürener Bergplatte bei Osnabrück nochmals
die paläozoischen Schichten zutage; auch hier
handelt es sich um von jungen Verwerfungen
abgeschnittene Horste, die aber der allgemeinen
Absenkung des Gebirgslandes nach Nordwesten
entsprechend nur verhältnismäßig geringe Er-
hebungen bilden. In diesem äußersten Sattel
laufen also die beiden Hauptzüge herzynischer
Störungen des Mitteldeutschen Gebirgslandes zu-
sammen, die, wie wir sahen, weiter östlich stark
divergieren und einerseits zum Harze, andererseits
zum Thüringer Walde hinführen. Südlich dieses
nordwestlichsten Zuges des Mitteldeutschen Ge-
birgslandes breitet sich die weite Münstersche
Bucht aus; ihre Umrandung ist nach (Jsten und
Norden im Teutoburger Walde eine herzynische,
nach Westen verschmilzt sie mit der Nieder-
rheinischen Tiefebene; nach Süden sie durch-
querend gelangen wir zum Sauerlande und damit
N. F. III. Nr. 55
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
871
zurück zum Rheinischen Schiefergebirge, von dem
wir bei der Verfolgung der Dislokationssysteme
an der Hand der Landschaftsformen Mitteldeutsch-
lands ausgegangen waren.
Kleinere Mitteilungen.
Neue experimentelle Untersuchungen über
den Gehörsinn der Fische hat H e n r y B. 1! i g e -
low angestellt; er berichtet darüber im „American
Naturaliste", Bd. 38, Nr. 448, 1904, S. 275—284.
(Vgl. dazu das Referat über eine diesbezügliche
Arbeit von A. Lang in „Naturwiss. Wochenschr."
1903, Nr. 29.) Aus der Gegenwart innerer Ohren
bei den Fischen schloß man einfach auf das Vor-
handensein eines Gehörsinnes, und erst Kreidl
stellte (189s) an Goldfischen und Forellen experi-
mentelle Forschungen über diesen Gegenstand an.
Bigelow benutzte zu seinen Untersuchungen den
Goldfisch , Carassius auratus L. Zwei Seiten des
Acjuariums, in dem die Versuchstiere gehalten
wurden, waren aus Glas, die Schmalseiten und
der Boden bestanden aus hellem Kiefernholz. Um
Erschütterungen des Wassers fern zu halten, stan-
den die Füße des Tisches auf mehreren Lagen
weichen Papieres, und das Aquarium selbst war
durch eine dichte Unterlage von Baumwolle ge-
schützt. Später wurden die Glasscheiben mit un-
durchsichtigem Papier bedeckt, damit die Fische
niciit durch die Glaswände hindurch von außen
her gestört werden konnten. Der Schall wurde
durch eine elektrische Stimmgabel erzeugt, die
100 Schwingungen in der Sekunde machte und
durch eine Batterie in Gang gesetzt werden konnte.
Dieser Schallapparat stand auf einem hölzernen
Tische, der sich nahe bei dem Aquariumtisch be-
fand, ohne ihn jedoch zu berühren, und dessen
Füße gleichfalls durch Papierlagen gesichert waren.
Die Stimmgabel war so angebracht, daß sie, in
Schwingungen versetzt, die eine Holzwand des
Aquariums berührte. Die zu den Experimenten
verwendeten Goldfische waren zum Teil normal,
einer Gruppe war die Haut durch die Durch-
schneidung des 5. und/. Nerven, der Seitenlinien-
nerven und der Rückensaite unempfindlich ge-
macht, und einer dritten Gruppe waren die S.Nerven
durchgeschnitten.
Bei den normalen Goldfischen waren, wenn
die Stimmgabel in Bewegung gesetzt und mit der
hölzernen Wand des A(iuariums in Berührung ge-
bracht worden war, meist die folgenden Plrschei-
nungen wahrzunehmen: eine schnelle Vibration
des Schwanzes ohne Lokomotion; plötzliche
Schläge des Schwanzes nach seitwärts, oft so
kräftig, daß ein kurzer Ruck des Körpers nach
vorn erfolgte; normale Lokomotion, vorwärts,
rückwärts oder nach der Seite ; eine kräftige Aus-
breitung der Brustflossen, falls die Fische sich mit
etwas zusammengefalteten Flossen auf dem Boden
des Aquariums aufhielten. Jeder Fisch reagierte
durch eine oder einige der eben angegebenen Er-
scheinungen auf die Vibrationen der Stimmgabel
in einer für ihn charakteristischen Weise ; die leb-
hafteren Tiere zeigten eine kräftige Lokomotion,
die ruhigeren meist nur eine Bewegung des
Schwanzes. Im ganzen erhielt Bigelow auf 193
Versuche an 18 normalen Fischen 150 Reaktionen,
das sind etwa 78 %. Die Fische der zweiten
Gruppe waren so unempfindlich, daß sie auf eine
äußere Berührung mit einer Borste oder dgl. gar
nicht reagierten. Der Experimentator erhielt hier
52 Reaktionen auf 65 Versuche an 6 Fischen, das
sind 80 "/o, also etwa dieselbe Zahl wie bei den
normalen Fischen. Zur dritten Gruppe gehörten
die Fische, deren Ohren durch Zerschneiden der
8. Nerven auf beiden Seiten unempfindlich ge-
macht worden waren. Von 7 Fischen gab bei
Jl Versuchen nicht ein einziger eine Antwort auf
den Schall. Da diese Resultate in scharfem
Widerspruch zu Kreidl's Experimenten stehen, so
prüfte Bigelow die Versuche des letzteren nach.
Derselbe hatte aus dem Kopfe der Goldfische die
halbkreisförmigen Kanäle nebst den daran stoßen-
den Teilen des Ohres entfernt. Von 3 Fischen,
an denen Bigelow dieselbe Operation vorgenom-
men hatte, reagierte einer sehr lebhaft gleich
einem normalen Fisch, die beiden anderen in
schwächerer, aber doch deutlich wahrnehmbarer
Weise auf den Schall. Daraus ergibt sich, daß
die Durchschneidung der 8. Nerven eine voll-
kommenere Ausschaltung des Gehörsinnes bedingt
als die Herausnahme der halbkreisförmigen Kanäle.
Bigelow kommt zu dem Schluß, daß Goldfische
einen Gehörsinn besitzen und daß der Sitz des-
selben der Sack ist, welcher wahrscheinlich dem
Sacculus und der Lagena der höheren Wirbeltiere
entspricht. S. S.
Nachweis der Bastardnatur von Triton blasii.
— In Zentral- und Westfrankreich lebt ein Molch,
Triton blasii, der seit längerer Zeit schon als keine
besondere Spezies, sondern als eine Bastardform
zwischen Triton cristatus und marmoratus ange-
sehen wird, was um so größeres Interesse be-
ansprucht, als diese Form nicht nur konstant in
der freien Natur auftritt, sondern sogar fortpflanzungs-
fähig ist. Man stützte sich bei dieser Annahme
darauf, daß dieser Molch einmal in Körperform und
Färbung zwischen den beiden vermuteten Stamm-
eltern die Mitte hält, und dann, daß er nur in den
Gegenden sich befindet, die von jenen beiden
zugleich bewohnt werden. Nunmehr gelang es
indessen W. Wolterstor ff) den direkten ex-
perimentellen Nachweis für die Bastard-
natur des Triton blasii zu erbringen.
Die beiden Stammformen haben im allgemeinen
äußerlich wenig Ähnlichkeit miteinander. Triton
cristatus besitzt auf der Oberseite eine bräunliche
Zoolog. Jahrbücher. Abt. für System, ig. Bd. 1904.
8/2
Naturwissenscliaftliche Woclieiischrift.
N. F. III. Nr. 55
bis schieferfarbene Grundfärbung, in die runde,
scliwarze Flecken eingestreut sind, die Unterseite
dagegen ist orangegelb mit schwarzen Flecken.
Weiter ist der Rückenkamm des Männchens ge-
zackt und einfarbig schwärzlich. Triton marmo-
ratus dagegen besitzt auf der Oberseite eine grün-
liche Grundiärbung mit schwärzlichen Marmel-
flecken oder Schnörkeln, der Bauch ist bräunlich,
weiß getüpfelt und hie und da mit dunklen Flecken
versehen. Der Rückenkamm des Männchens ist
ungezackt, hellbräunlich und dunkel quergestreift.
Außerdem ist die Gestalt von Tr. marmoratus ge-
drungener und plumper, der Kopf breiter als bei
cristatus. Alle diese Eigenschaften besitzt nun
Triton blasii in einem eigentümlichen, gemischten
Zustande. Die Oberseite ist meist verwaschen
grünlich mit dunklen Marmelflecken und schwarzen,
runden Stellen, die Färbung der Bauchseite zeigt
ein Gemisch von bräunlichen, orangegelben und
weißlichen Farbentönen.
In der freien Natur wurde nun zwar die Be-
gattung zwischen den beiden Stammformen, so-
wie zwischen letzteren und dem Rastard beob-
achtet, aber nie gelang es, das Kreuzungsprodukt
sicher nachzuweisen und auf seine Identität mit
Triton blasii zu prüfen. Weiter bietet die Zucht
dieser Molche mancherlei Schwierigkeiten dar, und
so war es zunächst ein reiner Zufall, daß ein Mit-
arbeiter des Verfassers, E. Jacob, kreuzungs-
produkte von Triton marmoratus und Triton crista-
tus subspec. carnifex erhielt. Ersterer stammte
aus Frankreich, letzterer aus Florenz, sie wurden
zusammen in demselben Behälter gezüchtet, und
die Kreuzung erfolgte wahrscheinlich dadurch, daß
das Weibchen von Triton cristatus gelegentlich
Spermatophoren von Triton marmoratus aufnahm.
Verf experimentierte nun mit den gleichen Formen,
von denen marmoratus aus Portugal und Frank-
reich, cristatus carnifex aus Neapel stammte, weiter,
und nach mancherlei Mißerfolgen gelang es ihm
schließlich, aus diesen Tieren eine größere Zahl
von Bastardformen zu erziehen. Die durch Kreuzung
erzeugten Eier sind nicht hellbräunlich (wie bei
cristatus), sondern weißlich-grünlich bis hellgrün,
die Larven sind viel kleiner als die typischen
carnifex-Larven und gaben nach der Verwandlung
aufs deutlichste ihre Bastardnatur unter zahlreichen
individuellen Schwankungen der Färbung im ein-
zelnen zu erkennen. Und wenn es sich hier auch
zunächst nicht um die normalerweise in der Natur
zusammenlebenden Formen handelt, da ja die einen
aus Italien, die anderen aus Frankreich stammten,
so ist dennoch hiermit der Beweis einer möglichen
Kreuzung beider Formen durchaus erbracht. Alle
Experimente, die mit dem typischen Triton crista-
tus angestellt wurden, scheiterten daran, daß dieser
Molch in der Gefangenschaft nur sehr schwer zur
Fortpflanzung zu bringen ist. J. Meisenheimer.
,,Über die Ausbildung der Jahresringe an
der Grenze des Baumwuchses in den Alpen"
betitelt sich eine Arbeit von M. R o s e n t h a 1 I Wiss.
Beil. z. Jahresber. d. I. Realschule in Berlin. Ostern
1904), deren Resultate hier zunächst kurz mitge-
teilt werden sollen; wir werden dann noch einige
Bemerkungen daran zu knüpfen haben. — Unter-
sucht wurden eine ziemlich große Anzahl dico-
tyler und gymnospermer Pflanzen; die Vergleichs-
momente wurden gewonnen durch Gegenüber-
stellung des Befundes an Exemplaren der genannten
alpinen Region und des botanischen Gartens in
Dahlem. Hierbei ergab sich für die Jahresring-
breite, wie nicht anders zu erwarten, daß diese
bei den alpinen Pflanzen bedeutend geringer ist
als bei den Exemplaren der Ebene. Eine relative
Normalzahl für die Breite läßt sich indes nicht
geben, da die klimatischen Bedingungen derartige
sind, daß sie manchmal ein relativ erhebliches,
in anderen Jahren aber nur ein ungemein schwaches
Wachstum zulassen. So wies eine Betula
p u b e s c e n s von Samaden (2 1 00 m) (unter AufSer-
achtlassung der ersten recht breiten Jahresringe)
vom 10. bis 42. Jahresringe Schwankungen von
37—954 ,(( auf. Bei Koniferen treten neben Jahres-
ringen von 20 — 30 solche von nur 2 — 3 Zellen
Breite auf Es wird hierbei das Spätholz erheb-
lich reduziert (V. sagt, zum Teil „vollständig unter-
drückt", vgl. hinten), oft auf nur eine ZcUage Breite.
Auffallend häufig findet sich auch bei den alpinen
Gewächsen ein stark exzentrisches Wachstum des
Holzkörpers. Infolge der .Schmalheit der Jahres-
ringe und der starken Verdunstung in den Höhen-
lagen wird die Pflanze genötigt, möglichst viel
von dem gebildeten Holz als Leitungsbahn zu ver-
wenden, woraus für die Dicotylen ein abnorm
großer Anteil der Gefäße am Jahresringe, für die
Koniferen eine starke Entwicklung des Frühholzes
auf Kosten des Spätholzcs resultiert. Als Beleg
hierfür einige Zahlen:
(Siehe die Tabelle auf nächster Seite.)
Bemerkenswert ist, daß Pflanzen mit mehr
xerophil ausgerüsteten Blättern einen solchen Unter-
schied im Gefäßanteil nicht wahrnehmen lassen,
namentlich gilt das von den Erikaceen. —
Bei den nachfolgenden Bemerkungen sollen die
dicot\'len Gewächse ausgeschaltet und nur die
Koniferen betrachtet werden, da sich Jahresring-
verhältnisse bei diesen wegen der Gleichheit der
Elemente bequemer studieren lassen als an Dico-
tylen; da physiologisch ja der größere Reichtum
an Gefäßen mit einer starken Ausbildung des
Frühholzes der Koniferen identisch ist, lassen sich
die bei den Koniferen zu besprechenden Verhält-
nisse leicht auf die Dicotylen übertragen.
Die von Rosenthal unter den genannten
Bedingungen gefundene starke Entwicklung des
Frühholzes unter gleichzeitiger Reduktion des Spät-
holzes ist nur ein Spezialfall eines allgemeinen
Gesetzes. Genau genommen wird zunächst nicht
so sehr das Spätholz, als vielmehr die Mittelschicht
des Jahresringes unterdrückt, sofern man nämlich
— wie das Hugo von Mohl (1862) und nach
ihm wenigstens die meisten Xylopaläontologen
getan haben — den normalen Koniferenjahresring
N. F. III. Nr. 55
Name :
Salix Lapponum
n "
Lonicera caerulea
Salix serpyllifolia
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
873
Standort:
Höhe (m):
Dahlem
—
AUiula
2900
Dahlem
—
Samaden
2300
Dahlem
—
ob Scrvenna
2160
als aus drei Schichten bestehend auffaßt : dem
Frühholz, dem typischen Spätholz und der Uber-
gangsschicht zwischen beiden. Diese Dreiteilung
ist berechtigt, insofern nämlich bei normalem
Wachstum in Wurzel, Stamm und Ästen sich ein
verschiedenes Verhalten dieser 3 Schichten auf-
zeigen läl3t. In der Wurzel — als dem für die
Wasserleitung am stärksten in Anspruch genom-
menen Organ — ist normaler Weise das Frühholz
am stärksten ausgebildet, die Mittelschicht fehlt
vollständig, das Spätholz ist oft nur eine Zelle
breit („Wurzelholzbau"); im Stamm sind alle drei
Schichten normal ausgebildet, im Astholz erfährt
die Mittelschicht eine entschiedene Bevorzugung,
indem hier das typische Frühholz und Spätholz
zurücktritt; hiermit hängt die häufige Undeuthch-
keit der Jahresringe in Ästen zusammen. Diese anato-
mischen Verhältnisse hatten einige Forscher, die
sich mit dem Studium der fossilen Hölzer befaßten,
bewogen, eine unmögliche Nomenklatur bei diesen
einzuführen, derart, daß sie die „Wurzelhölzer"
(d. h. die den oben als „Wurzclholzbau" bezeich-
neten Jahresringbau besitzen) als „Rhizo . . .", die
„Stammhölzer" als „Cormo . . ." und die „Ast-
hölzer" als „Clado . . ." mit jeweils angehängtem,
passendemGattungsnamenbezeichneten. Inzwischen
ist diese Bezeichnungsweise wieder aufgegeben
worden, ohne daß indes der eigentliche Grund für
ihre Unrichtigkeit klar erfaßt, resp. ausgesprochen
worden wäre. Dieser liegt darin, daß die von
Mo hl gefundenen Verhähnisse rein topogra-
phisch genommen wurden, während sie in Wahr-
heit physiologischer Natur sind.
Sobald nämlich das Koniferenholz aus irgend
welchen Gründen eine Schwächung im Wachstum
erleidet, tritt Tendenz zur Bildung von „Wurzel-
holzbau" auf (d. h. also, physiologisch gesprochen : Er-
weiterung der Leitungsbahnen auf Kosten der übrigen
Jahresringschichten, besonders der Mittelschicht).
Es mag nun an einigen Beispielen gezeigt werden,
wie sich dieser Satz in natura bewahrheitet. Von
der Wurzel ist es längst bekannt, daß die Jahres-
ringe im Verhältnis zum Stammbaum außerordent-
lich schmal sind, so daß man hier auch gewisser-
maßen von einem „geschwächten Wachstum" reden
kann; dieser „Wurzelholzbau" zieht sich noch eine
große Strecke in den Stamm hinauf, wie ich das
an Stümpfen von Thuja und sehr schön an den
Stammstümpfen der Senftenberger Braunkohlen-
gruben sah (nach bisherigem Usus wären diese
Hölzer also als Wurzelhölzer bezeichnet worden !).
Weiter im Stamm hinauf greift dann der typische
Stammholzbau, wo alle 3 Jahresringschichten gut
ausgebildet sind, mehr und mehr ein. Dieser Bau
erhält sich indes nur bis zu einem gewissen Alter.
Anteil d. Gefäße und Tracheid. in "/o^
16,4
41.9
15,6 (größter Wert: 30,4)
28,7
96,8—60,2
Wie bekannt, werden — bei ganz normalem Wachs-
tum — die Jahresringe nach außen immer schmaler,
das Wachstum schwächer; da die inneren Stamm-
partien keine Nährstoffe leiten, die Leitung viel-
mehr dem äußeren Splint obliegt, so tritt hier
mehr und mehr eine Ausbildung des Frühholzes
und Unterdrückung der anderen beiden Jahresring-
schichten (namentlich der Mittelschicht) ein; die
Tatsache, daß die äußeren Jahresringe alter Koni-
ferenstämme „Wurzelholzbau" zeigen, wie Kny
(Anatomie von Pinus silvestris p. 201) ge-
funden,^) kann daher schon aus den Wachstums-
verbältnissen theoretisch gefunden werden. Daß
die Koniferen an der Grenze des Baumwuchses
Wurzelholzbau" im Stamme zeigen, kann nun-
mehr crar nicht merkwürdig erscheinen ; das gleiche
beobachtete ich übrigens an Fichtenstämmen von
den Hohneklippen nahe dem Brocken, sowie an
Kiüppelkiefern" verschiedener Hochmoore, u. a.
desjeni<^cn bei Hundekehle im Grunewald bei Berlin.
Sehr interessant ist nun das Verhalten von Kiefern-
zweigen , die ich durch Herrn Prof. Potonie von
Herrn Forstmeister Düesberg in Groß -Mutzel-
burg (südlich des Stettiner Haffs) erhielt. Die-
selben stammen von völlig normal gewachsenen
Bäumen, waren aber dadurch in ihrem Wachstum
verkümmert, daß sie hoch von der Krone des
Baumes meteriang zur Erde niederhingen. Die-
ses erzwungen geotropische Wachstum hatte
eine solche Wachstumsschwächung zur Folge daß
z. B. ein Zweig von ca. 40 Jahren nur eine Dicke
von 1,5 cm besitzt.
! Untersucht man den Bau der
(Fio-ur i), so bemerkt man, daß
— "breitesten — Jahresringe „Astholzbau", die
nächsten „Stammholzbau", der überwiegend zahl-
reichere Rest „Wurzelholzbau" zeigt. Es ist dies
so zu verstehen, daß die Zweige zunächst normal
aufwärts wuchsen, sich dann aber infolge der
eif^enen Schwere immer mehr nach unten wandten.
Während der Dauer der Hängeperiode wurde das
Wurzelholz" gebildet. Man sieht an diesem Bei-
spiel so recht die Unsicherheit der Beurteilung
eines ohne Zentrum erhaltenen fossilen Holzes
daraufhin, ob es „Wurzelholz, Stammholz oder
Astholz" vorstellt.
Greifen wir nun zu dem entgegengesetzten
Extrem, indem wir Hölzer von Bäumen nehmen.
Jahresringe
die ersten
>) Die Stelle heißt wörtlich: „In einem mir zur Unter-
suchung vorliegenden gS-jährigen Stamme (von Pinus sil-
vestris) finde ich zwischen den ersten und den letzten
lahresringen insofern einen augenfälligen Unterschied, als in
den ersten Jahresringen der Übergang vom Frühlings- zum
Herbstholze ein mehr allmählicher, in den letzten dagegen
ein nahezu unvermittelter ist."
874
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 55
deren Wachstum durch äußere Bedingungen in
erhöhter Weise gefördert ist, z. T. im ganzen Jahr
keine Unterbrechung erleidet, so finden wir hier,
i) daß eine Ausbildung der typischen letzten, radial
„plattgedrückten" Spätzellen unterbleibt, 2) daß
der Frühholzteil eine schwächere Ausbildung er-
fährt, daß mithin die Mittelschicht des Jahrringes
dessen größten Teil einnimmt. Diese Verhältnisse
findet man vorzüglich bei tropischen oder sub-
tropischen Koniferen, deren Anzahl allerdings nicht
sehr groß ist. Man braucht sich nur einmal den
Querschnitt einer Ceder, eines Dacrydi um oder
der leichter zu beschaffenden Araucarien anzusehen,
Fig. I. Teil des Querschnitts durch einen Hängezweig von
Piiiiis sh'veslris mit Wurzelholzbau in den äußeren Schichten.
Vergr. 30 mal. Gothan phot.
um das Gesagte bestätigt zu finden. Von den
letzteren ist schon lange bekannt, daß ihre „Jahr-
ringgrenzen" schlecht ausgeprägt sind; es hat dies,
im Lichte unserer Ausführungen besehen, einfach
in der starken Entwicklung der Jahresringmittel-
schicht seinen Grund, die bei den günstigen Wachs-
tumsbedingungen eine Ausbildung typischen Früh-
holzes überflüssig macht, andererseits eine Bildung
typischer Spätzellen, die stets eine gänzliche Sistie-
rung der Kambiumstätigkeit bedeuten, unterbleiben
läßt; die scharfe Absetzung der Jahreszuwachse,
die bei unseren Koniferen ja durcli den schrofifen
Gegensatz der unvermittelt aneinander stoßenden
Spätzellen des einen und der Frühzellen des näch-
sten Jahresringes erzeugt wird, muß daher fehlen.
Zum Schluß noch ein Beispiel, wie empfind-
lich die Reaktion der Jahresringschichtenentwick-
lung auf äußere Bedingungen ist. Eine Cedrus
a 1 1 a n t i c a vom Atlas, also dem natürlichen Stand-
punkt, zeigte überwiegende Entwicklung der Mittel-
schicht des Jahrringes; eine gleiche, im botanischen
Garten in Zürich ') kultiviert, wies jedoch sehr gut
entwickeltes Frühholz auf, so daß bei dieser ein
scharfer Absatz der Jahreszuwachse ähnlich wie
bei anderen Koniferen unserer Breiten resultierte.
W. Gothan.
') Beide Exemplare erhielt ich durch die Güte des Herrn
Prof. C. S c h r o e t e r in Zürich.
Über die Ursache des normalen atmo-
sphärischen Potentialgefälles und dernegativen
Erdladung hat H. Ebert (Physik. Zeilschr. V,
S. 135 f.) eine Theorie aufgestellt, die alsbald in
Fachkreisen lebhafte Beachtung gefunden hat und
daher in ihren wesentlichsten Zügen auch unseren
Lesern bekannt gemacht werden möge.
Seit langer Zeit weiß man, daß die Luft im
normalen Zustande eine mit der Höhe zunehmende,
positive Ladung besitzt, während sich der Erd-
körper konstant negativ geladen erweist. Eine
zureichende Erklärung für diese Erscheinung wurde
aJDcr um so mehr vermißt, als die F"eststeliung einer
durch stets vorhandene Gasionen zustande kom-
menden Lehfähigkeit der Luft (vgl. Nat. Wochen-
schrift N. F. Bd. I, S. 79 f.) diesen Ladungszustand
beständig auszugleichen trachten muß, so daß sein
Fortbestand nur durch eine dauernde, beständig
neue Ionen erzeugende Kraft erklärbar sein konnte.
Wohl hatten nun E 1 s t e r und G e i t e 1 vor einigen
Jahren versucht, die ungleiche Wanderungsge-
schwindigkeit der negativen und positiven Ionen
zur Erklärung der negativen Erdladung heranzu-
ziehen, indessen konnte dadurch zunächst keine
befriedigende Grundlage einer Theorie gewonnen
werden, da durch experimentelle Untersuchungen
von Simpson und anderen festgestellt wurde, daß
isolierte Leiter in ionisierter Luft nicht elektrisiert
werden.
Ebert glaubt nun, durch eine geringe Mo-
difikation des Grundgedankens von Elster und
Geitel eine mit Experimenten durchaus im Ein-
klang stehende, einfache Erklärung des in Rede
stehenden Phänomens erzielen zu können. Er
geht dabei von der durch Zeleny und Town-
send, sowie von Villari und Simpson fest-
gestellten Tatsache aus, daß ionisierte Gase beim
Übergang aus Räumen mit höherer in solche mit
niederer lonenkonzentration durch enge Kanäle
oder Röhren negative Elektrizität abgeben, wenig-
stens so lange die Anzahl der positiven Ionen
noch nicht allzusehr die der negativen übertrifft.
Wir können die weiteren Ebert'schen Überlegun-
gen nicht präziser und klarer als mit dessen
eigenen Worten wiedergeben.
N. F. m. Nr. 55
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
875
Er sagt am angegebenen Orte:
„Die neuesten Untersuchungen von Elster
und Geitel haben unzweifelhaft erwiesen, daß in
dem Erdboden auch an Orten, wo dies früher
nicht vermutet werden konnte, radioaktive Sub-
stanzen, namentlich Radium in Spuren enthalten
ist. Die von diesem dauernd ausgehende ,, Emana-
tion" ist es, welche der Bodenluft die auffallend
erhöhte Ionisierung erteilt, welche besonders in
Kellern und Höhlen der Luft ein abnorm gesteigertes
Leitvermögen verleiht. Dringt nun diese stark
ionisierte Luft aus dem Erdboden heraus in die
freie Atmosphäre, so muß sie bei ihrer Wanderung
durch die lirdkapillaren an die Wände derselben
vorwiegend negative Ladungen abgeben;
Luft mit einem Überschüsse an posi-
tiven Ionen tritt aus dem Erdboden her-
aus und wird von hier aus durch Winde und auf-
steigende Luftströme auch den höheren Schichten
der Atmosphäre mitgeteilt. Hierdurch erklärt sich
die negativeEigenladungderErde, sowie
der Überschuß an freien + Ionen in der
Atmosphäre, namentlich in den unteren Schich-
ten derselben, welcher durch direkte lonenzählungen
in der natürlichen Luft nachgewiesen werden konnte.
Damit erklärt sich aber auch die Erscheinung des
permanenten Erdfeldes mit nach oben hin posi-
tivem Gefälle. Dieses wird nur gestört, wenn
Niederschläge oder abnorme elektrische Vertei-
lungen den geschilderten Verlauf vorübergehend
überdecken.
Hiernach wird sich das normale Erdfeld nament-
lich dann und dort regenerieren, wann und wo
starke Bodenerwärmungen oder barometrische
Minima größere Mengen von Bodenluft den Erd-
kapillarcn, Spalten, Hohlräumen im Gerolle oder
Gestein entsteigen lassen. Bei wachsendem Luft-
drucke wird zwar ein Teil der äußeren Luft wieder
in den Erdboden hineingetrieben; diese ist aber
sehr viel ionenärmer als die Bodenluft. Schon in
mäßig großen mit Bodenluft, die nicht einmal aus
großen Tiefen genommen ist, erfüllten Räumen
erhält man leicht lonenmengen, welche die in den
über dem Boden befindlichen Luftschichten ent-
haltenen um das Sechzigfache übertreffen.^) Die
rückströmende Luft vermag also die Wirkung der
aufsteigenden, viel ionenreicheren Luft nur um
geringe Beträge zu schwächen, wiewohl sie reicher
an -|- Ionen ist; das Verhältnis von -|- Ladungen
zu — Ladungen in der Atmosphäre übersteigt aber
nur selten den Wert 1,2 — 1,6. In dem Umstände,
daß das ionisierende Agens unter dem Erdboden
liegt, in der freien Atmosphäre über demselben
aber bei weitem der Ionen verbra uch durch
Wiedervereinigung den der lonenerzeugung (soweit
wenigstens die uns zugänglichen Luftschichten in
Betracht kommen) überwiegt, liegt es begründet,
daß der Elektrisierungsprozeß nicht umkehrbar ist
bei wechselndem Luftdrucke. In dem dauernd
strahlenden Radiumvorrate der Erdkruste liegt
hiernach deren negative Ladung gegenüber der
positiven Lufthülle von Anfang an begründet; der
zur Trennung der Elektrizitäten und damit zur
Herstellung des Erdfeldes dauernd benötigte Ar-
beitsaufwand wird aus dem ungeheuren Energie-
vorrate der atmosphärischen Zirkulation mit ge-
deckt, stammt also in letzter Instanz von der
Sonne her.
Mehrfach ist bereits auf den eigentümlichen
Parallelismus hingewiesen worden, der zwischen
der täglichen Periode des Luftdruckes
und derjenigen der Luftelektrizitätan
demselben Beobachtungsorte besteht und zwar so-
wohl für die einfache wie für die doppelte täg-
liche Periode. Dieser Zusammenhang mußte bei
allen bisherigen Erklärungsversuchen unverständ-
lich bleiben; jetzt werden beide Erscheinungen
einfach als Ursache und Wirkung miteinander ver-
knüpft. Freilich darf man nicht auf eine voll-
kommene zeitliche Koinzidenz der Maxima und
Minima der beiden Wellen bzw. Doppelwellen
rechnen. Es ist nicht zu vergessen, daß die Luft,
wenn sie durch größeren barometrischen Druck
in die Erdkapillaren in reichlicherer Menge hinein-
gepreßt wird, hier einen großen Widerstand zu
überwinden hat. Ebenso wird beim Nachlassen
des äußeren Druckes das Zurückströmen der Luft
namentlich aus den tieferen, emanationsreicheren
Schichten sich um mehrere Stunden verspäten
können. Da es aber nach der hier vertretenen
Auffassung auf die Strömungsgeschwindig-
keit der ionisierten Luft durch die oberen Schich-
ten des Bodenmateriales ankommt, so müssen sich
Phasendifferenzen zwischen Ursache und Wir-
kung, d. h. zwischen Luftdruckkurve und Potential-
kurve, ergeben, die je nach den örtlichen Verhält-
nissen und der Jahreszeit verschiedene Beträge
annehmen können. In der Literatur finden .sich
bereits zahlreiche Beispiele hierfür.')
Ein Körper, der wegen seines lockeren Gefüges
und wegen seiner von Wilson und Allen ent-
deckten andauernden, wenn auch schwachen Radio-
aktivität das geschilderte Phänomen in besonderem
Maße unterstützen muß, ist der Schnee; er kann
auch bei gefrorenem Boden selbst als wirksamer
Ionisator auftreten ; vielleicht erklären sich hieraus
die verhältnismäßig hohen winterlichen Potential-
werte unserer Breiten. Natürlich werden andere
meteorologische Faktoren modifizierend eingreifen,
namentlich der Wasserdampfgehalt der Luft."
Prof Ebert beschreibt alsdann noch einige
Versuche, durch die er sich davon überzeugte,
daß in der Tat die Diffusion ionisierter Luft durch
einen von Kapillaren durchzogenen Körper (im
Versuch einen Tonzylinder) diesem eine negative
') Vgl. z. B. H. Ebert und P. Ewers, PhysiUal. Zeit-
schrift IV, 166, igo2.
') Vgl. ü. a. J. Hann, Meteorolog. Zeitschr. 6, 106,
1889' und 7, 29, 1890, woselbst der Verf. die Tageskurven
für beide Elemente einerseits für Kap Tliordsen (auf Grund
der Ergebnisse der schwedischen Polarexpedition 1882/83)
und andererseits für Kap Hörn (französische Expedition) in
Sinusreihen darstellt.
876
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 55
Ladung erteilt und daß die Ionisierung der Boden-
luft auch quantitativ ausreicht, um die beobachteten
Ladungen der Erde und Luft zu erklären.
„Ein große Zahl von Messungen weist darauf
hin, daß aller Orten die Bodenluft außerordentlich
viel ionenreicher als die Luft der freien Atmosphäre
darüber ist. Dies hängt damit zusammen , daß
nach den neuesten , schönen Untersuchungen von
Elster und Geitel die selbststrahlende Materie
überall im Erdboden verteilt ist und gerade im
verwitternden Gestein besonders gut aufgeschlossen
zu sein scheint. Hier wird die Luft, die dauernd
der Becquerelstrahlung der aktiven Substanzen
ausgesetzt ist, enorm hohe lonenbeträge annehmen
können , deren Ladungen freilich auf dem Wege
bis zur Oberfläche, — wenigstens was die nega-
tiven anbetrifift — zum allergrößten Teile an die
Erde selbst wieder abgegeben werden. So kann
man im Gebirge auf alten Schutthalden sehr hohe
Beträge an Emanation (also hohe Aktivierungs-
zahlen A) erhalten und doch nur normale lonen-
führung in der Atmosphäre antreffen. Solche
Oberflächenpartien müssen daher besonders viel
zur negativen Erdelektrisierung beitragen. Die 39
elektrostatischen Einheiten, die wir pro Tag und
Quadratmeter zur Aufrechterhaltung des normalen
Erdfeldes benötigen, können in diesen Gegenden
von Bruchteilen eines Kubikmeters Bodenluft ge-
liefert werden, wie sie aus dem Boden leicht
heraustreten können , auch wenn der Barometer-
stand während eines Tages nur um einen Milli-
meter schwankt. Freilich wird nicht jedes Boden-
material für diesen Regenerierungsprozeß geeignet
sein; wir werden auf der Erdoberfläche zwischen
konsumierenden und zwischen produzie-
renden Partien zu unterscheiden haben. An den
Berggipfeln und Graten wird infolge des hohen
Potentialgefälles, welches viele -\- Ionen sammelt,
die negative Erdelektrizität besonders intensiv
neutralisiert werden ; in den Tälern, Klüften, Spalten
und Höhlen des P'elsgesteins, in den Trümmer-
feldern und Schutthalden mit ihren zahlreichen
Hohlräumen haben wir die Stätten zu erblicken,
von denen aus die negative Ladung besonders
reichlich nachgeliefert wird und -|- Elektrizität in
die Atmosphäre übertritt.
Es ergibt sich also ein Zirkulationsprozeß, bei
dem positive Ladungen in den Talpartien in
das Luftmeer austreten, auf den Höhengebieten
wieder in den Erdkörper eintreten. Es scheint,
daß dieser Prozeß unter Umständen im Erd-
strome seinen Ausdruck findet, wenn er als
Zweigstrom zu dieser Zirkulation auftritt. In der
Tat fließt der (positive) Erdstrom ja im allge-
meinen vorwiegend von unten nach oben; daher
auch der so häufig konstatierte Parallelismus
zwischen Erdstrom und luftelektrischen Vor-
gängen.
Auch die Vegetation wird einen spezifischen
Einfluß ausüben können. Hier bieten sich viele
neue Fragen. Indessen zeigt schon dieser erste
einfache Überschlag, daß auch in quantitativer Be-
ziehung der genannte Diffusionsprozeß das Erdfeld
dauernd aufrecht zu erhalten vermag."
Der im Obigen auseinandergesetzten TJieorie
gegenüber sind nun allerdings von Simpson
eine Reihe von Bedenken geltend gemacht wor-
den (Phys. Zeitschr. V, S. 325), jedoch hat Ebert
diese Bedenken sämtlich in einer neueren Publi-
kation (Phys. Zeitschr. V, S. 499) zu zerstreuen
gewußt. Insbesondere hebt er dabei hervor, daß
man durchaus nicht anzunehmen brauche, daß
der Erdboden auf der ganzen Erde mit radioaktiver
Emanation durchsetzt sei. Da die oberflächlichen
Schichten die Elektrizität leiten, so reicht es ja
völlig aus, wenn das Hervortreten stark ionisierter
Bodenluft und damit die Elektrisierung der Erde
vorzugsweise da erfolgt, wo die radioaktiven
Bodenbestandteile stark angereichert sind. Auch
kann durch vom Winde fortgeführte Luftmassen
mit einem Überschüsse an positiven Ionen an
Orten, die keine primäre pjdladung besitzen, durch
Influenzwirkung ein elektrisches Feld mit normalem
Gefälle entstehen. Dem weiteren Einwurf Simp-
sons, daß die neue TJieorie das Potentialgefälle
über dem Meere niclit zu erklären vermöge, hält
Ebert entgegen, daß wir über das elektrische Feld
über dem Meere bislang noch keinerlei sichere
Kenntnisse haben, daß aber auch, falls ein solches
nachgewiesen würde, wiederum die Influenzwirkung
der vom Lande her über das Meer strömenden
Luft ein solches erklären könnte. Auch dürfte das
Meerwasser bei der Löslichkeit aller radioaktiven
Emanationen nirgends ganz frei von solchen sein
und die Wellenbewegung könnte sehr wohl, ent-
sprechend Versuchen mit geschütteltem, Emanation
enthaltenden Wasser, ein Überwiegen freier posi-
tiver Ionen in der Luft bewirken.
Wenn also auch die Ebert'tche Theorie noch
manche Schwierigkeit zu überwinden haben wird,
ehe sie ganz allgemein akzeptiert werden muß,
so regt sie doch auf alle Fälle eine große Reihe
neuer Fi agen an , deren Diskussion die Wissen-
schaft sicherlich außerordentlich fördern wird.
Eine schöne Bestätigung der Ebert'schen Anschau-
ungen enthalten übrigens die ersten, von Lüde-
ling in Potsdam gewonnenen Registrierkurven
der luftelektrischen Zerstreuung (Piiys. Ztschr. V,
S. 447). Dieselben zeigen zunächst einen fast genau
entgegengesetzten Verlauf wie der tägliche Gang
des Potentialgefälles. „Wenn man", sagt Lüdeling,
,,die lonentheorie zur Erklärung der luftelektrischen
Phänomene heranzieht, so war dies ja auch anzu-
nehmen: Je größer der lonengehalt der Luft, je
höher die Leitfähigkeit derselben ist, um so kleinere
Spannungsunterschiede wird man zu erwarten
haben und umgekehrt." Lüdeling hat aber auch
die Luftdruckkurven und die daraus sich ergebende
Kurve für die Luftdruckänderung mit den Zer-
streuungskurven verglichen und hat, indem er die
Luftdruckänderung umgekehrt einzeichnete, einen
Parallelismus der Zerstreuungskurven mit denen
der Luftdruckänderung zur Anscliauung gebracht,
der das Bestehen eines engeren Zusanu:icnhanges
N. F. m. Nr. 55
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
877
der beiden Erscheinungen kaum noch zweifelhaft
erscheinen läßt. „Auch der von Ebert vermutete
Pha'^cnunterschied scheint vorhanden zu sem : Zu-
nächst treten die Änderungen im Luftdruck ein,
nach hv Mittel 3 Stunden folgen sie in der Zer-
streuung.' Lüdeling bringt schließlich als von
löchster Bedeutung für die Prüfung der Ebert-
schen Theorie die Anlage einer temporaren Be-
obachtungsstation für luftelektrische Vorgange auf
dem Rote Sand-Leuchtturm in der Wesermundung
in Anregung. F. Kbr.
Über eine vielleicht reelle Veränderung der
Intensität der Sonnenstrahlung ') äußert sich
S P. Langley im Juniheft des Astrophysical
Journal. Eine Reihe von Bestimmungen der
Sonnenstrahlung außerhalb der Atmosphäre (der
sog. Sonnenkonstante) ist auf bolometnschem
Wege-) unter Langley's Leitung durch Abott
vom Oktober 1902 bis zum März 1904 m der
Weise ausgeführt worden, daß an besonders klaren
Nachmittagen zwischen I und 4 Uhr die bolo-
mctrische Intensität bestimmter Spektralgebiete
verfolgt wurde, woraus dann auf rechnerischem
Wege einigermaßen zuverlässige Werte für die
Sonnenkonstante gewonnen werden konnten.
Wenngleich eine gewisse Unsicherheit über die
Absorption der Strahlungsenergie in der Atmo-
sphäre notwendigerweise bestehen blieb, so konnte
doch durch verschiedene Methoden die Zuverlässig-
keit der Abschätzung der Absorption so weit ge-
prüft werden, daß Langley mit ziemlicher Bestimmt-
heit aussprechen zu dürfen glaubt, daß die Sonnen-
strahlung selbst von Ende März 1903 ab um un-
gefähr 10 Prozent abgenommen habe, bis im
Februar 1904 dieselbe den normalen Betrag wieder
erreichte. Langley kommt auf Grund des Stefan-
schcn Strahlungsgesetzes durch Rechnung zu dem
Ergebnis, daß, falls eine solche Herabminderung
der Sonnenstrahlung wirklich stattgehabt hätte,
doch nvr ein Sinken der Temperatur auf der
Erdoberfläche um weniger als 7,5 Grad erwartet
werden könnte. Indem er nun die im Jahre 1903
an 89 Stationen der nördlichen gemäßigten Zone
gemachten Temperaturbeobachtungen mit den
vieljährigen Mittelwerten verglich, fand er, daß
tatsächlich ein Temperaturdefizit von durchschnitt-
lich 2" der Abnahme der Sonnenstrahlung gefolgt
ist, während Stationen, die von dem verzögernden
Einfluß der Ozeane entfernt liegen, sogar ein er-
heblich größeres Zurückgehen der Temperatur
unter die normalen Werte zeigten.
„Während es schwer einzusehen wäre, welcher
nicht solare Einfluß diesen schnellen, gleichzeitigen
und dabei lange anhaltenden Temperaturrückgang
in der ganzen nördlichen, gemäßigten Zone be-
wirkt haben sollte, kann gleichwohl der Nachweis
') Vgl. die erste diesbezügliche Mitteilung auf S. 6+8.
■) Das von Langley erfundene Bolometer gibt durch die
elektrische Widerstandsänderung eines bestrahlten Drahtes
Aufschluß über die Energie der betreffenden Strahlung.
solarer Veränderung noch nicht als zwingend er-
wiesen gelten. Nichtsdestoweniger scheint ein
solcher Schluß auf Grund der zurzeit vorliegen-
den Beobachtungsdaten wohl begründet und eine
Fortsetzung dieser holographischen Studien über
die Sonnenstrahlung ist von besonderem Interesse
mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer Vorher-
sage irdischer Klimaschwankungen aus solaren
Vorgängen." F- Kbr.
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
Am 14 August dieses lahres starb nach einem kurzen
Leiden der Geheime Regierungsrat Prof. Dr. Eduard von
Härtens, zweiter Direktor des Königlichen Zoologischen
Museums der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlm. Er war
seil vielen Jahren Mitarbeiter an der „Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift", und manche wertvolle Abhandlung ziert deren
verschiedene Jahrgänge. Sein Tod bedeutet einen großen Ver-
lust nicht nur für alle, die ihm persönlich nahestanden, sondern
namentlich auch für die Wissenschaft, der er durch sein ganzes
Leben ergeben war. Am l8. April 1831 in Stuttgart geboren,
zeigte er schon als Knabe große Liebe zur Natur, die von
seinem Vater, der selbst einer der besten Pflanzen- und Tier-
kenner Württembergs war, in weitem Umfange genährt wurde.
Schon frühzeitig wandte sich der junge schwärmerische Natur-
freund dem Sammeln und Beobachten der Schnecken und
Muscheln seiner Heimat zu, eine Spezialneigung, aus der all-
mählich seine unerschöpfliche Kenntnis von dieser großen und
formenreichen Tiergruppe hervorwuchs. Er galt seit Jahr-
zehnten als der beste Kenner und Erforscher der Mollusken
aller Erdteile Daneben war er aber auch in allen übrigen
Tierordnungen bewandert, der typische Vertreter der Zoologen
der älteren Schule. Die wichtigsten der von ihm publizierten
Bücher und Abhandlungen sind von Dr. Maximilian Meiss-
ner zusammengestellt, als Anhang zu einer vom letzteren ver-
verfaßten biographischen Skizze, welche in der zu Ehren des
nunmehr Verstorbenen vor 3'/, Jahren von seinen Mitarbeitern
am Zoologischen Museum aus Anlaß seines 70. Geburtstages
herausgegebenen Festschrift (Berlin 1901, Nicolaische Verlags-
buchhandlung) das einleitende Kapitel bildet Aus diesem
Verzeichnisse geht hervor, daß die meisten und größten Ab-
handlungen aus seiner Feder den Mollusken aller Erdteile
galten daß er sich aber auch mit Vögeln, Säugetieren, Rep-
tilien Fischen, Echinodermen, Crustaceen usw. beschäftigt hat.
Ganz besonders pflegte er die Zoogeographie, und seine Vor-
lesungen über die geographische Verbreitung der Tiere an der
Berliner Universität waren außerordentlich anregend und lehr-
reich Da ich mich vor mehr als 20 Jahren zu seinen Hörern
zählen durfte, denke ich noch mit Ehrfurcht für den Vortragen-
den dar.m zurück, wie er in diesen Vorträgen mit einfachsten
Worten und vielem Wissen eine umfassende Naturanschauung
verband, um seine Hörer in die Geheimnisse der Zoogeogra-
phie einzuführen. rr . •
Eduard von Martens barg in sich endlose Kenntnisse
von zoologischen Dingen, ein Kompendium der Zoologie das
nun zu Grabe getragen ist ; namentlich war er mit der alteren
zoologischen Literatur vertraut. Er war stets aufs Liebens-
würdigste bereit, Fragenden aus dem Schatze seiner großen
Kenntnisse das Erwünschte mitzuteilen. Rührend war bei
alledem seine große Bescheidenheit, die als Vorbild gelten
""""Nachdem von Martens im Herbste 1849 die Universität
Tübingen bezogen hatte, um daselbst Naturwissenschaften und
Medizin zu studieren, und nachdem er, nach Absolvierung
seiner Universitätsstudien, kurze Zeit sich in München zu
weiterer Ausbildung in seinen Fächern aufgehalten hatte, siedelte
er schon l8?5 nach Berlin über, wo er zu J oh ann es M u U e r ,
Alexande'r Braun, Ehrenberg und anderen bedeutenden
Größen unter den Naturforschern jener Zeit in Beziehung
trat Von Professor L i c h t e n s t e i n , dem damaligen Direktor
des Berliner Zoologischen Museums, wurde er bereits im No-
vember l8s5 mit der Ordnung und Aufstellung der Konchyhen-
sammlung des Museums beauftragt und als Assistent angestellt.
Den Doktorhut hatte er sich schon in Tübingen auf Grund
878
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 55
seiner Dissertation „Über die Verbreitung der europäischen
Land- undSüßwassergastropoden" im Frülijahre des Jahres 18^5
aufgesetzt. Er wurde am 11. April 1859 Kustos am zoo-
logischen Museum in Berlin, dem er bis zu seinem Hinscheiden
ununterbrochen angehörte. Aber bald nach dieser Beförde-
rung in seiner Stellung sollte er noch fremde Erdteile kennen
lernen, gewiß ein sehnsüchtiger Wunsch, den der junge Zoo-
loge wohl längst im geheimen schon gehegt hatte. Er empfing
1860 den ehrenvollen Auftrag, die preußische Expedition nach
Ostasien als Naturforscher zu begleiten. Auf dieser Reise
sammelte er für das Berliner Zoologische Museum ungeahnte
Naturschätze aus allen Gebieten der Zoologie, namentlich in
Japan, China, Siam, Celebes, Borneo, Java, Sumatra und auf
vielen kleineren Inseln des Indischen Archipels. Ende 1S64
kehrte er mit immensen Kenntnissen und sehr wertvollem
Material reichbeladen und hochbefriedigt nach Berlin zurück.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Reise, deren Be-
arbeitung mehrere Jahre erforderte, sind in dem großen Werke
„Die preußische Expedition nach Ostasien" niedergelegt. Am
I. Februar 1873 habilitierte sich v. Martens als I'rivatdozent
für Zoologie an der Berliner Universität und wurde schon im
folgenden Jahre zum außerordentlichen Professor ernannt. Sein
langjähriges Wirken am zoologischen Museum bestand in einer
sehr ersprießlichen Tätigkeit, welche sich namentlich auf das
Ordnen, Durcharbeiten, Determinieren und Katalogisieren des
außerordentlich reichen Materials an Mollusken erstreckte.
Seine endlos reichen Kenntnisse sind mit dieser Sammlung,
soweit sie die Systematik betreffen, dauernd verbunden. Die
Museumssammlung enthält die große Fülle der Belegobjekte,
welche seinen zahlreichen Publikationen zugrunde gelegen
haben. ^ ^
Nach dem Tode des Museumsdirektors Prof. Dr. W. P e t e r s
wurde v. Martens im Frühjahre 1883 vom vorgesetzten
Ministerium mit der mühevollen und zeitraubenden interimisti-
schen Leitung des zoologischen Museums betraut, bis 18S7,
als Professor Dr. K. Möbius die Direktion des Museums
aus seinen Händen übernahm. E. v. Martens erhielt
darauf den Titel ,, Zweiter Direktor des zoologischen Museums"
und im August 1898 durch .Mlerhöchstes Patent den Titel
„Geheimer Regierungsrat". Den Roten Adlerorden hatte er
schon früher erhalten. Nunmehr hat ein arbeitsreiches und
für die Wissenschaft und das Berliner Zoologische Museum
segensreiches Leben und Wirken seinen Abschluß gefunden
Prof. H. J. Kolbe,
Kustos am Königl. Zoologischen Museum in Berlin.
Bücherbesprechungen.
Karl Egli in Zürich, Über die Unfälle beim
chemischen Arbeiten. Beilage zum Pro-
gramm der Kantonschule Zürich. I.Hälfte 1902;
II. Hälfte 1903. — Zürcher & Furrer, Zürich.
Der Verf hat es unternommen, über den betreffen-
den Gegenstand ein größeres Material zu sammeln
und zu verarbeiten. Besonders hat er denjenigen
Fällen Rechnung getragen, die sich bei chemischen
Arbeiten zu Lehr-, Lern- und Forschungszwecken
ereigneten und hat aus der Technik nur diejenigen
Fälle sorgsam ausgewählt, die sich im Laboratorium
wiederholen können. Der Zweck der Arbeit ist, dem
Experimentator, besonders dem Anfänger, eine große
Zahl vvirklich vorgekommener Unfälle ohne große
theoretische Auseinandersetzungen zu schildern. Seine
Sammlung beträgt 475 Fälle. Die Schrift behandelt
die Unfälle nach folgenden Richtungen: I. Allgemeiner
Teil. Der Verf hebt darin hervor, daß die Ver-
letzungen der Experimentatoren im Verhältnis zu den
vorkommenden Explosionen und Entwicklungen schäd-
licher Gase usw. relativ selten sind. Im II. Speziellen
Teil behandelt er zunächst Mechanische Verletzungen
sowie Verbrennungen und Verätzungen. Ein beson-
ders breiter Rahmen ist ferner auch denjenigen Un-
glücksfällen eingeräumt, denen der Chemiker im
Laboratorium am meisten ausgesetzt ist: den Vergif-
tungen. Das Schlußkapitel befaßt sich mit den Ex-
plosionen.
Die interessante Arbeit ist leichtfaßlich geschrieben
und ist zugleich ein Beitrag zur Statistik der auf
chemischem Gebiete vorkommenden Unglücksfälle.
Sie beweist aber auch, daß mancher mit übertriebener
Sorge auf die chemischen Arbeitsstätten hinblickt, die
er als Stätten der Gefahr betrachtet, wo in allen
Flaschen und Geräten Gift und Explosion heimtückisch
ihres Opfers lauern. r. l^
Karl Schirmeisen, Die Entstehungszeit der
germanischen Göttergestalten. Eine
mythologisch - prähistorische Studie. Carl Winiker.
Brunn. 1904. — 1,44 Mk.
Verf. hat den Versuch gemacht, die germanischen
Hauptgottheiten, resp. -dämonen nach ihren Attributen,
sowie kleinen Charakterzügen in den sie betreffenden
Mythen als Produkte der einzelnen Kulturperioden zu
erweisen. Der Feuergott ist nach ihm der Gott der
paläolithischen Zeit, Ymir der mesolithischen (Fischer-
gott), Tyr der frühneolithischen, Thor der spätneoli-
thischen, die Wanen der äheren, Odhin der jüngeren
Metallzeit. Es ist hier nicht der Ort, näher auf
solche kulturhistorische Fragen einzugehen. Hinge-
wiesen sei nur auf die Unwahrscheinlichkeit der
Voraussetzung, daß in der Erinnerung so später
Zeiten, wie die der Edda sind, noch gewisse Mängel
uralter Kulturperioden, wie z. B. die Unkenntnis der
Schiffahrt bei den Neolithikern , nicht nur bewahrt,
sondern sogar mit einer so angesehenen Göttergestalt,
wie Thor war, dauernd verknüpft geblieben wäre.
Wahrscheinlicher bleibt, daß Thor, Freyr, Wotan
Lokalemanationen Tyrs sind ; Ymir ist nie eine Haupt-
gottheit gewesen. Im übrigen steht und fällt Schirm-
eisens Theorie mit der Lehre von der Abstammung
der Arier aus Nordeuropa, und gerade neuerdings
haben Cossinna und Much, indem sie diese Lehre zu
stützen suchten, entscheidendes Beweismaterial da-
gegen beigebracht.
Trotz allem verdient die vorliegende Schrift durch-
aus ernst aufgefaßt zu werden ; sie zeugt von reichen
Kenntnissen , und niemand wird sie ohne Anregung
aus der Hand legen. Fritz Graebner.
i) Vegetationsbilder, herausgegeben von Dr. G.
Karsten, Prof an der Univ. Bonn, und Dr. H.
Schenck, Prof an der Technischen Hochschule
Darmstadt Jena (Gustav Fischer) 1903 u. 1904.
— Preis pro Heft 2,50 Mk.
2) Dr. Richard R. v. Wettstein, Vegetations-
bilder aus Südbrasilien. Mit 58 Tafeln in
Lichtdruck; 4 farbigen Tafeln und 6 Textbildern.
Leipzig u. Wien (Franz Deuticke) 1904. — Preis
24 Mk.
Von dem prächtigen und instruktiven unter i) ge-
nannten Werk sind seit unserer ersten Anzeige
7 weitere Hefte erschienen, nämlich Heft 3—8 und
von der zweiten Reihe Heft 1. Jedes Heft bringt
N. F. m. Nr. 55
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
879
6 Tafeln mit Erläuterungen und zwar Heft 3 Tropi-
sche Nutzpflanzen (von H. Schenck) , Heft 4 Bilder
aus dem mexikanischen Wald der Tropen und Sub-
tropen (G. Karsten) , Heft 5 Vegetationsbilder aus
Südwest- Afrika (A. Schenck), Heft 6 Monocotylen-
bäume (G. Karsten), Heft 7 Bilder der Strandvepietalion
Brasiliens (H. Schenck), Heft 8 Mexikanische Kakteen-,
Agaven- und Bromeliaceenvegetation (G. Karsten und
E. Stahl) und endlich Heft 1 der 2. Reihe Epiphyten
des Amazonasgebietes ( E. Ule). Die Abbildungen
sind sehr schön und charakteristisch, die Erläuterun-
gen zweckdienlich. Das Werk belebt und fördert
das Studium der höheren Pflanzensystematik ganz
ungemein und wird sicher — namentlich an Lehr-
instituten — weiten Anklang finden.
Das unter 2 ) zitierte Werk hat sich ebenfalls zum
Ziel gesetzt Bilder von Vegetationstypen zu liefern,
aber nur solche eines beschränkteren Gebietes : aus
Südbrasilien. Während die Bilder des Karsten-
Schenck'schen Werkes Quartformat haben, zeigen die
V. Wettstein'schen Bilder Gr. - Oktav- Format. Ein
55 Seiten starkes Heft bietet die pflanzengeographische
Erläuterung zu den Bildern , die nach Photographien
des Verfassers und von F. v. Kerner hergestellt wur-
den, abgesehen von den 4 farbigen , die nach Aqua-
rellen von F. V. Kerner gefertigt wurden.
Es wird durch Werke wie die vorliegenden den-
jenigen, die nicht das Glück haben weite Reisen unter-
nehmen zu können, bequem gemacht, im Bilde den
Habitus der Vegetationen der Erde und einzelner
bemerkenswerterer Arten kennen zu lernen , so gut
das eben geht, wenn man die Natur selbst nicht vor
sich hat.
Prof. Dr. B. Schwalbe, Grundriß der Astro-
nomie, beendet und herausgegeben von Prof. Dr.
H. B ö 1 1 g e r. Mit einem Lebensbild des Verf. von
Prof. E. Schwalbe. Mit 170 Abbildungen i'nd
13 Tafeln. 319 Seiten. Braunschweig 1904.
F. Vieweg & Sohn. — Preis 6 M.
Der als Pädagog in den weitesten Kreisen hoch-
geschätzte Verfasser, der mitten aus einem reichen
Wirkungskreis heraus durch den Tod abberufen wurde,
hat auch dieses Werk, das zugleich den astronomischen
Teil von Schödler's Buch der Natur bildete, nicht mehr
vollenden können. Die Korrekturbogen waren jedoch
schon bei Lebzeiten Schwalbe's vorbanden, so daß der
Herausgeber nur wenige Ergänzungen hinzuzufügen
nötig hatte. Die wichtigsten astronomischen Tatsachen
sind in dem Buche knapp und klar zur Darstellung
gebracht, ohne daß auf Hypothesen näher eingegangen
wird. Die illustrative Ausstattung kann bei dem
niedrigen Preise des Buches als vorzüglich bezeichnet
werden, insbesondere gereichen die vortrefflichen Spek-
traltafeln nach Erdmann und H. C. Vogel dem Werk
zur hohen Zierde. Fehlerhaft ist die Seite 188 ge-
machte Angabe, daß Feuerkugeln in i bis 2 Meilen
Höhe erscheinen, das Aufleuchten erfolgt vielmehr in
der Regel in etwa 200 km und selbst der Hemmungs-
punkt liegt kaum jemals tiefer als 20 bis 30 km.
Der Abschnitt V (Zusätze, Hilfsmittel, Historisches)
ist recht ungleichmäßig bearbeitet, namentlich kommt
in der historischen Übersicht die neuere Zeit durchaus
zu kurz. Dieser Abschnitt bedarf in einer Neuauflage
eine völlige Umarbeitung und Ausgestaltung, wogegen
die ausführliche Behandlung der verschiedenen
Kalendersysteme, der christlichen Zeitrechnung usw.
(Seile 242 — 313), die überdies trotz ihres Umfangs
nur als Skizze bezeichnet wird, in Zukunft besser in
FortfiU käme, da sie aus dem Rahmen des Werkes,
das sonst nur wichtige astronomische Tatsachen bietet,
völlig herausfällt. F. Kbr.
Literatur.
Götz, Prof. Dr. Wilh.: Historische Geographie. Beispiele u.
Grundlinien. (IX, 294 S.) Lex. 8". Wien '04, V. Deuticke.
— Subskr.-Pr. 9 Mk. ; Einzelpr. 10,50 Mk.
Nüescb, Dr. Jak.: Das Keßlerloch, e. Höhle aus paläolithi-
scher Zeit. Neue Grabgn. u. Funde. Mit Beiträgen v. DD.
Prof. Th. Studer u. Otto Schötensack. [Aus: „Neue Denk-
schrift d. allg. Schweiz. Gesellsch. f. d. ges. Naturwiss."]
(IV, III, 113 S. m. 6 Kig. u. 34 Taf.) Lex. 8". Basel '04,
Georg & Go. in Komm. — 12 Mk.
Ostwald, Wilh. : Elemente u. Verbindungn. Faraday-Vorlesg.
(48 S.) 8». Leipzig '04, Veit & Co. — 1,20 Mk.
Rathsburg, Dr. Alfr. : Geomorphologie des Flöhagebietes im
Erzgebirge. Mit 3 Übersichtskarten. (III, 196 S.) gr. 8».
Stuttgart '04, J. Engelhorn. — IG Mk.
Schumann, weil. Kust. Priv.-Doz. Prof. Dr. Karl: Praktikum
f. morphologische u. systematische Botanik. Hilfsbuch bei
prakt. Übgn. u. Anleitg. zu selbsländ. Studien in der Mor-
phologie u. Systematik der Pflanzenwelt. (VIII, 610 S. m.
154 Abbildgn.) Lex. 8". Jena '04, G.Fischer. — 13 Mk.;
geb. 14 Mk.
Briefkasten.
Frage: In der Naturw. Wochenschr. N. F. III, Nr. 18,
S. 273 — 280 werden die lautlosen Sternschnuppen und die
detonierenden Meteore in einem Atemzuge genannt und dis-
kutiert. Meiner Meinung nach sind die geräuschlosen nur
kohlenhydratähnliche Kometenreste , die niemals zu Boden
fallen, da sie verbrennen ; während die echten Meteore fast
ausschließlich schwerere, Metalle führende Planeten (?) reste zu
sein scheinen, die, oft unter Detonation, jedenfalls immer, sei
es in der Form von Staub oder von Steinen die Erdoberfläche
erreichen müssen. — Ist meine Anschauung denn so veraltet?
Dr. O. in A.
Herr Prof. Niessl in Brunn erteilt hierauf folgende Ant-
wort: Die von dem Herrn Fragesteller vertretene Meinung,
daß die Sternschnuppen von den ,, echten Meteoren" durch
die chemische Natur des Substrates zu unterscheiden wären,
entspricht in solcher .\llgemeinheit durchaus nicht dem Kom-
plex unserer Erfahrungen. Die Beobachtungen , aus welchen
man einen so weittragenden Schluß auf die Zusammensetzung
der Sternschnuppenmaterie ziehen möchte, sind ganz und gar
unzulänglich. Übrigens ist auch bei Meteoriten das Vorkom-
men von Kohlenwasserstoffen nachgewiesen. Alle erfahrenen
Beobachter der sogenannten Sternschnuppen, wie z. B. Schmidt,
Heis, Weiß, Denning u. a. sprechen sich dahin aus, daß
diese sehr verschiedene , nach den einzelnen Strömen abwei-
chende optische Eigentümlichkeiten besitzen, welche auf nicht
unwesentliche materielle Verschiedenheiten schließen lassen.
Möglicherweise dürften künftige Untersuchungen her-
ausstellen, daß es einige Ströme gibt, in denen nur Kohle-
hydrate vertreten sind. Gegenwärtig ist man aber weiter als
je davon entfernt, etwas ähnliches behaupten zu können. Es
ist dagegen eine mehrfach erwiesene Tatsache, daß viele aus-
geprägte Sternschnuppenströme uns zugleich auch die großen
detonierenden Meteore, sowie Meteoritenfälle liefern. Man
lese nur die vielen überzeugenden Nachweisungen bei Denning
(General Catalogue of the Radiant-points of the Meteoric-
showers and of fireballs and shooting-stars etc. London 1899).
Vermutlich umfaßt das mannigfaltige, merkwürdige Phä-
nomen der Feuermeteore, wie es sich uns darbietet, Ungleich-
88o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 55
artiges in verscliiedcneii Bezieliungen. Ob jedoch die Gesichts-
punkte zur Differenzierung vornehmlich in der Beschaffenheit
des Substrates, oder in der Natur der Bahnen , in der kosmi-
schen Abkunft, vielleicht auch in bisher ganz unbeachtet ge-
bliebenen Umständen zu suchen sind, ist gegenwärtig noch
unsicher. Vorläufig läßt sich eben nichts anderes sagen , als
daß die Endglieder, die unscheinbaren, geräuschlosen und die
mit ungeheuren Licht- und Schallentwicklungen einhergehen-
den Meteore, durch eine schwer trennbare Kette allmählicher
Übergänge miteinander verbunden sind.
Den Verlockungen, auf diese Beziehungen hier näher ein-
zugehen, will ich indessen nicht nachgeben, vielmehr auf die
Auseinandersetzungen Prof. Schiaparelli's im IX. Kapitel seines
,, Entwurfes einer kosmischen Theorie der Sternschnuppen, 1871"
verweisen, welche, in ihrer wunderbaren Klarheit, auch jetzt
noch geeignet sind , reichliche Belehrung über diese Fragen
zu verbreiten. Bestätigungen, Ergänzungen und Modifikationen,
welche spätere Erfahrungen an die Hand gaben, habe ich u. a.
in den beiden Abhandlungen: ,,Über die Periheldistanzen etc."
1891 und ,,Über die Rolle der Atmosphäre im Meteorphäno-
men" im 63. Jahrgange des ,, Astronomischen Kalenders" der
k. k. Wiener Sternwarte, zusammengestellt. Selbstverständlich
konnte in einem, insbesondere die geographischen Beziehungen
der Erscheinung behandelnden Aufsatze auf alle diese Punkte
nicht ausführlich wieder zurückgegriffen werden. Niessl.
Herrn E. P. in Rathenow. — Frage: Welches Werk han-
delt eingehender über Zelle und Zellkern.' — Die Literatur
über die Zelle ist sowohl auf zoologischem als auch auf
botanischem Geljiete sehr umfangreich. Vor allem sind da
die grundlegenden Arbeiten von E. Straßburger (Zell-
bildung und Zellteilung 3. Aufl. Jena 1880) und W. Flem-
ming, Zellsubslanz, Kern und Zellteilung, Leipzig 18S2 zu
nennen. Auf zoologischem Gebiet mögen außer dem Flem-
ming'schen Werke die Arbeiten von E. Korscheit (Beiträge
zur Morphologie und Physiologie des Zellkernes in: Zool.
Jahrbücher Abt. f. Anatomie Bd. 4, 1891, S. 1 — 154, Taf. i — 6;
mit ausführlichem Literaturverzeichnis) und außerdem die-
jenige von L. Rhumbler, (Physikalische Analyse von Lebens-
erscheinungen der Zelle in : Arch. f. Entwicklungsmechanik
der Organismen Bd. 7, 1898, S. 103 — 350, m. 2 Taf.) und
von E. Roh de (Untersuchung über den Bau der Zelle;
l. Kern und Kernkörper in : Zeitschr. f. wissensch. Zoologie
Bd. 73, 1903, S. 497 — 682 mit 9 Taf. I genannt werden, auf
botanischem Gel:iicte außer dem Straßburger'schen Buche
A. Zimmermann, Die Morphologie und Physiologie des
pflanzlichen Zellkernes, Jena l8q6. — Wahrscheinlich wird aber
M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1895, in jeder
Beziehung Ihren Anforderun_i,''en vollkommen genügen.
Dahl.
Herrn R. H. in Gotha. — Über die Genesis von Mooren
finden Sie Auskunft in Weber's Buch ,,Über die Vegetation
und Entstehung des Hochmoors von Augstumal im Memel-
delta" (Paul Parey, Berlin 1902) besonders p. 201 — 230.
Freilich handelt es sich in dem Buch um die monographische
Beschreibung eines bestimmten Moores, jedoch werden Sie in
demselben auch Generelles finden. VVenn ich Zeit finde,
werde ich in der Naturw. Wochenschr. einen bereits vorbe-
reiteten, illustrierten Artikel über die Entstehung der Moore
bringen. P.
Herrn M. L. in Lu.\emburg. — Ein sehr hübscher ,, Geo-
logischer Atlas" ist Aug. Robin's ,,La terre Geologie pitto-
resque" (Librairie Larousse in Paris). Der Preis ist uns un-
bekannt: er könnte 12 — 20 Frcs. kosten.
Herrn K. in E. — Das von Ihnen gemeinte Buch heißt
Schmeil u. Fitschen , Flora von Deutschland (Erwin Naegele
in Stuttgart. Preis geb. 3,50 Mk.).
Herrn W. S. in Prenzlau. — Frage: Wo wird das Auge
der Fische ausführlicher als in den Lehrbüchern von Claus,
Boas und Hcrtwig behandelt? — Eine etwas eingehendere
Darstellung des Fischauges finden Sie in J. Carriere, Die
Sehorgane der Tiere, vergleichend dargestellt, München 1885,
S. 61 — 6g. An ausfuhrlicheren Arbeiten ist besonders die-
jenige von E. Berger, Beiträge zur Anatomie des Seh-
organes der Fische: in Morphol. Jahrb. Bd. 8, 1883, S. 97
bis 168 zu nennen; dann auch A. Brauer, Über einige von
der Valdivia-Expedition gesammelte Tiefseefische und ihre
Augen in: Sitzungsber. d. Ges. z. Beförd. d. ges. Naturw. in
Marburg, Jahrg. igoi, S. II5 — 130. Über Spezielle Funk-
tionen handeln ferner Harman N. Bishop, The palpebral
and oculomotor apparatus in fishes in: Journ. of Anat. and
Phys. London, vol. 34, 1899, p. I— 40; T. Beer, Die Ak-
kommodation des Fischauges in: Pflüger's Arch. f. d. ges.
Physiologie Bd. 58, 1894, S. 523 — 650 und G. A b e 1 s d orf f ,
Über Sehpurpur und Augenhintergrund bei den Fischen in:
Arch. f. Anat. u. Physiol., Physiologische Abt. Jalirg. 1S96,
S. 345—47. Dahl.
Herrn Dr. E. in Wels. — Als physikalisches Lehrbuch
für Knaben im .Alter von 14 — 17 Jahren empfehlen wir Ihnen
Weiler's Physikbuch (5 Bändchen zusammen für I2,20 Mk.,
Eßlingen, Schreiber) oder desselben Verf. physikalisches Ex-
perimentierbuch (3 Mk., derselbe Verlag). Recht geeignet Ist
auch der zweite Band des Buches der Erfindungen (Leipzig,
O. Spamer).
Herrn G. D. in Dresden. — Frage i : Welche Arten
der Gattung Lumbricus leben in Deutschland? — Nach
W. Michaelsen (Oligochaeta , [Das Tierreich, Lief. loj,
Berlin 1900, S. 471 (T.) kommen in Deutschland folgende
19 Arten von Regenwürmern {Lumbricus im älteren Sinne)
vor: Eiseniella tetraedra (Sav.) [Alliirits /.J , Eisenia
foetida (Sav.) [Alhlobof>/wra f.], £. v e n i i a (Rosa) [A.s:ilinili:-
ciinda Iwrttnsis], E. rosea (Sav.) \A. mucosa], Helodrilns
{Allolobo phora) caliginosus (Sav.) \A. trapezo':dis\ //.
{A.) longus (Ude), H. (A.) limicola (Michaelsen), H. (.■/.)
chlor oticus (Sav.), H.{Dendr obaeua] >■ keitani (Bretscher),
H. (D.) rubidiis (Sav.), [A. subrtdnciinda tyfica], IL (D.)
octaidriis (Sav.) \A. boeckii^, H. [^Helodrilns) oculnlus
Hoffmstr. [A. htrmanni\, H. (Bimasttts) eiseni (Levins.)
[Lumbricus e.], H. (ß.) coii s i r i c/tis (Rosa) \_Allolobophora
snlirubicuiida nrborea -)- coiistricla], Octolasium cyaneum
(Sav.), 0. lacieum (Orley) \Allolobophora pro/ugii], Lumbri-
cus rubellus Hoffmstr., L. castanetts (Sav.), [L. pur-
pur eus\ L. tcrrestris Z. , Müll. [Z. herculeus\ —
Gattungsnamen sind hier mit großen Anfangsbuchstaben, Art-
namen mit kleinen Anfangsbuchstaben gegeben, wie dies in
neuerer Zeit immer mehr üblich wird. Die Namen von Unter-
gattungen sind in runder Klammer eingefügt. Die Autoren-
namen sind nicht kursiv gedruckt; sie sind eingeklammert,
wenn der Autor den Arlnamen mit einem andern Gattungs-
namen verband. Synonyme sind mit eckiger Klammer ver-
sehen.
Frage 2 : Gibt es eine neuere Monographie der deutschen
Regenwürmer oder wo finden dieselben eingehende Berück-
sichtigung? — In dem oben genannten Werke von W.
M i c h a e 1 s e n finden Sic ausführliche Beschreibungen, Literatur-
angaben und Bestimmungstabellen aller bis zum Jahre 1900
l>eschriebenen Regenwürmer der ganzen Erde. Eine kurze
Übersicht der norddeutschen Arten mit Pestimmungstabelle
hat derselbe Autor in dem Jahrbuch der Hamburgischen
wissensch. Anstalten Bd. 7, 1890, S. I — 19 gegeben. In die-
ser Übersicht fehlen von deutschen Arten nur zwei. In dem
von mir hier oben gegebenen Verzeichnis sind die in jener
Bestimmungstabelle angewendeten damaligen Benennungen, so-
weit dieselben von den jetzigen abweichen , in eckiger Klam-
mer angefügt. Dahl.
Inhalt: Dr. Hans Stille: Die geologischen Linien im Landschaftsbilde Mitteldeutschlands. — Kleinere Mitteilungen:
Henry B. Bigelow: Neue experimentelle Untersuchungen über den Gehörsinn der Fische. — W. W o 1 1 e r s t o r f f :
Experimenteller Nachweis für die Bastardnatur des Triton blasii. — M. Rosenthal: Über die Ausbildung der Jahres-
ringe an der Grenze des Baumwuchses in den Alpen. — II. Ebcrt: Über die Ursache des normalen atmosphärischen
Potcntialgefälles und der negativen Erdladung. — S. P. Langley: Über eine Veränderung der Intensität der Sonnen-
strahlung. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Karl Egli: Über die Unfälle beim
chemischen Arbeiten. — Karl Schirmeisen: Die Entstehungszeit der germanischen Göttergestalten. — Karsten
und Schenk: Vegetationsbilder. R. v. We tts t ei n: Vegetationsbilder aus Südbrasilien. — Prof. Dr. B.Schwalbe:
Grundriß der Astronomie. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 23. Oktober 1904. | Nr. 56.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
I Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Seiches oder stehende Seespiegelschwankungen.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. W. Halbfafs-Neuhaldensleben.
Seen und Meeresteile, die fast von allen Seiten üblich geworden ist und ei"e gewisse internatiotiale
von Land eingeschlossen sind und mit dem offenen Prägung bekommen hat. Welches smd die ge
Meere nur durch eine relativ schmale Verbindung meinschaftlichen Erschemungsformen de ^e'ches
kot^imunkieren, stehen unter dem Einfluß von an den verschiedenen Seen und eingeschlossenen
Srewegunge^.welcheuntergünstigenUmständen Meeresteilen, nach welchen physikalischen Cxe-
imstande sind, stehende Schwingungen des See-
niveaus auszulösen, welche im weiten Weltmeer
nicht auftreten können, weil die Reflexionswände,
welche die entstandenen Bewegungen der Wasser-
oberfläche zurückwerfen und dadurch diese erst
zu stehenden, d. h. periodischen machen, zu weit von-
einander entfernt sind und weil sie außerdem durch
>) Vgl. Forel, Le Leman, tome II, p. 4° ff- i sein Gewährs-
mann ist Fatio de DuiUier , Fortifikationsingenieur in Genf,
welcher in seinem Werke: Remarques sur l'histoire naturelle
du lac de Geneve in Spon, Histoire de Geneve , tome II,
p. 463, Geneve 1 730 diesen Ausdruck zuerst erwähnt. In Norwegen
werden diese Oscillationen „tloing" genannt (vgl. Holmsen,
Seiches i norske indsi0er in Arch. for Math, og Natur videnskab,
einander entternt Sina una wen .le <iui.c.uc.M .ur.. ■^^-^-■^"'^":^' "^^d n den oberitalienischen Seen
die viel stärkeren Meeresströmungen gestört und Knst^-nia ^'^^brindll^Lo studio delle sesse nei laghi Italiani,
vernichtet werden. Die Anwohner aller größeren 'j^.^ beogr. Ital. Vlll, 10, am Bolsenasee in Mittehtalien
Binnenseen, namentlich diejenigen, die durch ihren trenfiare = ansare d. h. schwer atmen; ob_ der Ausdruck
Beruf, z. B. durch die Fischerei, mit dem Wasser ' -'•"••
in beständiger Berührung sind, kennen dieses regel-
mäßige Auf- und Abschwellen des Wassers am
Ufer recht gut und haben für diese Naturerschei-
nung meist einen besonderen Namen im Gebrauch.
Da sie am Genfersee zuerst und am ausführlichsten
beobachtet und studiert worden ist, so ist es ganz
natürlich, daß die dort üblicheBezeichnung„Seiches"_i)
in der wissenschaftlichen Literatur ganz allgemein
Laufen", den der um die Erforschung des Bodensees hoch-
verdiente Eberhard Graf Zeppelin für den deutschen Sprach-
bereich eingeführt wissen möchte (Geogr. Zeitschr. Vll, S. 104),
auf diese Erscheinung wirklich paßt, möchte ich noch dahin-
stellen; jedenfalls schließe ich mich ganz Prof. Günther in
München an, welcher (ibid. IX, 279) dafür plädiert, daß der
Name Seiche, welcher nun einmal in die wissenschaftliche
Literatur aller Völker Eingang gefunden hat, für stehende
Schwingungen der in Rede stehenden Art ein für allemal bei-
behalten werden sollte, so berechtigt auch der Versuch ge-
wesen ist, einen rein deutschen Ausdruck dafür zu finden.
882
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
setzen erfolgen sie und welches sind die wahr-
scheinlichsten Ursachen, welche sie entstehen und
fortbestehen lassen ? ')
Das Charakteristische der Seiches besteht zu-
nächst in einem periodisch wiederkehrenden An-
schwellen und Zurücktreten des Wassers an den
Ufern eines Sees, dergestalt, daß das Wasser an
dem einen Ende des Sees steigt, während es gleich-
zeitig am anderen Ende fällt, in der Mitte aber
eine tote Linie sich befindet, d. h. ein Schwingungs-
knoten, auf welchem die Höhe des Wasserstandes
nicht wechselt. Diese Bewegung der gesamten
Oberfläche kann man bei ruhigem Wetter schon
ganz deutlich erkennen, wenn man darauf achtet,
ob gewisse am Ufer eines Sees gelegene Steine
dauernd vom Wasser bedeckt oder frei bleiben,
oder ob sie von Zeit zu Zeit in regelmäßigen
Zwischenräumen im Wasser verschwinden und
wieder daraus hervorragen. Die Differenz zwischen
dem höchsten und dem darauf folgenden tiefsten
Wasserstand, die Amplitude der Schwingungen,
pflegt nur selten und eine beschränkte Zeit lang
eine konstante Größe zu besitzen, meist ist sie zu
Beginn einer Schwingungsreihe am größten und
flaut allmählich mehr und mehr ab, so z. B. am
Genfersee ; am Madüsee dagegen kommt der Fall
häufiger vor, daß die Amplitude im Laufe einer
Schwingungsreihe sehr bedeutenden Veränderungen
unterliegt, in beiden Fällen aber ist die Dauer
einer Seiche nicht von ihrer Amplitude abhängig;
entsprechend der Pendelbewegung folgen die Seiches
dem Gesetz des Synchronismus der Schwingungen.-)
') Die ersten Beobachtungen der Seiches gehen historisch
sehr weit zurücli. Am Gardasce wurden sie schon im lahre
1204 beobachtet und im 16. Jahrhundert häufig erwähnt, im
Bodensee am 23. Febr. J549 durch Christoph Schulthaiß von
Konstanz, schon vorher am Genfersee 1495 durch Rolewink.
Die ersten Erklärungsversuche stammen vom Genfer Professor
J. Jallabat, -Seiches ou flux et reflux du lac de Geneve in der
Hist. de l'acad. roy. des scicnces pour 1742 p. 26. Paris
1745; die ersten systematisch durch eine längere Zeit hindurch
fortgesetzten Beobachtungen durch Vaucher in Genf 1802/03
cf. Mem. de la soc. de phys. et d'hist. nat. de Geneve tome
VI| p- 37. Forel, dem wir die ausführlichste und zugleich
klassische Darstellung der .Seiches in seinem ,,Le Leman" tome
J'i P' 39 — 213 und in seinem Handbuch der Seenkunde,
Stuttgart 1901, p. 72 f(., verdanken, begann seine denkwürdigen
Untersuchungen im Hafen von Morges im Jahre 1869. Im
,, Leman" tmden sich auch historische und literarische Nachweise
bis zum Jahre 1894, weitere Literatur gibt S. Günther in
seinem Handbuch der Geophysik, 2. .\ufl. 1S99, Bd. II, p. 456!^.
Einen knappen Abriß von dem Stande unserer Kenntnis von
den Seiches bis zum Jahre 1S99 gaben Forel und Sarasin in
ihrem Bericht ,,Les oscillations des lacs" auf dem Internat.
Physiker-Kongreß, Paris 1900, eine kurze Geschichte der-
selben Sarasin gelegentlich der Eröffnung der 8v Sitzung der
Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft am 8. Sept.
1902 zu Genf. Die neueste Literatur habe ich in meiner
Arbeit über die stehenden Seespicgelschwankungen im Madüsee
(Zeitschr. für Gewässerkunde Bd. V, Heft I und Bd. VI, Heft 2j
teilweist: nachgetnagen. — Vgl, auch Nat. \Vochcnschr. N. F.
Bd. I, Seite 127.
^) Die einzige bemerkenswerte Ausnahme scheint am
Eriesee in Nordamerika vorzukommen. Nach den Mitteilungen
von A. J. Henry, Wind vclocity and tluctuations of water
Icvel on lake Erie, Washington, Weather P.ur. 1902, beträgt
dort die mittlere Zeitdauer von Seiches großer Amplitude 16,
bei solchen mit kleiner nur 14 Stunden. Ich habe in meinem
Referat P. M. 1903 N. 519 die Vermutung ausgesprochen,
Die charakteristische Eigenschaft der Seiches
und die periodisch wiederkehrende Dauer der-
selben besteht in einer beinahe vollkommenen Un-
abhängigkeit von meteorologischen Erscheinungen.
Mag der See so glatt wie ein Spiegel daliegen
oder schwere Stürme seine Oberfläche durch-
furchen, mag der Barometerstand tief oder hoch
sein, mögen die Winde aus dem westlichen oder
östlichen oder irgendeinem anderen Quadranten
wehen, mag Regen oder Sonnenschein sein, die
Bewegung als solche wird dadurch nicht alteriert,
die Periodendauer weder verkürzt noch verlängert
und nur die Bewegungsform kann Änderungen er-
leiden , sofern die Art der Schwingungen , wie
auch die Größe der Amplitude je nach den Witte-
rungsverhältnissen Änderungen unterliegt. An-
haltend hoher Barometerstand, heitere Witterung,
Windstille bewirken eine Verminderung der Ampli-
tude, niedriger Barometerstand, stürmische Witte-
rung eine Vergrößerung; ein Wechsel der atmo-
sphärischen Gleichgewichtslage löst häufig eine
neue Schwingungsform von anderer, wenn auch
in sich konstanter Schwingungsdauer aus und hierin
liegt das dritte Ciiarakteristikum der Seiches.
Wie nämlich beispielsweise durch stärkeres
Anblasen einer Flöte außer dem Grundton noch
die Oktave, ja auch der dritte Oberton, durch
geeignetes Zupfen und Arretieren einer Saite noch
höiiere Obertöne hervorgebracht werden können,
so werden nicht selten Seiches-Schwingungen von
bestimmter Periodendauer abgelöst durch solche
von nahezu halb so kleiner, ein drittelmal so
kleiner usw. Schwingungsdauer, und noch häufiger
tritt der Fall ein, daß neben der Hauptschwingung
gleichzeitig mit ihr noch Schwingungen höherer
Ordnung, d. h. solche kleinerer Periodendauer sicht-
bar werden in vollkommener Analogie mit den
Schwingungserscheinungen einer gezupften Saite.
Die vierte charakteristische Eigenschaft der
Seiches haben wir wohl darin zu suchen, daß sie
den See durchaus nicht einseitig nach irgendeiner
bestimmten Richtung durchkreuzen, sondern wahr-
scheinlich nach sehr vielen Seiten, mindestens aber
nach 2 Richtungen. Forel unterscheidet 2 Haupt-
arten von Seiches: i. die Längsschwankungen
(seiches longitudinales), welche ihre Pendel-
bewegung in der Richtung der Längsachse des
Sees vollziehen ; 2. die Querschwankungen (seiches
transversales), welche sich in der Richtung
der größten Breite des Sees bewegen, ohne aber,
wie schon gesagt, die Möglichkeit verschieden-
artiger Schwankungen damit erschöpfen zu wollen.
Bei jeder dieser Hauptarten gibt es mehrere zu-
sammengehörige Typen, nämlich i. Schwanktingen
erster Ordnung oder einknötige Schwankungen
(seiches u n i n o d a 1 e s) mit einem Schwingungs-
knoten, der meist ungefähr in die Mitte des See-
daß die Wirkungen von Oberschwingungen dabei eine Rolle
spielen. Andererseits ist es nicht unwahrscheinlich , daß die
Schwankungen des Wasserstandes im Eriesee keine reinen Seiches
sind, sondern mit Ebbe u. Fluterscheinungen im Zusammenhang
stehen.
N. F. III. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
883
beckens fällt (s. o.) ; 2. Schwankungen zweiter Ord-
nung oder zweiknötige Schwanknungen (seich es
binodales) mit zwei Schwingungsknoten und
drei Schwingungsbäuchen. Das Wasser steigt
gleichzeitig an beiden Enden des Sees, während
es in der Mitte fällt und umgekehrt. Zwischen
diesen drei Bäuchen befinden sich zwei Schwui-
gungsknoten, an denen der Wasserstand unver-
ändertbleibt; 3. gemischte Schwankungen (seich es
dichrotes), ein Ineinandergreifen der Schwan-
kungen erster und zweiter Ordnung, die gleich-
zeitig vorhanden sind. Ihren Namen tragen sie
deshalb, weil auf den Kurven des Limnographen
Doppelgipfel erscheinen, die den dichrotischen
Kurven der Ausschläge bei gewissen Herzkrank-
heiten ähnlich sehen. Die gemischten Schwin-
gungen, welche durch einen Phasenunterschied in
den^beiden Schwingungen, aus denen sie zusammen-
gesetzt sind, entstehen, geben je nach dem Ort,
wo man die Erscheinung beobachtet, Kurven von
sehr verschiedenem Verlauf und sind namentlich
an den Enden des Sees meist ziemlich kom-
pliziert. Es sind außer dieser Schwingungsform noch
solche höherer Ordnung mit mehr als zwei Schwin-
gungsknoten nachgewiesen, sogenannte pluri-
nodale Schwankungen, sie treten aber ziemlich
selten und recht unregelmäßig auf, ihre Beobachtung
und Messung stößt auf nicht unbedeutende Schwierig-
keiten, wir können sie hier folglich übergehen.
Ein bestimmtes Beispiel mag dies Schema
illustrieren, ich wähle dazu die Seiches des Genfer-
sees, weil sie am genauesten und am längsten
untersucht worden sind.
Forel hat konstatiert, daß am Genfersee eine
stehende Schwankung des Seespiegels in der Rich-
tung seiner größten Längsachse existiert, welche
eine mittlere Periodendauer von rund 73 Minuten
besitzt, d. h. innerhalb 73 Minuten hebt sich und
senkt sich einmal der Spiegel des Sees am Ost-
Westende des Sees. Die Amplitude der Schwan-
kung erreichte am 3. Oktober 1841 den enormen
Betrag von 1,87 m, der, soweit mir die Literatur
über diesen Gegenstand bekannt geworden ist, wohl
nur von Seiches am Eriesee übertroffen, dagegen
am Genfersee selbst einige Male beinahe erreicht
wurde. Seit Aufstellung von selbstregistrierenden
Limnographen (s. u.) sind allerdings keine Schwan-
kungen beobachtet worden, welche in Genf 63,
in Morges 21 cm überschritten hätten, meist be-
tragen sie in Genf einige Dezimeter, nicht selten
aber auch nur wenige Zentimeter. Nur selten sind
sie so gering, daß sie kaum noch wahrgenommen
werden und der Limnograph eine scheinbar gerade
Linie zeichnet, statt einer periodisch sich hebenden
und fallenden Kurve. Wie in jedem See ist der
Betrag der Schwankung erheblich größer, wenn
das eine Ende des Sees schmäler und zugleich
weniger tief ist; das trifft im Genfersee bei Genf
zu und daher erreicht sie hier so beträchtliche
Werte, welche, abgesehen vielleicht vom Ladoga-
see in Rußland, in Europa unerreicht dastehen.
Es fließt ohne weiteres aus der oben mitgeteilten
Erklärung der uninodalen Seiches, daß ihre Ampli-
tude in Morges, das ungefähr in der Mitte des
Sees liegt, nur sehr klein sein kann, da die Be-
wegung einer Hauptschwankung nach der Mitte
zu nahezu Null ist. Die D a u e r dieser Schwingungs-
form ist eine sehr ungleiche; die längste am Genfer-
see beobachtete Schwingungsreihe dauerte vom
26. März 1891 9 Uhr abends bis zum 3. April
2 Uhr abends, also 7^.3 Tage, und zählte 145 rein
uninodale Schwingungen von 23 bis 7 cm Höhe.
Würde die Reihe nicht durch einige dichrote
Schwingungen unterbrochen sein, so würde sie
noch 2'/.. Tage gedauert und im ganzen 182
Schwingungen umfaßt haben.
Diese Konstanz einer gewissen Schwingungs-
form einer Wassermenge, die beim Genfersee rund
90 Kubikkilometer beträgt, währenddem die Ober-
fläche durch zahlreiche Dampfer und sonstige
Schifi'e durchkreuzt wird, der Wind sich nach
allen Richtungen der Windrose gedreht, abgeflaut
und sich verstärkt hat. Regen und Sonnenschein mit-
einander abgewechselt haben oder wenigstens haben
können, ist sicherlich bewunderungswert und wohl
geeignet die Aufmerksamkeit aller Naturforscher
auf das Phänomen der Seiches zu lenken.
Da nach der Theorie (s. u.) die Dauer einer
Seiche im direkten Verhältnis zur Länge des Sees,
im indirekten zu der Quadratwurzel aus der mitt-
leren Tiefe steht, ist sie in kurzen oder verhältnis-
mäßig tiefen Seen kleiner als beim Genfersee, es
kann daher bei solchen Seen leichter zu einer noch
größeren Zahl ohne Unterbrechung aufeinander
folgender Seiches kommen, als beim Genfersee.
Dies ist z. B. beim Madüsee in Pommern und beim
Gmundner See in Oberösterreich der Fall gewesen.
Im ersteren konstatierte ich (Zeitschr. f. Gewässer-
kunde Bd. V, I, S. 30) vom 7. bis zum 12. Januar
1900 204 aufeinander folgende Längsschwingungen,
bei letzteren Schulz (Beiträge zur Kenntnis des
Gmundner Sees, Progr. des Gymn. Gmunden 1899,
S. 14) sogar eine Schwingungsreihe von 466 Schwan-
kungen, die am 21. Februar 1899 2 Uhr morgens
begann und ohne Untersuchung bis zum 24. Februar
9 Uhr abends, also beinahe 4 Tage dauerte, wäh-
rend die Dauer der kürzeren Schwingungsreihe
am Madüsee der größeren Dauer der einzelnen
Schwingung wegen über 5 Tage betrug, also mehr als
die Hälfte der Zeit beim Genfersee. Schwingungs-
reihen von 100 Schwingungen und mehr sind,
z. B. beim Madüsee, durchaus keine Seltenheit.
Neben dieser Hauptschwingung von 73 Minuten
Dauer, welche am Genfersee am häufigsten vor-
kommt, begegnen wir in ihm noch einer weiteren
Längsschwankung von 35 Minuten Dauer, welche
Forel, da diese Zeit nahezu die Hälfte der einen
Hauptschwingung beträgt, als binodal, oder erste
Oberschwingung jener auffaßt. Beim Genfersee
wie bei fast allen auf Seiches untersuchten Seen
treten diese Schwingungen rein verhältnismäßig
selten auf, sondern meist in Verbindung mit Haupt-
schwingungen in Form von dichroten Schwingungen.
Würden nun die Schwingungszeiten beider Schwan-
884
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
kungen sich überall annähernd wie 2 : i verhalten
wie beim Genfersee, so läge in der Tat kein Grund
vor, die Annahme Forel's über den Zusammen-
hang beider Schwingungen zu bezweifeln; ver-
gleicht man aber das Verhältnis der Schwingungs-
dauer von Grund- und Oberschwingung in ver-
schiedenen Seen, so kommt man zu dem höchst
bemerkenswerten Resultat, daß dasselbe keines-
wegs 2 : I ist, wie es der Theorie nach sein müßte,
sondern daß es sehr großen Schwankungen unter-
liegt (s. Tabelle am Schluß). So verhalten sich
die Schwingungszeiten beider Schwingungen im
Genfersee und im Neuenburgersee wie 2,06 : i, da-
dagegen im Starnbergersee wie 1,58:1, während
also in den beiden ersten Seen die Schwingungs-
dauer der Binodalschwingung etwas weniger als
halb so groß wie die der Uninodalschwingung, liegt
beim Starnbergersee die Oberschwingung, musi-
kalisch gesprochen, zwischen den Intervallen der
Quinte (i : 1,5) und der Sexte (i : 1,67), steht also
in keinem einfachen, musikalisch reinen Intervallen-
verhältnis zur Hauptschwingung.
Woher rührt diese eigentümliche Inkongruenz ?
Offen gesagt, wir wissen es noch nicht genau.
Keineswegs spielt dabei die mittlere Tiefe eine
entscheidende Rolle, wie -Soret auf Grund einer
Diskussion der Merian'schen Formel (s. u.) an-
nimmt, so daß das Verhältnis beider Schwingungs-
formen kleiner wird, wenn die mittlere Tiefe des
Sees zunimmt; denn gerade bei den tiefsten Seen,
z. B. dem Genfersee, Gardasee, Bodensee, Zürcher-
see, ist das Verhältnis erheblich größer als bei dem
weit flacheren Starnbergersee und Madüsee. Es
geht aber weiter aus der Tabelle unzweifelhaft
hervor, daß überhaupt zwischen diesem Verhältnis
und der mittleren Tiefe keine übersehbaren Be-
ziehungen bestehen, denn bei dem Genfersee und
dem Plattensee ist das Verhältnis der Grund-
schwingung zur Oberschwingung das gleiche, ob-
wohl ersterer durchschnittlich 50 mal tiefer als
letzterer ist. —
Durch die Resultate der neuesten Seichesunter-
suchungen im Starnbergersee, dem Gardasee, dem
Madüsee und namentlich auch im Chiemsee sind
wir jedoch der wahrscheinlichen Ursache m. E.
unzweifelhaft auf die Spur gekommen : In Seen
von unregelmäßig verlaufendem Untergrund ist
die sogenannte Binodalschwingung nichts anderes
als Uninodalschwingung einer besonderen Abteilung
des Sees, die durch unterseeische Rücken von
einer anderen getrennt sind. So teilt eine unter
dem Seespiegel bei Unter-Zaismering querüber
laufende Bodenschwelle den Starnbergersee in zwei
ungleich lange Rinnen und „wir haben in der
Oberschwingung dieses Sees die Eigenschwingung
des durch diesen unterseeischen Rücken abge-
grenzten nördlichen Beckens vor uns" (Ebert, Peri-
odische Seespiegelschwankungen im .Starnberger-
see. S.-A. Sitzungsber. der math.-phys. Klasse der
kgl. bayr. Akad. der Wissenschaften, Bd. 30,1900,
Heft 3). Ähnlich erklären sich die Abweichungen,
die beim Gardasee, Neuenburger See und beim
Madüsee zum Vorschein kommen ; besonders deut-
lich aber wird die Sache beim Chiemsee, der ein
überaus verwickeltes Bodenrelief besitzt. Nach
den ausgezeichneten Untersuchungen von Dr. Endrös
(Schwankungen am Chiemsee, Münchener In-
auguraldissertation, 1903) unterliegt es wohl kaum
noch einem Zweifel, daß die binodale Seiche
Aiterbach-StockChieming von 28,9 Minuten Peri-
odendauer (Verhältnis zur Grundschwingung wie
I : 1,49) in Wirklichkeit die uninodale Schwingung
Stock-Chieming darstellt und den Schwingungs-
zustand dem Aiterbachwinkel nur aufzuzwingen
scheint. Nach dieser Richtung hin bedeuten also
die neuesten Seichesforschungen einen erheblichen
Fortschritt gegen die lediglich aus den Beobach-
tungen am Genfersee gezogenen Folgerungen, und
die Forel'sche Darstellung bedarf an diesem Punkte
einer Berichtigung. Zu den Längsseichen gesellen
sich im Genfersee noch zwei Querseichen von
IG Minuten und $ Minuten Dauer, die besonders
deutlich von Morges beobachtet wurden, weil hier
der See annähernd seine größte Breite erreicht.
Unter den übrigen Seen, in denen Querseiches be-
obachtet wurden, zeichnet sich besonders der Vier-
waldstättersee aus, dessen Lage für die Bildung
dieser Seiches — in der Richtung Küßnach-Stans-
stad — sozusagen prädisponiert ist; auch der
Plattensee zeigt sehr deutlich ausgeprägte Quer-
seiches sowohl des oberen Beckens zwischen Kesz-
thely und Tihany wie des unteren Beckens zwischen
Kenese und Tihany. Mit Längs- und Querseiches
ist aber die Bewegungsmögliclikeit des gesamten
Wasserbeckens noch keineswegs erschöpft; schon
am Genfersee fand Forel Spuren von Schwan-
kungen, deren Periodendauer sie weder zu den
einen noch zu den anderen Seiches rechnen ließ,
und die Untersuchungen im Vierwaldstättersee,
Gardasee und namentlich im Chiemsee haben diese
Beobachtungen nicht nur in vollem Maße bestätigt,
sondern auch erweitert; wir können aber an dieser
Stelle nicht weiter darauf eingehen.
Von den stehenden Schwankungen des Wassers
in begrenzten Meeresteilen ist die des Euripus
zwischen Euböa und dem griechischen Festlande
die bekannteste und bestuntersuchte.*) Während
die Bewegungen des Meeres im nördlichen Hafen
von Chalkis sich als Ebbe- und Fluterscheinungen
unschwer erklären lassen, dürften die periodischen
Schwingungen im südlichen Hafen von Chalkis
sich höchstwahrscheinlich auf Seiches zurückführen
lassen, da die beobachteten Schwingungszeiten
ganz gut mit der theoretisch berechneten überein-
stimmen , die aus der Seicheformel (s. u.) fließt.
Andere Schwankungen dieser Art kamen im Meer
bei der Insel Malta, im Hafen von Algier und von
Bristol vor. Auch die von Fiumaner Mareo-
graphen aufgezeichneten Figuren deuten auf eine
') Krümmel, Zum Problem des Euripus. Petermann, Miit.
1888. Miaulis, Fleot irj^ Ttn^^ioooiag ror 'Errt^oi', Athen 18S2.
N. F. ra. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
885
Querseiche im Adriatischen Meer zwischen Ancona
und den dalmatinischen Inseln hin.^)
Es versteht sich, daß genauere Größenmessun-
gen der Seiches nur mittels besonderer Präzisions-
instrumente gemacht werden können. Zwar kann
die bloße Existenz und Dauer derselben schon
recht genau mit dem Forel'schen Plemyrameter
gemessen werden, einem Apparat, welcher in der
Hauptsache aus einem in den Untergrund einge-
lassenen und mit dem See durch eine als Syphon
wirkende Röhre verbundenen Becken besteht, aber
erst nachdem E. Sarasin in Genf ein selbsttätig
registrierendes sehr kompendiös gebautes Instru-
ment in seinem Hmnimetre enregistreur trans-
portable schuf, das er zuerst in den Arch. des sc.
phys. et nat. 3"'= per. t. II, N. 12 beschrieb,
hat das Studium der Seiches einen erneuten Auf-
schwung genommen und sich von der Schweiz
aus auf Österreich - Ungarn , Italien , Frankreich,
Deutschland, England, Skandinavien, Rußland aus-
gedehnt und auch in Nordamerika und Japan
festen Fuß gefaßt.
Eine genauere Beschreibung dieses Apparates,
wie er sich allmählich aus seiner ersten Form im
Jahre 1879 (s. o.) herausgebildet hat, kann ich
wohl an dieser Stelle unterlassen, da sich eine
solche im oben erwähnten Bericht im ersten
Bande dieser Zeitschrift (S. 127) findet. Es soll hier
nur kurz angedeutet werden, daß der Apparat im
wesentlichen aus zwei Teilen besteht, dem eigent-
lichen Pegelapparat mit Schwimmer, Gestänge und
Schutzzylinder und dem Registrierapparat. Die
Vertikaibewegungen des Seespiegels, welcher der
aus Zinkblech verfertigte Schwimmer mitmacht,
werden durch eine einfache maschinelle Vorrich-
tung in Horizontalbewegung übertragen. Durch
eine geschickte Anordnung des Gestänges wird
die Reibung dabei auf ein Minimum reduziert, so
daß, wenn der Seespiegel auf- und niederschwankt,
der Schreibstift genau um dieselben Unterschiede
horizontal hin- und hergeführt wird. Ein zweiter
Schreibstift zeichnet eine gerade den mittleren
Pegelstand markierende Linie ab, auf welcher ver-
mittels eines Uhrwerks, das auch einen Papier-
streifen von 25 cm Breite in eine gleichmäßige
Bewegung bringt, in gewissen Zeitintervallen Zeit-
marken selbsttätig bezeichnet werden. Genaues
Gangwerk der Uhr vorausgesetzt, werden also
durch diesen Stift der zeitliche, durch den zuerst
genannten Stift der räumliche Verlauf der See-
spiegelschwankungen einander entsprechend exakt
fixiert. Das sich abrollende Papier fällt durch
eine Spalte in ein unterhalb des Tischchens, auf
welchem der Registrierapparat steht, angebrachtes
Kästchen, aus dem es von Zeit zu Zeit heraus-
genommen werden muß.
Da der Preis des Instrumentes naturgemäß
ziemlich hoch ist und die Aufstellung desselben
häufig mit nicht geringen Schwierigkeiten ver-
knüpft ist, so verbietet sich die Aufstellung von
mehr als 2 Instrumenten gleichzeitig an entgegen-
gesetzten Enden des Sees von selbst. Um aber
trotzdem den gleichzeitigen Schwingungszustand
des Sees an möglichst vielen Punkten zu erfahren,
empfiehlt sich die Aufstellung einfacherer Regi-
strierapparate an anderen Punkten des Seeufers, wie
sie z. B. Endrös a. a. O. S. 7, Nakamura und
Yoshida „Etüde des seiches au Japon" in den
Arch. des sc. phys. et nat. 4'"= per. t. XV, N. 5,
S. 559 und Bruyant „Les seiches du lac Pavin" in
der Revue d'Auvergne (März — Aprilheft 1903) be-
schrieben haben. Wesentliche Verbesserungen
verdankt der Sarasin'sche Apparat Schnitzlein,
dem Erforscher der Seiches des Starnbergersees,
siehe meine Notiz in Petermann, Mitt. 1904,
Heft V.
Seitdem Forel durch Beobachtungen in der
Bucht von Morges im Genfersee und durch Studien
in einer künstlichen Wanne die Periodizität der
Seiches unzweifelhaft festgestellt hatte, war es
möglich geworden, eine Formel, welche M e r i a n ')
für die Periodendauer stehender Pendelschwingun-
gen abgeleitet hatte, welche Wassermassen aus-
führen, wenn sie in der einen Längsrichtung eines
flachen Gefäßes in Bewegung gesetzt werden, näm-
i;^.]-, i^^ : ^ WO L die Länge des Gefäßes, Ii
seine Tiefe, g die Beschleunigung durch die Erd-
schwere und t die Dauer einer einfachen Schwin-
gung bedeutet, auf die Seiches direkt anzuwenden,
so daß, wenn man nach deutschem Sprachgebrauch
eine Periodendauer diejenige Zeit nennt, welche
die Bewegung braucht, um einmal hin- und zurück-
2L .
zuschwingen, t = , , ist.
-^gh
Man kann mit Forel (Le Leman II, p. 78) das
Seichesgesetz auch folgendermaßen sehr einfach
formulieren; Die halbe Schwingungsdauer einer
Seiche ist diejenige Zeit, welche erforderlich ist
um eine Strecke von der Länge des Sees zu
durchlaufen mit einer Geschwindigkeit, die ein
Körper erlangt, wenn er von einer Höhe herabfällt,
welche gleich der halben mittleren Tiefe des Sees
ist. Seen sind aber keine Gefäße von überall
gleicher, sondern vielfach wechselnder Tiefe und
daher läßt sich praktisch mit dieser F'ormel nicht
viel machen, vielmehr muß man auf eine Formel
zurückgreifen , welche P. du Boys") aus dem
i' ds , ■• 1- 1 j-
Integral / = I ^^ abgeleitet hatte, namlich die
mtegrai j g
2 /"
Formel t = -j== ^ ,t — , j-ir
y g «=.1 y«"-iH- ^ ""
Hierin be-
1) Stahlberger, Ebbe und Flut in der Rliede von Fiume.
Budapest 1874.
') Über die Bewegung tropfbarer Flüssigkeiten in Ge-
fäßen. Basel 1828.
2) Essai theorique sur les seiches. Arch. de Geneve S^e
per. XXV, 1891, S. 628.
Naturwissenschaft liehe Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
deutet n die Zahl der Stücke des Seeprofils, in
dem die Seiche schwingt, und innerhalb welcher
der Boden als vollkommen eben betrachtet wer-
den kann, Iin—\ die Tiefe des Anfangs des Stückes,
/(■„ die Tiefe seines Endes, /„ die jedesmalige Länge
des Stückes.
Die Benutzung auch dieser Formel unterliegt
nicht geringen Bedenken, denn erstens ist sie nur
dann imstande, wirklich brauchbare Werte zu
liefern, wenn die Tiefenverhältnisse des Sees sehr
genau bekannt sind, oder die Tiefen im Profil so
wenig voneinander verschieden sind, wie z. B. im
Plattensee, wo die Tiefen von einem Stück des
Profils zum nächsten nur um kleine Bruchteile eines
Meters schwanken, und zweitens bleibt es, wie
auch Ebert in seiner Abhandlung mit Recht
hervorhebt, gänzlich unbekannt, ob die Bewegung
der Wasserteilchen, welche die Seiches hervor-
ruft, gerade in demjenigen Profil sich vollzieht,
das man der Rechnung zugrunde gelegt hat.
Jedenfalls muß man sich schwer davor hüten,
in die Merian'sche Formel für li etwa die aus den
Lotungen durch Berechnung gefundene mittlere
Tiefe des gesamten Sees einzusetzen, vielmehr
drückt // nur die mittlere Tiefe desjenigen See-
profils aus, in dem tatsächlich die Seiches hin-
und herschwingen.')
Setzt man die aus der Beobachtung erhaltene
Schwingungszeit t in die Pendelformel /
1/
/
ein, so kann man daraus die Länge eines Faden-
pendels von derselben Schwingungsdauer be-
rechnen. Beim Starnbergersee würde ein Faden-
pendel von 559 km, das also 28 mal so lang ist
als der See, über dem See aufgehängt, ebenso
langsam schwingen wie die in ihm enthaltene
Wassermasse; beim Plattensee würde wegen der
langen Schwingungsdauer der dortigen Seiches
ein isochromes Pendel 4 mal so lang sein müssen,
wie die Entfernung vom Mond bis zur Erde be-
trägt !
Eine sehr gute Bestätigung für die Überein-
stimmung der Seichesformel mit der Wirklichkeit
erhält man, wenn im Laufe einer längeren Unter-
suchung durch Steigen oder Fallen des Wasser-
standes die Größen / und h sich ändern; steigt
der Wasserspiegel, so wird / beim See mit
sehr flachen Ufern im Verhältnis eine weit größere
Ausdehnung erhalten als seine mittlere Tiefe zu-
nimmt, die Schwingungsdauer wird also eine
größere sein, bei Seen mit sehr steilen Ufern wird
das Gegenteil davon eintreten. Besonders lehr-
reich sind in dieser Beziehung die Seichesbeobach-
tungen, welche Endrös a. a. O. bei Eisbedeckung
des Chiemsees gemacht hat; infolge der Festigr-
') Beim Chiemsee, s. Endrös a. a. O. S. 48, ist die
Schwingungsachse der uninodalen Längsseiche Aiterbach —
Siidufer — Seelnuk nahezu ein Halblsreis, nur in den verhältnis-
mäßig wenigen Fällen, wo sich die Endpunkte der Seiches in
gerader Seelinie einander gegenüber befinden , w^ird die
Schwiogungsachse eine gerade Linie sein.
keit des Ufereises wurde die .Schwingungsachse
der Seiche nicht unerheblich verkürzt und dadurch
trat auch, der Theorie gemäß, eine Verkürzung
der Periodendauer ein ; es zeigte sich bei dieser
Gelegenheit, daß trotz vollständiger Eisbedeckung
der See noch die gleichen Schwankungen ausführte.
Über die Ursache der Seiches besteht heut-
zutage wohl kein Zweifel mehr, sie besteht in
plötzlichen lokalen Luftdruckänderungen sowohl
positiver wie negativer Natur, die sich an ver-
schiedenen Stellen des Sees verschieden geltend
machen. Bei größeren Seen, besonders wenn sie
sich vorwiegend nach einer Richtung hin erstrecken,
ist die Möglichkeit verschiedenen Luftdruckes auf
beiden Enden des Sees von vornherein wahrschein-
licher, die Intensität der Seiches also größer. Forel
hat gezeigt,') daß schon eine plötzliche Luftdruck-
schwankung von 6 mm, wie sie schon mehrfach
beobachtet worden ist, hinreicht, um eine Ampli-
tude von 1,95 m (s. o.) am Genfer Ende des
Genfersees zu erklären. Ein Sinken des Baro-
meters um 6 mm würde nämlich am Rande eines
Sees ein lokales Ansteigen des Wassers um 6-13,8
= 82 mm bewirken; hört die störende Einwirkung
mit dem Vorübergang der Depression auf, so sinkt
das Wasser zuerst auf sein Niveau zurück und
dann um gleichviel unter dasselbe, die Gesamt-
verschiebung beträgt also 163 mm. Durch Inter-
ferenz von uninodalen und binodalen Schwankungen
kann eine Verdoppelung der Höhe der einfachen
Seiche eintreten, das macht 326 mm als Amplitude.
Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß eine Welle
auf dem Wege von Chillon nach Genf infolge des
Zusammenrückens der Ufer ihre Höhe vervier-
fachen kann, an einzelnen Punkten des Ufers er-
reicht das Verhältnis der Schwankungen noch
größere Werte, so daß 6 mni Luftdruckänderung
recht gut eine Seiche von 6-326 mm ^ 1,96 m
hervorzubringen imstande sind. Es verdient her-
vorgehoben zu werden, daß Luftdruckänderungen
die Form der Schwingungen, ob uninodal, bi-
nodal etc., nur dann beeinflussen, wenn sie un-
vermittelt auftreten (bei sog. Gewitternasen). Auch
auf die Dauer der Schwingungsreihen scheinen
Schwankungen des Luftdruckes nur dann einen
Einfluß auszuüben, wenn letztere ruckweise erfolgen.
Die Amplituden der Schwingungen nehmen im
allgemeinen bei steigendem Luftdruck ab, bei
fallendem zu, bleibt der Luftdruck auf längere Zeit
konstant, so werden die Amplituden so gering,
daß sie mit bloßem Auge auf den Aufzeichnungen
des Limnographen nicht mehr sichtbar sind. Der
Wind allein veranlaßt als solcher keine Seiches,
wohl aber gibt sich seine Mitwirkung bei ihrer
Bildung unzweifelhaft insofern zu erkennen, als
stürmische Witterung auf die Größe und Regel-
mäßigkeit der Amplituden günstig einwirken,-)
') Archives des sc. phys. et nat. 1897, 4™^ ser. t. IV, p. 39;
C. R. de l'acad. des sciences. Paris 1897. N. 20.
^) Besonders deutlich war dies bei den Seiches im Eriesee
zu beobachten, cf. A. J. Henry, Wind velocity and fluctualions
of water level on lake Erie. Washington, Weather Bur. 1902.
N. F. m. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
887
dichrote Schwingungen meist bei flauem Winde
eintreten. Hört ein heftig wehender Wind plötz-
hch auf, so treten ebenso plötzHch ganz unregel-
mäßige oder plurinodale Schwingungen auf. Die
Dauer sowohl der einzelnen Schwingung wie emer
ganzen Schwingungsreihe scheint im allgememen
von der Stärke des Windes unabhängig zu sein.
Bei ganz groiäen Seen, z. B. dem Eriesee, können
Abweichungen in der Windrichtung an verschie-
denen Enden des Sees Einfluß auf die Bildung
der Seiches gewinnen.
Von anderen Ursachen weist schon Forel die
Mitwirkung lokaler Erdbeben entschieden zurück,
obwohl m. E. beim Gardasee ein solcher Zu-
sammenhang nicht ohne weiteres von der Hand
zu weisen ist, Endrös a. a. O. konnte einmal Platz-
regen auf die eine Hälfte des Chiemsees zur Er-
klärung einer größeren Denivellation heranziehen,
meines Wissens das einzige Mal, daß atmosphä-
rische Niederschläge mit der Bildung von Seiches
in Zusammenhang gebracht sind, umgekehrt hat
derselbe Autor den Einfluß der Seiches auf das
Grundwasser in nächster Nähe des Sees deutlich
nachweisen können. Fragen wir uns nun zum
Schluß, ob die Seiches zum See noch in einer
anderen Beziehung stehen, als daß sie ihn zu
einem äußerst empfindlichen Differentialbarometer
machen in allen Fällen, wo das Quecksilberbaro-
meter versagt, so dürfen wir die gewaltige Wir-
kung auf das organische Leben im See nicht gänz-
lich' mit Stillschweigen übergehen. An der Be-
wegung des Wassers infolge der Seiches nimmt
nicht nur die Oberfläche des Sees, sondern auch
seine ganze Wassermasse Anteil. In noch weit
intensiverem Maße als durch die Convectionsströme
bei Ausgleichung verschiedener Temperatur des
Wassers, da diese zu gewissen Jahreszeiten wegen
der gleichmäßigen Temperatur des Sees nicht
stattfinden, verhindern die Seiches ein Stagnieren
sowohl der Wasseroberfläche als auch der tieferen
Name des Sees ^^^^
Volumen
Mill. cbm
Dauer der Dauer d. ersten
Hauptschw. Oberschw.
in Minuten
Verhältnis
beider
Maximum der Amplitude
in cm
Bodensee
538
48440
55-8
28,1
1 : 0,50
11,5
_ Bolsenasee
114.5
8922
14,75
}
>
1
über 25
Brienzersee
29,8
5 170
9,8
:
f
Chiemsee
85
2 204
43,2
28,9
I ; 0,67
30
Eriesee 25 900
?
960
S40
?
) '
398
Gardasee
370
50 346
43
40
22,6
22
I :o,53
1:0,55
7
Genfersee
582
90 000
73
35,5
1 ; 0,48
197
Desgl. Quersciche , —
IG
5
1:0,5
Gmundnersec 25,65
2 303
11,7
3
>
23,1
Hakoresee ?
?
15,4
6,75
I : 0,44
Joux, lac de 9,52
160
12,4
}
)
Madiisee 36
726
35,6
20,3
I : 0,57
7
Neß, loch
5°
p
31,5
15,3
I : 0,49
9
Neuenburgersee
240
14170
^o
24,3
I : 0,49
II
OsensjOen
47
j
18 — 19
}
?
1,5
0ieren
)
?••
30
?
}
1 ,2
Pavin, lac
0,44
23
0,9
0,45
1 : 0,45
IG
Plattensee (Querseiche
der nordöstl. Hälfte)
591
1862
117
60
I :o,5i
25
2,8
Randsfjorden
136
)
24
5
Silfersee
4,16
i 143
4,7
?
>
Storsjöen i Rendalen
51.2
f
13—14
)
2,9
Starnbergersee
57
3034
25,0
15,8
I :o,59
5
Thunersee
48
6 500
'5
7,5
I ;■ 0,5
Trieg, loch
1 ?
?
9,5
?
)
1,4
Vierwaldstättersee
114
11 820
44,7
24,4
I :o,55
i 24
Desgl. Querseiche
—
—
18,26
9,27
I :o,5i
17,5
Walensee
23,27
2490
14,5
?
}
Zürchersee
88
3900
45,6
23,8
I : 0,52
i
888
Wassersäulen und reichern dadurch das Seewasser
mit Sauerstoff an, der letzten Quelle alles or-
ganischen Lebens im See.')
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
') Prof. Forel hält in seiner letzten Publikation über
Seiches (Ext. Bull. Soc. vaud. Sc. Nat. Vol. 40, 149 3. Febr.
N. F. in. Nr. 56
1904) an der Meinung fest, daß gewisse Schwingungen im
Bodensee, die sog. Binodalschwingungen im Gardasee, Starn-
bcrgersee und Chiemsee Schwingungen der Quinte, also in
der Hauptsache Unterschwingungen der Hauptschwingungen
seien. Ich kann ihm darin nicht beistimmen, bin vielmehr
der Ansicht, daß die sämtlichen angeführten Schwin<Tungen
sich allein durch die Beckenform der betr. Form erklären
lassen.
Kleinere Mitteilungen. •
Die Fliege Chlorops lineata F. ist, wie Pro-
fessor Paul Noel aus Rouen iin „Naturaliste"
vom 15. August 1904 berichtet, ein arger Getreide-
verwüster. Aus der Gattung Chlorops sind schon
seit langer Zeit einige Arten als böse Pflanzen-
schädlinge bekannt, so die gelbe Halmfliege, Chi.
taeniopus Meig., und besonders die Fritfliege, Chi.
(Oscinis) frit L. Die Spezies lineata war bisher
aber noch nicht als sicher schädlich nachgewiesen,
da ihre Lebensweise nur sehr unvollkommen be-
kannt war. In der Normandie fand man in den
letzten Jahren die jungen Getreidepflanzen vielfach
kurz über dem Boden abgebrochen und absterbend.
Man schrieb diese Verwüstung anfangs der Tätig-
keit des Saatschnellkäfers oder der Einwirkung der
Nachtfröste zu, bis Noel im Innern der Stoppeln
Larven und Puppen von Chlorops lineata fand.
Diese zu den Museiden gehörende Fliege ist 3 mm
lang, gelblich mit schwarzen Fühlern, einem drei-
eckigen schwarzen Fleck auf dem Scheitel und
fünf schwarzen Längsstreifen auf dem Thorax, die
Augen glänzen lebhaft grün, der gelbe Hinterleib
hat braune Querbänder und zwei braune Punkte
an der Basis, die Beine sind gelb, die Vordertarsen
schwarz, an den Mittel- und Hinterbeinen sind nur
die beiden letzten Fußglieder schwarz.
Nach der Paarung, welche Ende Mai oder An-
fang Juni stattfindet, legt das Weibchen ein Ei in
die Höhlung eines Blattes unterhalb der Ähre.
Etwa 14 Tage später schlüpft aus dem Ei eine
gelbe, fußlose Larve, welche an dem Halme empor-
klettert und unmittelbar unter der Ähre einen
kurzen Gang in den Halm nagt, in dem sie sich
spater verpuppt. Im September schlüpft die Fliege
aus, die mehrere Wochen lang lebt und auf das
nun ausgesäte Wintergetreide wieder Eier legt.
Die von den Larven dieser Brut besetzte Saat hat
nur die halbe Höhe der normalen Pflanzen, später
bleiben die Pflanzen grün, wenn die gesunden
schon gelb werden und reife Ähren tragen, die
kranken Ähren bleiben klein und tragen dünne,
unentwickelte Körner. In einigen Gegenden hat
man die Zahl der von den Fliegen verdorbenen
Ähren auf Vio der Ernte geschätzt, dazu kommt
der Schaden, der an der jungen Saat angerichtet
wird.
In den Jahren, in denen die Fliege besonders
schädlich auftritt, müssen die befallenen Pflanzen
ausgezogen und verbrannt werden, sowohl nach
der ersten wie nach der zweiten Eiablage. Die
kranke Saat ist an der gelben Färbung leicht zu
erkennen und die befallenen Getreidehalme im
Sommer daran, daß die Ähre schwach entwickelt
und durch breite Blätter eingehüllt ist. Das beste
Schutzmittel ist eine vernünftige Fruchtfolge, durch
welche den ausschlüpfenden Larven die Nahrung
entzogen wird. g^.
Die Übereinstimmung der Flora Europas
und Nordamerikas. — Daß die Flora von Kanada
und Nordamerika einerseits und diejenige von
Kanada und Ostsibirien und Japan andererseits eine
unverkennbare Übereinstimmung zeigen, ist eine
allbekannte Tatsache. Wie A. T. Drummond
in Nature berichtet, sind mit Einschluß der Farne
und Schachtelhalme nicht weniger als 575 Spezies
höherer Gewächse der kanadischen und euro-
päischen Flora gemeinsam; und etwa 330 Arten
gehören sowohl dem Gebiete Ostasiens wie auch
Kanada an. Eine größere Anzahl von diesen
Pflanzen sind sogar allen drei Erdteilen gemein-
sam. Zu erklären ist diese Übereinstimmung nur
durch die Annahme von ehemals vorhanden ge-
wesenen Landverbindungen. Es erhebt sich aber
alsdann die Frage, welches der drei Gebiete ur-
sprünglich die gemeinsamen Florenelemente
beherbergt hat, und in welche Länder dann die
Einwanderung erfolgte. Asa Grey hat in dieser
Beziehung die Vermutung ausgesprochen, daß eine
Wanderung europäischer Gewächse quer durch
Asien hindurch nach Amerika stattgefunden habe.
Zu der entgegengesetzten Ansicht wurde Les-
quereux durch das Studium der Flora der Dakota-
gruppe geführt; er behauptet, die nordamerikanische
Flora sei nicht das Produkt einer Einwanderung,
sie sei vielmehr eine ursprünglich ortsansässige.
Hierfür sprechen in der Tat eine Reihe von Er-
scheinungen. Es ist bereits seit längerer Zeit be-
kannt, daß Spezies, die gegenwärtig ausgestorben
sind, und die sich in Europa in miozänen Schichten
finden, in Amerika schon in früheren geologischen
Perioden vorhanden waren. So nennt Lester Ward
elf Spezies, die in Amerika in der der oberen
Kreide zuzuzählenden Laramieformation auftreten,
während sie in Europa sich erst im Eozän finden.'
Derselbe Autor weist auch darauf hin, daß zwei
gegenwärtig in Amerika und Japan lebende Arten
sich in Amerika bis in die Eozänzeit zurückver-
folgen lassen. Zu der Ansicht Lesquereux's neigt
nun auch Drummond auf Grund eines Studiums
der kanadischen Flora. Er fand, daß von 70 in
den pleistozänen Tonen von Toronto, Ottawa und
N. F. in. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
889
anderen Orten entdeckten Spezies 20 heutigen
Tages in Kanada und Europa v^orkommen, daß
14 asiatisch und kanadisch zugleich sind, während
1 1 allen drei Erdteilen angehören. Es hat nach
diesen Entdeckungen in der Tat eine gewisse Be-
rechtigung, die gemeinsame Ursprungsstätte der
Europa, Asien und Amerika gemeinsamen Formen
etwa in Kanada zu suchen, eine Annahme, die
auch insofern als ganz plausibel erscheint, als ja
Kanada mit seinen weitgedehnten laurentinischen
und huronischen Schichten zu Zeiten, wo andere
Länder von Meeren überflutet waren, eine günstige
Stätte für die Entwicklung der Pflanzenwelt ab
geben konnte. Freilich wird man derartigen Be-
funden schon deshalb keine ausschlaggebende Be-
deutung beimessen dürfen, da ja die paläonto-
logische Durchforschung Ostasiens bislang kaum
eingesetzt hat. Aber Drummond findet auch in
der geographischen Verbreitung der Pflanzen in
Kanada selbst weitere Belege für seine Ansicht.
Während nämlich manche der hier in Rede stehen-
den Spezies über das ganze kanadische Gebiet ver-
teilt sind oder lediglich das arktische Gebiet be-
wohnen, haben andere einen eng umgrenzten Wohn-
sitz: so gehen einige nicht westlich über den Lake
Superior, andere nicht westlich über die Rocky
Mountains hinaus, und noch andere sind auf British
Columbia und Alaska beschränkt. Dieses eng um-
schriebene Vorkommen von Pflanzen, die gleich-
zeitig in Europa oder in Asien heimisch sind,
deutet in der Tat darauf hin, daß jene Gewächse
in Kanada seit sehr langer Zeit ansässig gewesen
sind. W. Seh.
Unsere Kenntnis vom Mammut auf Grund
der Ergebnisse der letzten russischen Mammut-
expedition. — In der zweiten Plenarsitzung des
6. internationalen Zoologenkongresses in Bern
sprach am 16. August dieses Jahres Staatsrat Prof.
W. Salensky von St. Petersburg über die Re-
sultate der wissenschaftlichen LTntersuchung jenes
Mammutkadavers, der im Spätherbst 1901 im Auf-
trage der russischen kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften vom Konservator des Petersburger
Zoologischen Museums, Dr. Otto Herz, an der
Beresowka, einem Nebenfluß der Kolyma, im
äußersten Nordosten Sibiriens ausgegraben und
auf langer beschwerlicher Reise, wobei über 2000 km
auf Schlitten durch die unwirtliche Taiga und
Tundra zurückgelegt wurden, nach Rußlands Haupt-
stadt gebracht worden war. Im dortigen Museum
wurde das Tier, das noch sehr jung, nicht älter
als etwa 25 Jahre, und somit noch lange nicht
ausgewachsen war, genau in der Stellung, wie es
aufgefunden wurde, rekonstruiert und das Modell
mit über 400 kg Haut, soweit sie noch erhalten
war, überzogen. Da die Leiche mit dem Kopfe
zuerst aus dem fossilen Gletscher, in den es ein-
gebettet lag, aufgetaut war, und dieser den um-
wohnenden Raubtieren einen willkommenen stets
gedeckten Tisch bot, war von ihm außer den
Knochen fast nichts mehr erhalten. Der Rüssel
und sämtliche Weichteile des Kopfes fehlten voll-
ständig, doch war die Zunge noch vorhanden. Der
übrige Körper war meist noch gut erhalten, sogar
ein Teil der Eingeweide, die in der Folge ein-
gehend studiert wurden.
Neben das ausgestopfte Modell kam das Skelett
zu stehen, an dem außer dem linken, schon bei
Lebzeiten vermutlich ausgefallenen Stoßzahn nur
der erste Halswirbel und einige Rippen, als von
den am Kadaver naschenden Raubtieren verschleppt,
fehlten und ergänzt werden mußten.
Die Ergebnisse der durch verschiedene russische
Gelehrten vorgenommenen Untersuchung des Mam-
mutkadavers sind von höchstem Interesse. Danach
wissen wir heute, daß der Mammut als ein vier-
zehiger Elefant nicht ein Vorfahre des heute leben-
den fünfzehigen Elefanten gewesen sein kann. Er
wurde bedeutend größer als diese und hatte einen
auffallend mächtigen Kopf, dessen Länge ein Drittel
der Rumpf länge betrug. Diesen Kopf zierten ganz
winzige Ohrmuscheln, dafür aber um so gewaltigere
Stoßzähne und ein jedenfalls sehr starker Rüssel,
von dessen Endbildung allerdings bis heute noch
nichts Sicheres bekannt ist. Die Stoßzähne, die,
wie bei allen Elefanten, modifizierte Schneidezähne
sind, wandten sich in großen Bogen zuerst nach
außen und wuchsen dann nach oben und innen.
Das Paar davon konnte bis 200 kg schwer werden.
Der ziemlich steil abfallende Hinterleib endete
in einem kurzen spitzen Schwanz, der ein Büschel
von 20 bis 35 cm langen Borstenhaaren von
ovalem Querschnitt trug. Das Tier war über-
haupt über den ganzen Körper mit dunkel-
braunen Haaren bedeckt, die gegen unten zu
heller wurden und in eine 50 cm lange Bauch-
mähne übergingen , die sich seitlich von den
Backen herab über die ganze Unterseite des Leibes,
ähnlich wie beim Yak oder Grunzochsen Tibets,
erstreckten. Wie bei diesen war es eine treff-
liche Schutzeinrichtung gegen die große Kälte
seiner Heimat; denn beim Abliegen im Schnee
kam das Tier darauf, als auf eine warmhaltende Unter-
lage zu liegen, wodurch es gegen Erkältungen des
Leibes bestens geschützt war. Unter den längeren,
im Mittel etwa 20 cm langen Steifhaaren lag ein
dichter Pelz von nur 2 bis 3 cm langen Woll-
haaren, die beide im Querschnitt rund waren. In
den Wollhaaren fehlten die Markzellen, die in den
Steif- und Borstenhaaren vorhanden waren. Die
Haare saßen auf einer überaus dicken Lederhaut,
die mindestens 2'/., mal so dick war, wie bei den
heute lebenden Elefanten. Vom Alter erschien sie
getrocknet, graubraun und wie gegerbt. Unter
dieser Haut lag eine ausgiebige Speckschicht im
Unterhautzellgewebe. So war bei unserem jungen
Exemplare die Fettlage unter dem Bauch 9 cm
stark.
Verschiedene der inneren Organe waren auch
verhältnismäßig noch gut erhalten, so beson-
ders der Magen, der ganz mit Futter angefüllt
war. Das Tier ist mitten beim Weiden verun-
glückt , indem es in eine nur von einer ganz
890
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
dünnen Humus- und Erddecke bekleidete, ver-
mutlich durch Schmelzwässer ausgewaschene Höh-
lung im darunter liegenden Gletscher fiel, dabei
außer einigen Knochenbrüchen schwere Ver-
letzAingen der inneren Organe davontrug und
gleichzeitig, durch die massenhaft nachrutschende
Erde begraben, so rasch erstickt ist, daß es nicht
einmal mehr die zwischen den Zähnen und auf
der Zunge befindliche Nahrung herunterzuschlucken
vermochte.
Dieser für uns glückliche Umstand hat nun
die lange strittige Frage über die gewöhnliche
Nahrung des Mammuts endgültig gelöst. Seitdem
Brandt in den Falten der Backenzähne des vor
hundert Jahren am Ausfluß der Lena in das nörd-
liche Eismeer gefundenen und 1806 von Adams
nach St. Petersburg gebrachten Exemplars als halb
zerkaute Reste der Nahrung hauptsächlich Nadeln
und andere Fragmente von Nadelhölzern gefunden
hatte, nahm man an, daß Zweigspitzen von Koni-
feren die bevorzugteste Speise des Mammuts ge-
wesen sei. Diese Ansicht kann nicht mehr auf-
recht erhalten werden; denn bei unserem Mammut
fanden- sich keinerlei Nadelholzteile, vielmehr aus-
schließlich Gräser, wie sie heute noch an Ort und
Stelle wachsen. Einzelne derselben konnten noch
bestimmt werden. Unter ihnen waren vereinzelt
Seggen (Carexarten) und höhere Blütenpflanzen,
wie Thymus Serpyllum, der Quendel, jene auch
bei uns vorkommende, über die ganze nördliche
Zone verbreitete Labiate, dann Papaver alpinum,
der nordische Mohn, und Ranunculus acer var.
borealis, der scharfe Hahnenfuß des Nordens. Alle
diese Pflanzen zeigten deutliche Samenbildung, was
beweist, daß das Tier im Spätsommer verun-
glückt ist.
In der Brust- und Bauchhöhle fanden sich von
seinem schweren Sturze herrührend große Mengen
krümligen braunen Blutes, das zwar nicht mehr deut-
lich körperliche Elemente erkennen ließ, aber mit
dem Blute des indischen Elefanten zusammen-
gebracht noch deutlich die sogenannte „biologische
Reaktion" gab, als sicherer Beweis der näheren
Blutsverwandtschaft beider Tiere.
Da wir nun bestimmt wissen, daß Klima und
Flora Nordsibiriens sich seit dem Ableben unseres
Mammuts, das auf Zehntausende von Jahren zurück-
datiert werden darf, nicht nachweisbar verändert
haben, vielmehr gleich geblieben sind, so ist das
Tier weder durch die Kälte, gegen die es ja vor-
züglich geschützt war, noch durch stets zunehmende
Wärme, die es als ein der Kälte angepaßtes Wesen
nicht aushalten konnte, zum Aussterben gebracht wor-
den, sondern, wie wir wohl mit Bestimmtheit anneh-
men dürfen, es ist durch die unablässige grimmige
Verfolgung von selten des Menschen der frühesten
Nacheiszeit zuerst aus Mitteleuropa, dann aus Ruß-
land verdrängt und schließlich in seinen letzten
Schlupfwinkeln im Norden Sibiriens ausgerottet
worden. Den stets hungrig umherschweifenden
Jägerhorden der Magdalenienzeit , die uns nicht
nur Überreste ihrer Mammutmahlzeiten, sondern
auch an den verschiedensten Orten, von Südfrank-
reich (der Dordogne) beginnend bis Südrußland
(Kiew), oft überraschend naturgetreu wiedergegebene
Zeichnungen dieses ihres mit Vorliebe erbeuteten
Jagdtieres auf losen Mammutelfenbeinstücken und
anderen Knochenfragmenten, wie an den Wänden
der von ihnen zeitweilig bewohnten Höhlen zurück-
gelassen haben, bot das jedenfalls gutmütige und
in Fallen oder anderweitig durch List nicht allzu
schwer zu fangende Tier auf Tage und Wochen
hinaus eine große Menge vorzüglichen Fleisches.
Deshalb wurde ihm unermüdlich nachgestellt und
mußte es schließlich bei seiner überaus langsamen
Vermehrung vom Erdboden verschwinden, wobei
allerdings auch vereinzelte Unglücksfälle, wie der-
jenige, dem unser Exemplar zum Opfer fiel, zu
seiner Ausrottung mitgeholfen haben.
Dr. med. L. Reinhardt in Basel.
Die vulkanischen Bildungen des Mondes
vergleicht Prof Hermann J. Klein in einem sehr
lesenswerten Schriftchen ^) mit denen der Erde.
Er kommt dabei zu dem Schlüsse, daß zwischen
beiden im allgemeinen keine Ähnlichkeit
besteht. So haben die Marc, die anscheinend
später entstandenen Wal leb enen und die noch
jüngeren Ringgebirge des Mondes keine Gegen-
stücke auf der Erde und haben solche nach Klein
auch niemals gehabt. Wallebenen und Ringgebirge
unterscheiden sich schon durch ihre riesige Größe
und die im Verhältnis dazu geringe Höhe ihrer
Umwallungen von den irdischen Vulkanen, und
auch den Vergleich der Marc mit den Einsturz-
becken unserer Meere lehnt der Verfasser ab. Wir
lassen es offen, ob das im Verhältnis zu seiner
riesigen Größe doch auch sehr flache Becken des
-Stillen Ozeans, in dessen Mitte ebenso wie bei
den Mondmaren sich zahlreiche Krater erheben,
und das ebenfalls „rings von Gebirgserhebungen
wie mit steilen Ufern eingefaßt" ist, nicht doch
einen Vergleich mit den Maren des Mondes ge-
stattet. Klein findet eine Ähnlichkeit mit den
irdischen Vulkanen nur bei den kleinsten und, wie
er nachweist, jüngsten Kraterbildungen des Mondes,
die teils als steile Kegel, teils als mäßige Hügel,
teils endlich als Vertiefungen ohne äußeren Wall
in ungeheurer Zahl, häufig zu zweien, auch wohl
reihenweise nebeneinander, zwischen den größeren
Gebilden verbreitet liegen und unter denen in den
letzten Jahrzehnten nachweislich Neubildungen auf-
getreten sind. Der Verfasser sieht in diesen kleinsten
Bildungen, deren Krater allerdings immer noch
wesentlich größer sind als die irdischen, ,, völlige
Analoga der Erdvulkane". Nach seinen Ausfüh-
rungen wird man kaum daran zweifeln können,
daß es sich um echte vulkanische Gebilde handelt,
aber wie weit die völlige Analogfie mit den Erd-
^) Prof. Dr. Hermann J. Klein : Kosmischer und irdischer
Vulkanismus. Vergleichende Untersuchungen über das vul-
kanische Problem. Mit 5 Abbildungen im Te.xt und i Tafel.
20 .S. Leipzig, E. H. Mayer. 1904. (Sonderabdruck aus der
Gaea 1904.)
N. F. in. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
891
vull<anen geht, dürfte schwer zu beurteilen sein
bei Formen , deren relative Kleinheit fast gar keine
Einzelheiten zu unterscheiden gestattet, bei denen
man vor allen Dingen nicht weiß, ob sie aus Lava
oder aus Asche bestehen. Das Vorkommen trichter-
förmiger Öffnungen ohne Umwallung legt den
Vergleich mit den Maarbildungen der Erde nahe,
man würde danach in solchen Fällen auf dem
Monde reine Ascheneruptionen vermuten. Anderer-
seits beschreibt der Verfasser Erscheinungen im
Innern der Wallebene Alphonsus, die er gewiß
mit Recht als riesige, sehr dünnflüssige Lavaströme
deutet; es können also ebensowohl Aschen als
Laven die Kraterkegel des Mondes aufbauen.
Bekanntlich hat A. Stübel ^) vor einigen Jahren
die Mondkrater zur tieferen Erkenntnis der irdischen
Vulkanerscheinungen zu verwenden gesucht. Der
Stübel'sche Gedanke, daß „das Wesen des Vul-
kanismus sich in allen seinen Äußerungen von
selbst erklärt, wenn wir eine vorübergehende
Volumenvergrößerung des Magmas in einem ge-
gebenen Momente seines äußerst langsamen Er-
kaltungsprozeß .... voraussetzen", forderte, daß
die Fähigkeit zu vulkanischer Kraftäußerung jedem
Magmaquantum nur einmal innewohnte, daß die
Vulkanbildungen deshalb im Prinzip „monogen",
einheitlich entstanden sein müssen. Dafür wurde
die Mondoberfläche als glänzendes Beispiel heran-
gezogen. Einmal tragen ihre einfachen kreisrunden
Kraterbildungen den Stempel der Einheitlichkeit
gleichsam an der Stirn, und andererseits zeigte die
ungeheure Anzahl dicht nebeneinander liegender
kleiner Krater.daßjüngereEruptionensichneueWege
gesucht haben, ihre Quelle deshalb anscheinend nicht
in Magmamassen zu suchen ist, die in Beziehung zu
den älteren Vulkanbildungen stehen, und daß es
sich bei diesen Eruptionen ferner um ganz lokale
Erscheinungen im Magma handelt. Schon damals
wurde aber von Bergeat darauf hingewiesen, wie
bedenklich es sei, die unerklärten, aber leidlich
bekannten Tatsachen des irdischen Vulkanismus
mit Hilfe der ebenso unerklärten, aber viel weniger
bekannten Vulkanerscheinungen des Mondes auf-
klären zu wollen. Plin Beispiel dafür mag die Er-
klärung der Ringgebirge des Mondes nach Nas-
myth und Carpenter einerseits, nach Stübel
andererseits, bilden. Die ersteren sahen in ihnen
mächtige Aschenwälle einer zentralen Eruption,
Stübel faßt sie als den stehen gebliebenen Rand
einer übergequollenen und dann wieder zum Teil
zurückgefluteten Lavamasse auf. Es ist klar, welche
Freiheit der Phantasie hier gelassen ist, solange
man nicht weiß, ob man es mit Aschen oder
Laven zu tun hat. Die Übertragung der am
Monde scheinbar gewonnenen Erkenntnisse auf die
Erde ist deshalb schon wegen ihrer Unsicherheit
nicht wünschenswert. Noch mehr aber warnen
davor die Tatsachen, die Klein anführt, nämlich
') A. Stübel: Über die genetische Verscliiedenheit vul-
kanischer Berge. Eine Studie zur wissenschaftlichen Beurteilung
der Ausbrüche auf den kleinen Antillen. Lpz. 1903. 4°.
die grundverschiedenen morphologischen Wir-
kungen, die der Vulkanismus auf beiden Himmels-
körpern hervorgebracht hat. Trotzdem dürfen wir
aber mit Klein die Folgerung aus dem Ver-
gleiche ziehen, daß bei der Erde wie beim Monde
die vulkanische Kraft in der glühenden Materie
des Innern gesucht werden muß und daß auf dem
Monde die großartigsten Wirkungen dieser Kraft
bereits vorüber sind, auch der Analogieschluß wird
erlaubt sein, daß auf der Erde die vulkanische Kraft
ebenfalls langsam nachläßt.
Zum Schlüsse noch ein Wort über die Gründe
für das ungleich großartigere Auftreten des Mond-
vulkanismus. Auf die geringere Wirkung der
Schwerkraft auf dem Monde ist bereits vor loo
Jahren von Schröter hingewiesen worden: unter
sonst gleichen Umständen sind die Wurfweiten
auf dem Monde 6V2 Mal größer als auf der Erde.
Den maßgebenden Grund sieht aber Klein in
der Erscheinung von Ebbe und Flut. Die flut-
erzeugende Kraft der Erde auf der Mondober-
fläche ist 40 Mal größer als die des Mondes auf
der Erdoberfläche. In früheren Perioden, als der
Mond am Anfange des Erkaltens war und sich
rascher um seine Achse drehte, mußte dadurch
eine Pulsation desMondinnern hervorgerufen werden,
die dessen Magmamassen wesentlich „ausbruchs-
fähiger" machte. Mag dieser Gedanke für die
Verhältnisse des Mondes viel Bestechendes haben,
so müssen wir auch bei ihm festhalten, daß er
sich auf die Erde nicht übertragen läßt. Die
Periode der Flut ist auf dem Monde immer länger
geworden, je mehr sich seine Umdrehungszeit der
Umlaufszeit näherte. Wir mögen uns eine Zeit
vorstellen, in der der Mond unserer Erde noch
nicht dauernd dieselbe Seite zudrehte, sondern in
Jahren oder Jahrhunderten von der Erde gesehen
eine volle Drehung um seine Achse ausführte.
Einem Flutzustand (wenn man es so nennen darf),
der so langsam den Mond umkreiste, mochte auch
das träge Magma seines Innern hinreichend folgen
können, um gewaltige vulkanische Wirkungen gegen
die Mondoberfläche zu äußern. Auf der Erde aber
ist das nicht der Fall. Die Umdrehungszeit
der Erde ist viel zu kurz, als daß der Einfluß des
Mondes bei dem raschen Wechsel seiner Richtung
die immerhin relativ schwer beweglichen Magma-
massen in eine merkliche Bewegung setzen könnte.
Tatsächlich ist denn auch eine Bedeutung der
Mondphasen für die Vulkantätigkeit auf der Erde
bisher nicht nachgewiesen worden. Man sieht
also wohl, so interessant und wichtig ein Ver-
gleich zwischen der Erd- und Mondoberfläche ist,
so wird er fruchtbar nicht sowohl durch Erkenntnis
von Analogien als vielmehr von Gegensätzen.
F. Solger.
Beobachtung der Bravais'schen Erschei-
nung. — Im 12. Jahresbericht des Sonnblick-Ver-
eins (für 1903) veröfi'entlicht O. Szlavik einige
im Spätsommer 1902 auf dem Sonnblickobser-
vatorium aufgenommene Photographien, die zum
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
ersten Male das Vorkommen einer theoretisch
bereits 1845 durch Bravais vorausgesagten, neben-
sonnenartigen Lichterscheinung dartun. Durch in
der Luft schwebende Eiskristalle, deren Haupt-
achsen horizontal liegen, entsteht nämlich nach
Bravais eine unter der Sonne erscheinende Licht-
kurve, die sich um so stärker konkav nach unten
krümmen muß, je höher die Sonne über den
Horizont steigt. Bei 10" 55' Sonnenhöhe haben
beide Zweige der Kurve eine gemeinsame verti-
kale Tangente und bilden einen sogenannten Rück-
kehrpunkt I. Ordnung, wodurch eine helle Neben-
sonne mit gespaltenem, nach unten gerichteten
Schweif 22" unterhalb der Sonne entsteht. Bei
noch weiterem Emporsteigen der Sonne durch-
kreuzen sich die beiden Lichtreflexkurven und bilden
bei 25" Sonnenhöhe eine nach unten in einer
Spitze auslaufende, einem umgekehrten Tropfen
ähnelnde F"igur. Diese Lichterscheinungen waren
nun bisher noch nicht beobachtet worden, da sie
das Zusammentreffen mehrerer günstiger Umstände,
vor allem eine weite, freie Aussicht in tiefere Luft-
schichten erfordern, denn jene Art Nebensonne
zeigt sich ebenso tief unter dem Horizont, wie
die wirkliche Sonne über ihm steht. Szlavik's oben
erwähnte Aufnahmen lassen das Phänomen deut-
lich in seinen aufeinander folgenden Phasen ver-
folgen und liefern so eine schöne Bestätigung der
zuerst von Galle entwickelten und dann von Bravais
vervollständigten Theorie der Sonnenringe und
Nebensonnen. F. Kbr.
Wer ist der Erfinder der modernen Elektrisier-
maschine? Reibungs- Elektrisiermaschinen sind
wegen ihres schlechten Wirkungsgrades heutzutage
fast nirgends mehr in Gebrauch. Sie sind durch
die sog. Influenzmaschinen ersetzt worden , bei
denen eine schwache anfängliche Ladung einer
Scheibenbelegung durch wiederholte Influenz-
wirkung auf einer zweiten , rotierenden Scheibe
schnell außerordentlich verstärkt wird, so daß
große Elektritätsmengen mühelos entwickelt wer-
den können, da die Reibung auf ein Mindestmaß
reduziert ist und die Energiequelle in der Über-
windung der elektrostatischen Fernwirkungen ge-
geben ist, so daß gleichzeitige, unbeabsichtigte
Wärmeerzeugung fast ganz vermieden wird. In
jedem Lehrbuch der Physik wird nun zwar H o 1 1 z
als der Erfinder der ersten Influenzmaschine (1865)
genannt, aber die heutzutage fast ausschließlich
auf den Markt kommenden, selbsterregenden Ma-
schinen mit zwei nach entgegengesetzten Rich-
tungen rotierenden und mit zahlreichen Stanniol-
sektoren belegten Hartgummischeiben, die sich
durch sehr kräftige und vom Wetter fast völlig
unabhängige Wirkung auszeichnen, werden allge-
mein als Wimshurst' sehe Maschinen bezeichnet.
Prof. Holtz in Geifswald weist nun in einem Auf-
satz (Zeitschr. f. d. phys. u. ehem. Unterricht) mit
Nachdruck darauf hin, daß alles Wesentliche über
die Maschine mit doppelter Drehung von ihm
angegeben worden ist, ehe Wimshurst im Jahre
1883 seine Maschine beschrieb. Die bereits früher
von Holtz veröffentlichten Notizen zur Wahrung
der Priorität sind leider unbeachtet geblieben; von
den Fabrikanten, denen die englische Konstruktion
aus englischen Fachzeitschriften bekannt wurde,
wird die Maschine heute allgemein als Wimshurst-
sche Maschine bezeichnet. Es ist daher für die
Physiker eine Pflicht der Gerechtigkeit, so weit
es an ihnen liegt dem wirklichen Erfinder der
heutzutage als die zweckmäßigste anerkannten
Konstruktion die ihm gebührende Ehre, die bei
einem wissenschaftlichen Instrument der einzige
Lohn ist, nicht zu verkümmern. Der Name Wims-
hurst-Maschine sollte daher durch die Bezeichnung
„selbsterregende Influenzmaschine mit doppelter
Drehung", oder auch „Influenzmaschine zweiter
Art" ersetzt werden. F. Kbr.
Röntgenstrahlen im Dienste der Kabel-
fabrikation. — Fanden die Röntgenstrahlen ihre
vornehmste und erfolgreichste Verwendung bisher
in der praktischen Medizin, wo sie als diagnostisches
Hilfsmittel ganz neue Perspektiven für die me-
dizinische Erkennungskunst eröfi'net haben und wo
sie auch als Heilmittel bei der Behandlung gerade
der schwersten Formen der Hautkrankheiten vor-
trefi liehe Dienste leisten, so sind sie jetzt auch
für die Bedürfnisse der Technik nutzbar gemacht
worden. Und zwar ist es auch in diesem Falle
eine Diagnose, für welche sie zu Hilfe genommen
werden, nämlich die Feststellung von Fremd-
körpern in der Isolierschicht der Kabel.
Unsere Abbildung veranschaulicht einen solchen
Apparat, der von der Elektrizitätsgesellschaft Sanitas
zu IBerlin, die schon mehrfach mit wertvollen Neue-
rungen auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen her-
vorgetreten ist, konstruiert worden ist.
Wie schon oben angedeutet, soll der Apparat
dazu dienen, die Reinheit der Kabel zu kontrollieren
und etwa in die Isolierhülle eingedrungene Fremd-
körper, Unreinigkeiten oder Luftblasen jederzeit
sicher erkennen zu lassen. Mit Hilfe dieses Appa-
rates ist man in der Lage, alle diese Fehler, wel-
che die Isolierung des Kabels oft schwer schädigen,
ohne Mühe wahrzunehmen.
Welche ganz erhebliche Ersparnis an Zeit und
Geld eine solche rechtzeitige Feststellung fehler-
haft isolierter Stellen besonders für den Betrieb
unserer großen Seekabel bedeutet, ist ohne weiteres
klar. Nur zu oft stellt sich schon nach kurzer
Zeit des Gebrauchs des Kabels heraus, daß in
irgend einem Teile der weiten in den Tiefen des
Ozeans liegenden Leitung eine der isolierenden
Guttaperchaadern des Kabels fehlerhaft ist und
das Kabel gänzlich unbrauchbar zu machen droht.
Um diesen Fehler beseitigen zu können, bleibt
dann einfach nichts anderes übrig, als das Kabel
Stück für Stück vom Meeresgrunde wieder herauf-
zuholen und zu untersuchen. Eine solche Arbeit
verursacht aber ganz erhebliche Kosten, die in
manch einem Falle hätten gespart werden können,
wenn die Fehlerstelle rechtzeitig entdeckt worden
N. F. ni. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
893
wäre, so daß man das fehlerhafte Stück ausschalten
konnte. Mit Hilfe unseres Apparates aber läßt
sich vor der Indienststellung des Kabels jede ein-
zelne Guttaperchaader auf ihre Integrität hin prüfen,
so daß solche kostspieligen Fehlerstellen unschäd-
lich gemacht werden können.
So hat sich denn dies Verfahren in der Praxis
außerordentlich gut bewährt und der Apparat ist
für die Kabelfabrikation ein ausgezeichnetes tech-
nisches Mittel geworden, mit dessen Hilfe eine zu-
verlässige Vorprüfung des Kabels möglich ist.
Die Konstruktion der Einrichtung
ist folgende : Auf einem fahrbaren,
mit Handgriff versehenen Eisengestell
ist ein Kasten montiert, der in seinem
Innern den Funkeninduktor und den
Kondensator birgt. Eine Wand des
Kastens ist abnehmbar, hinter ihr
ist der Unterbrecher (der „Wodal",
auch ein Spezialfabrikat der Sanitas)
und der Motor für denselben. Da-
neben findet sich eine Schalttafel
mit 2 Sicherungen, einem Schieber-
rheostaten für die Regulierung der
Tourenzahl des Unterbrechermotors,
einer Regulierkurbel für den Primär-
strom, einem Schalter für den Motor
und einem solchen für den Induktor
sowie endlich 2 Anschlußklemmen
für den Hauptstrom. Der fifr die
Regulierung des Primärstromes nötige
Widerstand liegt auf der Rückseite
der Schalttafel.
Auf dem Dache des Kastens ist
ein Gestell aufgebaut, das 2 Rollen
für die Führung des zu untersuchen-
den Kabels besitzt. Unterhalb der-
selben liegt eine Holzklemme, in wel-
cher die Röntgenröhre befestigt wird.
Auf dem Boden des Gestells stehen
die beiden Anschlußklemmen, die zur
Sekundärrolle des Induktors führen
und von denen die Röntgenröhre "--'" -
ihren Strom empfängt.
Oberhalb des über die beiden
Rollen laufenden Kabels liegt, um
eine horizontale Achse drehbar, der in ein Krypto-
skop eingesetzte Durchleuchtungsschirm.
Beim Gebrauch wird das Kabel unter dem
Leuchtschirme hergezogen, wobei das Licht der
Röhre jede Unregelmäßigkeit und Verunreinigung
in der Isoliertschicht sofort im Bilde auf dem
Schirme wiedergibt.
Diese Prüfung kann ohne weiteres vorgenommen
werden, ohne daß der betreffende Raum verdunkelt
zu werden braucht, da das den Leuchtschirm ein-
schließende Kryptoskop alle störenden Lichtstrahlen
vom Auge des Beobachters fernhält.
Die auf diese Weise geübte Kontrolle ist, wie
man sieht, eine außerordentlich exakte und zu-
verlässige, die keine fehlerhafte Stelle unerkannt
passieren läßt. Die Fahrbarkeit der Einrichtung
sowie die kompendiöse Zusammenstellung des
Ganzen erhöhen den Gebrauchswert des Apparates
noch mehr.
Der Anschluß an die Hauptstromleitung er-
folgt entweder mittelst Stechkontaktes und Stech-
dose oder an eine beliebige Glühlampenfassung.
W. Otto.
Wetter-Monatsübersicht.
Während des vergangenen September setzte sich in Nord-
deutschland die trockene, heitere Witterung des Sommers im
allgemeinen fort, wogegen in Süddeutschland trübes Regen-
wetter vorherrschte. Die Temperaturen fingen, wie die in
beistehender Zeichnung wiedergegebenen Durchschnittswerte
aus dem höchsten und tiefsten Thermometerslande jedes Tages
zeigen, im westlichen Küstengebiete gleich zu Beginn des
Monats langsam zu sinken an. In den übrigen Landesteilen
hielten sie sich bis gegen Mitte September ungefähr auf ihrer
Höhe und überschritten an den Nachmittagen um den 8. noch
in vielen Gegenden 25" C. Zwischen dem 13. und 20. führten
scharfe Nordostwinde eine stärkere Abkühlung herbei; nament-
lich die meist klaren Nächte seit dem 17. September waren
empfindlich kalt. Im Binnenlande kamen an zahlreichen
Orten Nachtfröste vor, die besonders in Schlesien, Sachsen
und Thüringen den Kartoffeln , am Rhein einzelneu Wein-
bergen großen Schaden brachten.
Nach dem 20. September trat wieder milderes Wetter
ein, und im Osten wurden um den 26. noch einmal die
Temperaturen erreicht, mit denen der Monat begonnen hatte.
Auch die Mitteltemperaturen des diesjährigen September, die
in ganz Deutschland zu niedrig waren, wichen nordöstlich der
894
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 56
Elbe am wenigsten, nämlich kaum um einen Grad von ihren
normalen Werten ab, hinter denen sie im Nordwesten beinahe
um 2, im Süden um 2'/2 Grad zurUckblieben. Die Sonncn-
TVilftfcräTcniperaTuran einig«' 0i'fc imjSepfcmBer 1904.
iSepfember. 6. h. . iT a. £6. 30.
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^-v
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Berliner Wellerbureau
Strahlung wur in Norddcutschland, ebenso wie in den letzten
Monaten , reichlicher als gewöhnlich , z. B. gab es in Berlin
170 Stunden mit Sonnenschein, während hier im Mittel der
12 vorangegangenen Septembermonatc 158 Sonnenscheinstunden
aufgezeichnet worden sind.
Innerhalb der ersten Woche des September waren die
Niederschläge, wie die beistehende Zeicünung ersehen läßt,
im allgemeinen sehr gering, nur in Bayern, Württemberg und
Sachsen kamen stärkere Regenfälle vor. Dagegen gingen vom 8.
"Hkdzr^ii^aßfi^Szn im J&^femSer 190^.
msaa.
l.bis 7- Septetnber.
m
8.fel65epfember.
li.ihlälHnl
17. biS22.SeptembBp.
■| 1 1 I r !~Tn~Tcr
Z3.bis30. September.
a.
3 ^itHcrefWerlfiir
Deufscilland.
A\onat5sumiti6 im Sepfemlier
im03.02.0l.(ID.!89g.
ttO
QJJ) BerBiisrWstterbureai..
bis 16. in ganz Deutschland ziemlich reichliche Regen her-
nieder, die von sehr heftigen Gewittern im Süden eingeleitet
wurden. Zu München wurde am 8. September eine Nieder-
schlagshöhe von 48 Millimetern gemessen. Der Wasser-
stand der meisten Flüsse hob sich allmählich, so daß der
Schiffahrtsverkehr langsam wieder aufgenommen werden
konnte.
Nach sechs fast völlig trockenen Tagen setzte am 23.
September eine neue Regenzeit ein, an deren Ende wiederum
im Süden außerordentlich große Wassermengen niederfielen.
Vom 27. bis zum 2g. hatte Friedrichshafen 41, Bamberg
37, Karlsruhe 28 mm Regen, dagegen blieb die östliche
Ostseeküste jetzt, wie im gröfsten Teil des Monats, von
Regen nahezu frei. Für den Durchschnitt aller berichtenden
Stationen belicf sich die Niederschlagshöhe des diesjährigen
.September auf 49,3 mm und war 16,6 mm kleiner als die
mittlere Nicderschlagshöhe, die die gleichen Stationen im
September seit 1891 ergeben haben.
Zu Beginn des Monats rückten ein barometrisches Ma.\i-
mum vom biskayischen Meere und ein zweites von der skan-
dinavischen Halbinsel zueinander hin und vereinigten sich in
Mitteleuropa zu einem Hochdruckgebiete , das mehrere Tage
hindurch den größten Teil des europäischen Festlandes be-
deckte. Seit dem 8. wurde es durch eine umfangreiche De-
pression, die vom atlantischen Ozean mit weit verbreiteten
Regenfällen nordostwärts vordrang , mehr und mehr nach
Süden geschoben. Aber schon am 12. September begab sich
wieder ein Maxiraum vom europäischen Nordmeer nach
Skandinavien hin, wo es längere Zeit verweilte und an Höhe
allmählich zunahm. Durch die von ihm ausgehenden, sehr
trockenen nordöstlichen Winde wurde die Luft in immer
weiterer Entfernung erheblich abgekühlt.
Erst am 18. September gelangte das barometrische Maxi-
mum nach Nordwestrußland und wurde, nachdem es dort
780 mm Höhe erreicht hatte, nach und nach flacher. Damit
drehten sich die Winde nach Ost und gingen später, während
eine auf dem mittelländischen Meere lagernde Depression ihr
Gebiet mehr nach Norden ausbreitete, in eine milde Südost-
strömung über. Am nördlichen Rande dieses Depressions-
gebietes entwickelten sich gegen Ende des Monats mehrfach
Teilminima, die zwar nur geringe Tiefe besaßen, aber trotz-
dem in Frankreich , der Schweiz, Süddeutschland und
Österreich - Ungarn aufserordentlich starke Regengüsse
veranlaßtcn. Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
G. Niemann, Das Mikroskop und seine Be-
nutzung im pflanzenanatomischen Unter-
richte. Erste Einführung in die mikroskopische
Technik, zugleich eine Erläuterung zu den pflanzen-
anatomischen Tafeln von N i e m a n n und Stern-
stein. Creutz'sche Verlagsbuchhandlung in Magde-
burg, 1904. — Preis des Buches 1,75 Mk. , der
Tafeln I— VI 10 Mk.
Die zugleich als Erläuterung der Tafeln dienende
Schrift ist nur 76 Seiten stark. Am Schluß derselben
sind die Wandtafeln als verkleinerte Zinkographien
angehängt. Die Wandtafeln selbst haben eine Größe
von 70X90 cm. Die auf denselben gebotenen ana-
tomischen Details sind klar zur Darstellung gebracht.
Sie behandeln die Zelle, ihre Bestandteile und Pro-
dukte, Oberhaut und Oberhautgebilde, die Leitungs-
bahnen und den Aufbau des Holzes (sowohl des
dicotyledonen als des gymnospermen Holzes) und ,,das
Gewebe der Stoffwandlung, -aufnähme und -ausbildung",
d. h. den anatomischen Bau des Blattes und einiges
andere. Die Tafeln und der Text sind durchaus für
den Unterricht brauchbar.
W. Herz, Über die Lösungen. Einführung in
die Theorie der Lösungen, die Dissoziationstheorie
N. F. m. Nr. 56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
89s
und das Massenwirkungsgesetz. Leipzig 1903.
Veit & Co. 50 .S.
Die Schrift ist aus einer Reihe von Vorträgen
hervorgegangen , die der Verfasser in Breslau im
physiologischen Verein vor Ärzten und im Verein
zur Förderung des naturwissenschaftlichen Unterrichts
vor Lehrern an höheren Lehranstalten gehalten hat.
Von der Charakterisierung der Aggregatzustände aus-
gehend, behandelt er in 6 Kapiteln die Molekular-
gewichtsbestimmung gasförmiger und gelöster Stoffe
auf Grund der Avogadro'schen Regel und der van't
Hoff'schen Theorie der Lösungen, das Auftreten des
i-Faktors bei den Lösungen von Elektrolyten und
seine Erklärung durch die Arrhenius'sche Theorie der
elektrolytischen Dissoziation , die Ermittlung des
Dissoziationsgrades, die Anwendung der lonentheorie
zur Erklärung chemischer Vorgänge in wäßrigen
Lösungen (Fällungen, Neutralisation, Hydrolyse), das
Massenwirkungsgesetz und seine Anwendung auf die
Lösungen von Elektrolyten , endlich die wichtigsten
Tatsachen der chemischen Kinetik und der Katalyse.
Die Darstellung zeichnet sich durch Klarheit und
Leichtverständlichkeit aus, so daß die Schrift nament-
lich zur ersten Einführung in die behandelten Themata
sehr gut geeignet ist. Da und dort wäre vielleicht
eine Erweiterung des Umfangs wünschenswert ; so
vermißt man bei der Anwendung des Massenwirkungs-
gesetzes auf die Lösungen von Elektrolyten ungern
Erörterungen über das für alle Fällungsreaktionen so
wichtige Löslichkeitsprodukt. Für das Verständnis
wäre es außerdem vorteilhaft gewesen, wenn an jener
Stelle (S. 39) die Konzentration der Na- und Cl'-Ionen,
den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend, durch
denselben Buchstaben (anstatt durch a und b) be-
zeichnet worden wäre. Auf S. 46 und 47 ist das
dreimalige Fehlen des Multiplikationszeichen hinter
der Gleichgewichtskonstanten K störend. Die S. 27,
Absatz I , erwähnte Gesetzmäßigkeit ist nicht von
Heß , sondern von J. Thomsen aufgefunden worden ;
das Hcß'sche Gesetz der Thermoneutralität gilt gerade
bei der Wechselwirkung von Säuren und Basen nicht.
Böttger.
Sammlung Chemischer und Chemisch-technischer
Vorträge. Herausgegeben von Prof. Dr. Felix B.
Ahrens in Breslau. IX. Band, 3./5. Heft: Das
Vanadin und seine Verbindungen. Von
Dr. Fritz Ephraim. Mit einer Abbildung, gr. 8".
Stuttgart, Ferdinand Enke. 1904. — Preis broschiert
3,60 Mk.
Die vorliegende Monographie des Vanadins ist in
folgenden Kapiteln behandelt : Entdeckung , Ver-
wendung, Vorkommen und Gewinnung; Metallisches
Vanadin , seine Legierungen , Silicide , Carbide etc. ;
die Verbindungen des ein-, zwei-, drei-, vier- und
fünfwertigen Vanadins; Oxydationsprodukte der Ver-
bindungen des fünfwertigen Vanadins; quantitative
Bestimmung des Vanadins; Nachtrag. — Die Bro-
schüre stellt eine gute Zusammenfassung dessen dar,
was wir heute über das Vanadin wissen. Doch ist die
gesammelte I^iteratur nicht immer ganz erschöpfend.
So hätten in dem Kapitel über die „quantitative Be-
stimmung des Vanadins" dem Verfasser die Arbeiten
von Fernandez und Th. Fischer nicht entgehen
sollen, von denen der erstere eine gute Methode zur
Trennung der Vanadinsäure von Arsensäure, letzterer
einen brauchbaren Weg zur Bestimmung der Vanadin-
säure Wolframsäure ersonnen hat. Auch Schmitz-
Dumont wurde nicht berücksichtigt , dessen Arbeiten
über die Trennung des Vanadins von Phosphor uner-
wähnt blieben, und auch die Arbeiten Rammeisbergs
werden zu wenig gewürdigt. — Abgesehen von der-
artigen Unvollkommenheiten ist die fleißige Arbeit
ein wertvoller Beitrag zu der Sammlung von chemi-
schen Monographien , die die Sammlung Chemischer
und Chemisch -technischer Vorträge gleichzeitig in
sich schließt. R. Lb.
Manuel von Uslar, dipl. Hütteningenieur. Das
Gold. Sein Vorkommen, seine Gewin-
nung und Bearbeitung. Gemeinverständlich
dargestellt. Mit 19 Abbildungen im Text und
2 Tafeln. Halle a. S., Wilhelm Knapp. 1903. —
Preis 2 Mk.
In der 60 Seiten umfassenden Broschüre gibt der
Verfasser nach einer historischen fjnleitung .'\uskunft
über das Vorkommen des Goldes und seine wichtig-
sten Eigenschaften. Er weist auf das Vorkommen im
Flußsande hin, gibt einen kurzen Überblick über die
primären und sekundären Goldlagerstätten und charak-
terisiert die einzelnen Erdteile hinsichtlich ihrer Gold-
produktion. Hierfür sind die am Schluß aufgestellten
statistischen Angaben besonders beachtenswert. Nach
kurzer Besprechung der physikalischen und chemischen
Eigenschaften des kostbaren Metalls folgt eine ein-
gehendere Darstellung der verschiedenen Gewinnungs-
methoden. Der Leser wird mit dem Waschverfahren,
dem Amalgamationsverfahren , dem Laugeverfahren
und der Goldscheidung bekannt gemacht , und auch
die Art der Bestimmung des Goldes , d. h. ob und
wieviel Gold ein Erz enthält (wie man es „probiert"),
wird kurz geschildert. Das Schlußkapitel behandelt
die Verarbeitung und Verwendung des Goldes.
Das Büchlein ist nicht für den Fachmann ge-
schrieben. Es will vielmehr dem Laien ein Führer
sein und ihn in das Verständnis eines Zweiges der
Industrie einführen , mit der ein großer Teil auch
des deutschen Publikums durch mannigfache Interessen
verknüpft ist. Denn die Kenntnis der wissenschaft-
lichen und technischen Grundlagen der Goldindustrie
ist leider trotz jener Interessen in ziemlich ge-
ringem Maße verbreitet. So will die Schrift vor-
nehmlich dem gebildeten Laien dienen , nicht allein
dem Finanzmann, sondern auch dem Kolonialpolitiker
und dem Kaufmann , der nach Gold produzierenden
Ländern exportiert. Somit entspricht auch dem
Zwecke des Heftes die Schilderung gar nicht
seltener betrügerischer Manipulationen. Besonderen
Wert verleihen der Schrift statistische Angaben und
Abbildungen. Und vor allem dürfte das angefügte
Verzeichnis englischer Fachausdrücke mit ihrer Über-
setzung ins Deutsche willkommen sein, da die meisten
kaufmännischen und technischen Nachrichten über
das Gold in englischer Sprache in die Welt geschickt
896
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 56
werden. Einige kleinere Ungenauigkeiten bez. der
technischen Verfahren und eine Inkonsequenz des
Verf. (Chlorisation statt Chloration) setzen den Wert
des Büchleins durchaus nicht herab. R. Lb.
H. Danneel , Dr. phil. und Privatdozent der Physi-
kalischen Chemie und der Elektrochemie an der
Königl. Technischen Hochschule zu Aachen. Die
Elek]trochemie und die Metallurgie der
für die Elektrochemie wichtigen Me-
talle auf der Industrie- und Gewerbe-
ausstellung in Düsseldorf 1902. Mit 66
in den Text gedruckten Abbildungen. Starke ver-
mehrte Auflage des in der „Zeitschrift für Elektro-
chemie" erschienenen Berichtes. Halle a. S., Wil-
helm Knapp. 1903. — Preis 6 Mk.
Auf der genannten Ausstellung ist das Gesamt-
gebiet der chemischen Industrie in hervorragendem
Maße vertreten gewesen. Die verschiedensten Fach-
zeitschriften brachten s. Z. Berichte, die dem Leser
einen Überblick über das Gebotene verschafften. Der
Verf. hat nun alle auf das Gebiet der Elektrochemie
und der in ihrem Interesse vertretenen Metallurgie ge-
wisser Metalle bezüglichen Einzelheiten der Ausstellung
gesammelt und gibt davon in seiner Arbeit auf 84
Seiten Text eine überaus anschauliche Darstellung.
Dieselbe gliedert sich in A) Einleitung. Hierunter
werden Mineralien, Betriebe, Kohlenförderung, Erze und
Verhüttung behandelt. B) Unterricht und wissenschaft-
liche Apparate. Hier bespricht der Verf. die Festschrift
der Hochschule Aachen und in einem weiteren Ab-
schnitte die auf der Ausstellung vertretenen elektro-
chemischen Apparate. C) Erzaufbereitung. D) Erz-
förderung und Metallgewinnung. E) Metallverarbeitung
und Metallverwendung. Und unter diesem Abschnitt
finden die Galvanoplastik und Galvanotechnik, Akku-
mulatoren, Aluminium, Mangan, Platinmetalle Berück-
sichtigung. Unter F) Verschiedenes wird der Farben,
anorganischen Chemikalien, Kunstkohlen und Laugen
Erwähnung getan. Die durch ausgezeichnete Abbil-
dungen unterstützte, von sachkundiger Hand gebotene
Schrift dürfte viele Interessenten finden. R. Lb.
Literatur.
Peckham, G., u. E. Peckham : Instinkt u. Gewohnheiten der
solitären Wespen. Für Imker u. Naturfreunde. .Aus dem
Engl. V. Dr. Walth. Schoenichen. (VIII, 194 S. m. 42 Ab-
bildgn.) gr. 8». Berlin '04, P. Parey. — 5 Mk.
Briefkasten.
Herrn F. Rittergutsbesitzer auf L. — Die Rarität von
der Kackschen Balis heißt .^ndromeda calyculata. Dieser
Standort ist der einzige sicher bekannte aus der Flora Deutsch-
lands. Sonst kommt diese schöne Pflanze in Nordeuropa,
Nordasien und Nordamerika bis zu den AUeghanies vor.
Herrn L. in Berlin. — Die eingeschickten kleinen BlaU-
läuse, welche nach Ihrer Angabe im Norden Berlins, bis zum
Rathause hin, auf den Straßen oft in großen Schwärmen um-
herfliegen, gehören der geflügelten Form der Kohlblatt-
laus, A/'his brasskae L. an. Dieselbe wird nach C. L. Koch
(Die Pflanzenläuse, Nürnberg 1857, S. 149 u. Fig. 203-4),
besonders vom August bis in den Herbst hinein häufig ge-
funden und kommt nach J. H. Kaltenbach (Die Pflanzen-
feinde, Stuttgart 1874, S. 35) auf vielen Kreuzblütern, nament-
lich aber auf Kohlarten, wie Weißkolil, Rotkohl, Wirsing,
dann auch auf Rettigen, Hirtentäschelkraut usw. vor. ,, Durch
ihr gesellschaftliches Auftreten", sagt Kaltenbach, „und
ihre unglaubhch rasche Vermehrung wird sie in manchen Jahren
dem Küchengarten sehr nachteilig und dem Menschen äußerst
lästig". Nach G. B. Bück ton (Monograph of the Briüsh
Aphides, vol. 2, London 1879, p. 35) ist an den KohlbläUern
dem Gewichte nach oft mehr tierischer als pflanzlicher Stoff
vorhanden und die Blätter bekommen dann einen fauligen,
widerlichen Geruch. — Es mag sein, daß, wie Sie annehmen,
der trockene, warme Sommer der Entwicklung dieser Tiere
besonders günstig gewesen ist. Dahl.
Herrn Lehrer E. S. in Wismar. — Frage : Gibt es Werke,
welche das Tierleben des Süßwassers zusammenfassend be-
handeln ? — Ein Werk, das vielleicht Ihren Anforderungen am
vollkommensten entspricht, ist C. Lampe rt, „Das Leben der
Binnengewässer", Leipzig 1899, 607 S., 8» mit 12 Taf. (8 kol.)
u. 223 .\bb., Preis 18 Mk. .außerdem ist zu nennen ein von
verschiedenen Autoren verfaßtes, von O. Zacharias heraus-
gegebenes Werk „Die Tier- und Pflanzenwelt des Süßwassers",
Leipzig 1891, 2 Bde., 380 S., 8" m. 79 Abb. und 369 S. m.
51 Abb., Preis 24 Mk., geb. 30 Mk. Speziell über Seen
handelt ein kleines Buch von F. A. Forel, ,, Handbuch der
Seenkunde", Stuttgart 1901, 249 S. %" m. I Taf. u. 16 Abb.,
Preis 7 Mk. In demsell)en ist auf S. 161 — 241 auch da.s
Tier- und Pflanzenleben behandelt. Die schwebenden Orga-
nismen behandelt C. .A pst ein, „Das Süßwasserplankton",
Kiel 1896, 200 S. 8" m. 5 Tabellen und 113 Abb., Preis
7>20 Mk. Dahl.
Herrn G. S. in Magdeburg. — Frage: Welches Werk
oder welcher Vortrag über Eingeweidewürmer, speziell über
Taen'ia- und Distomiim-Arien, ist zu empfehlen 1 — D i e L i t e -
ratur über Eingeweidewürmer ist sehr umfangreich.
Es fragt sich da, über welche Arten Sie Auskunft wünschen.
Ich nehme an, daß es sich für Sie um diejenigen Parasiten
handelt, mit denen sich der Mensch und die Haustiere gegen-
seitig infizieren und nenne Ihnen an erster Stelle das ein-
gehende Werk von R. Leuckart, Die Parasiten des Menschen,
2. Aufl., Bd. I, Leipzig 1879— 1 901, 2.\bt. 1031 u. 938 S. 8» mit 783
Abb.. Preis 45 Mk. Kleinere handliche Bücher sind unter andern
M. Braun, Die tierischen Parasiten des Menschen, 2. Aufl.,
Würzburg 1895, 283 S. 8» m. 147 Abb., Preis 6 Mk. und
F. A. Zürn, Die tierischen Parasiten auf und in dem Körper
unserer Haussäugetiere, 2. Aufl., Weimar 1S82, 332 S. 8" m.
4 Taf., Preis 6 Mk. Vielleicht genügen Ihnen auch kleinere
Bücher wie J. Dewitz, Die Eingeweidewürmer der Haus-
säugetiere, Berlin 1892, 180 S. 8" m. 141 Abb., Preis 2,50 Mk.
oder C. Claus, Eingeweidewürmer des Menschen, Wien 1894
(Biblioth. d. ges. mediz. Wissensch. Nr. 2), 32 S. 8" ra. 52 Abb.,
Preis 1,20 Mk. Sehr eingehend und nach allen Seiten hin
zusammenfassend behandelt die Bandwürmer M. Braun,
Cestodes, Leipzig 1894 — 190O1 '731 S. 8" m. 59 Taf., Preis
93 Mk. (H. G. Bronn's Klassen und Ordnungen des Tierreichs).
Eine umfangreichere Arbeit über Distomiim ist .\. Looss,
Die Distomen unserer Fische und Frösche, Stuttgart 1894,
296 S. 4° m. 9 Taf., Preis 98 Mk. (Bibliotheca Zoologica
Heft 16). Dahl.
Inhalt: Prof. Dr. W. Halbfaß: Seiches oder stehende Seespiegelsehwankungen. — Kleinere Mitteilungen: Paul Noel;
Die Fliege Chlorops lineata F. — A. T. Drummond: Die Übereinstimmung der Flora Europas und Nordamerikas.
— W. Salensky: Unsere Kenntnis vom Mammut auf Grund der Ergebnisse der letzten russischen Mammutexpedition.
— J. Klein: Die vulkanischen Bildungen des Mondes. — O. Szlavik: Beobachtung der Bravais'schen Erscheinung.
— Holtz: Wer ist der Erfinder der modernen Elektrisiermaschine? — W. Otto: Röntgenstrahlen im Dienste der
Kabelfabrikation. — Wetter-Monatsübersictit. — Bücherbesprectiungen: G. Niemann: Das Mikroskop und seine
Benutzung im pflanzenanatomischen Unterrichte. — W. H e r z : Über die Lösungen. — S.ammlung Chemischer und
Chemisch-technischer Vorträge: Ephraim, Das Vanadin. — Manuel von Uslar: Das Gold. Sein Vorkommen,
seine Gewinnung und Bearbeitung. — H. Danneel: Die Elektrochemie und Metallurgie der für die Elektrochemie
wichtigen Metalle auf der Industrie- und Gewerbeausstellung in Düsseldorf 1901. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druclc von Lippert & Co. (G. Päti'sctie Buclidr.), Naumliurg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Di6 JNa,tUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 30. Oktober 1904.
Nr. 57.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Kxpedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zwcigespaltcne Pctitzeile 50 Pfg. Hei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt, Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändicrinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Wie sich die Pflanzen das Sonnenlicht dienstbar machen.
[Nachdruck verboten.] Von H. Filipp in Lübeck.
Von wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung wissen Grade
der spezifisch pflanzlichen und tierischen Charaktere
ist die Art der Ernährung. Während die Tiere
zu ihrer Erhaltung organischer Stoffe bedürfen,
sind die — meisten — Pflanzen imstande, aus an-
oreanischen Substanzen organische herzustellen.
Diese Fähigkeit, und zwar in erster Linie die Er-
zeugung der Kohlenhydrate, bezeichnet man be-
kanntlich als Assimilation. Weil sie das Material
zum Wachstum und zur Erzeugung mechanischer
und thermischer Energie liefert, ist sie von unge-
heurer Bedeutung im Haushalte der Natur. Be-
sitzen alle Pflanzen die Fähigkeit der Assimilation ?
Und unter welchen Bedingungen findet sie statt?
Genauere Untersuchungen, auf die wir hier nicht
näher eingehen wollen, haben folgendes ergeben :
1. Organe der Assimilation sind die
mitChlorophyll versehenen Zellen, bei
den meisten höheren Pflanzen also die Blätter.
2. Die Assimilation findet nur unter
Mitwirkung des Sonnenlichts statt.
3. Je stärker das Sonnenlicht ein-
wirken kann, um so bedeutender ist die
Assimilation — freilich nur bis zu einem ge-
worauf wir weiter unten zurück-
kominen werden.
Diese Tatsachen sind von fundamen-
taler Bedeutung für das Verständnis des
BauesderPflaiizen. Wenn nämlich das Sonnen-
licht unumgänglicli nötig ist, dann müssen die
Pflanzen, um dem „Kampfe ums Dasein" gewachsen
zu sein, Einrichtungen besitzen, welche es gestatten,
das Licht, das ihnen unter normalen Bedingungen
zur Verfügung steht, nach Möglichkeit auszunutzen.
Welches sind die Einrichtungen? Diese Frage zu
beantworten, soll unsere Aufgabe sein. Weil aber
die Mittel so mannigfacher Natur sind, ist eine
erschöpfende Behandlung des Themas unmöglich.
Wir werden uns deshalb darauf beschränken, speziell
an Vertretern der heimischen Flora eine Über-
sicht über die verbreitetsten Einrichtungen zu geben,
welcher sich die Natur bedient , um eine mög-
lichst vollkommene Durchleuchtung der Assimila-
tionsorgane zu erzielen.') Dabei wollen wir dort,
') Es mag hier bemerkt werden, daß sich die Pflanzen
das Sonnenlicht noch zur Erreichung anderer Zwecke (Ver-
dunstung etc.) nutzbar machen. . Das lassen wir aber gänzlich
außer Betracht.
898
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
wo es angebracht und möglich erscheint, mit
Hilfe des für die Erforschung des Pflanzenlebens
so wichtigen Experimentes ein genaueres Ver-
ständnis zu erhalten suchen.
Es ist eine allbekannte Erscheinung, daß die
Wurzel in den Erdboden hineinwächst, der Stengel
mit den Blättern etc. sich von der Erde entfernt.
Daß diese Tatsache durchaus nicht etwas Selbst-
verständliches oder Zufälliges ist, lehrt ein Versuch.
Wird eine Keimpflanze von Phaseolus multiflorus
so aufgestellt, daß die vorher vertikal gerichteten
Organe horizontal zu liegen kommen, so beginnt
schon nach einigen Stunden eine Krümmung der
Wurzelspitze nach unten, der Stengelspitze nach
oben (Fig. i). Man bezeichnet jene Krümmung
bekanntlich als positiv geotropisch, diese als
negativ geotropisch. Die biologische Bedeutung
dieser Erscheinung liegt klar zutage. Welche
Lage der Same in der Erde auch einnehmen mag
— immer gelangt der junge Sproß an die Erd-
oberfläche, in den Bereich des für ihn unbedingt
notwendigen Sonnenlichts.
Fig. I. Negativ geotropisch gekrümmtes Epikotyl von Pliascolus
multiflorus. Aus Detmer, physiolog. Prakt.
P^in eigentümliches geotropisches Verhalten be-
obachten wir an den Halmen der Gräser.
Nicht selten kommt es vor, daß durch starken
Regen oder Hagel das Getreide sich „lagert". Diese
Erscheinung birgt eine große Gefahr in sich: da
die Pflanzen sich gegenseitig bedecken, ist die
Lichtzufuhr gehindert; infolgedessen wird die Assi-
milation und damit die Versorgung der Samen
mit Reservestoffen wenn nicht aufgehoben so doch
stark beeinträchtigt. Nun besitzen die noch nicht
ausgewachsenen Halme die P"ähigkeit, sich wieder
aufzurichten. Um dieses Verhalten genauer zu
studieren, schneiden wir einige in der Mitte mit
einem Knotengelenk versehene Stücke von ca. 10 cm
Länge aus den Halmen von Hordeum vulgare
heraus und stecken sie horizontal mit der Basis
in einen kleinen Wall von Sand, der an einer
Wand einer Zigarrenkiste aufgehäuft wurde. Nach
Verlauf von 48 Stunden ist das freie Ende der
Halmstücke emporgerichtet. Wie Figur 2 erkennen
läßt, ist die Aufrichtung durch ungleiches Wachs-
tum in den Knotengelenken herbeigeführt. Eine
Messung dieser Gelenke ergab folgendes Durch-
schnittsresultat;
Vor der Krümmung:
Ober- und Unterseite: 1,5 mm.
Nach der Krümmung:
Oberseite: 1,5
Unterseite: 4,7
Zuwachs der Unterseite: 3,2 mm.
Fig.
Halmstück eines Grases, geotropisch gekrümmt.
Aus Detmer, kl. physiol. Prakt.
Die eigenartige Form, in welcher sich der
negative Geotropismus hier äußert, ist bedingt
durch das interkalare Wachstum; sie findet sich
deshalb bei allen Pflanzen, die in dieser Weise
sich entwickeln.
Wie die Schwerkraft, so beeinflußt auch das
Licht alle Pflanzen in biologisch bedeutsamer
Weise. PVagen wir uns zunächst: Wie entwickelt
sich eine Pflanze, wenn ihr das Sonnenlicht fehlt?
Ein Versuch gibt uns die Antwort. In zwei
Blumentöpfen kultivieren wir Cucurbita pepo. Der
eine Topf mit etwa 6 Samen wird unter einer
Glasglocke ins Freie, der andere unter einen Zink-
blechzylinder gestellt. Untersuchen wir z. B.
nach 18 Tagen, so finden wir, daß die im Dunkeln
gewachsenen Pflanzen lange Stengel und schmale,
gelbe Blätter, die im Lichtgenuß befindlichen da-
gegen kurze Stengel und breite, grüne Blätter ge-
bildet haben. Eine Messung dieser Organe ergab
folgende Mittelwerte :
Länge des Stengels
Länge der Blätter
Breite ,, ,,
Dunkelpflanze
13,7 cm
S.5 ..
3,1 ..
Lichtpfianze
5,9 cm
11,3 „
6,0 ,,
Die Pflanzen, denen das Licht entzogen war,
haben natürlich nicht assimilieren können. Daß
sie trotzdem so rasch gewachsen sind, erklärt sich
dadurch, daß sie aus den in den Samen ent-
haltenen Reservestofifen große, dünnwandige und
wasserreiche Zellen bildeten.
Dieses anormale, als Etiolement bezeich-
nete Wachstum ist in biologischer Hinsicht von
großer Bedeutung. Wenn nämlich ein Same tief
in die Erde gerät, so benutzt er fast alles Nähr-
material zu einer raschen Streckung des Stengels;
ist dieser erst an die Oberfläche gelangt, dann
werden auch die Blätter ausgebreitet, damit sie
assimilieren und zum weiteren Ausbau beitragen
können. Bei Cucurbita streckt sich der unter den
Keimblättern befindliche Stengelteil, das Hypokotyl,
bei anderen Pflanzen, z. B. Phaseolus, dagegen das
über den Keimblättern gelegene Epikotyl.
Wie beeinflußt nun das LJcht das Wachstum?
N. F. m. Nr. 57
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
899
Um die Einwirkung des Lichtes beobachten zu
können, müssen wir dafür Sorge tragen, daß das
I.icht nur von einer Seite her auf die Pflanzen
gelangt. Zu diesem Zwecke wird eine helio-
tropische Kammer (Fig. 3) benutzt. Als
Fig- 3
Heliotropische Kammer.
Prallt.
Aus t>ctmer, kl. jiliysiol»
Wasserpflanzen, ähnlich wie diejenigen der meisten
Tiere, aus Geweben aufgebaut. In der Anordnung
der Zellen macht sich jedoch zwischen Pflanzen-
und Tierreich ein eigenartiger Gegen-
satz geltend, der erklärt wird durch die Art der
Ernährung. Der Körper der Tiere bildet in der
Regel eine kompakte Masse und besitzt eine ge-
ringe äußere Oberfläche; im Innern dagegen,
namentlich in bezug auf die Verdauungsorgane, ist
häufig eine sehr bedeutende Flächenaiisbreitung
zu erkennen. Anders liegen die Verhältnisse bei
den Pflanzen; der Stengel entwickelt sich besonders
nach einer Richtung hin, in die Länge; die Blätter,
die Ernährungsorgane, sind flächenhaft
ausgebreitet und bieten in ihrer Gesamtheit
der Außenwelt eine mit Rücksicht auf die Masse
Untersuchungsobjekt dienen mehrere Exemplare
von Sinapis alba, die unter Ausschluß des Lichts
in einem Blumentopfe gezogen wurden. Wenn
die oberirdischen Stengelteile eine Länge von 2
bis 3 cm erreicht haben, werden die Pflanzen in
der heliotropischen Kammer einseitiger Beleuch-
tung ausgesetzt. Bei dem Versuch, der bei 25" C
ausgeführt wurde, war nach 2'/... Stunden eine
Krümmung der Stengelspitze eingetreten und zwar
derart, daß sich der Stengel den einfallenden
Sonnenstrahlen parallel gerichtet hatte. Die Krüm-
mung ist, wie sich unmittelbar ergibt, durch stär-
keres Wachstum der vom Licht abgewendeten
Seite herbeigeführt. Und welches ist der Sinn
dieser positiv heliotropischen Krümmung? Der
Stengel krümmt sich zum Lichte hin und bringt
somit die Blätter in eine Lage, in welcher sie
möglichst viele Sonnenstrahlen auffangen können.
So steht auch diese im Pflanzenreich allgemein
verbreitete Erscheinung im Dienste der Assimi-
lation.
Die Erzeugung der Kohlehydrate findet in
den Chlorophyllkörpern statt. Sollen diese
ihre Funktion erfüllen, so müssen sie in den
Zellen und die Zellen in den Geweben
so angeordnet sein, daß sie möglichst
vollständig und gleichmäßig vom Lichte
getroffen werden. Dieses Ziel wird bei den
einzelligen und bei den aus Zellfäden und ein-
schichtigen Zellflächen bestehenden Pflanzen in
verhältnismäßig einfacher Weise erreicht. Die
Chlorophyllkörper liegen im wandständigen Proto-
plasma eingebettet, so daß sie sich gegenseitig
das Licht nicht rauben (aber nur bis zu einer ge-
wissen Lichtintensität). Eine eigentümliche An-
ordnung des Chlorophyllapparates, deren biologische
Bedeutung ohne weiteres verständlich ist, zeigt die
Algengattung Spirogyra (P^ig. 4); die Chloro-
phyllkörper bilden je nach der Art ein oder mehrere
spiralige, der Zellwand angelagerte Schrauben-
bänder.
Eine Aneinanderreihung der Zellen nach zwei
Richtungen des Raumes ist bei den Pflanzen,
welche frei den Witterungseinflüssen ausgesetzt
sind, aus mechanischen Gründen unmöglich. In
der Tat sind die Organe der höheren Land- und
Fig. 4. Zelle von Spirogyra jugalis. eh = Chlorophyllkörpcr.
Vergr. 256. Aus „Bonner Lehrbuch".
unverhältnismäßig große Oberfläche dar. Worin
der Vorzug dieses Baues besteht, wird klar, wenn
wir annehmen, die Blätter seien auch nur einige
Millimeter dick. Dann würden die außen ge-
legenen Zellen das Licht absorbieren, und die im
Innern befindlichen könnten für die Assimilation
nicht in Betracht kommen. Da aber in Wirklich-
keit die Blätter — von besonderen Ausnahmen
abgesehen — flächenartig ausgebildet sind und nur
eine Dicke von Bruchteilen eines Millimeters be-
sitzen, sind sie imstande, eine bedeutende Menge
von Lichtstrahlen aufzufangen und der Assimilation
dienstbar zu machen — ganz abgesehen davon,
welche Bedeutung dieser Bau für die Versorgung
der Zellen mit Kohlensäure etc. hat.
Untersuchen wir nunmehr, inwiefern der
anatomische Bau der Blätter der phy-
siologischen Leistung angepaßt ist.
Fig. 5') zeigt den Querschnitt eines Blattes von
Triticum vulgare. Zwischen der Epidermis der
') Diese und ebenso die übrigen Originalabbildungen sind
on Herrn W. Planthafer in Lübeck angefertigt.
900
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. IIl. Nr. 57
Ober- und Unterseite ist das Assimilations- (und
Transpirations-)gewebe ausgebreitet. Die ein-
zelnen Zellen sind im großen und ganzen gleich-
artig ausgebildet, besitzen eine polyedrische Ge-
stalt und lassen nur kleine Interzellularen zwischen
sich. Der Bau, wie er uns hier entgegentritt, ist
typisch für die meisten, allerdings nicht für alle
Monokotylen.
Fig. 5. Teil des Querschnittes durch ein Blatt von Triticum
vulgare.
Bei den Dikotylen ist fast immer eine Differen-
zierung des Blattgewebes eingetreten. Figur 6
.stellt den Querschnitt eines Blattes von Fagus sil-
vatica dar. Die mit Chlorophyll versehenen Zellen
lassen einen deutlichen Unterschied erkennen. Der
Blattoberseite zugewendet ist eine Schicht von
langgestreckten, schlauchförmigen Zellen, die mit
ihrem größten Dtirchmesser senkrecht zur Hlatt-
dazwischen Schwammgewebe. Das Palisaden-
parenchym überwiegt bei Pflanzen an sonnigen,
das Schwammparenchym bei solchen an schattigen
Standorten. — IVIanche Pflanzen besitzen die sehr
nützliclie Fähigkeit, den Hau ihrer Blätter den ver-
schiedenen Beleuchtungsbedingungen anzupassen,
z. B. die Buche. Bei den Sonnenblättern — so
wollen wir der Kürze wegen die im direkten
Sonnenlicht entwickelten Blätter nennen — ist
fast das ganze Mesophyll als Palisadenparenchym
ausgebildet; das Schattenblatt dagegen weist fast
nur Schwammgewebe auf. Zwischen beiden E,\-
tremen kommen nach Stahl je nach den Stand-
orten alle denkbaren Mittelstufen vor (vgl. Fig. 7).
Charakteristisch für die verschiedenen Zell-
formen ist auch die Lagerung der Chloro-
phyllkörner (vgl. Fig. 6). In den Palisaden-
zellen liegen sie an den zur Blattfläche senkrecht
stehenden Wänden, nehmen also Profilstelluncr ein;
in den Zellen des Schwammgewebes finden sie
sich an den zur Fläche parallelen Wänden, lagern
hier also in Flächenstellung.
Fragen wir uns nun : Welche Bedeutung hat
die Differenzierung des Blattgewebes und die ver-
schiedene Lagerung der Chlorophyllkörper? Die
Palisadenzellen der Sonnenblätter erhalten das
direkte Licht und absorbieren einen Teil desselben.
Weil die Chlorophyllkörner Profilstellung einnehmen,
geht ein großer Teil der Strahlen ungehindert hin-
Fig. 6. Querschnitt durch das Blatt von Fagus silvatica
pl = Palisadenparenchym, sp = Schwammparenchym.
Aus ..Bonner Lehrbuch".
fläche liegen und fast lückenlos aneinanderstoßen.
Darunter befinden sich kleinere, nach allen Rich-
tungen des Raumes ziemlich gleichmäßig ent-
wickelte Zellen, die große Interzellularen zwischen
sich lassen. Man bezeichnet jenes Gewebe als
Palisaden-, dieses als Schwammparen-
chym. — Der hier gekennzeichnete Bau ist für
die meisten Blätter charakteristisch, weist jedoch
im einzelnen je nach den Standorten Verschieden-
heiten auf. Das Palisadenparenchym liegt an der
Oberseite, das Schwammparenchym an der Unter-
seite bei solchen Blättern, die von oben her von
den Sonnenstrahlen getroffen werden. Die vertikal
gerichteten Blätter besitzen meist sowohl an der
Ober- wie an der Unterseite Palisadengewebe und
Fig. 7. Querschnitte durch Blätter
einer Klutbuche. 1 Lichtblatt.
II Schattenblatt. Nach Nordhausen
aus Jost, Vorl. über Pflanzcnphys.
durch, gelangt eventuell zu den nächsten Palisaden-
zcllen, durchdringt auch diese und kommt schließ-
lich, natürlich etwas abgeschwächt, zu den Zellen
des Schwammgewebes. Hier lagern die Chloro-
phyllkörner in Flächenstellung und nehmen den
größten Teil der Lichstrahlen auf. Bei den Schatten-
blättern gelangt das diffuse, schon bedeutend ab-
geschwächte Licht zunächst in die schwach ent-
wickelten Palisadenzellen, um gleich darauf von
N. F. m. Nr. 57
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
901
den in Flächenstellung verharrenden Chlorophyll-
körpern des Schwammparenchyms absorbiert zu
werden. Der Palisadentypus ist für diese Pflanzen
wenig angebracht, weil die Chlorophyllkörner, um
ihre Funktion erfüllen zu können, Flächenstellung
einnehmen müßten. Somit ist der Palisadentypus
das für sonnige, der Schwammtypus das für schat-
tige Standorte der Leistung am besten angepaßte
Gewebe.
Dazu kommt noch ein anderer Umstand : Die
Blätter von Pflanzen, welche an son-
nigen Orten wachsen, sind kleiner und
dicker als diejenigen derselben Art,
welche an schattigen Orten gedeihen.
An Sambucus nigra ist dieser Unterschied leicht
große Menge von Material zum Aufbau der Stiele
notwendig.
Daß die Modifikationen hinsichtlich
der Größe der Blätter in der Tat durch die
verschiedenen Beleuchtungsbedingun-
gen hervorgerufen werden, zeigt ein Versuch.
Wir kultivieren in mehreren Blumentöpfen Pha-
seolus multiflorus. Einige Exemplare werden in
den Genuß des vollen Sonnenlichts gesetzt; den
anderen wird das direkte Licht vorenthalten, in-
dem sie vor ein Nordfenster gestellt werden. Nach-
dem die Pflanzen eine Höhe von etwa 50 cm er-
reicht haben, wird eine Messung vorgenommen.
Diese ergab in einem Versuche folgende Mittel-
werte (vgl. dazu Elg. 8).
Fig. 8. Blätter von Phaseolus multiflorus (schematisch).
a und b Schattcnblätter. c und d Sonnenblätter.
a und c Primordial-, b und d Fiederblätter. ca. '/.1 "»'• Gr.
zu beobachten.') Die Messung einer größeren
Zahl von Fiederblättchen hatte folgendes Ergebnis :
Sonnenblätter :
Länge: 5,4 cm
Breite: 3,1 „
Schattenblätter :
Länge: 12,8 cm
Breite: 5,7 „
Auffallend ist das Verhältnis der Länge
zur Breite; es betrug bei den
Sonnenblättern: 1,74:1
Schattenblättern: 2,25:1.
Wie erklärt sich dieses Verhältnis? Soll die
Breite in demselben Verhältnis wie die Länge
wachsen, dann müssen die Blättchen, um sich
nicht gegenseitig zu bedecken, weit voneinander
rücken. Dazu ist aber eine unverhältnismäßig
Sonnenpflanze
Primordialblatt
Fiederblättchen
(Endblättchen)
Länge; 7,1 cn
Breite: 5,6 „
Länge : Breite
= 1.27 ■■ '
Länge : $,2 cm
Breite: 3,1 „
Länge : Breite
= 1,68: I
Schattenpflanze
Länge : 1 1 ,04 cm
Breite : 10,36 ,,
Länge : Breite
= 1 ,06 : I
Länge : 8,0 cm
Breite: 3,8 „
Länge : Breite
= 2,15 : I
') Von Einfluß sind freilich auch die Feuchtigkeitsverhältnisse.
Auch hier zeigt sich die Erscheinung, daß die
Zunahme der Breite mit derjenigen der Länge
nicht gleichen Schritt hält.
Hinsichtlich der Dicke der Blätter ergab
sich folgendes:
Sonnenblätter: 0,25 mm
Schattenblätter: 0,i6 „
Dasselbe, was hier für Phaseolus und Sambucus
nachgewiesen ist, gilt für viele andere Pflanzen:
an sonnigen Standorten derbe und kleine Blätter,
an schattigen Orten dünne und große Blätter. Nach
Stahl sind Blattgröße und Blattdicke bis zu einem
gewissen Grade umgekehrt proportional.
Und welches ist der Sinn dieses Verhaltens?
Aus der gleichen Menge von Baumaterial bildet
die Sonnenpflanze kleine, aber dicke, die Schatten-
pflanze große, jedoch dünne Blätter. Das schwache
Licht, welches die Schattenblätter empfangen, wirkt
mit genügender Intensität in den nicht tief ge-
legenen Zellen. Das stärkere Licht dringt mit
Leichtigkeit in die tiefer befindlichen Zellen der
Sonnenblätter ein und befähigt somit die Chloro-
phyllkörper zur Assimilation. — Zugleich liegt
diese Einrichtung im Interesse einer den Verhält-
nissen angepaßten Transpiration. Die zarten und
großen Blätter ermöglichen eine ausgiebigere Ver-
dunstung, die nicht nur ohne Gefahren, sondern
häufig sogar notwendig ist; durch die derben und
kleinen Blätter wird eine übermäßige Verdunstung
welche die betreffenden Pflanzen vermeiden müssen,
verhindert.
Damit die Blätter ihre Funktion erfüllen können,
ist es nötig, daß sie im ausgespannten Zustande
dem Lichte dargeboten werden. Diese Festi-
902
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
gung- kann ■ — theoretisch — auf verschiedene
Weise erreicht werden. Einmal wird sie ermög-
licht durch eine Verdickung der Membranen aller
Zellen (Stamm !). Dieser Weg ist aber nicht gang-
bar, weil die Wände damit undurchlässig für die
Lichtstrahlen werden. Die Pflanzen gelangen aut
andere Weise zu demselben Ziel: Mit den der
Leitung von Nährstofifen bzw. Assimilaten dienen-
den Elementen sind andere, der Festigung dienende
zu den Gefäßbündeln vereinigt, die vom Stiel aus
als „Nerven" die Blätter durchziehen. Die An-
ordnung der Nerven ist bekanntlich verschieden
und wird systematisch verwertet.
Von großer Bedeutung für die Ernährungs-
tätigkeit der Pflanze ist eine zweckmäßige
Verteilung der Blätter am Stengel. Nach
der gegenseitigen Stellung unterscheidet man be-
kanntlich quirlständige, gegenständige, kreuzstän-
dige, zerstreut stehende Blätter, je nach der Aus-
bildung gestielte und sitzende Blätter etc. So
mannigfaltig diese Verhältnisse auch sein mögen,
immer dienen sie einem und demselben Zwecke ;
die Blätter in eine solche Lage zu bringen, daß
möglichst alle vom Licht getroffen werden. Ein
Beispiel möge das erläutern : Fig. 9 zeigt einen
Fig. 9. Teil des oberirdischen Sprosses von Stachys süvatica.
'/a nat. Gr. (Die Zalilen bezeichnen cm.)
Teil des oberirdischen Sprosses von Stachys sil-
vatica. Die Blätter sind dekussiert. Berücksich-
tigen wir, daß die Sonnenstrahlen nicht parallel
mit dem Stengel, sondern schräg einfallen, so er-
gibt sich, daß der größte Teil der Blätter Licht
empfängt. Dies wird noch vollkommener erreicht
durch die Verschiedenheit der Blattgröße und der
Länge der Blattstiele. Von unten nach oben nehmen
die Blätter an Größe und die Stiele an Länge ab,
wie die in die Figur eingetragenen Zahlen deut-
hch erkennen lassen. Die letztgenannte Erschei-
nung, daß die Stiele verschieden lang sind, ist in
der Pflanzenwelt weit verbreitet; sie ist um so
mehr nötig, je größer die Blattflächen (z. B. Wald-
pflanzen), um so entbehrlicher, je kleiner die Spreiten
sind (Sonnenpflanzen).
Bei manchen Pflanzen (Plantago, Taraxacum
u. a.) entspringen die Blätter in Form einer Ro-
sette gleich über der Oberfläche der Erde. Diese
Anordnung ist unzweifelhaft von großem Nutzen,
denn die Pflanze spart an Material zum Aufbau
des Stengels — ganz abgesehen davon, daß auf
diese Weise die X'erdunstung beträchtlich herab-
gesetzt wird. Dem Vorteil stellt freilich ein Nach-
teil entgegen: die Pflanze kann nur da gedeihen,
wo ihr von den umgebenden Gewächsen nicht
das Licht geraubt wird, also auf trockenem, dürrem
Boden.
Die größte Schwierigkeit einer zweckmäßigen
Verteilung liegt bei den Bäumen vor; müssen
sie doch viele Tausende von Blättern dem Lichte
darbieten ! Da in das Innere der Baumkrone nur
bedeutend abgeschwächtes Licht eindringt, ist es
von großem \'orteil, wenn möglichst viele Blätter
an die äußere Oberfläche rücken. In der Tat läßt
sich dieses Bestreben an allen unseren Laub- und
Nadelbäumen verfolgen. Die unteren Zweige sind
länger als die oberen und stehen entweder fast
senkrecht vom Hauptstamm ab oder steigen schräg
an unter einem Winkel von ca. 45"; auf diese
Weise entstehen die so verschiedenen Formen der
Baumkrone. Die Nadelbäume lassen die im Innern
gelegenen Blätter zugrunde gehen, nicht ohne vor-
her die noch brauchbaren Stoffe wenigstens zum
Teil aus ihnen herauszuziehen. An den Laub-
bäumen und auch an anderen Pflanzen (z. B. Hedera
helix) beobachten wir vielfach, daß die Blätter fast
in einer Ebene liegen, wobei ein Blatt das andere
wenig oder garnicht verdeckt. (Über dieses sog.
Blattmosaik vgl. man die trefflichen Abbildungen
in Kerner's Pflanzenleben.)
Wie aus diesen Beispielen hervorgeht, zeigen
die Pflanzen das Bestreben, die Blätter
senkrecht zu den einfallenden Strahlen
zu stellen. Dieses Ziel wird auf verschiedene
Weise erreicht: durch Verlängerung oder Drehung
der Blattstiele, durch geotropische und heliotropische
Krümmungen etc. Besonderes Interesse verdient
die sog. Photoepinastie, wie sie uns z. B. bei
Cucurbita pepo entgegentritt. Ein Versuch wird
diese Erscheinung am besten erkennen lassen. In
einem Blumentopf kultivieren wir bei Lichtabschluß
mehrere Pflanzen. Nach 14 Tagen, nachdem die
oberirdischen Stengelteile eine Länge von etwa
10 cm erlangt haben, untersuchen wir die Keim-
pflanze und beobachten nun, daß die beiden
Kotyledonen zusammengeschlagen sind (Fig. lOa).
Werden die Pflanzen jetzt im lichten Schatten auf-
gestellt, so breiten sich die Blätter innerhalb weniger
Stunden aus und stellen sich senkrecht zu den
einfallenden Strahlen (Plg. lob). Die Krümmung
der Blätter bis zu dieser Lage erfolgt, wie sich
N. F. m. Nr. 57
Nat ur wissenschaftlich e Woch enschri fi.
903
unmittelbar ergibt, durch stärkeres Wachstum der
Blattoberseite; sie wird infolgedessen als Epinastie,
und weil sie durch das Licht hervorgerufen ist,
Fig. 10. Oberirdischer Teil einer Keimpflanze von Cucurbita
pepo. a etioliert. b und c beleuchtet. (Die Pfeile bezeich-
nen die Richtung der einfallenden Strahlen.)
als Photoepinastie bezeichnet. Werden die Pflanzen
nun horizontal gelegt, nachdem der Stengel, um
eine geotropische Krümmung auszuschließen, an
einer Stütze befestigt
ist, so zeigt sich nach
einem Tage, daß die
Blätter abermals ihre
Lage verändert haben :
Beide Keimblätter sind
parallel mit dem Sten-
gel und senkrecht zu
den einfallenden Strah-
len ausgebreitet (Fig.
lOc). Die Krümmung
ist bei einem Blatte
durch Epinastie, bei
dem anderen durch
negativ geotropisches
Verhalten des Blatt-
stieles veranlaßt.
Eine Belichtung wird
bei vielen Pflanzen noch
auf andere Weise er-
zielt. Die Blätter man-
cher Gewächse sind
bekanntlich geteilt; je
nach der Tiefe, bis zu
welcher die Teilung
fortschreitet, bezeich-
net man die Blätter
als gelappt, gespalten,
geteilt, geschnitten, oder wenn die einzelnen Teile
selbständig werden, als zusammengesetzt. Der
Sinn dieser verschiedenen Modifikationen ist wieder
ein gleicher. Wäre die Blattfläche ungeteilt, dann
würde einmal die Gefahr nahe liegen, daß die
Ernährungsorgane durch Wind und Regendruck
zerrissen; andererseits würden die tieferstehenden
Blätter von den darüber befindlichen verdunkelt
werden. Beides ist vermieden durch die Teilung
der Spreite. Fig. 11 stellt einen Sproß mit
den gefiederten Blättern von Rosa canina dar, wie
er sich uns, in der Richtung der einfallenden
Strahlen gesehen (morgens), darbietet. Wie die
Zeichnung erkennen läßt, werden von den oberen
Blättern die unten stehenden nur wenig verdunkelt ;
die Unvollkommenheit, die immerhin noch besteht,
wird zum Teil dadurch ausgeglichen, daß das
Sonnenlicht während des Tages immer neue Flächen
trifft. Die Teilung der Blattfläche bietet also ganz
wesentliche Vorteile; sie gestattet vor allem, daß
an den Spitzen der Sprosse große Flächen aus-
gebreitet werden können, was ohne die Teilung
unmöglich wäre.
Dem Stamme oder Stengel kommt neben der
Stoffleitung noch die Aufgabe zu, die Ernäh-
rungsorgane gegen das Licht auszubreiten.
Je nach der Zahl und Größe der Blätter ist die
Last, welche der Stamm zu tragen hat, und damit
auch seine Stärke verschieden. Es gibt jedoch
einige Kräuter, Stauden und Sträucher, deren
Stengel so dünn ist, daß er die Blätter nicht zu
tragen vermag; infolgedessen müssen diese Ge-
wächse am Boden entlang kriechen, wie es tat-
Fig. 11.
Teil des Sprosses von Rosa canina in der Richtung
der einfallenden Strahlen gesehen.
904
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
sächlich z. B. bei Lysimachia nummularia der Fall
ist. Bestehen können sie aber nur solange, als
ihnen von anderen, besser ausgerüsteten Orga-
nismen nicht das Licht streitig gemacht wird.
Manche Pflanzen besitzen nun die Fähigkeit, sich
gegen diese Gefahren mit Erfolg zu behaupten;
sie benutzen andere Gewächse, um an ihnen zum
Licht emporzuklimmen. Die Mittel, welche zu
diesem Zwecke verwandt werden, sind verschieden.
Die Schlingpflanzen benutzen meistens
eine dünne, aufrecht stehende Stütze und winden
sich an derselben mit ihrem Stengel in Form einer
Schraubenlinie empor. Der Vorteil, den diese
Form des Wachstums hat, besteht darin, daß mit
einer geringen Menge Baumaterial rasch eine be-
deutende Höhe erreicht wird. Freilich wird der \'or-
zug zum Teil wieder ausgeglichen ; denn der win-
dende Stengel muß, um zu einer bestimmten Höhe
zu gelangen, nicht unbeträchtlich länger sein als
ein aufrechter Stamm.
F'ig. 12. Teil eines Sprosses von Sicyos angulatus mit einer
Ranke, a nicht gereizt, b schwach mit Holzstäbchen gereizt,
c mehrfach .berührt. (.'\us Detmer, kl. physiol. Praktikum.)
Ein anderes Mittel benutzt der Efeu, Hedera
helix. Er ist mit Kletter wurzeln versehen,
welche dem Stengel entspringen und in die Un-
ebenheiten der Bäume, Mauern etc. eindringen, um
so eine Befestigung herbeizuführen.
Dasselbe Ziel erreichen andere Pflanzen unter
Aufwand einer geringeren Menge von Material mit
Hilfe der Ranken. Morphologisch betrachtet
sind die Ranken verschiedenwertig; teils sind sie
uingewandelte Stengel, teils abgeänderte Blätter.
Physiologisch aber sind alle gleichwertig. Blatt-
ranken, die als Mittelnerven von Blättern, denen
die Spreite fehlt, gedeutet werden, finden sich
vielfach bei den Schmetterling.sblütlern. Bei Pisum
sativum z. B. sitzen die Ranken da, wo sonst die
Fiederblätter sich befinden. Solange die Ranke
einen Gegenstand noch nicht berührt hat, ist sie
gerade; auf einen Berührungsreiz hin beginnt
das freie Ende sich zu krümmen und die Stütze
zu umschlingen. Bemerkenswert ist, daß für die
Fiederteile die Nebenblätter vikariierend als Assi-
milationsorgane eintreten. — Für das Studium der
Rankenbewegung eignet sich vorzüglich Sicyos
angulatus (Fig. 12). Berührt die Ranke eine
in der Nähe aufgestellte Stütze, z. B. einen Draht
oder dünnen Holzstab, so wird eine Reizbewegung
ausgelöst, und die Ranke beginnt sich zu krüm-
men. Dadurch kommen neue Teile der Ranke
mit der Stütze in Berührung; der schließliche Er-
folg ist ein Umwinden der Stütze (Fig. 1 2, Zweig d).
Nach kurzer Zeit bildet der zwischen der Stütze
und der Pflanze ausgespannte Rankenteil kork-
zieherförmige Einrollungen und an einer Stelle
(bei W) einen Wendepunkt. Die Einrollungen
sind für die Pflanze von Bedeutung, weil ein Zer-
reißen der Ranke infolge der Einwirkung des
Windes etc. kaum möglich ist.
In ganz eigentümlicher Weise
beeinflußt die Beleuchtung die
Bewegung derFlagellaten
und der Schwärmer. Die
Algen der Gattung Clamydomonas
(Fig. 13a) sind einzellige, grün
gefärbte, mit einem Kern, zwei
Cilien und zwei Vakuolen ver-
sehene Organismen. Sie finden
sich in stehenden Gewässern, nicht
benutzten Brunnentrögen häufig
in so großer Zahl, daß das Wasser
durch sie grün gefärbt und undurch-
sichtig erscheint. Um sie in ihrem
Verhalten zum Licht kennen zu
lernen, bringen wir Wasser, das
viele Schwärmer enthält, in eine
Kristallisierschale und stellen diese
in die Nähe des Fensters. Nach
Verlauf einer halben Stunde be-
obachten wir, daß sich die
größte Zahl der Algen an der
dem Fenster am nächsten gelege-
nen Seite angesammelt hat. Zur
genaueren Untersuchung benutzen
Fig.
13. a Clamydomonas. b Feuchte Kammer.
Te.xt.)
wir das Mikroskop. Um die Schwärmer in der Be-
wegung nicht zu hindern, ist es nötig, daß sie im
„hängenden Tropfen" untersucht werden.'' Zu dem
Zwecke verfertigen wir etwa aus einer \'isitenkarte
einen kleinen Rahmen, dessen innerer Raum etwas
N. F. m. Nr. 57
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
905
kleiner ist als das zu benutzende Deckglas; der
Rahmen wird mit Wasser durchtränkt und aut
einen Objektträger gelegt. Nun bringen wir einen
Wassertropfen mit Schwärmern auf ein Deckglas,
kehren dieses um und legen es so auf den Rah-
men, daß der Tropfen frei in der entstandenen
, feuchten Kammer" hängt (Fig. 13 b). Beobachten
wir jetzt die Schwärmer unter dem Mikroskop,
so bemerken wir, daß nach kurzer Zeit sich alle
Algen an dem dem Lichte zugewandten Rande
des Tropfens angesammelt haben. Daß dies nicht
zufällig ist, zeigt sich, wenn wir das Deckglas um
l8o" drehen. Mit den Augen läßt sich verfolgen,
wie sich die Schwärmer aus der bisher eingehal-
tenen Lage entfernen und wieder zum Lichte sich
hinbewegen. Das Spiel läßt sich mit demselben
Erfolge beliebig lange fortsetzen. - Der Versuch
zeigt daß die Lichtstrahlen einen Reiz auf die
Schwärmer ausüben , dessen Wirkung dann zum
Ausdruck kommt, daß sie sich zum Lichte hin
wenden. Die Ortsveränderung, die durch das
Licht veranlaßt wird, bezeichnet man als Photo-
taxie Als Organ, welches der Perzeption des
Reizes dient, wird der rote Augenfleck gedeutet.
— Es mag bemerkt werden, daß die Schwärmer
das Licht fliehen, sobald dieses eine gewisse
Helligkeitsgrenze überschreitet.
Welche Bedeutung hat nun die Ihototaxie?
Die Schwärmer vermögen je nach den Beleuchtungs-
bedingungen den Platz zu wechseln; sie gelangen
damit stets an solche Orte, welche - wenigstens
in bezug auf die Belichtung - für die Ernährung
am günstigsten sind. Zu einer aktiven Orts-
bewegung sind natürlich besondere Organe notig;
diese sind gegeben in den Geißeln.
Die gleichen phototaktischen Bewegungen zei-
gen die Flagellaten und die Schwärmsporen sehr
vieler Algen. Eine große Zahl der hierher ge-
hörigen Organismen pflegt sich an Steinen etc.
festzuhaften. Wenn nun ihre Schwarmsporen die
Fähiokeit der Phototaxie besitzen, so ist damit
die Gewähr gegeben, daß sich die jungen Pflanzen
an solchen Orten entwickeln, an denen die Be-
leuchtungsverhältnisse günstig sind.
Die Erscheinung, daß die Schwärmer bei zu
starker Besonnung von der Lichtquelle sich weg-
wenden, legt die Vermutung nahe, daß eine zu
intensive Beleuchtung schädlich ist.
Tatsächlich ist das der Fall , aber nicht nur bei
den genannten Organismen, sondern auch bei
anderen, höher stehenden Pflanzen.
Wenn in einem Walde durch Fallung der
Bäume eine Lichtung geschafi"en wird, so beob-
achtet man, daß viele der hier wachsenden Pflanzen
zu kränkeln beginnen. Die Blätter von Oxalis,
Asperula, Pteris aquilina u. a. färben sich nach
und nach gelb, und die Gewächse sind vielleicht
schon ini darauf folgenden Jahre verschwunden.
Wie erklärt sich diese Erscheinung? Da eine
Gelbfärbung eingetreten ist, dürfen wir annehmen,
daß das Chlorophyll sich verändert hat ; weil ferner
nur die Beleuchtungsverhältnisse gewechselt haben,
lieat die Annahme nahe, daß das Licht das Ab-
ste'^rben veranlaßt hat. - Um das Verhalten
des Lichts gegen Chlorophyll kennen zu
lernen stellen wir eine alkohohsche Chlorophyll-
lösung her. Ein Teil derselben (a) wird in einem
verschlossenen Gefäß dem direkten Sonnenlicht,
ein anderer Teil (b) dem diff"usen Lichte ausgesetzt;
den Rest (c) bewahren wir im Dunkeln auf. Schon
nach "/, Stunden ist der grüne Farbstoff" von a
zerstört; b zeigt dasselbe, jedoch erst nach drei
Ta-^en; c dagegen erhäh sich lange Zeit unver-
ändert Der Versuch lehrt, daß das Chloro-
phyll durch das Sonnenlicht zerstört
wird und zwar um so schneller, je inten-
siver das Licht einwirkt. _
Geschieht dasselbe auch in der Natur r Der
Anschein spricht dagegen; denn unter normalen
Umständen bleiben die Blätter gleichmaßig gtun.
Aber die oben mitgeteilte Beobachtung laßt doch
daraufschließen, daß auch in der freien Natur
eine Zerstörung des Chlorophyllfarb-
stoffes durch das Licht erfolgt. Daß unter
normalen Verhältnissen die Zerstörung nicht äußer-
lich wahrnehmbar wird, ist so zu erklaren, daß
Hand in Hand mit derselben eine Regeneration
stattfindet. Wenn aber infolge zu intensiver Be-
strahlung mehr Farbstoff" zerstört als neu gebildet
wird so müssen die Blätter natürlich zu krankein
beginnen, und die Pflanzen, welche keine Schutz-
mittel gegen diese Gefahren besitzen, werden zu-
grunde gehen. .
Noch in anderer Hinsicht kann übermäßige
Stärke des Lichtes schädlich sein, nämlich insofern,
als mit der Absorption der Strahlen eine Er-
wärmung verbunden ist. Überschreitet diese
eine gewisse Grenze, dann wird der ganze Assi-
milationsapparat in seinen Funktionen gestört, und
er vermag seiner Tätigkeit nicht mehr voll nach-
zukommen. /- r 1
So bircrt eine zu intensive Bestrahlung Getahren
in sich Freilich ist der Punkt, bei welchem die
zulässige Grenze, das Optimum, überschritten wird
für die verschiedenen Pflanzen je nach Ort und
Zeit sehr verschieden. Um den Gefahren, denen
besonders die an sonnigen Abhängen wachsenden
Pflanzen ausgesetzt sind, zu begegnen, sind in der
Natur besondere Einrichtungen zu finden, von denen
wir die wichtigsten im folgenden betrachten wollen
Die Schutzmittel, welche eine große Zahl
der an sonnigen Orten vorkommenden Pflanzen
zeigen fallen vielfach zusammen mit
solchen, die gegen die Gefahren einer
übermäßigen Transpiration getroffen
sind, so daß es „kaum möglich erscheint zu ent-
scheiden, welcher der beiden Gefahren eine be-
stimmte Schutzvorrichtung ihren Ursprung ver-
dankt" (Schlmper). Dichte Behaarung, stark reflek-
tierende Blattoberflächen usw., das sind Einrich-
tungen, die sowohl gegen zu intensive Belichtung
als ''zu starke Verdunstung schützen.
9o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
Manche Gewächse, wie viele Papilionaceen,
ferner Geranium sanguineum u. a. stellen unter
normalen Umständen ihre Blätter senkrecht zu
den einfallenden Sonnenstrahlen, also fast horizontal.
Sowie aber die Beleuchtung zu stark wird, ändern
die Blätter ihre Lage und stellen sich vertikal,
so daß nur ein geringer Teil der Strahlen auf die
Blätter trifft.
Besonders interessant ist eine Anpassungs-
erscheinung, die sich bei den sog. Kompaß-
pflanzen findet, z.B. bei Lactuca scariola, über
welche Stahl in der „Jenaischen Zeitschrift für
Naturwissenschaft" (XV) berichtet. Die Spreite,
der an sonnigen Orten wachsenden Pflanzen nimmt
Vertikalstellung ein, und zwar derart, daß der eine
Seitenrand nach oben, der andere nach unten ge-
richtet ist. Ein Teil der Blätter kehrt die Spitze
nach Süden, ein anderer Teil nach Norden (Name!).
Die nach Osten und Westen am Stengel sitzenden
Blätter sind steil aufgerichtet. Daß es sich um
eme Eigentümlichkeit handelt, die durch das Licht
bedingt ist, geht daraus hervor, daß bei den im
Schatten aufgewachsenen Pflanzen die Blätter hori-
zontal gestellt sind. Die biologische Bedeutung
dieser Blattstellung ist folgende. Die Blätter wer^
den mit ihrer größten Fläche von der aufgehenden
und untergehenden Sonne getroffen; zur Mittags-
zeit aber, wo die intensivste Bestrahlung erfolgt,
ist die getroffene Fläche am kleinsten. „Gering1;r
Wasserverlust durch Transpiration, Milderung des
zu intensiven Sonnenlichts, das sind die Vorteile,
welche der Pflanze aus ihrer eigentümlichen Blatt-
onentierung erwachsen" (Stahl).
Viel mehr verbreitet, als man vielleicht an-
nimmt, ist eine Verschiebung der Chloro-
phyllkörper infolge Änderung der fie-
le u c h t u n g s b e d i n g u n g e n. Sie läßt sich bei Or-
ganen, die — wenigsten zum Teil — nur aus
einer Schicht von Zellen bestehen, leicht beob-
achten. Zu einem Versuch benutzen wir ein an
dunklen, feuchten Orten wachsendes Farnpro-
thallium. Bringen wir ein solches unter das
Mikroskop, so beobachten wir, daß die Chloro-
phyllkörper an der oberen und unteren Wand
gleichmäßig verteilt sind. Wir stellen nun den
Objektträger mit dem Prothallium ins Sonnenlicht
und zwar senkrecht zu den einfallenden Strahlen.
Nach einiger Zeit — in dem vorliegenden Fall
nach •'/^ Stunden — untersuchen wir abermals
und finden nun, daß die Chlorophyllkörper an die
seitlichen Membranen gerückt sind. Die Stellung
der Chlorophyllkörner bei verschiedener Beleuch-
tung ist für Lemna trisulca — analog verhält
sich das Farnprothallium — in Fig. 14 dargestellt.
Im diffussen Licht liegen sie an den zur Blatt-
oberfläche parallelen Wandungen ; sie werden also
von den Sonnenstrahlen in Flächenstellung ge-
troffen. Sowie aber das direkte Licht einwirkt
verandern sie ihre Lage und begeben sich an die
zur Flache senkrechten Wände, mithin in Profil-
stelung. Wie der Versuch zeigt, besitzen die
Chlorophyllkorper die Fähigkeit, dorthin zuwandern
wo sie ihre Funktion am besten erfüllen können.
Übrigens ist die Bewegung keine aktive, sondern
sie erfolgt durch Vermittelung des Protoplasmas.
Bei den aus vielen Zellschichten bestehenden
Blättern ist die Chlorophyllwanderung mikro-
skopisch sehr schwierig zu beobachten; doch
makroskopisch ist ein solcher Nachweis wohl zu
führen. Zwei Schattenblätter von Sambucus nigra
werden kreuzweise übereinander gelegt und 15
Minuten lang dem vollen Sonnenlicht ausgesetzt.
Betrachten wir dann das untere Blatt, so finden
wir, daß es dort, wo es von den ungeschwächten
Strahlen getroffen wurde, heller gefärbt erscheint
T t
Fig. 14. Querschnitte durch Lemna trisulca. Stellung der
Chlorophyllkörner bei T in diffusem Tageslicht, bei "s in
Nach Stahl.
starker Sonne, bei N in der Nacht.
als an den Teilen, die durch das darüber liegende
Blatt geschützt waren. Auch dieser Farbenwechsel
ist durch Verschiebung der Chlorophyllkörper
herbeigeführt; im zerstreuten Licht verharren sie
in Flächenstellung, sowie sie aber vom grelleu
Licht getroffen werden, rücken sie in Profilstellung.
— Eine Verschiebung, wie sie in den bisher be-
trachteten Fällen erfolgt, ist bei den aus Zellfäden
bestehenden Algen natürlich nicht möglich. Wenn
diese vom vollen Sonnenlicht getroffen werden,
so wandern die Chlorophyllkörper gegeneinander
und bilden einen zusammengeballten Knäuel.
Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß
manche Pflanzen, die an einem ganz bestimmten
Standorte gedeihen, vielfach die Fähigkeit ver-
loren haben, sich an veränderte Lebensbedin-
gungen anzupassen. Bei Änderungen der Be-
leuchtungsverhältnisse gehen sie infolgedessen zu-
N. F. m. Nr. 57
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
907
gründe, wie die vorher genannten Schattenpfianzen
Asperula u. a.
Am Ende unserer Ausführungen angelangt,
werfen wir einen Blick rückwärts! Allen grünen
Pflanzen ist eines gemeinsam ; Sie streben danach,
das Sonnenlicht, welches ihnen unter normalen Be-
dingungen zur Verfügung steht, möglichst voll-
kommen auszunutzen. Die Art und Weise aber,
wie dieses Ziel erreicht wird, ist außerordentlich
mannigfach. Je mehr wir die verschiedenen Pflanzen,
ja die Individuen an den verschiedenen Standorten
studieren, um so mehr zeigt sich, wie vorteilhaft
sie sich meistens den äußeren Bedingungen ange-
paßt haben und vielfach noch anzupassen ver-
mögen.
Die physiologischen Experimente und mikro-
skopischen Arbeiten habe ich im Botan. Institut
der Universität Jena unter Anleitung von Herrn
Professor Dr. Detmer ausgeführt. Ich fühle mich
verpflichtet, Herrn Prof Detmer auch an dieser
Stelle meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Literatur :
Detmer, Das pflanzenpliysiologische Praktikum. 2. Aufl. 1895.
Das kleine pflanzenphysiologische Praktikum. 1903.
Gocbel, Beiträge zur Morphologie und Physiologie des
Blattes. Botanische Zeitung. 1880.
Jost, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. 1904.
kerner v. Marilaun, Pflanzenleben. 2. Aufl. 1896,98.
Schi m per, Pflanzen-Geographie auf physiologischer Grund-
lage. 189S.
Schleie hert, Anleitung zu botanischen Beobachtungen und
pflanzenphysiologischen Experimenten. 4. Aufl. 1901.
Stahl, Über den Einfluß der Lichtintensität auf Struktur und
Anordnung des Assimilationsparenchyms. Botan. Zeit. 1880.
— Über den Einfluß des sonnigen oder schattigen Stand-
ortes auf die Ausbildung der Laubblätter. Jenaische Zeit-
schrift für Naturwissenschaft. 18S3.
— Über sogenannte Kompaßpflanzen. Jenaische Zeitschrift
für Naturwissenschaft. 1881.
— Über den Einfluß von Richtung und Stärke der Be-
leuchtung auf einige Bewegungserscheinungen im Pflanzen-
reich. Botan. Zeitung. 1881.
Strasburger, Noll, Schenck, Schimper. Lehrbuch der
Botanik für Hochschulen. 5. Aufl. 1902. (Zitiert als
„Bonner Lehrbuch".)
Wiesner, Die heliotropischen Erscheinungen im Pflanzen-
reiche. Denkschriften d. Kaiserl. Akad. d. Wissenschaften
in Wien. 1879 u. 1882.
Kleinere Mitteilungen.
Den Rückgang der Sterblichkeit in den
letzten fünfzig Jahren behandelt A. Abel im
Allg. Statist. Archiv (6. Band, 2. Heft, Tübingen
1904). Es handelt sich hierbei in erster Linie
darum, die Höhe der Sterblichkeit in verschiede-
nen Ländern und zu verschiedenen Zeiten zu be-
stimmen und auf Grund der so gewonnenen
Ergebnisse die hierauf einwirkenden Faktoren zu
ermitteln. Die richtige Eruierung der ersteren
ist wesentlich entscheidend dafür, ob die gefolger-
ten Schlüsse als wissenschaftliche Tatsachen an-
gesehen werden dürfen. Das Gesamtergebnis des
Verf ist, daß in sämtlichen in Betracht gezogenen
europäischen KuUurstaaten ein zum Teil recht
erheblicher Rückgang der Sterblichkeit stattfand,
der im allgemeinen beim weiblichen Geschlecht
beträchtlicher ist als beim männlichen; derselbe
kommt auch weniger dem früheren Kindes- und
dem Greisenalter, als vielmehr den mittleren
Altersstufen zugute. Es betrug beispielsweise in
Preußen in der Periode 1894—1897, gegenüber
der Periode 1859— 1864, der Rückgang der Sterb-
lichkeit 12,2 "/o bei männlichen und 14,5 "/o bei
weiblichen Personen; bis zum 30. Lebensjahr tritt
hier nach dem Geschlecht kein auffallender Unter-
schied in der Abnahme der Sterblichkeit hervor;
derselbe ist erst in den höheren Altersklassen
ausgeprägt. — Besonders klar erscheint die ge-
ringere Mortalität in England; der Rückgang be-
trägt nämlich im Jahrzehnt 1881 — 1890, gegen-
über dem Zeltraum 1838— 1854, bei männlichen
Personen im Alter bis zu einem Jahr i %, beim
weiblichen Geschlecht 2 "/„, und steigt stetig an,
so daß er in der Altersklasse 10—15 Jahre beim
männlichen Geschlecht 60 «/o , beim weiblichen
66 »/o, ausmacht; hierauf ist die Abnahme wieder
eine weniger beträchtliche und in der Altersklasse
45 — 50 Jahre tritt bei männlichen Personen, in
jener von 50-55 Jahren auch bei den weiblichen,
eine Erhöhung der Sterblichkeit gegenüber der
Periode 1838—1854 ein, die in den folgenden
Altersstufen ansteigt. — In den einzelnen Staaten
wurden allerdings weit voneinander verschiedene
Verhähnisse angetroffen, da das in Rede stehende
Problem von der physischen Beschaffenheit der
Völker, den Sitten derselben, den sanitären Ein-
richtungen und manchen anderen Ursachen ab-
hängt. Der Rückgang der Sterblichkeit in den
jugendlichen und mittleren Altersklassen recht-
fertigt keineswegs die Annahme einer gesteigerten
Widerstandsfähigkeit der jetzt lebenden Menschen,
sondern ist der Ausdruck der Fortschritte der
medizinischen Wissenschaft, der langen Friedens-
periode, der Hebung der wirtschaftlichen Lage
weiter Bevölkerungsschichten etc. Andererseits
ist für die ermittelte Steigerung der Sterblichkeit
in den höheren Altersklassen bisher keine vöUig
befriedigende Erklärung geboten worden. In
Ländern, wo die Fabrikindustrie besonders ent-
wickelt ist, kann angenommen werden, daß die
Erscheinung eine Folge der dort im allgemeinen
früher eintretenden Erschöpfung der Lebenskraft
ist. Wenn wir z. B. das in der genannten Publi-
kation mitgeteilte statistische Material für England
mit jenem aus solchen Staaten vergleichen, wo
Agrikultur noch in ausgedehntem Maße vorherrscht,
so'' scheint diese Ansicht — bis zu einem gewissen
Grade mindestens — eine Bestätigung zu finden.
Fehlinger.
Pelagische Tiefseefischerei der „Maja" in der
Umgebung von Capri. — In weiten Kreisen dürfte
9o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 57
es nicht gebührend bekannt sein, welchen lebhaften
Anteil der verstorbene Großindustrielle Krupp
an der Erforschung der Meeresorganismen nahm.
Von diesem warmen persönlichen Interesse, für
das der Verstorbene kein Opfer scheute, zeugt a. a.
die Pelagische Tiefseefischerei der
„Maja" in der Umgebung von Capri, über
welche aus der Feder des Konservators der zoolo-
gischen Station in Neapel, Dr. Lo Bianco, auf
Veranlassung des Herrn Krupp ein Bericht in
Form eines Werkes unter obigem Titel nunmehr
auch in deutscher Sprache vorliegt. Dieser Be-
richt erschien zuerst im Jahre 1901 im 15. Band
3. Heft in den Mitteilungen der zoologischen
Station zu Neapel in italienischer Sprache.
Die jetzt auf Veranlassung von Krupp in
deutscher Sprache erschienene Publikation wurde
von Heinrich Schmidt aus dem Italienischen
übersetzt. Sie ist geradezu pompös ausgestattet,
indem eine Photogravüre, das Expeditionsschiff
„Maja" darstellend, einundvierzig Tafeln in Farben-
druck und eine Karte das Werk zieren. Dasselbe
ist im Verlage von Gustav Fischer in Jena
erschienen, die Tafeln wurden in der Lithographi-
schen Anstalt von Werner & Winter in
Frankfurt a. M. hergestellt.
Krupp begab sich seit mehreren Jahren von
Essen aus in den Wintermonaten nach Capri, um
sich dort, von der Zoologischen Station in Neapel
mit ihren Hilfsmitteln unterstützt, dem Studium
der Fauna des Golfes zu widmen.
In der Absicht, über das Tiefseeplankton des
Golfes von Neapel und dessen Umgebung syste-
matische Untersuchungen zu ermöglichen, begann
er im Frühjahr 1901 mit der Dampfjacht „Maja",
die er zu diesem Zweck aus England kommen
ließ, die pelagische Fischerei in großen Tiefen zu
betreiben. Die „Maja" ist ein kleines Schiff von
25 m Länge, mit Volldeck und mit einer Wasser-
verdrängung von 40 Tonnen. An Bord befand
sich eine eiserne Trommel, auf welcher ein 2000 m
langes, 6 mm starkes Tau aus Stahldraht aufge-
wickelt war, das in 3 — 4 maligen Umgängen um
eine massive Messingrolle hef, um so die für das
Hinablassen und Einholen der Netze erforderliche
Reibung zu erhalten. Diese Rolle war in horizon-
taler Lage auf dem Vorderdeck aufgestellt und
wurde vermittels eines kleinen Dampfmotors be-
wegt. Außer den quantitativen Planktonnetzen
von Mensen befanden sich an Bord das von
Petersen modifizierte Palumbosche Propeliernetz
sowie die Netze und Dredschen, welche in der
Zoologischen Station für den gewöhnlichen täg-
lichen Fischfang benutzt werden. Außerdem wurde
ein großes qualitatives Netz mit großem konischen
Sack verwandt, dessen von einem Metallreif um-
gebene Eingangsöffnung einen Durchmesser von
95 cm besaß, während seine schmalere Mündungs-
weite 20 cm betrug. An dem äußersten Ende
dieses 3,60 m langen Sackes, der aus Strickstramin
von ca. 0,5 mm Maschenweite bestand. Wurde ein
korbähnlicher Recipient befestigt, der aus Kupfer-
draht geflochten und mit seidener Müllergace aus-
gefüttert war.
Die Fischzüge begannen im April 1901 und
wurden den ganzen Monat hindurch fortgesetzt.
Die verschiedenen Fänge wurden von der Ober-
fläche bis zu großen Tiefen ausgeführt; dabei
wurde bis zu 1500 m Drahtseil abgelassen. Die
Anzahl der Fischzüge belief sich auf 68, unter
welchen 17 den besonderen Zweck verfolgten,
Tiefseeplankton zu erhalten. Diese Fänge wurden
südlich vom Golf von Salerno, von Capri und
von der Bocca grande ausgeführt, in einer
Entfernung von 3—16 km von der Küste. In
dieser Zone, einer der tiefsten in der Nähe des
Golfes von Neapel, trifft man Senkungen, die eine
Tiefe von über 1000 m erreichen.
Da solche Tiefen bis jetzt wenig oder fast gar
nicht erforscht waren, so durfte man auf die Re-
sultate der Fischzüge gespannt sein. Dieselben
übertrafen bei weitem die Erwartungen. Krupp
leitete mit großem Interesse und Sachverständnis
die Operationen selbst und führte genau Buch
über alles, was sich auf die einzelnen Fänge bezog.
Mit der Abfassung eines Berichtes über die Resul-
tate der 17 Tiefseefänge, die vor allen übrigen
von besonderem Interesse sind, betraute er den
schon genannten Gelehrten, Dr. Lo Bianco.
Die gewonnenen Resultate der „Maja", sowie
das 1886 von C h u n gesammelte Material gestatten
ein Urteil über den Reichtum und die Mannig-
faltigkeit des Tiefseeplanktons im Mittelmeer resp.
in einem Teil desselben.
Allein 27 Arten wurden von dem von der
„Maja" gesammelten Material als neu für das
Mittelmeer konstatiert. Hiervon gehören 23 der
planktonischen und 4 der benthonischen Fauna an.
Mit wenigen Ausnahmen sind die 23 planktoni-
schen Arten auch aus dem Atlantischen Ozean
bekannt. Es beweist dieses, daß ein großer Teil
der planktonischen Formen der Tiefsee des Mittel-
meeres mit denen des Atlantischen Ozeans über-
emstimmt. Mithin wird die Meinung, daß eine
Kommunikation zwischen beiden Meeren schwierig
sei, damit ebenso hinfällig, wie das Vorurteil, daß
die Organismen des Atlantischen Ozeans im Mittel-
meer nicht leben könnten wegen der Temperatur-
differenz ihrer Tiefen, weil die Schwelle von
Gibraltar dem kühleren Tiefenwasser des Atlanti-
schen Ozeans den Zutritt zum Mittelmeer unmög-
lich mache und nur den Austausch der oberen
Wasserschichten gestatte.
Es würde hier zu weit führen, die Resultate
der Fänge im einzelnen aufzuführen und zu be-
sprechen. Es sei hier namentlich auf die Erbeu-
tung eines P:xemplares von Leptocephalus
b re vi rostris hingewiesen. Das Tier wurde in
einer Entfernung von 9 km von der Küste zum
erstenmal hier gefunden. Eis ist diese Tatsache
von großer Bedeutung für die Entwicklungs-
geschichte des Süßwasser-Aales im Meere, denn
es handelt sich hierbei um die Larve unseres
Aales. Unter den tischen wurden vier Arten von
N. F. ra. Nr. 57
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
909
Scopeliden zum erstenmal in der Umgebung
des Golfes von Neapel gefangen.
Während über Tun icaten und Mollusken
nicht viel zu bemerken ist, lieferten die Crusta-
ceen eine Anzahl wichtiger Formen aus der
Gruppe der Schizopoden, Isopoden und
Hyperiden. Namentlich haben die letzteren
unter den Krebsfängen der „Maja" die größte Be-
deutung. Unter den 22 erlangten Arten sind nicht
weniger als 8 ganz neu für das Mittelmeer.
tfnter den Ringel wü rmern ist das Vor-
kommen eines sehr schönen pelagischen Pöly-
noiden bemerkenswert. Über dieCoelenteraten
ist weniges zusagen, auch von den Protozoen
liegt nichts Besonderes vor.
Am Schluß seiner Fangaufzählungen gibt der
Autor in seinem letzten Kapitel „Allgemeine Er-
gebnisse" ein anschauliches Bild von den gesamten
Resuhaten.
Es ist sehr bedauerlich , daß K r u p p das Er-
scheinen der reichillustrierten deutschen Über-
setzung nicht mehr erlebt hat. Er sowohl, wie
der Bearbeiter des Materiales, Dr. Lo Bianco,
haben sich durch die Veröffentlichung der Reise-
resultate ein dauerndes Denkmal gesetzt und dem
Verleger Gustav Fischer gebührt die Ehre,
ein nach allen Richtungen hin vornehm ausge-
stattetes Werk dem deutschen Buchhandel über-
geben zu haben. Dr. Alexander Sokolowsky.
Können Erdbeben Regen erzeugen? — In
Eidbebengegenden ist vielfach die Meinung ver-
breitet, daß Erdbeben Regen erzeugen, ganz be-
sonders in Chile, das ja zu den erdbebenreichsten
Gebieten gezählt werden muß.^) So berichtet
Darwin, der auf seiner Weltreise Chile besuchte,
daß er einst in Copiapö erzählte, in Coquimbo
habe ein heftiger Erdstoß stattgefunden; darauf
haben die Einwohner augenblicklich gerufen: „Welch
ein Glück! Sie werden dieses Jahr Weide genug
haben." Für diese Leute war also ein Erdbeben
ein so sicheres Zeichen für Regen, wie dieser für
eine reiche Weide. Tatsächlich folgte dieser Er-
schütterung ein heftiger Regenschauer. Auch
v. Tschudi betont, daß die Atmosphäre, welche
bei Erdbeben meistens ganz ruhig ist, zuweilen
hierbei stürmisch bewegt wird, als Vorbote nach-
haltiger Veränderungen, so daß in Gebieten, die
sonst fast nie Regen haben, häufig nach Erdbeben
ausgiebige Regengüsse eintreten. Ebenso bestätigen
andere, daß die Chilenen von Erdstößen Regen
erwarten. Es sei nur noch angeführt, was ein
Augenzeuge derschweren Erdbebenkatastrophe vom
9. Mai 1877 aus Copiapö berichtet; er schreibt:
„Ich beobachtete hier wieder, was ich schon öfters
bei stärkeren Erdbeben wahrgenommen habe : der
vorher heitere Himmel überzog sich plötzlich mit
dunklen Wolken."
') Vgl. „Die Erdbeben Chiles" vom gl. Verf., 14. Stück
der Münchener Geogr. Studien, Ackermann in München, 1904;
dort sind auch Literaturangaben für die folgenden Ausführungen
zu finden.
Wenn man die vorliegende Frage für Chile
richtig würdigen will, so hat man auch das Klima
dieses Landes ins Auge zu fassen. Nordchile ge-
hört bekanntlich mit dem angrenzenden Peru zu
den regenärmsten Gebieten der Erde (Wüste Ata-
kama) Es tritt hier eine kalte Meeresströmung
(oder aufquellendes Polarwasser?) nahe an die Küste
heran, die es in dieser Zone nicht zu einem aut-
steigenden Luftstrom kommen läßt, der die Vor-
aussetzung für die Kondensation des Wasserdampfes
und somit für den Niederschlag wäre. Copiapo
(27" s Br.) hat nur 1—2 mal im Jahre einige
Tropfen Regen ; nur gelegentlich kommen größere
Regengüsse vor, die dann oft Verwüstungen durch
Überschwemmung herbeiführen. Noch seltener
sind die Regenfälle weiter nördlich, und nur in
Perioden von vielen Jahren haben auch die Wusten-
gebiete von Nordchile und Peru heftige Regen-
Durchmustert man die Aufzeichnungen über
die chilenischen Erdbeben, so findet man, daß
nach einer ganzen Reihe von heftigeren Erdbeben
wirklich Regen eingetreten ist, dabei zu Zeiten,
wo er eine viel wunderbarere Erscheinung bildet,
als das Erdbeben selbst". Wenn es sich auch in
manchen Fällen wohl nur um ein zufälliges
Zusammentreffen zweier Ereignisse handelt, so
möchte man doch in Versuchung kommen, Dar-
win zuzustimmen, wenn er sagt, „daß hier ein
Gesetz zu fühlen ist, das in keinem Zusammenhang
mit dem gewöhnlichen Verlaufe des Wetters steht".
In jüngster Zeit versuchte Prof. Branco in Berlin
folc^ende Erklärung für die in Frage stehende Er-
scheinung zu geben: „Durch die aus der Tide
heraufkommenden Stöße erhält natürlich auch die
auf der Erdoberfläche ruhende Luftsaule die Stoße.
Über dem ganzen Gebiet, das von dem Beben be-
troffen wird, muß also die Luft in die Hohe ge-
schleudert werden; und ganz besonders muß das
im Epizentrum der Fall sein. Indem die Lutt
hier besonders stark in die Höhe geschleudert
wird, erleidet sie plötzlich eine entsprechend starke
Verdünnung. Damit geht aber eine plötzliche
Temperaturerniedrigung Hand in Hand, wenn
nun zufällig in höheren Luftschichten viel Wasser-
dampf vorhanden ist, so wird dieser sich schnell
kondensieren. So läßt es sich erklären, daß der
vor dem Beben klare Himmel sich nach dem-
selben bisweilen schnell mit Wolken überzieht,
aus denen Regen bzw. Hagel herniederfallt." _
Man steht dieser Erklärung vielfach skeptisch
gegenüber, weil man bezweifelt, daß die Luft so
hoch emporgeschleudert wird, um die angegebetien
Folgen eintreten lassen zu können. Es wird aber
zugegeben, daß die heftige Bewegung eines größeren
Erdrindenstückes der Luft sich mitteilt und sich
dann als ein Windstoß, als ein Rauschen oder
Sausen u. dgl. äußert.') .
Sieberg will nur für Erdbeben mit gleich-
1) Sieberg, Handbuch der Erdbebenkunde, Braunschweig
1904, p. 124.
9IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
zeitigen Vulkanausbrüchen Gewitter als Folge-
erscheinung der starken, senkrecht aufwärts ge-
richteten Luftströmungen zugeben; im übrigen
glaubt er als erwiesen ansehen zu dürfen, „daß die
Frdbeben die örtliche Witterung nicht beeinflussen"
Die chilenischen Erdbeben, welche Regen im Ge-
folge hatten, waren tatsächlich mehr oder minder
von vulkanischen Ereignissen begleitet. Anderer-
seits muß jedoch auch betont werden, daß Erd-
beben mit gleichzeitigen heftigen Eruptionen nicht
die angegebene Folge hatten.
Speziell im Hinblick auf Südamerika will Sie-
berg ) noch einen anderen Zusammenhang zwischen
Erdbeben und Regen erkennen. Als Resultat der
bisherigen Erdbebenforschungen glaubt er annehmen
zu können, daß „Luftdruckschwankungen, bzw der
barometrische Gradient den Eintritt von Dis-
lokationsbeben zu fördern vermögen". Soll sich
nun nach einer längeren Trockenperiode, die nur
durch hohen und gleichmäßig verteilten Luftdruck
bedingt wird, Dauerregen einstellen, „so muß ein
barometrisches Tiefdruckgebiet, welches stets von
mehr oder minder steilen Gradienten begleitet ist
wenigstens die Nachbarschaft des betreffenden
Ortes berühren, und die dadurch schon aus der
f^erne bedingte Bodenunruhe findet in einem so
erdbebenreichen Lande wie Südamerika fast immer
genug Spannungen vor, zu deren Auslösung sie
beitragen kann". Sowohl Erdbeben als Regen-
gusse wären also eine Folge von Luftdruckschwan-
kurigen.
_Es ist zu hoffen, daß der internationale, mit
größter Sorgfalt durchgeführte Erdbebenbeobach-
tungsdienst im Zusammengang mit den meteoro-
logischen Beobachtungen bald^eine völlig befriedi-
gende Beantwortung der obschwebenden Frage
ermöglichen wird. Dr. Fr. Goll, München.
') A. a. O. p. 126.
Einflufs des elektrischen Feldes auf aus-
knstallisierende wäfsrige Salzlösungen. — Die
Erwägung, daß sich die Hauptvorgänge der elek-
trischen Energie nach Maxwell's Theorie im Di-
elektrikum abspielen, ließ die Frage entstehen ob
dieses elektrische Feld auf eine kristallisierende
wassnge Salzlösung irgend welche Einflüsse aus-
üben werde. Diesbezügliche Versuche wurden mit
einer FeSO, -Lösung angestellt. Nach einigen Miß-
ertolgen zeigte sich folgende Versuchsanordnuncr
zweckentsprechend. In ein 130 mm hohes Glas-
gefaß von 60 mm Durchmesser wurde ein U-förmicr
gebogener, isolierter Kupferdraht eingehänat
der im Halse des Gefäßes durch ein entsprechend
geschnittenes Korkstück gehalten wurde. Die beiden
Leiterenden wurden mit den Polen zweier Fleischer-
demente verbunden. Parallel zu den Schenkeln
des U-formigen Leiters waren zwischen diesen
drei Faden ausgespannt, die unten durch die Ouer-
seite des Leiterstückes und oben durch ein~ent-
sprechend angebrachtes Querstück gehalten wurden
Nun wurde das Gefäß bis zu 90 mm Höhe mit
einer warmen (30« C) 15% FeSO.-Lösung (1017,36
ccm) gefüllt, und der Strom geschlossen. Nach
2i,5>>= wurde der Versuch unterbrochen und fol-
gendes beobachtet. Am Boden des Gefäßes, so-
wie am U-förmigen Leiterelemente hatten 'sich
große, sehr schön ausgebildete Kristalle angesetzt,
wahrend die Fäden vollständig von ihnen frei waren'
Die Wägung der Kristahe ergab folgende Werte:
Kristalle am Boden 13,0 g, am Leiter 9,1 g, zu-
sammen 22,1 g, also 15,75% des gelösten Fe'sO,.
Die Kristalle hatten sich mit 58,82% auf den
Boden und mit 41,18% auf den Leiter verteilt.
Nun wurde der Versuch unter analogen Verhält-
nissen, jedoch ohne Stromdurchgang, wiederholt.
Nach 23 stündiger Versuchsdauer war keine be-
merkenswerte Kristallbildung eingetreten. Erst
nach weiteren 23 Stunden konnten folgende Tat-
sachen konstatiert werden: Kristalle am Leiter
3,5 g, an den Fäden 2,7 g, am Boden 7,^ g, zu-
sammen 13,9 g, also 9,865% der gelösten FeSO,.
Die prozentuale Verteilung war: 55,4% auf den
Boden, 25,i87n auf den Leiter, 19,42% auf die
Faden. Die Größe der Kristalle war bei dem
zweiten Versuche eine ganzbedeutend kleinere.
Setzt man die bei beiden Versuchen erhaUenen
IVIengen der Kristalle in ein Verhältnis zueinander,
so ergibt sich die Zahl 1,59:1, oder, wenn nur
die am Leiter angesetzten Kristalle berücksichtigt
werden, 2,6: i bei einer Versuchsdauer von 1:2.
Mehrere angestellte Kontrollversuche ergaben im
wesentlichen dasselbe Resultat. — Das elektrische
Feld scheint also durch molekulare Anziehung eine
beschleunigte Kristallbildung hervorzurufen, in der
Weise, daß sich im Bereiche des Feldes eine starke
Konzentrationssphäre bildet, die schnellere und
intensivere Kristallbildung zur Folge hat. Die
Versuche mit anderen Salzen sind noch nicht be-
endet, es scheint jedoch, daß auch dort ähnliche
Erscheinungen auftreten. Die obigen Untersuchungen
stellen also eine Erweiterung der Versuche von
Barus über Beschleunigung des Niederschlages
suspendierter Materie bei Gegenwart des elek-
trischen Stromes dar, und finden letztere dadurch
eine erweiterte, befriedigende Bestätigung.
hig. G. Sehenden, Stettin.
Himmelserscheinungen im November 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist unsiclitbar, Venus
ist als Abendstern bis r'/j Stunden lang sichtbar, Mars kann
morgens 2'l„ bis 4-7^ Stunden lang vor Beginn der Dämme-
rung m der Jungfrau beobaclitet werden. Jupiter steht im
Waltisch und ist noch fast die ganze Nacht hindurch sicht-
bar, während sich die Sichtbarkeitsdauer des Saturn (im
Stembock) bis auf 4 Stunden verringert.
Verfinsterungen der Jupitertrabanten:
Nov. 10 Uhr 44 .Min. 16 .Sek. M.E.Z. ab,, Austr. d. I. Tr.ab.
10
7
9
10
8
4
59
28
41
33
8
48
46
II.
I.
I.
1.
I.
Algol-Minima am 11. Nov. um 9 Uhr 3g Min. abends
M.EZ., sowie am 14. Nov. um 6 Uhr 28 Min. abends.
N. F. m. Nr. 57
N aturwissenschaftliche Wochenschrift.
911
Bücherbesprechungen.
Dr. F. Fittica, Professor der Geschichte der Chemie
an der Universität Marburg. Geschichte der
Sulfitzellstoff - Fabrikation. Leipzig, S.
Hirzel. 1902. — Preis i Mk.
Der Verfasser beschreibt auf 47 Seiten Text im
wesenthchen das von Micherlich eingeführte Verfahren
der Sulfitzellstofl-Fabrikation, das der gesamten heuti-
gen Papierfabrikation zugrunde liegt. Das Heft ist
aber nicht allein eine Beschreibung des Verfahrens
und somit von rein chemischem und technischem
Interesse. In ihm werden in erster Linie auch die
Begrtmdung, Anerkennung, sowie die Bestreitung
und die unberechtigten Zurückverweisungen und Ein-
sprüche gegen das Micherlich'sche Verfahren zur Dar-
stellung gebracht. Ja, der Verfasser hätte seinem
Büchlein getrost den Titel „Erfinderlos" voranstellen
können. Denn er schildert zugleich in fesselnder
Weise, wie sich an Micherlich's Schicksal die alte
Tatsache bewahrheitet, daß oft Neuerungen, seien sie
auch noch so unschuldiger Art, nicht ohne Kämpfe,
geschweige denn ohne Leiden und Sorgen für den
Erfinder ins Leben treten und sich zur Anerkennung
endlich durchringen. Hatte doch Micherlich nicht
allein mit den Käufern seines Verfahrens die alier-
traurigsten Erfahrungen zu machen und gegen sie
nicht weniger als dreißig Prozesse durchzufechten,
sondern auch von selten der Behörden wurden ihm
die denkbar größten Hindernisse in den Weg gelegt.
So ist denn die Schrift zugleich ein lehrreicher
Beitrag zur Geschichte der Erfindungen und selbst
für jeden der Sache noch so Fernstehenden mit
Interesse zu lesen. Dr. R. Loebe.
i) A. Hausding, Ingenieur, Geheim. Regierungsrat,
Handbuch der Torfgewinnung und Torf-
verwertung mit besonderer Berücksichtigung
der erforderlichen Maschinen und Geräte nebst
deren Anlage- und Betriebskosten. Zweite, wesent-
lich erweiterte Auflage. Mit 151 Abbildungen.
Berlin, Verlagsbuchhandlung Paul Parey (Verlag für
Landwirtschaft, Gartenbau und Forstwesen) 1904.
— Preis geb. i5 Mk.
2) Dr. Georg Thenius, Die technische Ver-
wertung des Torfes und seiner Destil-
lation sprodukte. (Chemisch technische Biblio-
thek. Band 280.) Mit 78 Abbildungen. A. Hart-
leben's Verlag. Wien und Leipzig. — Preis 6, So Mk.
Der Wert beider Bücher liegt zwar auf selten der
Praxis, allein derjenige, der sich rein wissenschaftüch
mit der Moorkunde beschäftigt, wird doch zweck-
dienlich auch von der technischen Seite des Gegen-
standes Notiz nehmen, die ihm auch für seine ge-
lehrten Studien hier und da Winke zu geben im
Stande ist. Wer sich zunächst elementar über die
Naturgeschichte, die Genesis der Moorbildungen orien-
tieren will, wird andere Bücher heranziehen müssen.
Man beginnt neuerdings wieder mehr auf die
technische Verwertung des Torfes zu achten, und Be-
sitzer, die ihre Torfländereien nur untergeordnet oder
kaum im Wirtschaftsbetrieb hatten, suchen jetzt Er-
fahrungen zu sammeln, um ihren Besitz möglichst
nutzbringend zu verwerten. Das Erscheinen der
2. Auflage des Hau s din g' sehen Buches beweist
dieses rege Interesse an dem Gegenstande.
Bei der vorliegenden Neubearbeitung hat sich
Verf. nicht auf die bloße Beschreibung der verschie-
denen Verfahren, Maschinen und Einrichtungen be-
schränkt, sondern damit in der Regel unter Hinweis
auf ihre einzelnen Vorzüge und Nachteile eine sach-
liche Würdigung der betreffenden Eigenart verbunden.
Hierdurch soll dem Rat oder Belehrung suchenden
Leser ermöglicht werden, die fraglichen Vorrichtungen
je nach den verschiedenen Erfordernissen sachgemäß
zu bewerten und eine falsche Auswahl oder nutzlose
Versuche zu vermeiden.
Die Entwicklung des Torfwesens sowie die dabei
gesammelten Erfahrungen machten teils eine voll-
ständige Neubearbeitung, teils eine wesentliche Er-
weiterung des früheren Werkes . erforderlich. Die
Abschnitte über die Gewinnung und Verwertung von
Torfstreu und Torfmull sind neu aufgenommen wor-
den. Am Schlüsse jedes Teiles ist in „Merksätzen"
kurz auf dasjenige hingewiesen worden, was bei dem
heutigen Stande der Torfwirtschaft als grundsätzlich
maßgebend oder mindestens beachtenswert anzusehen ist.
Das Buch von Thenius ist weniger umfangreich.
Es beschäftigt sich neben dem rein Technischen noch
besonders mit Betriebsplänen und Rentabilitätsberech-
nungen und bietet eine Übersicht über die deutschen
Torfmoore und diejenigen Österreich-Ungarns, sowie
ganz kurz derjenigen anderer europäischer Staaten
(nicht Skandinaviens) etc.
Dr. Wilhelm Borchers, Geheimer Regierungsrat,
Professor für Metallhüttenkunde und Elektro-
metallurgie. Das neue Institut für Metall-
hüttenwesen und Elektrometallurgie
an der Königlichen Technischen Hoch-
schule zu Aachen. Abschnitt: Elektrische
Meßinstrumente, bearbeitet von Dr. H. Danncel,
Privatdozent für Physikalische Chemie. Halle a. S.,
Wilhelm Knapp. 1903. — Preis 6 Mk.
Im ersten Teile bringt das vorliegende Heft unter dem
Kapitel „Entstehungsgeschichte" zugleich eine Reihe wert-
voller Versuchsergebnisse aus dem .A-achener Laborato-
rium, wie „Erzeugung höherer Temperaturen mittels
sauerstoffreicher Gasgemische", „Umwandlung amorphen
Kohlenstoffs in Graphit", „Elektrolyse von Zink-
lösungen unter Gewinnung von Nebenprodukten",
„Verwertung des elektrolytisch gewonnenen Bleisuper-
öxydes", „Verarbeitung kupfer- und nickelhaltiger Erze
und Hüttenprodukte". Der Verf gibt eine „Übersicht über
den modernen amerikanischen Nickelraffinationsprozeß",
„Verwertung bisher schwer oder nicht verhüttbarer
Zinkerze, zinkhaUiger Zwischenerzeugnisse und Ab-
fälle", „Die elektrolytische Gewinnung der Alkali-
metalle aus ihren geschmolzenen Chloriden", „Ge-
winnung des Calciums", „Elektrolytische Abscheidung
des Strontiums", „Gewinnung der Ceritmetalle",
„Laugerei sulfidischer Kupfererze mit Ferrisulfat",
und „Verarbeitung von Titaneisen". Der zweite Teil
ist der Schilderung des Gebäudes und der inneren
912
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 57
Einrichtungen des neuen Institutes für Metallhütten- 7 Taf. und zahlr. Textabb., Neudamm 1897 Prei. geb 7=oMk
wesen und Elektrometallurgie gewidmet, wobei auch '•"■'^° Wünschen am meisten entsprechen. Speziell für Vögei
die verwendeten Apparate, Instrumente und Öfen ein- ^%^ ..■'^- Reich enow, Die Vögel der zoologischen Gärten,
gehend an der Hand trefflicher Zeichnungen und zu n'ennen r'^"-^" f' ^''P''^.'^^/^^4, Preis 18 Mk.
Abbildungen beschrieben werden. D.e vorlegende ^"Z^.^^^O-;::'--^^^'^^^^'^::;;:^:
Schrift des auf elektrometallurgischem Gebiete so be- gegeben würde, welche im Garten vertreten sind womöglich
kannten Verfassers ist anschaulich geschrieben, lehr- "'^'■'^ '"'"■'""■''■'" ->:- =.•..«-.:-.- . . .' - s
reich, und dürfte besonders auch da mit Erfolg zurate
gezogen werden, wo es sich um Neueinrichtung eines
dem beschriebenen ähnlichen Instituts handelt.
R. Lb.
nach Merkmalen, die äußerlich mehr oder weniger crkennbai
sind. Dringend erwünscht ist auch eine Unterscheidung von
Arten, wenn sich mehrere in demselben Käfig befinden. Dafür
konnte alles, was auf den Schikiern steht, im Führer fehlen.
Die Schilder könnten übrigens, ebenso wie in den neueren
zoologischen Sammlungen, manche kurze interessante Be-
merkung über die Lebensweise und Verbreitung der Tiere
enthalten.
Dahl.
Literatur.
Deckeit, Dr. Emil: Nordamerika. 2., gänzlich umgearb. u.
erneuerte Aufl. Mit 130 Abbildgn. im Text, 12 Karten u.
21 Taf. in Holzschn., Ätzg. u. Farbendr. v. Rud. Gronau,
Ernst Heyn, Osk. Schulz, Olof Winkler usw. (Allgemeine
Länderkunde. Hrsg. v. Prof. Dr. Wilh. Sievers.) 12-14
(Schluß-)Heft. (.\1I u. S. 465—608.) Lex. 8». Leipzig '04,
Bibliograph. Institut. — Je i Mk. (Vollständig: Geb. in
Halbldr. 16 Mk.)
Briefkasten.
Herrn A. in Hamburg. — Frage I : Gibt es kurze aber
doch brauchbare illustrierte Bücher zum Bestimmen der
Schmetterlinge und Käfer für Anfänger? — In Nr. 46 auf
S. 736 sind Bücher zum Bestimmen der Schmetter-
linge und Käfer für Anfänger genannt. Sind Ihnen
diese zu umfangreich und teuer, so genügen für den ersten
Anfang vielleicht auch H. Rockstroh, Buch der Schmetter-
linge und Raupen, 7. Aufl. von E. L. Taschenberg, 135 S.
8» mit 231 Abb. auf 16 Taf, Halle a. S. 1902, Preis eeb
Systematische Übersichten der Pflanzenwelt, wie War-
mings Handbuch der systematischen Botanik, oder Wettstein's
Buch gleichen Namens, sind nicht recht geeignet für das
Studium der gerade in einem bestimmten botanischen Garten
vorhandenen Arten. Es sind aber so viele der wichtigsten
Pflanzen in allen botanischen Gärten vorhanden, daß diese
Bucher immerhin als „Führer" Nutzen stiften werden Für
den weit Vorgeschrittenen ist Engler's Syllabus d. System. Bot
zu empfehlen. p
Herrn O. J. in Luckau und H. H. in Halle a. S. — Da
A. Karsch, Die Insektenwelt, 2. Aufl. (702 S.), Leipzig 1883
Preis (bei Friedländer & Sohn) geb. 6Mk. Ihnen beim Bestim-
men einheimischer Insekten so gute Dienste geleistet
hat, sei es neben Schi echten dal und Wünsche, Die
Insekten, Preis (bei Friedländer & Sohn) 7,50 Mk. (val Naturw
Wochenschr. Nr. 46, S. 736) nachträglich genannt. Beide
Bucher verfolgen denselben Zweck. Ich legte früher gelegent-
lich beide meinen Schülern vor und fand, daß dieselben mit
dem Buche von Schi. u. W. stets schneller und sicherer zum
Ziele gelangten als mit dem Buche von K. Deshalb hatte ich
das letztere hier nicht genannt. Bestimmungstabellen geben
beide Bücher, auch Tabellen zum Bestimmen der Raupen
Bei Schi. u. W. führen die Tabellen bis auf die Art- bei K
schließen sie bei der Gattung ab. Das Auffinden der Art in
6 Mk. und G. Seh och. Praktische Anleitung zum Bestimmen artenreichen Gattungen erfordert deshalb bei K. viel Geduld,
der Käfer Deutschlands und der Schweiz, 183 S. 8° mit 150 ^" ^^hl. u. W. besitzen die Tabellen eine weit übersicht-
Abb. auf IG Taf, Stuttgart 1878, Preis 6,50 Mk. Die Ab- ''eliere Form als bei K., sie führen außerdem von der Ord-
bildungen der Gattungsvertreter in letzterem Buche sind zwar
nicht farbig aber doch recht naturgetreu. — Ein Anfänger,
der schon an ein Bestimmen mittels Bestimmungstabellen voii
der Botanik her gewöhnt ist, findet in W. v. Fricken, Natur-
geschichte der in Deutschland einheimischen Käfer, 4. Aufl
nung zunächst auf die Familie und dann erst auf die Gattung
wahrend sie bei K. direkt auf die Gattung führen. Bei Schi!
u. W. sind manche Bilder, z. B. die Darstellungen der FlUgel-
zellen, durch Eintragung von Farben außerordentlich klar
Dafür gibt K. bildliche Darstellungen einer größeren Zahl
517 S. 8» mit zahlr. Holzschn., Werl 1885, Preis 4,80 Mk'' ""^ Larven. Beide Bücher geben die deutsche Fauna sehr
eine recht gute Anleitung, zumal da die Lebensweise in aus-
gedehntem Maße berücksichtigt ist.
Frage 2: Gibt es eine handliche Übersicht des Tierreichs, die
man beim Studium in zoologischen Gärten verwenden
kann? — Die zoologischen Gärten besitzen von den
äußerst zahlreichen Wirbeltier-Arten, -Unterarten und -Varietäten
nur eine sehr geringe Anzahl. Es sind das nicht immer die-
selben Formen, sondern bald diese, bald jene, wie sie der
Zufall gerade lebend in die Hände der Reisenden führt. Oft
sind es seltene, ja bisweilen sogar unbeschriebene Formen.
Nur verhältnismäßig wenige kehren in allen Gärten wieder.
Man darf also nicht erwarten, in einem zoologischen Hand-
buche alle vorhandenen Formen zu finden. Vielleicht wird
L. Heck, P. Matschie etc. Das Tierreich Bd. 2, Wirbel-
tiere (Hausschatz des Wissens Bd. 9) 1390 S. 8» mit I Karte,
Inhalt: H. Filipp:
unvollständig. Namenilich fehlen die Arten von bestimmten
Gelandeformen, z. B. vom Meeresstraude, fast gänzlich und
ebenso fehlen von kleineren Formen oft die allergemeinsten.
Ich könnte da Hunderte von Beispielen nennen. Nur die
verbreiteten auffallenderen Arten sind einigermaßen vollständig
aufgenommen. Natürlich soll in diesen Bemerkungen meiner-
seits kein Tadel liegen. Ein Werk, das alle bekannten deut-
schen Arten aufnehmen würde, würde viel zu umfangreich
sein und könnte von den meisten Anfängern nicht angeschafft
werden. Die Zahl der berücksichtigten Arten ist bei K. etwas
großer als bei Seh. u. W., dafür ist die Beschreibung weni-^er
ausführlich, so daß beide Bücher fast genau dieselbe Seiten-
zahl besitzen. — Die meisten Schmetterlinge wird der Anfänger
weder nach dem einen noch nach dem andern Buche bestim-
men können. Hier vor allem kann der Anfänger Abbildungen
nicht entbehren. j;)_.,i,]
Riicl-ann., ,i;/ c;, u, M . P^anzen das Sonnenlicht dienstbar machen. - Kleinere Mitteilungen: A. Abel-
Ru.kgang der Sterblichkeit in den letzten fünfzig Jahren. - Lo Bianco: Pelagische Tiefseefischfrei der Maia"
in de Umgebung von Capri. - Dr. Fr, Goll: Können Erdbeben Regen erzeugen ?°_ In. G S he, dell- Flnfluß
Bücherhe^n H " ' n -^•^t'^^'-^-nde wäßrige Salzlösungen. ^ Himmels'erscheinungen im Nov mbe i90 -
Bucherbesprechungen: Dr F. Fittica: Geschichte der Sulfitzellstoff-Fabrikation. - n A, Ha usd i 1 Handbuch
n"Ji° !!!'.'°°:;.",^..""'^ To^f^'^/.r.^'-?- -) Dr. GeorgThenius: Die technische Verwrtung des Torffs' und seine
Deslillationsprodukte
an der Königlichen Technischen Hochule zu Aachen. - Literatur: Liste. - Briefkasten
Dr. Wilhelm Borchers: Das neue Institut für Metallhüttenwes~en und Elektrometallurgie
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonii, Grofs-LichterfeUle-West b Berlin
Onick von L.ppert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschlierslich der Zeitschrift „DlC NatUf" (Halle a. S.) seit x. April 190..
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde m Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr.
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
F. Koerber
Neue Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 6. November 1904.
Nr. 58.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene PctUze.le 50 Pfg. B'=> 8,^°?"«"
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahnie durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Bluraenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Jahresringbildung bei den Araucaritenstämmen in Beziehung auf ihr
geologisches Alter.
r ^. , , . „ , Von Walter
[Nachdruck verboten,]
Unter dem Sammelnamen der „Araucariten-
stämme" fasse ich liier alle diejenigen fossilen,
echt versteinerten Hölzer zusammen, die anatomisch
mehr oder weniger genau den Bau des Holzes
unserer rezenten Araucarieen besitzen (Spezies
Araucaria und Dammarä). Die letztgenannten
Koniferen sind in der heutigen Pflanzenwelt die
einzigen Holzgewächse, die diesen gleich näher zu
charakterisierenden Holzbau haben, während in
früheren geologischen Epochen eine große Anzahl
anderer Holzgewächse, als Calamiten, Cordaiten,
Walchien- und Ulmannienbäume und wohl noch
andere einen gleich oder ähnlich konstruierten
Holzkörper aufwiesen. Der Umstand, daß solche
Hölzer in allen Formationen — seit dem Devon
bis in die Jetztzeit — vorkommen, läßt sie für
eine vergleichende Untersuchung über Verände-
rungen, die sie seitdem erlitten haben, trefflich
geeignet erscheinen; für uns kommt es hier zwar
speziell nur auf die Verhältnisse der Jahresring-
bildung an, gleichwohl mögen der Vollständigkeit
halber die anatomischen Eigentümlichkeiten dieser
Hölzer kurz erläutert werden.
Gothan.
Wie alle Koniferen, so besitzen auch die Arau-
carieen auf den Radialwänden der Hydrostereiden
des Holzkörpers behöfte Tüpfel, welche jedoch von
denen aller anderen Gymnospermen abgesehen von
ihrer Kleinheit (ca. 10 /( vertikale Höhe) dadurch
sogleich zu unterscheiden sind, daß sie infolge
gedrängter Stellung sich gegenseitig abplatten;
wenn sie in einer Reihe stehen, so erfolgt die Ab-
plattung oben und unten, stehen sie in mehreren
Reihen, so kommt hexagonale Abplattung zustande,
die durch die Alternanz der Hoftüpfel (Ouincuncial-
stellung) entsteht, welche unter den lebenden Gym-
nospermen lediglich den Araucarieen eigen ist;
bei anderen Koniferen stehen mehrreihige luptel
stets gleich hoch (sind opponiert). (Vgl. Hgg.
I u ^, welche das Gesagte sogleich verständlich
machen werden.) Von diesem Bau zeigen nun
zwar die fossilen Auraucariten z. T. sehr erhebliche
Abweichungen , allen gemeinsam ist jedoch d 1 e
Alternanz der Hoftüpfel und ihre ge-
drängte, zur gegenseitigen Abplattung
führende Anordnung.
Betreffs der Nomenklatur dieser Holzer sei er-
914
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 58
wähnt, daß unser Name „Araucaritenstämme" von
dem Göppert 'sehen Araucarites hergenommen
ist; bekannter ist vielleicht der von Kraus (5)
P- 370 gegebene Araucarioxylon. Die übrigen
©
©
Fig. 1 . Hydrostereide Fig. 2.
einer
Araucariee Abielacee
Vergr. ca. 230 fach.
Synonyma der komplizierten Nomenklatur {Dado-
.T//ö« Endlicher (i ) sei noch genannt, unter welchem
Namen aus Prioritätsgründen diese Hölzer von
Rechts wegen zu gehen haben) interessieren hier
nicht weiter. Aus den verschiedenen Formationen
sind eine Unzahl von „Spezies" beschrieben worden
(über 100), deren spezifischer Wert bei dem relativ
so außerordentlich gleichförmigen Bau aller dieser
Hölzer zum großen Teil sehr minimal ist. —
Wenden wir uns nunmehr unserer eigentlichen
Aufgabe zu. Jedem, der sich mit dem Studium
der Araucaritenhölzer, überhaupt fossiler Hölzer
beschäftigt hat, muß es aufgefallen sein, daß bei
den Exemplaren aus den älteren Formationen die
Jahresringe — schlechthin gesagt — fehlen. Zwar
findet man in den Diagnosen der Autoren oft
genug „ligni strata concentrica distincta" angegeben,
diese entpuppen sich aber bei näherer Untersuchung
(wo eine solche nach den oft sehr mangelhaften
Angaben möglich ist) fast durchweg als „Pseudo-
Jahresringe". Auf diese Verhältnisse ist zwar schon
von verschiedenen Seiten, so von Solms (8) p. 199,
Potonie (6) pp. 267, 293 hingewiesen, ohne daß
jedoch, wie es scheint, die Bemerkungen dieser
Forscher in wünschenswerter Weise durchgedrungen
wären.
Um überhaupt die Diagnose „Jahresringe vor-
handen resp. fehlend" stellen zu können, ist vor
allen Dingen eine strikte Definierung des Begriftes
„Jahresring" notwendig. Leider haben hierüber
— und es ist zum Teil noch so — recht unklare
Begriffe geherrscht, wodurch die teilweise so un-
zuveriässigen Angaben der Autoren entstanden
sind. „Jahresringe" nennen wir bekanntlich die kon-
zentrischen, auf dem Querschnitt eines Holzes
sichtbaren, periodischen Zuwachsschichten, wel-
che dadurch zustande kommen, daß die im
Frühjahr, zur Zeit des intensivsten Wachs-
tums, vom Kambium gebildeten Holzzellen dünn-
wandig und weitlumig, die im Sommer (bis August)
gebildeten dagegen dickwandig und englumig radial
zusammengedrückt sind (siehe Fig. 3). Das op-
tische Resultat des Absetzens der englumigdick-
wandigen Spätzellen gegen die weitlumig-dünn-
wandigen des nächsten F"rühjahrs sind oft schon
mit bloßem Auge erkennbare konzentrische Ringe,
eben die „Jahresringe".
Es kommt nun bei lebenden, viel häufiger
aber bei fossilen Hölzern vor, daß man mit bloßem
Auge „Jahresringe", d. h. konzentrische Zonen sieht,
während man unter dem Mikroskop von einer
Jahresringbildung (Absetzen der Spät- gegen die
Frühjahrszellen) keine Spur wahrnimmt; man ist
also durch ein optisch verschiedenes Verhalten der
Zellmembranen getäuscht worden. Ob dies nun
— wie vielfach — von einer bloßen Färbung ')
oder von sonstigen optischen Eigenschaften der
Zellmembran herrührt, ist zunächst ganz gleich-
gültig; es fehlt jedenfalls das, was als das Charakte-
ristikum der echten Jahresringe anzusehen ist:
das Absetzen der englum ig- dickwan-
digen Spätzellen gegen die weitlumig-
dünnwandigen Frühjahrszellen.
Bei fossilen Hölzern ist eine — wohl meist
durch Infiltration entstandene — konzentrische
Zonenfärbung etwas ganz Gewöhnliches; bei diesen
kommen aber noch andere „Pseudojahresringbil-
dungen" vor, die bei oberflächlicher Betrachtung
täuschend echten Jahresringen ähneln. Bei der Er-
weichung der Zellmembranen im Verlaufe des Ver-
wesungsprozesses kommt es vor, daß durch seit-
lichen Druck die Zellwände große Strecken weit
zusammengeschoben werden (siehe Fig. 3), wo-
durch eine Verengung des Lumens und daher
makroskopisch dunklere Färbung der betroffenen
tfrm-
F,
Fig.
F dünnwandige F"rülilingsze]len, K, zusammengeschobene
Frühlingszellcn mit z. T. gequollenen Wänden, S Spätzellen
mit verdickten Wänden, m Markstrahl. (Z. T. nach Cramer).
Schichten hervorgerufen wird. iVIan kann Hölzer
sehen , bei denen — zumal bei schichtweiser
Wiederholung desselben Vorganges — die Lupe
die Täuschung noch nicht beseitigen kann, während
das Mikroskop, das nach dem Vorhergehenden
allein Aufschluß über das Vorhandensein echter
Jahresringbildung zu geben vermag, sogleich die
Druckerscheinungen erkennen läßt. Öfters sind
auch streckenweise die Zellmembranen stark ge-
quollen, was ebenfalls das bloße Auge konzentrische
Schichten sehen läßt, und so gibt es noch manche
teils ganz zufällige, teils im optischen Verhalten
') So ist es z. B. bei einem mir vorliegenden Querschnitt
einer Dammara (Agathis) ausiralis.
N. F. III. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
915
der Versteinerungsmasse begründete Verhältnisse,
die eine Jahresringbildung vortäuschen können.
Es ist bereits vorhin auf die Jahresringlosigkeit
der fossilen Araucaritenhölzer aus den älteren
Formationen hingewiesen. Um nun die Frage
nach der Ursache davon beantworten zu können,
müssen wir uns klarmachen, durch welche Ver-
hältnisse eine Jahresringbildung überhaupt zustande
kommt. Nach allem, was wir bislang über diesen
Gegenstand wissen, können wir diese Frage kurz
dahin beantworten: Eine Jahresringbildung,
d. h. also die abwechs el ndeBildungweit-
1 umig- dünn wandiger und englumig-dick-
wandiger Holzzellen wird durchgewalt-
same zeitweise Sistierung oder Ab-
schwächung der Tätigkeit des Kam-
biums hervorgerufen. Bei längerer, voll-
ständiger Sistierung der kambialen Tätigkeit treten
die Jahresringe scharf hervor, bei bloß vorüber-
gehender Schwächung wird man eine um so
weniger ausgesprochene Ringbildung — in allen
Abstufungen bis zum Nichtvorhandensein — wahr-
nehmen, je weniger die kambiale Tätigkeit ge-
stört war.
Die Umstände nun, die eme solche Wachs-
tumssistierung verursachen, können sehr verschie-
dener Natur sein. Gewöhnlich sind es klimatische
Bedingungen; da in unseren Breiten Jahr für Jahr
mit dem Wechsel der Jahreszeiten eine Temperatur-
erniedrigung eintritt, die ein Wachstum des Holzes
unmöglfch macht, so sind die Bäume gezwungen,
jedes Jahr die den Schluß der Kambiumtätigkeit
dokumentierenden Spätzellen zu bilden, und so
kommt eben Jahr für Jahr ein gegen den früheren
und folgenden deutlich abgesetzter Holzring zu-
wege. Man wird also umgekehrt mit Recht von
dem Vorhandensein regelmäßig abgesetzter
Zuwachsschichten auf ein periodisch verschie-
denes Klima (meist verschieden hohe Temperatur)
zu verschiedenen Jahreszeiten schließen können.
Es gibt aber noch andere Bedingungen, die
das Kambium zur zeitweisen Einstellung seiner
Tätigkeit oder doch zu einer Verringerung der-
selben nötigen. Es ist dies z. B. anhaltender
Wassermangel, bei dem natürlich das Wachstum
eine Schwächung erleiden muß; man hat denn
auch z. B. am Senegal u. a. O. die Bildung charak-
teristisch englumig-dickwandiger Zellen bei längerer
Dürre beobachtet ; die hierdurch entstehenden Zonen
sind natürlich nicht als „Jahresringe" zu bezeichnen
und auch von der echten Jahresringbildung durch
ihr unregelmäßiges und eventuell innerhalb der
echten Jahreszonen fallendes Auftreten genügend
zu unterscheiden.
Gewaltsame Entlaubung (z. B. durch Raupen-
fraß) bringt ebenfalls eine vorübergehende Ab-
scheidung von Spätzellen mit sich, die so lange
andauert,') bis die neuen Blätter aus den Knospen
') Die Ursache des verminderten Wachstums ist in diesem
Fall in dem Fehlen der assimilierenden Organe, der Blätter,
zu suchen, wodurch der ganze Stoffaustausch im Baume
naturgemäß eine durchgreifende Störung erleiden muß. Mit
hervorbrechen. Diese „Jahresringe" sind auch bei
fossilen Hölzern von Conwentz (i) p. 139 be-
kannt gemacht worden und zwar an Bernstein-
hölzern, was sehr glaubhaft erscheint, da ja der
Bernsteinwald mangels jeden forstlichen Schutzes
den Feinden der Bäume besonders ausgesetzt war.
Diese Art der Zonenbildung ist bei genauer Unter-
suchung ebenfalls stets von den echten Jahres-
zonen zu unterscheiden, wie ja schon aus dieser
Auffindung hervorgeht, zumal die englumigen Zellen
meist nicht über den ganzen Holzumkreis gleich-
mäßig verfolgt werden können.
Wenn wir von der durch zufällige, außerge-
wöhnliche, jedenfalls nicht periodisch ein-
tretende Verhältnisse hervorgerufenen Zonenbildung
absehen, müssen wir als die Ursache der echten
periodischen Jahresringbildung klimatische Unter-
schiede in den verschiedenen Jahreszeiten bezeich-
nen; man kann sich eben schlecht andere Um-
stände vorstellen, durch welche eine Periodizität
in der Verminderung resp. Sistierung der Kam-
biumfunktion stattfinden oder stattgefunden haben
könnte, wenn man nicht den Weg des Analogie-
schlusses von jetzigen auf frühere Verhältnisse
verlassen will. Es braucht kaum noch hervor-
gehoben zu werden, daß die eben erläuterten zu-
fälligen, anomalen Zonenbildungen der Periodizität
ermangeln, also höchstens „Jahresringe" von sehr
verschiedener Weite und ganz unregelmäßigem
Auftreten erzeugen können.
Wir sehen, daß die Jahresringbildung ein ge-
treues Bild geben muß von der Gleich mäß^igkeit
oder periodischen Ungleichmäßigkeit des Klimas
der Epochen, in denen die betreffenden Bäume
wuchsen. Daß dies in der Tat so ist, ersehen
wir auch aus dem Verhalten der tropischen Holz-
gewächse, welche — bei der mehr oder minder
großen Temperaturgleichheit während des ganzen
Jahres — die regelmäßige Jahresringbildung der
Bäume unserer Breiten durchaus vermissen lassen,
und gerade von den rezenten Araucarien, welche
solche Klimata bevorzugen, ist dies zur Genüge
bekannt: Bei ihnen sieht man zwar mit bloßem
Auge oft konzentrische Zonen, unter dem — allein
maßgebenden — Mikroskop ist jedoch von
Jahresringen oft keine Spur aufzufinden. Dies Ver-
halten hatte früher sogar Schacht (7) p. 413
dazu verleitet, für Araucaria brasilicnsis, wenigstens
das Stammholz, die Jahresringlosigkeit als Charak-
teristikum anzunehmen; daß dies nicht statthaft
ist, erhellt von selbst.
Man nimmt nun bekanntlich an, daß im all-
gemeinen in den älteren geologischen Formationen
Tungefähr bis zur Trias inkl.) auf der Erde das
ganze Jahr hindurch ein gleichmäßiges Klima ge-
herrscht habe, das ein ununterbrochenes Wachs-
tum der Holzgewächse usw. ermöglichte. Man
braucht nicht eine „tropische Hitze" für diese
Zeiten anzunehmen; das Schwergewicht liegt für
dem Wiedererscheinen der Blätter setzt denn auch das ge-
wöhnliche Wachstum wieder ein.
gi6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 58
uns in der Gleichmäßigkeit des Klimas wäh-
rend des ganzen Jahres. Daß man mit dieser An-
nahme nicht fehlgegangen ist, zeigt uns nun die
Jahresringlosigkeit der Hölzer aus diesen For-
mationen zur Evidenz; in diesen Epochen stellen
die Hölzer vom Araucaritenbau das größte Kon-
tingent ; erst seit der Trias (häufig erst im Jura)
kommen andere Koniferenhölzer vom heutigen
Cupressaceen- und Abietaceentypus hinzu.') Für
unsere Betrachtungen können wir dieselben zu-
nächst außer acht lassen, da wir schon an unseren
Araucaritenstämmen, die in allen Formationen vor-
kommen, das Erforderliche ersehen können.
Ausgesprochen erst in der Juraformation treten
Araucaritenstämme mit unzweifelhaft echter Jahres-
ringbildung auf; ein Holz — angeblich aus dem
Keuper — in der Sammlung der Geologischen
Landesanstalt hat zwar, wie es scheint, schon
Jahresringe; jedoch lassen diese durch ihre sehr
verschiedene Breite auf eine unregelmäßige
Periodizität des Wachstums schließen. Da der
ganze Holzquerschnitt nicht vorliegt, so vermag
man nicht festzustellen, ob dieselben den ganzen
Holzumkreis einnehmen; vielleicht verdanken sie
auch den erwähnten Anomalien ihre Entstehung.
Überhaupt beweist ja ein einzelnes Holz nichts;
man muß schon möglichst eine Anzahl derselben
von demselben Fundort prüfen, um ein Urteil
fällen zu können.
Aus dem Jura und der nächst höheren Formation,
der Kreide, kennen wir noch Funde aus unseren
Breiten, aus letzterer Formation jedoch bereits
spärlicher; ein tertiärer Fund eines Araucariten ist
aus Deutschland nicht bekannt, ein Zeichen, daß
— wie auch die Beobachtungen an den übrigen
Tertiärhölzern zeigen — bei uns schon ein relativ
kälteres (besser: periodisiertes) Klima herrschte,
das die Araucariten — welche in dieser Formation
wohl ausschließlich echten Araucarieen (welche
seit dem Jura vorkommen) angehört haben — zu
einem Rückzug in die tropischen Regionen der
Erde bewogen hatte.
Die Tatsache, daß man erst seit dem Jura
Jahresringe bei den Hölzern findet, steht auch vor-
züglich im Einklang mit den von den Geologen
im Jura zuerst deutlich konstatierten „Klimazonen";
es ist klar, daß, wenn diese wirklich den Beginn
einer klimatischen Differenzierung der Erdober-
fläche bedeuten, dies erst recht an dem Wachstum
des Holzkörpers der Holzgewächse zum Ausdruck
kommen mußte.
Nach dem allem ist klar, daß nun auch aus
dem Vorhandensein echter Jahresringe ein Schluß
auf das geologische Alter unserer Hölzer gemacht
Vi'erden darf, wenn auch in sehr weiten Grenzen,
aber bislang gewährt die anatomische Struktur an
sich fast gar keinen Anhalt für eine Altersbestim-
mung,') so daß man z. B. bei Geschiebehölzern
ganz im Dunkeln tappt. Bei anderen Koniferen-
hölzern sind — wegen ihres an sich jüngeren
Alters — die Grenzen von selbst schon enger ge-
zogen, bei den Araucariten, die wir seit dem Devon
kennen, liegt die Sache ganz anders, zumal bereits
im Karbon Hölzer vorkommen, die mit unserem
rezenten Araucaritenholz frappante Ähnlichkeit
haben.
Natürlich kann man nun andererseits aus der
Jahresringlosigkeit (siehe oben) eines Holzes nicht
ohne weiteres auf vorjurassisches Alter schließen,
denn, wie schon gesagt, sind auch die rezenten,
tropische Gegenden bewohnenden Bäume mit
diesem Holzbau jahrringlos ; unter vorsichtiger Be-
rücksichtigung des Fundortes wird auch hier noch
mancher Anhalt zu gewinnen sein, im allgemeinen
wird jedoch ein Schluß in dieser Richtung immer
etwas Gewagtes an sich tragen.
An einem Beispiel mag noch gezeigt werden, wie
in der Tat unsere Betrachtungen bereits in der Praxis
bestätigt worden sind. Aus Sibirien (vom rechten
Ufer des Jenessei im Altaigebirge) wurde von G ö p-
pert (4) p. 389 ein Araucaritenstamm beschrie-
ben {AraucariUs Tchi/iakhe/ßiuins), den er dem
Unterkarbon zuwies ; nun besitzt aber dieser Stamm,
wie sich jeder an den von Göppert im „Arbo-
retum fossile" veröffentlichten Schliffen überzeugen
kann, echte Jahresringe. Mithin wird nach unseren
Ausführungen der Stamm wahrscheinlich nicht
älter als jurassisch sein, und dies hat sich denn
auch aus anderen dort aufgefundenen Versteinerun-
gen *) als richtig erwiesen : der Stamm ist jurassisch.
Aus gleichen Gründen kann man sich mit der
Angabe von Felix (3) p. 81, der einen Araucariten
mit — nach seiner Angabe — echten Jahresringen
[Dadoxylon angustiim aus Australien) dem Kulm
zurechnet, nicht einverstanden erklären. —
In neuerer Zeit wird bekanntlich für die Perm-
formation in südlichen Breiten {Glossopteris-YKLVts)
das Vorhandensein einer Eiszeit in Anspruch ge-
nommen; es wäre interessant, wenn in jenen
Gegenden aus dieser Epoche Hölzer aufgefunden
würden, dieselben müßten periodische Jahresring-
bildung zeigen, da die Nähe des Eises wahrschein-
lich eine unserer heutigen ähnliche Klimapcriodizi-
tät erzeugt haben würde; vielleicht könnte durch
■) Aus dem Karbon des Waldenburgischen ist von Göp-
pert-Stenzel (l) p. 54 ein Rest dieses Typus beschrieben,
auf den ich nachher noch zurückkomme, derselbe besitzt, wie
es scheint, echte Jahresringe.
') Der von Felix (Untersuch, üb. d. inneien Bau westf.
Karbonpflanzen. Jahrb. der Kgl. geolog. Landesanstalt 1886.
Bd. VII, 3, p. 57) gemachte, sonst sehr plausible Vorschlag, die
mesozoischen, wohl echten Araucarien (seit Jura) angchörigen
-Araucariten Araia-aiioxylon Kraus, die paläozoischen Dado-
xylon Endl. zu benennen ist schon aus diesem Grunde nicht an-
nehmbar; denn auch unter Berücksichtigung der Jahresring-
verhältnisse können wir über das Alter der Hölzer nur meist beim
Vorhandensein von Jahresringen etwas aussagen, nicht
aber immer beim Fehlen derseltDen, da die heutigen Arau-
carien noch oft jahrringlos sind, rcsp. regelmäßige Periodizität
in der Jahresringbildung vermissen lassen.
") Durch Seh mal hausen (Beiträge zur Juraflora Ruß-
lands 1879), dessen Horizontierung Zeil 1er (1896), der es
für Perm hielt, nach Potonie (iu Futterer: Durch Asien,
1903) zu Unrecht anzweifelt. Das in Frage stehende Holz
wird von keinem der Autoren ei wähnt.
N. F. m. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
917
das Studium solcher Hölzer noch weitere Klärung
in diese Verhältnisse gebracht werden.
Zum Schluß will ich nicht unterlassen, auf einen
— der Angabe nach karbonischen — Stamm vom
Abietaceentypus ^) einzugehen, den Conwentz
auf einer Berghalde im Waldenburgischen aufge-
funden hat [Pinites Coiiwentziamis Göpp.j. Dieser
zeigt, wie olDen bereits bemerkt, wirkliche Jahres-
ringe. Dieser Pinit nimmt sich schon an und für
sich sehr sonderbar in der karbonischen Flora aus,
da er die einzige Art und das einzige Exemplar
eines Stammes vom abietoiden Typus ist, das wir
aus dem Karbon der ganzen Welt kennen; abie-
toide Hölzer im engeren Sinne (mit einfachen
Markstrahlen) { Cedroxylon Kx3.\.k) werden seit dem
Rhät angegeben ; Stämme mit Harzgängen in den
Markstrahlen {Pityoxylon Kraus) kennen wir erst
im Tertiär, wenn man von der zweifelhaften Pciice
eggensis With. aus der Kreide von den Hebriden
absieht; zum letzteren Typus gehört aber nach der
Beschreibung Sten zel - Göp pert' s das Holz
') Außerdem findet man in der Literatur noch Pinites
H'itlia?m Göpp. aus dem Karbon Englands angegeben; bei
diesem felilen Jaliresringe ganz, jedocli sclieint mir nach der
Abbildung von Lindley und Hutton (The fossil Flora ol
Great-Britain, Vol. 1, t. 23, 24) dieser ein Araucarit zu sein;
die Tüpfel alternieren ; daß sie sich nicht gegenseitig berühren,
dürfte Folge des Erhaltungszustandes sein (teilweiser Schwund
der Tüpfelumrandung), wie man dies auch bei anderen, z. B.
Araucariles mediillosris Göpp., .•/. Khodeanus Göpp. ganz ge-
wöhnlich findet.
ohne Zweifel. Die Lücke vom Karbon bis
zum Tertiär dürfte die Zugehörigkeit des Holzes
zu ersterer Formation sehr in Frage stellen,
zumal das Stück nicht unter Tage, sondern über
Tage auf einer Halde gefunden worden ist. Es
wird wohl kaum ausgemacht werden können, wie
dieses merkwürdige Holz dorthin geraten ist ; nach
allem, was wir bislang über das Vorkommen der
Typen der fossilen Koniferenhölzer wissen, ist ein
Pityoxylon im Karbon eine Unmöglichkeit. Seine
Jahresringe können daher gegen unsere vorgängigen
Betrachtungen nichts erweisen.
Verzeichnis zitierter Literatur.
1) Conwentz, H., Monographie der balt. Bernsteinbäume.
Danzig, 1890.
2) Endlicher, St., Synopsis Coniferarum. St. Gallen, 1847.
3) Felix, J., Studien über fossile Hölzer. Leipzig, 1882.
4) Göppert, H. R., Nachträge zur Kenntnis der paläo-
zoischen Koniferenhölzer etc. Aus dem Nachlaß von
Göppert bearbeitet von G. Stenzel. Abhandl. d. Königl.
Preuß. Akad. d. Wissensch. Berlin, 1887.
i^) Kraus, Gregor, Bois fossiles de Coniferes in Schimpcr,
Traite de Paleontologie veget. T. II, p. 363-3S5. t. 79.
6) Potonie,H., Lehrbuch der Pflanzenpaläontologie. Berlin,
1899.
7) Schacht, H.. Über d. Stamm und die Wurzel von Arau-
curia brasilunsis. Bot. Zeitg. 1848. Stück 48/49.
5) Snlms-Laubach, H. Graf zu, Über die in den Kalk-
steinen des Kulm von Glätzisch-Frankenberg enthaltenen
Struktur bietenden Pflanzenreste. 11. Bot. Zeitg. 1893.
p, 197-210. (Über Protopitys Biichiana.)
[Nachdruck verboten.]
Im und am Wolgadelta.
Von F. Rofsmäfsler.
Finis coronat opus. — Zu den leider nicht
seltenen Fällen, in denen sich das allbekannte
Sprichwort nicht bewährt, gehört auch der Ver-
lauf des größten Stromes Europas, der Wolga, des
vom Russenvolke verehrten „Mütterchens". Wenn
auch nicht in allen Beziehungen der ungeheuren
Wichtigkeit dieser Hauptpulsader des Zarenreichs,
so doch in der als majestätischer Strom und einen
Riesenverkehr vermittelnde Wasserstraße ist das
letzte Stadium des Wolgagebietes nicht als ein
„krönendes Ende" zu bezeichnen, ebenso wie es
bei dem größten Strome Ägyptens, dem Nil, und
noch vielen anderen der Fall ist.
Schon in der Entfernung von 300 km von
ihren Mündungen in das Kaspische Meer beginnt
durch Abspaltung der Achtuba, die dem linken
Ufer des Mutterstroms parallel verlaufend ihren
eigenen Weg nimmt, die Zersplitterung der Wolga.
Unterhalb Astrachans, der alten Königsstadt eines
einst mächtigen Mongolenreichs, wird dann die
Zersplitterung eine vollständige. Von hier an
zweigen sich von dem bei Astrachan noch über
2 km breiten Strome 8 Haupt- und gegen 200
Nebenarme ab, das Wolgadelta bildend. Diese in
ihren hydrographischen und das animalische und
vegetabilische Leben betreffenden \'erhältnissen
höchst interessante Gegend umfaßt ein in seiner
Längsachse einige siebzig und in seiner Spann-
weite an der Meeresküste über lOO km messen-
des Gebiet, netzartig durchzogen von schmalen
und breiten Wasserarmen, zwischen denen unzählige
Inseln und Inselchen, mit mächtigen Schilffeldern
abwechselnd, ausgebreitet sind, deren Ufer sich
teils kaum merkbar, teils nur um einige Fuß über
den Wasserspiegel, zur Zeit des normalen Wasser-
standes, erheben.
Zu wiederholten Malen habe ich das Wolga-
delta auf dem flüchtigen Dampfer in seiner ganzen
Länge durchreist, oder zu Jagdpartien, Exkursionen
und Besuchen der großen Fischereien im von
Kalmücken bedienten Ruderboot aufgesucht, und
immer habe ich von diesen Ausflügen bleibende
Eindrücke des erhabenen Naturbildes heimgebracht.
Nicht mehr traurige Einöde, oft fast wüstenartig,
wie oberhalb Astrachans, sondern in Überfülle
strotzendes Tier- und Pflanzenleben umgibt uns
iin Bereiche des Wolgadeltas.
Wenn auch während der Dampferfahrt von
Astrachan bisBirutschi-Kossa'), an dem westlichsten
1) Nicht unbedeutender Ort, der letzte Posten russischer
Kolonisation am rechton Wolgaufer in der Kalmückensteppe.
9i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. S8
und größten Arme der Wolga, das rechte Ufer
fast nichts als Hügel , manchmal sogar Berge
sterilen Dünensandes erblicken läßt , so wird es
doch durch große, in gutem Wohlstand lebende
Fischerdörfer abwechslungsreicher gestaltet, als es
während der langen Reise von Zarizyn bis Astra-
chan in monotoner Weise verlief Ein Blick über
die Ufergegend zur Linken genügt, um die lebens-
volle Pracht ahnen zu lassen , die sich in dem
Labyrinth von Inseln und Wasserläufen birgt und
sich schon in den Kronen hoher Silberpappeln,
Erlen und auf trockneren Plätzen wachsender
Eichen bemerkbar macht.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit zuerst der
Fauna des Wolgadeltas zu, so sind, wie ja durch
die lokalen Bedingungen als selbstverständlich
vorauszusetzen ist, die Klassen der Vögel und
Fische am reichsten vertreten.
Aus der Abteilung der am und auf dem Wasser
lebenden Vögel warmer Gegenden fehlt wohl
kaum ein Repräsentant, vom kleinen, geschäftig
umherlaufenden Strandläufer bis zum stattlichen
Pelikan, oder der dem Laufe der Dampfer folgen-
den Möve, die mit Blitzesschnelle aus der Luft
niederstößt, um mit nie versagender Sicherheit auch
den kleinsten aus der Schiffsküche über Bord ge-
worfenen Brocken als ersehnte Beute zu entführen.
In träger Ruhe treibt der Pelikan auf dem Wasser,
mit der größten Gleichgültigkeit läßt er die Dampfer
bis in große Nähe an sich herankommen, bevor
er seine philosophischen Betrachtungen, in denen
er vertieft zu sein scheint, unterbricht und mit
schwerfälligen Flügelschlägen dicht über dem
Wasser hinfliegt. ') Mit großem Vergnügen habe
ich auf meinen Streifereien in diesem Wasserreiche
das Gebaren der Pelikane und Cormorane be-
obachtet, wenn letztere eine kleine Ufereinbuchtung
in dicht geschlossener Kette abschlössen und
unter heftigem Flügelschlagen dem Ufer immer
näher schwammen, die Fische vor sich hertreibend,
aus deren erschreckter Schar die im Kesseltreiben
schwimmenden Pelikane sich der leckersten Bissen
bemächtigten , ohne dadurch nur im geringsten
das Mißvergnügen der dienstbaren Treiber zu er-
regen , für deren Notdurft auch genügend Beute
übrig blieb.
Aber nicht nur im unmittelbaren Bereiche des
Wassers spielt sich das vielgestaltige Vogelleben
ab, auch andere Vertreter dieser Tierklasse be-
wohnen das Wolgadelta, dessen Innenregionen
ihnen die ungestörteste Ruhe und reichlichste
Nahrung bieten. Viele Raubvögel, unter denen
ein weißköpfiger Fischadler der größte ist, ziehen
ihre weiten Kreise in der Luft ; unzählige gefiederte
') Ein zweiter in den westeuropäischen Flüssen und Seen
nur sehr selten vorkommender, das Wolgadelta jedoch in
großer Menge belebender Vogel, ist der Cormoran, auch Seerabe
(Graculus carbo) genannt. Der äußerst gesellige und in seinem
geistigen Wesen gut entwickelte Schwimmvogel hat ein schwarz-
grünes, metallisch glänzendes Gefieder, die Kehle ist weiß, die
Gesichtshaut nackt, Iris grün, Schnabel und Füße schwarz.
Obwohl der Cormoran durchaus kein gewandter Flieger ist,
baut er doch sein Nest mit Vorliebe auf hohen Bäumen.
Sänger nisten in den Bäumen und pfeifen und
trillern ihre Lieder nach Herzenslust; mit seinem
schönen schillernden Farbenschmuck erfreut uns
der Bienenfresser und der rosa gezeichnete Wohl-
täter hiesiger Gegend, der Heuschreckenvertilger,
waltet seines von der Mutter Natur ihm aufge-
tragenen Amtes; Schnepfen verschiedenster Art
schwirren in den unüberblickbaren Schilffeldern.
— Mit einem Worte eine Vielgestaltigkeit des
Vogellebens, wie man sie kaum reicher denken
kann !
Ihrem enormen Reichtum an Fischen hat die
Wolga wohl zum größten Teil den Kosenamen
„Mütterchen" (Matuschka) zu verdanken, den ihr
das dankbare Volk gibt , für welches diese Fülle
an Fischen, die jeden anderen Fluß übertriftt, ein
wichtiges Nahrungsmittel ist und Tausenden
fleißiger Menschen guten Erwerb gibt. Neben
den Fischen, die in jedem anderen europäischen
Flusse leben, wie Hecht, Sandart, Brachs, Karpfen,
Wels usw. sind es namentlich vier Arten der
Knorpelfische, welche den größten Geldwert re-
präsentieren. Es sind dies Accipenscr ruthenus
der Sterlet, A. stellatus die Sewrjuga, A. Gülden-
städtii die Ossetrina und A. huso der Hausen.
Diese vier Fischarten, deren Skelett ein knorpeliges
ist, welches durch auf der schuppenlosen Haut
sitzende Knochenschilder verschiedenartiger Form
größere Festigkeit erlangt, haben ein besonders
wohlschmeckendes Fleisch, ebenso ist ihr Rogen,
der bekannte Caviar, eine Delikatesse; ihre Nah-
rung ist eine tierische. Sie werden im Sommer,
mit Ausnahme der gesetzlich festgestellten Schon-
zeit, mit Netzen, und im Winter mit eisernen
Haken gefangen, die an Stangen befestigt sind,
welche durch in das Eis gehauene Löcher ein-
gestellt werden. Die ungefähre Menge der jähr-
lich gefangenen Störe beträgt 2 Millionen Kilo-
gramm. Aus der Schwimmblase dieser Fische
wird der geschätzte Fischleim, unter dem Namen
„Hausenblase" bekannt, bereitet. Die feinsten
Sorten dieser wertvollen Fischprodukte liefern die
kleinen Störarten, für Caviar besonders der Sterlet.
Von der außerordentlichen Bedeutung des Wolga-
Fischfangs, dessen ergiebigstes Gebiet in den
Hauptarmen des Wolgadeltas und demjenigen
Teil der Meeresküste befindlich ist, in welchem
sich das süße Wasser aller Wolgaarme wieder zu
einer mächtigen Fläche vereinigt, deren Ufer sich
dem Auge entziehen, kann nur derjenige einen
der Wirklichkeit entsprechenden Begrifl" haben,
der die kolossalen Transporte aller möglichen
Fischwaren, im frischen, gesalzenen oder nur ge-
trockneten Zustande, gesehen hat, die sich wäh-
rend der ganzen Zeit des freien Wassers in
Schiffen, und zur Winterszeit in langen Schlitten-
zügen auf dem Eise der Wolga bewegen.
Das Insektenleben ist ein artenarmes und be-
schränkt sich auf wenige Schmetterlinge; Heu-
schrecken, die Geißel der südlichen Wolgaländereien,
kommen wohl vor, aber nicht in den Verwüstung
anrichtenden Schwärmen, wie ich sie oberhalb
N. F. III. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
919
Astrachans zu wiederholten Malen und mit Schrek-
ken sah. Dafür übernehmen die Mücken die Rolle
der Quäler des Menschen, indem sie ihm sein
eignes Blut abzapfen, seine Gärten und Felder
verschont lassend. Diese langbeinigen, dunkel
gefärbten großen Blutsauger schwirren schwarm-
weise in der Luft und machen sich namentlich
des Abends, wenn man sich nach der sengenden
Tageshitze der Nachtkühle erfreuen möchte, in
unangenehmster Weise fühlbar, so daß sogar mit
Teer getränkte, kleinmaschige Netze, die man vor
dem Gesicht trägt, nicht genügend Schutz bieten.
Es ist dies eine dem reichen Tierleben eines
großen Wassergebietes angehörige Zugabe und
nicht zu vermeidende Belästigung, der man sich
fügen muß, will man aus dem Nützlichen Vorteil
erzielen, oder sich am Anblick des Schönen er-
freuen. —
Überall wo die Bodenverhältnisse dazu geeignet
sind, wo sich das trockene Land um einige Fuß
über das Wasser erhebt, wie dies längs der Haupt-
arme und auf vielen Inseln der Fall ist, breitet
sich ein schöner Baumwuchs in üppiger Fülle aus,
in dessen Schatten ein dicht verflochtenes Strauch-
werk herrlich gedeiht. Heckenrosen und Brom-
beersträucher bilden eine oft undurchdringliche,
mit spitzen Stacheln bewaffnete, dafür aber mit
großen, äußerst wohlschmeckenden Beeren ge-
schmückte, zum Pflücken einladende Wand. Hohe,
sich im Luftzuge wiegende Gräser, vermischt mit
Blumen, bedecken den Erdboden. Überall wächst,
überall blüht es. —
Ein ganz anderes Vegetationsbild bieten die-
jenigen Stellen, an denen die Trennung von
Wasser und Land keine durchgreifende ist, wo
das Gebiet ein solches ist, daß das Wasser vor-
herrscht, ohne jedoch einen wirklichen Sumpf zu
bilden. An solchen Stellen, deren Ausbreitung im
Bereiche des Wolgadeltas die vorherrschende ist,
dehnen sich unabsehbare Schilffelder aus. Das
acht bis zehn Fuß hohe Schilf steht bürstenartig
dicht, so daß ein unvorsichtiges Eindringen in
dieses Dickicht, — wie ich mir einst zuschulden
kommen ließ, um einen im Fluge geschossenen
Reiher nicht zu verlieren, der, wie es mir schien
ganz nahe am Rande des Schilfes niedergefallen
war, — eine verhängnisvolle Verirrung zur Folge
haben kann. — Das außerordentlich feste, holzige
Schilf wird von den in der Umgebung Astrachans
lebenden Tataren als Brenn- und Baumaterial ver-
wendet, selbst von mehreren ziemlich großen
Ziegeleien zum Brennen der Ziegel, und doch
werden noch jährlich in der Herbstzeit Hunderte
von Quadratkilometern große Schilffelder ausge-
brannt^ um dem Nachwuchs des nächsten Sommers
Raum und Düngung zu besserer Entfaltung zu
verschaffen. Wochenlang sieht man im Herbst
den südlichen Horizont Astrachans während der
ganzen Nacht gerötet im Widerschein der brennen-
.den Schilffelder.
Bis hierher haben wir unsere Betrachtungen
im Wolgadelta selbst angestellt, wenden wir nun
unsere Aufmerksamkeit den dasselbe im Süden^
Osten und Westen begrenzenden Gebieten zu. In
der ersten Himmelsrichtung haben wir es mit einer
weiten Wasserfläche zu tun, die trotz der für das Auge
unerreichbaren Begrenzung doch noch nicht als dem
Kaspischen Meere angehörig bezeichnet werden
kann, die mit Fug und Recht für die Schiffahrt
als „nichtkrönendes" Ende der Wolga angesehen
werden muß. Der im Verlaufe von Jahrtausenden
dem Kaspischen Meere von den Fluten der Wolga,
namentlich zur Zeit des Hochwassers, zugeführte
Sand und Erde hat sich vor den Mündungen in
der Gestalt einer fast vollständig horizontal ab-
gelagerten Schicht angesammelt, die sich viele
Meilen weit in der Richtung nach Süden erstreckt.
Diese Schicht ist allmählich so mächtig geworden,
daß die ungeheuren Wassermengen des gewaltigen
Stromes über derselben sich verteilend, eine Tiefe
von nur neun Fuß erreichen. Succesive steigt in
der Entfernung von 30 bis 40 km von den Mün-
dungen die Tiefe des immer noch süßen Wassers
auf zwölf und vierzehn Fuß, und erst dann ver-
schwindet das trübe Flußwasser in den tiefblauen
Fluten des Kaspischen Meeres. Auf diese weite
Wasserfläche übt in bezug auf ihre Tiefe der
Wind einen großen Einfluß aus; bei anhaltendem
Nordwind verringert sich der Wasserstand bis auf
vier, sogar drei Fuß.
Diese ungünstigen Verhähnisse, die jeder von
Menschenhand versuchten Verbesserung spotten,
wirken selbstverständlich sehr erschwerend auf
den außerordentlich regen Verkehr zwischen den
Schiffen der Wolga und denen des Kaspischen
Meeres ein.
In der Richtung nach Westen und Osten wird
das Wolgadeha von der großen Kalmückensteppe
begrenzt. Außer der unbedeutenden Stadt Krasnji-
Jar^ an der Mündung eines der östlichsten Wolga-
arme gelegen, entbehrt die mächtige Steppe jeder
fest angesiedelten Bevölkerung, nur der nomadi-
sierende Kalmücke ist ihr Bewohner und wird es
wohl auch für unabsehbare Zeit bleiben. In den
an das Delta grenzenden Gegenden ist der Boden
der Steppe salzig und teilweise mit Dünensand
bedeckt.
Während einer Landreise von Astrachan nach
Baku mußte ich auch den an das Wolgadelta
grenzenden Teil der Kalmückensteppe durch-
schneiden; ich will es versuchen einen im Be-
reiche des Dünensandes erlebten Sturm zu schildern.
So weit das Auge reichte erblickte ich nichts
als Sand, und zwar in der Gestalt von zehn bis
fünfzehn Fuß hohen Wellen, mit dazwischen
liegenden Wellentälern. Die Sandwellen schienen
sich überschlagen zu wollen, da sie auf der Wind-
seite schwach anstiegen, aber in einem scharfen
Grat endigten und unterhalb des Windes steil
abfielen. Hatten sie eine gewisse Höhe erreicht,
so stürzten sie an ihrer steilen Seite zusammen,
um sofort durch neu hinzugeführten Flugsand ent-
weder an der alten Stelle, oder daneben wieder
aufgebaut zu werden. Das Profil des Bodens war
920
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 58
einer fortwährenden abwechslungsvollen Umge-
staltung unterworfen, Berge und Täler verschwan-
den und entstanden von neuem. Dabei war die
ganze Atmosphäre mit feinen Sandteilchen erfüllt,
der mir durch die Kleider bis auf die Haut drang.
Von irgendeiner Wagenspur, der man in dem
undurchsichtigen Dunkel hätte folgen können, war
keine Rede, wie denn auch unsere Spur, kaum
daß sie von dem bis zur Achse einschneidenden
Rade verlassen war, sofort gleich wieder ver-
wehte.
An den Stellen, an welchen der salzige Boden
mit Dünensand bedeckt ist, fehlt natürlich jede
Spur einer wenn auch noch so armen Flora, die
auch außerhalb des Bereiches der Dünen eine
artenarme ist. Auffällig war mir das ziemlich
häufige Vorkommen eines in großen Büscheln
wachsenden Grases, dessen zierliche Grannen selbst
in der Dunkelheit durch ihre weiße Farbe erkenn-
bar waren. Dieses schöne Gras bildete eine an-
genehme Abwechslung unter den meist farben-
armen Gewächsen der Steppenflora, namentlich
der Salzsteppe. Von einem Baum oder Strauch
ist nicht die Rede, das einzige einigermaßen holz-
und strauchartige Gewächs, welches in der Salz-
steppe anzutreffen ist, ist eine Tamarixart.
Die Steppe hat zahlreiche größere und kleine
Wasseransammlungen, die, nebenbei erwähnt, eine
Gewinnung von Kochsalz im großen ermöglichen,
wozu es nur des Aufbrechens der unter den atmo-
sphärischen Einflüssen natürlich entstehenden dicken
Verdampfungskruste, wie der Eisdecke eines Teiches
zur Winterszeit, bedarf Diese teils see-, teils
teich-, teils flußartigen Wasseransammlungen dienen
einer Unzahl von Wasser- und Sumpfvögeln zum
ungestörten Aufenthalt, und da ihnen hier niemand
nachstellt, sind sie so wenig scheu , daß man ihr
Tun und Treiben in großer Nähe beobachten kann.
Auch hier ist, wenn auch seltener als im Wolga-
delta, der Pelikan anzutreffen, er spielt aber hier
nicht die Hauptrolle, denn die viel stattlicheren
und schöneren Flamingos, Kraniche und prächtigen
weißen Reiher, die gravitätisch einher spazieren,
stellen seine plumpe, schwerfällige Gestalt in den
Schatten. Da schwimmen paarweise Enten der
verschiedensten Arten, dort Gänse, Taucher und
IVIöven, gar nicht zu reden von der Menge kleineren
Geflügels, welches da auf langen und kurzen Beinen
unter allerlei Gepfeif und Getön rastlos am Wasser-
rand hin und her läuft oder fliegt. — Im höchsten
(xrade erstaunt beobachtete ich die an jedem
Wassertümpel sich wiederholenden Vogelkolonien,
ich hätte niemals in der leblos scheinenden Steppe
ein so überaus reges Vogelleben erwartet. — Und
welche Menge von Raubvögeln, und ebenfalls ohne
Scheu ! Gar nicht selten kam es vor, daß unser
Wagen an einem Werstpfahl (das Analogon unserer
Meilensteine) vorbeifuhr, den sich ein Adler als
Ruheplätzchen auserkoren hatte, ohne daß der
Vogel davon flog, der sich vielmehr mit einem un-
bedeutenden Heben der Flügel, der Vorbereitung
zur Flucht, begnügte. Am meisten erstaunte ich
jedoch, auch hier in der öden Steppe Singvögel
anzutreffen, von denen man, mit Ausnahme der
Lerche, gewöhnt ist, sie nur dort zu hören, wo
es Bäume oder wenigstens Sträucher gibt. —
Sollte vielleicht die Salzsteppe der Kalmücken dem
Ornithologen noch Unbekanntes verbergen.?
Aber nicht nur den Vögeln allein bietet die
Salzsteppe behaglichen und, durch die sich in ihr
nur äußerst spärlich bewegende Frequenz bedingt,
ungefährdeten Aufenthalt; noch viele andere Tiere
leben in ihr. So aus der Klasse der Säugetiere
Wölfe und Füchse, ferner einige Nager. Aller-
wärts schlüpfen die niedlichen Sußliks (Perlziesel,
Spermophilus citillus) in ihre Löcher, überall findet
man die von Murmeltieren aufgeworfenen großen
Erdhaufen und allerwärts ahnt man die Gegen-
wart der zierlichen Springmaus (Dipus sagitta).
Ich sage man „ahnt" sie; denn in Wirklichkeit
habe ich sie lebendig nicht zu Gesicht bekommen,
weil ihr Lauf, oder vielmehr ihr Sprung, so pfeil-
schnell vonstatten geht, daß es unmöglich ist, das
Tier mit dem Auge erfassen zu können. Bald
hier, bald da huscht ein Schatten vorüber; es ist
eine Springmaus. Aus der Klasse der Reptilien
gibt es zahllose und verschiedene, teils im schlichten
grauen, teils im farbenschillernden bunten Kleid
einher laufende Eidechsen, auch Schlangen. Viel
gefabelt wird von der Giftigkeit der in der Astrachan-
schen Kalmückensteppe lebenden Schlangen, was
aber wohl unbegründet ist. Ich habe Schlangen
von 4 — 5 Fuß Länge und der Dicke eines Kinder-
armes gesehen, aber nie erfahren können, welcher
Art sie angehören. Wahrscheinlich sind es nicht
giftige Nattern. — Und endlich welcher Reichtum
an Insekten ! Freilich, wenn man ihnen nicht als
Sammler nachgeht und sich zu dem niederbückt,
was da kriecht und an Halmen und Stengeln
klettert, sondern als Reisender auf der flüchtigen
Teläge (russischer Postwagen) durch die Steppe
eilt, dann bemerkt man höchstens Heuschrecken
(die Mücken machen sich schon selbst bemerklich),
welche nach allen Seiten springen und fliegen und
infolge ihrer Größe nicht übersehen werden können.
Dem aufmerksamen Beobachter wird sich bald
die Erkenntnis aufdrängen, daß es schwer sein
dürfte, Gegenden zu finden, wo ein so reiches
tierisches Leben herrscht, wie in den wenig be-
kannten und wenig beachteten Salzsteppen des
Astrachanschen Gouvernements. Ich hatte niemals
Gelegenheit oder Veranlassung in die östlich vom
Wolgadelta sich ausdehnende Steppe zu gelangen,
bin also ohne Kenntnis derselben, glaube aber,
daß ihre naturgeschichtlichen Verhältnisse sich
kaum von denen der westlichen unterscheiden.
N. F. in. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
921
Kleinere Mitteilungen.
Zur Anthropologie Äthiopiens. — Soweit
es der l'orschung bisher gelungen ist, die anthro-
pologische Geschichte der äthiopischen Hochlande zu
ergründen, hat sich ergeben, daß die ersten Bewohner
derselben dunkelfarbige Völker mit Negertypus
waren. F. J. Bieber vertritt die Ansicht (Pol.-
Anthrop. Rev., III., p. 360 ff.), daß die Reste dieser
Negerbevölkerung, Schankalla genannt, sich noch
in den Niederungen im Westen des Landes er-
halten haben, wo sie ein unstetes Jägerleben führen ;
auch die Wata oder Wajto in den Tiefebenen von
Amhara, am TanaSee, in Kaffa etc. werden als
Reste dieser prähistorischen Urbevölkerung ange-
sehen. Dieselbe wurde von den aus Arabien ein-
dringenden Hamiten, namentlich den Galla und
Agau, verdrängt. Schon ein Jahrtausend v. Chr.
hatten sich an den äthiopischen Küsten und im
Grenzgebiete des Hochlands die Habaschat, Se-
miten aus dem südlichen Arabien, festgesetzt. Das
Vordringen derselben hatte nach den Mitteilungen
Bieber's den Charakter einer kontinuierlichen, wäh-
rend mehrerer Jahrhunderte dauernden Einwande-
rung, durch welche die Galla nach Süden, die Agau
nach Süden und Südwesten geschoben wurden.
Die Habaschat bilden den Grundstock der heutigen,
ziemlich homogenen Bevölkerung Nordäthiopiens
(etwa 4 Millionen), namentlich der Amhara in dem
gleichnamigen ehemaligen Teilreiche, welche die
herrschende Rasse darstellen; in Schoa und God-
scham sind sie stark mit Galla-Elementen ver-
mischt. — Die Tigrener hingegen haben den
semitischen Typus weniger rein gewahrt als die
Amhara; sie sind Nachkommen jemenitischer
Araber, vielfach mit hamitischen Elementen ge-
mischt. Die Provinzen Agunmeder, Begemeder
und Lasta bewohnen die Agau (etwa 2 Millionen),
ein intelligenter, schöner Menschenschlag. Zur
hamitischen Völkergruppe Nordäthiopiens gehören
weiters die Khamir, Kumana, gleichwie die Falascha
— die sogenannten abessinischen Juden — , wel-
che in den Gebirgen Simens wohnen, und einige
andere Stämme. Keilförmig erscheinen die Galla
zwischen Amhara und Schoa bis nach Lasta vor-
geschoben ; zerstreute Gallastämme sitzen am Ost-
rande des nördlichen Hochlandes, zu dessen Be-
völkerung auch die hamitischen Afar gehören, die
erst seit kurzer Zeit unter äthiopischer Oberhoheit
stehen. Von diesen abgesehen haben alle genann-
ten Völker Tracht, Sitte, Brauch und — bis auf
die Falascha und Agau — die Sprache der herr-
schenden Rasse angenommen.
Den Grundstock der Bevölkerung des südlichen
Teiles des Reiches (etwa 8 von 10 Millionen)
bilden die Galla mit ihren zahlreichen Stämmen
und Verzweigungen; hier finden wir ferner kleine
semitische Völker, wie die Gurage, Harari etc.,
sowie Mischvölker von Negern und Semiten, im
Osten einen Teil des Somalvolkes und am Rudolf-
See, in den Niederungen des Sobat, seiner Neben-
flüsse usw. reinrassige Neger. Fehlinger.
Die Erscheinungen des natürlichen Todes
bei Reptilien und Batrachiern bespricht der
Herpetologe Dr. Franz Werner, Assistent am
Zoologischen Institut der Universität zu Wien, im
„Biolog. Centralblatt", Bd. 24, Nr. 10, S. 336—338.
Er hat seit einer längeren Reihe von Jahren Be-
obachtungen über diesen Gegenstand gemacht,
deren Veröffentlichung um so wertvoller ist, als
derartige Studien bisher kaum gemacht worden
sind. Der Tod der genannten Tiere tritt meistens
in den späten Abendstunden bis Mitternacht ein,
seltener am Morgen, am seltensten bei Tage. In
den meisten Phallen läßt sich der Eintritt des
Todes recht schwierig konstatieren, da viele Rep-
tilien, die längere Zeit kränklich gewesen sind, in
einer Stellung verenden , die sie vorher oft tage-
lang eingenommen haben. Baumlebende Formen
(Anolis, Chamaeleon, Dryophis) steigen mitunter
schon wochenlang vor dem Tode von den Pflanzen
herab, unterirdisch lebende (Chalcides, Blanus,
Typhlops, Eryx) kommen an die Oberfläche. Bei
Tieren mit Farbwechsel (Geckoniden, Agamiden,
Iguaniden, Chamäleontiden) zeigt sich eine Auf-
hellung der Färbung bis zu Gelb oder Gelblich-
weiß und damit ein Aufhören des Farbwechsel-
vermögens. Bei Schlangen ist vor dem Tode
häufig eine große Unruhe zu bemerken, unauf-
hörlich wandern sie im Terrarium lebhaft züngelnd
umher; aber allmählich wird das Tier ruhiger,
es verlangsamt seine Bewegungen, und schließlich
rollt es sich in einer weiten, lockeren Spirale ein,
um so gegen Mitternacht sein Leben zu beschließen.
Das Hervortreten der Wirbeldornen sowie das
Einsinken der oberen Augenlider bis unter das
Niveau der Schädeldecke sind keine absolut siche-
ren Kennzeichen für Krankheit oder einen bevor-
stehenden Tod der Tiere, da dieselben Erschei-
nungen auch bei ausgehungerten und sehr durstigen
Tieren vorkommen. Ein wirklich sicheres Zeichen
hochgradiger Kränklichkeit ist aber in einer Art
„hippokratischcn Gesichts" zu finden, welches sich
namentlich durch ein sehr starkes Schielen kund-
gibt, indem bei den Schlangen die Pupille konstant
aus der Augenmitte nach abwärts gerückt ist, so
daß man oberhalb von ihr weit mehr von der
Iris sieht als gewöhnlich. Ähnliche Erscheinungen
finden sich auch am Auge bei Eidechsen, Chamä-
leonen, Krokodilen und Schildkröten. Die Lage
der Reptilien nach dem Tode ist davon abhängig,
ob das Tier ohne oder mit Todeskampf verendete.
Im ersteren Falle nehmen die Tiere ihre gewöhn-
liche Ruhelage ein. Eidechsen und Krokodile
haben den Kopf etwas seitwärts geneigt, die Beine
nach hinten an den Körper gelegt; die Schlangen
liegen lang ausgestreckt oder in weiten, lockeren
Schlingen zusammengerollt. Individuen, welche
einen heftigen Todeskampf hatten, liegen meist
auf dem Rücken. Bei Schildkröten sind die
Vorderbeine nach dem Tode weit vorgestreckt
und mit den Unterarmen an den seitlichen Schalen-
rand gelegt; bei Landschildkröten ist der Kopf
tief eingezogen , so daß er oft kaum aus der
922
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 58
Achselhaut hervorsieht , bei Wasserschildkröten
hängt er dagegen weit hervor. Überhaupt haben
aber Schildkröten, die auf dem Trockenen ver-
enden , immer den Kopf eingezogen , wie ihn
solche, die im Wasser sterben , immer lang aus-
gestreckt haben.
Bei den Lurchen sind die Vorboten und An-
zeigen des Todes viel weniger zahlreich als bei
den Reptilien. Bei den Ecaudaten findet .sich als
S)-mptom des Todes häufig Bleichsucht; Agonie
wird nur selten beobachtet. Froschlurche verenden
außerhalb des Wassers meist in sitzender Stellung,
im Wasser mit an die Brust gedrückten Vorder-
und mäßig gebeugten Hinterbeinen. Schwanz-
lurche legen die Vorderbeine nach hinten, die
Hinterfüße kreuzen sie über der Kloake.. Das
„hippokratische Gesicht" ergibt sich bei den Ba-
trachiern durch Niederdrücken des oberen Augen-
lides, wobei gleichzeitig auch das untere über das
Auge gezogen ist. Sg.
„Bäume und Wälder" lautet der Titel einer
Publikation, welche die Naturwissenschaftliche Ab-
teilung der Deutschen Gesellschaft in Posen 1904
hat erscheinen lassen und welche die Holzgewächse
der Provinz betrifft (184 S. und 30 Abb.)^). Schon
im Frühling 1899 begannen die Vorarbeiten damit,
daß eine nicht geringe Anzahl
von Fragebogen an die Besitzer
größerer Waldungen gesandt wur-
de. Doch auch den einzeln
stehenden Bäumen in Dörfern
und Städten, an Wegen und auf
Feldern wurde Aufmerksamkeit
geschenkt, soweit dieselben sich
hervortaten durch die Mächtigkeit
oder Absonderlichkeit des Wuch-
ses, durch Alter, .Seltenheit der
Art oder durch Sagen, durch
geschichtliche Tatsachen, die sich
daran knüpfen. Die Publikation
führt nach einer orientierenden
Einleitung zuerst die Waldungen
der Provinz nach Kreisen geordnet
auf, hinsichtlich ihrer Ausdehnung
und hinsichtlich der Baumarten,
die sie bilden. Das sind manch-
mal nicht wenig Arten, die in
ziemlich gleichem Verhältnis sich
zu einem Walde zusammentun.
Der 190 ha große Wald von
Bendlewoo zeigt folgende 8 Arten :
Birke, Buche, Eiche, Erle, Esche,
Fichte, Kiefer, Rüster und der
Wald von Siemianice sogar 9 Arten auf 500 ha:
Ahorn, Birke, Buche, Eiche, Erle, Esche, Kiefer, Fichte,
Tanne. Es ist das der südlichste Wald der Pro-
vinz Posen. In einer schematischen, die Kreise
in ihrer geographischen Lage darstellenden Über-
sicht ist für jeden Kreis der Umfang der in Be-
tracht kommenden Waldungen, nach Nadel- und
Laubwald geschieden, zum Ausdruck gebracht.
Der Waldreichtum ist für die verschiedenen Kreise
der Provinz sehr verschieden. Für den Kreis
Gnesen z. B. ist ein Bestand von 1000 ha Kiefern
und 500 ha Laub verzeichnet, für den Kreis Brom-
berg 42 000 ha Kiefer mit ganz unbedeutendem
Laubwaldbestande, hn ganzen sind über 408 400 ha
genaue Angaben zusammengestellt worden, etwa
^4 des gesamten für die Provinz Posen berech-
neten Bestandes.
Der zweite Abschnitt der Schrift beschäftigt
sich mit den einzelnen Baumarten bzw. Holzge-
wächsen der Provinz, und beschäftigt sich mit dem
Baum als Individum. 82 verschiedene Arten werden
aufgezählt. Durch Mächtigkeit des Wuchses tut
sich besonders die Sommer- oder Stieleiche
hervor, und eine große Anzahl mächtiger Eichen
wird für die Provinz individuell bezeichnet. Doch
die stärksten Eichen birgt der Kreis Schrimm. Die
mächtigste steht im Schloßparke von Rogalin
(Fig. i) mit einem Umfang (i m Höhe) von 8,5 m.
Sie ist vom Zahn der Zeit schon stark zernagt
(ganz links auf dem Bilde), und nur die sorg-
fältige Pflege des Besitzers hält sie am Leben.
Dicht daneben steht die ihr an Stärke fol-
Fig. I.
') Zu beziehen durch die Buchhandlung von Jolowicz,
Posen.
Die beiden stärksten Eichen der Provinz Posen, im Parke von
Rogalin; Kreis Schrimm.
gende von 8,35 m Umfang; sie ist kerngesund
und kann noch manches Menschengeschlecht
kommen und gehen sehen. 8,27 m Umfang hat
die Eiche von Mszczyczyn. Sie ist hohl, und ihre
Höhlung ist so umfangreich, daß „4 Mann an
einem kleinen Tischchen sitzend Skat in derselben
gespielt haben". Und in früheren Zeiten, wo die
Sitten noch ursprünglicher, die Achtung vor der
N. F. m. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
923
^. , . , ,,,. ,. ,• ,,...,, I :„rl, .l,.r Prr.vin7 Fig. 4. Uic mächtigere dcr beiden Fcldrüstcrn all dci" kalhoHsclien
Fig. 2. Die Linde von Wischin, die stärkste Linde der l/rovmz "& -t & j^jrciie zu Samter.
Posen ; Kreis Kolmar.
Fig. 3. Die „Napoleonskiefer" von Bobclwitz; Kreis Mescritz. Fig. 5. Die einzige Eibe der Provinz, in Goray; Kreis Schwerin.
924
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 58
Obrigkeit und ihren sakrosankten Sendboten noch
nicht so stark ausgeprägt war wie heutzutage, soll
die Höhlung ein behebter Versteck gewesen sein
für diejenigen, welche Grund hatten sich vor dem
Exekutor zu verbergen. Auch an Linden von
erheblichem Umfange ist die Provinz reich. Die
Linde von Wisch i 11 (Fig. 2) erfreut sich eines Umfanges
von 7,25 m. Wie das Experiment ergeben, kann
sie 20 ausgewachsene Menschen gastlich in ihrem
hohlen Bauche aufnehmen. Einen Umfang von
6 m besitzen z. T. die Bäume der prächtigen
Lindenallee von Margonin nach Gollansch, mit
welcher sich die berühmte Allee zwischen Danzig
und Oliva gar nicht vergleichen läßt. Sie sollen
erst 1765 von einem polnischen General gepflanzt
Fig. 6. Der släiksle Wacliolderbaum der Pioviiiz, im Höllcn-
grunde bei Weii3ensee ; Kreis Meseritz.
sein, der durch eine Schwadron seines Ulanen-
regiments die jungen Bäume vor Beschädigungen
schützen ließ. Die Kiefer tritt an Umfang gegen
jene beiden Baumarten sehr zurück — 4 m Umfang
zeigt das stärkste Exemplar (Wtelno) — aber die
Provinz ist reich an merkwürdigen Exemplaren von
diesem ihrem Charakterbaume. Noch heutzutage gibt
es in der Provinz sog. Beutkiefern, in deren Höh-
lung wilde Bienenschwärme wohnen, oder doch
wohnten, deren Honig durch eine besonders an-
gebrachte Öffnung ausgebeutet wurde. Die „Na-
poleonskiefer" bei Meseritz (Fig. 3), ein alter knorriger
Stamm, zeigt 3,7 m Umfang. Unter diesem Baum
rastete Napoleon 181 2 mit seinem Stabe — und
auf 300 Jahre schätzen Sachverständige das Alter
dieser Kiefer. Eine erhebliche Mächtigkeit er-
reichen auch die in der Provinz häufig auftreten-
den Pappeln. 7,15 m zeigte der Umfang des
Stammes einer Schwarzpappel von Nara-
morice (war jedoch nur etwa 180 Jahre alt),
und die Weißpappel von Chrzonstowo besitzt
einen Umfang von 8 m bei 40 m Höhe. Auch
die F e 1 d r ü s t e r tut sich hervor durch imponieren-
des Wachstum. Die stärkste Rüster der Provinz
steht in Samter, an der katholischen Kirche (Fig. 4) ;
gegen 9 m beträgt ihr Umfang, und die am Gutshause
von Sienno bei Wongrowitz mißt 77.3 m. Von
diesen wie von anderen in „Bäume und Wälder"
veröffentlichten Abbildungen hat eine Posener Ver-
lagsfirma Ansichtskarten herstellen lassen. Von
der Eibe existiert in der Provinz nur noch ein
ursprünglicher Vertreter dieser Art in Gora im
Kreise Schwerin a. W., 2 m besitzt der Umfang
des Stammes und auf 400 Jahre ist sein
Alter zu schätzen (Fig. 5). Der Wacholder, der
als Unterholz in der Provinz so häufig ist,
tritt zuweilen baumartig auf. Der stärkste dieser
Bäume (Fig. 6) hat 1,4 m Umfang am Erd-
boden. Von selteneren Baumarten wären zu
erwähnen die Eisbeere, für die noch ziemlich
viel Standorte angegeben werden, und dann die
Mehl beere mit dem einzigen Standorte bei der
Stadt Moschin. Von den Bäumen, an die sich
Sagen oder geschichtliche Ereignisse knüpfen, wäre
der „historische Kastanienbaum von Filehne" zu
nennen (3,3 m Umfang). Er soll der letzte sein
von vielen, die mal eine prächtige, dicht belaubte
Allee gebildet. Aber sie mußten fallen, wie der
Mund des Volkes erzählt, auf Geheiß der Fürstin
Sapieha, weil der Schatten der herrlichen Bäume
den P"eind Polens, Friedrich den Großen, nicht er-
quicken sollte, der zur Besichtigung der neu er-
worbenen Ländergebiete heranzog. Ein langes
Gedicht, welches 1848, wo die nationalen Wogen
so hoch gingen, entstanden ist, gibt diese Sage
in ansprechender Form wieder.
Der folgende dritte Abschnitt von „Bäume
und Wälder" beschäftigt sich mit den Pflanzen,
welche in der Provinz Posen den Kieferwald, und
welche den Laubwald bewohnen. Er ist für den
Botaniker von Fach bestimmt. Der letzte Abschnitt
endlich betrifft das Schicksal der Waldungen, d. h. die
Tätigkeit der Schneidemühlen in der Provinz. An-
zahl und Verteilung dieser den Wald vernichtenden
Werke werden aufgezählt, es wird angegeben,
welche Holzarten und welche am meisten sie ver-
arbeiten, wieviel Prozent davon aus der Provinz
Posen stammen, wozu das Holz verarbeitet wird,
und wohin die Hauptmasse des Fabrikates geht.
So stellte es sich z. B. auch heraus, daß jährlich
in der Provinz Posen noch 14000 fm Holz zu
Holzkohle, und zwar in Meilern, verarbeitet wer-
den. So weicht der Wald, des Hochwaldes Säulen-
stämme fallen der harten, rücksichtslosen Industrie
zum Opfer. Wir versöhnen uns mit dieser bitteren
Tatsache — es ist zum Nutzen, zum Wohle des
N. F. m. Nr. 58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
925
Menschen. Aber den Stolz des Waldes, den Baum,
bewahre ein gnädiges Geschick vor der unbarm-
herzigen Axt, ihm schenke man Schutz und schone
seiner nach Möglichkeit! Wer seine Heimat liebt,
der liebt auch den Baum, der ihm als Kind schon
gegrünt, den Baum, der mit seinen Wurzeln den-
selben Boden umklammert, in dem die Liebe zur
Heimat ruht. Mit der Liebe zum Baum eint sich
die Liebe zu dem Boden, der seit Menschenge-
denken ihn trägt und so wird der Baum ein Sinn-
bild der Heimat; darum:
Ehret und achtet den Baum , deß' Schatten
euch schützend beschirmet. Pfuhl, Posen.
Flüssiger Sauerstoff und flüssige Luft. —
Allen Versuchen zum Trotz war die Reindarstel-
lung flüssigen Sauerstoffs bisher nicht geglückt.
Man suchte auf falschem Wege das Ziel zu er-
reichen, indem man \-on der sog. ,, flüssigen Luft"
ausging und durch fraktionierte Destillation dieses
Gemisches flüssiger Gase zum reinen Sauerstoff
zu gelangen hoffte. Neuere Versuche von E. Erd-
m a n n und z. T. von F. B e d f o r d haben nun
wichtige Aufklärung über diesen Gegenstand ge-
bracht.^) — Es handelte sich um die Notwendig-
keit, reinen flüssigen Sauerstofi" herzustellen zum
Zweck der Aichung eines selbstgefertigten Wider-
standsthermometers. Erfolglos, wenn auch lehr-
reich war zunächst der Versuch, das durch Er-
hitzen von chlorsaureni Kali in einer Kupferretorte
entwickelte, durch Natronlauge gewaschene und
durch Chlorcalcium getrocknete Sauerstoffgas als
Ausgangsmaterial zu wählen, dieses Gas nach
Sauerstoffs war aber ungenügend, der Siedepunkt in-
konstant und das Produkt daher zu dem gedachten
Zwecke unbrauchbar. Das Thermometer stieg binnen
kurzer Zeit bedeutend, wie aus dem wachsenden
Widerstand mit Hilfe der Wheatstone'schen Brücke
ermittelt werden konnte - eine Tatsache, die nicht
durch Siedepunktsverzögerung erklärt werden
kann, die vielmehr einzig in der Verunreinigung
des Sauerstoffs ihren Grund haben muß. War
dieser Versuch auch nicht von Erfolg begleitet,
so war doch der Gedanke, vom gasförmigen Sauer-
stoff auszugehen, richtig gewesen. Dies lehrt fol-
gendes Experiment.
Erdmann und Bedford entwickelten in zwei
Kipp'schen Apparaten Kj und K., (Fig. i) gas-
förmigen Sauerstoff durch Einwirkung von mit
Schwefelsäure angesäuertem Wasserstoffsuperoxyd
auf Kaliumbichromat. Die beiden Gasableitungs-
rohre vereinigen sich zu einer gemeinsamen
Leitung durch das T-stück bei hj und h^. Der
in den Kipp'schen Apparaten entwickelte Sauer-
stoff tritt nun durch diese hindurch in die erste
Waschflasche f, , wo er durch Schwefelsäure streicht,
und von da aus in ein zweites Gefäß f,, wo er
mittels Phosphorsäureanhydrit vollständig ge-
trocknet wird. Zur Manipulation ist absolute
Dichtigkeit aller Schliffe und Stopfen unbedingte
Notwendigkeit. Ferner muß aus dem Apparaten-
system jede Spur von Luft verdrängt sein, was
leicht durch Absaugen mit Hilfe einer guten
Wasserstrahlpumpe beigeöffnetem Hahn ii geschieht,
und darnach mit reinem Sauerstoff ausgespült wer-
den. Nun gießt man in das Wcinhold'sche Gefäß V
Fig. I.
dem Leiten durch eine mit Kältemischung ge-
kühlte Glasschlange vorzukühlen und endlich in
den Kondensationskolben zu leiten, der in einer
mit flüssiger Luft gefüllten Weinhold'schen Vakuum-
schale sich befand. Die Qualität des so erhaltenen
') Ernst Erdmann und Fred Bedford: Über Reindarstellung
und Eigenschaften des flüssigen Sauerstoffs. Berichte der
Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1904. Heft 5. p. 1 184 ff.
käufliche flüssige Luft und läßt einen starken
Sauerstoffstrom aus dem einen Kipp'schen .Apparat
Kj (der andere K,_> bleibt während des Ganges
außer Betrieb und wird durch Schließen des Hahnes
hj von der Leitung abgesperrt) nach A übertreten,
einem Kolben von ca. 250 ccm Inhalt. Dieser
Kolben, der mit einem doppelt durchbohrten
Stopfen völlig dicht abgesperrt ist, steht einerseits
mit einem Barometerrohr, das in einen mit Oueck-
926
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 58
Silber gefüllten, hohen Glascylinder taucht, in Ver-
bindung. Bei seinem Eintritt in den durch die
flüssige F^uft gekühlten Kolben wird der Sauerstoff
fast momentan verflüssigt. So erhielten die beiden
aus 12'/,, 1 Wasserstoffsuperoxyd von 3,18 "/o 285 g
Sauerstoff, ein Leiter liefert also 23 g(theoretiscii 30 g)
Sauerstoff Der Verlust läßt sich auf Entweichen
gasförmigen Sauerstoffs durch das Trichterrohr des
Kipp'schen Apparates zurückführen. Auf diese Weise
lassen sich in einer Stunde ca. 170 g reiner flüssiger
Sauerstoff gewinnen, während der Verbrauch an
flüssiger Luft gering ist. Zur Untersuchung wurde
der Kolben aus V herausgehoben, der Sauerstoff
vergast, im Gasometer aufgefangen und von dem
Gase die Probe entnommen. Die Analyse ergab
99,8, 99,9 und 99,7 "/„. In diesem reinen Produkt
änderte sich der Widerstand des galvanischen
Thermometers während 30 Minuten niciit. Der
Siedepunkt wurde durch geaichte Pentanthermo-
meter zu — 181,8" ermittelt.
Diese Reinheit des Präparates wurde nicht von
Anfang der Versuche an erreicht. Es resultierten
zuerst Produkte von ca. 97 "/(,. Hieraus glaubten
nun Erdmann und Bedford durch P'raktionierung
den verunreinigenden Stickstoff (und ev. Argon)
entfernen zu können. Allein die erste I'raktion
zeigte nach längerem Stehen der in flüssiger Euft
aufbewahrten Vorlage im Gegensatz zu dieser An-
nahme einen unerwarteten Gehalt von 20 " „ Stick-
stoff, die zweite Fraktion noch 5 "/„. Dies war
aber nur möglich, wenn der kalte flüssige Sauer-
zur Wasscrslralil-
pumpe
zum Gasometer
Fig. 2.
Stoff aus der Luft .Stickstoff aufgenommen hatte.
Das Experiment bestätigte nun, daß flüssiger
Sauerstoff, der unter seinenSiedepunkt
abgekühlt ist, äußerst energisch Stick-
stoff absorbiert. Leitet man nämlich auf den
Boden des mit etwas frisch dargestelltem Sauer-
stoff gefüllten Kölbchens a in Fig. 2 einen sehr
kräftigen Strom trockenen Stickstoffgases, so wird
dieses momentan absorbiert, ohne daß eine Gas-
blase aus dem Rohre austritt. Die Untersuchung
der so gesättigten Lösung ergab die wichtige Tat-
sache, daß flüssiger Sauerstoff bei einer Tem-
peratur von — 190,5" das 380 fache seines
Volumens oder 4 2 "/„ seines Gewichts
Stickstoff gelöst hatte. Unter anderen Be-
dingungen fand man, daß der flüssige Sauerstoff
bei — 191,5" nach vollständiger Sättigung das
458 fache seines Volumens oder 50,7"/,,
seines Gewichts Stickstoff absorbi ert.
Naturgemäß sinkt der Siedepunkt des Sauerstoffs
mit zunehmender Aufnahme des Stickstofis. Ein
bei 192" mit Stickstoff annähernd gesättigter Sauer-
stoff hat seinen Siedepunkt bei — -188,8". Trotz-
dem sinkt dieser aber auch bei völliger Sätti-
gung nicht bis auf die Temperatur des Kühlbades.
Denn
die Temperatur der flüs-
sigen Luft betrug
190,5"
191,5"
während der Zusammen-
setzung der Lösung nach
Baly als Siedepunkt ent-
spricht
— 188,7"
- 189,4"
Um die Absorption des Stickstoffs in flüssigem
Sauerstoff, die übrigens sehr an das Verhalten der
Wasserstoffverbindungen beider Elemente, an die
Löslichkeit des Ammoniaks in Wasser erinnert,
als Vorlesungsversuch zu zeigen, taucht man ein
mit flüssigem Sauerstoff zur Hälfte gefülltes Kölb-
chen in flüssige Luft. Bringt man durch ein
Glasrohr eine etwas Wasser haltende Waschflasche
oder Gasuhr in Verbindung mit dem Kolben, so
wird die Luft heftig angesaugt. 15 g flüssigen
Sauerstoffs absorbieren bei — 191,5" über 6 Liter
reinen Stickstoff, mithin noch mehr Luft, da in
diesem Fall auch der Sauerstoff der Luft völlig
kondensiert wird.
Durch den Versuch bewiesen Erdmann und
Bedford ferner, daß auch siedender Sauer-
stoff noch Stickstoff absorbiert. An der
Luft selbst geschieht dies zwar in so geringem
Maße, daß diese Absorption z. B. für die Aichung
von Thermometern kein Hindernis ist. Beim
Durchleiten aber von Stickstoff durch sieden-
den Sauerstoff nimmt dieser von ersterem erhebliche
Mengen auf. Vor allem scheint aus den Ver-
suchen hervorzugehen, daß die Menge des aufge-
nommenen Stickstoffs mit dem Drucke wächst,
mit dem letzterer eingepreßt wird.
Aus der Absorptionsfähigkeit des siedenden
Sauerstoffs erklärt sich also die Tatsache, daß es
nicht möglich ist, durch fraktionierte Destillation
flüssiger Luft reinen Sauerstoff darzustellen. Denn
kleine Mengen einmal absorbierten Stickstoffs hält
der flüssige Sauerstoff auch beim Destillieren hart-
näckig zurück und gibt ihn nur allmählich und un-
vollständig wieder ab.
Auch ergibt sich aus dem Absorptionsvermögen
des flüssigen Sauerstoffs die Notwendigkeit strikter
Befolgung gewisser Vorsichtsmaßregeln, wenn man
zur Darstellung chemisch reinen, flüssigen Sauer-
N. F. m. Nr. s8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
927
Stoffs schreitet. So ist der Sauerstoff unter sorg-
fältigster Fernhaltung von Luft zu bereiten, denn
diese gelangt sonst unfehlbar mit zur Kondensation.
Auch darf der flüssige Sauerstoff nie im gekühlten,
sondern nur im siedenden Zustande mit Luft in
Berührung kommen. Endlich nehme man das Ge-
fäß vor dem Umfüllen vom Kältebad herunter und
warte vor dem Umgießen, bis der Binnendruck
auf I Atmosphäre gestiegen ist.
Die Eigenschaften des flüssigen Sauerstoffs und
die erwähnten Versuche sind besonders für die
Zusammensetzung und die Temperatur der
„flüssigen I^uft" von Bedeutung, worauf E. Erd-
mann neuerdings hinwies. ') So ist die flüssige
Luft viel stickstoffreicher, wenn sie kurze Zeit
in dem Apparate, den man zu ihrer Darstellung an-
wendet, verbleibt, als wenn sie bei geöffnetem Ventil
beständig abfließt. Denn der unter seinen Siede-
punkt abgekühlte Sauerstoff kann sich umsomehr
mit Stickstoff beladen, je länger er in der Maschine
mit diesem in Berührung bleibt. Erdmann faßt
die Verflüssigung von Gasgemischen folgender-
maßen auf: Wird reiner Sauerstoff bei konstantem
Atmosphärendruck abgekühlt, so muß er sich zu
verflüssigen beginnen in dem Moment, wo die
Temperatur — 182 unterschritten wird (bei dieser
Temperatur ist die Tension des verflüssigten Sauer-
stoffs gleich dem Atmosphärendruck). Bei Gegenwart
eines indifferenten Gases (z. B. Helium) wird die
Verflüssigung erst dann eintreten, wenn die Ten-
sion des flüssigen Sauerstoffs niedriger wird als
der Partialdruck , den das Sauerstoffgas in dem
Gemisch ausübt. Versuche bestätigten diese An-
nahme. Ein Gasgemisch z. B. von 49 "/„ Sauerstoff
und 5 1 "/» Helium zeigt den Verflüssigungspunkt
bei — 189,3 bei 790 mm B. Er berechnet sich
theoretisch zu — 188,35". Analog ist es bei
der Luft. Hier ist der Partialdruck 158,8 nmi.
Dies ist aber die Tension des Sauerstoffs bei
— I 9 S I 5 "• Also erst bei dieser Temperatur kann
die Verflüssigung des Luftsauerstoffs eintreten.
Nachdem er so bereits unter seinen Siedepunkt
abgekühlt ist, vermag er sich mehr oder weniger mit
Stickstoff zu sättigen. Dies entspricht auch der
Tatsache, daß der Sauerstoff beim bloßen Ein-
leiten gasförmiger Luft in einer auf — 193" ab-
gekühlten Vorlage nicht verdiclitet wird. Enthält
der Kolben aber bereits flüssigen Sauerstoff, so
wird die Luft vollständig absorbiert, da durch die
Absorption des Stickstoffs der Partialdruck des
Sauerstoffs auf i Atmosphäre wächst, und das
Gas wird verflüssigt. Die niedrigste von Erdmann
beobachtete Temperatur der flüssigen Luft beträgt
— 194,5". Die Differenzen der berechneten und
gemessenen Temperaturen sind in beiden Fällen
relativ gering. Die Zahlen können vielmehr als
gut übereinstimmende der obigen Anschauung über
die Verflüssigung von Gasgemischen als Stütze
dienen. Dr. R. Loebe.
Als Antimeridianpflanzen bezeichnet von
Janczevvski (Comptes rendus vom 18. Juli 1904)
im Gegensatz zu den längst bekannten Meridian-
oder Kompaßpflanzen solche Gewächse, deren
Blätter sich mit ihrer Oberseite nach Norden wen-
den und dadurch die Sonnenstrahlen gegen Mittag
entsprechend der zunehmenden Intensität derselben
unter einem immer kleiner werdenden Winkel
auffangen, während die Unterseite dem südlichen
Horizont zugewendet und daher vor der direkten
Einwirkung der .Sonne geschützt bleibt. Daß es
derartige Pflanzen gibt , hat der an Sonnenschein
so reiche, diesjährige Sommer an einigen aus
Nordamerika stammenden, in voller Sonne ge-
pflanzten Ribessträuchern, die zu der Untergattung
Calobotrya gehören, erkennen lassen. Als Anti-
meridianpflanze par excellence bezeichnet J. den
Strauch Ribes Späthianum , doch tritt die gleich-
mäßige Orientierung der Blätter auch bei diesem
Gewächs erst in der Mitte des Sommers in die
Erscheinung. Bei nahem Herantreten soll aber
dann die Eigenart auffallend in die Augen springen,
indem man von Norden nur Blattoberseiten, von
Süden nur Unterseiten und von Ost oder West
nur Blattprofile zu sehen bekommt. ¥. Kbr.
') E. Erdm,inn. Über Zusammensetzung und Temperatur
der flüssigen Luft. Berichte der Deutschen Chemischen Ge-
sellschaft. 2904. Heft 5. pag. 1 186 ff.
DasEmaniumlichtspektrum. — AlsEmanium
bezeichnet Giesel einen aus Radiumpräparaten
abgeschiedenen PZmanationskörper, der dauernd ein
schwaches Licht aussendet. Das Spektrum dieses
Lichtes, das aus drei hellen Emissionslinien be-
steht , ist mit den lichtstarken Spektralapparaten
des Potsdamer Observatoriums von Hart mann
genauer untersucht worden (Phys. Zeitschr. V,
S. 570)- Dieses Spektrum ist schon dadurch be-
sonders interessant, daß hier zum erstenmal ein
Fall vorliegt, in welchem ein aus getrennten
Linien bestehendes Emissionspektrum nicht von
einem glühenden Gase, sondern von einem bei
niedriger Temperatur leuchtenden , festen Körper
ausgeht. Die Lage der hellsten Linie (i) konnte
photographisch recht genau ermittelt werden, ob-
gleich es sich nicht um eine feine Linie, sondern
um einen gleichmäßig leuchtenden Streifen von
2 fifi Breite handelt. Die beiden anderen Linien
konnten nur mit großer Anstrengung optisch be-
obachtet werden , so daß ihre Wellenlänge nicht
so sicher gefunden wurde. Die Hartmann'schen
Ergebnisse sind
Linie Intensität k
1 10 488,54 +0,01 /<f<
2 6 530,0 +0,6
3 I 590,9 +0,1
Dieses Spektrum ist völlig neu, es hat weder
mit dem Funkenspektrum der Emanation, noch
mit dem Radiumspektrum Ähnlichkeit und findet
sich auch nicht im Spektrum der Nebelflecke oder
anderer Gestirne wieder. Höchstens könnte eine
Beziehung mit dem Spektrum der neuen Sterne
existieren, doch bedarf diese Frage noch genauerer
Untersuchung. F. Kbr.
928
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 5 8
Über physiologische Wirkungen der Radium-
Emanation haben Dorn und Wall Stabe Ver-
suche angestellt (Phys. Zeitschr. V, S. 568). Dabei
zeigte sich , daß die mit Wasser in den Magen
aufgenommene Emanation bei Kaninchen wirkungs-
los blieb, während bei Beladung der Atmunesluft
mit Radiumemanation (die zugeführte Luft perlte
vor Eintritt in den Versuchsraum durch Radium-
salzlösungen) die Versuchstiere (weiße Mäuse)
nach einer Reihe von Tagen starben. Die mikro-
skopische Untersuchung zeigte bedeutende Hyper-
ämie der Lungengefäße. — Ähnliche Versuche
sind fast gleichzeitig von Bonchard, Curie und
Balthazard angestellt worden (Comptes rendus,
Bd. 13S, S. 1384) und ergaben gleichfalls die
Giftigkeit eingeatmeter Emanation , der Tod trat
bei diesen Versuchen sogar schon nach im Maxi-
mum 9 Stunden ein. F. Kbr.
Bücherbesprechungen.
Dr. Walther Nernst, o. ö. Professor und Direktor
des Instituts für physikalische Chemie an der Uni-
versität Göttingen. Theoretische Chemie
vom .Standpunkte der A v o g a d r o ' s c h e n
Regel und der Thermodynamik. Vierte
Auflage. Mit 36 in den Text gedruckten Abbil-
dungen. Stuttgart, Ferdinand Enke. 1903. —
Preis brosch. 16 Mk.
Das vodiegende Werk ist aus einer Schrift her-
vorgegangen, welche der Verfasser ursprüngHch als
Einleitung für das im Jahre 1891 erschienene große
Handbuch der anorganischen Chemie von Ü. Dammer
verfaßt hatte. In ihm hat der bekannte Göttinger
Forscher seine reichen Kenntnisse und Erfahrungen
auf dem Gebiete der theoretischen Chemie nieder-
gelegt. Das Buch ist eine Darstellung dessen, was
die physikalische und chemische Forschung für das
Gebiet der theoretischen Chemie erbracht hat. Und
in einer Zeit wie der gegenwärtigen, wo die Gelehrten
vereint an dem Ausbau des großen Lehrgebäudes der
theoretischen Chemie arbeiten, ist das Bedürfnis nach
einer solchen Darstellung besonders lebhaft.
In der Behandlung haben die verschiedensten
Kapitel aus der Physik und Chemie gleichermaßen
Berücksichtigung gefunden, denn ein Eindringen in
den Gegenstand macht die Kenntnis resp. das Studium
auch des anderen zur Voraussetzung. Bei der Aus-
wahl des Stoffs hat der Verfasser vor allem solche
Entstehungstatsachen aufgenommen, die all-
gemeine Bedeutung besitzen oder zu gewinnen ver-
sprechen und solche Hypothesen, die sich bereits
als nützlich erwiesen haben, f^ingehender behandelt
sind auch von den Anwendungen beider nur die
methodisch wichdgen. — Der Verf. hat es vermieden,
den Stoft mit historischen Tatsachen zu belasten und
so auch hauptsächlich die neuere Literatur berück-
sichtigt. Darauf, daß der Stoft^ vom Standpunkt der
Avogadro'schen Regel und der Lehrsätze der Energetik
behandelt ist , hat er bereits im Titel hingewiesen.
Denn für die theoretische Behandlung chemischer
Prozesse sind dies die Grundlagen , „unter deren
Strenge sich alle Naturvorgänge beugen". — Bei der
Bearbeitung der neuen (vierten) Auflage konnte zu-
nächst der Verf. eine Menge neuer wertvoller LTnter-
suchungen aufnehmen, die besonders das Gebiet der
chemischen Statik und Kinetik betreffen, wenn er
auch auf eine Vollständigkeit der Besprechung ver-
zichten mußte, sollte das Werk an Umfang nicht all-
zusehr vergrößert werden. Vor allem aber rückten
für die vorliegende Auflage die neuen wichtigen
Erforschungen der Radioaktivität in den Vurdergrund
des Interesses. Ihnen läßt er eine eingehende Be-
handlung zuteil werden, da sie um so mehr die ganz
besondere Aufmerksamkeit des Chemikers verdienen,
als es sich dabei um chemische Prozesse ganz anderer
Größenordnung zu handeln scheint, als bisher bekannt
waren. Ein neueingeschaltetes Kapitel ,,Die atomistische
Theorie der Elektrizität" bringt die Entwicklung der
Elektronentheorie zur Darstellung, die sich allmählich
als eine Erweiterung der atomistischen Betrachtungs-
weise erweist.
Das hervorragende Werk ist geeignet, dem Forscher
ratend zur Seite zu stehen, für den Lernenden aber ist
es eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung. R. Lb.
Briefkasten.
Herrn E. K. in Rcibersdorf. — l'r.ige : Welclie Bestimmung
haben die Zalinnerven? — Über die .\ufgabe der Zahn-
nerven, die bekanntlich dem Nervus trigeminus entstammen,
durch den Kanal der Zahnwurzel in die innere Hölilung des
Zahnes cintrettn und sicli, ebenso wie die Blutgefäße, auf der
Obcrfläclie der Pulpa verbreiten, sagt J. Cz er male (in d.
Zeitschr. f. Wissenschaft!. Zoologie Bd. 2, 1850, S. 320) lol-
gendes: „Die reiche Ausstattung dieser mechanischen Werk-
zeuge mit sensitiven Nerven läßt vermuten, daß sie beim .\kte
des Kauens noch eine andere Rolle spielen werden, und dies
ist auch wirklich der Fall. Die Zähne gehören nämlich mit
zu den zahlreichen Organen des Tastsinnes (es sind gleich-
sam kolossal entwickelte Tastpa]iillen) und vermitteln ver-
schiedene sinnliche Wahrnelmiungen. Sie haben deshalb auch
— gleich den übrigen sensitiven Vorrichtungen in der Mund-
höhle — noch die Bestimmung, die Tätigkeit der motorischen
Apparate beim Kauen mit beherrschen und zweckdienlich re-
gulieren zu helfen. Der .\kt des Kauens ist ein sehr zu-
sammengesetzter, obschon der bloß mechanische Teil desselben
ganz einfach ist. Die motorischen Vorrichtungen allein,
ohne die sensitiven Apparate der Mundhöhle, könnten keine
zweckmäßige Verkleinerung der Speisen zustande bringen, und
zwar schon darum, weil sie überhaupt garnicht in Tätigkeit
gesetzt würden, wenn wir nicht durch die sensitiven Nerven
belehrt würden, daß sich Speisen im Munde befinden. Es ist
eben die p^unktion der sensitiven Apparate, also auch der
Zähne, uns während des Kauens über die Lage und Beschaffenheit
der Speisen in Kenntnis zu setzen und zu erhalten, wodurch
dann der Kraftaufwand und die .'Vrt der Bewegungen der
Zunge, des Unterkiefers und der anderen hierher gehörigen
beweglichen Teile bestimmt wird." — Frage 2: Ist das Klebe-
mittel ,,\Viesem", das von der Firma Schröter in Leipzig-
Connewitz empfolüen wird , als mikroskopisches F.inschluß-
mittel mit Erfolg anzuwenden ? — Wir kennen das Wiesein nicht.
Vielleicht hat einer der Leser [Erfahrungen auf diesem Gebiete
gemacht. Dahl.
Inhalt; Walter Gothan: Die Jahresringbildung bei den Araucaritenstämmen in Beziehung auf ihr geologisches Alter.—
I'. koßmäßler: Im und am Wolgadelta. — Kleinere IVaitteilungen : F.J.Bieber: Zur Anthropologie Äthiopiens. —
Dr. Franz Werner: Die Erscheinungen des natürlichen Todes bei Reptilien und Batrachiern. — Pfuhl: „Bäume
und Wälder." — E. Er d mann und F. Bedford: Flüssiger Sauerstoff und flüssige Luft. — vonjanczewski:
Antimeridianpflanzen. — Hartman n: Emauiunilichtspektrum. — Dorn und Wallstabe: Physiologische Wirkungen
der Radium-Emanation. — Bücberbesprechungen: Dr. Walther Nernst: Theoretische Chemie vom Standpunkte
der Avogadro'schen Regel und der Thermodynamik. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonic, Grofs-Licliterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Päti'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,DlC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoniö und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge 111. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 13. November 1904.
Nr. 59.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446-
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
ja, Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
||) einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
P Gohlis, BlumenstralSe 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Die Gipfelkrönungen von Vulcankuppen.
[Nachdruck verboten.]
Von O. Lang.
Die in der noch andauernden Eruptionsperiode
des Mont Pele auf Martinique entstandenen Ge-
bilde beschäftigen die Tlieoretiker noch in hohem
Maße. Begegnete schon die Tatsache, daß der in
der ahen Kaldera des Vulcans entstandene und
schließüch zu 500 m Höhe angewachsene Hügel
(„Dom" oder ,, Kegel") statt aus losen Schlacken
und sonstigem Vulcanschutte aus Lavaguß auf-
gebaut wurde, weitverbreiteter Ungläubigkeit und
bedurfte ihre Anerkennung deshalb geraumer Zeit,
so erschien doch noch wunderbarer als die Bil-
dung eines solchen Staukegels oberhalb des Erup-
tionsschlotes, für die sich wenigstens noch ein in
seiner Entwicklung beobachtetes Analogon in der-
jenigen des im Jahre 1866 zu Santorin entstan-
denen Georgios I. bot, das Auftreten eines turm-
artigen Felsen, der den (jipfel seitlich krönte und
ihn vom November 1902 an, bis zu einer Höhe
von 300 m angewachsen (1568 m ü. d. M., während
der Gipfelpunkt, Morne la Croix, des alten Kraters
338 m tiefer lag), überragte, bis er nach kaum
10 monatigem Bestände anscheinend spurlos wieder
verschwand; seine Gestalt und die Art seines
Herauswachsens aus dem Staukegel , das dem
Hinausschieben eines Pfropfens aus einer Flasche
elich, trug ihm, der sonst auch als Obelisk oder
Nadel (spine) angeführt wurde, seitens seines er-
folgreichsten Erforschers die Bezeichnung als Stöpsel
(bouchon) ein. Obwohl hiermit die „Wunder", die
sich am Mont Pele zutrugen, noch durchaus nicht
erschöpft sind, zumal in Anbetracht der eigen-
tümlichen Eruptionsformen von Glutwolken, welche
trotz des ihnen von ihrer hohen Temperatur not-
wendig erteilten .'\uftriebes unter der Fast des
mitgeschleppten Vulcanschuttes ihre Bahnen dem
Oberfiächenrelief anpaßten und stromförmig die
Talwege verfolgten (was dafür spricht, daß die
Gasmassen mit den starren Gesteinsteilen ein so
inniges Gemenge bildeten, daß demselben ein
eigenes spezifisches Gewicht zuteil wurde, ähnlich
wie nach den Beobachtungen von W. Spring
reines Wasser bis über 10% höheres Gewicht
durch in ihm suspendierten feinen Sand erreichen
kann und man solches Gemisch von Sand und
Wasser ohne erheblichen Verlust durch reines
Wasser hindurchzuschütten vermag), so hat er-
93Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
sichtlich doch die vorerwähnte Felsnadel das Inter-
esse der Vulcanologen augenblicklich am meisten
gefesselt.
Mit ihr beschäftigt sich auch hauptsächlich eine
jüngst erschienene, reich illustrierte Abhandlung
von Alfons Stübel: „Rückblick auf die Aus-
bruchsperiode des Mont Pele auf Martinique 1902
bis 1903 vom theoretischen Standpunkte aus"
(Veröffentlichung der vulkanolog. Abt. des Grassi-
Museums zu Leipzig, 1904), die des Weiteren, um
dies gleich vorwegzunehmen , die festgestellten
Tatsachen zugunsten der Theorie von beschränkten
und erschöpflichen Vulcanherden zu deuten sucht.
Auf Grund derselben und mit seitens des Ver-
fassers gütigst gewährter und ermöglichter Be-
nutzung eines Teiles der in ihr enthaltenen Ab-
bildungen sei hier das Wesentliche über Gipfel-
krönungen von Vulcankuppen mitgeteilt, dem nur
noch Weniges zur Ergänzung beigefügt werden soll.
Zunächst kommt natürlich die Bildungsgeschichle
der bizarr turmähnlich geformten Gipfelkrönung
des Mont Pele in Betracht. Ihr allmähliches Wachs-
tum konnte, nachdem sie im November 1902 zum
ersten Male bemerkt worden war, leider nur sehr
unvollkommen verfolgt werden, weil der Berg von
August bis März, wie es die Jahreszeit mit sich
bringt, fast immer in Wolken gehüllt blieb, doch
gelang es Lacroix festzustellen, daß die Nadel
höher und höher emporwuchs, zeitweilig aber auch
wieder niedriger wurde, um dann von neuem im
Wachstum fortzufahren. Die Angaben von La-
croix werden durch die Mitteilungen späterer
Beobachter ergänzt.
So hat auf diese Gipfelkrönung, obwohl sie
irrigerweise als Konus bezeichnet wird, zweifel-
los die in Velhagen und Klasing's Monatsheften
(August 1903) erschienene lebhafte Schilderung Be-
zug, die G. Wegener nach einem gemeinsam
mit Prof. Sapper aus Tübingen am 25. März 1903
ausgeführten Besuche gab. Die Aufmerksamkeit
der Reisenden wurde beim Herantreten an den
Rand des von Nebel und Dampfwolken erfüllten
Kraterbeckens von der Riesengestalt des Konus
in Anspruch genommen, der „nunmehr plötzlich
in fast schreckhafter Nähe und Größe zwischen den
Nebeln vor uns stand. Aus den Tiefen des Krater-
grabens stieg er empor zu einer Höhe, die min-
destens 300 m, die Höhe des Eiffelturmes, erreichte,
und dabei mit einer Steilheit der Wände, die auf
der Rechten siebzig und mehr Grad betrug, zur
Linken aber senkrecht, ja stellenweise überhängend
erschien. Wir waren jetzt dicht an seinem Fuß,
kaum hundert Meter von ihm entfernt, aber rätsel-
hafter, unwahrscheinlicher als je zuvor, stand er
vor uns und über uns. Man begriff nicht, wie ein
steinernes Gebilde von solcher Steilheit und Höhe
sich nur halten, geschweige denn, wie es ent-
standen sein konnte. Das allerdings erkannten wir
auf den ersten Blick: die Anschauung, er sei aus
übereinander gefallenen Blöcken gebildet, war un-
richtig ; der Konus war ein einheitliches Ge-
bilde, das mit breiten, glatten Wandflächen auf-
stieg. -Freilich wurde es dadurch nur um so rätsel-
hafter". — In der folgenden Nacht beobachtete
Wegener den Obelisken vom 9 km südlich ent-
fernten Observatorium von Fonds Saint-Denis aus
und nahm da die feurigen Erscheinungen wahr.
„Am Fuße des Konus, den die (kurz vorher auf-
getretene) Eruptionswolke anfänglich ganz ver-
borgen hatte, der aber in der Dunkelheit wieder
frei zu werden schien, glühten ein paar rote Spalten
auf, aus denen unablässig rote Glutbälle, jeden-
falls vulcanische Bomben, aufleuchteten und her-
ausgestoßen wurden. Sie stürzten dann in be-
stimmten Schlagrinnen zu Tal, gefolgt von einem
Schweife kleinerer, glühender Materie. Wie feurige
Schlangen rieselten diese Massen niederwärts ins
Tal der Riviere Blanche, wo sie sich unseren
Blicken entzogen. Lautlos ging das alles vor sich
und mutete dadurch um so fremdartig wunder-
licher an. Allmählich leuchteten aber auch höher
hinauf an den Wänden des Konus, ja zuletzt bis
nahe an seine Spitze, Glühpunkte auf. Diese be-
wegten sich aber nicht abwärts, sondern erloschen
langsam an Ort und Stelle. Für die wissenschaft-
liche Erkenntnis des Konus war gerade das von
größtem Interesse. Es ließ sich nämlich kaum
eine andere Erklärung dafür finden, als daß hier
Stücke von seinem Mantel absprangen und nun
sein Inneres bloßlegten, daß dieses also glühend
war. Damit aber war das letzte Kettenglied zur
Befestigung der Ansicht geschmiedet, die uns an
diesen beiden Tagen allmählich aufgegangen war.
Da der Konus einheitliche Masse ist, da er von
unten her wächst und da er im Innern glühend
zu sein scheint, so ist er aller Wahrscheinlichkeit
nach eine Lavamasse von sehr zäher Konsistenz,
die unausgesetzt langsam durch einen senkrechten
Schlot herausgepreßt wird und beim Austritt an
die Luft, außen wenigstens, erstarrt. Also eine
Art ungeheuerliche Wurst von Lava."
Demgegenüber erklärte schon der letzte Be-
richterstatter über die Felsnadel, Edmund O.
Hovey, der im Auftrage des American Museum
of Natural History die Inseln Martinique und S.
Vincent zweimal besuchte, daß sie nicht unmittel-
bar aus dem Kraterschlund hervorgepreßt wurde,
sondern sich, wie es auch Lacroix aufgefaßt
hatte, auf einem dom- oder kegelförmigen Unter-
bau erhob. Zwischen dem 26. November 1902
und dem 3. Januar 1903 soll die Nadel um etwa
113 m niedriger geworden sein, doch verbreiterte
sie sich gleichzeitig an ihrer Basis. Mit dem
8. Januar begann eine Reihe von Zerklüftungen,
welche große Einstürze an ihrer südwestlichen
Seite zur Folge hatten und ihre Gestalt dahin ver-
änderten, daß sie nach Aussage eines 50 See-
meilen davon entfernten Beobachters vom März
an mehr einem Kirchturm glich, als, wie im No-
veinber 1902, einem ungeheuren Leuchtturme.
Mit diesem Wechsel der äußeren Erscheinung war
aber auch, was sehr beachtenswert ist, eine seit-
liche Verschiebung ihrer Achse um etwa 33 ni
nach Osten verbunden, die Hovey hauptsächlich
N. F. III. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
931
durch die anfangs Januar eingetretenen und vor-
herrschend an der Westseite stattgefundenen Ab-
stürze erklärte. Der gewölbte Unterbau der Nadel,
der Dom oder Staukegel, liegt nicht genau im
Zentrum des alten Kraters, sondern nordwestlich
davon, und die Nadel selbst stand an der nord-
östlichen Seite dieser Wölbung, deren Rücken
bereits im April 1903 höher lag als der ehemals
höchste Punkt (Morne la Croix) des alten Krater-
randes. Damals erhob sich die Nadel über jenen
tober um 127 m gewachsen sein. Während der
Zeit des gewaltigen Emporwachsens des Domes
verschwand aber die P'elsnadel, ohne daß bisher
über ihren Untergang, der vermutlich durch Zu-
sammenbruch unter gleichzeitiger Krhöhung des
Domes durch ihre Trümmer erfolgte, ein Bericht
vorläge ; es läßt sich sogar nicht einmal erkennen, an
welchem Tage sie zuletzt gesehen wurde. Ein
neuer zahnförmiger Felsen hatte sich am 8. Sep-
tember, jedoch nicht an der Stelle der früheren
^OK'^öSS
M^ii-^
Fig. I. Der Moni Pele aus 12 km F.nlfernung.
't^i^l^JT'''
Fig. 2. Gipfelkrönung des Mont Pele. (8. Nov. 1902.)
Fig. 3. GipfelkrÖDung des Mont Tele. (15. März 1903.)
Rücken etwa 1 80 m hoch, um bis Ende Mai weiter
zu wachsen, zu welcher Zeit sie 50 m und zwischen
dem 5. und 7. Juli ebensoviel, am 18. Juli aber
18 m an Höhe verlor. Aber auch der Staukegel
im Krater fuhr im Wachstum fort und nahm an
Höhe bis zum 17. August um 27 m, vom 21. bis
31. August sogar um 104 m zu, worauf infolge
des heftigen Ausbruches vom 2. September eine
Senkung um 30 m eintrat; insgesamt soll er
innerhalb 6 Wochen, von Mitte August bis i. Ok-
Nadel, zu bilden begonnen, aber nur eine Höhe
von etwa 20 m erreicht und wurde schon am
17. September nicht mehr gesehen, und gegen-
wärtig soll der Gipfel des Staukegels eine regel-
mäßige Gestalt besitzen.
Aus den mitgeteilten Beobachtungen wird mit
Recht gefolgert, daß diese Eruptivgebilde des Mont
Pele während ihrer Existenz von noch glühender
und teilweise auch noch flüssiger Lava unterhalb
einer gewaltigen, sie zusammenhaltenden Schalen-
932
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
kruste erfüllt waren. Nach St übel 's Urteil sind
„alle Reaktionen, die von dieser glutzähen Ge-
steinsmasse ausgehen, sowohl von der des Domes
als von der des Gipfelfelsens, und nach außen
wahrnehmbar werden, wie das Aufbersten der Er-
starrungskruste, das vorübergehende Leuchten aus
Klüften, die Veränderung in den Umrissen der
Felsmasse, mit der lautes Krachen und klirrendes
Abstürzen von Gesteinsblöcken verbunden ist, sowie
die wandelbare Ausstoßung von Gasen und Dämpfen
an vielen Punkten der Oberfläche, genau die gleichen,
die an den Staumassen des Santorin- Ausbruchs
vom Jahre 1866 und, wenigstens zum Teil, an
denen der Atrioeruption des Vesuvs vom Jahre
1895 beobachtet worden sind. Die Staumasse
des Mont Pele unterscheidet sich jedoch von den
letzteren sehr wesentlich dadurch, daß sie eine
Gipfelkrönung hervorgebracht hat, die diesen fehlt."
Von dieser Gipfelkrönung bietet St übel die
hier in Fig. i — 3 reproduzierten Bilder, von denen
das erste sie aus einer Entfernung von etwa 12 km,
im Süden des zerstörten St. Pierre, darstellt, während
Fig. 2 Kopie einer Aufnahme von Lacroix am
8. November 1902, Fig. 3 eine solche der Auf-
nahme von Hovey am 15. März 1903 vom Lac
des Palmistes aus ist ; bei letzterer erhob sich der
Gipfelfelsen annähernd 358 m hoch über den Rand
des alten Kraters, dem der dunkle Felsen zur
Rechten als ein Überrest des Morne la Croix zu-
gehört.
Da sich wegen der in vielen Berichten herrschen-
den Unklarheiten, ob sich die angegebenen Höhen-
veränderungen auf den Dom oder Staukegel allein,
auf die Nadel allein oder auf beide zusammen
beziehen, die Geschichte der Nadel nicht genau
verfolgen läßt, muß es unentschieden bleiben, ob
die Felsnadel, welcher Annahme S t übe 1 zuneigt,
„der Überrest eines dem Dome aufgesetzten, sekun-
dären, besonders steilen Kegels" war oder, nach
Lacroix' Meinung, aus seinem Grundbaue, dem
Dome, pfropfenartig herausgepreßt wurde ; letzterer
Annahme wird man nicht umhin können beizu-
pflichten in Berücksichtigung der von diesem For-
scher gegebenen Berichte (vgl. diese Zeitschr. 1903
Nr. 22), in denen er versichert, erkannt zu haben,
daß die Gipfelnadel nicht zugleich mit ihrer Basis
emporwachse, letztere (der Dom) vielmehr zeit-
weise vollständig unbewegt dabei geblieben sei;
wie übrigens der Dom an sich im allgemeinen
gleichzeitig nach Höhe und Breite wachse, tue dies
auch die Gipfelnadel, was dafür spricht, daß wenig-
stens damals, im November und Dezember 1902,
flüssige Lava noch bis in das Innere der Gipfel-
nadel nachdrang; damit in Übereinstimmung steht
die bei Nacht beobachtbare Ausstoßung von glühen-
den Blöcken aus den im allgemeinen senkrechten
Spalten der Gipfelnadel, auf denen Lacroix das
intermittierende Aufsteigen von Schmelzmasse mit
dem Auge verfolgen konnte, und aus denen diese in
Gestalt weißglühender Blöcke von Zeit zu Zeit in der
Weise austrat, als ob die Spalte nicht breit genug
wäre, um die daselbst zirkulierende Lava zu fassen.
Doch „entspringt die größte Menge von Schmelz-
masse nicht diesen Spalten der Gipfelkrönung,
sondern der Verbindungsstelle der Gipfelnadel mit
ihrem breiteren Sockel", dem Dome oder eigent-
lichen Staukegel; das muß demnach entschieden
eine recht wunde Stelle gewesen sein , an der
gegenseitige Verschiebungen der Schalenkrusten
beider Eruptivgebilde wohl stattfinden konnten.
Wenn auch nebensächlich, so erscheint doch immer-
hin beachtenswert, daß die dabei ausgeschiedenen
weißglühenden Blöcke oft sehr große Dimensionen
besaßen und zwar teilweise nach 6 km weiter Ab-
rollung bis zum Meeresufer noch 100 cbm. Später
mögen sich allerdings die Zuflußwege von Lava
in der Gipfelnadel allmählich, bei tiefer eindringen-
der Erstarrung, verstopft haben und ist entschieden
der Meinung Stübel's zuzustimmen, daß die
bizarre Form der Nadel zum großen Teil durch
Abstürze hervorgebracht wurde infolge der Be-
wegung, in der sich die domförmige Staumasse
fortwährend befunden zu haben scheint ; noch er-
heblichere Einstürze aber wurden natürlich durch
die heftigen Erschütterungen veranlaßt bei den
Eruptionen der Glutwolken, von denen die Fels-
nadel wunderbarerweise doch viele überstand,
ehe sie ihnen völlig erlag. Denn diese gewaltigen
Dampfexplosionen mußten die ganze Masse des
Staukegels um so mehr erregen, als dieser nach den
übereinstimmenden Zeugnissen von Lacroix und
Hovey keinen Krater besitzt oder besaß, worin
er also völlig mit dem 1866 auf Santorin ent-
standenen Georg L übereinstimmt; auch bei dessen
Aufbau hoben sich die das Gipfelplateau bilden-
den Blockmassen bei den Eruptionen plötzlich,
schoben sich seitlich auseinander und schlössen
nach beendetem Ausbruche sofort wieder zusammen,
ohne eine kraterartige Vertiefung zurückzulassen
(die jetzt an ihm vorhandene geringe Kraterein-
senkung ist erst zum Schluß seiner Eruptions-
periode ausgeblasen worden, als die Bergmasse ver-
mutlich schon bis in sehr großer Tiefe erstarrt
war).
Der merkwürdige Gipfelfelsen des Mont Pele
hat nun mehrere Vulcanologen veranlaßt, Umschau
zu halten nach Gebilden ähnlicher Art an den
Vulcankuppen anderer Weltgegenden, und führt
auch S t ü b e 1 aus seinem reichen Erfahrungsschatze
steilwandige, aus gebankten Laven und Agglome-
raten aufgebaute Obelisken und Pyramiden in Ab-
bildungen vor, die sich über den breit angelegten,
sanft geneigten, meist radial gegliederten Massiven
des Ouilindafia, Cotacachi, Sincholagua, Rucu-
Pichincha, Sajama, Casaguala und Ouillpicasha in
die Lüfte erheben. Wegen mangelnden Raumes
muß sich die Wiedergabe aus dieser Reihe von
Bildern hier auf diejenige einer ganzen Gruppe
obeliskartiger Berggipfel (in Fig. 4) der Casaguala
und der Quillpicasha (4545 m) in der Westkor-
dillere von Latacunga in Ecuador beschränken,
aus denen eine, die Südpyramide (Picacho de Ol-
medo) des Casaguala in Plg. 6 in vergrößertem
Maßstabe nach einer Photographie dargestellt ist.
N. F. m. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
933
und auf diejenige (Fig. 5) der Gipfelpyramide des
Cerro Anallajche in Bolivien. Auf noch weitere
vergleichbare Gebilde wurde von mehreren anderen,
hauptsächlich amerikanischen Gelehrten, aufmerk-
sam gemacht und besitzt demnach wohl die größte
Ähnlichkeit mit der Gipfelkrönung des Mont Pele
nach einer aus dem Jahre 1883 stammenden, dem
American Journal of Science, Aprilheft 1904 ent-
nommenen und hier in Fig. 7 reproduzierter Ab-
bildung der turmartige Gipfelfelsen der Vulcan-
insel im Beringsmeer; derselbe besteht nach G.
P. Merill aus einem demjenigen des Mont Pele
fläche entstandenen Erstarrungskrusten und
Schlackenschalen niemals auf die Dauer genügten;
dieser flüssige Inhalt erteilte aber dem Ganzen
noch ein gewisses Maß von Bewegungsfahigkeit,
und die Regellosigkeit, in welcher die im Innern
auf(]uellende Lava sich ihre Bahnen wählte, hatte
zur Folge, daß die einzelnen Teile der Erstarrungs-
kruste dem inneren Drucke in ungleichem Maße
nachgaben, der eine mithin weiter nach außen
oder oben gedrängt wurde als der benachbarte.
Da die oberflächliche Erstarrung bei dem ver-
hältnismäßig ungeheuer langsam erfolgenden Erup-
y^'^'^ äi^r-;ik:5%iS^^-^
Fig. 4. Casaguala und Quillipicaslia.
ca bSüOm
Fig. 5. Cerro Anallajche.
ganz ähnlichen Gesteine (Hornblende- Andesit), statt
aber auf Bergeshöhe zu thronen, krönte er einen,
ähnlich wie Georg I. auf Santorin, unterseeisch
entstandenen Vulcan und stieg zu 100 m Höhe
über den Meeresspiegel.
Alle diese Gipfelkrönungen sind ersichtlich aus
denselben Lavamassen hervorgegangen wie die zu-
gehörigen Staukegel, deren aus flüssiger Lava
bestehendes Inneres während längerer Zeit
durch andauernden Nachschub von solcher ver-
mehrt wurde, so daß die zuerst an ihrer Ober-
tionsvorgange ständig andauerte, gelangte die zäh-
flüssige Lava, außer in Gestalt von aus den Spalten
ausgeschiedenen Blöcken, nie selbst nach außen.
So konnten in einzelnen Fällen Teilstücke des
Kegels mit ihren Erstarrungskrusten in Gestalt
turmähnlicher Felsen in die Höhe gedrängt werden;
in jedenfalls viel häufigeren Fällen aber wird die
Bewegungsfähigkeit der Staukegelmasse, zumal
unter Mithilfe von Explosionen, sich darauf be-
schränkt haben, die verschiedenenTeile derSchlacken-
schale zu verschieben, lokale Hebungen und Sen-
934
Naturwissensctiaftiiche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
kungen derselben zu bewirken, die Krustenschollen
zu „Zähnen" aufzustauen und in Lagen zu bringen,
in denen sie unmöglich ursprünglich erstarrt sein
können, überhaupt durch diese Lagerungsstörungen
bizarre Formen herbeizuführen , deren Wildheit
durch die mit der Abkühlung eintretende Spalten-
bildung noch gesteigert werden konnte.
Demnach werden sich wild- und absonderlich
gestaltete Gipfelteile an allen vulcanischen Stau-
kuppen vorfinden können. Natürlich erfordert die
ihre Behauptung haben aber jene Forscher nicht
zu erbringen vermocht. Nun ist es ja in Rück-
sicht auf die verschiedene Leichtigkeit des Ein-
schmelzens sehr wahrscheinlich, daß bei kiesel-
säurereicheren Laven Zähflüssigkeit im Zustande
der Eruption viel häufiger herrscht und der Schlacken-
panzer auch größere Mächtigkeit gewinnt, damit
ist aber die Möglichkeit ähnlichen Verhaltens für
basaltische Laven noch nicht widerlegt, dagegen
beweist der vor kurzem (in Nr. 29) hier beschrie-
Fig. 6. .Süd|iyi.iiiinlc des Casaguala.
Hg. 7. Gipfelfels der \'ulciininsel im Heriiigsnieer.
^
--^
Fig. S. Der Scliarieustein bei Gudensberg (Reg.-B. Cassel) von Süden gesehen.
Bildung eines Staukegels ein hohes Maß von Zäh-
flüssigkeit der Lava. Ein solches soll nach der
Meinung vieler Forscher, u. a. auch des Ameri-
kaners Russell, nur an Kieselsäure reicheren
Laven eigentümlich sein können, während basal-
tische Laven dazu nicht fähig wären und die er-
sichtlich ebenfalls nicht wesentlich von der Erosion
geformten Gipfelkrönungen, die sich auch an
manchen Basaltkuppen finden, diesen Gebilden nicht
zugerechnet werden dürften. Einen Beweis für
bene Staukegel des Lamsberges bei Gudensberg
direkt, daß diese Lagerungsform auch bei Basalten
vorkommt. An ihrer Anerkennung als solche kann
auch die Tatsache nichts ändern, daß diese basal-
tischen Staukuppen bis nahe an ihre Oberflächen
zugleich ziemlich regelmäßige Absonderung zu
Säulen besitzen. Demnach können sehr wohl auch
die zahlreichen basaltischen „Volcanic necks", von
denen nach dem Zeugnis von Dutton in New-
Mexico viele mit sonderbaren Formen die um-
N. F. III. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
9SS
gebenden Ebenen um etwa 200 — 300 m überragen
sollen, trotz Ru ssell 's Widerspruch zu den hier
besprochenen Erscheinungen gerechnet werden.
Bei Basaltkuppen helfen gewöhnlich gerade die
Absonderungserscheinungen erkennen, ob periphe-
rische Teile Verschiebungen und Umlagerungen
erfahren haben, und solche Verschiebungen lehren,
daß auch die in Fig. 8 abgebildete kleine (Lim-
burgit-jBasalikuppe des Scharfensteins bei Gudens-
berg ihre Formenwildheit den Eruptionsverhält-
nissen, in \'erbindung mit einer vielleicht als Folge
der Abkühlung eingetretenen Bildung von sich
kreuzenden Systemen ziemlich senkrechter Spalten,
und nicht etwa der Erosion verdankt. Es gehört
die Heranziehung dieser nach allen Seiten ver-
schiedene, aber stets fesselnde, bizarre Ansichten
bietenden Kuppe von nicht ganz 1 50 m nord-
östlicher Längserstreckung, die sich nur gegen
40 m über ihren Sockel erhebt und auf einem
ihrer abgegliederten Pfeiler eine etwa 30jährige
Linde trägt, allerdings zu den Vergleichen von
naheliegendem Kleinem mit entlegenen großarti-
geren Erscheinungen.
Unsere Erdhummel und ihre Varietäten.
[Nachdruck verboten] Voll MaX Mülle
Es gibt unter den leichtbeschwingten Insekten
neben den Schmetterlingen wohl keine, welche
zwischen Blüten und Blumen anmutiger in die
Augen fallen , wie die Hummeln (Bombus Ltr.).
Wenn wir in den ersten warmen Märztagen, den
Mauern der Großstadt entflohen , draußen am
Bache entlang wandern, läßt sich da ein schöneres
Frühlingsbild denken als diese hübschen Tierchen
in ihrem dichten , mehr oder weniger farben-
leuchtendcn Pelzröckchen, wie dieselben, zugleich
würdige Stammütter ihres Geschlechts, nach
glücklich überstai:dener Winterruhe behäbig und
gemütlich brummend ein pollenreichcs Weiden-
kätzchen nach dem anderen besuchen r
Ihr interessantes Tun und Treiben als Ange-
hörige eines geordneten einjährigen Staatenlebens
ist von verscliiedenen Forschern eingehend ge-
schildert worden, ') ebenso ihr Verhältnis zu den
zahlreichen Schmarotzern und Einmietern. Ins-
besondere zeigte der Steiermärker Professor Dr.
Ed. Hoffer, daß man diese fesselnde Gattung der
Apiden in Zuchtkästchen (für kleinere Gesell-
schaften genügen Zigarrenkisten) ebenso bequem
als eingehend beobachten könne. -) Mir ist es
nach seinen liebenswürdigen Belehrungen und
Ratschlägen bei mehreren Arten wiederholt ge-
lungen.
Die Verbreitung der Hummeln erstreckt sich
auf alle Erdteile, etwa die australische Region
ausgenommen, wenn man davon absieht, daß sie
erst von den Europäern z. B. in Neu Seeland zur
Befruchtung des Klees eingeführt wurden. Schon
ihre pelzige Bekleidung deutet an , daß dieselben
zu denjenigen Insekten gehören, welche am weite-
sten nach Norden bis hoch in der Polarzone vor-
kommen, sofern dort noch Nahrung spendende
Phanerogamen wachsen. Die nördlichsten Stücke
meiner Sammlung sind; B. hyperboreus Schönh.,
von Grönland; B. nivalis Dhlb., B. agrorum v.
') Vgl. Hoffer, Die Hummeln Steicrmarks. Graz 1882
bis 1883. Schmiedekneclit, Apidae europaeae; Genus
Bombus. Berol. Siehe auch: Naturw. Wochenschrift Bd. II
(1903) Nr. 39.
*) Vgl. Hoffer I Die Hummeln Steiermarks, II, p- 93.
r in Spiindau.
arcticus Dhlb., B. Lapponicus Fabr. : sämtlich aus
Tromsö ; die letztere Art bewohnt bekanntlich
auch die schottischen Gebirge, die Pyrenäen und
Alpen. Die meisten Arten fliegen in den ge-
mäßigten Gegenden. Im südlichen Europa ist
ihre Zahl schon wesentlich geringer als bei uns.
Während die Hummeln also nach den Tropen hin
abnehmen , werden sie dort durch die Gattung
der Holzbienen (Xylocopa Ltr.) ersetzt, die ihnen
durch Farbenreiz und Größe lebhaft ähnelt. Das
nördliche Deutschland mit seinen 19 Hummel-
arten weist nur eine Spezies dieses umfangreichen
Genus auf, nämlich Xyl. violacea Fabn, die größte
deutsche solitäre Biene, welche im Rheintale bis
Koblenz vorgedrungen ist und auCh im Tale der
Lahn z. B. bei Gießen nicht selten vorkommt.')
Die Hummeln finden wir kaum einfarbig
behaart, abgesehen von vereinzelten Tropenformen,
wie dem B. carbonarius Hndl. (Brasilien). Es
existiert keine Insektengruppe, die so außerordent-
lich vielseitig in der Färbung variiert, als dies bei
den Bombis der Fall ist, so daß öfters die schwie-
rige Frage entstand: Hat man es mit einer be-
sonderen Art oder nur mit einer Varietät zu tun ?
Zudem sind die schlanken (JcJ meist lebhafter und
bunter, ja mitunter ganz anders gefärbt als die
zugehörigen + J, so daß schon bei unseren heimischen
Arten auch ein geübtes Auge getäuscht werden
kann, wenn es nicht neben einer Reihe habitueller
Kennzeichen vor allem möglichst konstante plasti-
sche Merkmale berücksichtigt.
Fast jede Art zeigt Neigungen und Übergänge
zu mehr oder minder deutlichem Melanismus oder
Flavismus. Das trifft auch bei unserer allbekannten
Erdhummel (Bombus terrestris L.) zu.
Denken wir allerdings daran, daß dieselbe in den
Tiefebenen wie auf den Bergen von ganz Europa
und Asien bis Nordafrika vorkommt, daß ebenfalls
in Nordamerika mit ihr übereinstimmende Formen
sind, so dürften uns mit Rücksicht auf diese weit-
läufige Verbreitung dergleichen dimorphe Erschei-
') Vgl. Alfken: ,, Ein Beitrag zur Bienenfauna v. Gießen."
111. Zeitschrift f. Entomologie, Neudamm 1S98, p. 342.
936
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 59
nungen weniger überraschen; aber schon auf eng-
begrenzten Gebieten: in der Mark Branden-
burg, in der Umgegend BerHns treten interessante
Farbenänderungen auf, wie wir sie vielfach erst
in ganz entfernten Gegenden wiederfinden.
Wer am schönen, warmen Frühlingstage die
Gelegenheit benutzt, die überwinterten Weibchen
unseres B. terrestris etwa an den blühenden Sträu-
chern von Salix caprea L. , cinerea L. etc. zu
mustern, dem fallen nicht selten zwei miteinander
fliegende Entwicklungsformen auf. Beide „Rassen",
wie sie Dr. Hoffer sehr treffend bezeichnet, haben
die charakteristische gelbe Binde auf dem Prothorax
nebst dem zweiten Segmente — und ein weißes
Hinterleibsende. Sie unterscheiden sich indes
folgendermaßen :
I. Rasse, die Stammform: Größer, mit
mehr dunkelgelben Binden.
II. Rasse, forma lucorum L. : Gewöhnlich
kleiner, mit heller leuchtenden, zitronen-
gelben Binden.
Viel greller treten diese Färbungsunterschiede
bei den im Juli bis September fliegenden SS her-
vor, die ohnehin mehr zur Farbenänderung neigen
als die $? und in der Form lucorum größtenteils
wollig gelb aussehen, mit Ausnahme eines oft ver-
wischten schwarzen Streifens zwischen den Flügel-
wurzeln und vor den weißen Endsegmenten.
Die Erdnester des B. terrestris gehörten stets
zu den volkreichsten, welche ich in der Mark fand ;
dabei ist jedoch zu bemerken, daß diejenigen der
Form lucorum immer geringer bevölkert waren
als bei der größeren Rasse ; dies trifft nach Hoffer
auch in südlicheren Gegenden zu.
Bei alledem dürfte es aber kaum gelingen,
beide Entwicklungsformen immer scharf vonein-
ander zu scheiden, und es werden sich stets Tiere
finden , bei denen Zweifel entstehen , ob sie zu
dieser oder jener Rasse zu rechnen sind.
Die beiden gelben Binden sind wie alle strei-
figen Färbungen am meisten veränderlich. Bald
erscheinen sie dunkler, bald lichter, hier breiter,
dort schmäler. Besonders die vordere Binde ver-
mindert sich öfter zu einer feinen Linie; manch-
mal schimmert sie nur noch an den Brustseiten
oder verliert sich vollständig, so daß der ganze
Thorax sammetschwarz ist. Schon Fabricius, der
Gesetzgeber der systematischen Entomologie, be-
zeichnete diese bekannte, zum Melanismus neigende
Varietät als B. cryptarum.
Nur ganz vereinzelt trifift man Exemplare, bei
denen auch die Binde am Hinterleibe nur schwach
angedeutet oder unterbrochen ist. Ich fand bisher
in der Mark davon nur 2 JJ der Stammform.
Warum trifift man bei uns nie Erdhummeln
ohne gelben Schimmer? — so fragt man unwill-
kürlich. — Bisher sind solche Tiere nur als Lokal-
form auf den Kanarischen Inseln (Tenerife) be-
kannt; sie erscheinen gewöhnlich schwarz mit
weißer Endspitze oder zeigen höchstens schwache
Spuren von gelben Binden.
Auf der Insel Corsica wiederum überrascht der
B. terrestris durch eigentümlichen Farbenwechsel,
indem er das Weiß der letzten Segmente mit leb-
haftem Rostrot vertauscht: Forma xanthopus
Krchb.
Auch Beinschienen und Tarsen glänzen samt
der Behaarung hübsch rot. Andeutungen gelber
Binden zeigt bei meinen Stücken, die aus Bonifacio
stammen, nur das S von B. xanthopus Krchb.
Jedenfalls sind die beiden letztgenannten Inscl-
formen merkwürdig genug, um auf den Gedanken
zu führen, daß an derartig auffallenden und anderen
Abweichungen die längere Isolierung von der
europäischen Stammform gewissen Anteil haben
könnte.') — Die Umwandlung der Endfärbung in
Weiß oder Rot tritt bekanntlich auch bei anderen
Arten auf, z. B. bei unserem B. soroensis Fabr., der
in der Mark kaum anders als rotafterig (Proteus
Gerst.) angetroffen wird. (Man vergleiche ferner
die var. festivus Hofier von B. confusus Schenck,
oder B. hortorum L., forma Corsicus Schulthess).
Wie die var. cryptarum Fbr. von unserer
Erdhummel sich der Form auf Tenerife nähert,
so fehlen im nördlichen Deutschland auch Exem-
plare nicht, deren Färbung immerhin an die cor-
sische Form xanthopus Krchb. erinnert. Am
meisten variieren, wie wir schon früher sahen, die
zu lucorum gehörigen Tiere, speziell die SS, unter
denen ich in der Mark ein hübsches Stück mit
blaßrotem Afterende fing. Sicher sind ähnliche
Färbungen weiter südlich häufiger anzutreffen. —
Dr. Schmiedeknecht entdeckte unseren B. terrestris
in Thüringen mit fuchsrot behaarten Beinen, wäh-
rend dieselben gewöhnlich schwarze Behaarung
haben. Er nannte diese var. ferrugineus.
Besonders die langen roten Haare der Schienen
fallen sofort auf, auch im Gesichte zeigen sie sich
eingestreut. Dieselbe var. findet sich ebenfalls
unter meinen bei Berlin gefangenen Erdhummeln,
freilich sehr rar, ebenso fehlen Übergänge nicht.
In Spanien und im südwestlichen Frankreich treten
die rostfarbenen Haare viel schöner auch auf dem
Unterkörper hervor.
Um nordische Färbungen des B. terrestris nicht
ganz zu übergehen , sei darauf hingewiesen , daß
nach dem Osten hin, namentlich in Sibirien, das
reichliche oft mit greisen Haaren vermischte Gelb,
wie wir es in unseren Gegenden bei lucorum
finden, dort in Weiß verwandelt ist. Der ganze
Thorax — abgesehen von einer dunkeln Binde
zwischen den Flügeln — samt dem ersten Seg-
mente sind also mehr oder minder weiß (B.
vi du US Erichs.). — Im nördlichen Westen, z. B.
in England, herrscht wiederum das Gelb öfter
SO vi'eit vor, daß die Tiere, welche sonst unserer
Stammform gleichen, Jiicht selten gelbe Endseg-
mente aufweisen (B. virginalis Smith). Professor
V. Dalla-Torre traf diese Färbung auch vereinzelt
in der Steiermark.
^) Vgl. Handlirsch, Hummelstudien, II, Wien iSgi.
Desgl. Friese und v. Wagner, Über die Hummeln als
Zeugen natürlicher Kormenbildung. Jena 1904.
N. F. in. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
937
So erscheint das Hinterleibsende des B. terrestris
weiß, rot oder gelb behaart, und gerade dies
beweist am auffallendsten den veränderlichen
Habitus unserer häufigsten Hummelart, welche
wohl bei den meisten Naturfreunden als wenig
variabel gilt.
Im Anschluß an die genannten Formenreihen
sei zuletzt noch auf einen interessanten einheimi-
schen Übergang zum Melanismus hingewiesen, bei
dem das Ende des Hinterleibes vollständig nuß-
braune Färbung hat.') Im Frühjahr fand ich
ein solches überwintertes $ der Stammform hier
im Grunewald; die gelben Binden des Prothorax
') Es ist also eine äliiiliclie Farbe wie z. B. bei unserem
B. Latreillelus var. borealis Schmdkn.
und zweiten Segments sind geschmälert und
gleichfalls gedunkelt. Die schwarzen Rückenhaare
des dritten Segments zeigen eine dünne, feine
Reihe heller Spitzen. Die Behaarung der Beine
sieht schwarz aus. — Es dürfte diese eigentüm-
liche Färbung bisher wohl kaum bekannt sein, ich
konnte sie wenigstens in der bezüglichen Literatur
nirgends erwähnt finden; u. a. besitzt auch das
k. k. naturhistorische Museum in Wien, dessen
Hummelsammlung der paläarktischen Fauna eine
der reichsten und vollständigsten ist , wie mir
Herr A. Handlirsch freundlichst mitteilte, keine
Exemplare der erwähnten Färbung. Am meisten
nähert sich diese Erdhummel der oben genannten,
bisher in Deutschland fremden var. virginalis Sm.,
nur daß sie freilich dunkler aussieht.
Kleinere Mitteilungen.
Die Rolle, die der Sehpurpur in unserer
Netzhaut spielt, ist noch ziemlich dunkel; wir
wissen eigentlich nicht viel mehr, als daß er unter
der Einwirkung des Lichts ausbleicht und farblos
wird. In seiner Arbeit: ,,Eine Erklärung der Ery-
thropsie und der farbig abklingenden Nachbilder"
in v. Gräfes Archiv für Ophthalmologie, Band LVIII,
entwickelt Pino interessante Ansichten über die
Funktionen, die der Sehpurpur möglicherweise hat.
Unter Erythropsie oder Rotsehen versteht man
die bekannte Erscheinung, die darin besteht, daß
nach intensiver Beleuchtung und Blendung der
Netzhaut oder eines Teiles derselben durch weißes
Licht weiße Flächen rötlich erscheinen. Pino weist
nun auf Grund seiner Versuche darauf hin, daß
dieses Rotsehen nicht erst nach, sondern schon
während der Blendung mit weißem Lichte auf-
tritt und zwar, nachdem erst ein kurzes Stadium
der Grünsichtigkeit vorangegangen ist, während-
dessen also weiße Flächen einen grünlichen Farben-
ton zeigten. Von verschiedenen Seiten wurde nun
die Beobachtung gemacht, daß die Erythropsie aus-
gesprochen in der Peripherie, wenig oder gar nicht in
der Mitte des Gesichtsfeldes auftritt. Aus dieser Be-
obachtung schließt nun Pino, daß die Ursache der
Erythropsie mit dem Sehpurpur irgendwie zu-
sammenhängen müsse; denn der Sehpurpur ist
nur in einem Teile der Netzhautelemente, den
Stäbchen, enthalten ; Stäbchen aber fehlen der zum
schärfsten Sehen eingerichteten Stelle der Netz-
haut, der sog. Fovea centralis, wo sich nur Zapfen
finden. An dieser Stelle der Netzhaut fehlen aber
auch Blutgefäße in ihr; das einfallende weiße Licht
geht also unverändert durch die durchsichtigen
und farblosen Schichten der Netzhaut bis zu den
lichtempfindenden Elementen. Die ganze übrige
Netzhaut ist aber mit Blutgefäßen durchzogen. Da
Blut in dünner Schicht durchscheinend und von
grünlicher Farbe ist, wird das weiße Licht, wenn
es durch feine Blutgefäße dringt, leicht grünlich
gefärbt. Da die roten Blutkörperchen auf beiden
Seiten ausgehöhlt sind, wirken sie als Konkav-
linsen, und auf diese Weise könnten sie sehr wohl
das durch sie hindurchgetretene, nunmehr grün-
liche Licht so zerstreuen, daß auch das an den
Blutgefäßen vorübergehende Licht einen grünlichen
Farbenton erhält. Dann könnte der Sehpurpur
den Zweck haben, durch seine rote Farbe den
grünlichen Ton wieder zu Weiß zu neutralisieren.
Da in der Fovea centralis Blutgefäße fehlen, wäre
also an dieser Stelle auch der Sehpurpur über-
flüssig, und, wie erwähnt, ist er da auch wirklich
nicht vorhanden. Ist nun durch zu starke Be-
lichtung mit weißem Lichte die Netzhaut geblendet,
so ist der Sehpurpur ausgebleicht , seine grün-
neutralisierende Wirkung fällt weg, das weiße Licht
erscheint durch das Blut, wie oben dargelegt,
grünlich, aber nur kurze Zeit, dann schlägt die
grüne Farbe in Rot um, welches als negatives
Nachbild aufzufassen ist.
Pino selbst läßt es dahingestellt sein, „ob in
den beschriebenen Verhältnissen die Lösung der
Frage über die Funktion des Sehpurpurs zu suchen
ist"; immerhin ist dieser Erklärungsversuch sehr
bemerkenswert. Dr. Weinhold, Plauen.
Der junge Wendehals (Junx torquilla). —
Naumann — der alte und der redivivus — schreibt,
daß die schmale wurmförmige Wendehalszunge
„7 cm lang ausgestreckt und über 5,2 cm über
die Schnabelspitze hinaus vorgeschnellt werden"
kann. Auf den ersten Blick hin ist diese Notiz
ersichtlich falsch ; der ganze Wendehals selbst mißt
nur 16 — 17 cm. Friderich klatscht dieselbe Notiz
ab, macht aber aus 7 cm 6. Was ist es nun
damit, sind Millimeter gemeint? Auch dann wäre
die Maßangabe, als zu klein genommen, noch un-
richtig. Mit Herrn Gymnasialoberlehrer L. Geisen-
heyner ausKreuznach, welcher bekanntlich zuerst die
Würfelnatter (Tropidonotus tesselatus) in der Nahe
auffand, habe ich die Zunge eines jüngeren, aber
ausgewachsenen Wendehalses, welche dieser im
Todeskampf so weit ausgestreckt hatte als ihm
938
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
möglich war, genau beaugenscheinigt und ge-
messen; es waren knapp 20 mm oder 2 cm. Icli
zog am toten Vogel die Zunge noch ein Stück
weiter gewaltsam heraus, nämlich um i cm; und
die ganze Zunge selbst ist 4 cm lang,
vom Zungenbein an gerechnet. Sie sitzt auf einem
rabenkieldicken, auch i cm langen Fleischballen
(Zungenbein), welcher hinten im Halse liegt. Die
eigentliche Zunge ist i mm breit und ebenso dick
— rund — und in schwacher Windung gedreht.
Der vorderste 6 mm lange Teil ist graulich, horn-
artig; dann folgt ein Absatz, gekennzeichnet durch
ein kleines helles Bestandteilchen wie ein Ringel-
chen; darauf folgt ein 14 mm langer Teil, nicht
viel dicker als der erste kurze, graue, hornartige,
mehr von gelblicher Fleischfarbe; daran schließt
sich wieder ein Absatz, gekennzeichnet durch ein
helleres, etwas niedrigeres Bestandteilchen, doppelt
so lang wie das erste (im ganzen i mm); daran
reiht sich der 20 mm lange hintere Teil der Zunge,
fleischgclblich, aus zwei flexartigen F"asersträngen
bestehend, welche in einer d o ppelten Windung
umeinander gedreht sind, beide zusammen im
Durchschnitt i mm dick. — Ich sah den Vogel
im Leben die Zunge immer nur höchstens 8 bis
10 mm weit vorschnellen. Dies geschieht, ohne
daß eigentlich die geringste Bewegung und Öff-
nung des Schnabels selbst sichtbar ist, so daß die
Zunge aus einer Hohllage vorn aus dem Schnabel
selbst herauszukommen scheint. In der Tat öffnet
der Vogel den Vorderschnabel gewöhnlich nur
ganz verschwindend wenig; wie weit er diesen
öffnet , wenn Ameisen an der Zunge hängen , ist
bis jetzt noch nicht festgestellt worden.') —
Die eigenartige schwirrende Stimme des jungen
Wendehalses ist weder ein undefinierbares ,,Schek-
kern", noch ein „Wimmern", als welches es die orni-
thologische Literatur ausgibt. Es ist ganz einfach
der Ton „gs gs gs", in fortwährender Wieder-
holung ausgestoßen. —
Günther hat die Haut an der Hacke der Jungen
stark verdickt, 5 mm lang, als Wulst vorgefunden.
Das ist richtig; allein der Wulst findet sich auch
bei anderen jungen Vögeln. Diese liegen genau
ebenso auf dem Wulst wie der junge Wendehals;
sie stützen sich auf die Verdickung und schieben
sich auf ihr fort. Es ist also der Wulst kein be-
sonderes Merkmal des Wendehalses. Wenn man
einen jungen Wendehals in der Hand hat, fühlt
man sofort, daß man es mit einem Klettervogel
zu tun hat. Man kann ihn nicht leicht so packen,
daß die Füße vom Fersengelenk (Lauf) an unter
der den Vogel umfassenden Hand liegen, also an
die Oberseite der umgedrehten Hand rühren; so-
gleich zieht der Vogel seine Beine empor und
schiebt sie ebenso schnell wie energisch und sicher
— immer mit Erfolg — auf die Hand: es ist
die Kletterbewegung, überhaupt d.er Ausdruck
dafiir, daß der Fuß, soweit er durch den Lauf
und die Zehen dargestellt wird, das Gewicht des
an ihm hängenden Vogels tragen soll. Nur wenn
man den mit der Hand umfaßten Vogel auf eine
Unterlage bringt, so daß der untere Teil der Füße
aufliegt, ist das instinktive „Beingefühl" des Vogels,
welches einen festen Sitz unter sich haben muß
und sich als der alte, dieser Art eigene Kletter-
sinn ausweist, befriedigt. —
Flegel u. a. fütterten den jungen Wendehals
mit Ameisenpuppen, welche in Milch aufgeweicht
waren. Diese letztere ist nicht nötig; Wasser tut
es gerade so gut. Ich halte die Milch, weil sie
das Unnatürlichere ist, für weniger zweckdienlich
als Wasser. —
Der auf der Erde sitzende Wendehals im „neuen
Naumann" entspricht der Wirklichkeit durchaus
nicht. Der Schwanz, insbesondere der von unten
sichtbare Teil, ist viel zu lang gemalt. Es ist in
der Natur weder der Flügel so tief braun noch
der Rücken so schwarz. Der alte Hesse Susemihl
aus Alsfeld hat denselben Vogel in der „Teut-
schen Ornithologie" (1801 — 17) viel matter gemalt
und — — viel richtiger. Wilhelm Schuster.
') Die Ameisen werden angeleimt; für ,,Lcim" sorgt die
anormal große Speicheldrüse.
Die geologische Geschichte Neuseelands
ist noch ziemlich lückenhaft bekannt und ihre Er-
forschung hat langsam Fortschritte gemacht. Das
grundlegende Werk Hochstetter's über diese ferne
Insel ist noch heute, wo 40 Jahre seit seinem Er-
scheinen verstrichen sind, die Hauptquelle für die
Kenntnis ihrer Bodenbeschaffenheit und ihres Ge-
birgsbaues. Die Publikationen der geologischen
Landesanstalt, die in den sechziger Jahren errichtet
wurde, sind in Europa sehr selten. Sie behandeln
vorwiegend die Minendistrikte und leiden an einem
Fehler, der den Wert ihrer Karten und l'rofilc
herabsetzt: der absoluten Vernachlässigung der
Paläontologie, ohne die genaue stratigraphische
Studien natürlich unmöglich sind. In der Tat sind
seit Hochstetter's Paläontologie von Neuseeland,
in der Zittel einen großen Teil der mesozoischen
und tertiären \'ersteinerungen beschrieben hat, kaum
noch neuseeländische Fossilien bekannt geworden.
Nur die ausgestorbenen Riesenvögel, die Moas, haben
ein andauerndes Interesse gefunden. Gerade wo
jetzt in Neuseeland eine neue geologische Landes-
anstalt ins Leben gerufen werden soll, bietet ein
Aufsatz T. W. Hutton's in den Transactions of
the New Zcaland Institute Bd. 32 eine willkommene
Zusammenstellung dessen, was bis jetzt von der
erdgeschichtlichen Entwicklung Neuseelands be-
kannt ist. Die Abhandlung („The geological
history of New Zealand") ist schon vor einigen
Jahren erschienen, aber keineswegs veraltet.
Die ältesten Gesteine Neuseelands, das sog.
Wanakasystem, dürften dem Präkambrium ange-
hören und bestehen in Glimmerschiefern und Phyl-
liten, die bedeutende Mächtigkeit zu haben scheinen.
Darüber folgt das Takakasystem , dessen untere
Abteilung Graptolithen führt und untersilurisches
Alter hat, während die obere, die ziemlich reich-
lich Kalke enthält, Obersilur oder LTnterdevon ist.
N. F. m. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
939
Die beiden genannten Systeme finden sich nur
auf der Südinsel, dagegen sind die nun folgenden
Maitaischichten ') auch auf der Nordinsel verbreitet.
Sie entsprechen dem Permkarbon und sind wie
die älteren Formationen stark gefaltet. Eine Ge-
birgsbildung hatte schon im Devon stattgefunden,
im Permkarbon trat eine solche von neuem auf,
wobei — ähnlich wie bei unserer europäischen
karbonischen Faltung — Granitmassen empor-
drangen. Das Gebiet von Neuseeland wurde auf
diese Weise Festland. Später tauchte es aber
wieder ins IVIeer und die „Hokanuischichten" lagerten
sich diskordant über den paläozoischen Sedimenten
ab. Sie repräsentieren triadische („Wairoaschichten")
und jurassische (,,Matauraschichten") Gebilde und
führen ziemlich reichlich Versteinerungen , teils
Pflanzen, teils Tiere, so Ammoniten, Belemniten,
Trigonien und Brachiopoden. Um die mittlere
Jurazeit setzte eine neue Faltung ein, und hob
Neuseeland über den Spiegel des iVleeres hervor,
unter dem es seitdem nie wieder ganz verschwun-
den zu sein scheint. Seit diesem Zeitpunkt blieb
es isoliert, wie das Fehlen von Landsäugetieren •)
und Schlangen in seiner recenten Fauna beweist.
Wahrscheinlich erstreckte sich damals Neuseeland
über Neukaledonlen hinaus bis Neuguinea, woher
es die älteren PJemente seiner jetzigen Fauna untl
Flora bezogen haben mag.
Ganz diskordant liegt die obere Kreide (das
,,Waiparasystem") über den verschiedensten älteren
Gesteinen. An Fossilien soll sie Ammoniten,
-Scaphiten, Belemniten usw. enthalten, doch sind
dieselben leider nie beschrieben. Ziemlich reich
ist diese Formation an Kohlen, besonders in mehreren
Küstengebieten der Südinsel.
Auch das älteste Tertiär war eine Zeit der
Kohlenbildung. Im Oligocän aber sank das Fand
und am Ende dieser Epoche setzte sich als jüngstes
Glied der „Oamaruformation" rings um Neusee-
land ein weißer Kalkstein ab, der überall unter
verschiedenem Namen als geschätzter Baustein Ver-
wendung findet. (Besonders sollen Häuser, die aus
diesem Kalkstein und Basalt gebaut sind, einen
schönen und ganz eigenartigen Anblick gewähren.)
Das IVIiocän („Pareoraseries") ist durch Sandsteine,
Tone und Kalke vertreten, welche eine reiche
IVIolluskenfauna bergen. Bemerkenswert ist der
Umstand, daß sich darunter Formen befinden, die
auch in den tertiären Ablagerungen Patagoniens
vorkommen, und zwar teils in identischen, teils in
nahe verwandten Arten. (Vgl. Nat. Woch. N. V.
Bd. ni, pag. 155.) Der Prozentsatz der Arten, die
auch im australischen Tertiär liegen, ist gering.
Auch das Pliocän ist auf der Nordinsel durch
marine Sedimente, die Wanganuischichten , ver-
treten. Die reiche F'auna derselben enthält viele
noch lebende Arten.
Schon in der Kreidezeit begann auf Neusee-
') Alle diese Bezeichnungen sind von Namen der Maori-
sprache von Flüssen, Gebirgen und Seen genommen, in deren
Bereich diese Formaiionen besonders entwickelt sind.
'•') Bis auf 2 Fledermäuse (nach Claus).
land die Tätigkeit der Vulkane. Damals setzte
die letzte große Faltung ein, und hob die Insel
aus dem Meere. Im Eocän müssen von Norden
her, wohin sich Neuseeland viel weiter ausdehnte
als heute, die Vorfahren der meisten heutigen ein-
heimischen Lebewesen eingewandert sein. Durch
die ganze Tertiärzeit dauerten die vulkanischen
Erscheinungen fort. Dem Oligocän gehören die
Andesite und Tephrite von Dunedin, dem Miocän
die Andesite der Thames-Goldfelder auf der Nord-
insel an. Pliocäne vulkanische Bildungen fehlen
ebensowenig. In der Gegenwart ist Neuseeland
der Sitz der mannigfaltigsten Erscheinungen des
V^ulkanismus. Diese haben ja auch die Geologen
stets besonders angezogen.
Während das Land noch zur Miocänzeit ziem-
lich tief versenkt war, folgte im Pliocän eine
Hebung. Der Zeitpunkt dieser Hebung scheint
noch nicht ganz genau festgestellt zu sein. Hutton
und andere neuseeländische Geologen setzen sie
ins Pliocän und leiten von ihr die starke Ver-
gletscherung ab, welche die Südinsel in großem
IVIaße betroffen hat. Auch diese Eiszeit soll ins
Pliocän fallen. In dieser Glazialperiode drangen
die Gletscher, die noch heute die ,, Alpen" in ihren
höchsten Teilen bedecken, weit in das Vorland
hinaus. An der Westküste erreichten sie vielleicht
das Meer. Daß das Land hier aber einst viel
höher lag als heute, beweisen die Fjorde, die den
norwegischen ungemein ähnlich und in denen
Tiefen von über 500 m gemessen sind. Eine
Temperaturerniedrigung mag Hutton aus dem
Grunde nicht für das Hereinbrechen der Eiszeit
verantwortlich machen, weil die subtropische Flora
nicht zerstört worden ist. Ob Interglazialepochen
mit Zeitabschnitten stärkeren Vordringens des Eises
gewechselt haben, hat sich bisher nicht feststellen
lassen.
Wir können uns mit der Versetzung der neu-
seeländischen Eiszeit ins Pliocän nicht einverstan-
den erklären. Geologische Gründe sind dafür
nicht vorhanden. Der Umstand, daß marines
Pliocän auf der Südinsel fehlt, zwingt ebensowenig
zu dieser Annahme wie das Vorhandensein riesiger
Schotter- und Sandablagerungen auf derselben, die
ja sehr wohl quartäre fluvioglaziale Bildungen sein
können und nicht das Äquivalent der Wanganui-
schichten zu sein brauchen, wie von Hutton
behauptet wird. Ebensowenig ist es erlaubt,
daraus, daß noch nach der Trennung der Nord-
und Südinsel (die erst nach der Glazialepoche
stattfand) Veränderungen in der Fauna vor sich
gegangen sind, die zweifellos lange Zeiträume er-
fordert haben, zu schließen, daß diese Zeiträume
so lang waren, daß die Vergletscherung schon im
Pliocän stattgefunden haben muß. Mit solchen
Gründen sucht aber Hutton seine Annahme zu
stützen.
Vielleicht ist es auch nicht unerlaubt, die Ver-
hältnisse auf der anderen Seite des pacifischen
Ozeans zum Vergleich heranzuziehen. In Kali-
fornien z. B. wird das Ende des Pliocäns und der
940
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
Beginn des Quartär durch eine allgemeine, sehr
bedeutende Hebung des Landes bezeichnet. Dort
schließt sich daran allerdings nicht gleich die
Glazialepoche; aber all diese Verhältnisse be-
dürfen in Neuseeland ja noch erst der genauen
Untersuchung. Einstweilen liegt kein Grund vor,
für diese Insel einen Zeitpunkt für die Vereisungs-
periode anzunehmen, der von demjenigen für die
ganze übrige Erde abweicht.
Die geologische Geschichte Neuseelands hat
ein ganz besonderes Interesse, weil diese Insel-
gruppe einer der äußersten Vorposten größerer
Landmassen gegen das Becken des pacifischen
Ozeans ist. Von der Geschichte dieses riesigen
Meeres wissen wir naturgemäß sehr wenig; aber
ihre Kenntnis wäre für uns von größtem Interesse,
um die Geschichte der Erde und ihrer Lebewelt
ganz zu verstehen. Die Geologie von Neuseeland
kann dazu wichtige Dokumente liefern, indem sie
uns lehrt, welche physikalischen Bedingungen in
diesem Teil der Erdoberfläche in den Perioden
der Vorzeit herrschten, welche Organismen ihn
bevölkerten und welche Züge hier dem Antlitz
der Erde aufgeprägt wurden.
Dr. Otto Wilckens.
Die Oszillation des Sternes ä Orionis ist
von J. Ha rt mann einem eindringenden Studium
unterworfen worden (Sitzungsber. der Berl. Aka-
demie 1904). Dieser spektroskopische Doppel-
stern wurde von Deslandres im Jahre 1900 als
solcher erkannt, jedoch hat sich die von diesem
Forscher abgeleitete Periode von 1,92 Tagen eben-
so wie die Vermutung einer sehr exzentrischen
Bahn durch die zahlreichen, namentlich indenVVinter-
nächten von 1901,02 und 1902,03 aufgenommenen
Potsdamer Spektrographien als gänzlich falsch er-
wiesen. Die Untersuchungen Hartmann's, die sich
auf die Ausmessung von elf verschiedenen Linien
stützen , führten nämlich zu einer Periode von
5)7325+0,0002 Tagen, die, wie die Kleinheit des
wahrscheinlichen Fehlers zeigt, durch Benutzung
älterer Beobachtungen ganz außerordentlich scharf
bestimmt werden konnte. Da sich das System von
ö Orionis vom Sonnensystem in jeder Sekunde um
23,1 km entfernt (wie gleichfalls durch Hartmann
ermittelt wurde), so erscheint uns die Umlaufs-
periode wegen der endlichen Geschwindigkeit des
Lichts um 38 Sekunden länger als sie in Wirk-
lichkeit ist. Dies darf bei der Schärfe der Be-
stimmung bereits nicht mehr vernachlässigt wer-
den, die wahre Umlaufszeit des Doppelsterns re-
duziert sich dadurch auf 5,7321 Tage. Die Ex-
zentrizität wurde zu 0,10334 ""d die Projektion
der großen Halbachse auf die Gesichtslinie zu
7906600 km bestimmt. Die Massen der beiden
Komponenten dürften aus gewissen Gründen nur
wenig verschieden sein, die Gesamtmasse des
Systems ergibt sich je nach den Annahmen, die
man über die völlig unbekannte Lage der Bahn-
ebene macht, gleich dem 5- bis lo-fachen der
Sonnenmasse.
Von besonderem Interesse ist bei dem Spek-
trum von ö Orionis die Kalziumlinie bei 393,4 /(/',
die auf allen Platten sehr schwach, aber voll-
kommen scharf erscheint. Hartmann's Messungen
der Wellenlänge dieser Linie ergaben das über-
raschende Resultat, daß sie an den periodischen
Verscliiebungen der übrigen Linien sich nicht be-
teiligt, sondern einem Körper zugehört, der sich
mit der konstanten Geschwindigkeit von 16 km
von der Sonne entfernt. Da es als höchst un-
wahrscheinlich gelten muß, daß diese Linie etwa
der zweiten Komponente von ö Orionis angehören
sollte (denn für diese müßte dann eine sehr große
Masse angenommen werden und es müßten dann
noch mehr Linien von gleicher Arten im Spek-
trum erwartet werden), so kann wohl eine Er-
klärung für das Vorhandensein der Kalziumlinie
nur in der Vermutung gesucht werden, daß das
Licht von (5 Orionis auf seinem Wege zur Sonne
an irgend einer Stelle eine kosmische, aus Kalzium-
dampf bestehende Wolke passieren muß. Eine
ganz ähnliche Erscheinung ist 1901 am Spektrum
der Nova Persei beobachtet worden. Auch hier
zeigten sich zwei Kalziumlinien im Verein mit den
Nalriumlinien stets scharf und mit einer konstanten
Verschiebung behaftet, während andere Linien
(darunter die des Wasserstoffs) durch enorme Ver-
breiterung und Verschiebung und beständige Ver-
änderungen im Aussehen auf stürmische Vorgänge
in der Atmosphäre des Sterns deuteten. Bei der
Nova Persei wurde ja später auf photographischem
Wege das Vorhandensein von Nebelmassen in der
Umgebung festgestellt, denen jene erstgenannten,
scharfen Linien ihre Entstehung verdankt haben
dürften. Nach Barnard befinden sich aber auch
in der Nähe von d Orionis ausgedehnte Nebel-
massen, deren Ausläufer sich sehr wohl bis vor
den Stern selbst erstrecken könnten. Hartmann
macht schließlich noch auf den merkwürdigen
Umstand aufmerksam, daß die Komponenten der
.Sonnenbewegung (nach Campbell) in Richtung der
beiden Gestirne d Orionis und Nova Persei fast
genau mit den aus der Linienverschiebung er-
mittelten Geschwindigkeiten jener Nebelmassen
übereinstimmt. Die Verschiebung der Kalzium-
linien müßte somit auf Rechnung der Sonnen-
bewegung gesetzt werden und die Nebelmassen
selbst würden in relativer Ruhe zu jenen 280
Sternen anzunehmen sein, aus deren Beobachtung
Campbell seine Daten der Sonnenbewegung ab-
geleitet hat. F. Kbr.
Eine zeitliche Änderung der Stärke der
Schwerkraft wird durch Beobachtungen wahr-
scheinlich gemacht, welche K. R. Koch in Stutt-
gart und Karlsruhe mit einem von Sterneck'schen
Pendelapparat gemacht hat (Annalen der Physik,
1904 Nr. 11). Er findet nämlich für Stuttgart
folgende Werte der Schwere:
Juni 1900, g = 980,914 cm,
März 1904, g = 980,917 cm,
also eine Differenz von rund 3 Einheiten der
N. F. m. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
941
dritten Dezimale, beinahe gleich dem Fünffachen
des mittleren Fehlers. Danach erscheint die An-
nahme einer wirklichen Änderung der Schwer-
kraft oder genauer ihres Unterschiedes zwisclien
Stuttgart und Karlsruhe (denn es handelt sich nur
um relative Bestimmungen, bei denen für Karls-
ruhe g = 980,982 konstant angenommen wurde)
geboten. Koch vermutet, daß derartige Ände-
rungen periodisch sein dürften und vielleicht mit
den seit einer Reihe von Jahren bekannten Pol-
höhenschwankungen in Zusammenhang stehen. Es
sind deshalb Vorbereitungen getroffen worden, um
auf der Zentralstation Stuttgart, einer zweiten
100 km östlich und einer dritten lOO km südlich
gelegenen Station gleichzeitig etwa viermal im
Jahre relative Schwerkraftmessungen auszuführen,
deren Ergebnis mit Spannung entgegengesehen
werden darf. F. Kbr.
Über die N-Strahlen wurde auf der dies-
jährigen Versammlung der British Association in
Cambridge aus Anlaß der Verleihung eines hohen
Preises an Blondlot seitens der Pariser Akademie
eine Diskussion eröffnet, deren Ergebnis war, daß
zwar viele Teilnehmer jener Versammlung ver-
sucht haben, die Blondlot'schen Experimente zu
wiederholen, daß aber keiner derselben dabei zu
einem bestätigenden Ergebnis gekommen ist. Ins-
besondere ist es auch Rubens und Lummer
nicht gelungen, die von Blondlot angegebene ob-
jektive Feststellung der N-Strahlen durch die photo-
graphische Wirkung eines von diesen Strahlen
getroffenen F"ünkchens (siehe das Referat S. 650
dieses Jahrganges) zu wiederholen. Wichtig für
die Beurteilung der Angelegenheit ist auch der
Bericht, den R. W. Wood aus Brüssel über einen
Besuch im Nancyer Laboratorium in der Nature
vom 29. Sept. 1904 veröffentlicht hat. Danach
ist dieser Forscher nach dreistündigen Experi-
menten von der festen Überzeugung durchdrungen
worden, daß diejenigen, welche N-Strahlen beob-
achtet zu haben glauben, einer Illusion zum Opfer
gefallen sein müssen. F. Kbr.
Zur Kenntnis des biologischen Arsennach-
weises. — Im Anschluß an meine kleine Zu-
sammenstellung: „Über den biologischen Arsen-
nachweis" in Nr. 53 dieser Zeitschrift möchte ich
noch auf eine interessante IVIitteilung von W. Haus-
mann hinweisen, welche aus dem physiologischen
Laboratorium der zoologischen Station zu Neapel
hervorgegangen und unter obigem Titel in Hof-
meister's Beiträgen zur ehem. Phys. u. Pathol.
1904, Bd. 5, S. 397 erschienen ist. Hausmann
beobachtete beim Einbringen einer Aktinie, A i p t a-
sia diaphana Rapp in Meerwasser, dem eine
geringe Menge von arseniger Säure zugesetzt war,
die Bildung eines Knoblauchgeruches, welcher bei
Gegenwart von 0,03 mg As.,0.j in 100 ccm Meer-
wasser nach etwa 3 Stunden, bei 0,005 rrig in
derselben Menge Wasser nach 24 Stunden ganz
deutlich erkennbar war. Diese an sich glashellen
Aktinien waren durch symbiotisch in ihnen lebende
gelbe Algenzellen, Zooxanthellen, mehr oder weniger
gelb bis tiefbraun gefärbt; da nun einerseits ein
von den Algen fast befreites Tier und ein anderes,
welches von vornherein fast algenfrei war, in arsen-
haltigem Meerwasser nur sehr geringen Geruch
entwickelte, andererseits die von den Aktinien aus-
geworfenen Algenzellen in Arsenlösungen deutliche
Geruchsbildung verursachten, so erscheint die An-
nahme von Hausmann völlig berechtigt, daß
die Entwicklung der riechenden Produkte (Arsine)
in der Hauptsache den mit der Aktinie in Sym-
biose lebenden Algenzellen und nicht den Aktinien
selbst zuzuschreiben ist.
Genau wie das Penicillum brevicaule
erzeugten die algenführenden Aktinien bzw. die
freien Algenzellen außer aus Arsen präparaten auch
aus tellurigsaurem Natrium intensiv nach Knob-
lauch riechende Verbindungen, während aus selenig-
saurem Natrium ein äußerst unangenehmer mer-
kaptanartiger Geruch entwickelt wurde.
VVesenberg (Elberfeld).
Aus dem wissenschaftlichen Leben.
\i. S. L c m s t r ö ni f. Am 2. Oktober starb der als Forscher
auf dem Gebiete der Luftelektrizität und des Erdmagnetismus
rühmlichst bekannte Professor der Universität Helsingfors,
B. S. Lemström , über dessen neueste, Erfolg versprechende
Versuche zur Steigerung landwirtschaftlicher Erträge durch
,,Eleklrokultur" wir in den ersten beiden Bänden dieser Zeit-
schritt (N. F. 1, S. 419, II, S. 620) berichteten. L. hat 1868
Nordenskjöld's erste Spitzbergen-Expedition mitgemacht und
1882 — 84 eine von der finnischen Gesellschaft der Wissen-
schaften entsandte Nordpolexpedition geleitet.
Bücherbesprechungen.
C. Marti, Die Wetter kräfte der strahlenden
Planetenatmosphären. Nidau , E. Weber.
1904. 23 Seiten nebst Tabellen.
Verf. glaubt die Ursache des Regens in strahlen-
den Wirkungen der von dichten Atmosphären um-
hüllten Planeten suchen zu sollen, und zwar sind nach
ihm die „Wetterkräfte" bei Konjunktionen gewisser
Planeten besonders wirksam. Auch ein von Griguli
im Jahre 1902 entdeckt sein sollender transneptuni-
scher Planet, von dem Ref. hier zum ersten Male
etwas hört, wird in den Wetterdienst eingespannt.
Wir überlassen die Nachprüfung der 80 "/^ Treffer,
die Ref. für seine seit 1895 aufgestellten Sturm-
prognosen herausrechnet, denen, die an die Tatsäch-
lichkeit oder auch nur Möglichkeit derartiger Wirkungen
glauben. F. Kbr.
Hans Kraemer, Weltall und Menschheit.
Gesclüchte der Erforschung der Natur und der
Verwertung der Naturkräfte im Dienste der Völker.
III. Bd. 468 Seiten mit vielen Illustrationen und
Beilagen. Berlin , Deutsches Verlagshaus Bong &
Co. — Preis geb. 15 Mk.
Der vorliegende dritte Band des von uns bereits
mehrfach besprochenen Monumentalwerkes enthält die
aus Prof. Wilhelm Förster's Feder stammende Schil-
942
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 59
derung der Erforschung des Weltalls, sowie den ersten
Teil der Geschichte der Erforschung der Erdober-
fläche von Prof. Kall VVeule. Die Eigenart der
schriftstellerischen Arbeiten des ersteren Forschers,
die in der Neigung zu weitschauenden Gedankenver-
bindungen und höchst anregenden Betrachtungen
philosophischer Art sich kundgibt, kommt in der vor-
liegenden Darstellung der Entwicklung unserer Welt-
anschauung EU schöner Entfaltung, wenn auch nicht
verschwiegen werden kann, daß eine derartig von
kontemplativen Momenten durchzogene Darstellung
dem Verständnis des Neulings naturgemäß erheblich
größere Schwierigkeiten bereiten muß, als eine mehr
auf der Oberfläche bleibende Schilderung der bloßen
Tatsachen. Besonders schwierig dürfte sich für fach-
lich nicht vorgebildete Leser das Eindringen in das
Verständnis der verschiedenen Theorien der himm-
lischen Bewegungen gestalten, da hier verwickelte
Einzelheiten recht ausführlich behandelt werden. Als
ein außerordentlich wertvolles Gegengewicht zu dem
gehaltreichen, aber nicht durchweg ganz leicht verdau-
lichen Texte können die vorzüglichen, zum Teil historiscli
hochinteressanten, zum anderen Teil auf der Höhe
der gegenwartigen Wissenschaft stehenden Illustrationen
gelten. Einige wenige, nur der Phantasie entsprungene
und mehr oder weniger unwahre Bilder würden wir
allerdings gern entbehren, so z. B. den „Absturz eines
Meteors" (S. 197) und das „Meteor von Madrid".
Auch wäre es wünschenswert, daß im Text mehr
direkte Hinweise auf die Illustrationen eingeflochten
wären und daß z. B. erwähnt würde, wenn" in der
Figur auf Seite 97 das Verhältnis der Halbmesser
der Mars- und Erdbahn ein anderes ist, als der
Wirklichkeit entspricht. Ob die merkwürdige Ver-
zerrung der Konstellation des Wagens auf der Zirkum-
polarsternkarte (S. i65) auf Rechnung der ange-
wandten Projektionsart zu setzen ist oder auf Irrtum
beruht, läßt sich nicht entscheiden, da das Gradnetz
fehlt. Die Einfügung der Abbildung der Pekinger
Sternwarte (Seite 7) in den einleitenden Text über
die ältesten Anfänge der Sternkunde läßt im Leser
leicht den Irrtum entstehen, daß jene jetzt in Pots-
dam befindlichen Instrumente uralte Zeugen frühester,
chinesischer Kultur seien, während sie in Wahrheit
bekanntlich nach den Angaben jesuitischer Missionäre
um 1600 angefertigt wurden.
Die Weule'sche Darstellung der Geschichte der
Erdkunde liest sich recht angenehm und gewinnt
natürlich durch die zahlreichen Facsimiles alter Karten
und sonstiger in das geographische Gebiet fallender
Bilder außerordentlich an Frische. Der Band führt
bis zum Ausgang des Mittelalters, so daß die Neuzeit
dem nächsten Bande vorbehalten bleibt. Wenn
Seite 362 von einer babylonischen Erdkarte ge-
sprochen wird, die auf Sehe 317 zu finden ist, so
wäre freilich ein entsprechender Hinweis am Platze.
— Schließlich sei noch hervorgehoben, daß der
außerordentlich geschmackvoll nach dem Entwurf von
Prof Honegger hergestellte Pracht-Halbfranzband das
Werk auch äußerlich zur Zierde einer jeden Biblio-
thek machen wird. p^ K.5j.
Dr. Felix Kienitz-Gerloff , Prof an der Landwirt-
schaftsschule zu Weilburg a. d. Lahn, Bakterien
und Hefen, insbesondere in ihren Beziehungen
zur Haus- und Landwirtschaft, zu den Gewerben,
sowie zur Gesundheitspflege, nach dem gegenwärti-
gen Stande der Wissenschaft gemeinverständlich
dargestellt. Mit 65 Abb. Berlin (Verlag von Otto
Salle) 1904. — Preis 1,50 Mk.
Was Kienitz-Gerloff schreibt, gehört zu dem Ge-
diegenen, Verläßlichen; wir können daher das vor-
liegende Heft (100 Seiten) nicht warm genug den-
jenigen empfehlen, die eine klare, durchreifte, allge-
mein-verständliche Darstellung über den für jeder-
mann interessanten Gegenstand zu lesen wünschen.
Der einleitende historische Abschnitt über die „Ur-
zeugung" bietet eine treffliche Einführung. Ein am
Schluß gebrachtes Register erhöht die Brauchbarkeit
der Schrift wesentlich.
Marie-Auguste Morel, Ingenieur, ancien eleve de
I'ecole des ponts et chaussees, licentie ds sciences
mathematiques et es sciences physiques, directeur
des usines ä ciment Porlland de Lumbres. L'Ace-
tylene. Theorie. Applications. Volume
grand in-8 de XII — 172 pages avec 7 figures. —
Paris. Gauthier-Villars. 1903. — 5 Fr.
Seitdem durch die bemerkenswerten Arbeiten
Berthelot's die Wichtigkeit des Acetylens zu allge-
meiner Anerkennung gelangte, ist die Technik be-
müht gewesen, alle die Schwierigkeiten zu überwinden,
welche sich der fabrikmäßigen Darstellung dieses
Gases entgegenstellten. Es handelte sich dabei vor
allem um die Frage der Überproduktion, der Reini-
gung, der Überhitzung und der vollständigen Ver-
brennung. Heute, kann man sagen, sind die dies-
bezüglichen Probleme im allgemeinen zur Zufrieden-
heit gelöst, und dem Gebiete der Acetylen-
fabrikation hat sich ein weites Feld erschlossen.
Zahlreiche Zeitschriften stehen ausschließlich in ihrem
Dienste, und mannigfache Werke bieten Belehrung
über den Gegenstand. Das vorliegende Buch von
Morel behandelt das .\cetylen vom rein wissenschaft-
lichen Standpunkte. Die beiden ersten Kapitel ent-
halten Allgemeines über die Konstitution der Kohlen-
wasserstoffe, ihre Arten, sowie über die Metallcarbide.
Hieran schließt sich im dritten Kapitel die Geschichte,
die Herstellung, Eigenschaften und Anwendung des
Calciumcarbids, und in den beiden folgenden werden
die thermochemischen , optischen und explosiven
Eigenschaften des Acetylens behandelt. Die zahl-
reichen Anwendungen des Acetylens werden in Ka-
pitel VI besprochen, und hieran knüpfen sich neuere
theoretische Betrachtungen über die zur Darstellung
des Gases benutzten Apparate. Eine Abhandlung
über die thermodynamische Wirkung beschließt das
Werk, das sich durch gewandte Darstellung und
wissenschaftliche Behandlung auszeichnet.
Dr. R. Loebe.
Dr. Oskar Lubarsch, Professor am Friedrichs-Real-
gymnasium zu Berlin. Elemente der Experi-
mental- Chemie. Ein methodischer Leitfaden
N. F. m. Nr. 59
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
943
für den chemischen Unterricht an höheren Lehr-
anstalten, sowie zum Selbstunterricht. Zweite,
völlig umgearbeitete und verbesserte Autlage. Mit
ii8 in den Text gedruckten Figuren. Berlin,
Julius Springer. 1904. — Preis brosch. 4 Mk.
Das Buch behandelt die Grundlagen lediglich der
anorganischen Chemie. Der Verf. legt weniger Wert
auf Vollständigkeit des gebotenen Materials, als viel-
mehr auf die logische Ableitung der Gesetze aus den
Versuchen, sowie auf das Ausgehen vom allgemein
Bekannten. Das Lehrbuch hat sich bereits in seiner
ersten Auflage zahlreiche Freunde erworben und grof3e
Anerkennung gefunden. Vor allem ist die Methode
des Verf, zwischen dem systematischen und metho-
dischen Verfahren die richtige Mitte zu halten, von
gutem Erfolg begleitet gewesen. Die Neubearbeitung
ist dem heutigen Stande der Wissenschaft entsprechend
vorgenommen worden. Von besonderem Werte sind
die den Text unterstützenden Abbildungen , die zum
größten Teil aus des Verf „Technik des chemischen
Unterrichts" übernommen wurden. Die vorher ge-
trennten beiden Teile sind zu einem Ganzen ver-
einigt. Solche Abschnitte, deren Durchnahme der
Verf dem Lehrer anheimstellt, und die ihm zwar
wichtig, aber nicht unbedingt notwendig zur Durch-
nahme beim Unterrichte erschienen, wurden durch
kleineren Druck hervorgehoben und enthalten zum
Teil die neueren iheorttischen Forschungen und die
für den Unterricht nötigen technologischen Mitteilungen.
— Auch die neuesten Forschungen und Ansichten auf
den verschiedenen Gebieten der anorganischen Chemie
sind in dem Lehrbuche untergebracht, ohne daß es
mit Stofi" überladen wäre. Es baut sich auf dem
Gesetze von der Erhaltung der Arbeit und den
thermochemischen Grundsätzen auf Der Behandlung
der Metalle ist, wie man in einem modernen Lehr-
buche erwarten darf, das periodische Gesetz zugrunde
gelegt. Von großem Vorteil ist die Berücksichtigung
analytisch wichtiger Tatsachen. Bezüglich der fossilen
Kohlen (S. 169) steht der Verf. auf dem veralteten
Standpunkt, daß diese mehr oder weniger reinen
Kohlenstoff enthielten! Wir wissen heute, daß sie
nur Gemenge verschiedenartigster Kohlenstoffverbin-
dungen darstellen.
Das Buch ist aber unbeschadet solcher Einwendung
eine ausgezeichnete Darstellung der anorganischen
Chemie und zur Benutzung an Realgymnasien etc.
aufs wärmste zu empfehlen. Dr. R. Loebe.
Dr. W. Borchers, Geh. Regierungsrat, o. Professor
der Metallurgie und Direktor des Laboratoriums
für Metallhüttenwesen und Elektrochemie an der
Könighchen Technischen Hochschule zu Aachen.
Elektro - Metallurgie. Die Gewinnung der
Metalle unter Vermittlung des elektrischen Stromes.
Dritte, vermehrte und völlig umgearbeitete Auflage.
Zweite Abteilung. Mit 86 Textabbildungen. 578
Seiten. Leipzig, S. Hirzel. 1903. — Preis brosch.
II Mk.
So liegt denn mit der vorliegenden II. Abteilung
die Neuauflage des wohlbekannten Werkes, das sich
des Rufes erfreut, die beste Metallurgie zu sein, die
überhaupt existiert, im fertigen Gewände vor uns.
Der Umfang des Buches hat gegen die zweite Auf-
lage bedeutend zugenommen. Aus 393 Seiten wurden
578. Inhaltlich ist das Werk immer noch unüber-
troffen und steht ganz auf der Höhe der Zeit. Die
vorliegende zweite Abteilung umfaßt die Elektro-
Metallurgie der Schwermetalle außer Kupfer, wie
Nickel, Silber, Gold, Zink, Cadmium , Quecksilber,
Zinn, Blei, Wismut, Antimon, Vanadin, Chrom, Molyb-
dän, Wolfram, Uran, Mangan und Eisen. Ein beson-
derer Abschnitt „Metallverbindungen" beschäftigt sich
außerdem mit den Carbide n der Alkali-, Erdalkali-
und der übrigen Metalle. Einige wenige Worte
(i Seite) sind auch den Siliciden gewidmet, freilich
im Verhältnis zum Ganzen eine etwas stiefmütterliche
Behandlung. — Die Übersichtlichkeit des Werkes
gewinnt wesentlich dadurch, daß jedes Element hin-
sichtlich seiner Roh- und dann seiner Reindarstellung
behandelt ist. Und hierin unterscheidet sich die neue
Auflage von den vorhergehenden. Daß naturgemäß
eine Menge neuen Materials hinzugekommen ist, be-
darf kaum der Erwähnung. Die Erfahrungstatsachen
bis in die neueste Zeit sind in dem Buche niedergelegt.
Insbesondere erfuhr Gold, Zink und Zinn weitgehen-
de Berücksichtigung. Hervorzuheben ist noch , daß
in der Neuauflage zum erstenmal Arbeiten des
Metallurgen Wohlwill über Kupfer, Nickel und Edel-
metalle und eine Arbeit von Günther über Zink zur
X'eröflentlichung kamen. — Im übrigen gilt auch von
der II. Abteilung das s. Z. über die I. Abteilung ge-
sagte. Es bewährt sich das Motto : „Aus der Praxis
für die Pra.xis". Papier und Druck sind vorbildlich
für dergleichen Werke, und sehr gute Abbildungen
unterstützen den Text. Dem Werke ist wie bisher
auch in der neuen Auflage eine große Verbreitung
gesichert. R. Lb.
Literatur.
Brauns, Prof. Dr. Rhard. : Das Mineralreich. Mit vielen
Texlillustr. , 73 Farbenlaf. , 14 Lichtdr.-Taf. u. 4 Kunstdr.-
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Zelle. (VI, XIX, 437 S. m. 239 Abbildgn.) Lex. S". Jena
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Haberlandt, G. : Die Sinnesorgane der Pflanzen. Ein Vortrag.
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zur allgemeinen Biologie. Serie B. Tab. I. Befruclitung.
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Sprache. (l Bl.) Lex. 8°. Berlin-Charlottenberg ('04),
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dem Buche über die Welträtsel. (XII, 567 S.) gr. 8".
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944
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tikum f. Anfänger. Anleitung zum Selbststudium der mikro-
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Geologie. 5. Aufl. 158 Figuren. Preis geb. 4 Frcs.
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Herrn A. U. in Plauen. — Über die Zelle orientieren Sie
sich durch das Buch von Gurwitsch ,, Morphologie u. Biologie
der Zelle" (Gustav Fischer in Jena).
Herrn F. L. in Königsberg i. Pr. — Vielleicht genügt
Ihnen der Abschnitt ,,Das Seilen" in Winkelmann's Handbuch
der Physik, 2. Aufl., VI. Ed. i. Hälfte (Leipzig, J. A. Barth.
Preis 14 Mk. — Seite 270 — 295), der von M. von Rohr be-
arbeitet ist. Jedenfalls finden Sie dort Hinweise auf die außer
Helmholtz' Handbuch der physiologischen Optik (2. Aufl.,
herausgeg. von König) noch in Betracht kommenden Arbeiten
der letzten Zeit.
Herrn Dr. E. in W. — Von Bestimmungstabellen für
Mineralien sind hauptsächlich im Gebrauch und zu empfehlen ;
1) Vobel, Fr. v. , Tafeln zur Bestimmung der Mineralien.
14. Aufl. 1901. Preis geb. 2,80 Mk.
2) Fuchs, C. W. C. und B. Brauns, Anleitung zum Be-
stimmen der Mineralien. 6. Aufl. 1898. Preis gel).
5,80 Mk.
3) WeilSbach, A., Tabellen zur Bestimmung der Mineralien.
6. Aufl. 1903. Preis geb. 3,20 Mk.
4) (Haush o fer, K. , Leitfaden für die Mineralbestimmung.
1892. Preis 5,50 Mk.). Harbort.
Herrn P. St. in Weißenburg. — Der Artikel des Herrn
v. Spohr enthält ebensoviele Übertreibungen wie Unrichtig-
keiten. W'ie viel der Herr von der Bakteriologie versteht,
geht daraus hervor, daß er die Forschungen Wiegand's und
Nägeli's über die generatio aequivoca noch für richtig hält.
Was dann weiter über Koch's Arbeiten und den sich daran
knüpfenden Aufschwung der Balsteriologie gesagt wird, ist
sehr ergötzlich zu lesen, zeigt aber ein gänzliches Verkennen
der Ziele der medizinischen Bakteriologie und eine bare Un-
wissenheit bei der objektiven Beurteilung der Tatsachen.
Solchen Ansichten entgegentreten zu wollen, wäre überflüssig,
denn mit der Verbohrtheit und Unkenntnis soll man nicht
rechten. G. Lindau.
Herrn S. in Darmstadt. — Frage: Wo findet man Näheres
über Bau und Funktion d er Hau t drüsen bei den
Regenwürmernf — Das gewissermaßen grundlegende
Werk über die Anatomie der Regenwürmer ist F. Vejdovsky,
System und Morphologie der Oligochaeten, Prag 1884, 166 S.
fol. m. 16 Taf. Auf S. 65-67 dieses Werkes finden Sie die
Hautdrüsen behandelt. Eine ausführliche Arbeit speziell über
die Haut der Regenwürmer besitzen wir von P. Ce r f on tain e
in den Archives de Biologie T. 10, p. 327 — 384, PI. II — 12.
— Da die genannten Werke nicht jedem zugängig sein dürften,
gebe ich ganz kurz einige Notizen. — Zwei Formen von einzelligen
Drüsen sind, mit Ausnahme der drüsenfreien Einsenkungen zwi-
schen den Segmenten und neben den Borsten, über die ganze Ober-
fläche des Körpers verbreitet. Sie sind den beiden Schichten
der Hypodermiszellen eingelagert. Die eine Form, die wahr-
scheinlich aus Zellen der äußern Schicht 4iervorgegangen ist,
ist grob gekörnt, die andere, die der inneren Hypodermis-
schicht entstammen dürfte, ist fein granuliert. — Die meisten
Autoren nehmen an , daß die Hypodermisdrüsen die Aufgabe
haben einen Schleim abzusondern, der die Verdunstung herab-
setzt und deshalb das Austrocknen des Tieres verhindert. Andere
meinen, daß das Sekret dazu diene, die Wände der Gänge in der
Erde zu befestigen. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß diese durch
das Sekret befestigt sind. — Am zahlreichsten sind die Drüsen
bei geschlechtsreifen Tieren im Seiten- und Rückenteil des
Gürtels (clitellum) vorhanden. Hier fehlen die Hypodermis-
zellen bisweilen gänzlich. Die grobgekörnten sind in der
dicken Gürtelschicht langgestreckt und die feinkörnigen sind
sogar in hohen säulenartigen , durch Septa getrennten Grup-
pen angeordnet. Am hinteren Teil des Gürtels tritt noch
eine dritte Form hinzu, die aber vielleicht nur eine Modifi-
kation der feinkörnigen ist. — Was die Funktion der umfang-
reicheren Gürteldrüsen, welche die Verdickung dieses Körper-
teils bewirken, anbetrifft, so steht fest, daß sie bei der Fort-
pflanzung eine Rolle spielen. — Die Regenwürmer sind
Zwitter. Zur Kopulation legen sich zwei in entgegengesetzter
Richtung mit der Bauchseite ihres Vorderkörpers aneinander,
während das Hinterende noch in der Erde steckt. Dann
bildet sich um den Gürtelteil beider eine gemeinschaftliche
dicke Schleimmasse. — Die Bauchseite besitzt in dieser Ge-
gend eine schwache Rinne, die sich während der Kopulation
durch besondere Muskeln (musculi arciformes) vertieft. Durch
sie fließt das Sperma, von der männlichen Geschlechtsöffnung
des einen Tieres zu der weiblichen oder zu den Samentaschen
des anderen. Der Schleim verhindert das Austreten des Sper-
mas nach außen. — Vielleiclit dienen die Gürteldtüsen außer-
dem dazu, die Hülle des Eikokons zu liefern, wie von einigen
Autoren angenommen wird. Es fehlen jedoch über die Her-
stellung der Eikapseln bisher eingehende Beobachtungen. —
Die sogenannten Rückenporen, die sich in einer geraden
Reihe, bei Litnibrictis Urrestris vom 8. Körperring an,
zwischen je zwei Segmenten befinden, sind nach H. Ude
(Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 43, 18S6, S. 87 ff.) keine Aus-
mündungen von Drüsen. Sie führen vielmehr direkt in die
Leibeshöhle und können durch besondere Muskeln geöffnet
werden. Was ihre F'unktion anbetrifft, so können sie ent-
weder dazu dienen, Flüssigkeit abzuscheiden um das Ein-
trocknen der Haut zu verhindern, oder umgekehrt Wasser von
außen aulzunehmen. Nach den Untersuchungen von Ude
und L. Cuenot (Archives de Biologie T. 15, 1898, p. 88 — 92)
kann es wohl als ausgemacht gelten, daß die erstere Annahme
die richtige ist.
Weitere Literatur finden Sie in den oben genannten
Schriften. Zu ergänzen ist nur noch F. J. Cole, The phy-
siology of the clitellum in Lumbricus terrestris, Edinburgh
University Darwinian Society 1892, 28 p. i pl., eine Arbeit,
die frühere Literatur fast gar nicht berücksichtigt , ein kurzer
Auszug desselben in Zool. Anzeiger Bd. 16, S. 440 und Bd. 17,
S. 285. Vielleicht kommt auch E. deRibaucourt's, Etüde
sur l'anatomie comparee des Lombricides in Revue Scient.
France et Belg. T. 35, 1901, p.2II — 312 avec 8 pls. bei den
berührten Fragen in Betracht. Letztgenannte Arbeit ist mir
leider nicht zur Hand. Dalil.
Inhalt: O. Lang: Die Gipfelkrönungen von Vulcankuppen. — Max Müller: Unsere Erdhummel und ihre Varietäten. —
Kleinere Mitteilungen: Pino: Sehpurpur. — Wilhelm Schuster: Der junge Wendehals (Junx torquilla). —
T. W. Hutton: Die geologische Geschichte Neuseelands. — J. Hartmann: Die Oszillation des Sternes S Orionis.
— K. R. Koch: Änderungen der Stärke der Schwerkraft. — Rubens und Lummer: Über die N-Stralden. —
W. Hausmann: Zur Kenntnis des biologischen Arsennachweises. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. —
Bücherbesprecbungen: C. Marti: Die Wetterkräfte der strahlenden Planetenatmosphären. — fl ans K raemer :
Weltall und Menschheit. — Dr. Felix Ki eni tz - Ge r 1 o ff: Bakterien und Hefen. — Marie-Auguste Morel:
L'Acetylene. Theorie. Applications. — Dr. Oskar Lubarsch: Elemente der Experimental-Chemie. — Dr. W.
Borchers: Elektro-Metallurgie. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: i. V.: Dr. F. Koerber, Grofs-Lichtcrfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DiC NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-LichterfeIde-\A/est bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge HI. Band;
der ganzen Reihe XIX. Pand.
Sonntag, den 20. November 1904.
Nr. 60.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 544^.
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,\ufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenslraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Mutation im Pflanzenreiche.
[Nachdruck verboten.] Von D. T.
Aus dem Englischen übersetzt ^) von
Wohl fast alle Biologen sind heute einig dar-
über, daß die organisierte Materie gegenwärtig
Eigenschaften besitzt, die sie nicht von jeher oder
ursprünglich besessen hat; und weiterhin wird von
allen Seiten zugegeben, daß die Entwicklung des
Protoplasmas zu einem steten Erwerb neuer Eigen-
schaften führt und in der Bildung neuer Typen,
Arten oder Spezies von Organismen sich offenbart.
Mit anderen Worten: die Zahl der Eigenschaften,
welche die organisierte Materie aufweist, nimmt
ebenso zu wie die Zahl der Formen, welche jene
Eigenschaften in der mannigfachsten Gruppierung
besitzen ; dabei findet gleichzeitig eine Differen-
zierung statt in der Art, daß sich eine .stetige Ver-
vollkommnung in der belebten Natur nachweisen
läßt. Faßt man diese Tatsachen genauer ins Auge,
so ergeben sich aus ihnen zwei Fragen von un-
geheurer Wichtigkeit: Auf welche Weise ist die
Entwicklung und Differenzierung der Organismen-
welt vor sich gegangen, und welches sind die
wirksamen Faktoren ? Über diese beiden Kardinal-
fragen sind schon ganze Bibliotheken geschrieben
worden. Allein die Mehrzahl der über sie ge-
Macdougal.
Dr. Walter Schoenichen, Schöneberg.
äußerten Ansichten war rein theoretischer Natur,
so daß es geradezu erschreckend ist, wie wenig
wirklich positive Anstrengungen zur Lösung jener
wichtigen Fragen gemacht worden sind. Glück-
licherweise ist die biologische Forschung end-
lich des Gelehrtengezänks überdrüssig geworden
und hat sich mit allem Eifer daran gesetzt, Tat-
sachen ausfindig zu inachen, die zu einer an-
gemessenen und befriedigenden Lösung jener vor-
nehmsten Probleme führen können. Namentlich
das statistische Studium der Variationen kann als
ein Ausdruck dieser neuen biologischen Richtung
angesehen werden.
LInter den Ausdrücken ,, diskontinuierliche Varia-
tion" oder „Mutation" sind zu verstehen diejenigen
autonomen physiologischen Prozesse, durch welche
ein oder mehrere Individuen einer Spezies eine
Nachkommenschaft hervorbringen, die Eigenschaften
oder Gruppen von Eigenschaften besitzt, die bei
ihren unmittelbaren Vorfahren nicht anzutreffen
') Wo das englische Original zu weit ins Spezielle ging
sind erhebliche Kürzungen vorgenommen. Der Übersetzer.
946
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. Go
waren, und die keinem der zur elterHchen Spezies
gehörenden Individuen bis dahin zukamen (pro-
gressive MutationI; andererseits können sich
unter der Nachkommenschaft einer Reihe von In-
dividuen einer Spezies auch Geschöpfe befinden,
denen von den Eigenschaften der Eltern einige
oder ganze Gruppen fehlen (r et regressive und
degressive Mutation). Die in solcher Weise
abweichenden oder mutierenden Individuen können
ihre spezifischen Charaktere ihrer Nachkommen-
schaft vererben und so zum Ausgangspunkte einer
neuen Formenreihe werden.
Die große Zahl von Pflanzenformen mit un-
normalen, teilweise völlig teratologischen Blättern,
Stengeln oder Blüten, die verschiedene Autoren
für Mutationen angesehen haben, macht es nötig
auf das Nachdrücklichste zu betonen, da.Q Beob-
achtungen, die sich nur auf ein einziges Indivi-
duum oder nur auf eine einzige Generation von
Individuen beziehen, fürdieUnterscheidungzwischen
fluktuierenden Variationen und Mutationen
einen nur ganz minimalen Wert haben. Ergeb-
nisse, die eines gewissen Wertes nicht entbehren,
kann man nur erhalten bei dem sorgfältigsten
Ausschlüsse von Krankheiten, Parasiten tierischer
sowohl wie pflanzlicher Natur, sowie von Bastar-
dierung und durch eine peinliche Analyse des
phylogenetischen Wertes der erhaltenen Abwei-
chungen, wie er bei der Beobachtung der folgenden
Generationen zutage tritt. Auf diese Weise, und
auf diese Weise allein, können sprungweise oder
diskontinuierliche Variationen unterschieden werden
von den Ergebnissen der gewöhnlichen, schwan-
kenden und individuellen Varation. Unter den
Begriff der Mutation fallen nur solche diskon-
tinuierliche Variationen, die in dem Besitze von
neuen Eigenschaften oder in dem Verlust alter,
bis dahin in dem elterlichen Typus vererbter
Charaktere, oder endlich in beiden Arten von
Alterationen gleichzeitig bestehen. Derartige Ver-
änderungen können bestehen entweder in einer
Verhüllung gewisser Eigenschaften des elterlichen
Typus oder in einer Enthüllung und Kräftigung
von Charakteren, die bis dahin im Organismus
der elterlichen Lebewesen schlummernd vorhanden
waren.
Die wesentlichen Unterschiede zwischen den
beiden Arten der Variation sind zuerst von Charles
Darwin erkannt worden, ausführlich untersucht hat
sie de Vries. Die von de Vries aufgestellten Er-
klärungen bedürfen vielleicht noch einiger, aller-
dings unerheblicher Abänderungen und Durch-
feilungen, um sie allgemein anwendbar zu machen.
So behauptet er, daß die kontinuierliche oder
fluktuierende Variation ausschließlich gemäß den
(Juetelet'schen Gesetzen erfolgt, und daß sie ledig-
lich Zahl, Größe und Gewicht der Organe betrifft,
Änderungen der Eigenschaften aber nicht hervor-
bringt. Mannigfaltige Kulturversuche jedoch, die
während der letzten Jahre angestellt wurden, haben
gelehrt, daß die Eigenschaften sowohl als auch
die Zahl, Größe und Struktur von Organen wesent-
liche Veränderungen erfahren können, ohne daß
die so erzeugten Variationen und Abweichungen
V e r e r b 1 i c h sein müßten. Der Unterschied
zwischen fluktuierender und mutierender Variation
wird demzufolge erst dann ein deutlicher, wenn
man den Erwerb neuer vererbbarer Eigen-
schaften zum Kriterium der Mutationsvorgänge
macht. Die Anwesenheit eines tierischen oder
pflanzlichen Parasiten kann nicht nur die morpho-
logischen Verhältnisse eines Organes verändern,
sondern kann auch ein vollständig verändertes
physiologisches Verhalten bedingen. Ein Beispiel
für den letzteren I-'all möge genügen : bei der gewöhn-
lichen Euphorbia können die affizierten Blätter ihre
geotropische Sensibilität derart verändern, daß sie
vom Diageotropismus übergehen zum Apogeo-
tropismus. Derartige Variationen sind indessen
nicht vererblich, und hierin liegt der Hauptunter-
schied zwischen Mutation und fluktuierender Varia-
tion begründet. Ein weiterer Unterschied besteht
darin, daß Mutationen schon in den Anfangs-
Stadien der individuellen Entwicklung erscheinen,
fluktuierende Variationen hingegen können in den
verschiedensten Stadien der individuellen Ent-
wicklung auftauchen, im Anfange der Entwicklung
höchstens bei einem bestimmten Organ; oder klarer
ausgedrückt: Die mutativen Veränderungen ent-
stehen mit dem betreft'enden Individuum zusammen,
sie sind nicht das direkte Produkt äufSerer Ein-
flüsse und sind durchaus vererbbar; die fluktuieren-
den Variationen entstehen unter dem Einflüsse
äußerer Einwirkungen auf den verschiedensten
Stadien der individuellen Entwicklung und sind
keineswegs vollständig vererbbar.
Viele Unklarheiten lassen sich des weiteren
vermeiden, wenn man sich genau einprägt, daß
wir mit dem Ausdruck „Spezies" zwei verschie-
dene Begriffe verbinden, deren einer sich auf die
Systematik gründet, während der andere auf die
physiologische oder sexuelle Verwandtschaft zurück-
geht. Der an zweiter Stelle gekennzeichnete Be-
griff betrachtet die Spezies als eine phylogene-
tische Gruppe, die gewisse Hauptcharaktere ver-
körpert und bestimmte Fähigkeiten und Beschaffen-
heiten besitzt, die naturgemäß keineswegs alle in
der äußeren Erscheinung ihren Ausdruck zu finden
brauchen. Die systematische Auffassung der Spezies
ist der obigen etwa parallel. In Praxis ist es in-
dessen unmöglich, Organisationszüge in Rechnung
zu ziehen, die in der Struktur nicht einen be-
stimmten, meßbaren Ausdruck finden, oder die
sich weder nach einem bestimmten physikalischen
Maßstabe bestimmen lassen, noch den Methoden
der Klassifikation sich fügen. So sind zahlreiche
Beispiele dafür bekannt, in denen zwei oder mehrere
Gruppen von Formen ebenso viele getrennte Ent-
wicklungsreihen darstellen; trotzdem aber sind sie
nach den klassifikatorischen Methoden nicht von-
einander zu trennen. Die hier vorliegenden
Erörterungen sind naturgemäß vom Standpunkte
der physiologischen Auffassung des Speziesbegriffes
aus zu betrachten.
N. F. m. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
947
Die Beobachtung- und Erwähnung deuthcher
Beispiele von diskontinuierlicher Variation ist fast
so alt wie die biologische Wissenschaft selbst.
Neuerdings aber ist sie durch die Forschungen
von de \Vies in den Brennpunkt des hiteresses
gerückt worden. Die Untersuchungen dieses For-
schers zielen darauf hin, nachzuweisen, daß die
Mutation bei der Entstehung neuer Spezies eine
überaus wichtige Rolle spielt. Aber schon vor
mehr als drei Jahrhunderten (i6go) bemerkte
Sprenger, ein Apotheker in Heidelberg, der Chili-
doiüuiii niajiis in seinem Garten kultivierte, das
plötzliche Auftreten eines neuen Typus mit ge-
zackten Blättern. Diese Form, die sich auch noch
durch andere Besonderheiten auszeichnete, erwies
sich als konstant und erhielt sich selbständig trotz
der Konkurrenz des elterlichen Typus; und so ist
es geblieben bis auf den heutigen Tag, ohne daß
irgend eine künstliche Selektion eingetreten wäre;
auch ist nirgends eine ähnliche Form gefunden
worden, deren Herkunft von dem Heidelberger
Originalbeet sich nicht hätte nachweisen lassen.
P^ine große Anzahl von weiteren Beispielen, in
denen ebenfalls die plötzliche Entstehung eines
neuen Typus mehr oder weniger sicher verbürgt
wird, zählt Korschinsky auf.
Von einer eingehenden historischen Darstellung
der Ansichten, die von den verschiedenen Autoren
im Laufe der Zeit über die diskontinuierliche
Variation geäußert worden sind, kann hier abgesehen
werden. Soviel sei indessen hervorgehoben, daß
Darwin in seinen früheren Schriften den sprung-
weisen Variationen eine gewisse Wichtigkeit bei-
mißt; später freilich scheint er diesen fruchtbaren
Gesichtspunkt aufgegeben zu haben unter dem
Drucke der Kritik, der all seine Äußerungen und
Ideen über den Ursprung der Spezies begegneten.
Koelliker's Theorie über die Transmutation ge-
wisser Elemente des Eies als eine Ursache der
Heterogenesis (1S64) darf des weiteren in diesem
Zusammenhange nicht unerwähnt bleiben.
Nach den Angaben von de Vries ist Dollo der
erste gewesen, der die Entstehung der Spezies
durch Mutation erklärte (1893). Bateson geht
(1894) in seiner Schrift „The Material for the
Study of Discontinous Variation" so weit, daß er
behauptet, die Diskontinuität der Spezies sei die
Folge von einer Diskontinuität der Variation.
Korschinsky hat dann (1899) eine wert\olle
historische Übersicht über die besser beglaubigten
Beispiele von der Entstehung neuer Typen durch
diskontinuierliche Variation gegeben. Gleichzeitig
stellt er einen Vergleich zwischen der Selektions-
und der Heterogenesistheorie an. Der Abdruck
dieser Abhandlung (Flora 89, pp. 240 — 363, 1901 )
enthält die vollständigste Liste der einschlägigen
Tatsachen sowie eine genaue Aufzählung der
Literatur und bildet somit einen Vorläufer für die
Untersuchungen von de Vries.
Die ersten sicheren, wissenschaftlichen Beob-
achtungen über die Entstehung neuer Typen durch
diskontinuierliche Variation verdanken wir nun
de Vries, der mit einem großen Aufwand von
Arbeit eine lange Reihe von Kulturversuchen mit
Ocnotlicra lamarckiana angestellt hat. Die haupt-
sächlichsten Tatsachen, die auf diese Weise er-
gründet wurden, lassen sich etwa in den folgenden
Sätzen zusammenfassen.
1. Die Beobachtungen wurden angestellt an
einer großen Anzahl von teils wild wachsenden,
teils unter Kultur befindlichen Pflanzen von dem
Typus der Ocnothera lamarckiana. Die Identität
der elterlichen Form wurde festgestellt durch Ver-
gleich mit den Origiiialbcschreibungen der Pflanze
aus dem letzten Jahrhundert sowie durch Ver-
gleich mit den typischen Exemplaren aus dem
Naturhistorischen Museum zu Paris, die im Jahre
1788 gesammelt waren.
2. Eine Reihe von Individuen des elterlichen
Typus brachten, gleichgültig ob durch Selbstbe-
fruchtung oder durch Kreuzung, Samen hervor, die
sich zu neuen, selbständigen und konstanten For-
men entwickelten, welche in ihrer Beschaffenheit,
Struktur, Erscheinung, sowie in ihren Eigenschaften
von dem elterlichen Typus abwichen.
3. Die abweichenden oder mutierenden For-
men lassen sich nach ihren Eigenschaften genau
in der gleichen Weise unterscheiden wie die so-
genannten „kleinen Arten" der Systematiker.
4. Weder zwischen den mutierenden Formen
noch zwischen den letzteren und dem elterlichen
Typus wurden Zwischenformen gefunden.
5. Daß die mutierenden Formen in der Tat
Gruppen von einem phylogenetischen Werte dar-
stellen, wurde bewiesen durch ihr Verhalten, wenn
sie untereinander, mit der elterlichen Form oder
endlich mit einer anderen Spezies derselben Gattung
gekreuzt wurden. Die mit diesen Formen ange-
stellten Bastardierungsversuche haben gleichzeitig
einen genauen Aufschluß über das Übergewicht
der phylogenetisch älteren Eigenschaften geliefert,
da ja die mutierenden Exemplare Formen dar-
stellen, deren Alter genau bekannt ist. Unter den
Blendlingen zwischen Oe. lata und Oe. nanella
einerseits und der elterlichen Form andererseits
waren die Hälfte bis drei Viertel von dem elter-
lichen Typus; der Rest folgte dem mutierenden
Typus. Die Kreuzung von mehreren mutierenden
Formen untereinander, liefert eine Nachkommen-
schaft, bei der zahlreiche Individuen Rückschlags-
erscheinungen aufweisen. Die mit Mutationen ver-
sehenen Bastarde erhalten sich in den Folgegenera-
tionen konstant. Das getrennte Auftreten von ent-
gegengesetzten Eigenschaften in den ersten Genera-
tionen ist für die Theorie von den Elementar-
eigenschaften und für die Mutationstheorie von
großer Bedeutung.
6. Die neuen Typen waren entweder konstant
von Anfang an, oder schwach, unbeständig und
vergänglich ; im letzteren h'alle zeigten sie jedoch
keinerlei Neigung zum Rückschlag auf den elter-
lichen Typus, auch ließ sich ihre Konstanz oder
Festigkeit durch künstliche Selektion in keiner
Weise verstärken.
948
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
7. Gleiclizeitig können mehrere mutierende
Formen von denselben Elternindividuen ihren Aus-
gang nehmen.
8. Eine mutierende Form kann gleichzeitig
von verschiedenen Elternindividuen ihren Ursprung
nehmen.
9. Die mutierenden Formen können ihren Ur-
sprung von verschiedenen, aufeinander folgenden
Generationen des elterlichen Typus nehmen.
10. Die mutierenden Formen können nach ihrer
Trennung von dem elterlichen Typus ihrerseits
wieder neue Typen hervorbringen.
Die vorstehenden Sätze gründen sich auf eine
sorgfältige Beobachtung von Kulturen und be-
dürfen keiner näheren Erklärung. Wenn demnach
also an der Existenz einer Mutation nicht gezweifelt
werden kann, so fragt es sich des weiteren, wie
häufig diese Naturerscheinung ist, wo man ihr be-
gegnet, wie sie zustande kommt, und ob sie vor-
nehmlich oder gar ausschließlich bei der Ent-
stehung neuer Spezies in Betracht kommt. Ziehen
wir diese Punkte in den Kreis der Betrachtung,
so betreten wir das Gebiet der Spekulation. Be-
vor wir jedoch hierzu übergehen, wird es nützlich
sein, wenn wir uns die wichtigsten der auf unsere
Frage bezüglichen Tatsachen kurz vergegenwärtigen.
Was zunächst das Vorkommen der diskon-
tinuierlichen Variationen im Pflanzenreiche angeht,
so seien die folgenden nach Korschinsky zitierten
Beispiele angeführt : Eiythrina crista galli wurde
im Jahre 1771 in Kultur genommen und zeigte
erst nach Ablauf von 37 Jahren abweichende For-
men; Cyclmiicn persicitin gab erst nach einer 120-
jährigen Beobachtungszeit ungewöhnlichen Formen
den Ursprung; Begouia scnipcrflorens lieferte nach
50 Jahren die ersten Mutationen; bei Ipoiiioea pur-
pur ea konnten innerhalb einer 120-jährigen Be-
obachtungszeit keinerlei Abweichungen festgestellt
werden.
De Vries beobachtete von hundert Spezies, die
in der Umgebung von Amsterdam wachsen, wäh-
rend der Jahre 1S86 und 1887 Tausende von In-
dividuen, aber er fand Mutation nur bei einer ein-
zigen, nämlich bei Ocnothera laniarckiana. Der-
selbe Forscher führt aus, daß Pflanzenreste, die
man in 4000 Jahre alten Mumiengräbern auffand,
in allen erkennbaren Charakteren mit den heute
lebenden Formen genau übereinstimmen. Auf
Grund einer derartigen, freilich nur rohen Prüfung
kommt de Vries zu dem Schlüsse, daß die Ele-
mentarcharaktere einer höheren Pflanzenspezies
einige tausend Jahre lang — bei Ocnothera z. B.
vielleicht 6000 Jahre hindurch — sich erhalten.
Wenn man die seit dem ersten Auftreten des
Lebens bis jetzt verflossene Zeit nach den An-
gaben Lord Kelvins abschätzt, so würde sich er-
geben, daß das Intervall, das die Mutationsperioden
der Pflanzen voneinander trennt, im Durchschnitt
etwa einige tausend Jahre betragen müßte. Andere
Autoren haben wieder geschlossen, daß für die
Entwicklung der sämtlichen Formen des Tier- und
Pflanzenreiches durch die Wirkung der natürlichen
Zuchtwahl eine Zeitdauer von mindestens zehn-
mal größerer Länge als die oben erwähnte, d. h.
eine solche von 25 Hundert Millionen Jahren not-
wendig gewesen wäre. Beide Rechnungsarten sind
zwar ganz interessant, haben aber für die Lösung
der vorliegenden Fragen keine weitere Bedeutung.
Man erinnere sich nun daran, daß die ver-
schiedenen Theorien, die über den Ursprung der
Spezies geäußert worden sind, sich nach der Mei-
nung der betreffenden Autoren gegenseitig aus-
schließen, und daß es nach der Ansicht zahlreicher
Biologen für ausgemacht gilt, daß all der
Reichtum an organischen Geschöpfen, denen des
Pflanzenreichs sowohl, wie denen des Tierreichs,
im wesentlichen durch die Wirkung eines einzigen
biologisches Prozesses hervorgebracht worden ist.
Bei dem jetzigen Stande der biologischen Wissen-
schaften sollte man sich freilich vor einer der-
artigen vorzeitigen Verallgemeinerung hüten.
Die große Anzahl der kritischen Untersuchungen,
die sich mit den Bastarden und mit der Bastar-
dierung beschäftigt haben, haben nämlich gezeigt,
daß Spezies auch durch Kreuzung Zustandekommen
können. In derartigen P'ällen bestehen die neuen
Typen entweder in neuen Kombinationen oder im
Auftreten von Rückschlagserscheinungen, d. h. es
können also bei einer derartigen Vereinigung zweier
Typen keinerlei neue Charaktere in Erscheinung
treten. Indessen muß man sehr vorsichtig den
Entstehungsprozeß einerPflanzenform verfolgt haben,
bevor man sie mit einiger Sicherheit als einen
Bastard zwischen anderen gegebenen Formen an-
sprechen-darf. Soviel aber ist sicher, daß die
Bastardierung gelegentlich zur Entstehung neuer
Arten führen kann, und es ergibt sich hieraus der
Schlufj, daß im Pflanzenreiche mehrere verschiedene
Vorgänge die Bildung neuer Typen veranlassen
können.
Auch de Vries gibt zu, daß Spezies auf verschiede-
nem Wege entstehen können, aber er nimmt an, daß
die natürliche Zuchtwahl dabei nicht von erheblicher
Bedeutung ist. Er macht ferner darauf aufmerk-
sam, daß Darwin wiederholt versichert hat, daß
die Entstehung von Eigenschaften sehr lang-
sam von statten geht, während der Verlust von
Eigenschaften plötzlich erfolgen könne, oder mit
anderen Worten, daß die retrogressive und de-
gressive Speziesbildung durch diskontinuierliche
Variation oder Mutation erfolge.
Es ist nötig, darauf hinzuweisen, daß der Aus-
druck ,, natürliche Zuchtwahl" wenigstens in dem
Sinne, wie er gewöhnlich verstanden wird, bei der
Frage nach der Entstehung der Spezies durch
Mutation nicht ohne weiteres verwendet werden
darf. Die natürliche Zuchtwahl setzt konstante
und progressive Variationen in einer oder mehreren
Richtungen voraus, und es bleiben die mit den
besten Einrichtungen versehenen als die geeignet-
sten übrig und bilden den Ausgangspunkt für die
folgenden Generationen. Durch das konstante und
wiederholte Überleben des am besten ausgerüsteten
erreicht die Abweichung von der Urform allmäh-
N. F. m. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
949
lieh einen solchen Grad, daß man von einem
neuen Typus sprechen kann. Bei den mutieren-
den Formen, die durch diskontinuierliche Variation
von einer Urform ihren Ausgang nehmen, und
zwar eventuell nach den mannigfaltigsten Rich-
tungen, braucht keine einzige besser ausgerüstet
zu sein als die elterliche Form. Es ist wahr-
scheinlich, daß viele Tausende von Mutationen in
Existenz treten, bevor eine sich findet, die neben
dem Elterntypus existenzfähig ist. Der wieder-
holte Untergang einer noch so langen Folge von
Mutationen kann den Charakter der späteren dis-
kontinuierlichen Derivate in keiner Weise beein-
flussen. Jede mutierende Form, die überleben soll,
muß nicht nur den Bedingungen ihrer Umgebung an-
gepaßt sein, sondern sie muß auch eine derartige
Beschaffenheit besitzen, daß sie die Konkurrenz
mit den bereits vorhandenen Typen, hinter denen
sie an Zahl weit zurücksteht, mit Erfolg aufnehmen
kann. Sie muß gewissermaßen sofort festen Fuß
fassen. Jede mutierende Form ist potentiell eine
Spezies, und die Selektion äußert sich lediglich
darin, daß sie bestimmt, ob der neue Typus lebens-
fähig ist oder nicht. Aber diese Selektion hat
absolut nichts zu tun mit der Entstehung der
überlebenden Form.
So hatte sich von den 16 mutierenden For-
men, die de Vries entdeckt hat, eine bereits durch-
gesetzt, als sie aufgefunden wurde. Vielleicht wäre
es auch noch einer oder zweien von den anderen
gelungen, festen Fuß zu fassen; aber die Mehrzahl
der neuen Formen wäre unfehlbar zugrunde ge-
gangen, wenn sie der Konkurrenz mit den herr-
schenden Spezies ausgesetzt worden wäre.
Was ferner die Ursache der Mutation und
denMechanismusdesMutationsprozesses
anlangt, so kann über diese Punkte bis jetzt nur
die eine oder die andere Vermutung geäußert
werden. Korschinsky nimmt an, daß Erblichkeit
und Variabilität entgegengesetzte Kräfte oder Be-
strebungen sind, die sich in der Regel im Gleich-
gewichte befinden. Äußere Einflüsse, wie z. B.
eine gute Ernährung durch mehrere Wachstums-
perioden hindurch, können der Variabilität die
Oberhand über die stabile Erblichkeit verschaffen
und so zur Entstehung neuer Formen die Ver-
anlassung geben. Unser Gewährsmann vermutet
weiter, daß jene Einflüsse, die die zur Mutation
führende Konstitution schaffen, auf den im Samen
sich entwickelnden Embryo einwirken; in welcher
Weise dies freilich stattfinden soll, dafür stellt er
keine weitere Hypothese auf Übrigens stehen
diese Annahmen in direktem Gegensatze zu den
Vorstellungen Darwin's, welcher meinte, daß die
Entwicklung neuer Typen um so rascher erfolge,
je heftiger der Kampf ums Dasein innerhalb einer
Spezies entbrannt wäre.
De Vries hat zur Erklärung der Mutation die
sogenannte Pangenesishypothese benutzt. Nach
dieser besteht das Protoplasma aus lauter ideal
klein gedachten Partikelchen, den sogenannten Pan-
genen, die die lebende Substanz ausmachen. Die
Pangene und Gruppen von Pangenen sind die
Träger der Elementareigenschaften der Spezies.
Störungen in dem numerischen Verhältnis der Pan-
gene führen zu der fluktuierenden Variabilität. Die
Inaktivität der Pangene und ganzer Gruppen von
solchen führt zur degressiven oder retrogressiven
Mutation. Die Entstehung neuer Charaktere durch
progressive Mutation hängt ab von der Entwick-
lung neuer Pangene. Werden bei verschiedenen
Spezies gleichartige I^angene gebildet, so führt dies
zu parallel verlaufenden Mutationen.
Über die Vorgänge, die der Mutation vorauf-
gehen, über die sogenannte Prämutation, ist
bis jetzt wenig Sicheres zu sagen. Mutationen der
höheren Pflanzen werden zuerst an den Samenpflänz-
chen deutlich, doch müssen wohl Abweichungen
von den vererbten Eigenschaften bereits stattfinden
bei der Bildung der Sexualelemente, deren Ver-
einigung den mutierenden Embryo liefert. Aus
dem vorstehenden geht hervor, daß der Muta-
tionsprozeß entweder in Zusammenhang stehen
kann mit dem vegetativen Körper, oder mit den
Sexualelementen.
Wenn die prämutativen Abweichungen die
vegetativen Protoplasten eines sich selbst be-
fruchtenden Individuums betreffen, so werden die
beiderlei Gameten vermutlich die gleichen Charak-
tere mitbringen bei ihrer Vereinigung. Wenn
andererseits die Prämutation eins der Sexualele-
mente betrifft, oder wenn sie sich in den vege-
tativen Zellen einer Spezies einstellt, die nur bei
Fremdbestäubung friichtbar ist , so ist der ent-
stehende Embryo das Resultat von der Vereini-
gung eines mutierenden Gameten und einer regel-
mäßig vererbten Form. In gewissem Sinne kann
man diese Art von Mutationen als Bastardierungen
auffassen. Diese theoretischen Ausführungen scheinen
eine Stütze zu gewinnen durch das Verhalten von
Oe. lata, einer mutierenden Form, die ausschließ-
lich Stempelblüten besitzt. Wird sie mit Pollen
von der elterlichen Pflanze [Oe. lamarckiand) be-
legt, so liefert sie Exemplare von Oe. lata und
Oe. lamai'ckiana.
De Vries nimmt an, daß die Ursachen, die zu
einer Mutation führen, teils äußere,' teils innere
sind. Die bei dem Prozeß unentbehrlichen äußeren
Faktoren können vermutlich nur gelegentlich in
Wirksamkeit treten, je nachdem, ob die Bedin-
gungen günstig liegen oder nicht. —
In der Absicht, die Haupttatsachen der Mutation,
wie sie in dem Betragen der Oenotheren zutage
treten, unter Standortsbedingungen, die von den-
jenigen von Amsterdam abwichen, zu prüfen, wur-
den Samen von Oe. laviarckiana, Oe. rubrinervis,
Oe. lata., Oe. nanella, Oe. brevistylis und Oe. gigas
von Professor de Vries bezogen und in dem Pflanz-
haus des New Yorker botanischen Gartens am
15. März 1902 ausgesät. Nachdem die Keimung
erfolgt war, wurden die Kulturen fortgesetzt einer
sehr genauen Beobachtung unterworfen. Nament-
lich wurde das Verhalten der mutierenden Formen
Oe. rubrinervis und nanella zu dem elterlichen
9SO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
Typus einer eingehenden Untersuchung ausge-
setzt.
Was nun die elterliche Spezies anbetriftt, so
muß betont werden, daß sie durch lange Zeit-
läufte hindurch keinerlei bemerkenswerte Ab-
weichungen gezeigt hat. Die Samen, von denen
sich das bei den Experimenten benutzte Material
herleitete, stammten von einem Beete von S'Grave-
land bei Amsterdam. Hier hatte man der Pflanze
gestattet, sich über die umliegenden Ländereien
zu verbreiten, so daß sie im Jahre 1884 bereits
ein Terrain von etwa 2800 qm bedeckte. Unter
diesem Materiale fand de Vries 1886 eine Form,
die von dem elterlichen Typus so stark abwich,
daß sie als neue Spezies aufgefaßt werden kann.
Diese mutierende Form (Oe. brevistylis) erhielt
sich an der genannten Lokalität zwölf Jahre hin-
durch.
Was die Vorgeschichte der elterlichen Form
{^Oe. lamarckiatid) angeht, so hat Miß A. M. Vall
hierüber folgende Daten ermittelt :
Im naturhistorischen Museum zu Paris befinden
sich zwei Exemplare — eins davon stammt aus
dem Jahre 1788 — die nach de Vries' eigener
Angabe mit Oe.lamarckiana genau übereinstimmen.
Eine Pflanze nun mit den Charakteren dieser F"orm
ist in Nordamerika wild wachsend bis auf den
heutigen Tag nicht gefunden worden. Interessant
sind daher die folgenden Daten über die Geschichte
von Oe. lamarckiana , soweit sie vor 178S fällt:
Linne gibt an, daß Oe. biennis 1614 oder 1620
nach Europa gebracht worden ist, wo sie sich bis
gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts in Belgien,
Holland, Frankreich, Deutschland und Italien aus-
breitete, teils spontan teils in den botanischen
Gärten.
Unter den vorlinneischen Autoren nennt Tourne-
fort (1700) neun Spezies von Onagra. Darunter
befindet sich eine Form, deren Kennzeichnung den
Charakteren von Oe. lamarckiana am nächsten
kommt. Es erscheint demnach als ausgemacht,
daß im Jahre 1635 im Botanischen Garten zu
Altdorf eine großblütige Oenotitcra wuchs, die mit
Oe. lamarckiana vielleicht identisch ist. Der erste
sichere Beleg für die fragliche Spezies datiert dann
aus dem Jahre 1788. Von diesem Zeitpunkte an
hat sich die Form sowohl wildwachsend als auch
in den botanischen Gärten konstant erhalten.
Nach dem gegenwärtigen Stande unserer Kennt-
nisse ist Oe. lamarckiana also eine Form, die
wildwachsend in der Flora keines Landes gefunden
wird, so daß in betreff ihres Ursprunges zwei
Möglichkeiten in Betracht kommen: einmal ist
denkbar, daß sie in einer entlegenen Gegend von
Virginien heimisch gewesen ist, wo sie durch die
Fortschritte der Kultur ausgerottet wurde, so daß
die wildwachsende Form nicht mehr aufzufinden
ist; oder sie hat durch plötzliche, diskontinuier-
liche Variation von Oe. biennis in dem botanischen
Garten zu Padua, Altdorf oder sonst wo ihren
Ursprung genommen genau in der gleichen Weise,
wie die von de Vries beobachteten Formen ent-
standen sind; wenigstens sind keine Zwischen-
formen bekannt.
Was nun die Ergebnisse der in New York an-
gelegten Kulturen betrifft, so erreichten von den
Samenpflanzen der von Oe. lata erzielten Blend-
linge nur elf ihre volle Entwicklung; von diesen
waren zwei konform mit Oe. lata während die
übrigen nach Oe. lamarckiana geraten waren. Oe.
lata bringt ihre Staubfäden nicht zu voller Ent-
wicklung, läßt sich aber mit Pollen der elterlichen
Pflanze belegen. Das obige Kulturergebnis stimmte
übrigens genau überein mit den Regeln , die das
Zahlenverhältnis zwischen den dem elterlichen
Typus und den der mutierenden Form folgenden
jungen Pflänzchen zu beherrschen pflegen. De
Vries fand nämlich, daß etwa 18 — 20 "/q dem
mutierenden und der Rest dem elterlichen Typus
angehören. Die amerikanischen Versuche stimmen
mit diesen Befunden gut überein.
Oe. nanella entstand im Jahre 1888 in den
Kulturen von de Vries und hat sich seitdem
16 Jahre hindurch erhalten. Die Unterschiede
zwischen dieser Form und der elterlichen sind
derart, daß einige Systematiker Oc. nanella nur
als eine Varietät ansehen wollen, obgleich ihr Ver-
halten und ihre physiologischen Eigenschaften kon-
stant und leicht erkennbar sind. Während der
i8-monatlichen Beobachtungszeit in Amerika zeigte
sich, daß die Pflanze namentlich in ihrem Jugend-
und Endzustande von dem elterlichen Typus ab-
weicht, während im Zustande der voll ausgebildeten
Rosette beide Formen eine große Ähnlichkeit auf-
weisen. Der auffälligste Charakter ist die geringe
Größe, die sowohl die jugendliche Pflanze wie die
erwachsene aufweist. Außerdem neigt der Stengel
wenig zur Verzweigung und wird nicht höher als
20 — 25 cm, d. h. etwa Vi der Länge der elter-
lichen Pflanzen, die ferner durch den Besitz von
zahlreichen Verästelungen ausgezeichnet sind. Die
zuerst gebildeten Blätter haben sehr breite Blatt-
flächen und sind kurz gestielt. Die späteren
Blätter gleichen mehr denen des elterlichen Typus,
aber unterscheiden sich von ihnen immer noch
durch ihre kürzeren Stiele. Der letztgenannte
Charakter hat zur Folge, daß die Rosette ein ge-
drungenes Aussehen erhält. Die Blattflächen sind
an der Basis gewöhnlich herzförmig ausgeschnitten,
der Umriß ist eiförmig bis langeiförmig, der Rand
ist sparsam gezähnt. Die Pflanzen blühten erst
drei Wochen später als der elterliche Typus und
Oe. rubrinervis. Von den Merkmalen, die de \^ries
angegeben hat, wurden keinerlei Abweichungen
gefunden.
An den Pflänzlingen von Oe. rubrinervis zeigte
sich, daß sie durch den Besitz von schmäleren
Blättern ausgezeichnet waren. Die Rosetten waren
dem Boden sehr dicht angepreßt. Die Ränder
der langgestielten Blätter waren in diesem Stadium
der Entwicklung eingerollt. Bemerkt sei hier, daß
Vergleiche von Blattformen verschiedener Typen
nur dann einen Wert haben, wenn die beiden zu
vergleichenden Organe von korrespondierenden
N. F. m. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
951
Sprossen entnommen werden. Die Blattflächen
von Oe. rubriiiervis sind des weiteren gröber ge-
zähnt als die des elterlichen Typus; ihre Mittel-
rippen haben gelegentlich einen rötlichen Anstrich.
Überhaupt zeigt die ganze untere Partie des
Stengels eine Neigung zur Bildung von Anthocyan.
Besonders bemerkenswert ist noch die bei den
jungen Pflanzen zutage tretende Brüchigkeit der
Blätter und des Stengels, die durch starke Tur-
geszenz des Gewebes sowie durch die mangel-
hafte Entwicklung des Stützgewebes sich erklärt.
Schon de Vries hat auf diese Erscheinungen die
Aufmerksamkeit gelenkt und bemerkt, daß die
Wandungen der Bastelemente dünner sind als bei
dem elterlichen Typus.
Die Blätter der vollentwickelten Rosette er-
scheinen silberig-weil3, da die auf der Ober- und
Unterseite vorhandenen Haare länger und zahl-
reicher sind als bei dem elterlichen Typus. Der
brüchige Charakter, wie ihn die Gewebe von
rubrinervis zur Schau tragen, scheint sich auch
auf die Haare der Blätter auszudehnen, denn an
getrockneten Exemplaren lösen sich diese Gebilde
leicht ab.
Ein weiterer Unterschied zwischen Oe. lainarcki-
ana und Oc. rubrinervis beruht auf der Art der
Verzweigung und auf der Länge der Zweige. Bei
der ersteren sind die von der Basalregion des
Stengels sich erhebenden Zweige mehr als halb
so lang wie der Stengel selbst, ein Merkmal, das
sich auch bei der letzteren wiederfindet. Die oberen
Zweige hingegen bleiben bei lainarekiana kurz
und stämmig, während sie bei rubrinervis eine
größere Länge erreichen und aufwärts wachsen,
so daß die Pflanze ungefähr einen kugeligen Umriß
erhält.
Die Mehrzahl der Organisationszüge , in
denen Oc. rubrinervis von der elterlichen Form
abweicht, ist derart, daß die neue Form mehr für
ein Gedeihen unter trockneren Lebensbedingungen
geeignet zu sein scheint.
Oe. rubrinervis entstand in den Kulturen von
de Vries im Jahre 1899 und hat sich unabhängig
und selbständig in der Konkurrenz mit der elter-
lichen Form erhalten.
De Vries hat in seinen Kulturen von Oe. la-
marckiana noch das Auftreten von Anzeichen be-
obachtet, daß die Mutationsperiode der elterlichen
Form noch nicht vorüber ist ; in den im New
York Botanical Garden angelegten Kulturen konnten
keinerlei Abweichungserscheinungen von den nor-
malen Eigenschaften der Stammform aufgefunden
werden.
Die Blätter von Samenpflanzen von Oe. la-
inarekiana sind von denjenigen von lata, nanella
und rubrinervis in ihren früheren Entwicklungs-
stadien sehr leicht zu unterscheiden, weniger scharf
ist der Unterschied gegenüber Formen wie brevi-
stylis und leptoearpa. Die ersten Blätter des Stamm-
typus sind eiförmig mit abgerundeter oder manch-
mal leicht zugeschärfter Spitze. Diese Blätter
sowohl wie die in einem Alter von fünf Monaten
gebildeten sind deutlich gestielt und besitzen eine
relativ schmale Spreite. Die Blätter der voll ent-
wickelten Rosette sind mit Blattstielen versehen,
haben eine breite Spreite und eine stumpfe Spitze.
Die Ränder der erstgebildeten Blätter sind stets
sparsam aber deutlich gezähnt.
Zusammenfassung.
Daß durch diskontinuierliche Variation neue
Spezies entstehen können, hat bereits Darwin bei
seinen Studien über den Einfluß der Domestikation
auf Tiere und Pflanzen erkannt, aber er war der
Meinung, daß die so entstandenen Formen nicht
fähig wären, sich selbständig zu erhalten (1S68).
Andererseits äußerte Galton den Gedanken, daß
die Entwicklung nicht notwendig nur in ganz
kleinen Schritten vorwärts gehen müsse (1889),
aber erst Dollo hielt die diskontinuierliche Varia-
tion für die vorherrschende Methode der Entstehung
neuer Formen (1893). Nach weiteren Vorarbeiten
von Bateson (1894) und Korschinsky (1899) ließ
dann de Vries seine „Mutationstheorie" ( 1 901 — 1 903)
erscheinen, in der die ersten systematischen Ver-
suche über das ganze Thema veröffentlicht wurden.
Die elterliche Form Oe. lainarekiana, die nach
den Beobachtungen von de Vries eine Reihe von
mutierenden Typen lieferte, hat sich in ihren
Charakteren seit langem konstant erwiesen. Diese
elterliche Form ist mit keiner bekannten Pflanze
der amerikanischen Flora identisch, wohl aber
scheint sie nahe Beziehungen zu haben zu einer
Form namens Onagra (Oenothera) bicnnis grandi-
flora, die vielleicht auch durch Mutation ent-
standen ist.
Die von der elterlichen Form sich herleitenden
mutierenden Typen sind in ihren Eigenschaften kon-
stant, ohne daß Zwischenformen aufzufinden wären.
Es zeigte sich dies unter anderem in den Kulturen,
die im New York Botanical Garden während der
Jahre 1902 und 1903 angelegt wurden. Die mu-
tierenden Formen unterscheiden sich von dem
elterlichen Typus nicht nur durch physiologische,
sondern auch durch klassifikatorische Eigentümlich-
keiten. Des weiteren erwies sich der Spezies-
charakter der mutierenden Formen durch ihr Ver-
halten bei Bastardierungen.
Aus den bis jetzt gewonnenen Ergebnissen geht
so viel hervor, daß die Frage von der Entstehung
der Spezies durch Mutation sich verknüpfen muß
mit einer genauen Untersuchung der Abstammungs-
linien der einzelnen Tier- oder Pflanzenformen und
mit Beobachtungen über die Nachkommenschaft
von Organismen, deren Abstammung bekannt ist.
Auf demselben Wege allein wird man auch die
mutierenden Formen von Blendlingen , von In-
dividuen mit nicht vererbbaren oder teratologischen
Charakteren unterscheiden können. Aus diesen
Gründen können Einwände gegen die Mutations-
theorie auch nur auf Grund von Tatsachen,
nicht aber auf einer lediglich theoretischen Grund-
lage erhoben werden. Besonders gefehlt hat in
dieser Beziehung Vernon (1903). Dieser Autor
952
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
behauptet: „Oenothera lamarckiana ist wahrschein-
lich eine Gartenvarietät von Oe. biennis oder mög-
licherweise eine Bastardform, so daß die Mutationen,
die de Vries erhielt, mehr oder weniger vollständige
Rückschlagsformen auf die Vorfahren der Stamm-
pflanze darstellen." Sicherlich ist möglich, daß
Oe. lamarckiana sich von demselben Typus wie
Oe. biennis ableitet; die erstere Form aber als
eine Gartenvarietät zu bezeichnen, und sie damit
als ein zu den fraglichen Untersuchungen untaug-
liches Material zu charakterisieren, ist eine leere
Ausflucht. Die fragliche Pflanzenform hat sich
115 Jahre hindurch , während deren sie unter
ständiger Beobachtung stand, konstant erhalten und
erweist sich durch ihre anatomische Struktur und
durch ihr physiologisches Verhalten als nichts
anderes, denn als eine durchaus unabhängige Form.
Mit welcher Spezies könnte denn wohl auch biennis
gekreuzt sein, so daß lamarckiana als Blendling
herausgekommen wäre.? Das ganze Genus um-
faßt bekanntlich eine nur geringe Anzahl von
Typen, die sämtlich in Nordamerika heimisch sind.
Keine davon könnte 'ovA. biennis zusammen la-
marckiana als Bastard erzeugt haben. Eine der-
artige Annahme hat auch keine einzige Tatsache
für sich.
Weiterhin ist es auch unmöglich, die mutieren-
den Formen aufzufassen als Rückschlagsformen auf
die Vorfahren von lamarckiana, da diese mutieren-
den Typen Eigenschaften besitzen, die keinem
anderen Mitgliede der ganzen Gattung mit Ein-
schluß von biennis zukommen.
Wenn ferner Bateson und Saunders (1902) dar-
auf hinweisen, daß der Pollen von lamarckiana
deformierte Körner enthält, und wenn sie daraus
folgern, die fragliche Form sei ein Bastard, so
wird diese Argumentation entkräftigt durch den
Hinweis auf die Tatsache, daß Pflanzen von biennis,
die in der Umgebung von New York angetroft'en
wurden, weit mehr deformierte Pollenkörner pro-
duziert hatten als die Exemplare von lamarckiana,
die im New York Botanical Garden kultiviert
wurden.
Eine Erklärung für die Mutation zu geben, oder
ihre Häufigkeit zu berechnen, ist vorderhand un-
möglich. Diese Punkte erfordern noch eine vielfache
Untersuchung. Mit bloßen theoretischen Er-
wägungen wird man allerdings auf diesem Gebiete
nicht weiter kommen ; hier bedarf es vielmehr der
Ausführung von Experimenten unter solchen Um-
ständen, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist.
Es ist keineswegs der Zweck des vorliegenden
Aufsatzes, all die verschiedenen Theorien zu dis-
kutieren, die über die Entstehung der Spezies bis-
her aufgestellt worden sind; sondern es sollten
vielmehr nur diejenigen Tatsachen ins Auge ge-
faßt werden, auf welche die Lehre von der Ent-
stehung der Arten durch diskontinuierliche Varia-
tion sich gründet. Diese Tatsachen führen mit
unabweisbarer Notwendigkeit zu dem Schluß, daß
neue Typen, die den Wert von Spezies haben und
sowohl konstant als auch klassifikatorisch unter-
scheidbar sind, ohne daß Zwischenformen aufge-
treten wären, von Oenothera durch diskontinuier-
liche Variation ihren Ursprung genommen haben.
Daß aber die Mutation die vornehmlichste Me-
thode für die Entstehung neuer Arten wäre, das
ist bislang keineswegs bewiesen. Andererseits hat
es sich als ein Irrtum herausgestellt, daß die natür-
liche Zuchtwahl überall vorherrschend ist. Man
kann daher wohl sagen, daß es bewiesen ist, daß
Spezies durch Mutation entstehen können. Es sind
aber auch F"älle bekannt, in denen Spezies durch
Hybridation entstanden. Und es läßt sich nicht
leugnen, daß die Entstehung neuer Spezies durch
natürliche Zuchtwahl und durch Anpassung nicht
unwahrscheinlich ist. Überhaupt weist keine Tat-
sache aus dem ganzen Reiche der belebten Schöp-
fung darauf hin, daß alle Spezies auf eine und
dieselbe Weise entstanden sein müßten, oder daß
nur eine einzige Kraft in dieser Richtung wirksam
wäre.
Flügelgröße und Körpergewicht.
Von Robert v. Lendenfeld.
Eine Reihe von Forschern, darunter auch ich,
haben Messungen und Wägungen fliegender Tiere
vorgenommen und Untersuchungen über die Be-
ziehungen zwischen der Größe der Flügelflächen
und dem Körpergewicht verschiedener Arten an-
gestellt. Es sind solcherart einige hundert Spezies
von Fledermäusen, Vögeln und fliegenden Insekten
untersucht worden. In der folgenden Tabelle sind
das Gewicht, die Flügelfläche und das Verhältnis
der letzteren zu ersterem, bei einigen typischen,
verschiedenen systematischen Gruppen von fliegen-
den Tieren angehörigen Arten angegeben. In
dieser Tabelle sind die Tiere nach ihrem Körper-
gewicht geordnet.
Tier
Albatroß
Diomedea exulans
Trappe
Otis tarda
Seeadler
Haliaetus albicilla
Storch
Ciconia alba
Gesarat-
gewicht
d. Körpers
in Gramm
9600
5000
2265
Gesamt-
fläche der
Flügel in
Quadrat-
zenti-
metern
Auf I g
Körper-
gewicht
kommen
qmm
Flügelfläche
8000
5937
7937
4506
67
62
160
199
N. F. III. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
953
Tier
Gesamt-
gewicht
d. Körpers
in Gramm
Gesamt-
fläche der
Flügel in
Quadrat-
zenti-
metern
Auf I g
Körper-
gewicht
kommen
qmm
Flügelfläche
1630
SSo
2380
12S6
608
680
662
186
144
76
1 10
62
50
18,64
13.3
1,03
1 1,2
13>94
9,28
o>39
0,18
118
88
230
216
105
207
261
33°
186
430
200
611
427
J3
Fliegender Fuchs 1380
Pteropus edulis
Fasan
Phasianus colchicus
Silbermöwe \ 1035
Larus argentatus
Krähe 595
Corvus cornix
Rebhuhn 320
Perdix cinerea
Taube 293
Columba livia
Turmfalke 260
Falco tinnunculus
Lachmöwe 197
Larus ridibundus
Drossel 100
Turdus pilaris
Segler 33,5
Cypselus apus
Spatz 28
Passer domesticus
Schwalbe 18
Hirundo rustica
Kohlmeise 14,5
Parus major
Kleine Fledermaus 3,7
Vespertilio pipistrellus
Ligusterschwärmer 1,92
Sphinx ligustri
Plattbauch-Libelle 0,6
Libellula depressa
Hummel 0,44
Kombus pratorum
Schwalbenschwanz 0,34
Papilio podalirius
Jungfern-Libelle 0,2
Calopteryx virgo(Weibchen
Kohlweißling o,oS
Pieris brassicae
Biene 0,074
Apis mellifica (Arbeiterin)
Stubenfliege 0,01
Musca domestica
Mücke
Culex pipiens
Wenn man diese Tabelle überblickt, so erkennt
inan, daß bei den fliegenden Tieren das Verhält-
nis der Flügelfläche zum Körpergewicht nicht,
wie von vorn herein zu erwarten wäre, ein kon-
stantes, sondern ein ungemein schwankendes ist.
So hat die Trappe auf i Gramm Körpergewicht
nur 62 , der Kohlweißling aber 1 1 600 Quadrat-
millimeter Flügelfläche. Wenn man genauer zu-
sieht, so findet man, daß diese, in den Unter-
schieden der Verhältniszahlen zum Ausdruck
971
2Zl6
234
3294
6970
1 1600
528
1800
kommenden Schwankungen im großen und ganzen
zu der Größe (Schwere) der Tiere in Beziehung
stehen. Wir sehen nämlich, daß im allgemeinen
die Flügel (relativ) um so größer sind, je kleiner
und leichter das Tier, dem sie angehören, ist.
Es nimmt jedoch, wie aus der Tabelle hervorgeht,
diese Verhältniszahl keineswegs regelmäßig und
stetig mit abnehmendem Körpergewicht zu. Die
Abweichungen von der allgemeinen Regel be-
ruhen wohl jedenfalls darauf, daß die Flugart bei
verschiedenen Tieren verschieden ist. Einige
fliegende Tiere überwinden die Schwerkraft durch
rasche Bewegung ihrer Flügel, andere, indem sie
die kleinen Strömungen in der Atmosphäre, sowie
die bei Beginn eines auf sie geübten Druckes
besonders große, latente Widerstandskraft der Luft
ausnützen. Die ersteren, zu denen der Spatz und
die Biene gehören, können als Flatterflieger, die
letzteren, zu denen der Albatroß und der See-
adler zu zählen sind, als Segelflieger bezeichnet
werden. Die extrem differenzierten Flugarten der
genannten Flatter- und Segelflieger werden durch
eine ununterbrochene Reihe von fliegenden
Tieren verbunden, die nicht so sehr wie jene die
eine oder andere von den genannten Flugarten
bevorzugen.
Naturgemäß haben die Flatterer kleine, von
kräftigen Muskeln rasch, die Segler große, von
schwächeren Muskeln langsamer bewegte Flügel.
Wenn wir vornehmlich flatternde Tiere für sich,
und vornehmlich segelnde für sich betrachten, so
tritt, wie die folgenden Tabellen zeigen, die
Größenzunahme der Flügel mit abnehmendem
Körpergewicht rein hervor.
hlatterer.
Gewicht in
Gramm
Auf I g Gewicht
kommen Quadrat-
millimeter Flügel-
fläche.
Trappe
9600
62
Fasan
1000
88
Rebhuhn
320
105
Spatz
28
200
Hummel
0,44
234
Biene
0,074
528
Fliege
0,01
1800
Mücke
0,003
lOOOO
Segler.
Albatroß
12000
67
Seeadler
5000
160
Storch
2265
199
Silbermöwe
1035
230
Turmfalke
260
261
Lachmöwe
197
336
Jungfernlibellc
0,2
6970
Zitronenfalter
0,183
28710
954
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
Über die Tatsache , daß mit abnehmender
Körpergröße die relative Fluggröße zunimmt, kann
also kein Zweifel bestehen und es entsteht die
Frage, warum das so ist. IVlüllenhoff und andere,
die sich mit dieser Frage beschäftigten , haben
sie vom morphologischen Standpunkt beantwortet.
Von dem von diesem Standpunkte ganz richtigen
Grundsatze ausgehend, daß bei zunehmender Größe
die linearen Dimensionen in der ersten, die Flächen
in der zweiten, und die Volumina und Gewichte
in der dritten Potenz wachsen, meinten sie , daß
man die Flügelflächen nicht unmittelbar mit den
Gewichten vergleichen dürfe, sondern die Quadrat-
wurzeln jener Flächen mit den Kubikwurzeln
dieser Gewichte in Beziehung bringen müßte, um
richtige, zum Zwecke des Vergleichs benutzbare
Zahlen zu erlangen. In Wirklichkeit zeigen aber
auch die so gewonnenen Verhältniszahlen keine
Konstanz, und zwar auch dann nicht, wenn man
nur Tiere derselben Flugart miteinander ver-
2
gleicht. So beträgt der Wert
I Fläche
bei:
I Gewicht
Rebhuhn 4,03 , beim Spatz 2,86 und bei der
Hummel 1,33.
Wenn aber auch — was, wie wir sehen, nicht
der Fall ist — so eine Konstanz vorhanden wäre,
so würde dadurch das Paradoxon, das in dem
relativen Größerwerden der Flügel mit abnehmen-
dem Körpergewicht liegt, in keiner Weise be-
seitigt, denn es handelt sich bei den Flugtieren
nicht darum , daß die verschieden großen gleich
gestaltet, morphologisch ähnlich sein sollen , son-
dern vielmehr darum, daß alle die Arbeit der
Überwindung der Schwere gleich gut leisten,
also funktionell ähnlich sein sollen.
Bei der Überwindung der Schwere kommt es
auf die Kraft an, mit der die Flügel nach unten
auf die Luft drücken. Diese Kraft hängt aber
nicht nur von ihrer Größe, sondern, und zwar im
hohen Grade, auch von der Geschwindigkeit ihrer
Bewegung der Luft gegenüber ab. Die Flatter-
flieger werden daher, wenn wie vorauszusehen der
Winkel, in dem sich die Flügel bewegen, immer
so ziemlich gleich ist, eine um so größerere
hebende Kraft durch die Bewegung derselben er-
langen, i) je länger die Flügel sind und 2) je
mehr Flügelschläge sie in einer Sekunde
machen.
Ein Spatz hat ungefähr 10 cm lange Flügel
und führt damit etwa 12 Flügelschläge in der
Sekunde aus. Eine Biene hat etwa 6,3 mm lange
Flügel und macht damit, wie Marey gezeigt hat,
etwa 190 Schläge in der Sekunde. 6,3 mal 190
ist ungefähr gleich 100 mal 12. Der langsame
Ruderflug, dessen sich die Segler bedienen, wenn
sie mit dem bloßen Segeln nicht auskommen, zeigt
ähnliches. Der Storch hat 68 cm lange Flügel
und macht 1 '■'j^ Flügelschläge in der Sekunde.
Die Lachmöwe hat 39 cm lange Flügel und
macht 3'/., Flügelschläge in der Sekunde. Auch
hier sind die Produkte einander nicht unähnlich.
Im allgemeinen kaim man also sagen , daß die
Bewegung der Flügel der Luft gegenüber bei ver-
schieden großen Fliegern derselben Flugart
eine gleich rasche ist und daß dies ebenso
für die Flatterflieger, wie für die Segelflieger gilt.
Man kann daher die Tatsache , daß die kleineren
Tiere relativ größere F'lügel als die großen haben,
nicht damit erklären, daß bei ihnen die Bewegung
der Flugflächen der Luft gegenüber eine lang-
samere wäre.
Im Hinblick auf das biologische Grundgesetz
der Sparsamkeit, wonach die Organe im allge-
meinen nicht größer werden als es zu ihrer
Leistungsfähigkeit erforderlich ist, müssen wir
unter diesen Umständen annehmen, daß die klei-
neren Tiere verhältnismäßig größerer Flügel be-
dürfen, um dasselbe, wie die großen und schweren
mit ihren relativ kleineren Flügeln leisten zu
können. Daß das so ist, daß eine Flügelfläche
von 6/ Ouadratmillimeter per Gramm hinreicht
den Albatroß in den Stand zu setzen zu segeln,
während die Lachmöwe 336 Ouadratmillimeter
dazu braucht; und daß die Trappe mit 62 Ouadrat-
millimeter per Gramm auskommt , während der
Spatz 200 und die Fliege 1 800 Quadratmillimeter
dazu braucht, läßt sich nur auf Grund der An-
nahme erklären , daß der Widerstand der Luft
gegen bewegte Flächen nicht in direkter Propor-
tion zu ihrer Größe steht, sondern bei zunehmen-
der Flächenausdehnung rascher als die P'läche
zunimmt. Wenn wir bedenken, daß die Luft eine
gewisse Zeit braucht, um vor einer gegen sie be-
wegten Flügelfläche auszuweichen, so können wir
uns wohl vorstellen, daß jene Annahme berechtigt
ist. Denn es wird eine größere bewegte Fläche
die Luft, die nicht Zeit hat seitlich vor ihr aus-
zuweichen, zusammendrücken, und bei der Weiter-
bewegung auf diese zusammengedrückte Luft, die
ihr natürhch einen größeren Widerstand als ge-
wöhnliche entgegengesetzt, drücken.
Wie dem auch sei, über die Tatsache des
relativen Kleinerwerdens der Flügelflächen mit
zunehmender Körpergröße kann kein Zweifel be-
stehen und wir können daraus interessante Schlüsse
auf die Größe der Flügel ziehen , deren ein
Mensch bedürfen würde um damit fliegen zu kön-
nen. Wenn man die Verhältnisse des Gewichtes
zur relativen Flügelgröße mit Hilfe von Koordi-
naten graphisch darstellt, die Punkte, die man
dabei erhält, durch eine Kurve verbindet und
diese Kurve dann über das schwerste Tier hinaus
verlängert, so erlangt man eine annähernde Vor-
stellung von der Flügelgröße, deren noch schwerere
Flieger bedürfen würden. Da die menschliche
Muskelkraft keinesfalls zum Flatterfluge ausreicht,
kommt hier nur der Segelflug in Betracht. Ich
habe eine Kurve für die Segelflieger in der oben
angedeuteten Weise gezeichnet. Dieser ist zu
entnehmen, daß
N. F. m. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
955
ein 70 Kilogramm schwerer Flieger 32
„ 80 „ „ „31
„100 „ „ „ 29V.2
Quadratmillimeter Flügelfläche per Gramm Ge-
wicht brauchen würde.
Wenn das Körpergewicht samt dem Gewicht
der künstlichen Flügel 90 Kilogramm beträgt,
würde demnach der Mensch, um wie ein Albatroß
segeln zu können, 90000 mal 30, das ist 2700000
Ouadratmillimeter Flügelfläche, also zwei, zusam-
men 2,7 Quadratmeter große Flügel brauchen.
Es müßte also jeder Flügel eine Fläche von 1,35
Quadratmeter haben. Wenn er die Form des
Älbatroßflügels hätte, wäre er dann beiläufig 3
Meter lang und am Grunde 60 Zentimeter breit,
und es betrüge die Flügelspannung bei ö'/j Meter.
Flügel von solcher Größe rasch und sicher zu
handhaben und schnell genug zu drehen und in
ihrer Form zu verändern, um all die kleinen
Strömungen der Atmosphäre auszunützen, wird
gewiß nicht allzu schwer sein, weshalb kein Grund
vorliegt, warum nicht auch der Mensch im stände
sein sollte die Kunst des Segelfluges zu erlernen.
Kleinere Mitteilungen.
über die natürliche Immunität der Vipern
und Nattern hat Dr. Cesar Phisalix, Assistent
am Naturhistorischen Museum zu Paris, neue
Untersuchungen angestellt, über welche er der
französischen Akademie der Wissenschaften be-
richtet hat (Comptes rendus, Bd. CXXXVII, 1903,
S. 270—272). Der Genannte beschäftigt siph
schon seit Jahren mit diesem Stoff, und wir haben
schon öfters Gelegenheit genommen , über seine
Arbeiten zu referieren (vgl^ Naturw. Wochenschr.
1896, S. 480; 1897, S. 523; 1898, S. HO; 1899,
S. 108).
Bereits der Italiener F. Fontana ließ 1781
Ottern sich gegenseitig beißen, oder er impfte
ihnen mit einer Lanzette Viperngift ein; er kam
damals schon zu dem Schluß, daß das Gift der
Vipern für die eigene Art nicht tödlich wirke.
Zu demselben Resultat kamen bei ihren Unter-
suchungen Dumeril, Guyon, Viaud-Grand-Marais
und Waddell. Andere Forscher, wie Mangili,
Cl. Bernard, Weir-Mitchell und Fayrer behaupteten
dagegen, daß die Schlangen wohl durch ihr eigenes
Gift getötet werden könnten, wenn auch der Tod
etwas später einträte.
Phisalix löste trockenes Kreuzotterngift in Salz-
wasser auf und injizierte die Lösung in allmählich
wachsenden Dosen in die Bauchhöhle von Ottern
und Nattern. Bis zu einer Dosis von 40 mg be-
wirkte das Gift nicht die geringste Störung. Aber
von 45 mg an reagierte die vergiftete Schlange
weniger auf Reize und wurde in ihren Bewegungen
langsamer. Es traten spasmodische Kontraktionen
des Rektum und des Anus sowie häufige Urin-
abgänge auf. Die Anfälle wurden aber nach und
nach schwächer, und nach 4 — 5 Tagen war die
Schlange wieder gesund. Um das Tier sicher zu
töten, waren immer 100 — 120 mg Gift notwendig.
Bei der Autopsie zeigte sich dann ein Bluterguß
in die Leber und längs der Aorta, die roten Blut-
körperchen waren indessen intakt geblieben, und
das Hämatoglobin war nicht zersetzt. Wurde das
Gift statt unter die Haut oder in das Abdomen
in die Schädelhöhle eingeführt, so genügten schon
sehr schwache Dosen, 2 — 4 mg, um den Tod
herbeizuführen; bei der Autopsie zeigten sich dann
die Hirnhäute stark entzündet, besonders die des
Großhirns.
Aus den Untersuchungen von Phisalix geht
also hervor, daß die natürliche Immunität der
Vipern und Nattern keine absolute ist. Eine Viper
kann ein Exemplar ihrer Art töten, aber nur,
wenn sie in den Schädel beißt, so daß die Gift-
zähne in das Gehirn dringen ; dies wird allerdings
infolge der harten Schädeldecke der Schlangen
sehr selten vorkommen. Sg.
Klappert der schwarze Storch? — Die
P^rage ist unbedingt zu bejahen.
Der verdiente J. Rohweder schreibt zwar neuer-
dings : „Während eines Zeitraumes von ungefähr 30
Jahren habe ich alljährlich drei bis fünf Horste zu
beobachten Gelegenheit gehabt und es an Zeit und
Geduld nicht fehlen lassen, mich mit den Eigen-
schaften der Bewohner bekannt zu machen: Nie-
mals habe ich sie klappern hören, überhaupt von
den Alten nicht einen Laut vernommen. Nicht
anders ist es den betreftenden Forstbeamten er-
gangen, obgleich sie zum Teil bei ihren Be-
schäftigungen im Walde oder auf den angrenzen-
den Ländereien fast zu jeder Jahres- und Tageszeit
in der Nähe des Nistplatzes sich befanden" („neuer
Naumann", VI, 324).
Der Niederschrift dieser persönlichen Einzel-
erfahrung an maßgebender Stelle hätte es eigent-
lich nicht bedurft, da das Klappern des schwarzen
Storches doch von zu vielen Beobachtern gehört
worden ist. '
Ich selbst habe zwar auch trotz aller meiner
Bemühungen Ciconia nigra noch nicht klap-
pern hören, weder im Freien noch im Tier-
garten. Im Frankfurter Zoologischen Garten z. B.,
wo ich alle Schreitvögel (Gressores) eingehend
beobachtete, blieb der schwarze Storch immer
stumm, während der weiße (Ciconia alba), der
Marabu (Leptoptilus dubius), der afrikanische
Nimmersatt (Tantalus ibis) und der indische Nimmer-
satt (Tantalus leucocephalus) recht oft ganz ver-
gnüglich klapperten.
Das Klappern des schwarzen Storchs wird von
den verschiedensten älteren Autoren bezeugt, von
denen ich hier nur drei der maßgebendsten an-
führe.
956
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
J. Fr. Naumann hat oft den schwarzen Storch
gefangen gehalten. „Sein Klappern hat einen
höheren Ton und tönt nicht so stark (als das des
weißen Storches); der Kenner kann es deshalb,
aber nur bei vieler Übung, leicht unterscheiden."
H. O. Lenz schreibt: „Als Kind habe ich
nebst anderen Knaben einen mit Fröschen auf-
gezogen, welcher ganz zahm wurde und frei um-
herging. Einen PVanzosen, welcher ihn oft neckte,
haßte er sehr, klapperte laut, wenn er ihn er-
blickte und verfolgte ihn mit Schnabelhieben. Auch
Hunde schlug er in die Flucht."
Adolf und Karl Müller berichten in „Tiere
der Heimat" Ähnliches. „Ihm steht nur das allen
Störchen eigentümliche Klappern zu Gebote, jedoch
nicht in der Stärke wie seinem weißen Verwandten.
Er läßt es gedämpft hauptsächlich nur zur Paar-
zeit und vor dem Zuge bei Begegnen und Zu-
sammentreten mit anderen hören."
Das Ausgeführte berechtigt zu der Schlußfolge-
rung: Der schwarze Storch kann klappern,
klappert aber nur recht selten.
VV. Schuster.
Merkwürdige Fossilien im Steinbruche
von Pinsdorf bei Gmunden am Traunsee in
Oberösterreich. — In unmittelbarer Nähe des
Gmundner Bahnhofes, am Fuße des der Flysch-
zone angehörenden Pinsdoriberges liegt ein kleiner,
erst seit 3 Jahren betriebener Steinbruch. Der
erste Anblick der Lagerung und der Mächtigkeit
der grauen und gelben Sandsteinbänke ist nicht
sehr vielversprechend und läßt nichts weniger als
abnorme Fossilien erwarten, da ja doch die Sand-
steinbänke der Flyschzone als versteinerungsarm
gelten. Der Felsen selbst hat oben eine Decke
von Wiesengrund und der Steinbruch zeigt viele,
sehr schiefliegende, meterdicke Sandsteinschichten.
Zwischen diesen liegen ganz dünne Schichten von
bituminösem Mergel und Lehm, die von Sicker-
wässern ganz erweicht sind. Diese oberen Sand-
.steinschichten enthalten keinerlei V^ersteinerungen.
Eine Untersuchung des Gesteins mit der Lupe
zeigt lediglich feine Sandkörnchen, vermischt mit
Kohlenstückchen. Erst in einer Tiefe von ca. 20 m
findet sich eine dicke, graue Sandsteinschicht, die
auf einer weichen schwarzgrauen Mergelschicht
von ca. 10 cm Mächtigkeit aufliegt. Diese Sand-
steinschicht ist die Fundstelle jener bemerkens-
werten F"ossilien, welche dem -Steinbruch in kurzer
Zeit zu einer gewissen Berühmtheit verholfen
haben. Wird diese letzte, meterdicke, sehr harte
Sandsteinschicht abgehoben , so zeigt sie an der
unteren Seite absonderliche Gebilde, die mit dem
Muttergestein auf das innigste verwachsen sind.
Zunächst sieht man die verschiedenartigsten
Bildungen, von der Art, wie sie Th. Fuchs als
„Fließwülste" bezeichnet hat. Es finden sich
große, parallele Erhabenheiten, wie dicke Stäbe
geformt. Formen, die große Älinlichkeit mit einem
sich windenden Wurme besitzen. Manchmal er-
scheinen diese wurmförmigen Körper sogar 3 teilig.
Viel merkwürdiger sind jedoch Fossilien von
I — 2 m Größe, die im ersten Augenblick an die
Wirbelsäule eines Vierfüßlers erinnern. Die neben-
stehende Abbildung, welche ein vor kurzem auf-
gefundenes Exemplar .dieser Gebilde nach photo-
Wm
graphischer Aufnahme, die mir in liebenswürdig-
ster Weise von Herrn Nußbaumer, dem Besitzer
des Steinbruchs, zur Verfügung gestellt wurde,
wiedergibt, kann leider nur eine annähernde Vor-
stellung derselben gewähren. Man würde zunächst
an die Wirbelsäule eines Sauriers denken, wenn
nicht die „Wirbelfortsätze" wechselständig anstatt
gegenständig wären. Es sind jetzt ca. 12 Platten
mit solchen Bildungen aufgefunden worden. Einer
Arbeit von Eberhard Fugger ') entnehme ich die
Angaben, daß jeder dieser „Wirbelfortsätze" etwa
7 cm lang ist und 2 — 4 cm aus der Platte heraus-
tritt; die Breite beträgt 2 — 3 cm. Auf einer
Platte zeigt diese „Wirbelsäule" einen Fortsatz
von 15 cm Länge, der als „Schwanz" gedeutet
werden könnte.
Den Teilnehmern der von Prof Penck geleiteten
Exkursion, die nach dem Wiener Geologenkongresse
Gmunden besuchten, wurden diese merkwürdigen
Bildungen gezeigt. Die widersprechendsten Mei-
nungen wurden geäußert. Prof. Deperet aus Lyon
'1 Eberhard Fugger, Die oberösterr. Alpen zwischen Irrsee
und Traunsee. Wien 1903.
N. F. m. Nr. 60
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
957
glaubte in ihnen Formen wiederzuerkennen , wie
er solche in Südfrankreich, allerdings in viel älte-
ren Formationen aufgefunden und mit dem Namen
„Bilobites" belegt hatte. Der genannte Forscher
erklärte die Figuren als Abdrücke der Unterseite
einer großen Crustacee; die scheinbaren Wirbel-
fortsätze längs der gemeinsamen Mittellinie seien
die Spuren der zahlreichen Füßchen des Krebs-
tieres. Alle die fraglichen Gebilde bestehen aus
demselben Material wie das Muttergestein , keine
Spur von Knorpeln, Schuppen, Schalen oder son-
stigen organischen Resten ist zu finden. Fugger
hat in einer anderen Lokalität, im Steinbruch von
Muntigl ein ganz ähnliches Stück gefunden , das
er damals „als eine Aneinanderreihung von er-
habenen Knollen derart, daß das Ganze einem
Stück einer Wirbelsäule nicht unähnlich sieht",
beschrieb. Die geschilderten Erhabenheiten be-
finden sich auf der Unterseite der Sandsteinschicht,
deren Liegendes eine dünne Mergellage ist. Als
der Mergel noch weicher Schlamm war, lag das
Tier auf demselben und erzeugte einen Abdruck.
Der Schlamm erstarrte und in die Vertiefungen
setzte sich Sand ab, der seinerseits wieder zu
Sandstein wurde und so eine Art Steinkern re-
präsentiert.
Solange es nicht gelingt durch weiteren Ab-
bau des Steinbruchs einmal eine ganz trockene
fossilienführende Schicht zu erreichen , die von
dem Zersetzungsprozesse verschont und im ursprüng-
lichen Zustande erhalten blieb, dürfte eine sichere
Diagnose dieser h'ossilien kaum möglich sein.
Neuere Untersuchungen haben sich indessen
doch für die pflanzliche Natur derselben ausge-
sprochen. Prof. Lorenz v. Liburnau hält sie für
versteinerte Algen, andere Beobachter, darunter
hervorragende Botaniker, sprachen sich dahin
aus, daß man es hier mit den Asten einer Rispe
einer Palmenart zu tun habe. Tatsächlich zeigt
die Abbildung des Blütenstandes der rezenten
tropischen Palme Plectocomia elongata, die zur
Untergruppe der Lepidocariinae gehört, in der
berühmten Historia naturalis palmarum von Dr.
Martius eine große Ähnlichkeit mit den Funden.
Wir finden dort blütentragende Aste, die an der
Basis mit kleinen tutenförmig umfassenden Schei-
den bedeckt sind, und diese Tuten zeigen genau
dieselbe zweizeilige Anordnung, wie wir sie an
den Funden sehen. Dr. Stiasny.
diejenigen Stellen des Drahtes, die infolge von
Splissung aus mehreren Drahtlagen bestanden,
waren nicht bis zur Verbrennung erhitzt worden.
Ein ganz ähnlicher Fall hatte sich bereits am
16. April 1903 ereignet, nur daß damals ein
heller Funkenregen beobachtet wurde und die
niedergefallenen Rückstände des Drahtes in Ge-
stalt zahlreicher Hohlkügelchen und Halbkügel-
chen aufgefunden werden konnten.
Nach diesen Erfahrungen erscheint es nicht
ausgeschlossen, daß unter Umständen Gewitter-
wolken durch Drachenaufstiege so weit entladen
werden könnten, daß ein sich bildendes Gewitter
verhindert oder wenigstens in seinem Ausbruch
verzögert wird. „Ob und wie weit man eine
praktische Anwendung davon wird machen können,
bleibt vor der Hand unbestimmt, da es ungewiß
ist, in welchem Sinne der Plntladungsschlag die
Gewitterwolken beeinflussen wird ; — erfolgver-
sprechende Versuche sind in dieser Hinsicht wohl
möglich ; zwei Dinge stehen ihnen leider sehr im
Wege: die Kostspieligkeit und die nicht ausge-
schlossene Gefährlichkeit für den Experimentator."
Kbr.
Wetter-Monatsübersicht.
Während des vergangenen Oktober herrsclite in ganz
Deutschland sehr veränderliches, im allgemeinen ziemlich un-
freundliches Wetter. Am schönsten und wärmsten war es in
den ersten Tagen des Monats, an denen im Osten und Süden
noch vielfach 20" C überschritten wurden. Bald fingen je-
doch die Temperaturen, wie aus der beistehenden Zeichnung
ersichtlich ist, allgemein zu sinken an, und zwiscfien dem
jWitirercTcmpsrafurcncinissr ©rfeim ©MoßsrlSOf .
Elektrische Entladungen bei Drachenauf-
stiegen sind auf der Drachenstation der deutschen
Seewarte in Groß-Borstel bei Hamburg wieder-
holt an Tagen beobachtet worden, an denen sonst
keinerlei Gewittererscheinungen zu verzeichnen
waren. Nach einem von Dr. P. Pe rle witz hier-
über in den „Annalen der Hydrographie" (1904,
S. 469) erstatteten Berichte wurde am 4. Juli 1904
nach dem Vorüberzug einer Böe unter starkem
Knall der ganze, fast 300 m lange Drachendraht
in einen gelblich-roten Dampfstreifen , das Ver-
brennungsprodukt des Gußstahls, verwandelt. Nur
9. und 16. Oktober hatte die Witterung einen sehr rauhen,
spätherbstlichen Charakter. Nachtfröste waren in dieser
Zeit sehr zahlreich, und auch mittags blieb das Thermo-
meter oft unter 10** C.
In der zweiten Hälfte des Monats wurde es wieder wär-
mer. Im Westen kamen die Temperaturen um den 24. denen
zu Beginn des Oktober sogar annäherad gleich. Dann aber
trat eine neue empfindliche Abkühlung ein , die fast bis zum
Schlüsse fortdauerte. Für die Mittcltemperaturen des Monats
958
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
ergab sich aus dieser zweimaligen Schwankung in allen
Landesteilen eine gute Übereinstimmung mit ihren normalen
Werten. Stunden mit Sonnenschein hingegen , deren Zahl
sieb beispielsweise zu Berlin auf 78 belief, gab es etwas
weniger, als in den meisten füheren Oktobermonaten aufge-
zeichnet worden sind.
Die Niederschläge waren im ganzen Monat sehr häufig,
ihre Wassermengen aber in seinen ersten fünf Tagen , der
nebenstehenden Zeichnung zufolge, nur gering. Zwischen dem
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^
BerlintpWelterburuu.
6. und jg.roktober kamen dagegen an den meisten Tagen,
namentlich im Westen, sehr reichliche Regen vor, die vom
7. zum S. zu Frankfurt a. M. 42 mm ergaben. Sie wurden
von schweren \A'eststürmen eingeleitet, die auf der Nordsee
verschiedene Schiflsunfälle zur Folge hatten. In manchen
Gegenden Schlesiens und Posens fanden dabei Gewitter,
an der Küste auch verschiedentlich Hagelschauer statt; zu
Magdeburg und Uslar fiel am 15. morgens der erste Schnee.
Nach fünf trockenen Tagen liegann am 25. Oktober eine
neue Regenzeit, die dem Süden einzelne Gewitter brachte,
aber nur bis zum 27. anhielt. Am Ende des Monats waren
die meßbaren Niederschläge selten, doch blieb das Wetter im all-
gemeinen feucht und nebelig. Die Niederschlagshöhe des
ganzen Monats war trotz der großen Zahl seiner Regentage
kleiner, als dem Durchschnitt entspricht. Im Mittel aus allen
berichtenden Stationen wurden nämlich im diesjährigen Ok-
tober 50,1 mm gemessen, dagegen 68 mm im Durchschnitte
der Oktobermonate seit Beginn des vorigen Jahrzehnts.
In der allgemeinen Anordnung des Luftdruckes traten im
Laufe des Monats oft sehr rasche Wandlungen ein. Bis zum
13. und dann wieder vom 16. bis 19. Oktober wurde der
Norden Europas von zahlreichen Depressionen durchzogen,
während sich in den mittleren, bisweilen auch in den niedrigen
Breiten lioher Luftdruck, der höchste gewöhnlich in Rußland
befand. Das intensivste barometrische Minimum erschien
ganz plötzlich am Abend des 5. nordwestlich von Schottland
und eilte, von orkanartigen Stürmen begleitet, in vierund-
zwanzig Stunden bis zur Südspitze Schwedens hin, von wo
es seinen Weg mit abnehmender Geschwindigkeit und Tiefe
nordostwärts fortsetzte. Ihm schloß sich unmittelbar ein an-
deres Minimum an, das zwar geringere Tiefe besaß , aber in
den Kontinent eindrang und in Frankreich, Belgien, West-
deutschland, dann in Italien sehr heftige Regengüsse ver-
anlaßte.
Am 19. Oktober wanderte ein umfangreiches Barometer-
maximum von Westen her nach Mitteleuropa und in den
nächsten Tagen weiter nach Norden, wo es sich, ebenso wie
ein früheres Maximum, das am 14. Oktober nach Skandinavien
gelangt war, mit dem über Rußland lagernden Hochdruckgebiet
in Verbindung setzte. Während dann vom 25. bis 27. wieder
ein tiefes Minimum mit ergiebigen Regenfällen vom europäischen
Nordmeerc südwärts weitereiltc, trat ein neues Maximum auf
dem atlantischen (.)zean bei Irland auf und begab sich über
Norddeutschland langsam nach Nordwestrußland. Mit diesen
mannigfaltigen Wanderungen der Hochdruck- und Depressions-
gebiete waren zahlreiche Weclisel in den Windrichtungen
Mitteleuropas verbunden. Doch herrschten im ganzen während
der ersten Tage milde Südwestwinde, später dampfgesättigte
Westwinde, in der zweiten Hälfte des Monats etwas trocke-
nere östliche Winde vor. Dr. E. Leß.
Bücherbesprechungen.
Heinrich Marth , Die Trunksucht und ihre
Bekämpfung durch die Schule. Wien u.
Leipzig, Pichler's Wwe. 1904. — Preis 3 Mk.
Der Kampf gegen die Volksschädigung durch den
Alkohol ist auf der ganzen Linie entbrannt; er hat
über die Kreise der Mediziner und Volkswirtschaftler
hinaus in das Lager der Schulmänner übergegriffen.
Ein neuer Beweis dafür ist dieses Buch, das in klarer
und eindringlicher Form der im Titel gestellten Auf-
gabe gerecht wird. Nach einem die physiologischen,
pathologischen und sozialen Wirkungen des Alkohols
schildernden Teile folgt die Besprechung der zur
Abwehr der Trunksucht für die Familie, die Gesell-
schaft und die Kirche erstehenden Aufgaben. Daran
schließt sich eine beherzigenswerte, manche neue
Gesichtspunkte bringende Auseinandersetzung, inwie-
fern und inwieweit nun auch die Schule zur Nieder-
zwingung des Volksfeindes Alkohol ersprießlichen
Anteil zu nehmen berufen ist. Eingehende Details
sind im Original nachzulesen. H. Kbr.
Dr. Johannes Schubert, Prof an d. Kgl. Forst-
akademie Eberswalde, Der Wärmeaustausch
im festen Erdboden, in Gewässern und
in der Atmosphäre. Mit 9 Tafeln. Julius
Springer in Berlin 1904. — Preis geb. 2 Mk.
Verf. bietet eine zusammenhängende Darstellung
über den periodischen Verlauf der in Form von
Wärme in Boden , Luft und Wasser aufgespeicherten
Energiemengen. Er beantwortet die Frage : Wie
groß sind die täglich oder jährlich umgesetzten
Wärmemengen und wie gestaltet sich der periodische
Verlauf?
Die Veröffentlichung ist nicht nur für den Meteo-
rologen von Interesse, sondern auch für den Agrikultur-
chemiker, Forstmann, Landwirt u. dgl.
Richard Wegner, Die Einheit der Natur-
kräfte. Leipzig 1904. Veit & Co. — Preis
geh. 4 Mk. — (Selbstanzeige.)
Nehmen wir an, der Weltenraum sei nur erfüllt
mit allerkleinsten, sagen wir, Ätheratomen von genau
gleicher Größe. Die Atome befinden sich in Be-
wegung, sie durchfliegen den Weltenraum, aber sie
beeinflussen sich gegenseitig durch keinerlei selb-
ständige Anziehungs- oder Abstoßungskräfte, ausge-
nommen, wenn es unter ihnen zur direkten Berührung,
zum Zusammenstoß kommt.- Dann wird endlich ein
N. F. m. Nr. Co
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
9S9
Zeitpunkt kommen , so wollen wir mal der Einfach-
heit wegen weiter annehmen , in dem sich die Be-
wegungen der Atome so ausgeglichen haben, daß sie
gleichmäßig im VVeltenraum verteilt mit einer gewissen
Älittelgeschwindigkeit hin und her fliegen. Sie fliegen
in einer Richtung, bis sie gegen andere anstoßen und
setzen ihre Bahn dann in irgendeiner Komponente
fort. Durchschnittlich mögen sie also gleichmäßig
verteilt sein, also auf jedes Atom möge durchschnilt-
lich ein gleicher Anteil des Gesamtwelteniaums kom-
men , ein gleicher Bewegungs- oder Atomraum , und
durchschnittlich ein gleich großer Anteil an der Gesamt-
flugenergie aller Atome, die man wohl mit „kineti-
scher Energie" bezeichnet. Außer der Flugenergie
werden die Atome auch noch eine Drelienergie be-
sitzen, denn sie geraten durch die gegenseitigen An-
pralle in Rotation ; diese Energie interessiert uns aber
hier nicht.
In dieses Atomgewirr setzen wir jetzt mal ein
neues Atom ein, dessen Größe von der der anderen,
die wir Atheratome nannten, verschieden ist. Es mag
doppelt so groß, aber sonst gleichartiger Natur sein.
Auf das neue Atum werden nun so lange die anderen
in Bewegung befindlichen .Atome aufprallen , bis es
ihre Durchschnittsgeschwindigkeit erreicht hat. Nach
unseren Voraussetzungen hat dann das neue Atom die
doppelte kinetische Elugenergie, als ein Ätheratom,
es hat ja die doppelte Masse. Infolgedessen wird es
den doppelten Atomraum für sich beanspruchen, denn
es vermag doppelt so viel Atome unter sonst gleichen
Umständen zurückzudrängen als ein gewöhnliches
Atom. Als weitere Folge davon werden die Ather-
atome in der Flugrichtung intermittierend unnormal
zusammengedrängt, hinter ihm aber in bezug auf
die Verteilung intermittierend unnormal auseinander-
gezerrt werden. Diese Verteilungsdichteänderungen
werden nun alsbald aus den benachbarten Ather-
atomen ausgeglichen. Dieser Vorgang hat aber eine
Wirkung von weittragender Bedeutung. Wird die
Verdichtung oder V^erdünnung aus dem benachbarten
Äther paralysiert, so entsteht in der Nachbarschaft
momentan eine Verdichtung oder Verdünnung, die
wiederum ihr benachbarte Atherpartien in demselben
Sinne weiter beeinflußt. Mit anderen Worten, die
Verdichtungen und Verdünnungen breiten sich gleich-
mäßig als Verdichtungs- oder Verdünnungswellen um
unser neues Atom herum im Äther aus, natürlich mit
abnehmender Intensität, entsprechend ihrer Gestalt
als sich stetig vergrößernde Kugeloberflächen. Um
unser neues Atom herum reagieren die es umgeben-
den .\theratome durch eine gewisse Reaktionskraft auf die
Gleichgewichtsstörung durch einen gewissen Druck, der
konzentrisch auf das größere Atom gerichtet ist und
der sich mit den Verdichtungs- oder Verdünnungs-
wellen, die Niveauflächen darstellen, ausbreitet und
entsprechend ihrer Intensität nach außen abnimmt.
Wir wollen also festhalten ; „Wenn ein Atom sich
mit mehr Energie in einer großen Atommasse be-
wegt, als jedes einzelne der Masse im Durchschnitt
besitzt , so wird die Masse der letzteren mit sphäri-
schen Wellen durchsetzt , die konzentrisch auf das
Atom drücken mit einer Kraft, die mit der Ausbrei-
tung der Wellen oder der Entfernung vom Atom sich
stetig" verkleinert."
Bringen wir nun noch ein zweites Atom unter die
-Vtheratome, das auch der Masse nach von ihnen ver-
schieden ist, sonst aber stoft'lich gleichartig mit ihnen
sein kann. Auch um dieses werden sich Wellen-
flächen bilden , die konzentrisch auf das Atom mit
einer Kraft drücken, die einerseits von der Entfernung
eines bestimmten Wellenflächenteils vom Atom und
andererseits von der Energie des Atoms abhängig ist,
wie wir vorhin gesehen haben.
Die Wellen der beiden Atome werden sich mal
an irgendeiner Stelle des Weltenraumes treffen , die
auf der Verbindungslinie der beiden Atome liegen
wird. Da die Kraftrichtungen der betreffenden
Wellenflächenstücke , die sich da kreuzen , entgegen-
gesetzte sind, so werden sie interferieren, das heißt
sich zum Teil oder ganz, entsprechend ihrer algebra-
ischen Summe , in bezug auf irgendeine positive
Kraftäußerung nach irgendeiner Richtung aufheben.
Die Krafiwellen sind aber Kugeloberflächen , wie
schon entwickelt, die konzentrisch auf das betreftende
Atom drücken. Wird diese Wirkung an einer Stelle
der Sphäre ganz oder zum Teil aufgehoben, so resul-
tiert von der Stelle der Sphäre , die der ersten auf
dem Durchmesser der Kugel gegenüberliegt , eine
Schubwirkung auf das Atom in der Richtung des be-
treffenden Durchmessers nach der Interferenzstelle zu.
Der Durchmesser fällt hier gleichzeitig in die Rich-
tung der geraden Verbindungslinie beider Atome , so
daß durch die Kraftinterferenz die beiden Atome
aufeinanderzu gedrängt werden. Sie bekommen, wie
man sich auch ausdrücken kann, relativ eine i)utentielle
Energie, oder sie ziehen sich an. Einzig und
allein deshalb, weil sie eine andere Energie besitzen
als die sie umgebenden Atommassen.
Wir verfolgen so die Entstehung einer Anziehungs-
kraft zwischen zwei Atomen. Nun existieren, so
dürfen wir annehmen, im Weltenraum der Größe
nach unendlich verschiedenartige Atome , die etwa
vom kleinsten Ätheratom bis zum größten, sagen wir,
um einen Namen zu nennen, Uranatom in unendlich
kleinen Abstufungen variiert. Dem Stoffe nach sehen
wir alle Atome als gleichartig an, weil kein Grund
zum Gegenteil vorliegt, und was nicht notwendig,
überflüssig ist. Alle diese Atome fliegen oder
schwingen nun zunächst durcheinander und umgeben
sich mit Wellensphären, die auf die mannigfaltigste
Weise interferieren und so zur Entstehung von mannig-
faltigen Anziehungserscheinungen Veranlassung wer-
den, durch die das Ganze der Atommassen zu che-
mischen Elementen mit mittleren Atommassen und
chemischen Verbindungen gesichtet wird und durch
die sich zahlreiche sekundäre, molekulare und gröber
mechanische Wirkungen einstellen , die wir als che-
mische, elektrische, magnetische etc. Wirkungen
kennen. In dem eingangs erwähnten Buch ; Die Ein-
heit der Naturkräfte, ist diese Anschauungsweise
weiter und mathematisch durchgeführt. Ich habe
darin zu zeigen versucht, daß es also als Urkraft
nur die kinetischen Energien bewegter Atome zu
geben braucht und daß sich daraus alle anderen
960
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 60
Kraftformen als sekundäre etc. Wirkungen natur-
notwendig entwickeln müssen. Zuerst ist die An-
ziehungskraft im allgemeinen, die Schwerkraft und
das Newtongesetz mathematisch abgeleitet und gezeigt,
aus welchen Größen die Konstante des Newton-
gesetzes zusammengesetzt ist.
Auf Grund der so festgelegten Anziehungskraft,
die als das Wesentliche aller Naturkräfte anzusehen
ist, sind dann Schritt für Schritt die komplizierteren
Äußerungen der chemischen und elektrischen Kräfte
in den Bereich der Betrachtungen gezogen und ge-
zeigt worden, daß sie sich ohne neue Hypothesen
zwanglos in die Interferenztheorie, wie ich die Theorie
nannte, einfügen und daß diese Theorie fruchtbar für
die Weiterentwicklung dieser Spezialgebiete sein wird.
Nicht weniger wichtig, wenn auch für den Laien
weniger augenfällig, ist das Ergebnis der Interferenz-
theorie, daß nach ihr die eigentlichen Atome un-
elastisch sein dürfen und daß doch das Ganze der
Atome in bezug auf ein einzelnes Atom die Eigen-
schaften der Elastizität hervorbringt. Die Postulate
der modernen Naturwissenschaft, daß ein einfaches
Atom sowohl elastisch sei als auch in sich selbst
eine Anziehungskraft trägt, und mit denen das Vor-
stellungsvermögen nichts anfangen kann, will also die
Interferenztheorie eliminieren. Sie baut ihr Weltall
auf auf bewegte unelastische Atome verschiedener
Größe, aber gleichartigen Stoflles, ohne jede andere
Hilfshypothese.
Ich glaube mit der Interferenztheorie die schwer-
wiegendsten Einwände gegen eine Verallgemeinerung
der Atomtheorie in das Gebiet der allgemeinen Physik
entkräften zu können, denn sie entkleidet die Atom-
theorie alles Metaphysischen bis eben auf die Atom-
masse , auf ein körperliches Atom , mit dessen Vor-
stellbarkeit man sich aber wohl leichter abfinden
kann als mit den HilfsStipulationen anderer Theorien.
Richard Wegner.
Literatur.
Müller, Priv.-Doz. Dr. Paul Th. : Vorlesungen über Infektion
u. Immunität. (VI, 252 S. m. 16 Abbildgn.) Lex. S". Jena
'04, G. Fischer. — 5 Mk. ; geb. 6 Mk.
Przibram, Priv.-Doz. Dr. Haus: Einleitung in der experimen-
telle Morphologie der Tiere. (Vll, 142 S.) gr. S". Wien
'04, F. Deuticke. — 4 Mk.
Vegetationsbilder, hrsg. von Profi'. DD. G. Karsten und II.
Schenk. II. Reihe. 2. Heft. 4". Jena , G. Fischer. —
Subskr.-Pr. 2,50 Mk. ; Einzelpr. 4 Mk.
Briefkasten.
Herrn J. P. in Mähr.-Schönberg. — Der klebrige glän-
zende Überzug der Lindenblätter (Honigtau) rührt meiner Er-
fahrung nach immer von Blattläusen her. Er besteht aus den
flüssigen Exkrementen dieser Tiere, die sich in trockenen
Sommern, in welchen sie nicht immer wieder vom Regen ab-
gespült werden, so anhäufen können, daß große Tropfen sich
bilden, bei deren Entstehung auch der nächüiche Tau mit-
wirken kann. Ein einziges Tier produziert sehr erhebliche
Honigtauraengen, wie in meiner Arbeit (Der Honigtau, Jena,
Gustav Fischer) näher dargetan ist. Die häufig ausgesprochene
.\nsicht, daß der Honigtau infolge der Hitze aus den Blättern
ausschwitze , ist ein .\nthropomorphismus , der nur deshalb
immer wieder auftritt, weil die Tiere leicht übersehen werden
und die Leistungsfähigkeit auch weniger Exemplare unter-
schätzt wird. BUsgcn, Mann. -Münden.
Herrn G. in Geisa. — Die beste Zusammenfassung unse-
ler derzeitigen Kenntnisse über die Tertiärflora bietet Schenk
in Schimper-Schenk's Paläophytologie (Zittel's Handbuch der
P.iläontologie 11. Abteilung. München und Leipzig 1890).
[Fürs Paläozoikum ist der Band nicht recht brauchbar.] Sie
finden in diesem Buch auch die Literatur angegeben. Eine
den heutigen Ansprüchen auch nur annähernd genügende Be-
arbeitung speziell über die Flora des Tertiärs des Rhöngebirges
gibt es nicht.
Herrn H. S. in .\ltona. — Eine ganz kurze, elementar
einführende Schrift zur Descendenztheorie ist Potonie, Ab-
stammungslehre und Darwinismus (Ferd. Dümmler's Verlag
in Berlin. Preis 80 Pf.) ; sehr eingehend , aber durchaus bei
aufmerksamem Studium leicht zu verstehen sind Weismann's
Vorträge über Descendenztheorie (Gustav Fischer. Preis 20 Mk.)
Eine Besprechung des letztgenannten Werkes finden Sie in
der Naturwiss. Wochenschr. N. F. Bd. I (Ed. XVII) p. 550.
Herrn Dr. H. in München. — Sie wünschen Literatur
über die Vergletscherung der Schwäbischen Alb und der an-
grenzenden Gebiete. Ich nenne Ihnen:
Koken, Geologische Studien im Schwäbischen Ries. N.
Jahrb. f. Min. Beil. Bd. XII. 1899. p. 477.
Dcrs., Bewegung großer Schichtmassen durch glacialen Druck.
Zentralbl. f. Min. 1900. p. 115.
Ders., Beitrag zur Kenntnis des schwäbischen Diluviums. N.
Jahrb. f. Min. Beil. Bd. XIV. igoi. p. 120.
Ders., Die Glacialerscheinungen im Schönbuch. Zentralbl. f.
Min. 1901. p. 10.
Ders., Die Schlilfflächen und das geologische Problem im
Ries. N. Jahrb. f. Min. 1901. II. p. 1.
Ders., Glacialerscheinungen im Schönbuch. N. Jahrbuch für
Min. etc. 1S99. II. p. 120.
Steinmann, Die Entwicklung des Diluviums in Südwest-
deutschland. Zeitschr. d. deutsch, geolog. GescUsch.
1898. p. 83.
Ders., Bedeutung der tiefgelegenen Glacialspuren im mittleren
Europa. Bericht über die 29. Versamml. d. oberrhein.
geolog. Vereins zu Lindenfels 1896.
Ders., Die Bildungen der letzten Eiszeit im Bereiche des alten
Wutachgebietes. Bericht über die 35. Versammlung des
oberrhein. geolog. Vereins.
Ders., Die Spuren der letzten Eiszeit im hohen Schwarzwalde.
Freiburger Universitäts- Festprogramm zum siebzigsten
Geburtstage S. Kgl. Hoheit d. Großherzogs Friedrich.
Freiburg 1896.
Regelmann, Über Vergletscherungen und Bergformen im
nördlichen Schwarzwald. Württemb. Jahrbücher für
Statistik u. Landeskunde 1895. Heft I.
Weitere Literatur, besonders auch über die Vergletsche-
rung von Odenwald und Spessart finden Sie in :
Blanc kenh or n , Diluvium der Umgegend von Erlangen.
Sitzungsber. d. physik. mediz. Sozietät zu Erlangen 1895
und in der Entgegnung von
Klemm, Über die Glacialerscheinungen im Odenwald und
Spessart. Notizblatt des Vereins für Erdkunde etc. zu
Darmstadt. IV. Folge. Heft 16. Darmstadt 1895. p. 19.
Dr. E. Philippi.
Inhalt: I>. T. Macdougal: Mutation im Pflanzenreiche. — Robert v. Lendenfeld: Flügelgröße und Körpergewicht.
Kleinere Mitteilungen: Dr. Cesar Phisalix: Über die natürliche Immunität der Vipern und Nattern. — W.
Schuster: Klappert der schwarze Storch? — Dr. Stiasny: Merkwürdige Fossilien im Steinbruche von Pinsdorf bei
(imunden am Traunscc in Oberösterreich. — Dr. P. Perle witz: Elektrische Entladungen bei Drachenaufstiegen. —
Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Heinrich Marth; Die Trunksucht und ihre Bekämpfung
durch die Schule. — Dr. Johannes Schubert: Der Wärmeaustausch im festen Erdboden, in Gewässern und in der
Atmosphäre. — Richard Wegner: Die Einheit der Naturkräfte. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lictiterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sclie Buchdr.), Naumburg a, S.
Einschlierslich der Zeitschrift „DlG NatUf" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neue Folge HI. Baad;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den 27. November 1904.
Nr. 61.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
I s Ptg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Das Keimgewebe der lebenden Geschöpfe.
[Nachdruck verboteo.
Von E>r. W. Fuchs.
Die Ernährung und Atmung der den mensch-
lichen Körper zusammensetzenden Organe und
Gewebe wird in der Weise geregelt, daß das in
der Lunge fortwährend mit frischem Sauerstoff
versorgte, aus den Verdauungsvorgängen im Darme
und aus der Lymphe neues Bildungsmaterial be-
ziehende Blut unter der regelnden Tätigkeit des
Herzens in den sich immer feiner verzweigenden
Arterien diesen Geweben und Organen zugeführt
wird. Schließlich wird dieses mit Sauerstoff und Bil-
dungsmaterial versehene Blut in den Kapillaren, den
feinsten, vielfach anastomosierenden, nur aus Endo-
thelzellen zusammengesetzten Gefäßen, zwischen
den einzelnen Zellengruppen der Gewebe verteilt ;
Hüllen von Bindegewebe, welche diese Zellen-
gruppen umgeben und verbinden, sind die Träger
der Gefäße, in den Spalten dieser faserigen Hüllen
sind feine Zellen vorhanden, die Bildungszellen
des Bindegewebes. —
Wenn das in den Kapillaren überall verteilte
Blut seine Bildungsstoffe und den Sauerstoff ab-
gegeben hat, wird es in den Venen wieder ge-
sammelt, der rechten Herzhälfte und den Lungen
zugeführt. Bevor jedoch dies ausgenützte Blut
wieder in das Herz und die Lungen gelangt, nimmt
dasselbe die in eigenem Gefäßsysteme gesammelten
Bestandteile der Lymphe auf, denen die durch die
Gefäße des Chylus dem Darme entnommenen
Bildungsstoffe beigemengt sind. Die feinsten
Wurzeln dieses Gefäßsystems, das in der Rich-
tung gegen das Herz seine Gefäße zu immer
größeren Stämmen vereinigt, gehen aus dem die
Gewebe umhüllenden Bindegewebe hervor. In
diesen Gefäßen werden Stoffverbindungen, welche
bei dem Stoffwechsel in den Geweben nicht ver-
wendet sind, dem Blute wieder zugeführt; in den
Lymphgefäßen bewegen sich die Lymphzellen oder
weißen Blutkörperchen, die, aus den Spalten des
retikulären Bindegewebes hervorgehend, sich in den
Lymphgefäßen sammeln und wohl hauptsächlich
die Aufgabe haben, solche in Geweben neuent-
stehenden Stoffverbindungen in das Protoplasma
ihrer Zellen aufzunehmen. Alles zu neuer Blut-
bildimg nötige Material wird dem Venenblute
wieder zugebracht, bevor dasselbe neuerdings in
den Lungen wieder mit Sauerstoff versorgt wird.
Die roten Blutzellen, die Erythrocyten, sind es,
welche die Aufnahme des Sauerstoffs in der Lunge
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 61
übernehmen und in den sich immer weiter verzweigen-
den Arterien zusammen mit den Bildungsstoffcn
des Blutes in alle Teile der Gewebe gelangen, um
daselbst ihren Sauerstoff abzugeben. Bereits in
den feinen Arterien findet die Bewegung dieser
Zellen in der Weise statt, daß sie den mittleren
Teil des Blutstromes einnehmen, den sogenannten
Achsenstrom bilden, während peripherisch zu beiden
Seiten dieses Stromes in dem Poiseuille'schen Raum
das Plasma des Blutes und die weißen Blutkörper-
chen sich bewegen, letztere sind im Blute in viel
geringerer Zahl vorhanden als die Sauerstoffträger.
In den Kapillargefäßen bewegt sich das Blut in
gleichmäßiger Strömung, die roten Blutkörperchen
nur einzeln hintereinander; die weißen Blutkörper-
chen, welche an den Wandungen der Kapillaren,
den Endothelzellen, sich hinschieben, bleiben viel-
fach an letzteren haften, um dann sich wieder los-
zureißen und an den Wänden der Gefäße weiter-
zurollen. — Dabei besitzen dieselben jedoch die
F'ähigkeit, sich unter Verschmälerung und \'er-
längerung ihres Zellenleibes zwischen den Endo-
thelzellen aus den Gefäßen herauszuschieben und
so in die Spalten des die Kapillaren umgebenden
Bindegewebes einzutreten. Diese Fähigkeit be-
sitzen die Leukocyten wohl auch bei normaler
Zirkulation, in viel höherem Maße aber zeigt sich
dieses Auswandern der Leukocyten bei krank-
haften mit Erhöhung des Blutdruckes einhergehen-
den Zuständen. Dann haben diese in größerer
Menge aus den Gefäßen austretenden weißen Blut-
zellen wohl die Aufgabe, das erkrankte Gewebe
von schädlichen Stoffen und den Resten der in-
folge der Erkrankung zerfallenden Gewebsteile zu
reinigen. Im gesunden und im kranken Gewebe
besteht die Tätigkeit der weißen Blutzellen darin,
Stoffe, die an Ort und Stelle nicht verwertet
werden, oder neu sich bildende Produkte des Stoff-
wechsels in das Protoplasma ihres Zellenleibes auf-
zunehmen. — Die mit der Lymphe in das Blut
eintretenden weißen Zellen führen solche Produkte
dem Blute zu, wo dieselben voraussichtlich mit
dem der Verdauung entnommenen Material zur
Herstellung neuer Protoplasmavcrbindungen ver-
braucht werden ; die aus den Gefäßen auswandern-
den Zellen werden vielfach von einer in den
Bindegewebsspalten vorhandenen, sehr energischen
Zellenart, den Bildungszellen oder fixen Zellen des
Bindegewebes, aufgenommen und verwendet.
Man hat angenommen, daß infolge des in den
Haargefäßen noch vorhandenen , gleichmäßigen,
durch die Tätigkeit des Herzens regulierten Blut-
druckes die Blutflüssigkeit aus diesen nur aus Endo-
thelzellen zusammengesetzten Gefäßen austreten
wird, um zunächst in die Spalträume des Binde-
gewebes zu gelangen; aus der austretenden Blut-
flüssigkeit würden die Zellen der verschiedenen
Gewebe und Organe die für die Zellenbildung
und Ernährung nötigen Stoffe direkt entnehmen
können.
Allein der Vorgang ist doch ein anderer. Ge-
rade in diesen sternförmigen oder vielgestaltigen,
miteinander in Verbindung stehenden Lücken des
Bindegewebes liegen die bereits erwähnten fixen
Zellen desselben. Diese Zellen füllen die Lücken,
in welche die Blutflüssigkeit eintritt, nicht voll-
ständig aus; es sind amöboide Zellen, also Zellen,
welche die Fähigkeit besitzen, unter Veränderung
der Form ihres hüllenlosen Leibes durch Aus-
senden von Fortsätzen Stoffe aufzunehmen und
wieder unter Kontraktionserscheinungen abzugeben.
Die amöboide Bewegungsform dieser Zellen, bei
der Stoffaufnaimie und Abgabe unter Veränderung
der Gestalt des ZeJlenleibes erfolgt, wird von den
Physiologen ausdrücklich hervorgehoben. Wenn
die weißen Zellen, welche aus den Gefäßen aus-
gewandert sind, nach kürzerem oder längerem Be-
stände wieder zerfallen, so können die Bestand-
teile des zerfallenden Protoplasma dieser Zellen
von den fixen Zellen wieder aufgenommen und
weiter verwendet werden, auch ist beobachtet, daß
noch erhaltene weiße Zellen von den Bildungs-
zellen des Bindegewebes aufgenommen werden.
Bildet sich Granulationsgewebe, so wird voraus-
sichtlich das Protoplasma der ausgewanderten, zu-
erst auf der erkrankten Stelle tätigen Leukocyten
weiterhin von den fixen Bildungszellen verwendet.
Diese amöboiden, in den Spalten des Binde-
gewebes lagernden zelligen Gebilde sind nach den
Anschauungen der Physiologen imstande, aus der
in diese Spalten eindringenden Blutflüssigkeit Be-
standteile aufzunehmen und wieder abzugeben ;
die Ausscheidung der Blutflüssigkeit aus den Ge-
fäßen geschieht unter Mitwirkung der die Wand
der Kapillargefäße bildenden Endothelzellen, denen
eine sezernierende Tätigkeit zugeschrieben wird.
Es ist die Eigenschaft der amöboiden Zellen, je
nach der Zusammensetzung ihres Protoplasma be-
stimmte Stoffe mit Vorliebe an sich zu ziehen
und aufzunehmen, also eine bestimmte Auswahl
unter dem von der umgebenden F"lüssigkeit ge-
botenen Bildungsmaterial zu treffen. Korpuskulare
Elemente oder Mikroorganismen, welche in den
Protoplasmaleib eindringen, werden unter nor-
malen Verhältnissen durch erhöhte Tätigkeit der
amöboiden Zelle unschädlich gemacht, dabei wird
das lösbare dieser festeren Körperchen verwertet,
das unlösbare wieder ausgeschieden.
Zwischen den feinen Gefäßen und den Zellen,
welche die Elemente der verschiedenen Organe
und Funktionsgewebe bilden und die bereits bei
der Entwicklung des Keimes durch LTmwandlung
in Epithelzellen zu den ersten Anlagen dieser
Funktionsgewebe werden, ist überall Bindegewebe
mit Spalträumen und den in den letzteren fest-
sitzenden Zellen vorhanden: solange das Wachs-
tum der Funktionsgewebe und Organe im Gange
ist, erscheint das anliegende Bitidegewebe mit zahl-
reichen, teilweise in Teilung begriffenen derartigen
Zellen durchsetzt, während die Ausscheidung der
Fasern des Bindegewebes noch eine geringere ist.
Man kann sich des Gedankens nicht erwehren,
daß diese amöboiden, der Blutflüssigkeit Bildungs-
stoffe entnehmenden Gebilde auch mit den Zellen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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der Funktionsgevvebe in Verbindung; treten und
auch an diese Bestandteile des aufgenommenen
Materials abzugeben haben. Je mehr das Wachs-
tum der Funktionsgewebe sich dem Ende nähert,
desto reicher an Fasern wird das anliegende Binde-
gewebe, zwiscJien diesen Fasern erscheinen dann
die erwähnten Zellen in verhältnismäßig geringer
Zahl, als Bildungszellen des Bindegewebes von un-
scheinbarem Aussehen.
Das Wachstum der aus der Befruchtung her-
vorgegangenen Keime geschieht in der Weise,
daß sich das kernhaltige Protoplasma des befruch-
teten Eies unter Spaltung aller wichtigen Kern-
bestandteile in zwei Hälften zerlegt, welche sich
dann durch Aufnahme von Bildungsstoffen, zu-
nächst der Dotterstoffe, und Umwertung derselben
wieder so ergänzen, daß jede der beiden neuen
aus der Teilung hervorgegangenen Zellen den
Wert und die Leistungsfähigkeit der ersten Bildungs-
anlage besitzt. Die gleichwertige Vervielfältigung
dieser Bildungsanlage, des kernhaltigen Protoplasma
des befruchteten Eies, geht in geometrischer Pro-
gression solange weiter, als Zellen und Gewebs-
teile in dem waclisenden Keime zu bilden oder,
falls ein Teil derselben zerstört wird, wieder neu
herzustellen sind. —
Alle die aus der gleichwertigen Vervielfältigung
des kernhaltigen Protoplasma des befruchteten
Eies hervorgegangenen Teilungsstücke werden als
Keimzellen bezeichnet; ein großer Teil derselben
wird dann weiterhin zu Epithelzellen umgewandelt,
die in Gruppen vereinigt die ersten Anlagen der
Organe und Funktionsgewebe herstellen. Während
diese Umwandlung stattfindet, lösen sich aber
weitere Keimzellen von den in den Keimblättern
vereinigten Epithelzellen ab (v. Hertwig), sie be-
teiligen sich nicht an der Bildung von Epithel-
zellen; diese zwischen den Epithellamellen sich
zerstreuenden Keimzellen können nach Art der
Wanderzellen amöboide Bewegungen ausführen,
sich durch Aufnahme von Dotterresten rasch ver-
mehren. Vermöge dieser Eigenschaften dringen
diese Keimzellen — von Hertwig als Mesenchym-
keime bezeichnet — in alle gröberen und feineren
Spalträume zwischen den Organanlagen ein, von
gallertiger Masse umhüllt. Dann legen sie sich
diesen Organanlagen an, unter Ausscheidung kolla-
gener Fasern werden diese amöboiden Zellen zu
den Bildungszellen der bindegewebigen Um-
hüllungen dieser Organe, die Spalträume des
Bindegewebes sind durch die Anwesenheit dieser
Zellen entstanden. Innerhalb der gallertigen Masse,
welche von diesen Zellen durchsetzt zwischen die
Epithelanlagen der Organe und Gewebe eindringt,
entstehen die Gefäße und Lymphräume, Blutzellen
und Endothelzellen gehen aus einem Teile dieser
Keimzellen hervor. Diese Zellen behalten daher
auch als Bildungszellen des Bindegewebes den
Charakter und die Eigenschaften der Keimzellen
bei, von denen sie stammen; sie bilden nie die
Elemente höherer Funktionszellen in ihrem Proto-
plasma, wohl aber sind sie imstande, gleich den
Mesenchymkeimen , unter amöboider Bewegung
Stoffe aufzunehmen, unter Abscheidung schleimiger,
dann kollagener Substanz wieder Bestandteile ihres
Protoplasma abzugeben. Da seitens der Histo-
logen konstatiert ist, daß diese amöboiden Binde-
gewebszellen F"ortsätze ihres Protoplasma zwischen
die weichen hüllenlosen Epithelzellen des Rete
Malpighii und zwischen die Zellen der tiefer liegen-
den Epithelschichten der Schleimhäute einschieben,
um daselbst Pigmente und Stoffwechselprodukte
abzugeben, so geht auch daraus hervor, daß diese
Zellen den Charakter der Mesenchymkeime bei-
behalten, so gut wie diese als embryonale, nicht
weiter differenzierte Zellen betrachtet werden dürfen.
Die gleichwertige Vervielfältigung der ererbten
Bildungsanlage geht also auch nach Bildung der
Epithelzellen der Keimblätter noch weiter fort und
diese neu entstehenden Keimzellen legen sich in
Gestalt der Bindegewebszellen den die Anlagen
der Organe und Gewebe bildenden Epithelzellen
an. In den Ernährungsmembranen, den binde-
gewebigen Umhüllungen der Organe und Gewebe,
sind daher noch Teile der Bildungsmasse vor-
handen, aus der diese Anlagen selbst hervorge-
gangen sind. Als Keimzellen, embryonale Zellen
sind diese den Funktionszelleii anliegenden Ge-
bilde während der Wachstumszeit in Teilung und
Vermehrung begriffen — nach Beendigung des
Wachstums sind die Bindegewebszellen voraus-
sichtlich bei Fortbildung und Verteilung der Er-
nährungsstoffe beteiligt. —
Die in den bindegewebigen Umhüllungen der
Organe und Gewebe nach Vollendung des Wachs-
tums noch vorhandenen Zellen sind zu betrachten
als die Reste der embryonalen Bildungsmasse, die,
aus der Vervielfältigung des ererbten kernhaltigen
Protoplasma hervorgegangen, das Material zur Bil-
dung aller Zellen abgibt.
Da nun diese amöboiden, aber dauernd in den
Spalten des Bindegewebes an bestimmter Stelle
verharrenden Keimzellen mit den Endothelzellen
der Kapillaren in engster Beziehung stehen, mit
Hilfe ihrer amöboiden Bewegungsfähigkeit Bestand-
teile der aus den Kapillaren entstehenden Blut-
flüssigkeit sowie die aus dem Zerfall der Leuko-
cyten hervorgehenden Produkte in ihren Zellenleib
aufzunehmen vermögen — so kann diese Verteilung
noch nicht differenzierter Keimzellen zwischen Ge-
fäßen und Funktionsgewebe doch nur den Zweck
haben, daß die aus Blut wie Lymphe austretenden
Bestandteile in das Protoplasma der ererbten, bei
allen Wachstumsvorgängen in den Geweben sich
fortwährend durch Teilung (Mitose) vervielfältigen-
den Bildungsmasse aufgenommen werden, um dann
weiterhin als Bestandteile dieser noch nicht differen-
zierten, noch labilen Bildungsmasse für die Bildung
neuer Gewebszellen in den vorhandenen Anlagen
verbraucht zu werden. — Bei allen Wachstums-
vorgängen im Organismus, bei jedesmaliger Bil-
dung neuer Gewebsteile, treten diese fixen Zellen
der Bindegewebsspalten in lebhafte Tätigkeit, um
durch Aufnahme von Bildungsstoffen aus Blut und
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 61
Lymphe den Inhalt der eigenen Zellen zu ver-
mehren und Kern und Zelle zu teilen. Weiter-
hin sind diese Zellen imstande, Teile ihres Inhalts
unter Abscheidung von Fasern (Fibrinausscheidung)
an die Anlagen der Gewebe abzugeben und hierdurch
die Herstellung neuer Gewebselemente zu ermög-
lichen. Diese fibrinbildende Substanz verschwindet
teilweise wieder, sobald die fixen Zellen neuer-
dings ihr Protoplasma vermehren und Mitose zeigen.
Aber auch die Leukocyten erhöhen bei allen Wachs-
tums- und Bildungsvorgängen ihre Tätigkeit; in
gleicher Weise wie die fi.xen Zellen aus den Mesen-
chymkeimen hervorgegangen, wie die fixen Zellen
die amöboide Bewegungsform beibehaltend, durch-
wandern sie alle Gewebsteile, um nach Aufnahme
der dort nicht verwendeten Stoffe in vermehrter
Zahl im Blute zu zerfallen, oder in größerer Menge
aus den Kapillaren auszutreten, um erst dann sich
aufzulösen. Bei allen Bildungsvorgängen, die eine
erhöhte Tätigkeit der fixen Zellen bedingen, werden
daher auch von diesen Wanderzellen ihre in den
Geweben aufgenommenen Protoplasmaprodukte in
größerer Menge dem Blute oder den fixen Zellen
selbst zugefiihrt. Neubildung von Leukocyten
durch Teilung fixer Zellen wird von den Physio-
logen angenommen und ist wegen der gleichen
Beschaffenheit ihres amöboiden, nicht differenzierten
Protoplasma sehr gut möglich.
Auch in den Pflanzen finden sich da, wo die
Vegetationspunkte auftreten, Komplexe vollkommen
gleichartiger Zellen, die bei Bildung neuer Ge-
websteile sich durch Teilung vermehren und voll-
kommen dem embryonalen Gewebe entsprechen.
Da wo neues Wachstum in den Wurzelstöcken,
Niederstämmen, Knollen, Zwiebeln sich entwickelt,
für dieses vermehrte Wachstum Sauerstoff in
größerer Menge verbraucht wird, zur Erhaltung
dieser lebhafteren Oxydation die in den grünen
Teilen der Pflanze gebildeten Kohlehydrate den
tieferen Teilen der Pflanze zugeführt und an Stelle
der verbrauchten in die Eiweißverbindungen auf-
genommen werden , finden sich zunächst eben
solche indifferente Zellen, die sich als embryonale
Gebilde durch Teilung vermehren , aber auch
während dieser Vermehrung den Charakter der
indifferenten Zellen beibehalten, dann weiterhin zur
Bildung neuer Anlagen von Sprossen, Zweigen
und Blättern verwendet werden. Auch bei Bildung
der Jahresringe in den Holzpflanzen sind bei ver-
mehrtem Stoff- und Sauerstoffverbrauch in dem
sogenatmten „Kambium" solche indifferente, gleich-
artige Zellen in lebhafter Vermehrung; weiterhin
werden diese embryonalen Zellen des Kambium
einerseits zur Bildung neuer Bastzellen, anderer-
seits zur Bildung neuer Holzzellen verwendet.
Man ist berechtigt anzunehmen, daß überall bei
allen lebenden Geschöpfen im ganzen Organismen-
reiche zwischen den bestimmten Funktionen dienen-
den Zellen und Gewebsteilen indifferente, embryo-
nale Zellen erhalten bleiben, welche den Charakter
der Keimzellen sich erhalten und bei allen Wachs-
tumsvorgängen zunächst unter Kernteilung ihr
indifferentes Protoplasma vermehren. Während
diese embryonalen Zellen, solange Wachstum und
neue Zellenbildung im Organismus stattfindet, sich
als solche durch Teilung vermehren, wird in dem
Protoplasma der bereits hergestellten Keimzellen
das Material zur Bildung von Gewebszellen auf-
genommen. Das Wachstum wieder anzuregen
vermag nur die noch nicht differenzierte Keim-
zelle; sobald dieselbe beginnt, in ihr Protoplasma
die zur Herstellung bestimmter Gewebselemente
nötigen Bildungsstofie in sich aufzunehmen, kann
dieselbe auch nur für das Wachstum dieser Ge-
webe verwendet werden. Dies entspricht aber
vollkommen dem Charakter der amöboiden Zelle.
Wenn das Reis einer Weide durch die ge-
schickte Hand eines Gärtners in kleine Stückchen
zerschnitten wird, kann aus jedem solchen Stücke
wieder ein neuer Weidenbaum sich entwickeln;
man hat angenommen, daß jede Gewebszelle einer
höher organisierten Pflanze die Fähigkeit besitzt,
ein neues Individuum der gleichen Art wieder zu
erzeugen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Zellen,
welche die Elemente eines bestimmten differen-
zierten Gewebes herstellen wie Bastzellen, Holz-
zellen oder Chlorophyll bildende Zellen sind nicht
imstande, wieder aus ihrer Protoplasmaanlage eine
neue Pflanze hervorgehen zu lassen. Nur dann,
wenn solche embryonale Zellen, wie sie bei Holz-
pflanzen in den Schichten des Kambium vorhanden
sind , zwischen den zu P'unktionsgewebe umge-
wandelten Zellen sich befinden, ist die Entwick-
lung einer neuen Pflanze aus den zerschnittenen
Teilen des Reises ermöglicht.
In der Leibeshöhle der Raupen findet sich eine
mit Fett durchsetzte Bindegewebsmasse, deren
Zellen wohl auch von Mesenchymkeimen oder von
Mesocyten stammen, also den Charakter der noch
nicht weiter differenzierten Keimzellen beibehalten.
Diese noch indifferenten embryonalen Zellen des
Fettkörpers vermehren sich bei der Verpuppung
in einer Weise, daß der ganze Puppenkörper mit
einer Masse solcher undeutlicher Zellen ausgefüllt
ist. Aus diesen undeutlichen, indifferenten Zellen
entsteht dann eine neue Bildungsmasse, welche
es ermöglicht, daß die noch vorhandenen in der
Raupe noch nicht entwickelten Anlagen sich weiter
ausbilden können ; dabei werden auch die weichen
Reste der früheren Gewebe nach ihrer Auflösung
verwertet und mit den im Fettkörper angesammelten
Vorratstoffen verbraucht.
Welche Bedeutung für Bildung neuer Gewebs-
teile die Bildungszellen des Bindegewebes haben,
geht auch aus den Beobachtungen hervor, welche
bei der Transplantation an den dabei verwendeten
Gewebsteilen gemacht worden sind. Wenn
die Wunde angefrischt und ein neues Haut-
läppchen aufgelegt ist, das noch einen Teil
des Papillarkörpers , eine geringe Schicht der
Lederhaut, des Bindegewebes unter den eigent-
lichen Hautzellen, besitzt, dann geht unter günstigen
Bedingungen und bei geeigneter Vereinigung die
Heilung in der Weise vor sich, daß von dem an-
N. F. III. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
965
gefrischten Granulationsgewebe der Wunde aus
die Bindegewebszellen an Inhalt und Zahl zu-
nehmen'und in die Reste des Papillarkörpers des auf-
gelegten Läppchens einwuchern, auch zur Bildung
neuer Gefäße kann es zwischen diesen Zellen
kommen. Durch die Vereinigung der Bindege-
webszellen, Fibroblasten, der Wunde und des Haut-
läppchens entsteht eine neue Unterlage für die
dem Papillarkörper aufliegenden weichen, membran-
losen Epithelzellen des Rete Malpighii; auf dieser
die Ernährung vermittelnden Unterlage vermögen
die erwähnten weichen Zellen sich durch Teilung
zu vermehren und dadurch weiterhin an Stelle
der sich ablösenden alten Hornzellen eine neue
Epithelschicht zu bilden.
Die Erhaltung eines Teiles des Papillarkörpers
scheint am aufgelegten Hautläppchen deswegen
notwendige Bedingung zu sein, weil die weichen
Riffzellen der Oberhaut in einer besonderen Weise
mit den direkt anliegenden Bildungszellen des
Bindegewebes vereinigt sind. Diese eigenartige
Struktur scheint bereits in den frühesten Monaten
der Entwicklung zu entstehen, wenn mit dem Ver-
schwinden der Basalmembran die Bildungszellen
des Papillarkörpers in die weichen Zellen des Rete
Malpighii einwachsen ; solche Strukturen, einmal zer-
stört, köinien durch die von der zu bedeckenden
Wunde ausgehenden Granulationszellen nicht wieder
hergestellt werden.
Ähnliche Vorgänge finden bei der Okulierung
und Pfropfung statt: auch hier werden die leb-
haften Gewebswucherungen , welche das aufge-
pfropfte Reis mit dem Grundstocke verbinden,
dadurch bedingt, daß zunächst die embryonalen
zwischen Holz und Bast eingelagerten Zellen die
Bildungsstofife der Säfte an sich ziehen und sich
dadurch vermehren. Auch hier bildet sich ein
Granulationsgewebe aus indifferenten Zellen, welche
dann weiterhin zu Holz- und Bastzellen sich um-
bilden. Durch diese Wucherung, welche in P'orm
eines Kallus auftritt, werden Reis und Grundstock
fest vereinigt. Beim Einfügen des Reises auf den
Wildling hat man darauf zu sehen, daß so viel
als möglich Rinde auf Rinde, Bast auf Bast, Holz
auf Holz zu liegen kommen, dann kann die Ver-
wachsung zwischen Edelreis und Wildling in der
Weise vor sich gehen, daß auch in diesen Fällen
die indifferenten, zwischen Bast und Holz liegen-
den Zellen des embryonalen Gewebes im Wild-
linge mit den gleichen Zellen des Edelreises sich
verbinden, daß hieraus eine Wucherung entsteht,
aus der weiterhin neue Holzzellen und Bastzellen
hervorgehen.
Ganz anderer Art als diese Vereinigung durch
Bildungszellen und neuentstehende Gewebsteile ist
die ebenfalls sehr feste Verbindung, welche para-
sitäre Organismen mit ihren Wirten — den Ge-
schöpfen, auf denen sie schmarotzen — eingehen
können. Parasitäre Organismen vermögen sich
nur dann festzusetzen, wenn die als Wirte be-
zeichneten Geschöpfe an der Stelle des Eindringens
der schützenden Deckzellen entbehren, oder wenn
die letzteren infolge von äußeren Schädigungen
oder Erkrankungen in schlechter Beschaffenheit
sind; verschiedene Parasiten sind mit Apparaten
versehen, welche denselben das Eindringen zwischen
den Zellen oder durch das Gewebe der Zellen
selbst ermöglichen. Im Falle die Schutzzellen
der Geschöpfe durch äußere Einflüsse geschädigt,
oder infolge von Erkrankung mangelhaft ausge-
bildet sind, vermögen die Keime der Parasiten
zwischen dieselben zusammen mit Staub, Schmutz
und Zersetzungsstofifen verschiedener Art an den
geschädigten Stellen einzudringen, in dem unter-
liegenden, weicheren Gewebe unter Vermehrung
ihrer Zellen, oder wie die höher entwickelten
pflanzlichen Parasiten unter Bildung von Wurzeln
oder wurzelartigen Fortsätzen sich festzusetzen.
Dadurch daß diese weicheren, des Schutzes ihrer
Deckzellen entbehrenden Gewebsteile, den ein-
dringenden Schädigungen ausgesetzt, sich aufzu-
lockern und teilweise zu zersetzen beginnen, werden
dieselben zum Nährboden für die Parasiten, welche
den weiterhin mehr und mehr zerfallenden Zellen
die für das eigene Wachstum geeigneten Stoffe
zu entnehmen imstande sind und sich so weit aus-
breiten, als es das zum Zerfall neigende kranke
und aufgelockerte Gew^ebe gestattet; bei diesem
Eindringen der Parasiten können Zersetzungs-
stofte verschiedener .Art entstehen, die in die Säfte
gelangen und weiterhin schädlich wirken.
Dem weiteren Umsichgreifen der Parasiten wird
nun gerade dadurch Einhalt getan, daß überall
zwischen und unter den Gewebszellen diese oben
erwähnten embryonalen Zellen vorhanden sind.
Was man von diesen Zellen weiß, spricht dafür,
daß dieselben in ihrem Protoplasma eine viel
größere Bildu ngsenergie und Widerstandskraft gegen
Parasiten besitzen, als sie dem Protoplasma der
Gewebszellen eigen sind. Unter dem Epithel des
menschlichen Organismus, in den Spalten des
Bindegewebes sind solche amöboide Zellen vor-
handen, welche mit dem Endothel der Gefäße
in nächster Beziehung stehen und zunächst die
Bildungsstofife in ihr Protoplasma aufnehmen; bei
Zerstörung von Gewebsteilen sind es diese Zellen,
welche die Regeneration einzuleiten, zunächst im
Granulationsgewebe die Grundlage für Bildung
neuer Gewebszellen herzustellen haben. Die Ent-
zündung, welche infolge einer Erkrankung oder
Schädigung in Geweben eintritt, ist zunächst da-
durch bedingt, daß diese amöboider Bewegung
fähigen Keimzellen ihre Tätigkeit erhöhen, Bil-
dungsstofFe in größerer Menge in ihr Protoplasma
aufnehmen. Die vermehrte Blutbewegung, die regere
Aufnahme von Sauerstoff, die Veränderungen an
den Endothelzellen, die Auswanderung der Leuko-
cyten aus den sich erweiternden Gefäßen , alle
diese teilweise mit der Wirkung der Gefäßnerven
zusammenhängenden Erscheinungen sind doch in
erster Linie veranlaßt durch die amöboiden Be-
wegungen dieser embryonalen Zellen. Erst wenn
diese Zellen sich unter Mitose vermehren, kann
das richtige Granulationsgewebe sich bilden, das
966
Natui-wissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 6i
die Regeneration in den geschädigten Geweben
einzuleiten vermag. Alle diese amöboiden Zellen
sind als gleichwertige, nicht differenzierte Teile der
ererbten Bildungsmasse zu betrachten, welche aus
der Vervielfältigung der ererbten Bildungsanlage
des befruchteten Eies unter gleichwertiger Teilung
aller wichtigen Kernbestandteile hervorgeht und
die sich in Form dieser amöboiden Zellen immer
wieder vor Bildung neuer Gewebszellen erneuert:
nicht um selbst zu Gewebszellen zu werden, son-
dern um den vorhandenen Gewebszellen durch
Abgabe von Bildungsstoffen die Teilung und Ver-
mehrung zu ermöglichen. Wenn die Wieder-
herstellung zerstörter Gewebsteile nicht immer ge-
lingt, so liegt die Ursache darin, daß mit den
zerstörten Gewebsteilen auch die in unmittelbarer
Verbindung mit diesen stehenden Bildungszellen
in größerem Umfange zugrunde gegangen sind;
dann wird wohl auch das Protoplasma der noch
vorhandenen, dem Endothel zunächst liegenden
Bildungszellen vermehrt, dasselbe geht aber in
kleinzelligem Zerfall wieder verloren, die dabei
ausgeschiedenen Fasern verdichten sich zu Narben-
ge webe. Die bei Bildung der ersten Gewebs-
anlagen hergestellten Strukturen können im Falle
ihrer Zerstörung durch die Tätigkeit der Bildungs-
zellen nicht wieder ersetzt werden; die Keimzellen
des Bindegewebes vermögen nur Bildungsmaterial
zu liefern.
So müssen auch die durch das Eindringen der
Parasiten in die oberflächlichen Gewebsteile ver-
anlaßten Schädigungen eine entzündliche Reaktion
bedingen, die sich eben dadurch äußert, daß zu-
nächst diese amöboiden Bildungszellen unter Er-
weiterung der Gefäße und Beschleunigung der
Blutbewegung Bildungsstoffe im vermehrten Maße
aus der Blutflüssigkeit aufnehmen, ihr eigenes Proto-
plasma unter den Erscheinungen der Kernteilung
vermehren. Erst dann, wenn dieser Vorgang ein-
geleitet, also neues embryonales Gewebe entstanden
ist, können die noch erhaltenen tieferen Zellen des
von den Parasiten befallenen Gewebes durch
Teilungsvorgänge neue Zellen herstellen. So-
lange die amöboiden Zellen des Bildungsgewebes
sich normal verhalten, in einem kräftigen, gesunden
Organismus tätig sind, solange wird nicht nur
der von den Parasiten befallene Organismus sein
Leben erhalten, es ist auch die Wahrscheinlichkeit
vorhanden, daß die Parasiten zugrunde gehen und
die geschädigten Gewebsteile wieder ersetzt werden.
Solange die Zellen des Bildungsgewebes in nor-
maler Weise" fungieren, ist nur dann Gefahr für
das Leben des Geschöpfes vorhanden, wenn die
Parasiten Zersetzungsstoffe mit sich führen, die
als hochgradige Gifte beim Eindringen in den
Körper rasch die Tätigkeit der lebenden Substanz,
also auch die amöboide Bewegung der Lymph-
zellen und Bildungszellen zu lähmen imstande sind.
Zur Bekämpfung der anderen, weniger intensiven
Giftstoffe und deren Träger reichen die Schutz-
mittel des Organismus aus, welche einesteils eben
darin bestehen, daß die unter dem erkrankten Ge-
webe tätigen amöboiden Zellen durch Vermehrung
ihres Protoplasma einen Damm gegen das Ein-
dringen der Parasiten und ihrer Gifte bilden,
daß andererseits die Lymphzellen, sowie bestimmte
in Blut und Lymphe \-orhandene Protoplasma-
verbindungen imstande sind , die Giftstoffe der
Parasiten und ihre Träger unschädlich zu machen.
Wenn der Hauptstamm oder Ast eines Laub-
holzes quer abgeschnitten wird, so entsteht an
dem Stummel in der Grenze von Holz und Bast
ein Gewebskörper, der sich aufwulstet und die
Gestalt eines Ringwalles annimmt. Die durch-
schnittenen, bloßliegenden Holzzellen haben nicht
die Fähigkeit, sich zu teilen und zu vermehren
und den Ausgangspunkt für ein solches Gewebe
zu bilden, sie vertrocknen oder faulen und sterben
ab. Das Gewebe bildet sich aus den indifferenten
Zellen des Kambium, es überwallt das absterbende
Holz. — Diese Wucherung wird als Kallus be-
zeichnet, mit der Neubildung verglichen, welche
bei Verletzung des Knochens sich vom Periost
aus bildet. Diese Wucherung geht hier wie dort
von den Bildungszellen aus, den embryonalen
Zellen, welche sich bei jedem Wachstume zu-
nächst vermehren. Den in dem Aste vorhandenen
embryonalen Zellen wohnt die Fähigkeit inne,
solange sich in Gestalt solcher Zellen durch Teilung
weiter zu vermehren, als die Bildung neuer Ge-
websteile auf diesem jetzt abgetrennten Aste hätte
stattfinden können. Auf der Wucherung der ver-
stümmelten Pflanze entstehen daher Bildungsherde
für neue Knospen : der sogenannte Stockausschlag.
— Der Kallus ist zwischen Bast und Holz einge-
keilt, die Neubildung besteht aus indifferenten,
parenchymatösen Zellen, zwischen denselben treten
aber auch Gefäßbündel auf, welche die organische
Verbindung mit dem alten Llolze herstellen. Aus
diesem Kallus können Jahre hindurch immer wieder
neue .Sprosse sich bilden, solange das abgeschnittene
Stück des Baumes oder Astes wachstumsfähig ge-
wesen wäre. „Unwillkürlich," sagt Kerner im
Pflanzenleben, „wird man bei Betrachtung dieser Ge-
bilde, aus deren indifferenten Zellen neue .Sprossen
hervorgehen, an die durch Pfropfen veredelten
Bäumchen erinnert. Auch die Parallele mit gewissen
schmarotzenden Pflanzen drängt sich auf nament-
lich mit der Ringelblume (Loranthus), deren Ver-
bindung mit dem Wirte dadurch entsteht, daß
durch die Tätigkeit der in die Gewebsteile ein-
dringenden Senker (wurzelartige Fortsätze) des
.Schmarotzers veranlaßt eine Wucherung der zwischen
Holz und Bast vorhandenen indifferenten Zellen,
ein eingekeiltes, sich später zu Holz und Bast-
teilen umwandelndes Gewebe entsteht, welches
das weitere Vordringen dieser Senker verhindert,
nach der Peripherie zu dieselben immer weiter
gegen die Außenfläche hinausschiebt. Durch den
Reiz des eindringenden Schmarotzers bedingt
werden die embryonalen Zellen dieses Gewebes
zu vermehrter Teilung veranlaßt und rufen diese
Wucherung des Kallus her\-or; ebenso wie bei
Entzündung im menschlichen Organismus die Bil-
N. F. in. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
967
dungszellen des Bindegewebes zur Vermehrung
ihres Protoplasma und weiterhin zu mitotischer
Teilung veranlaßt werden. —
Die Bildung der sogenannten Markgallen wird
durch Insekten, Mücken, Wespen etc. veranlaßt,
welche die vorher genau untersuchten Pflanzen-
teile anstechen, um ihre Eier daselbst einzulegen.
Dieselben werden entweder nur unter die Epi-
dermis abgelegt, oder der Stich dringt so weit ein,
daß das Ei in die tieferen Gewebsschichten zu
liegen kommt; aber auch in dem ersteren Falle
beißt sich die dem Ei entschlüpfende Larve bis
in die tieferen Teile der Pflanze durch. Die Hohl-
räume in den tieferen Schichten, welche dann bis
zur Verpuppung diese Larven als Wohnung be-
nutzen, die sog. Gallenkammern, sind von festen
Schichten umgeben, während im Innern derselben
ein Lager sehr zahlreicher, äußerst dünnwandiger
Zellen das Ei und die auskriechende Larve um-
gibt. Die Bildung dieser Zellen des „Markes" be-
ginnt bereits mit der Einlegung des Eies, die aus-
kriechende Larve verwendet diese nahrhaften Zellen
als Futter, fällt über dieselben her und weidet
sie ab; die abgefressenen Zellen ersetzen sich da-
durch, daß dieselben wieder durch Teilung sich
mehren.
Es ist wohl bestimmt anzunehmen, daß auch
diese saftreiclien Zellen, zu welchen die Larven sich
durchfressen, um Kammern mit hinreichender
Nahrung bis zur Verpuppung als Aufenthaltsort
zu erreichen, als Wucherungen des indifferenten
embryonalen Gewebes zu betrachten sind, das die
Gewebsanlage für die Ausbildung des Pflanzengliedes
abgibt und das sich solange erneuern kann, bis
der betreffende Teil der Pflanze vollkommen aus-
gebildet ist.
Nun kommt dieses embryonale Gewebe der
in demselben schmarotzenden Larve zu gute, der
Pflanzenteil, dem der größte Teil der in diesen
embryonalen Zellen entlialtenen Nährstoffe für die
Ausbildung seiner Zellen und Gewebsteile entzogen
wird, verdickt sich und schrumpft (Narbengewebe).
Solange die normale Ausbildung des vom In-
sektenstich getroffenen Pflanzenteiles gedauert hätte,
bilden sich die embryonalen Zellen : solange kann
die Larve dieselben als das sich immer erneuernde
Futter verwenden ; ist die Zeit um, in welcher
der unverletzte Pflanzenteil seine Entwicklung und
Ausbildung durchzumachen hat, dann hört die Bil-
dung embryonaler Zellen an den Vegetations-
punkten dieses Pflanzenteiles auf, auch die Larve
wird dann kein Futter mehr beziehen können, und
falls sie nicht zur Verpuppung reif die Kammer
verlassen hat, geht sie mit dem austrocknenden
Pflanzengewebe zugrunde. Die Wucherung (neue
Zellenbildung) des Markes wird nicht allein durch
den Reiz der eingelagerten Larve bedingt , die
Fähigkeit der Pflanze, an dieser Stelle neue em-
bryonale Zellen zu bilden, ist begrenzt durch den
Umfang der Gewebsanlage, welche hier zu ent-
stehen hat, und dauert nur solange, bis die von
der Ausbildung der Anlage in Ansprucli genom-
mene Zeit vorübergegangen ist. Ist dieser Zeit-
raum vorbei, so ist auch an dieser Stelle die Mög-
lichkeit neuer Zellenbildung nicht mehr vorhanden.
Werden die während dieser Zeit neu durch Teilung
entstehenden embryonalen Zellen von der Larve
aufgezehrt, so schrumpft die Bildungsanlage des
Pflanzemeiles zu festem, faserigem Gewebe zu-
sammen. Die Ähnlichkeit mit den Vorgängen
der Granulation im menschlichen Organismus ist
nicht zu verkennen. Das eierlegende Insekt weiß
recht gut, daß seine Larve in der Kammer Nahrung
für eine bestimmte Zeit, die Zeit des Wachstums
bis zur Puppenreife, bedarf, daß nur Pflanzenteile
mit gut entwickelter Anlage die Garantie bieten,
das Nahrungsmaterial für diese Zeit zu liefern.
Daher werden auch die jungen, noch wachsenden
Pflanzenteile bei Ablegung der Eier bevorzugt.
Nach dem, was man von den Schutzkräften im
lebenden Körper weiß, wird man annehmen dürfen,
daß gerade diese unter dem Epithel liegenden,
Fortsätze ihres Protoplasma zwischen die tieferen
Lagen der Epithelzellen einschiebenden Bildungs-
zellen, die bei jeder Schädigung der Gewebe in
energische Tätigkeit treten, daß diese amöboiden
Zellen in Gemeinschaft mit den Lymphzellen in
einem normalen und von gesunden Vorfahren
stammenden Organismus imstande sein werden,
das weitere Eindringen der in den Schleimhäuten
festsitzenden Parasiten zu verhindern, die Erkran-
kung der Epithelzellen, welche die Ansiedlung der
Parasiten ermöglichte, wieder auszugleichen, durch
Bildung neuen Keimgewebes die Herstellung neuer
Gewebselemente zu ermöglichen.
Es gibt nun eine Reihe von Erkrankungen, bei
denen gerade diese Bildungszellen der Sitz der
Parasiten werden ; unter diesen Erkrankungen sind
besonders Tuberkulose und Skrophulose hervor-
zuheben. Bei diesen Erkrankungen sind die wesent-
lichsten Herde der Erkrankung und der Tätig-
keit der Bazillen vorwiegend in dem Bindegewebe
und den Follikeln des retikulären Gewebes, in den
Lymphdrüsen zu finden. In den Spalten des
Bindegewebes, in denen sonst diese amöboiden
Zellen hausen, und bei allen Wachstumsvorgängen
der Gewebe zunächst ihre eigene embryonale
Zellenmasse vermehren, in diesen Spalten treten
bei den erwähnten Erkrankungen kleinzellige
Wucherungen auf, zwischen denen große, viel-
kernige, entartete Gebilde den Sitz der Mikro-
organismen bilden. Gerade diese Bildungszellen,
aus denen im normalen Organismus bei Zerstörung
von Gewebsteilen die als Granulation bezeichnete
Zellenwucherung hervorgeht, die gegen das Ein-
dringen der Bazillen immun ist und zur Her-
stellung neuer embryonaler Zellen führt, werden
bei Tuberkulose unter Einwirkung der Bazillen in
einer Weise verändert, welche den Zerfall des
Protoplasma zur Folge hat. Das Auftreten von
Bazillen in diesen Bildungszellen, welche im nor-
malen Organismus durch Erneuerung ihrer embryo-
nalen Zellen die Grundlage für alles Wachstum
und für die Regeneration zerstörter Gewebsteile
968
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6i
herstellen, spricht doch wohl dafür, daß bei den
mit Tuberkulose behafteten Kranken diese Zellen
selbst eine verminderte Leistungsfähigkeit besitzen,
daß die Keimanlage, aus welcher dieselben her-
vorgehen, selbst eine minderwertige ist. Bei einem
großen Teile dieser Kranken wird die Annahme
dadurch bestätigt, daß deren Eltern oder Vor-
eltern tatsächlich an Tuberkulose oder auch anderen,
schweren erschöpfenden Erkrankungen gelitten
haben; bei vielen anderen ist nachzuweisen, daß
dieselben einen großen Teil ihrer Kinderjahre in
sehr ungünstigen Lebensverhältnissen, in engen,
dicht besetzten, schlecht zu lüftenden Wohnungen
bei unzweckmäßiger, nicht ausreichender Ernährung
zu verbringen hatten. Gerade während der Zeit
des lebhaften Wachstums ist das die Organe und
Gewebe umhüllende Bindegewebe noch reicher an
Zellen, die Grundsubstanz noch mehr gallertig, mit
Fasern weniger durchsetzt ; in einer Lebensperiode,
in der also noch fortwährend in Gestalt dieser
Zellen neues Keimgewebe entsteht, ist Mangel an
Sauerstoff und Bildungsstoften im Blute vorhanden;
das Material wird nicht ausreichend geliefert, welches
diese Bildungszellen zur Ergänzung ihres noch in-
differenten, während der Wachstumszeit der ener-
gischen Erneuerung bedürftigen Protoplasma nötig
haben.
Gerade bei Kindern, welche einen Teil ihrer
Jugend unter solchen ungünstigen Verhältnissen
verbringen, bilden sich häufig die Krankheits-
erscheinungen aus, welche unter dem Namen der
Skrofulöse zusammengefaßt werden. Das Charakte-
ristische derselben ist, daß nicht allein die Aus-
bildung der Gewebszellen überhaupt mangelhaft
erscheint, namentlich die Zellen der Schleimhäute
und der Epidermis eine große Neigung zum Zerfall
zeigen, und dadurch der Sitz sehr hartnäckiger
Entzündungsvorgänge werden, sondern daß auch
die Heilung eine sehr verzögerte und unvoll-
kommene ist.
Hier zeigt sich, daß die Bildungszellen des
Bindegewebes, welche unter Bildung von Granula-
tionsgewebe die Heilung einzuleiten haben, dieses
Granulationsgewebe nicht in entsprechender Weise
herzustellen vermögen. Die skrofulöse Granula-
tion zeigt große Neigung zum Zerfall, die klein-
zelligen Wucherungen bestehen lange fort, die
Wunden und die durch die vorausgegangene Er-
krankung bedingten Substanzverluste heilen in-
folge des häufigen Zerfalles der Granulationen nur
langsam, festes ausgedehntes Narbengewebe schließt
die Wunden. Während der Wachstumszeit der
Kinder treten an der inneren, dem Knochenge-
webe zunächst liegenden Schicht des Periost, der
bindegewebigen Ernährungsmembran, sowie um
die gegen das Knochengewebe vordringenden Ge-
fäße lebhafte Wucherungen der Bildungszellen auf,
es wird hier neues embryonales Gewebe gebildet,
aus dem nicht nur neue Knochengewebe, auch
neue Knochenzellen entstehen; diese während des
Wachstums der Knochen sich andauernd ver-
mehrenden Zellen sind bei skrofulösen Kindern
vielfach sehr zarter, hinfälliger Natur. Infolge ge-
ringer Verletzungen, häufig ohne alle nachweis-
bare äußere Einwirkung gehen diese Zellen in
Eiterzellen über, oder dieselben entarten in der
für Tuberkulose charakteristischen Weise unter der
Einwirkung von Bazillen. Dabei ist jedoch zu be-
merken, daß die Bazillen bei den skrofulösen Er-
krankungen nicht immer aufgefunden werden. Jeden-
falls wird man annehmen dürfen, daß infolge der
früher erwähnten Umstände bei skrofulösen Kindern
die Bildung dieser embryonalen Zellen, des Proto-
plasma derselben, nicht wie im normalen Or-
ganismus vor sich gehen kann, daß infolgedessen
diese, bei allen Wachstumsvorgängen sich neuer-
dings durch Teilung vermehrenden Bildungszellen
der Schutzkraft gegen Mikroorganismen entbehren,
welche unter normalen Bedingungen gerade dem
Protoplasma dieser embryonalen Zellen eigen ist.
Wenn man die Veränderungen der Gewebsteile
bei den verschiedenen skrofulösen Erkrankungen
vergleicht, so kommt man zu der Überzeugung,
daß das Material zur Ersatzbildung für neue Zellen
nicht in ausreichendem Maße geliefert wird, daß
infolgedessen die Heilungsvorgänge nur langsam
und mit Bildung dichten Narbengewebes vor sich
gehen. Immer wird man darauf hingewiesen, daß
die Ursache der Erkrankungen in einer mangel-
haften Tätigkeit der Bildungszellen zu suchen ist,
welche zunächst in den Spalträumen des Zwischen-
gewebes die Bildungsstoffe der Blutflüssigkeit ent-
nehmen, weiterhin aber sind auch die im retikulären
Bindegewebe entstehenden Lymphzellen an der
Erkrankung beteiligt.
Sowohl die amöboiden Zellen, welche die
Bildungsstoffe der Blutflüssigkeit entnehmen, als
die Lymphzellen, welche die in den Geweben
nicht verwerteten Bestandteile dem Blute wieder
zuführen, alle die Zellen, welche aus den Keim-
zellen des Mesenchymgewebes hervorgehen und
bei allen Wachstumsvorgängen durch Teilung und
Vermehrung ihres Protoplasma immer wieder neue
Keimzellen herstellen, gerade diese Zellen sind
bei diesen Erkrankungen in Zerfall begriffen und
von Bazillen durchsetzt. Da diese Zellen bei nor-
maler Beschaffenheit gegenüber den Einwirkungen
der Mikroorganismen große Immunität zeigen, bei
diesen Erkrankungen aber unter dem Einflüsse
derselben zugrunde gehen, so ist man wohl be-
rechtigt zu der Annahme, daß der Vorgang der
Protoplasmabildung, durch den bei den Wachstums-
vorgängen immer wieder neue embryonale leistungs-
fähige Zellen entstehen sollen , bei Heilungsvor-
gängen mit Hilfe der Leukocyten Granulationen
zu bilden sind, in diesem Mesenchymgewebe nicht
in normaler Weise stattfindet. Die Disposition
zur tuberkulösen Erkrankung ist dann dadurch
gegeben , daß diese embryonalen, zwischen allen
Geweben entstandenen Bildungszellen wie die
Leukocyten ihre im gesunden Organismus vorhan-
dene Inmiunität und Widerstandskraft gegen die
Einwirkung der Bazillen verlieren, dies kann nur
dadurch geschehen, daß die Energie und Leistungs-
N. F. III. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
969
fähigkeil des der amöboiden Bewegung fähigen
Protoplasma dieser Zellen vermindert ist. Sobald
man zu der Überzeugung gekommen ist, daß
diese amöboiden Zellen des Mesenchymgewebes
nicht als einfache Gewebszellen zu betrachten sind,
daß dieselben ihren Charakter als Keimzellen be-
wahren, daher bei ihrer Teilung und Vermehrung
immer wieder neue Keimzellen bilden und für
das Wachstum der Gewebe immer wieder neues
Bildungs- und Ersatzmaterial herstellen, so wird
man daraus folgern, daß das Auftreten solcher
abnormer, durch die Einwirkung der Bazillen her-
vorgerufener Entartung dieser Zellen nur in einer
minderwertigen Leistung des Protoplasma dieser
Keimzellen Erklärung finden kann. Die Menschen,
welche von Tuberkulose befallen werden, erkran-
ken nicht allein, weil sie von Bazillen umgeben
dem Eindringen dieser Mikroorganismen in ihren
Körper ausgesetzt sind , sondern hauptsächlich,
weil bei denselben das im normalen Organismus
immune Keimgewebe wegen mangelhafter Be-
schaffenheit seiner Zellen von den Bazillen ange-
griffen und zerstört werden kann.
Diese embryonalen Zellen, welche sich zwischen
allem Funktionsgewebe erhalten, bei jedem Wachs-
tum dieser Gewebe sich durch Teilung vermehren,
werden diese verminderte Leistungsfähigkeit und
mangelhafte Immunität nur dann zeigen , wenn
sie einem Organismus angehören, der entweder
von kranken oder durch Erkrankung und Not
geschwächten Erzeugern stammt oder welcher
selbst infolge ungünstiger Lebensverhältnisse und
Gesundheitsstörungen während der Wachstums-
periode in seiner Entwicklung gehemmt und be-
einträchtigt ist.
Wenn man sich nur einmal den Unterschied
zwischen den einer bestimmten Funktion dienen-
den Gewebszellen und den embryonalen Zellen
dieses Keimgewebes klar gemacht hat, die zwischen
den Geweben bei jeder neuen Zellenbildung zuerst
in Tätigkeit treten, bei Zerstörung von Gewebs-
teilen mit Hilfe der Leukocyten Granulationen
bilden, gleich den Kambiumzellen beim Eindringen
der Schmarotzer in das Pflanzengewebe einen
schützenden Damm durch Vermehrung ihrer Zellen
gegen das weitere Vordringen der Parasiten her-
zustellen vermögen, so wird man der Ansicht
werden müssen, daß das abnorme Verhalten dieser
embryonalen Zellen bei den tuberkulösen und
skrofulösen Erkrankungen mit einer minderwertigen
Veranlagung oder mit Störungen der Tätigkeit
dieser embryonalen Zellen in Zusammenhang ge-
bracht werden muß.
Von diesen Anschauungen ausgehend, wird man
bei Bekämpfung dieser Erkrankungen nicht allein
die Beseitigung oder Vernichtung der Mikroorga-
nismen ins Auge zu fassen haben, man wird auch
alles tun, um die Blutbildung der Erkrankten oder
zur Erkrankung disponierten Menschen zu bessern,
den embryonalen Zellen die Aufgabe neues Proto-
plasma aus Blut und Lymphe herzustellen möglichst
zu erleichtern. Es wird sich darum handeln, bei
solchen Kranken die Ernährung in geeigneter, der
Individualität angepaßter Weise zu regeln, nament-
lich aber den zu dieser Erkrankung disponierten
Menschen leicht und gut zu lüftende, geräumige
und trockene Wohnungen zu verschaffen , den
Aufenthalt in freier Luft soviel als möglich zu
empfehlen. Dabei ist jedoch alles zu vermeiden,
was Entzündungsvorgänge veranlassen kann , da
ja die F"ähigkeit des Keimgewebes, mit Hilfe der
auswandernden Leukocyten Granulationen zu bil-
den, in diesen Fällen eine beschränkte ist.
Besonders ist Sorge zu tragen, daß die mit
skrofulösen Erkrankungen behafteten Kinder in
geräumigen, leicht zu lüftenden und trockenen
Wohnungen untergebracht, dem dichten Zusammen-
wohnen möglichst entzogen und in zweckmäßiger
Weise ernährt werden. Die skrofulösen Er-
krankungen sind der Boden, auf welchem die
Tuberkulose sich festsetzen und wuchern kann;
bestehen diese Erkrankungen noch nicht zu lange,
so kann es gelingen — besonders wo Heredität
ausgeschlossen ist — durch Anwendung der ge-
eigneten Mittel dieselben zur Heilung zu bringen
und die Erkrankten vor dem Auftreten der Tuber-
kulose zu bewahren.
Kleinere Mitteilungen.
Indisches Mittel gegen Vergiftung. — Ein
Inder, der mir viele schöne Geschichten erzählte,
und mit dem ich mich auch sonst über alles
Mögliche unterhielt, so daß ich viel Interessantes
erfuhr, sah sinnend auf einen kleinen Hund, der
von dem Grase fraß, das den Fuß der Säulen um-
wucherte. Wir saßen in einer offenen Halle. Ich
störte die Beschaulichkeit meines Gefährten nicht,
wußte ich doch aus Erfahrung, daß er von selbst
daraus erwachen und durch irgend eine Frage seine
Gedanken zur Besprechung Isringen würde; und
so geschah es.
„Weißt du, was du tun mußt, wenn ein Mensch
oder ein Tier vergiftet ist ?" fragte er mich
plötzlich.
Ich kramte alle meine Kenntnisse hierüber aus,
konnte ihn aber durchaus nicht befriedigen. Mit
leuchtenden Augen betrachtete er mich. Die innere
Freude sprach daraus hervor. Wie immer bei
solchen Gelegenheiten, wartete er voller Genug-
tuung auf den Augenblick, da ich sagen würde :
„Mehr weiß ich nicht."
Danach erzählte und erklärte er dann, zum
Schlüsse fragend : ,,Ist Tamilweisheit gut ?" —
Meine Bejahung war sein schönster und größter
Lohn.
Nachdem ich auch heute gestand, mit meiner
Weisheit zu Ende zu sein, hub er an :
970
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6i
„Du willst gern alles wissen, was indisch ist.
Ich will dir sagen, was du tun mußt.
In Indien dürfen auf den Marktplatz keine
Hunde kommen. Eines Tages fand sich auf dem
Markte zu Madras der prachtvolle, große Hund
eines Europäers an. Eingeborene hatten ihn be-
merkt und brachten ihm heimlich eine Dosis Gift
bei. Bald lag das Tier im Sterben. Sein Besitzer
war außer sich. Ich traf mit letzterem zusammen
und fragte ihn nach der Ursache seines Kummers.
Er erzählte mir alles und sagte: „Ja, in zwanzig
Minuten wird der Hund tot sein , wenn nicht
jemand augenblicklich Hilfe schafft."
Ich tröstete ihn und sagte, das könnte ich
wohl.
Der Herr zog seine Börse heraus, griff hinein
und sagte: „Hier ist ein Goldstück. Rette mir
den Hund !"
Ich verschaffte mir schnell sechs frische Eier
und viel gestoßenen Pfeffer, schlug die Eier tüchtig,
tat den Pfeffer hinzu und zwang den Hund, die,
Portion zu verschlucken. Er war gerettet.
Dies Mittel ist auch gut für Menschen. Wenn
du hörst, daß jemand sich vergiftet hat, so mußt
du ihm dies sobald wie möglich geben, und du
wirst ihn retten.
„Siehst du," rief er plötzlich aus, „da ist ein
Beispiel, daß wir immer alles um uns herum be-
obachten müssen und darüber nachdenken; so
können wir sehr viel von der Natur lernen. Was
siehst du da?"
„Einen kleinen Hund?"
„Was tut der kleine Hund?"
„Er frißt Gras."
„Hast du das schon öfter gesehen ?"
,,Ja, schon sehr oft. Seitdem wir hier sitzen,
ist dies ja schon der so und sovielte," erwiderte
ich lachend.
„Hast du auch gesehen, daß Katzen Gras
fressen? Weißt du, warum sie das tun?"
„Es ist gesund für sie."
„Nun, ich sehe, du weißt nichts Bestimmtes
darüber. Ich will es dir sagen. Hunde und Katzen
leiden zeitweise an einer Art Vergiftung. Das ist
sehr leicht erklärlich. Sie suchen bald hier, bald
da ihre Nahrung und genießen auf diese Weise
häufig etwas, was ihnen schädlich ist. Besonders
bei den Katzen kommt das oft vor, nachdem sie
Ratten gefressen haben. — Du weißt, Ratten sind
gar nicht wählerisch ; sie fressen, worauf sie ge-
rade stoßen, ob es nun ein wirkliches Nahrungs-
mittel ist oder nicht; das bleibt sich ihnen ganz
gleich. Darum ist es aber auch gar nicht selten,
daß Ratten giftig sind, und wenn dann eine Katze sie
frißt, so vergiftet diese sich auch.^) Die Natur
aber sagt den Tieren, wie sie sich heilen können.
Darum siehst du Hunde und Katzen von Zeit
zu Zeit ein bestimmtes Gras fressen, und du bist
dann sicher, daß das ein gutes Gegengift ist, das
du auch bei Menschen anwenden kannst.
Wenn du hörst, daß jemand sich vergiftet hat,
so nimm schnell ungefähr drei Eier, schlage das
Weiße gut mit viel gestoßenem Pfeffer vermischt
und laß es den Betreffenden hinunterschlucken.
Darauf nimm schnell ein Glas voll Wasser und
ein Bündel von dem gewissen Grase, wasche es
gut und lasse es eine halbe Stunde mit dem
Wasser kochen. Den so gewonnenen Trank gib
dem Vergifteten zu trinken, und du wirst ihn
retten."
Mein Pundit — dieser indische Gelehrtentitel
kommt ungefähr unserem Doktorgrad gleich, wird
vom Europäer häufig dem Dolmetsch beigelegt —
erhob sich und forderte mich auf, dasselbe zu tun.
Wir betrachteten nun den üppigen Graswuchs,
der sich hauptsächlich um den Fuß der Säulen
entfaltete. Büschelweise schoß es emjjor. Bis
dahin hatte ich weiter nicht darauf geachtet, daß
es wenig unterscheidbare, aber verschiedene Sorten
waren. Seitdem mein Pundit mich jedoch auf-
merksam gemacht hatte, beobachtete ich, daß
täglich fast jeder vorübergehende Hund, jede vor-
beihuschende Katze bei einem ganz bestimmten
Büschel stehen blieb, ein paar Bissen verschluckte
und dann weiter lief —
Dies immerwährende, eingehende Erforschen
der Natur bei den farbigen Völkern ist mir, wo
sich mir die Gelegenheit bietet, es zu beobachten,
außerordentlich interessant. Oft habe ich erfahren,
daß sie sich so auf geradem Wege vieles aneignen,
was wir zuweilen nur durch viele Mühe und Arbeit
und große Kosten erreichen. Nur sind die Er-
rungenschaften des einst so beschaulichen Daseins
wohl einen bedeutend langsameren Schritt gegangen
als die wissenschaftlichen des heutigen rastlos
tätigen Lebens. Paula Karsten.
') In der Tat heiflt es auch bei uns: „Die Katze hat
eine Ratte gefressen und sich vergiftet," wenn wir sie so an-
haltend, verzweiflungsvoll miauen hören und so jämmerlich
dreinblickend umherirren sehen. Ebenso kennen wir die
gierige Gefräßigkeit der Hatte. Alles, was sie überhaupt fort-
schleppen kann, findet sich in ihrem Schlupfwinkel. Danach
muß sie eine erstaunliche Kijrperkraft besitzen, denn selbst
Beobachtungen von Nils Ho Imgren in den
Sümpfen Lapplands erteilen bestinmiten Ameisen
eine wichtige Rolle als Hügelbildner. ') Ein
Sumpf jener Gegenden weist in der Regel drei
Zonen auf, eine äußere, die Weidezone, welche
neben Birke, F"ichte und Kiefer eine stark ent-
wickelte LTntervegetation aufweist, eine mittlere,
die Zone der Sphagnumhügel, welche hauptsäch-
lich von Sphagnumarten und Betula nana be-
wachsen ist, und eine innere, die Zone der ero-
dierten Sphagnumhügel, welche sehr feucht und
moorig ist und den eigentlichen Sumpf darstellt.
In allen drei Zonen finden sich nun die Nester
der Forviica cxsccta, aber während sie in der
Bürsten, Lappen und alle möglichen Gegenstände räubert sie.
Ein wie gefährlicher Verschleppcr von ansteckenden Krank-
heilen sie ist, wissen wir auch.
') Zool. Jahrbücher. Abteil, für System, etc. Band 20.
1904.
N. F. in. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
971
Weidezone spärlich und von einer beträchtlichen
Höhe (bis zu i m) sind, treten sie in der mittle-
ren Zone am zahlreichsten auf, erreichen dafür
aber auch hier nur noch eine beschränkte Höhe
(bis zu 60 cm), im eigentlichen Moor sind sie
dann wieder seltener. Die Größe der Ameisen-
haufen in der Weidezone hängt damit zusammen,
daß hier die Ameisen reichliches Baumaterial fin-
den, welches ihnen in den inneren Zonen weit
spärlicher zur Verfügung steht. Sodann aber
werden in den letzteren Gebieten die Ameisen-
haufen auch noch durch die Invasion von Pflanzen
stetig bedroht, welche die Ameisen schließlich
zwingt, das alte Nest zu verlassen und neue Kolo-
nien anzulegen, woraus sich auch die große Zahl
der Nester in der mittleren Region erklärt. Es
ist namentlich Polytrichum strictum, welches die
Ameisenhaufen, in deren relativ trockenem Boden
es die günstigsten Existenzbedingungen findet, be-
fällt, und Verf. konnte alle Phasen dieses steten
Kampfes zwischen Ameisenkolonie und Pflanzen-
invasion beobachten. Stets fällt derselbe zu Un-
gunsten der Kolonie aus, und nur in der Weide-
zone besitzen die Ameisen genügend Anbaumaterial,
um der Invasion wirksam entgegenzutreten. Auf
der ersten Stufe hätten wir also eine neu ange-
legte, kuppeiförmige Kolonie (Fig. 1), die von
sich zur Auswanderung gezwungen sehen. Ein
Nest, wie es Fig. 4 im Schnitt darstellt, ist bereits
Fig
Ameisen reich bevölkert ist. An der einen Seite
dieses Nestes beginnt nun der Polj-trichumteppich
(P) emporzuwachsen (Pig. 2), er umgibt den unte-
ren Teil des Nestes in stetig zunehmendem Maße
Fig. 2.
und bewirkt so , daß dieser Teil des Nestes von
den Ameisen verlassen wird. Und zwar geschieht
letzteres aus dem Grunde, weil Polytrichum reich-
lich Wasser an sich zieht und festhält, und auf
diese Weise die von ihm umschlossenen Teile
eine zu hohe Feuchtigkeit für die ."Ameisen be-
sitzen. Immer mehr wächst nun das Polytrichum
(P) nach oben, da es den Ameisen an Baumaterial
fehlt, um sein Vordringen zu bekämpfen, und bald
ist ein Stadium erreicht (Fig. 3) , auf dem nur
noch der obere Teil des Nestes von Ameisen
bewohnbar ist. Wird das Nest noch weiter ' ein-
geengt, so beginnt die Bewohnerzahl der Kolonie
schnell an Zahl abzunehmen, indem die Ameisen
Fig. 3-
Fig
sehr arm an Ameisen, die sich nur noch auf der
obersten Spitze des Hügels zu halten vermögen,
und schließlich wird es ganz verlassen und auf-
gegeben, wwrauf das Polytrichum (P) alles über-
wuchert. Inzwischen hat sich auf dem Hügel
eine neue Invasion bemerkbar gemacht, denn auch
das Polytrichum wird verdrängt, und seine Stelle
durch Sphagnum (Fig. 4, Sph) eingenommen. Und
so geht schließlich aus dem Ameisenhaufen als
Endprodukt ein Sphagnumhügel hervor, auf dem
noch eine ganze Reihe anderer niedriger Pflanzen
sich im Laufe der Zeit ansiedeln; es spielen also
die Ameisen eine wichtige Rolle bei der Hügel-
bildung in diesen Sümpfen, indem ihre Nester als
Ansatzpunkt der Moor- und Torfvegetation dienen.
J. Meisenheimer.
Eine interessante Zwischenform zwischen
Meduse und Rippenqualle hat neuerdings C.
Dawydoff 'j beschrieben. Um dieselbe zu ver-
stehen, müssen wir zunächst kurz auf den Bau
dieser beiden F"ormen eingehen. Eine Meduse,
und zwar eine craspedote Meduse (Fig. i), be-
steht aus einer glockenförmig gestalteten Gallert-
scheibe, deren äußere, konvexe Fläche als Exum-
brella (exu) und deren innere Wand als Subum-
brella (sbu) bezeichnet wird. Vom Rand der
Scheibe springt eine dünne, muskulöse Membran
gegen die Subumbrellarhöhle vor, das Velum (v),
dessen Kontraktionen die Fortbewegung der Me-
duse herbeiführen. Am Rand der Scheibe sind
weiter die Tentakel (t), sowie besondere Sinnes-
organe eingefügt. Von der Mitte der Scheibe
ragt in die Subumbrellarhöhle der Mundstiel, das
Manubrium (mbu), hinein, welcher an seinem freien
') C. Dawydoff. Hydroctena Salenskii (Etüde mor-
pliologique sur un nouveau Coelenlere pelagique. Mein. Acad.
imp. Scienc. St. Petersbourg. 1903.
972
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6i
Ende den Mund (m) trägt. Der Mund führt durch genähert, zwei Tentakel (t), die in besondere Taschen
den Mundstiel über in den zentral gelegenen der äußeren Haut (ta) zurückgezogen werden können.
Magen (ma), von dem radiäre Kanäle (rk) aus- Der Mund führt durch einen langen, schmalen
Fio
I. Schema einer craspedoten Meduse (nach Parker und
Haswell).
-ta
strahlen , die ihrerseits in einen peripheren
Ringkanal (rgk) münden, so daß auf diese Weise
die ernährende Flüssigkeit den Randorganen zu-
geführt wird.
Bedeutend komplizierter stellt sich der Bau
einer Rippenqualle oder Ctenophore dar (Fig. 2).
Der gallertige Körper ist meist ovoid gestaltet und
hat seine streng radiäre Anordnung verloren. An
dem einen Ende des Körpers ist der Mund (m)
Fig. 2. Schema einer Ctenophore (nach Hatschek).
Schlund (schl) in den Magen, von dem nun
eine Reihe von Gefäßen entspringen. Vier ziehen
zu den Rippen und verteilen sich an denselben
(gfl), zwei ziehen an den Seiten des Schlundes
zum oralen Pole (gfll), zwei gehen zu der Wand
der Tentakelscheiden (gflH) und ein unpaares Ge-
fäß endlich begibt sich zu dem aboralen Sinnes-
körper (gflV), wo es sich in 4 Äste spaltet, die
zum Teil nach außen münden.
Fio
Hydroctena Salenskii (nach Dawydoff).
gelegen, an dem entgegengesetzten findet sich ein
Sinnesorgan (sg), welches in einer grubenförmigen
Vertiefung liegt und neben einem modifizierten
Sinnesepithel vor allem durch seine Otolithen aus-
gezeichnet ist. Weiter ziehen an der Außenseite
des Körpers vom aboralen zum oralen Pole acht
Reihen von Plättchen, die sog. Rippen (r), welche
durch ihre Bewegungen die Ortsveränderungen des
Organismus herbeiführen. Und endlich finden sich
noch zu beiden Seiten, dem aboralen Pole etwas
Und nunmehr können wir etwas näher die er-
wähnte Zwischenform betrachten, die Dawy-
doff in 3 Exemplaren bei Amboina (Molukken)
erbeutete und die er Hydroctena Salenskii
nannte. Sie bildet (Fig. 3") eine fast halbkugelige
Glocke von etwa 4 mm Höhe, deren oberer Teil
stärker gewölbt erscheint. Wir finden nun zu-
nächst eine wohlausgebildetes Velum (v), das einen
Subumbrellarraum einschließt, in welchem das
kleine Manubrium (mb) mit dem Munde (m) ge-
N. F. m. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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legen ist. Am Rande der Glocke liegen weder
Tentakel noch Sinnesorgane, wohl aber finden
sich symmetrisch zu beiden Seiten, dem aboralen
Pol genähert, zwei rotgefärbte tentakelartige Ge-
bilde (t), die in eine besondere Scheide (ta) zurück-
ziehbar sind. Weiter liegt am aboralen Pole ein
Sinnesorgan (sg), bestehend aus einem intensiv
orange pigmentierten Flimmerring und einer tief
eingesenkten Statocyste. Der Magen (ma) läuft
weder in Ring- noch Radiärgefäße aus, dagegen
sendet er zwei Ausbuchtungen nach den beiden
Tentakelscheiden hin (gflll), sowie eine unpaare
nach oben zu dem aboralen Sinnesorgan (gflV).
Die Fortbewegung erfolgt mit Hilfe der Tentakeln
und des Velums.
Vergleichen wir nun diese Form mit den zu-
erst genannten, so ergibt sich sofort, daß dieselbe
nach dem Habitus, nach Umbrella, Velum, Manu-
brium zweifellos eine craspedote Meduse darstellt,
daß dagegen der Tentakelapparat, das aborale
Sinnesorgan, sowie die Anordnung der Magen-
gefäße auf nahe Beziehungen zu den Ctenophoren
hinweist. Hydroctena unterscheidet sich indessen
von den Ctenophoren vor allem durch das Fehlen
des Schlundrohres und der Schwimmblättchen,
auch sind keine Greifzellen, wie bei jenen vor-
handen, sondern Nesselzellen, wie sie den Medusen
zukommen. Wenn sie aber weder Ctenophore
noch Hydromeduse ist, so muß sie ihrer Organisa-
tion nach als eine Zwischenform beider Typen
angesehen werden, ohne daß freilich ihre Ab-
leitung aus einer Hydromeduse zurzeit durchführ-
bar wäre, zumal noch jede Kenntnis der Ge-
schlechtsorgane und der Entwicklung fehlt.
Bemerken will ich schließlich noch, daß auch
Beziehungen dieses Organismus zu den von den
Cölenteraten zu den Turbellarien überführenden
Formen (Ctenoplana) nachzuweisen sind, auf die
indessen hier nicht näher eingegangen werden
soll. Es würden sich nach dem Verfasser diese
Verwandtschaftsverhältnisse folgendermaßen dar-
stellen :
^^...^-'^ Hydroctena Ctenophoren
Hydroraedusen <^^
^Ctenoplana Turbellarien.
J. Meisenheimer.
Über die Wirkung ätherischer Öle und
einiger verwandter Körper auf die Pflanzen
betitelt sich eine Abhandlung von Arthur
Heller (Flora, 1904, S- i — 31). — Verf. ver-
wendete für seine Versuche Keimpflanzen ver-
schiedener Art, wie Erbsen, Bohnen, Kürbiß,
Minze, Kiefer u. a. , ferner Blätter und Zweige,
z. B. von Salvia, L.avandula, Pinus, Laurus, sowie
auch einige Moose und Schimmelpilze. Er prüfte
den Einfluß von ätherischen Ölen (Pfeffer-
minz-, Salbei-, Lavendel-, Eukalyptus-, Senf-,
Terpentinöl usw.) von Kamphor und Thymol, von
verschiedenen Harzen und Balsamen (vene-
tianischem Terpentin, Kolophonium oder Asphalt,
in Paraffin oder Olivenöl gelöst), sowie endlich
von einzelnen Kohlenwasserstoffen (Paraffin,
Petroleum, Petroläther, Xylol und Benzol) auf die
genannten Versuchsobjekte. Die Pflanzen wurden
unter Glasglocken der Einwirkung der ()ldämpfe usw.
ausgesetzt. Neben den Versuchsglocken wurden
solche mit Pflanzen unter normalen Verhältnissen
zur Kontrolle aufgestellt. Über die Art der Ver-
suchsanstellung sei auf die Arbeit selbst ver-
wiesen.
Sämtliche Versuche über den Einfluß äthe-
rischer Öle auf die Pflanzen ergaben eine starke
Giftwirkung dieser. Der Öldampf tritt durch die
Gaswege (Spaltöfi'nungen und Intercellularkanäle)
in das Innere der Pflanze ein , durchdringt die
Wände der Zellen, indem er sich im Imbibitions-
wasser der Membranen auflöst, und gelangt so in
das Zellinnere, wobei der Protoplast zerstört wird.
Die Pflanze bekommt ein fahlgelbes Aussehen, die
Blätter färben sich bräunlich und braun , und
schließlich (nach Verlauf einiger Stunden bis
mehrerer Tage) brechen die Pflänzchen abgestor-
ben zusammen. Die mikroskopische Untersuchung
lehrt, daß sämtliche Zellen getötet sind.
Weniger intensiv als die Giftwirkung des
ätherischen Öles in Dampfform ist der Einfluß
des Öles in flüssigem Zustande. Hierbei werden
verhältnismäßig bedeutende Quantitäten zur
Schädigung verbraucht, während der Öldampf
schon in außerordentlich geringen Mengen ver-
derblich wirkt. Ließ Verf. ätherisclje Öle auf
diejenigen Pflanzen einwirken, von denen sie stam-
men (z. B. Pfefferminzöl auf Mentha), so zeigte
sich, daß die Pflanze gegen das eigene ätherische
Öl resistenter ist als fremde Pflanzen, selbst wenn
diese nahe verwandt sind.
Ein solches Resultat, wie das vom Verf. er-
zielte, ließ sich wohl erwarten, da die ätherischen
Öle Exkrete der Pflanze sind, die für ihren Stoff-
umsatz nicht mehr nützlich , wenn nicht sogar
schädlich sind.
Im wesentlichen die gleiche Wirkung wie die
ätherischen Öle zeigen flüchtige Kohlen-
wasserstoffe. Während aber bei ersteren der
Chlorophyllfarbstoff in den Zellen völlig zerstört
wird, werden bei der Einwirkung von Kohlen-
wasserstoffen die Chlorophyllkörner zwar etwas
umgeformt , erscheinen aber dennoch in den
meisten Fällen grün gefärbt. Für Harze und
Balsame sowie für Paraffin sind die Zellwände
völlig undurchlässig; diese Stoffe vermögen daher
nicht in das Innere der Zellen einzudringen, üben
mithin keine tödliche Wirkung auf die Pflanze aus.
Se.
Marine Ablagerungen der Juraformation
in den Molukken hat G. Boehm entdeckt
(Compte-rendu de la IX. sess. du congres geol.
internat. pag. 657). Auf den Sula-Inseln, Buru
und Misool, fanden sich mittlerer Dogger, unterer
Malm (Oxford) und Grenzschichten von Jura und
Kreide , alle mit reichen Faunen , die z. T. mit
europäischen übereinstimmen. Der mittlere
974
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6i
Dogger ist fast genau so entwickelt wie in Süd-
deutschland und manche Ammoniten der Molukken,
wie z. B. Ammonites macrocephalus, sind von
unseren deutschen überhaupt gar nicht zu unter-
scheiden. Aus diesen Funden ergibt sich mit
absoluter Sicherheit, daß der sino - australische
Jurakontinent, wie ihn Neumayr auf seiner Karte
der Verteilung von Meer und Land zur Jurazeit
darstellt (dieselbe findet sich in vielen Lehrbüchern),
nicht existiert hat. Im Gegenteil hat das Meer
schon vom Obercarbon an in der Region der
Molukken bestanden, und da sich auch marine
Sedimente der Trias, der Kreide und des Tertiärs
gefunden haben , so muß in diesem Gebiet seit
dem Paläozoikum bis heute stets im wesentlichen
Meeresbedeckung geherrscht haben. Hier fand
das alte Mittelnieer, die sogenannte Tethys, die
sich von Europa her (juer durch Asien, etwa in
der Gegend des Himalaya, erstreckte, eine offene
Verbindung mit dem pazifischen Ozean. Gleich-
zeitig lebten zur Jurazeit dieselben Ammoniten
in Deutschland , England , Frankreich und den
Molukken. Auf die zahlreichen Fragen, die sich
an solche Verhältnisse knüpfen, z. B. die nach dem
Entstehungsgebiet dieser Tierformen , nach der
Richtung ihrer Wanderungen oder nach dem Zu-
sammenhang der einzelnen Meeresbecken , läßt
sich freilich einstweilen noch keine befriedigende
Antwort geben. Dr. Otto Wilckens.
Himmelserscheinungen im Dezember 1904.
Stellung der Planeten: Merkur ist nur in der Mitte
des Monats für einige Minuten abends im SW sichtbar , da-
gegen stralilt Venus bis 3 Stunden lang als Abendslern,
Mars ist bis 57,, Stunden lang vor Beginn der Morgen-
dämmerung in der Jungfrau sichtbar, Jupiter ist noch den
größten Teil der Nacht hindurch zwischen Walfisch und
Widder zu sehen, während Saturn im Steinbock steht und
daher zuletzt nur noch 2 Stunden lang nach Eintritt der
Dunkelheit gesehen werden kann.
Verfinsterungen der Jupitermonde:
I. Dez. 7 Uhr 2SMin. 23 Sek. M.E.Z. ab., Austr. d. I.Trab.
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Sternbedeckungen : Am 20. Dez. wird y Tauri um 7 Uhr
12,6 Min. ab. M.E.Z. für Berlin durch den Mond bedeckt und
tritt um 8 Uhr 16,8 Min. am westlichen Rande des Mondes
wieder hervor. In derselben Nacht findet morgens (den 21.)
um 4 Uhr 24,8 Min. eine Bedeckung des Aldebaran statt, die
um 5 Uhr 7,2 Min. ihr Ende erreicht.
Algol-Minima : Am 4. Dez. um 8 Uhr 11 Min. ab., am
7. um 5 Uhr o Min. ab., am 24. um 9 Uhr 54 Min. ab. und
am 27. um 6 Uhr 43 Min. ab. M.E Z.
Der Encke'sche Komet ist am II. Sept. von Kopff in
Heidelberg auf photographischem Wege bei ß'/o stündiger
E.xposition nahe dem vorausberechneten Orte aufgefunden
worden. Am 17. Sept. wurde die Entdeckung durch eine
zweite .'\ufnahme bestätigt. Der Komet bewegt sich durch
den Pegasus nach dem Füllen zu und wird bis zum Januar
heller, doch dürfte er wohl auch diesmal ein schwieriges,
teleskopisches Objekt bleiben.
Bücherbesprechungen.
Hager-Mez , Das Mikroskop und seine An-
wendung, Handbuch der prakt. Mikroskopie
und Anleitung zu mikroskopischen Untersuchungen.
Neunte Auflage. Berlin 1904. Julius Springer.
Mit 401 Textfiguren. — 8 Mk.
Die vorliegende Neuauflage des verbreiteten dia-
gnostischen Leitfadens zeichnet sich vor den vorher-
gehenden Auflagen durch bedeutende Anreicherung
des Inhalts und durch starke Vermehrung und Ver-
besserung der sehr guten Abbildungen aus. Auf ver-
hältnismäßig geringem Raum (390 Seiten) sind eine
Unmenge von Mitteilungen aus allen möglichen Ge-
bieten (Optik, Mechanik, Mineralogie, Botanik, Zoo-
logie, Anatomie des Menschen und der Tiere, Bak-
teriologie, Hygiene, Medizin usw.) zusammengestellt,
die unter dem Hauptteil , .Mikroskopische Objekte"
in praktische Rubriken gebracht sind. Für jeden, der
von Berufswegen einmal ins Mikroskop sieht, findet
sich ein Scherflein. Am meisten Nutzen wird der
Pharmazeut haben.
An diesen scheint sich das Buch auch in seiner
neuen Auflage richten zu wollen. Der Gerichtsarzt
oder ärztliche Sachverständige wird sich wohl leichter
und eingehender in irgend einem der vielen Kom-
pendien, die der Büchermarkt bietet, orientieren. In
den die medizinischen Materien betreffenden, von
Prof. P. Stolper in Göttingen bearbeiteten Teilen,
finden sich eine Anzahl von der Korrektur bedürf-
tigen, zum Teil schon recht veralteten, zum Teil
wohl auch überhaupt irrigen Anschauungen. So wird
(S. 7 7) Bindegewebe durch Essigsäure nicht „dar-
gestellt", sondern zur besseren Erkennung anderer
Gewebsteile durchsichtig gemacht. — Müller'sche Flüssig-
keit (S. 120) verwendet man in der path. .\natomie,
wie auch in der normalen, fast gar nicht mehr. Man
kommt mit den modernen Fixationsmitteln wohl in
jedem Einzelfalle schneller und besser zum Ziel. For-
malin verwendet man zum gleichen Zweck besser
nicht 3-, sondern 4 — 10 prozentig. — I^en Magen-
darmtraktus „vom Magenmunde" ab kann man nicht
wohl unter „die großen Ausführungskanäle" (S. 124)
rechnen. Mit viel besserem Rechte könnte man ihn
den großen „Einführungskanal" nennen. — Im Zylinder-
epithel der Darmschleimhaut begegnet man nicht nur
, .gelegentlich" auch den sogenannten Becherzellen,
sondern deren Zahl ist eine ganz tmgeheuer große.
— Die Leber ist keine acinöse, sondern eine tubu-
löse Drüse, die Speicheldrüsen nicht acinös, sondern
tubulös oder auch tubuloalveolär gebaut (S. 127).
Als alveoläre(- acinöse) Drüse hätte die Lunge ange-
führt werden können. — Das Gliagewebe (S. 130)
ist keineswegs identisch mit retikulärem Bindegewebe,
sondern sowohl nach seiner Entwicklung, wie auch
rein morphologisch von diesem fundamental ver-
schieden. — Die Bezeichnung „körnig degenerierte
Muskelfäden" (Fig. 99) würde besser durch: „fettig
degenerierte Muskelfasern" ersetzt werden, da es sich
nach der Abbildung um solche handelt. — Die Dar-
stellung (S. 135): „Jede (^scil. Ganglien-)Zelle hat eine
Anzahl Ausläufer, von denen zwei, der Neurit und der
N. F. in. Nr. 6i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
975
IJendrit, physiologisch besondere Bedeutung haben", ist
unrichtig. Jede Ganglienzelle hat einen Neuriten
(Achsenzylinderfortsatz) und eine wechselnde Anzahl
von Dendriten. .So werden nämlich sämtliche außer
dem Neuriten vorhandenen Fortsätze und Ausläufer
wegen ihrer Form benannt. — Unter die Krankheiten,
deren Erreger noch unbekannt ist (S. 284J, kann man
Krebs nicht gut zählen, da es für den Pathologen
sehr unwahrscheinlich ist, daß Krebs überhaupt eine
Infektionskrankheit ist. Wohl aber wären hier Masern,
Röteln und Scharlach aufzuführen gewesen. — S. 293
ist die Grara'sche Färbemethode ungenau wieder-
gegeben , da die Färbung nicht mit konz. wässr.
Methylviolettlösung, sondern vielmehr mit Anilinwasser-
Gentiana- oder Methylviolett zu erfolgen hat. — Die
„Venen" übersetzt man ins Deutsche gewöhnlich mit
„Blutadern". Der Ausdruck ,, Adern" allein kann natür-
lich zu Verwechslungen mit Arterien oder Lymph-
gefäßen Anlaß geben (S. 307). —
Hiermit sind die Korrigenda des Werkchens natür-
lich nicht erschöpft. Aber die aufgezählten berech-
tigen wohl zu dem Wunsche, daß Bücher, welche,
wie das vorliegende , u. a. grundlegende und ele-
mentare Dinge behandeln, auch mit der nötigen Sorg-
falt geschrieben werden. Sonst sollte man das doch
lieber Fachleuten überlassen.
Der botanische und pharmakognostische Teil des
Buches läßt nichts zu wünschen übrig.
Dr. Rüge, Bonn.
P. Stephan. Die technische Mechanik, erster
Teil ; Mechanik starrer Körper. Verlag von B. G.
Teubner, Leipzig 1904.
Die vorliegende „Technische Mechanik" will sich
den Vorschriften, die für die höheren Maschinenbau-
schulen Preußens gelten, möglichst anschließen und
versucht die technische Mechanik mit Hilfe elementarer
Rechnung in möglichst knapper Form darzustellen.
Es wird in dem Buche „annähernd das Maximum
dessen geboten, was in einer höheren Maschinenbau-
schule mit Erfolg durchgearbeitet werden kann". In-
dessen glaubt Referent nicht, daß es gleichzeitig „etwa
das Minimum dessen enthalte, was ein Student im
Vorexamen wissen müsse". Auch für den Studieren-
den der „angewandten Mathematik" kommt das Buch
wohl kaum in Betracht. Schon deshalb nicht, weil
von der Differential- und Integralrechnung nirgends
Gebrauch gemacht wird. Bei vielen Problemen werden
nur die allereinfachsten Fälle behandelt; so z. B. bei
der Bestimmung der Gleichgewichtslage eines frei
hängenden Seiles nur der Fall, daß das Gewicht
gleichmäßig über die Projektion des Seiles verteilt
ist, und es wird hierbei die Parabel als Gleich-
gewichtsform des Seiles bezeichnet. Das Fehlen des
Falles der Kettenlinie könnte den Lernenden leicht
zu einem falschen Schlüsse verleiten. Der Stoß wäre
wohl besser nicht in den vorliegenden ersten Teil mit
aufgenommen worden, da beim Stoße hauptsächlich
elastische Körper interessieren und diese auch hier
berücksichtigt sind, während in den übrigen Kapiteln
dieses Bandes nur absolut starre Körper betrachtet
werden. Die Figuren sind bis auf kleine Ungenauig-
keiten in iMgur 148 und 151 sorgfältig gezeichnet.
Die Bezeichnung der in den Formeln gebrauchten
Größen sind aus dem ,, Taschenbuche der Hütte'' über-
nommen. Das Buch kann zum Gebrauche an tech-
nischen Mittelschulen besonders auch dadurch em-
pfohlen werden, daß eine große Anzahl gut gewählter
Aufgaben aus der Praxis durchgerechnet sind, die
sich auch zum großen Teil recht gut eignen würden,
um gelegentlich an höheren Lehranstalten den mathe-
matischen LTnterricht zu beleben. A. Hauck.
Literatur.
Cesäro. Prof. Ernesto : Elementares Lelirb. der algebraischen
Analysis und der Infinitesimalreclinung. Mit zahlreichen
Übungsbeispielen. Nach e. Mskr. des Verf. deutsch hrsg.
V. Prof. Dr. Gerh. Kowalewski. (VI, 894 S. m. 97 Fig.)
gr. 8°. Leipzig '04, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw.
15 Mk.
Gaufs, Dr. F. G. : Fünfstellige vollständige logarithmische
u. trigonometrische Tafeln. Zum Gebrauche f. Schule u.
Praxis bearb. 2. Tl. Fünfstellige logarithmisch - trigono-
metrische Tafeln f. Dezimaltlg. d. Quadranten. Ster.-Dr.
3, Aufl. (140 u. XVllI S.) Lex. 8". Halle '04, E. Strien.
— 6 Mk. ; geb. in Halbfrz. 6,75 Mk.
Hager, Dr. Herm. : Das Mikroskop und seine Anwendung.
Flandbuch der prakt. Mikroskopie u. Anleitg. zu mikroskop,
Untersuchgn. Nach dessen Tode vollständig umgearb. und
in Gemeinschaft m. DD. Reg. O. Appel, Priv.-Doz. Dir.
G. Brandes, Prof. Kreisarzt P. Stolper neu hrsg. v. Prof.
Dr. Carl Mez. 9., stark verm. Aufl. (XII, 392 S. m. 401
^'S-) g""- 8°- Berlin '04, J. Springer. — Geb. in Leinw.
8 Mk.
Passarge, Priv.-Doz. Dr. Siegfr. : Die Kalahari, Versuch e.
physisch-geograph. Darstellg. der Sandfelder d. sUdafrikan.
Beckens. Mit 3 Taf u. 33 Abbildgn. nach Orig. - Photo-
graphien des Verf. im Text, sowie 7 Abbildgn. im Anh.,
nebst e. Kartenband {in Mappe), cnth. 1 1 Blätter physikal.
u. geolog. Karten nach Orig. -.aufnahmen der Expedition d.
Gesellschaft British West Charterland im Ngamiland und
den bisher veröffentlichten Materialien, 9 Blätter m. geolog.
Profilen n. Kartenskizzen , sowie I Blatt landschaftl. Pano-
ramen. (XVI, S32 S.) Lex. 8". Berlin '04, D. Keimer. —
So Mk.
Briefkasten.
Herrn Dr A. C. O. in .Arnhem (Holland). — Frage : Ich bitte
um Erklärung der neueren Termini in der vergleichenden
.Schädellehre, wenn möglich mit Zeichnungen. — .^uf der
allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen
Gesellschaft zu Frankfurt im Jahre 1882 wurde eine Ver-
ständigung über ein gemeinsames kraniometrisches
Fig. I. Schädel von der Seite.
9/6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 6i
Verfahren erzielt (Arcli. f. Anthropologie, Bd. 15, 1884,
S. 1—8). Als Horizontalebene wurde festgelegt „jene
Ebene, welche bestimmt wird durch zwei Gerade, welche
beiderseits den tiefsten Punkt des unteren Augenhöhlenrandes
mit dem senkrecht über der Mitte der Öffnung liegenden
Punkt des oberen Randes des knöchernen Gehörganges ver-
binden (Fig. I hh)." Die gerade Länge wird gemessen
von der Mitte zwischen den Augenbrauenbogen zu dem am
meisten vorragenden Punkt des Hinterhauptes parallel mit
der Horizontalebcne (Fig. iL). Die größte Breite mißt
man senkrecht zur Sagittalebene , nur nicht am Zitzenfortsatz
oder an der hinteren Temporalleiste, die Meßpunkte müssen
in derselben Horizontalebcne liegen (Fig. 2 B). Die Höhe
mißt man von der Mitte des vorderen Randes des Foramen
magnum, senkrecht zur Horizontalebene, bis zur Scheitelkurve
(Fig. I H). Die Joch breite ist der größte Abstand der
Jochbogen voneinander (Fig. 2 JE). Die Gesichtshöhe
Fig. 2. Schädel von oben.
wird von der Mitte der Stirnnasennaht bis zur Mitte des
unteren Randes des Unterkiefers gemessen (Fig. I WG), die
Obergesichtshöhe bis zur Mitte des .Mveolarrandes des
Oberkiefers zwischen den mittleren Schneidezähnen (Fig. i WO).
Die Nasenhöhe mißt man von der Mitte der Stirnnasen-
naht bis zur Mitte der oberen Fläche des Nasenstachels, rcsp.
bis zum tiefsten Rande der Apertura pyriformis (Fig. I W N).
Die größteBreite d er Nasenö ffnu ng und die größte
Horizontalbreite des Augenhöhleneinganges mißt
man parallel zur Horizontalebene (Fig. 3 a u. c), die größte
Vertikalhöhe des Augenhöhlencin ganges senkrecht
zu dieser Ebene (Fig. 3 d). Die Gaumenlänge wird ge-
messen von der Spitze der Spina des harten Gaumens bis zur
inneren Lamelle des Alveolarrandes zwischen den mittleren
Schneidezähnen (Fig. 4 GL), die Gaumenmittelbreite
Fig. 4. Gaumen von unten.
zwischen den inneren Alveolenwänden an den zweiten Molaren
(Fig. 4GB). Der Profi Iwinkel ist jener Winkel, den die
ProfiUinic (Fig. I Pf.) mit der Horizontalen hh bildet.
Um das Verhältnis zweier Maße anzugeben z. B. zwischen
Breite und Länge, multipliziert man das kleinere Maß, hier
also das Breitenmaß mit 100 und teilt durch das Längenmaß.
Die wichtigsten Mafiverhältnisse (Indices), die wegen ihrer
Bedeutung für die Schädellehre zu Kunstausdrücken Veran-
lassung gegeben haben, sind folgende :
100 X Breite
Länge
100 X Höhe
Länge
Profilwinkel
bis 75,0 = Dolichocephalie
75,1 — 79,9 ^ Mesocephalie
80,0—85,0 = Brachycephalie
85,1 und darüber = Hyperbrachycephalie
bis 70,0 = Chamaecephalie
70,1 — 75,0 = Orthocephalie
75,1 und darüber = Hypsicephalie
bis 82° = Prognathie
83° — 90" = Meso- oder Orthognathie
91** und darüber ^^ HyperOrthognathie
100 X Gesichtshöhe
Jochbreite
bis 90,0 = chamaeprosope Gesichtsschädel
,, 90,) u. darüb. ^ leptoprosope ,,
100 X Obergesichtshöhe , . , ^, . ,
- bis 50,0 == chamaepros. Obergesichter
Jochbreite
100 X Augenhöhlenhöhe
50,1 u. darüb. = leptoprosope
bis 80,0 = Chamaekonchie
Augenhöhlenbreite
,, 80,1 — 85,0 = Mesokonchie
,, 85,1 und darüber = Hypsikonchie
looX Breited. Nasenöffnung ,. ^ ,. .
'^ - bis 47,0 = Leptorrhinie
47,1 — 51,0 = Mesorrhinie
51,1—58,0 = Platyrrhinie
58,1 u. darüb. = Hyperplatyrrhinie
Nasenhöhle
100 X Gaumenbreite
Gaumenlänge
bis 80,0 = leptostaphylin
Fig.
Schädel von vorn.
80,0—85,0 = mesostaphylin
,, 85,1 und darüber = brachystaphylin
Außer den hier genannten Maßen und Indices sind zum
Vergleich mit früheren Messungen noch viele andere wünschens-
wert. Darüber finden Sie, abgesehen von der oben genannten
Originaldarstellung, das Nähere in K. v. Bardeleben,
Handbuch der Anatomie des Menschen , Bd. I : Skelettlehre,
2. Abt.: Kopf, von Graf Spee, (Jena 1896, Preis 9 Mk.),
S. 358-372. Dahl.
Inhalt; Dr. W. Fuchs; Das Keimgewebe der lebenden Pflanzen. — Kleinere Mitteilungen: Paula Karsten: Indisches
Mittel gegen Vergiftung. — Nils Holmgren: Ameisen als Hügelbildiicr. — C.Dawydoff: Zwischenform zwischen
Meduse und Rippcmiualle. — Arthur Heller: Über die Wirkung ätherischer Öle und einiger verwandter Körper
auf die Pflanzen. — G. Boehm: Marine Ablagerungen der Juraformation m den Molukken. — Himmelserscheiuungen
im Dezember 1904. — Bücherbesprechungen: H ager- M ez: Das Mikroskop und seine Anwendung. — P. Stcplian:
Die technische Mechanik. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
VeraDtwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie^ Grofs-Lichterfeide-West b. Berlin.
Druck voQ Lippert Ä Co. (G. Pätz'sche Kuchdr.), Naumburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potonie und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reibe XIX. B(<.nd.
Sonntag, den 4. Dezember 1904.
Nr. 62.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 PIg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserale durch die
Verlagshandlung erbeten.
fNachdruck verboten
Matthias Jakob Schieiden.
Rede, gehalten zur Säkularfeier seines Geburtstages am iS. Juni- 1904.
J Von Ernst Stahl, o. ö. Professor der Botanik in Jena.'j
Als vor wenigen Jahren, bei .Abschluß des neun-
zehnten Jahrhunderts, Rückschau gehalten wurde
über die während jenes Zeitraums auf den ver-
schiedenen Gebieten menschlicher Tätigkeit und
Erkenntnis vollzogenen Wandlungen und F'ort-
schritte, und die wichtigsten Errungenschaften mit
den Namen führender Geister in Verbindung ge-
bracht wurden, da fehlte in keiner der Darstel-
lungen, welche der Entwicklung der biologischen
Wissenschaften gewidmet waren, der Name von
Matthias Jakob Schieiden.
Unzertrennlich ist Schleiden's Name mit
einem der bedeutungsvollsten Wendepunkte in der
Entwicklung der Naturwissenschaften, mit dem end-
gültigen Durchbruch der Zellentheorie verknüpft.
Wir würden aber dem Andenken des merkwürdigen
Mannes nicht gerecht werden, wollten wir ims auf
die Würdigung dieser seiner bekanntesten wissen-
gestellt. „Schleiden's historische Bedeutung
liegt", nach dem Ausspruch von Julius Sachs
in seiner geistvollen Geschichte der Botanik, „nicht
in dem, was er als Forscher leistete, sondern in
dem, was er von der Wissenschaft forderte. Durch
das Ziel, welches er hinstellte und in seiner Groß-
artigkeit gegenüber dem kleinlichen Wesen der
damaligen Lehrbücher allein gelten ließ, erwarb
er sich ein großes Verdienst. Er ebnete denjenigen,
welche wirklich Großes leisten konnten und wollten,
den Weg; er schuf sozusagen erst ein wissen-
schaftlich botanisches Publikum, welches imstande
war, wissenschaftliches Verdienst von dilettanten-
hafter Spielerei zu unterscheiden. Wer von jetzt
an mitreden wollte, mußte sich zusammennehmen,
denn er wurde mit einem anderen Maßstabe ge-
messen als bisher."
Zum Verständnis des Lebenswerkes einesMannes,
schaftlichen Leistung beschränken. Überall, wo er dessen reformatorische Tätigkeit von so tiefgreifen-
eingriff, hat er anregend und befruchtend gewirkt.
Viele seiner Einzeluntersuchungen, auch solche, auf _, '' ^^^ ""'" Verf sagen wir für die gütige Erlaubnis,
dj ..o, r^ • 1 t 11 ■ 1 r -t- 1 ucn obigen Vortrag abdrucken zu durien , unseren besten
le er das größte Gewicht legte, haben sich freilich D^^k. e^ „u^den zur Kürzung „ur einige für uns unwesent-
schon zu seinen Lebzeiten als unrichtig heraus- liehe Sätze weggelassen. Red.
978
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
dem Einfluß auf die Weiterentwicklung der Wissen-
schaft gewesen ist, müssen wir uns nicht nur mit
dem Zustand der Botanik, wie ihn Schieiden
antraf und überwand, vertraut machen, sondern
auch den eigenartigen Bildungsgang kennen lernen,
welcher ihm die Mittel in die Hand gab, seiner
großen Aufgabe gerecht zu werden.
Als ältester Sohn eines aus Schleswig-Holstein
stammenden Arztes am 5. April 1804 in Hamburg
geboren, widmete sich Schieiden, nach Ab-
solvierung des Gymnasiums in seiner Vaterstadt,
in Heidelberg dem Studium der Rechtswissen-
schaft und ließ sich, nach Erwerbung des juristi-
schen Doktorgrades, in Hamburg nieder, wo er
bis zum Jahre 1831 mit geringem äußeren Erfolg
und noch geringerer innerer Befriedigung als Ad-
vokat tätig war.
Er gab die Jurisprudenz auf und zog, zunächst
in der Absicht, sich zum Arzte auszubilden, nach
Göttingen, wo er unter der Leitung Bartling's,
der kurz zuvor ein grundlegendes Werk über die
natürlichen Verwandtschaften der Pflanzen veröffent-
licht hatte, sich systematische Kenntnisse aneignete
und endgültig für das Studium der Naturwissen-
schaft gewonnen wurde. In Berlin führte ihn dann
sein Onkel Horkel in sein wichtigstes spezielles
Arbeitsgebiet, die Anatomie und Physiologie der
Pflanzen, ein.
In rascher Aufeinanderfolge veröffentlichte
Schieiden seine ersten Arbeiten, darunter die
wichtigen Aufsätze über Zellbildung und Befruch-
tung, welche die Aufmerksamkeit der wissenschaft-
lichen Welt auf ihn lenkten und die Veranlassung
gaben zu der im Jahre 1839 erfolgten Berufung
als außerordentlichem Professor an die medizinische
Fakultät der Universität Jena. Durch seinen jüngeren
Bruder, den bekannten späteren Hamburger Schul-
mann Karl Heinrich Schieiden, der in Jena
Theologie und Philosophie studiert hatte, wurde
er mit dem Philosophen Jakob Friedrich Fries
zusammengeführt, als dessen treuer Schüler und
Anhänger er sich in seinen Schriften bekennt und
der von bestimmendem Einfluß auf seine Auf-
fassung der wissenschaftlichen Methodik geworden
ist.
Während 23 Jahren, von 1839 bis 1862, hat
Schieiden an unserer Thüringischen Hochschule
gewirkt, zu deren Ruhm in der Mitte des ver-
gangenen Jahrhunderts er mit dem Kirchenhistoriker
Hase wohl am meisten beigetragen hat.
Nach seinem Abgang von Jena im Jahre 1862
wurde er als Professor der Anthropologie nach
Dorpat berufen, welches er jedoch bald wieder
verließ, um fernerhin als Privatgelehrter, zuerst in
Dresden, später namentlich in Wiesbaden und zu-
letzt in Frankfurt am Main zu wohnen, wo er am
23. Juni 1881 sein an Arbeit und Kämpfen reiches
Leben beendete.
Als ein Mann von erstaunlicher Vielseitigkeit
der Interessen hat sich S c h 1 e i d e n , schon während
seiner Jenenser Zeit, nicht auf sein engeres Fach
beschränkt, sondern auch andere Zweige der Natur-
wissenschaft eifrig gepflegt. Mit glänzender Be-
redtsamkeit begabt, von feinem künstlerischem Sinn
erfüllt, drängte es ihn, die Frucht seines reichen
Wissens und seine künstlerische Anschauung der
Pflanzenwelt in weitere Kreise zu tragen. Es ent-
standen die populären, in unserem Rosensaal und
am Hofe zu Weimar gehaltenen Vorträge, deren
erste und berühmteste, unter dem Titel ,,Die Pflanze
und ihr Leben" zusammengefaßte Serie auf lange
Zeit, nicht bloß in Deutschland, zu den gelesensten
Werken naturwissenschaftlichen Inhalts gehörte.
Dankbar gedenken noch jetzt viele Naturforscher
der älteren Generation der nachhaltigen Anregung,
welche sie durch jene formvollendeten Vorträge
empfangen haben, die mit den Werken Alexanders
von Humboldt dem Studium der Naturwissen-
schaften zahlreiche Jünger zugeführt und nicht
wenig dazu beigetragen haben, das Interesse der
Gebildeten, welches damals fast ausschlielSlich den
Geisteswissenschaften zugewandt war, für die
mächtig aufstrebenden Naturwissenschaften zu ge-
winnen. Wir verehren daher in Sc hl ei den
neben dem Förderer wissenschaftlicher Erkenntnis
im Kreise der Berufsgenossen einen der erfolsj-
reichsten Vorkämpfer des naturwissenschaftlichen
Zeitalters.
Schon während seiner Tätigkeit an unserei
Hochschule hatte er neben seinen Fachkollegicn
stark besuchte anthropologische Vorlesungen ge-
halten und in den im Jahre 1855 erschienenen,
dem Dichter Rückert gewidmeten ,,Studien",
der Naturwissenschaft völlig fremde Gegenstände,
wie „Swedenborg und der Aberglaube", „Wallen-
stein und die Astrologie" berührt. Diese Inter-
essen traten in seinem späteren Leben ganz in
den Vordergrund seines Schaffens. Es erschienen
zahlreiche, zu ihrer Zeit viel gelesene Abhand-
lungen und Werke ästhetischen, philosophischen,
besonders aber kulturhistorischen Innalts, wälirend
seine früher so reiche Produktivität auf dem Ar-
beitsfelde der wissenschaftlichen Botanik schon in
den fünfziger Jahren zu erlahmen begann, um bald
vollständig aufzuhören.
Verschiedene Momente mögen zusammengewirkt
haben, seine Abkehr von fachwissenschaftlichen
Studien zu verursachen. Sein ungemein reger,
stets nach neuer Nahrung verlangender Geist hätte
ihm wohl auf die Dauer, auch wenn eine starke
Überanstrengung der Augen ihm den Gebrauch
des Mikroskops nicht schon an sich erschwert
hätte, die minutiöse, zeitraubende, eine unendliche
Geduld erfordernde Kleinarbeit des SpezialStudiums
verleiden müssen. Zu diesen Momenten kam als
wichtigeres hinzu die nach langen, hartnäckigen
Kämpfen mit glücklicheren Widersachern ihm auf-
gedrungene Erkenntnis, daß es ihm zwar gegönnt
gewesen sei, der Wissenschaft neue Ziele und
Wege zu weisen, eine Fülle von Anregung zu
geben, er aber in der Durchführung seiner Einzel-
untersuchungen oft unglücklich gewesen sei, gerade
in den wichtigsten Punkten geirrt habe und —
wir zitieren seinen eigenen Ausspruch — es anderen
N. F. III. Nr. 6:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
979
überlassen müsse das von ihm Erstrebte in glück-
licherer Weise , als es ihm gelingen wollte, zu
Ende zu führen.
Die wissenschaftliche Tätigkeit .S c h 1 e i d e n ' s ,
deren Betrachtung wir uns nun zuwenden, ist
hauptsächlich nach zwei Seiten hin fruchtbar ge-
wesen, erstens in rein methodologischer Beziehung,
indem er, eingerissene Mißbräuche beseitigend, eine
gesunde, vorurteilsfreie Naturbetrachtung wieder zu
Ehren brachte, zweitens durch die nachhaltige An-
recfune, die er auf verschiedene, weit voneinander
fc» ••»'
entfernte Forschungsgebiete ausübte.
Zu einer Zeit, wo die spekulative Philosophie
eines Schelling, eines Hegel ihre größten
Triumphe feierte, führten in Deutschland die bio-
logischen Wissenschaften ein bescheidenes, zum
Teil kümmerliches Dasein. Insbesondere war die
Botanik noch fast ganz von der Linne'schen
Schule beherrscht, deren Aufgabe mit der Beschrei-
bung und Benennung von Pflanzenarten und ihrer
Unterbringung im künstlichen System so gut wie
erschöpft war. Der Geist dieser trockenen Syste-
matik, der jede Belebung durch morphologische,
phj'siologische und geographische Gesichtspunkte
noch fehlte, machte sich auch in den Lehrbüchern
breit und war nur zu geeignet begabtere Naturen
abzustoßen. Zwar gab es auch damals einzelne
F"orscher, die bestrebt waren, diese Einseitigkeit
zu überwinden, indem sie auch andere Zweige der
Botanik, insbesondere die Anatomie und Physio-
logie derGewächse, durch wertvolle Untersuchungen
bereicherten, doch fehlte es noch an einem Manne,
der nicht nur für sich den richtigen Weg ein-
schlug, sondern auch den anderen die richtigen
Bahnen wies, die gleichgesinnten Berufsgenossen
zu weiteren Leistungen anspornte und vor allem
mit den eingerissenen Mißbräuchen, dem altüber-
kommenen Schlendrian in schonungsloser Weise
aufräumte. Dieser eingreifenden, reformatorischen
Tätigkeit war keiner wie Schieiden gewachsen.
Es muß als ein glückli -her Umstand angesehen
werden, daß er erst in reiferen Jahren und nicht
schon als junger Student sich der Botanik zuge-
wendet hat. Seinem Durst nach naturwissenschaft-
licher Erkenntnis konnten die trockenen Lehr-
bücher mit ihrem dürftigen Inhalt keine Befriedi-
gung gewähren; noch mehr mußte sein in Studium
und Praxis der Rechtswissenschaft geschärfter
kritischer Sinn Anstoß nehmen an den zu jener
Zeit ebenso beliebten, wie gehaltlosen Spekula-
tionen einer auf Abwege geratenen Naturphilo-
sophie, die sich, in merkwürdigem Gegensatz zu
der Armut an fruclitbaren Gedanken , in den
Schriften vieler, sonst angesehener Männer breit
machte.
Zur Beseitigung derartiger Mißstände genügt
es nicht, wie manche es strenger mit der Wissen-
schaft nehmende Fachgenossen S c h 1 e i d e n 's taten,
sie bitter zu empfinden, vornehm zu ignorieren
oder gar, mit der mißbräuchlichen Anwendung der
Philosophie zugleich jede philosopb'sche Betrach-
tungsweise der Erfahrungstatsachen zurückzuweisen :
die Gesundung konhte nur in einem planmäßig
durchgeführten Kampfe erreicht werden, in welchem
schonungslos die ganze Nichtigkeit der beliebten
Phantastereien, des Spielens mit inhaltsleeren Be-
griffen aufgedeckt wurde.
Seh leiden, bei dem die polemische Ader
bis zum Übermaß entwickelt war, so daß er sich
nacheinander in die heftigsten Kämpfe, nicht nur
mit beinahe sämtlichen Fachgenossen, sondern auch
mit anderen Gelehrten — wir nennen bloß einen
Fechner, einen Lieb ig — verstrickte, fand so
ein dankbares Feld für seine ersprießlichste Tätig-
keit. Aber auch die glänzendste Begabung, die
ihn immer neue Wendungen, witzige Einfälle, sar-
kastischen Spott zurCharakterisierungderSch wachen
seiner Gegner finden läßt, hätte dem Kämpfer
nicht den durchschlagenden t>folg gesichert, wenn
ihm nicht die richtige geistige Waffe zur Ver-
fügung gestanden hätte.
Gefunden hat er sie in Jena, wo er im Ver-
kehr mit dem von ihm schwärmerisch verehrten
Philosophen JakobFriedrich Fries, der selbst,
auf Kant zurückgreifend, den Kampf gegen die
spekulative Philosophie eröffnet hatte, seine kritisch-
philosophischen Studien vertiefte und die ge-
wonnenen Gesichtspunkte in glücklichster Weise
in der im Jahre 1842 erschienenen methodologischen
Einleitung zu den ,, Grundzügen der wissenschaft-
lichen Botanik" zur Verwertung brachte. „Die
Botanik als induktive Wissenschaft" steht als Haupt-
titel der zweiten Auflage diesem epochemachenden
Werke voran, in welchem S c h 1 e i d e n den rück-
sichtslosesten Kampf gegen die dogmatisierende
Behandlung der Wissenschaft eröffnet und die von
Baco von Verulam ausgehende induktive Me-
thode als die allein richtige hinstellt. Das Ideal,
welches ihm vorschwebt, ist, seine Wissenschaft
auf dieselbe Stufe zu erheben wie die Physik und
die Chemie, denen in jenen trüben Zeiten der echte
Geist induktiver F"orschung nicht abhanden ge-
kommen war.
Was uns heute selbstverständlich erscheint, daß
nur durch das Fortschreiten vom Besonderen zum
Allgemeinen die Kenntnis von der Natur eine
sichere Begründung erfahren kann, war, als S c h 1 e i -
den auftrat, keineswegs Gemeingut der damaligen,
insbesondere der deutschen Naturforschung, auf
welche Schelling's Naturphilosophie in so ver-
hängnisvoller Weise eingewirkt hatte, daß selbst
ein Goethe sich ihrem Einfluß nicht zu ent-
ziehen vermocht hat.
Wenn nun Schieiden, durch den Kampfes-
eifer fortgerissen, dahin gelangte, jede deduktive
Behandlung aus der Naturwissenschaft zu verweisen,
so muß man im Auge behalten, daß es ihm zu-
nächst darauf ankam , den Mißbrauch , den die
spekulative Naturphilosophie mit der Deduktion
getrieben hatte, zu beseitigen. Fern lag es ihm,
die auf Deduktion beruhende wissenschaftliche In-
tuition, welche, der Induktion vorauseilend, den
Forscher bei Aufstellung neuer Probleme leitet und
ihn neue Wahrheiten ahnen läßt, zu verwerfen.
98o
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
Wie häufig er selbst davon Gebrauch macht, zeigt
ja deutlich genug seine eigene geistvolle Behand-
lungsweise wissenschaftlicher Fragen, die Aufstel-
lung von Problemen, die erst viel später ihrer
Lösung näher gebracht werden sollten.
Die Verdienste, die sich S c h 1 e i d e n in Deutsch-
land durch die Bekämpfung der Naturphilosophie
und die Geltendmachung einer gesunden, realisti-
schen Betrachtungsweise erworben hat, würden,
so groß sie sind, nicht ausreichen, um ihm eine
universelle Bedeutung zu sichern.
Für die Naturforschung anderer, von der Natur-
philosophie so ziemlich verschont gebliebenen
I.änder konnte seine reformatorische Tätigkeit
höchstens mittelbar von Bedeutung sein, durch
Hebung der Botanik in den Ländern deutscher
Zunge. Hier trat allerdings ihre Wirkung deutlich
genug hervor. Die vielen hervorragenden Männer,
die noch zuSchleiden's Lebzeiten die Botanik
in Deutschland zu höchster Blüte brachten, sind,
sie mögen auch im einzelnen seine Gegner ge-
wesen sein , alle in gewissem Sinne als seine
Schüler zu betrachten.
Wenden wir uns nun denjenigen seiner Leistungen
zu, deren Wirkung sich weit über die Grenzen
Deutschlands erstreckte, so haben wir zunächst
bei seinem Hauptwerk zu verweilen, den „Grund-
zügen der wissenschaftlichen Botanik", dessen me-
thodologische Einleitung wir bisher allein berück-
sichtigt haben, ein Buch, das nach den verschie-
densten Seiten hin, bis zum Erscheinen des Lehr-
buchs von Julius Sachs, im Jahre 1869, eine
reiche Quelle nicht bloß der Belehrung, sondern
noch mehr der Anregung gewesen ist.
„Der Unterschied zwischen diesem Werk und
allen vorhergehenden Lehrbüchern", sagt Sachs,
„ist wie Tag und Nacht; jener gedankenlosen Träg-
heit gegenüber hier eine sprudelnde Fülle von
Leben und Gedanken, die vor allem gerade auf
die Jugend umsomehr wirken mußte, als sie in
sich selbst vielfach unfertig und unvergoren war;
auf jeder Seite dieses merkwürdigen Buches fand
der Studierende neben wirklich wissenswerten
Tatsachen interessante Reflexionen, lebhafte, meist
grobe Polemik, Lob und Tadel gegen andere. Es
war kein Lehrbuch, aus dem sich ruhig und be-
haglich studieren ließ, welches aber die Studieren-
den überall anregte, Partei für oder wider zu
nehmen und weitere Belehrung zu suchen".
Die Wirkung der ,, Grundzüge" würde man
jedoch zu gering anschlagen, wollte man in ihnen
bloß ein der Überlieferung des Lehrstoffs dienen-
des Buch erblicken ; noch wichtiger wurde es für
die Forschung selbst durch den Hinweis auf die
zu lösenden Fragen und die zum Ziele führenden
Methoden, die zwar schon vor seinem Auftreten
in fruchtbringender Weise zur Anwendung gelangt
waren, welchen aber erst sein Eingreifen zur all-
gemeinen Anerkennung bei den Fachgenossen ver-
holfen hat. Ganz besonders gilt dies von der Ent-
wicklungsgeschichte, deren Bedeutung für das Ver-
ständnis des pflanzlichen Organismus Sc hl ei den
nicht müde wird immer wieder hervorzuheben.
Die Forschung dürfe sich nicht, wie es bisher fast
allgemein geschehen, auf das Studium der fertigen
Pflanze, der fertigen Organe beschränken, sie müsse
auch, wie es in der Zoologie längst üblich, das
Werden, das Entstehen des Gewordenen kennen
lernen, um es zu begreifen.
Wie wenig entwicklungsgeschichtliche Unter-
suchungen vor Schleiden's Auftreten in der
Botanik geschätzt waren, zeigt unter anderem die
geringe Beachtung der schon in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts erschienenen Schriften
von Caspar Friedrich Wolf f, der die Organ-
entwicklung von Pflanzen und Tieren bis in ihre
Anfänge zurück verfolgt hatte, um zu zeigen, daß
die Organe nicht, wie die alte Einschachtelungslehre
es wollte, aus bereits vorhandenen kleinsten An-
lagen, die sich bloß zu vergrößern, zu entfalten
brauchten, hervorgehen, sondern als wirkliche un-
differenzierte Neubildungen entstehen.
Die von Wolff aus der Betrachtung jüngster
Blütenanlagen gefolgerte Theorie, daß an der ganzen
Pflanze, deren Teile wir auf den ersten Blick als
so außerordentlich mannigfaltig bewundern, nur
zweierlei wesentlich verschiedene Organe — Blätter
und Stengel, zu welchen er auch die Wurzeln
hinzuzog — zu unterscheiden seien, die Blume
mithin bloß einen umgewandelten Sproß darstelle,
war von Goethe aufs neue aufgestellt worden.
Ohne Kenntnis der Arbeiten seines Vorgängers,
war er zu demselben Ergebnis gelangt durch die
Vergleichung der ausgebildeten Teile der fertigen
Pflanze, wobei ihn bald normal, bald abnormal (an
Mißbildungen, wie gefüllten Blumen) auftretende
Übergänge einer Blattform in die andere leiteten.
Beide Methoden, die entwicklungsgeschichtliche
Wolff 's und die vergleichend morphologische
Goethe's gelten heute als berechtigte und wich-
tige Hilfsmittel der Morphologie. Es ist nun
durchaus bezeichnend für Schleiden's dem
Extremen zuneigende Eigenart, daß er der ent-
wicklungsgeschichtlichen Methode nicht nur den
Vorzug einräumt, sondern sie sogar allein gelten
läßt und so zu dem Ausspruch gelangt, daß es
ein Unglück für die Botanik gewesen sei, daß nicht
die Wolff 'sehe Metamorphosenlehre statt der
Goethe'schen in die Wissenschaft eingedrungen
sei. Was Seh leiden gegen die vergleichende
Behandlung einnehmen mußte, war die leicht-
fertige, mißbräuchliche Art, in der sie damals unter
dem Einfluß der Schelling'schen Lehren be-
trieben wurde; die an Goethe's Lehre an-
knüpfenden, von diesem mit Wohlwollen entgegen-
genommenen abenteuerlichen Spekulationen stießen
Schieiden ab, und so kam es, daß er auch den
wertvollen Kern in G o et h e 's Bestrebungen ver-
kannte, Bestrebungen, die allerdings erst viel später,
im Lichte der von ihm selbst lebhaft begrüßten
Deszendenztheorie einen den Naturforscher völlig
befriedigenden Sinn gewonnen haben.
Wie heilsam die einseitige, ja exklusive Be-
tonung der Entwicklungsgeschichte, wie not-
N. F. III. Nr. 62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
981
wendig die Zurückweisung- voreiliger Vergleichungs-
sucht bei dem damaligen Stande der Kenntnisse
war, zeigt am deutliclisten der Umschwung, der
im Verständnis der niederen Pflanzen, der Krypto-
gamen mit der allgemeineren Anwendung der Ent-
wicklungsgeschichte verknüpft war.
Während die Bemühungen früherer Forscher
darauf gerichtet waren, die ihnen von den höheren
Pflanzen her bekannten Organe, wie Antheren und
Pistille, bei den niederen Gewächsen wieder zu
finden, lernte man nunmehr, auf vorzeitige Ver-
gleiche oft heterogener Dinge verzichtend, die
niederen Pflanzen für sich in ihrer so überaus
mannigfaltigen Entwicklung kennen, es einer späteren
Zeit überlassend, die vergleichende Untersuchung
auf sicherer Grundlage und in fruchtbringender
Weise wieder zur Geltung zu bringen.
Von den entwicklungsgeschichtlichen Einzel-
untersuchungen, die S c h 1 e i d e n veröftentlicht hat,
fallen diejenigen, welche ihm den größten Ruhm
bereiteten , andererseits aber auch die Keime
schwerster Niederlagen in sich trugen, schon in
seine Berliner Zeit, wo er Schlag auf Schlag mit
einigen das größte Aufsehen erregenden Abhand-
lungen hervortrat. Zunächst schuf er durch ge-
naue, für seine Zeit vorzügliche Darlegung der
Entwicklung verschiedener Blüten ein neues wich-
tiges Hilfsmittel zur Erforschung der Blütenmorpho-
logie, durch dessen konsequente Anwendung von
Seiten anderer Forscher, denen seine Leistungen
als Vorbild dienten, ein neuer Aufschwung der
Systematik eingeleitet wurde.
An diese mit vollem Erfolg gekrönten Be-
strebungen schlössen sich andere, noch wichtigere
an, die in der Aufgabe giptelten, die Entwicklung
der jungen Pflanze bis in ihre ersten Anfänge
Schritt für Schritt zu verfolgen.
Wenn auch die Lehre von der Sexualität der
höheren Gewächse, die Notwendigkeit der Be-
fruchtung der Samenanlagen durch eine von den
Körnern des Blütenstaubes ausgehende Einwirkung
längst erwiesen war, so blieben doch die Einzel-
heiten des Vorganges noch in Dunkel gehüllt.
Schieiden konnte bei zahlreichen Pflanzen die
zuerst von A m i c i gemachte Beobachtung von
dem Eindringen des aus dem Pollenkorn hervor-
gegangenen Schlauches durch Narbe, Griffelkanal
bis in die Samenanlagen hinein bestätigen. Wenn
er aber, die der Befruchtung harrende Eizelle über-
sehend, das Ende des Pollenschlauches selbst zum
Embryo, zum jungen Keime werden läßt, der
nach seiner Auffassung in dem Embryosack der
Samenknospe bloß eine für seine Weiterentwick-
lung geeignete Brutstätte finden soll, so war dies
ein schwerer Irrtum, durch den die bisherige,
richtige Auffassung der Pflanzengeschlechter auf
den Kopf gestellt wurde, indem nunmehr der
Pollenschlauch nicht mehr als das männliche, sondern
als das weibliche Organ der höheren Gewächse
gelten sollte. Diese als S c h 1 e i d e n ' sehe Be-
fruchtungstheorie bekannte, von ihrem Urheber,
wie von seinem Schüler und mehrjährigen Mit-
arbeiter Schacht mit größter Zähigkeit Jahre
lang gegen glücklichere Widersacher verteidigte
Lehre führte schließlich zu einer schwer emp-
fundenen Niederlage, die wohl hauptsächlich Schiei-
de n veranlaßt haben mag, in späteren Jahren die
mikroskopischen Spezialuntersuchungen immer
mehr zurücktreten zu lassen und schließlich ganz
aufzugeben.
Wenn die verunglückte Befruchtungslehre in
der Geschichte der Botanik nur als ein schwerer,
zu Widersprüchen herausfordernder Irrtum ver-
zeichnet werden kann, so werden die ebenfalls
schon in Berlin entstandenen, im Jahre 1838 er-
schienenen ,, Beiträge zur Phytogenesis" stets einen
Ehrenplatz ersten Ranges in der Geschichte der
Wissenschaft von den Lebewesen einnehmen.
Diese bekannteste und in ihren Folgen frucht-
barste Leistung Schieiden 's, sein Anteil an der
Aufstellung der Zellentheorie, als deren Begründer
er, zusammen mit Schwann, genannt zu werden
pflegt, verdient eine eingehendere Würdigung, nicht
nur wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes,
sondern weil hier die Licht- wie die Schattenseiten
der Sc hl ei den 'sehen Behandlung wissenschaft-
licher Fragen besonders klar hervortreten. Auf
der einen Seite die bewunderungswürdige Gabe
des Genies, seiner Zeit vorauszueilen in der Er-
kennung der vollen Tragweite der gestellten Pro-
bleme, die Fähigkeit, Dinge zu ahnen, die zu be-
weisen erst einer späteren Generation gelingen
sollte; auf der anderen Seite, zwar auf unzureichen-
den, dazu fehlerhaften Beobachtungen beruhende
und verfrühte, darum aber nicht minder frucht-
bare Verallgemeinerungen, die alle Mitstrebenden zur
Steliungnaimie aufforderten und auch vorsichtigere,
in der Einzelbeobachtung ihm weit überlegene
Forscher, wie Mohl, aus ihrer Zurückhaltung her-
vorzutreten zwangen und sie anspornten, die in
den Vordergrund des Interesses gestellten Auf-
gaben mit erneutem Eifer zu fördern.
Eine Lehre, die eine Unsumme von mühsam
festgestellten Einzeltatsachen unter einem einheit-
lichen Gesichtspunkt zusammenfaßt, wird nur in
den seltensten Fällen das ausschließliche geistige
Eigentum eines einzelnen Mannes sein. So ist es
auch mit der Zellenlehre, um deren Förderung
vom 17. Jahrhundert an zahlreiche Forscher ver-
schiedener Länder sich verdient gemacht haben.
Die erste genauere Keniitnis von dem feineren,
mit Hilfe des Mikroskops erkennbaren Bau des
Pflanzenleibes verdanken wir dem großen Italiener
Marcello Malpighi und dem Engländer N e h e -
m i a h G r e w. Schon kurz vorher hatte ein Zeit-
und Berufsgenosse Newtons, Robert Hooke,
dem es darauf ankam, mit dem von ihm ver-
besserten Mikroskop neue Eigenschaften der Natur-
körper zu entdecken, die Ähnlichkeit des in dünnen
Scheibchen bei starker Vergrößerung betrachteten
Flaschenkorks und anderer Pflanzenteile mit Bienen-
waben hervorgehoben. Malpighi und Grew,
welche die Grundlagen der Pflanzenanatomie schufen,
lieferten den Nachweis der allgemeinen Verbreitung
982
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 62
dieser Kämmerchen, Blasen, Schläuche oder „Zel-
1 e n", wie sie zuerst nur gelegentlich, später all-
gemein genannt wurden. Neben diesen Zellen
entdeckten sie noch ein vermeintliches anderes
Element, in Gestalt von langen Röhren, die Ge-
fäße. Durch den, allerdings erst in den dreißiger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem
schon genannten Tübinger Botaniker Hugo v. Mohl
endgültig gelieferten Nachweis der Entstehung
jener Gefäßröhren aus Zellreihen, unter Verschwin-
den der die Einzelhöhlungen voneinander trennen-
den Wände war also bereits die Zelle als ein der
mannigfaltigsten Ausbildung fähiger Elementarteil
erkannt und hiermit für das Pflanzenreich die
Zellentheorie der Hauptsache nach begründet. Als
Belege hierfür ließen sich Aussprüche verschiedener
Gelehrter, wie Brisseau-Mirbel in Frankreich,
Meyen in Deutschland, anführen.
Von der Aufstellung einer Theorie bis zu ihrer
allgemeinen Anerkennung und der richtigen Wert-
schätzung ihrer vollen Tragweite bleibt jedoch
oft noch ein großer Schritt zu tun.
Diesen Schritt tat Schieiden, den wir zwar
nicht als den Begründer der Zellenlehre, wohl
aber als ihren einflußreichen Verkünder bezeichnen
dürfen. Hierzu war er wie keiner geeignet, dank
seinem stets auf das Allgemeine gerichteten Bück,
seinem stürmisch vorwärtsdrängenden Wesen, das
ihn Schwierigkeiten, die vorsichtigere Naturen zu-
rückschrecken, gering achten, ja übersehen ließ,
nicht am wenigsten kraft seiner glänzenden Dar-
stellungsgabe, die ihm sofort einen durchschlagen-
den Erfolg eintrug. In der genannten Schrift
wird als oberster Satz hingestellt, daß jede Zelle
ein selbständiges Lebewesen sei, das nur bei den
allerniedrigsten Pflanzen frei für sich lebe, bei
höheren aber, durch Vergesellschaftung mit anderen,
den hochzusammengesetzten Körper aufbaue. Hier
führe demnach jede Zelle ein zweifaches Leben:
ein selbständiges, nur ihrer Eigenentwicklung an-
gehöriges, und ein anderes mittelbares, insofern
sie integrierender Teil einer Pflanze geworden.
An diesen wichtigen Ausspruch, der, in wenig ver-
änderter Formulierung, auch heute noch Geltung
hat, knüpft er den anderen noch wichtigeren : „daß
sowohl für die Pflanzenphysiologie, als auch für
die vergleichende Physiologie im allgemeinen, der
Lebensprozeß der einzelnen Zellen die aller-
erste, ganz unerläßliche Grundlage bilden
muß." In diesen Worten ist das Programm eines
der wichtigsten Zweige der modernen Biologie
klar vorgezeichnet.
Nur in dieser weitgreifenden Wichtigkeit des
Gegenstandes, fährt Schieiden fort, sehe er die
Entschuldigung, daß er es jetzt schon wage, mit
seiner Ansicht von der Entstehung des Ele-
mentarorganismus, der Zelle, hervorzutreten.
An Vorgängern auf dem Gebiete der Zell-
entwicklung hatte es Schieiden keineswegs ge-
fehlt, hatte ja schon der früher genannte Cas pa r
Friedrich Wolff sich, allerdings erfolglos, mit
dieser Frage befaßt. Inzwischen war an verschie-
denen pflanzlichen Objekten der Vorgang der Zell-
vermehrung beobachtet worden, ja es hatte Mohl
an einem besonders günstigen Gegenstand, einer
fadenförmigen Süßwasseralge, die Zellteilung, näm-
lich das Auftreten einer die Mutterzelle in zwei
Tochterzellen zerlegenden Scheidewand, direkt ver-
folgt, ohne es aber zu wagen, diesen Vorgang als
einen allgemeinen, typischen hinzustellen. Erst
Schieiden getraute sich ein für alle Pflanzen-
zellen gültiges Schema der Zellbildung zu ent-
werfen. Statt aber, wie Mohl, die der Beob-
achtung am leichtesten zugänglichen Fälle, wie sie
sich bei manchen niederen Gewächsen darbieten,
zu benutzen, stellte er sich die schwierige, bei den
damaligen Untersuchungsmethoden nicht zu be-
wältigende Aufgabe, den Prozeß der Zellbildung
bei den höheren Pflanzen zu verfolgen. Da es
ihm aber nicht gelingen wollte, demselben im
vegetativen Gewebe auf die Spur zu kommen,
wandte er sich an den Ort, wo die junge Pflanze
erzeugt wird, um so die Entwicklungsgeschichte
des vielzelligen Organismus in seinen ersten An-
fangsstadien, von der Eizelle aus kennen zu lernen.
So richtig dieser Gedanke an und für sich war,
für S c h 1 e i d e n wurde er nach zwei Seiten hin
verhängnisvoll, denn er führte ihn nicht nur zur
Aufstellung seiner schon besprochenen Befruch-
tungstheorie, sondern auch zu einer völlig unhalt-
baren Zellbildungslehre. Während aber erstere
nur Widerspruch erwecken konnte, war letztere,
trotz ihrer Fehler, in hohem Grade fruchtbar da-
durch, daß zum ersten Mal der Zellkern in
Verbindung mit der Zellbildung gebracht
wurde.
Der englische Botaniker Robert Brown
hatte in den Zellen der Orchideen einen unbe-
achtet gebliebenen Zellbestandteil entdeckt und als
Areole oder Kern der Zelle beschrieben. Dieser
bisher wenig berücksichtigte Teil der Zelle war
Seh leiden bei seinen embryologischen Studien
als konstanter Inhaltsbestandteil des jungen Em-
bryos und des neu entstandenen Nährgewebes oder
Endosperm aufgefallen und so entsprang, wie er
sagt, sehr natürlich der Gedanke, daß dieser Zellen-
kern in einer näheren Beziehung zur P^ntstehung
der Zelle selbst stehen müsse.
Wenn nun auch seine Angaben über die Zell-
bildung, die er stets frei, im Innern von Mutter-
zellen vor sich gehen läßt, sich höchstens für einen
besonderen Fall als annähernd zutreffend erwiesen
haben und seine Ansicht von der Rolle des Zell-
kerns oder Cytoblasten, an dessen Oberfläche die
neue Zellhaut sich bilden sollte, unrichtig war und,
wir können hinzufüsfen, bei den mangelhaften
damaligen Untersuchungsmethoden nur unrichtig
sein konnte, so tut dies der großen historischen
Bedeutung der kleinen Schrift über Phytogenese
keinen Abbruch. Ihre Wirkung machte sich nicht
nur in der Botanik, sondern in noch viel höherem
Maße in ihren Schwesterwissenschaften geltend,
wo sie eine förmliche Umwälzung in der Auf-
fassung des Aufbaues der tierischen Gewebe her-
N. F. m. Nr. 62
Naturwissenschaftliche WochciKschrift.
983
vorrief. Es sollten zwar noch Dezennien ver-
streichen, bevor es gelang tiefer in die Bedeutung
des Kerns im Zellenleben einzudringen; doch ge-
nügte die von Schieiden gegebene Anregung,
um an Stelle der bisher auf zoologischem Gebiete
nur in schüchternen Anfängen vorhandenen Ver-
suche, auch den Tierkörper als eine Vielheit
kleinster Elementarteile darzustellen, eine zusammen-
fassende Zellentheorie erstehen zu lassen. Schon
früher hatten hervorragende Tierphysiologen auf
den zelligen, einem Pflanzengewebe ähnlichen Bau
des tierischen Knorpels und der Chorda dorsalis
hingewiesen. Aber erst nachdem Seh leiden
die Wichtigkeit des Kerns betont hatte, eines Zell-
bestandteiles, der in den tierischen Gewebeelementen
besonders deutlich hervortritt, war es möglich, die
Parallelisierung der im ausgebildeten Zustande viel
mannigfaltigeren histologischen Elemente der Tiere
mit den relativ einfacheren der Pflanzen durch-
zuführen und die Zellentheorie von dem Pflanzen-
reich auf das Tierreich zu übertragen. Theodor
Schwann's grundlegendes Werk, in welchem
diese Aufgabe durchgeführt ist, erschien schon
ein Jahr nach Schleiden's Beiträgen zur Phyto-
genese. Wie Schwann es selbst dankbar be-
kennt, hat er in Berlin, wo beide damals Zimmer
an Zimmer lebten, im mündlichen Verkehr mit
S c h 1 e i d e n von dessen Zellentheorie und der
den Zellkernen zugeschriebenen Bedeutung Kennt-
nis erhalten. Sofort erkannte er, wie er selbst er-
zählt, die Fruchtbarkeit der ihm mitgeteilten Ge-
danken und nach wenigen Monaten legte er die
Frucht umfassender Untersuchungen nieder in den
, .mikroskopischen Untersuchungen über
die Übereinstimmungen in der Struk-
tur und dem Wachstum der Tiere und
Pflanzen." Pflanzen und Tiere konnten, trotz
ihrer großen Verschiedenheiten, nunmehr von einem
einheitlichen Gesichtspunkte, dem der Zellenlehre,
betrachtet werden. Als gemeinsamer Sitz der
Lebensäußerungen war eine den Organismen beider
Reiche gemeinsame Einheit erkannt. Das Studium
der normalen Zelle, dem sich bald das durch
Rudolph Virchow begründete Studium der
pathologisch veränderten Zelle anschloß, bildete
fortan einen der wichtigsten Zweige der gesamten
Biologie, welche dankbar die Namen Schi eiden
und Schwann mit dieser großen, eine neue
Epoche der Erforschung der Lebewesen einleiten-
den Errungenschaft verknüpft.
Gegenüber dieser, am tiefsten in den Entwick-
lungsgang der Naturwissenschaft eingreifenden
Leistung, die in kurzer Zeit dem noch jungen
Gelehrten europäische Berühmtheit verschaffte,
treten die späteren, in dem ersten Dezennium
seines Wirkens in Jena veröffentlichten, mannig-
faltigen Arbeiten an allgemeiner Bedeutung zurück,
wenn sie auch, wie es bei ihm stets der Fall war,
neben Irrtümern im Einzelnen eine Fülle von An-
regung boten. Mit diesen rein theoretischen, auf
die verschiedensten Gebiete der Pflanzenkunde sich
erstreckenden Bestrebungen, die wir nicht im Ein-
zelnen verfolgen können, erschöpfte sich nicht die
rastlose Tätigkeit des unermüdlich erscheinenden
Mannes, der es für seine Pflicht hielt, die Ergeb-
nisse der wissenschaftlichen Forschung auch der
Praxis dienstbar zu machen. Er begnügte sich
nicht damit, in seinen „Grundzügen" gegen die
zeitgenössischen Botaniker den Vorwurf der gänz-
lichen Vernachlässigung der praktischen Seite ihres
Faches zu erheben, sondern legte selbst die Hand
ans Werk, veröffentlichte unter anderem als erster
sorgfältig durchgeführte, seinen Nachfolgern als
Muster dienende mikroskopische Untersuchungen
pflanzlicher Heilmittel und veranlaßte seinen Schüler
Schacht, sich dem Studium der mikroskopischen
Kennzeichen wichtiger Spinnfasern zu widmen,
welch letzterer hiermit den ersten Beitrag zu einem
allerdings erst viel später, insbesondere durch den
Wiener Botaniker Wies n er geförderten Zweig
der angewandten Botanik, der pflanzlichen Roh-
stofflehre, lieferte, ein Zweig, der nicht nur für
die Technik, sondern auch für die geschichtliche
und die literaturhistorische Forschung, infolge der
Möglichkeit das Alter von Papieren und hiermit
von Handschriften festzustellen, von nicht zu unter-
schätzender Bedeutung geworden ist.
Für den Mann , der die allgemeine An-
wendung der mikroskopischen Untersuchungs-
methoden auf den verschiedenen Gebieten der
theoretischen und praktischen Botanik so sehr als
wertvolles Mittel des wissenschaftlichen P"ort-
schrittes erkannte, war die Unzulänglichkeit der
ihm zur Verfügung stehenden Instrumente, auch
der besten, Gegenstand oft wiederkehrender Klagen.
Da aber die Resignation nicht in seinem Wesen
lag, so war er auch hier bemüht, durch tätiges
Eingreifen dem schwer empfundenen Übelstand
abzuhelfen.
In der Absicht, sich als Mechaniker niederzu-
lassen, war anfangs der vierziger Jahre ein junger
Mann, Carl Zeiß war sein Name, nach Jena ge-
zogen. Wie andere Gewerbetreibende mußte er,
um die Berechtigung zur Eröffnung eines Ge-
schäfts zu erlangen, nach den damaligen Bestim-
mungen eine Staatsprüfung bestehen , zu deren
Vorbereitung er sich an verschiedenen wissen-
schaftlichen Übungen, insbesondere auch an dem
mikroskopischen Praktikum, unter Schleiden's
Leitung, beteiligte. Dieser interessierte sich für
den geschickten, lernbegierigen Mann und veran-
laßte ihn, sich der Herstellung optischer Instru-
mente, zunächst einfacher, später auch zusammen-
gesetzter Mikroskope zu widmen, wobei er ihn
darauf hinwies, das Schleifen der Mikroskoplinsen
nicht, wie es damals allgemein üblich war, rein
empirisch, sondern auf wissenschaftlicher Grund-
lage zu betreiben, ihm zugleich den Rat gebend,
sich zur Förderung dieses Zweckes in der theo-
retischen Optik unter Snell's Leitung auszu-
zubilden.
F; . Es ist sattsam bekannt, daß auch diese An-
regungen auf fruchtbaren Boden fielen und, nach-
dem Zeiß in der Einsicht seiner Unzulänglich-
984
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
keit auf theoretischem Gebiet den richtigen wissen-
schaftlichen Mitarbeiter in Ernst Abbe, diesen
für die theoretische Optik gewinnend, gefunden
hatte, von einem Erfolg gekrönt wurden, dessen
Größe S c h 1 e i d e n nicht ahnen konnte und dessen
volle Tragweite er leider niclit mehr erleben
durfte.
Wir aber, die wir uns der großen Errungenschaften
erfreuen, die sich an die Namen eines Carl Zeiß,
eines Ernst Abbe knüpfen, zollen ihm Dank
dafür, daß er ersteren in die richtige Bahn ge-
leitet und so den Anlaß gegeben hat zur glück-
lichen Entwicklung eines Unternehmens, das zu
so großer Blüte heranwachsen sollte, zum Heil
der Wissenschaft, zum Segen unserer Thüringer
Hochschule und unserer Universitätsstadt Jena.
Hundert Jahre sind seit der Geburt des ge-
feierten Mannes verstrichen, seit einem halben Jahr-
hundert gehört sein Lebenswerk der Geschichte
an, die, gerechter als manche seiner Zeitgenossen,
in ihm den erfolgreichen Vorkämpfer einer ge-
sunden Forschungsrichtung, den weitschauenden,
die Wissenschaft neu belebenden Forscher, den
Säomann fruchtbarer Gedankenkeime verehrt.
Zur Vervollständigung seines wissenschaftlichen
Charakterbildes durfte nicht bloß seiner Vorzüge,
es mußte auch seiner Mängel, seiner Irrtümer,
gedacht werden. Es irrt der Mensch, so lang er
strebt. Glücklich das Andenken des Gelehrten,
von dem eine dankbare Nachwelt rühmen kann,
daß auch seine Irrtümer dem Fortschritt förder-
lich gewesen sind.
Die erste Durchquerung Australiens.
[Nachdruck verboten.] v on E.
Im Jahre 1860 stiftete ein Bürger von Melbourne
25 00oFrs. zur Ausrüstung einer Expedition. Als
Chef wurde vom Gouvernement Viktoria der E.k-
offizier der ungarischen Husaren, O'Hara Burke,
gewählt, der damals schon sehr populär war. Ein
Mann, begierig nach Berühmtheit, tapfer und groß-
mütig, voll von Verachtung des Gewinstes, hitzig
bis zum Heroismus, schwärmerisch bis zur Träu-
merei. Aber gerade das Übermaß dieser Quali-
täten sollte die Ursache seiner vielen Leiden und
seines so unglücklichen Todes werden. Sein
zweiter Offizier und Astronom der Kolonne, Wills,
der sie in dem Meere der Wüsten leiten sollte,
besaß viel mehr Ruhe und Kaltblütigkeit, obschon
er erst 26 Jahre zählte. Die Familie Wills hatte
schon auf dem „Erebus" mit Sir John Franklin
einen ihrer Söhne verloren, und auch dieser sollte
für die Wissenschaft sein Leben lassen.
Es war am 20. August 1860, als die mutigen
Pioniere ihre lange und beschwerliche Reise an-
traten; 17 Mann mit Burke an ihrer Spitze, ver-
ließen sie unter dem Jubel der Menge Melbourne.
Sie hatten 27 Kamele — die man besonders für
diesen Zweck aus Indien hatte kommen lassen — ,
27 Pferde, Zelte, Kleider und Lebensmittel für
15 Monate bei sich. Unter den Hurrarufen der
Menge sah keiner das graue Gespenst, das sich
schon jetzt der Kolonne angeschlossen hatte, und
dem zehn Menschenleben zum Opfer fallen sollten. —
Ihren Weg kann man in drei Teile abstecken :
Menindi, 600 km von Melbourne entfernt; Cooper's
Creek, 600 km weiter nördlich, beinahe im
Zentrum des Kontinents, und drittens die Ufer des
Großen Ozeans, mehr als 1 000 km von letzterem
Orte entfernt. Zu viel Gepäck und Lebensmittel
hinderten sie am Anfange am raschen Vorvvärts-
rücken. Alle waren kräftige „Bushmen", weder
Regen noch Sonne fürchtend, im Kote schlafend,
Iceinen anderen Ehrgeiz habend, als den Horizont
der ungeheuren Prärien zu beobachten, auf Aben-
Rapple.
teuer auszugehen; mit dem Barte eines Patriarchen,
dem Drange Welten zu entdecken, gleichviel ob
sie Gold oder Steine, Wälder oder Prärien haben,
nur um ihnen Namen zu geben. Dies ist das un-
gefähre Bild eines ,,Bushman".
Am 19. Oktober 1860 lies Burke die Hälfte
seiner Leute, Tiere und Lebensmittel in Menindi,
unter dem Befehl seines Leutnants Wright, mit
der Order, ihnen nach kurzer Zeit der Ruhe nach
Cooper's Creek nachzufolgen , woselbst er ein
Zentraldepot aufzuschlagen gedachte. Wright
machte sich aber erst Ende Januar des Jahres 1861
nach dem Bestimmungsort auf den Weg!
Monat auf Monat verging; man war schon im
Anfange des Monats Juni und immer noch keine
Nachricht von Burke in Melbourne. Der Gedanke,
daß er mit seinen Leuten in den ungeheuren
Wüsten verhungern würde, brachte die ganze
Stadt in Aufregung. Man bildete in fieberhafter
Eile eine Hilfsexpedition, unter der Leitung von
Howitt, mit der Weisung die F'orscher zu suchen
und wenn möglich noch zu retten. Selbst andere
Kolonisten halfen an dem heldenmütigen Werke.
MacKinley bricht von Adelaide auf; Walker von
Queensland ; Landsborough segelt mit seinem Schiff
nach der Nordseite Australiens, und so dringen
die vier Kolonnen von vier verschiedenen Rich-
tungen gegen das Zentrum vor, mit der Hoffnung,
irgend eine Spur von Burke und seinen Gefährten
aufzufinden. —
Doch sollte es nur dem jungen Howitt be-
stinmit sein, die verhängnisvollen Nachrichten zu
überbringen. In aller Eile drang er vorwärts. Da,
am 29. Juni, in dem Augenblicke als er den Loddon-
fluß überschreiten wollte, begegnet er zu seinem
Erstaunen einer Abteilung von Burke's Leuten, die
sich auf der Rückreise befanden ! Es war Brahe,
der vierte Leutnant, der 4 Mann an Skorbut ver-
loren hatte, gefolgt von Wright. Folgendes be-
richteten sie:
N. F. 111. Nr. 62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
985
Burke hatte nach 2 Monaten glücklich die erste
Hälfte überschritten, die, bald Wüste, bald Prärie,
Menindi von Cooper's Creek trennt. Leider kam
er im Januar dort an, Menschen und Tiere waren
von der entsetzlichen Sonnenhitze schwach und
kraftlos; doch nirgends zeigte sich Wasser, alles
war verdorrt und in eine trostlose Steinwüste ver-
wandelt. Man schickte Wills mit drei Kamelen
auf die Suche nach Wasser, doch, obschon er
1 50 km nach Norden vordrang, konnte er auch
nicht eine Spur entdecken ; kein Baum, kein Strauch,
soweit er auch spähen mochte, nichts als die un-
endliche, glutatmende Wüste. Er ließ den Kamelen
freien Lauf und trat zu Fuß, ohne einen Schluck
Wasser getrunken zu haben, in einer Hitze von
50" den Rückweg bis Cooper's Creek an. Bei
Burke angelangt, meldete er die Trostlosigkeit der
Lage. Burke dachte mit Recht, daß er unter
diesen Umständen mit möglichst wenigen seiner
Leute weiter vordringen solle. Er ließ deshalb
alle Invaliden unter der Leitung von Brahe in der
Oase von Cooper's Creek zurück, mit der Order,
wenigstens drei Monate zu warten, und nach Ab-
lauf dieser Zeit noch, so lange es die Lebensmittel
erlaubten! Ach! wie viel Unglück wäre vermieden
worden, wenn Wright, den Burke auf der ersten
Station zurückgelassen hätte, früher von dort auf-
gebrochen wäre !
Burke, Wills, Gray und King, 6 Kamele, ein
Pferd und Lebensmittel für drei Monate, so traten
sie die Weiterreise an, um die Ufer des großen
Ozeans zu entdecken. Am 16. Dezember 1860
drangen sie in den noch unbekannten Teil ihrer
Route ein. Sie überschritten den Fluß und riefen,
am anderen Ufer angelangt, noch den Zurück-
bleibenden zu: „Erwartet uns, erwartet uns!''
Und dennoch kamen Brahe und Wright mit
ihren Leuten ohne Burke zurück! Brahe hatte
lange gegen die Angriffe der Eingeborenen ge-
kämpft; die Hitze wurde unerträglich; ihr einziges
Trinkwasser schöpften sie aus Wassertümpeln, die
jedoch mehr und mehr austrockneten : so hielten
sie vier Monate aus! Dann starben mehrere; für
die Überlebenden hatte man keine Nahrungsmittel
mehr. Brahe entschloß sich deshalb, seinen Posten
zu verlassen ; dies war Ende April. Er selbst
sagte, daß er nicht mehr daran zweifle, daß Burke
umgekommen sei; dennoch ließ er einige Nahrungs-
mittel in der Oase zurück.
Auf seinem Rückwege traf er mit Wright zu-
sammen. Letzterer kam also 4 Monate zu spät !
Sie kehrten gemeinschaftlich — da sie doch einige
Gewissensbisse fühlen mochten — , nach Coopers
Creek zurück, fanden aber niemanden dort. Dann,
nachdem sie der Wüste, die Brahe verschlungen
haben mußte, zum letzten Male Lebewohl sagten,
traten sie den Rückweg nach Melbourne an. So
standen die Dinge, als der junge Howitt Brahe und
Wright antraf Dieser sandte sofort einen Boten
nach Melbourne, um diese Neuigkeiten zu über-
bringen, wo sie natürlich die Entrüstung aller her-
vorbrachten,
Unterdessen drang Howitt weiter nach Norden
vor, immer noch hoffend, Burke retten zu können.
Doch da, wo die anderen Wüsten gefunden,
fand er überschwemmte Täler.
So kam er bis Cooper's Creek. Da entdeckt
er in der Rinde eines Baumes das Wort ,,dig"
(grabe) eingeschnitten. Er grub sofort die Erde
auf und fand eine Eisenkiste, worin Brahe die
Motive seiner Abreise auf Karton geschrieben hatte,
und .... unter diesen Papieren fand er die-
jenigen von Burke, in welcher er kund tat,
daß er den Kontinent bis zum großen Ozean
durchquert habe, und nun hierher zurückgekehrt
sei ! Hier lasse ich einige Abrisse aus dem Tage-
buch folgen , die der unglückliche F"orscher am
Fuße dieses Baumes begraben hatte.
„Am 16. Dezember 1860 reiste ich mit meinen
drei Kameraden von der Oase fort. In den ersten
zwei Monaten drangen wir rasch vorwärts, jeden
Tag fruchtbareren Boden entdeckend: ungeheure
Prärien folgten auf endlose Steinwüsten ; die Bäume
spendeten ihren Schatten; Bäche lieferten das
nötige Wasser. Die Eingeborenen flohen meistens
vor uns; kaum zwei oder drei mal ließen sie sich
bewegen, getrocknete Fische zu geben. Da und
dort lagen Lagunen mit Salzwasser, Hügel aus
rotem Sande gebildet, durch Überschwemmung
verwüstete Ebenen. Bald zeichnete sich eine hohe
Bergkette in der Richtung nach Norden am Hori-
zonte ab: wir hießen sie „monts Standish", und
am Fuße derselben entrollte sich vor uns eine so
prächtige Natur — grüne Wälder, Ebenen mit
wunderbar reicher Vegetation, dazwischen schlän-
gelten sich kleine Bäche hin — so daß wir der
Gegend den Namen ,, versprochenes Land" gaben.
Nach halsbrecherischen Übergängen über Hüsse,
Kämpfen gegen die Eingeborenen und Sclilangen,
gegen die Legionen von Ratten, die uns während
der Nacht keine Ruhe finden ließen, befanden wir
uns jetzt von einer solchen Vegetation umgeben,
daß wir nur noch mit Hilfe des Beiles vorwärts
dringen konnten. Ich und Wills marschierten nun
allein zu Fuß weiter. Halb tot vor Müdigkeit und
vor Hitze kämpften wir uns bis zum 11. Februar
durch die wilde Natur, die uns von Tag zu Tag
immer größere Schwierigkeiten in den Weg legte.
Bald bahnten wir uns den Weg durch das schier
undurchdringliche Dickicht, bald schritten wir bis
an die Schultern im Schmutze steckend durch end-
lose Moräste. An eben diesem Tage gelangten
wir an einen Einschnitt des Meeres, wo wir uns
erschöpft niederließen. Steile Ufer, an denen die
giftigen Wurzelbäunie ihre Zweige bis an die her-
anwälzenden Meereswellen streckten. Kein Zweifel
mehr, der große Ozean war erreicht. Nach sechs
Monaten harter Arbeit nur noch ein paar Schritte
bis zur glücklichen Lösung unserer großen Aufgabe!
Wir wollten diesen Ozean sehen, den wir schon
solange suchten, wir wollten näher dazu, höhere
Punkte ersteigen . . . doch umsonst, überall stießen
wir auf Sümpfe, in denen wir den sicheren Tod
gefunden hätten. Um das Maß voll zu machen,
986
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 62
kam plötzlich noch die Flut, und dieses Meer, das
wir solange, schon solange gesucht, drohte uns
jetzt fortzuschwemmen. Doch um jeden Preis
wollten wir vorher noch das Meer sehen und dann
— sterben I Aber dieses war uns versagt. Sah
Moses nicht auch vom Berg Nebo das Land Kanaan?
Nein, von diesem Meere hörten wir nur das ent-
fernte Rauschen; umsonst machen wir übermensch-
liche Anstrengungen." (Der Blick auf die blauen
Wogen war anderen vorbehalten, anderen, die es
vielleicht weniger verdient hatten.)
Immerhin hatte die Expedition ihr Ziel erreicht.
Doch, da steigt eine neue Gefahr am Horizonte
ihres grauen Himmels auf. Das Gespenst des
Hungertodes ist es, das hinter ihnen steht. Für
12 Wochen hatte Burke Nahrungsmittel mitge-
nommen, jetzt befanden sie sich auf halbem Wege,
und dieselben reichten kaum noch für fünf Tage.
Ihr Mut sank von Tag zu Tag. Dazu goß es in
Strömen und setzte alles unter Wasser, so daß sie
hundertmal am Tage Gefahr liefen zu ertrinken.
Am 6. März aß Burke, der bereits mehr tot
als lebendig war, ein Stück gebratene Schlange.
Am 20. begannen sie die Ladung ihrer Kamele
zu erleichtern, die sich nur mit der größten Mühe
noch weiter schleppten. Am 30. wurde eins davon
getötet. Am 10. April Billy, das Lieblingspferd
Burke's, auf welchem er von Melbourne abgereist
war. Am 11. sind sie genötigt eine viertel Stunde
auf Gray zu warten, der nicht mehr gehen konnte.
Gray wurde von Burke, der sonst so großmütig
war, rauh behandelt; das kam so. Sie hatten den
letzten Rest Mehl für den äußersten Notfall auf-
bewahrt, und nun fand er Gray, der es hinter
einem Baume versteckt aufaß. Wie kamen ihnen
später, als sie selbst im Todeskampfe lagen, die
Leiden Gray's ins Gedächtnis !
Am 21. April abends kamen sie endlich als
lebende Skelette in der Oase von Cooper's Creek
an. Doch, wo waren ihre Begleiter, denen sie so
oft gesagt hatten: ,, Erwartet uns", wo waren sie?
Alles blieb still auf ihr Rufen, keine menschliche
Stimme ließ sich vernehmen! .... Welch traurige
Gedanken müssen ihnen in dieser Stunde gekommen
sein ! Sie fanden den Baum mit dem Worte „dig"
und gruben die Kiste heraus. Einige Lebensmittel,
die Brahe zurückgelassen, die Papiere, auf denen
er die Motive seiner früheren Abreise aufgezeichnet
hatte, und von wann datierten dieselben?
vom selbigen Tage, vom 21. April morgens! Nach
einer mühevollen Reise nach dem Ozean und nach
einer noch mühevolleren und mit schrecklichen
Leiden verbundenen Rückkehr, nachdem sie — aus-
genommen zwei — alle Tiere verloren und ver-
zehrt hatten, nachdem sie die größte Entdeckung,
die die australische Geschichte zu verzeichnen hat,
gemacht, kamen sie nach der Oase zurück, nach
der sie sich auf ihren Wanderungen so sehr ge-
sehnt, um die für sie so schreckliche Entdeckung
zu machen, daß die Männer, auf die sie so fest
gezählt, seit nur wenigen Stunden abgereist sind! —
Ein anderer als Burke wäre vielleicht verzweifelt.
er aber nicht. So wie sie waren, bis zu einem
Schatten abgemagert, konnten sie unmöglich eine
wohlausgerüstete und wohlausgeruhte Kolonne ein-
holen. Burke erinnerte sich, daß sich nahe beim
„hoffnungslosen Berge" eine Schlafstation befinde.
Immerhin waren es noch 150 km. Nach zwei Ruhe-
tagen machte er sich mit Wills und King wieder
auf den Weg, indem er noch vorher alle seine
Aufzeichnungen, die Anzeige des Verlustes seines
Leutnants und die Richtung seines Marsches in
die Kiste einschloß.
Um das Maß der unglücklichen Zufälle' voll
zu machen, kamen, während Burke mit größter
Mühe nach Westen zog, Brahe und Wright, die
sich (wie der freundliche Leser sich noch erinnern
wird) getroffen hatten, am 23. April nach derselben
Oase zurück, um sich zu vergewissern, ob niemand
hier gewesen sei. Sie waren jedoch so leicht-
sinnig, daß sie nicht einmal in der Kiste nach-
sahen; sie hätten die Aufzeichnungen von Burke
gefunden, der am gleichen Morgen abgereist
war .... und ihn retten können. —
Doch nein, sie finden alles noch in demselben
Zustande wie bei ihrer Abreise (!) und brachen
wieder gegen den Darling auf.
Also zweimal hintereinander in derselben Woche
waren diese Männer, die einander so suchten, ohne
es zu wissen, auf einem kleinen Flecke inmitten
der Wüste aneinander vorbeigegangen !
Burke, Wills und King stiegen unterdessen in
das Tal des Cooper hinab. Ein Kamel fällt vor
Müdigkeit; sie töten es und trocknen sein Fleisch
an der Sonne. Am nächsten Tage geht ihnen
das letzte Kamel zugrunde. Da, im höchsten
Augenblicke der Gefahr, stoßen sie auf Eingeborene,
die ihnen zu essen geben. So lebten sie bis zum
15. Mai.
Plötzlich flohen die Schwarzen aus unbekannten
Ursachen, und ließen sich nicht mehr blicken.
Jetzt waren sie genötigt, ihren Weg wieder fort-
zusetzen. Am 24. kamen sie auf eine große,
steinige Ebene. Doch, wie sehr sie auch den
Horizont mit den Blicken absuchten, nirgends
waren die so sehr ersehnten Gebirge zu erspähen.
Sie glaubten, sie hätten sich im Wege geirrt, und
kehrten wieder nach Cooper's Creek zurück. Wenn
je ein Mensch vom Unglück verfolgt wurde, so
war es sicher Burke. Wäre er nämlich nur noch
ein paar Stunden weitergegangen, so hätte er die
Berge sehen können und wäre gerettet gewesen,
so aber ging er leider seinem Tode entgegen.
Am 27. Mai kamen sie wieder in Cooper's
Creek an. „Sie kamen, schreiben sie, um die
Oase zu sehen und zu sterben!" Wie lange ihr
Todeskampf noch gedauert, geht aus den Auf-
zeichnungen hervor, die Wills und Burke gemacht,
und die, gleichsam als das Testament ihrer letzten
Stunden, in die Eisenkiste eingeschlossen wurden.
Es mag ihnen gewiß ein Trost gewesen sein
in ihren Qualen, um ihre Leiden, die sie als wahre
Märtyrer der Wissenschaft gelitten, zu offenbaren.
Am 20. Juni schrieb Wills folgende zwei Zeilen ;
N. F. m. Nr. 62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
987
„Ich halte es nicht länger aus; ach! es ist so
traurig, sich verlassen zu fühlen !"
Am 22. schreibt er:
„Ich lege mich in den Sand, um nicht mehr auf-
zustehen, in Zukunft wird King meine letzten Grüße
aufschreiben."
Am 29. Juni schrieb er seine letzten Worte;
es war ein Brief an seinen Vater:
„Mein Tod .... mein Tod ist gewiß, aber
meine Seele ist ruhig 1"
Der junge Howitt fand keine weiteren Nach-
richten mehr, die ihn über das Schicksal Wills' auf-
geklärt hätten. War er tot oder lebte er noch '
Wo konnte sein ausgetrocknetes Skelett sein, wo
konnte er seinen röchelnden Körper finden? Die
letzten Worte von O'Hara Burke sind vom 28. Juni,
also einen Tag früher als diejenigen von Wills.
Er schrieb:
„King wird uns überleben, er ist doch der
Kräftigste unter uns; unsere Pflicht ist erfüllt, wir
sind die ersten, die die Ufer des stillen Ozeans
gefunden .... aber wir sind verlas . . . ." Dieses
letzte Wort war nicht ausgeschrieben, er hatte den
Mut nicht dazu gehabt.
Howitt suchte die ganze Umgebung ab, viel-
mals durch Kamelspuren irre geführt. Endlich am
10. September fand er unter den Fußeindrücken
von Wilden diejenigen eines Strumpfes. Bald
darauf auch den Mann selber, oder vielmehr den
Schatten eines lebenden Wesens, bedeckt mit In-
sekten und so schwach, daß er sich nicht auf den
Beinen halten konnte. Dies war ein Überlebender
der großen Expedition ! Es war King, der alte
Soldat ! Folgendes konnte Howitt mit großer
Mühe aus ihm herausbringen :
Am 28. Juni schlug Wills vor sich zu trennen
um Eingeborene aufzusuchen, da er in dieselben
seine letzte Hoffnung setzte; er gab Burke seine
Uhr und einen Abschiedsbrief für seinen Vater,
und die drei Freunde, die so viele gemeinsame
Marter durchgemacht hatten, trennten sich, um
sich auf dieser Erde nie mehr zu sehen. King
blieb bei Burke. Nach Ablauf zweier Tage fiel
dieser vor Schwachheit um und bat King, „ihn
nicht mehr zu verlassen bis zu seinem Tode".
Am 29. starb er, indem sein Blick auf das
südliche Kreuz, das Tröstungszeichen aller auf der
australischen Hemisphäre Sterbenden, geheftet war.
King suchte nun noch Wills, fand ihn aber auch
schon tot, er war allein, ohne einen einzigen
Menschen bei sich zu haben, gestorben. Welch
grauenhafter Tod! Dann wurde King von den
Wilden aufgenommen und bis dahin ernährt.
So mußte ein Forscher, der der Wissenschaft
und vor allem seinem Vaterlande solche Dienste
geleistet, allein und verlassen von den Seinen
elendiglich ums Leben kommen.
Kleinere Mitteilungen.
Über die Wanderungen der Bartenwale
bringt G. G u 1 d b e r g im Biologischen Zentral-
blatt eine Reihe neuer Beiträge. Von den in allen
Weltmeeren vertretenen Finwalen(Balaenopteriden)
ist eine der am allgemeinsten verbreiteten P'ormen
der Buckelwal [^Ategaptera boops], der bis zu 22 m
lang werden kann und oben tiefschwarz, an Unter-
kiefer, Kehle und vorderer Brustpartie dagegen
glänzend weiß gefärbt ist. Die über die verschie-
denen Ozeane verteilten Angehörigen dieser Art
lassen sich in einzelne Hauptstämme zusammen-
fassen , welche bestimmte Wanderungen vorzu-
nehmen pflegen. So tritt ein nordatlantischer
Stamm von Juni bis zum .Spätherbst in den hohen
nördlichen Breiten Grönlands und des nördlichen
Norwegens auf, dessen Herden sich im Winter
zerstreuen , auch wohl etwas mehr nach Süden
ziehen, auf der .Suche nach günstigeren Futter-
plätzen. Im .'\pril und Mai dagegen sind die
Wale, bis auf einige jüngere Exemplare vielleicht,
\ollständig aus diesen nordischen Gebieten ver-
schwunden, sie sind dem Fortpflanzungstriebe
folgend nach Süden gewandert, nachdem sie sich
schon in den vorhergehenden Monaten sehr un-
ruhig gezeigt hatten. Sichere Beobachtungen über
einen Massenzug liegen noch nicht vor, wahr-
scheinlich ziehen sie westlich von den britischen
Inseln nach Süden und verteilen sich in den Ge-
bieten zwischen Bermudas, Antillen und den Cap-
verden. In diesen südlichen Gebieten werfen
dann die trächtigen Weibchen ihre Jungen, und
hier findet dann zugleich die oft beobachtete Be-
gattung statt. Im Sommer erfolgt endlich wieder
die Rückwanderung in die nordischen Bezirke,
welche mit ihrem sommerlichen Planktonreichtum
eine ergiebige Weide darbieten. — Von den For-
men des südatlantischen Ozeans wissen wir in
dieser Hinsicht nichts Bestimmtes, mit voller
Sicherheit sind dagegen Wanderungen des Buckel-
wals im nördlichen Teil des pazifischen Ozeans
beobachtet worden. Im Herbst ziehen sie hier
an der nordamerikanischen Küste entlang nach
Süden, im Sommer kehren sie nach Norden zu-
rück. In dem südlichen Teil des pazifischen Ozeans
ist es nach Beobachtungen der Südpolarfahrer zum
mindesten sehr wahrscheinlich, daß auch hier ent-
sprechende, mit den Jahreszeiten wechselnde Wan
derungen stattfinden.
Von den durch ihre langgezogene Körperform
sowie die stark entwickelte Rückenflosse ausge-
zeichneten Balaeiinpteya-\x\.zn ist der größte der
Blauwal {Balaenoptera SibbalJii). Seine Haupt-
nahrung bilden kleine pelagische Krebse. Im
nordatlantischen Ozean tritt er in höheren Breiten
gegen den Frühling auf, und zwar einmal bei
Island, von wo er allmählich nach Osten gegen
das Nordkap hinzieht, und sodann an der Neu-
fundlandküste, von wo er sich den grönländischen
988
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
Küstengebieten zuwendet. Sein Winteraufenthah
ist unbekannt, wahrscheinlich zieht er dann in
südlichere, nahrungsreichere Gegenden. Auch von
seiner Brunstzeil hat man keine sicheren Beobach-
tungen. Von Wanderungen der übrigen hierher
gehörigen Arten läßt sich bis jetzt nur wenig
Sicheres sagen, bemerkenswert ist nur, daß der
gewöhnliche Finwal [Balaenoptera pliysalus) im
Gegensatz zu seinen von Plankton (also Krebsen
und Mollusken im wesentlichen) sich nährenden
Verwandten ein Fischfresser ist und so beim Ver-
folgen der Heringsschwärme eine gewisse Art des
Wanderns zeigt.
Die Frage nach den Wanderungen der Barten-
wale besitzt ein großes praktisches Interesse. Mit
den Hilfsmitteln der modernen Technik werden
die Fanggebiete der Wale viel schneller ausge-
beutet und abgenützt als früher, und es wird nur
eine Frage kurzer Zeit sein, sie gänzlich unrentabel
zu machen. Erst eine genaue Kenntnis der Er-
nährung, der Fortpflanzung und der damit zu-
sammenhängenden Wanderungen wird es ermög-
lichen, einen rationellen Fang durch internationale
Schonungsgesetze herbeizuführen und so den Wal-
fang zu einem dauernd ergiebigen und Nutzen
abwerfenden Betrieb zu machen.
J. Meisenheimer.
Von einer von Asseln sich nährenden Ameise
berichtet W. M. W h e e 1 e r. ' ) Wiederholt be-
obachtete derselbe, daß die Arbeiter von einer in
Texas lebenden Ameise, der Leptogenys elongata,
tote Asseln in ihren Mandibeln herbeischleppten.
Dieselben gehörten den Gattungen Oniscus und
Armadillidium an, die sich in der Nähe der Ameisen-
nester häufig unter Steinen und an schattigen
Plätzen fanden. Die Ameisen scheinen sich, wie
eine nähere Untersuchung ergab, ziemlich aus-
schließlich von diesen Asseln zu ernähren, der
Boden am Eingang der Nester ist weiß von den
bleichenden Extremitäten und Körperringen dieser
Crustaceen, und die langen zahnlosen Mandibeln
der Ameise erscheinen in hohem Maße der Auf-
gabe angepaßt, den Körper der Beute durch Zer-
reißen der Gelenkhäute zu zerlegen. Übrigens ist
dies die einzige Art, welche sich dieser eigentüm-
lichen Ernährungsart angepaßt hat, ihre indischen
Verwandten leben hauptsächlich von Termiten.
J. Meisenheimer.
') W. M. Wheeler, A crustacean-eaüng ant. Biolog.
Bulletin, vol. VI. 1904.
Quecksilber und grüne Pflanzen. — Daß
die Dämpfe des metallischen Quecksilbers dem
tierischen und menschlichen Organismus in hohem
Maße schädlich sind, ist bekannt. Auch für die
Pflanzen, insbesondere die grünen Gewächse, be-
sitzen die Quecksilberdämpfe eine stark giftige
Wirkung. Bei physiologischen Versuchen läßt
sich häufig die Erscheinung beobachten , daß
Pflanzen , die in einem durch Quecksilber abge-
schlossenen Räume, etwa unter einer Glasglocke,
gezogen werden, nach kurzer Zeit in ihrer Ent-
Wicklung gehemmt werden und bald Krankheits-
und Absterbeerscheinungen zeigen.
Es ist nun beobachtet worden , daß auf das
Eintreten der Quecksilbervergiftung Feuchtigkeits-
verhältnisse der Luft und Alter der Pflanzen von
Einfluß sind. Junge Pflanzen vermögen der Ein-
wirkung des Giftes schwerer zu widerstehen als
alte. In feuchter Luft treten die Vergiftungs-
erscheinungen früher auf als in relativ trockener;
dies gilt besonders für solche Gewächse, die, wie
die Gräser, für Feuchtigkeitsschwankungen große
Empfindlichkeit zeigen. Das Quecksilber bewirkt
zunächst einen Wachstumsstillstand der Pflanzen,
darauf beginnen die Blätter, besonders die jünge-
ren, abzusterben. Die vollständige Vergiftung
erfolgt in einem Zeitraum von wenigen Tagen.
Interessant ist, daß nur die chloropliyllhaltigen
Teile der Pflanzen von dem Gifte betroffen wer-
den ; die Anhäufung selbst einer größeren Menge
des Metalls im Boden schädigt die Wurzeln nicht,
sofern nur die oberirdischen Organe nicht von
dem Gifte betrofi"en werden.
Es empfiehlt sich also, bei pflanzenphysiologi-
schen Experimenten die Verwendung von Queck-
silber zu vermeiden, oder es jedenfalls durch eine
indifl'erente Flüssigkeit, am besten durch Glyzerin,
da sich Wasser oder Mineralöl nicht so gut be-
währt haben sollen, abzusperren. Dr. Seckt.
Über eine auffallend rasche autonome
Blattbewegung bei Oxalis hedysaroides H. B.
K. veröftentiicht Hans Molisch in den Ber. d.
Dtsch. Bot. Ges. (Bd. 22, 1904, S. 372—376) eine
Abhandlung. — Die dreizähligen, kleeblattähnlichen
Blätter mancher Oxalis-(Sauerklee-)Arten sind
gegen mechanische Reize sehr empfindlich ; bei
Stoß oder Erschütterung senken sich die Blätter
sofort abwärts. An der aus Java stammenden
Oxalis hedysaroides nun hat Verf. eine sehr über-
raschende und interessante Beobachtung gemacht.
Er schreibt darüber:
„Als ich an einem warmen Sommertage vor
einer üppigen, etwa ^/^ Meter hohen Pflanze stand
und ihre Blätter betrachtete, sah ich plötzlich,
wie sich eines der Blättchen momentan
senkte. Obwohl ich ganz ruhig dastand, war
mein erster Gedanke doch der, daß vielleicht
irgend eine Erschütterung oder irgend ein Be-
leuchtungswechsel auf das Blatt gewirkt und so
die gewöhnliche Reizbewegung hervorgerufen
haben dürfte. Allein wie groß war mein
Erstaunen, als ich bewegungslos vor
der Pflanze stehend nun bemerkte, wie
fast jede Minute, bald hier, bald dort,
irgend ein Blättchen sich plötzlich
nach abwärts senkte."
Autonome Bewegungen, d. h. solche, welche
aus inneren, noch unbekannten Ursachen erfolgen,
N. F. ni. Nr. 62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
989
finden sich bei verschiedenen Pflanzen '), indessen
niemals von der Schnelligkeit, die Verf. beobach-
tete. Bei der Oxalis führte nämlich die Blatt-
spitze eine Senkung von 30 — 45" oder einen
Weg von '1^ — i'/o cm in einer oder weni-
gen Sekunden aus. Die Senkung erfolgt in
den Gelenken und geht „entweder scharf mit
einem Ruck oder in mehrfachen Absätzen" vor
sich. Hierbei wechseln kleinere Senkungen mit
etwa sekundenlangen Pausen, was sich bis sechs-
mal wiederholen kann. Findet bloß eine einmalige
Senkung statt, so ist für diese nur 1—2 Sekunden
Zeit erforderlich , geht sie dagegen in mehreren
Absätzen vor sich, so nimmt es etwa 12 Sekunden
in Anspruch, bis die Blattspitze ihren tiefsten
Stand erreicht hat.
So auffallend schnell die Senkung der Blätter
vor sich geht, so langsam vollzieht sich die Auf-
wärtsbewegung. Sie dauert ca. 5 Minuten , ist
also mit freiem Auge nicht direkt wahrzunehmen.
Verf erwähnt, wie häufig diese autonomen
Bewegungen an der in Frage stehenden Oxalis
erfolgen. Er sah an einem heißen Sommertage
,,an einem mit fünf ausgewachsenen Blättern ver-
sehenen Sproß innerhalb ' ,, Stunde bei einer
Temperatur von 29" C im ganzen 21 Fiederblätt-
chen die Senkung vollführen." Die Bewegungen
erfolgten unregelmäßig, indem sich bald ein vor-
deres, bald ein hinteres, bald ein oberes, bald ein
unteres Blättchen bewegte; häufig war zu be-
obachten, daß die Seitenblättchen eines und des-
selben Blattes ziemlich rasch nacheinander die
Senkungen ausführten. Se.
') So zeigen z. B. die Fiederblättchen von Acacia
lophanta und diejenigen der durch ihre auffallenden Reiz-
bewegungen bekannten Mimosa pudica autonome Be-
wegungen, wenn auch nicht sehr auffällige, ferner auch
Phaseolus vulgaris, O.^alisacetoseUa, Trifolium
pratense und ganz besonders schön Desmodium gy-
rans, ein aus Ostindien stammender, zu den Papilionacecn
gehöriger Zierstrauch.
Die Mastodonten Südamerikas bilden den
Gegenstand einer wertvollen Untersuchung, die
Erland Nordenskjöld über seine in Gemeinschaft
mit Eric Graf von Rosen in den Grenzgebieten
von Argentinien und Bolivia gemachten P'unde
und reiches zum Vergleich herangezogenes Material
veröffentlicht.')
Während die älteren Mastodonten noch deut-
liche Schmelzleisten auf den Stoßzähnen und
Stoßzähne auch im Unterkiefer aufweisen, geht
beides mehr und mehr in der Annäherung an
Elephas verloren. (Interessant wäre zu erfahren,
ob etwa bei Elephas afric. im Embryonalstadium
noch Andeutungen an Unterkieferstoßzähne be-
merkbar sind.) Die südamerikanischen Formen
scheinen ein Übergangsstadium darzustellen, denn
') Kungl. Svenska Vetenskaps- Akademiens Handlingar,
Bandet 37, No. 4: Über die Säugetierformen des Tarijatales,
Südamerika. I. Mastadon andium, Cuv. Kungl. Boktryckeriet,
Stockholm. P. A. Norstedt & Söner.
die Schmelzleisten verlieren sicli gegen das Alter
hin, und Stoßzähne im Unterkiefer finden sich nur
mehr bei jungen Männchen. Da nun die Stoß-
zähne ihrerseits einen nicht unwesentlichen Ein-
fluß auf die Form und Stärke des Kraniums in-
folge ihres Gewichtes ausüben, so ist die Möglich-
keit großer Alters- und Geschlechtsunterschiede
gegeben. Während bisher eine beträchtliche An-
zahl -Spezies auf diese Differenzierungen gegründet
war, trägt Nordenskjöld in dankenswerter Weise
der individuellen Variabilität Rechnung und redu-
ziert die bisherigen Arten auf zwei Typen , näm-
lich Mastodon andium, Cuv., hauptsächlich ver-
treten in der bekannten pleistocänen Säugetier-
fauna des Tarijatals, und Mastodon Humboldti,
Cuv., aus der Umgebung von Buenos Ayr'es, aus
Uruguay und den angrenzenden Gebieten, nimmt
aber für Chile und Brasilien je eine Lokalrasse
als wahrscheinlich an und erwartet auch von einer
Beschreibung der Reste aus Zentralamerika und
Mexiko interessante weitere Aufschlüsse. M. an-
dium und M. Humboldti sind vermutlich aus einer
Form hervorgegangen und mögen infolge ihrer
oft kaum wahrnehmbaren Verschiedenheit in ein-
zelnen Resten öfters falsch bestimmt sein, wogegen
sie in iliren extremsten Variationen zuweilen
außerordentlich voneinander abweichen können.
Im allgemeinen ist M. andium kleiner, es hat wohl
in ungünstigeren Existenzbedingungen gelebt. Es
hatte längere, gekrümmte Stoßzähne mit deut-
licheren Schmelzleisten. Die Symphyse des Unter-
kiefers VA'ar weniger nach unten gebogen und
länger. Die gleichzeitig benutzte Kaufläche war
im Mittel etwas geringer. Die Molaren besaßen
eine stärkere Tendenz, vom trilophodonten Typus
zum tetralophodonten hin zu variieren. M. andium
war daher in einigen Beziehungen spezialisierter
als M. Humboldti, in andern blieb es hinter jenem
zurück. Im Gegensatz zu den asiatischen und
europäischen erscheint die artenbildende Fähigkeit
der südamerikanischen Mastodonten geringer, ihre
Variabilität dagegen ausgeprägter. Dem Umstände,
daß sie sich infolgedessen nicht selbst schärfere
Konkurrenten schaffen konnten, schreibt Norden-
skjöld ihre größere vertikale Verbreitung zu.
Während die asiatischen und europäischen Formen
das Miocän oder Pliocän nicht überlebten, finden
sich die Reste in Südamerika bis ins Pleistocän
oder noch länger. Von Mastodon andium Cuv.
werden einige Fundstücke an der Hand vortreff-
licher Lichtdrucke beschrieben. Wertvoll sind auch
die tabellarischen Übersichten über die Maßzahlen
einzelner Objekte.
Geologisches Interesse beansprucht ein Fund von
Mastodon arvernensis '), der bei der Neukartierung
des Blattes Ostheim vor der Rhön gemacht wor-
den ist. Er stammt aus ockergelbem bis intensiv
rotem , stark eisenhaltigem Sand mit deutlicher
') Jahrbuch der königl. preußischen geologischen Landes
anstalt und Bergakademie 1901, Bd. XXII. (Herausgeg. 1904),
S. 364 — 371: Max Blankenhorn über ,,Oberpliocän mit Masto-
don arvernensis auf Blatt Ostheim vor der Rhön."
990
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
Flußschichtung, der mit Kieslagen und Tonen
abwechselnd überall eng mit den darüberlagernden
Diluvialschottern verknüpft ist. Die bunolopho-
donten Backenzähne machen den Fund als Masto-
don arvernensis kenntlich und schließen M. Borsoni
aus. In jedem Fall aber wird durch ihn die
Lagerstätte als unser „Oberpliocän" gekennzeichnet,
wenn man sich vor Augen hält, daß unter diesem
Namen die in Südeuropa ausgeprägter entwickel-
ten Schichten des Mittel- und Oberpliocän zu-
sammengefaßt werden. Dadurch fällt zugleich
auch Licht auf identische Bildungen in Thü-
ringen, sowie im nördlichen Bayern zwischen
Rhön und Thüringer Wald, die bisher aus Mangel
an Fossilien nicht sicher hatten bestimmt werden
können.' Edw. Hennig.
Bücherbesprechungen.
Theodore Roosevelt, Jagden in amerikani-
scher Wildnis. Eine Schilderung des Wildes
der Vereinigten Staaten und seiner Jagd. Mit einem
Bildnis des Verf., 24 Tafeln und Te.xtabbildungen.
XVII, 389 S. Berlin, Paul Parey, igoS.
Schilderungen von Reise- und Jagderlebnissen
pflegen, auch wenn sie nicht von einem Fachmanne
herrühren, für den Zoologen von Interesse und Wert
zu sein, sobald der Verf. nur ein geübter Beobachter
und aufrichtiger Schilderer ist. So erfährt denn unsere
Kunde von der Lebensführung selbst gut bekannter
Tiere alljährlich mannigfache Bereicherung durch Dar-
stellungen von Männern, die ihre Reisen und Streif-
züge zunächst aus Gründen unternahmen, die der wissen-
schaftlichen Beobachtung fern liegen, im Verwaltungs-
amte, im technischen Berufe, als Sportsmänner und
insbesondere als Jäger. Wir wissen aus Brehm's Tier-
leben, wie reichhaltig gerade die jägerische Literatur
an Tierbeobachtungen ist. So wird denn auch das
vorliegende Buch nicht nur um des Verf. willen ge-
lesen werden , sondern es wird auch wegen seines
sachlichen Inhalts dem Erforscher und dem Liebhaber
der Tiere Stunden angenehmer Unterhaltung und
mannigfacher Belehrung verschaffen. Der Präsident
der Vereinigten Staaten hat „eine Reihe von Jahren
hindurch" „einen großen Teil seiner Zeit in der
Wildnis oder an den Grenzen urbar gemachter Land-
striche verbracht". „Während dieser Zeit jagte ich
viel in den Bergen und in den Prärien . . . und ich
hatte das Glück, all die verschiedenen Arten des Hoch-
wildes zu erlegen, die man als eigentümlich für die ge-
mäßigte Zone Nordamerikas bezeichnen kann." Roosevelt
schildert zunächst die nordamerikanischen Jagdgebiete
und vergleicht sie mit entsprechenden Gebieten der
Alten Welt. Sie beherbergen ähnliches Wild, doch ist es
nicht selten stärker als das eurasiatische (Wapiti, Marder).
Eigenartig ist die Gabelantilope. Kuguar, Pekari,
Waschbär, Opossum und Truthuhn stehen der tro-
pisch-amerikanischen Fauna nahe. Die Farmer und
Trapper, die Viehzüchter und Bergleute, die Ansiedler
und Soldaten waren und sind die Weidmänner der
amerikanischen Ebenen, Wälder und Berge. Von der
Farm aus geht's auf die Jagd des kolumbischen, lang-
ohrigen Hirsches (blacktail) oder des \orsichtigen
virginischen (whitetail). Auf den Weideplätzen trifft
man beim Viehtreiben Erdeichhörnchen, Präriehunde,
Hühner und Gabelantilopen, Lerchen und Spottvögel,
Frettchen und Adler. Der winterliche Schnee, Wölfe
und Adler, vor allem aber die Menschen sind die
gefährlichen Feinde der Gabelantilopen. Im Berg-
land (z. B. in den Rocky Mountains, im Flochgebirge
von Kootenai usw.) werden Bergschafe (Dickhornschafe)
und -Ziegen gejagt. Murmeltiere , Kaninchen und
Schneehühner sind ihre Genossen. Die weißen Ziegen
mit schwarzem Gehörn und Moschusduft werden in
ihrer Unbeholfenheit immer weiter ins Hochgebirge
verdrängt werden, sich hier aber noch lange halten.
Vom Kootenaisee mit zahlreichen Silberforellen zog
der Jäger in die dichten Wälder der Selkirkberge, die
ein reiches Vogelleben aufweisen, um Bären, Ziegen
und vor allem Karibus (Rentiere) zu erlegen. Die
Jagd des Wapitis, der bereits in die Bergwälder zurück-
gedrängt worden ist, liefert auch Luchse, Wildkatzen,
Stachelschweine, Eich-, Backenhörnchen, Clarkes Krähe,
Lewis Specht, zutrauliche Wasserzaunkönige und zu-
dringliche Holzhäher. Von großer Schönheit sind die
Reviere derShoshoneberge im nordwestlichen Wyoming.
„Für mich", sagt Roosevelt, „ist die Birschjagd auf
Wapiti im Gebirge .... eins der reizvollsten Ver-
gnügen, nicht nur wegen der Stärke und statüichen
Schönheit der Beute und der mächtigen Trophäen,
sondern wegen der herrlichen Pracht der Landschaft
und des begeisternden , männlichen , aufregenden
Charakters der Jagd selbst." Ihr stehen das Suchen
nach dem Elch in seinen Sumpfwäldern, das Umher-
klettern nach den Ziegen, der „unsichere und ergebnis-
loseste Sport" der Bärenjagd nach. Nur bei der aui
das Dickhornschaf kommen kräftige Arbeit und frohe
Erregung im selben Maße vor, allein der Wapiti ist
„der edelste Hirsch der ganzen Welt". Der Riese
unter den Hirschen ist der Moose, der amerikanische
Elch. Ihn birschte Verf. in den Rocky Mountains.
Verf. hat auch noch 1883 den Bison am kleinen
Alissouri von seiner Farm aus gejagt und ihn 1889
am Wisdom River aufgesucht. Neben dem virginischen
Hirsch ist der schwarze Bär das am weitesten ver-
breitete Hochwild Amerikas. Er frißt Pflanzenkost,
Kerfe, Aas und kleinere Tiere, überfällt Schafe und sehr
gern Schweine und ist kein gefährlicher Gegner. Als
solcher steht der Grislybär am höchsten. Er wird
700, ausnahmsweise bis 1200 Pfund schwer, reißt vor
allem Rinder, aber auch andere Haustiere. Der Kuguar
kann nur mit Hunden, oder angelockt durch das Aas,
gejagt werden. Das Pekari findet sich nur im süd-
lichsten Texas. — Dies sind die Tiere, deren Er-
legung Roosevelt in erster Linie schildert. Hierbei
handelt es sich zum großen Teile um frisch und an-
schaulich geschriebene Jagderlebnisse, die auf die Ge-
wohnheiten des gesuchten Wildes, auf die Art seines
Vorkommens, seine Nahrung, sein Familienleben usw.
eingehen. Aber daneben werden auch weitere Lebens-
beziehungen nicht vergessen. Schilderungen der Heimat
und des Geländes, die die betreffenden Tiere be-
wohnen, und zahlreiche Mitteilungen über die pflanz-
lichen und tierischen Mitbewohner der Jagdreviere
N. F. III. Nr. 62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
991
finden sich häufig genug. Den jägerischen Interessen
wird Roosevelt durch die Darstellung des Jagdver-
fahrens und der Jagdmittel gerecht. Insbesondere geht
er auf die Hetzjagd, auf die Wohshunde und auf be-
kannte amerikanische Jäger ein. Endlich erfährt der
Leser auch manches Interessante über die mensch-
lichen Bewohner, Weiße und Rothäute, der besuchten
Gebiete, die z. T. schon heute wieder ein anderes
Aussehen L)esitzen als vor 20 bis 10 Jahren, als
Roosevelt in ihnen jagte. Dieser versteht es, an-
ziehende Anekdoten in die Schilderung zu verflechten.
Ein eigenes Kapitel behandelt das Deben „Im Lande
der Cowboys".
Die Tafeln stellen den Verfasser und Landschaften,
Tiere und Jagderlebnisse dar. Von jenen seien das
Vellowstonetal und die drei Tetons genannt. In
Charakterköpfen werden Bergschafbock, weiße Ziege,
Wapiti, Elchschaufler und Kuguar A-orgefi-ihrt, Hirsche
im Gelände. Ethologische Darstellungen sind ein auf-
geschrecktes Hirschrudel, der Kampf einer Gabel-
antilope mit Adlern, kämpfende Wapitis, em Grisly,
der einen Stier reißt, jägerische Schüsse auf Hirsche
(z. B. von der Veranda der Farm aus) und Ziegen,
ein getroftenes Rentier , das „Spalten" einer Büffel -
herde, ein verendender Grisly, Abwehr eines solchen
durch einen Cowboy, von Hunden gestellte Pekaris,
Abwürgen eines Wolfes durch Wolfshunde, eine Hetz-
jagd auf eine Gabelantilope. Auch der Kampf gegen
den Präriebrand und ein Lager im Walde werden
dargestellt. Die Kopf- und Schlußvignetten bringen
Tierköpfe und Jagdgerätschaften.
Die fTbersetzung besorgte Ma.x Kulinick, der
als Einleitung einen Lebensabriß des Verf bringt,
der gewiß vielen Lesern erwünscht sein wird. Er
versah außerdein das Buch mit zahlreichen, für den
deutschen Leser sowie den zoologischen Laien be-
stimmten Anmerkungen, die geschichtliche und geo-
graphische .'\uf klärungen , Erläuterungen von Maßen,
Vülksnamen und namentlich auch von den im Te.xt
beibehaltenen amerikanischen Tiernamen (Moose,
Karibu, Wapiti, Pekari usw.) sowie Erklärungen jäge-
rischer Ausdrücke geben. C. Matzdorfl".
C. Drescher, Kosmische Seh nee wölken.
Breslau VIII, Marthastr. 20, Selbstverlag. 1904.
31 Seiten. — Preis 0,50 Mk.
Nach Ansicht des Verf entstehen die Wolken
aus kosmischen Eiskristallen , die sich allmählich in
immer tiefere Schichten der irdischen Atmosphäre
senken. Diese Hypothese ist abgesehen von zahl-
reichen anderen Einwänden schon um deswillen wissen-
schaftlich nicht diskutierbar, weil sie die Grundgesetze
der Thermodynamik außer acht läßt ; auch ist die
Wolkenbildung in aufsteigenden Luftströmen eine zu
sicher erwiesene Tatsache, als daß man der Ansicht
Gehör schenken könnte, daß es sich gerade umge-
kehrt verhalten solle. Übrigens ist die Idee, daß
außergewöhnliche Witterungserscheinungen durch Be-
gegnung der Erde mit kosmischen Eismassen bedingt
sein könnten, schon vor einigen Jahren von M. Wilh.
Meyer ausgesprochen worden, ohne daß sie damals
Anklang gefunden hätte. F. Kbr.
R. Afsmann und H Hergesell, Beiträge zur
Physik der Atmosphäre. Zeitschrift für die
wissenschaftliche Erforschung der höheren Luft-
schichten. I. Bd., I. Heft. Leipzig 1904. K. J.
Trübner. Preis dieses Heftes 4 Mk., eines Bandes
von etwa 30 Bogen im Abonnement 15 Mk.
Die neue Zeitschrift soll .in zwanglosen Heften im
Zusammenhang mit den Veröffentlichungen der inter-
nationalen Kommission für wissenschaftliche Luftschiff-
fahrt und als Ergänzung derselben die Ergebnisse von
Untersuchungen der höheren Luftschichten durch
Ballon- und Drachenaufstiege in zusammenfassenden
Arbeiten zur Darstellung bringen. Das vorliegende
erste Heft enthält zunächst einen Bericht von Prof.
Hergesell über Drachenaufstiege auf dem Bodensee,
die derselbe unter Beistand des Grafen Zeppelin und
mit Unterstiitzung von selten des Reiches und der
württembergischen Regierung im vorigen Jahre aus-
geführt hat, um die Möglichkeit des Aufstieges von
Drachen selbst bei Windstille von einem in schneller
Bewegung begriffenen Dampfschiffe aus darzutun. Prof
Hergesell plädiert mit großem Eifer für die Aus-
gestaltung eines verzweigten Beobachtungsnetzes für
die höheren Luftschichten, „wenn anders die Meteoro-
logie aus dem Stadium der augenblicklichen Stagna-
tion und des Stillstandes herauskommen soll". „Auf
dem Lande, in der Nähe der Küsten sollen feste
Stationen, auf den Seen, auf den Meeren, bewegliche
Dampfer fahrbare Observatorien bilden, welche jeden
Tag ihre Luftsonden in die Höhe senden und ihre
Beobachtungen, sei es durch den Draht, sei es durch
die elektrischen Wellen an die Zentralen senden, da-
mit diese auch die Zustände der freien Atmosphäre
in unsere Wetterkarten aufnehmen können." Berg-
stationen können, so nutzbringend sie auch sonst sein
mögen, doch nie über den Zustand der freien Atmo-
sphäre richtigen Aufschluß geben und vor allem können
sie nicht die für die Erkenntnis einer Wetterlage
äußerst wichtigen sog. Störungsschichten erkennen,
welche die Drachenaufstiege direkt liefern. Da nun
eine Drachenstation nur arbeiten kann, wenn Winde
von mindestens 7 — 8 m/Sek. auf die Drachen ein-
wirken, so gibt eben die Bewegung der Drachenwinde
durch einen Dampfer das beste Mittel an die Hand,
um täglich Diachenaufstiege zustande zu bringen.
Gerade die große Wasserfläche des Bodensees fordert
bei der Bedeutung ihrer geographischen Lage zur
Errichtung einer wohlausgestatteten, permanenten,
schwimmenden Beobachtungsstation heraus. —
Das Heft bringt ferner einen Bericht Prof Aßmanns
über „ein Jahr simultaner Drachenaufstiege in Berlin
und Hamburg", der gleichfalls große Fortschritte der
Meteorologie durch gleichzeitige Beobachtungen der
höheren Luftschichten an verschiedenen Orten er-
hörten läßt. —
Die Bestimmung der Bahn eines Registrierballons
durch Visierungen vom Erdboden aus (von de Quer-
vain) bildet den Schluß des Heftes. Kbr.
Literatur.
Rörig, .A.dl. : Das Wachstum des Schädels v. Capreolus vul-
garis, Cervus elaphus u. Dama vulgaris. Mit 4 Tat. u. 3
992
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 62
Tcxtfig. (Vni, 32Ü S. m. 4 Bl. Krklärgn.) Stuttgart '04,
E. Nägele. — 40 Mk.
Rosenthaler, Priv. -Doz. I. Assist. Dr. L. : Grundzüge der
chemischen Pflanzenuntersuchung. (III, 124 S.) 8". Berlin
'04, J. Springer. — Geb. in Leinw. 2,40 Mk.
Schumann, K.: Zingiberaceae mit 355 Einzelbildern in 52
Fig. ('4^8 S.) Leipzig '04, W. Engelmann. — 23 Mk.
Weismann, Aug. : Vorträge üb. Deszendenztheorie. 2. verb.
Aufl. 2 Tle. in I Bd. (XII, 340 u. VI, 344 S. m. 131 Fig.,
3 färb. Taf. u. 3 Bl. Erklärgn.) Lex. 8". Jena '04, G.
Fischer. — 10 Mk. ; geb. 12 Mk.
Briefkasten.
Gibt es eine naturwissenschaftliche Landes-
kunde von Schleswig-Holstein oder ähnliche Werke,
die für einen Studierenden der Naturwissenschaften, der mit
den dortigen Verhältnissen noch ganz unbekannt ist, von Wert
sind? W. K. in Sonderburg (Alsen).
Oft und zum Teil recht gut sind unter den zur Landes-
kunde von Schleswig-Holstein gehörigen Fragen Vorgeschichte
und Geschichte, Ethnographie und Siedelungskunde, auch Bau-
und Kunstdenkmäler behandelt. .\n wirklich empfehlens-
werten neueren Werken landeskundlichen Inhaltes auf natur-
wissenschaftlicher Grundlage fehlt es dagegen. Haas, Geo-
logische Bodenbeschaffenheit Schleswig-Holsteins (Kiel 1881)
ist zu ergänzen durch Gottsche, Die Endmoränen und das
marine Diluvium Schleswig-Holsteins (Mitteil, der geogr. Ge-
sellsch. in Hamburg, Band XIV) und Haage, Die deutsche
Nordseeküste (Mittcil. d. Vereins f Erdkd. Leipzig 1899).
Hinzu kommen aus allgemeineren Werken über Deutschland
oder Norddeutschland die Stellen, die sich mit Schleswig-
Holstein beschäftigen, insbesondere also Drude, Deutsch-
lands Pflanzengeographie (Stuttgart 1896) und Wa h nsc h a f f e,
Ursachen der Oberflächengestaltung des Norddeutschen Flach-
landes (Stuttgart 1901 , 2. .\ufl.). Über das Klima gibt zu-
sammenfassend .\uskunft Hellmann, Regenkarle der Provinz
Schleswig- Holstein und Hannover (Berlin 1902, 44 S. und
I Karte). Ältere, zum Teil noch brauchbare Landeskunden
sind: Greve, Geographie und Geschichte der Herzogtümer
Schleswig und Holstein (Kiel 18441, J. G. Kohl, Die Mar-
schen und Inseln der Herzogtümer Schleswig und Holstein
(Dresden und Leipzig 1846, 3 Bde.), v. Osten, Schleswig-
Holstein in geographischen und geschichtlichen Bildern (Flens-
burg 1893, 4. Aufl.). Dr. F. Lampe.
Herrn J. St. in Wilmersdorf. — Das beste populäre
Werk über das Gesamtgebiet der Elektrizität ist: Graetz, d.
El. u. ihre Anwendungen. 10. Aufl. 190J. 7 Mk. Kommt
es Ihnen mehr nur auf die neueren Anschauungen vom Wesen
der Elektrizität an, dann genügt Ihnen vielleicht auch das
weniger umfangreiche Buch von Richarz, Neuere Fortschr.
auf d. Geb. d. El. 2. Aufl. 1902. Teubner. Preis ca. 4 Mk. ;
oder sogar Mie , Ionen und Elektronen. Stuttgart, Enke, 1903.
Preis 1,20 Mk. .Mle drei Bücher sind im 2. und 3. Jahrgang
dieser Zeitschrift besprochen.
Herrn Dr. G. H. in Zürich. — Wir werden Ihrer An-
regung folgen und ein Referat über die einschlägigen Metho-
den zu erlangen suchen,
Herrn H. A. K. in Berlin. — Ephemeriden des Enke-
schen Kometen veröffentlichen wir nicht, da Beobachtungen
desselben zur Zeit doch nur an gut ausgerüsteten Sternwarten
möglich sind. Im übrigen können Sie im Zeitschriften-Lese-
saal der Kgl. Bibliothek die ,, Astronomischen Nachrichten"
einsehen, die ausführliche Ephemeriden enthalten.
In dem Sc h effel 'seh en Gedichte ,,Das Mega-
therium" mit dem Anfang: ,,Was hangt denn dort be-
wegungslos, zum Knaul zusammgeballt" heißt es in der
2. Strophe: ,,[Es] krallt die scharfen Krallen ein Am Emba-
huba-Baum". Ist der Name dieses vorsintflutlichen Baumes
von Scheffel frei erfunden und scherzhaft zu nehmen, oder
wird ein solcher Baum wirklich von den Paläobotanikern so
genannt? Oberlehrer A. Seh. in Duisburg.
Embahuba, oder wie nach Ernst Ule richtiger zuschrei-
ben wäre Imba-uba ist in Brasilien der der Guarani-Sprache
entlehnte einheimische Name der wegen ihrer Beziehungen zu
Ameisen neuerdings so viel besprochenen Artocarpeen-Gattung
Cecropia. Schon die bekannten Reisenden Markgraf und
Piso erwähnen ihn im 17. Jahrhundert in der Form Ambayba.
Nach Mitteilungen von Ule , der als ältester Sohn des Mit-
begründers der ,, Natur", Dr. Otto Ule, des Interesses der
Leser dieser Zeitschrift sicher sein kann, und der nach lang-
jährigem Aufenthalt und weiten Reisen in Brasilien zu den
besten Kennern dieses Landes zählt, halten sich die noch
lebenden Faultiere mit Vorliebe auf diesem Baume auf. Es
ist daher eine wohl gestattete poetische Lizenz, wenn Scheffel
ihrem Ahnherrn , dem Megatherium, die gleiche Vorliebe zu-
schreibt. P. Ascherson.
Wie unterscheidet man verschiedeneGetreide-
arten zu der Zeit, wo sie noch keine Ähren haben?
W. P. zu Juriew (Dorpat).
Für die Unterscheidung der Getreidearten, Weizen, Gerste,
Roggen und Hafer, kommen gewisse Eigentümlichkeiten der
Blätter und ihrer Teile , des Blatthäutchens, der Zähne des-
selben und der Blattröhrchen in Betracht. Man ordnet die
Merkmale am besten tabellarisch , da sie so am übersiclit-
lichsten werden.
1
Arten der Merkmale
Weizen
Gerste
Roggen
Hafer
Drehung der Blattspreite
rechts gedreht
rechts gedreht
rechts gedreht
links gedreht
Blatthäutchen
länglich rundlich
länglich spitz
kurz, halbrund
kurz eiförmig
dessen Zahne
die 2 Blattröhrchen
pfriemlich, haarförmig
deutlich, bei manchen
Arten groß, bei manchen
klein
breit dreieckig
sehr groß, halbmond-
förmig, größer als bei
den 3 anderen Getreide-
arten
kurz dreieckig
klein, abgerundet
pfriemlich, haarförmig
fehlen
L. Wittmack.
Inhalt; Ernst Stahl: Matthias Jakob Schieiden. — E. R a p p 1 e : Die erste Durchquerung Australiens. — Kleinere
Mitteilungen: G. Guldberg: Wanderungen der Bartenwale. — W. M. Wheeler; Von einer von .Asseln sich näh-
renden .Ameise. — Dr. Seckt: Quecksilber und grüne Pflanzen. — Hans Molisch: Über eine auffallend rasche
autonome Blattbewegung bei Oxalis hedysaroides H. B. K. — Nordenskjöld: Die Mastodonten Südamerikas. —
Bücherbesprechungen: Theodore Roosevelt: Jagden in amerikanischer Wildnis. — C. Drescher: Kosmische
Schneewülken. — R. Aßmann und H. Hergesell: Beiträge zur Physik der .Atmosphäre. — Literatur: Liste. —
Briefkasten.
Verantwortficher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Licfitcrfelde-West b. Berfin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche BiicfiHr.), Namnbure a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift ,,Dl6 NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion: Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Neae Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. 6?nd.
Sonntao:, den 11. Dezember 1904.
Nr. 63.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlungen
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. e.vtra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstraße 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagshandlung erbeten.
Unsere gegenwärtigen Kenntnisse über Radioaktivität.
[Nachdruck verboten.]
Die eigenartigen Erscheinungen der Radio-
aktivität waren schon Gegenstand zweier Abhand-
lungen^) dieser Zeitschrift, von denen die letztere
einen kurzen Überblick über die Kenntnisse bis
zur Mitte des letzten Jahres gegeben hat. Seitdem
sind sich eine ganze Reihe von Untersuchungen
auf diesem Gebiet kontinuierlich gefolgt, die zum
Teil wesentlich zur Lösung bestehender Rätsel
beigetragen, zum Teil auch neue Rätsel gebracht
haben. Wenn sonach unsere Einsicht in die teil-
weise recht verschiedenartigen Phänomene der
Radioaktivität einerseits wesentlich vertieft wurde,
sind wir doch noch weit davon entfernt , ab-
schließend darüber urteilen zu können, und es
wird noch mancher ernsten Arbeit bedürfen, bis
sich die große Zahl der Einzelerscheinungen wider-
spruchslos einreiht sowohl in ein einheitliches
Ganzes unter sich als in den durch fundamentale
Untersuchungen gefestigten Konnex unserer übrigen
naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Von besonders
Sammelrel>rat von Dr. A. Becker in Kiel.
') A. Schmidt, Die Becquerelstrahlen. Diese Ztschr. N. F. 1.
S. 157. 1902. Duden, Über die Fortschritte in der Erkenntnis
der radioaktiven Stoffe. Diese Ztschr. N. 1'". 111. S. 17. 1903.
großer Wichtigkeit für die Fortschritte im letzten
Jahre sind die fortgesetzten Untersuchungen der
von den radioaktiven Körpern ausgesandten Emana-
tion geworden, deren nähere Kenntnis nicht nur
neue Vermutungen mit Bezug auf die Konstanz
der chemischen Atome weckte, sondern auch grund-
legend wurde für die besonders in der letzten
Zeit so erfolgreich gepflegten luftelektrischen For-
schungen. Die gegenwärtige Besprechung hat sich
die Darstellung des augenblicklichen Standes unserer
Kenntnisse der radioaktiven Stoffe zur Auf-
gabe gemacht, während sich ein folgender, be-
sonderer Bericht mit dem weiten Gebiet der
atmosphärischen und tellurischen Radio-
aktivität beschäftigen soll. Des Zusammen-
hangs und der teilweisen Ergänzung halber werden
manche Einzelheiten der vorgenannten Berichte
kurz berührt werden müssen.
Radioaktive Substanzen.
Als radioaktiv werden bekanntlich diejenigen
Substanzen bezeichnet, welche die Fähigkeit haben,
spontan und dauernd gewisse als Becquerelstrahlen
benannte Strahlen auszusenden, die dadurch charak-
994
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 63
terisiert sind, daß sie Gase, welche sie durch-
setzen, zu Leitern der Elektrizität machen, daß
sie scliwarzes Papier, Metalle und alle anderen be-
kannten Gegenstände in nicht zu großen Dicken
durchdringen , daß sie auf die photographische
Platte wirken, aber mit den gewöhnlichen Licht-
strahlen durchaus nichts gemein haben und weder
in der für Licht bekannten Weise reflektiert, noch
gebrochen, noch polarisiert werden.
Im Jahre 1896 hat H. Becquerel, als er mit
dem Studium phosphoreszierender Körper beschäf-
tigt war, die Entdeckung gemacht, daß die mit
äußerst rasch abklingender Phosphoreszenz be-
hafteten Salze des Urans dauernd diese neuen
Strahlen aussenden und daß diese Wirkung eine
besondere Eigenschaft der Atome des Urans ist,
so daß sie in einem zusammengesetzten Körper
um so stärker auftritt, je mehr Uran in dem-
selben vorhanden ist. G. C. Schmidt und Frau
Curie haben dann fast gleichzeitig gefunden, daß
die Verbindungen des Thors, die sich aus dem-
selben Ausgangsprodukt gewinnen lassen, eben-
falls radioaktiv sind. Aber obwohl seitdem reiche
Erfahrungen über das Uran sowohl als über das
Thor gesammelt wurden, scheint es noch nicht
völlig sicher zu sein, ob die an Thorpräparaten
beobachtete Radioaktivität in der Tat dem Ele-
ment Thor eigentümlich ist, oder ob sie mit der
Anwesenheit von Uran zusammenhängt. Die Ent-
scheidung in dieser Frage begegnet insofern einiger
Schwierigkeit, als sich Uran fast in allen IVline-
ralien vorfindet, welche für die Thorgewinnung
verarbeitet werden. Es ist von Interesse, die be
sonders in Betracht kommenden Substanzen hin-
sichtlich ihres Uran- und Thorgehalts zusammen-
zustellen und die Stärke der Aktivität der aus
ihnen hergestellten Thorerde zu vergleichen, wie
es von K. A. Hofmann und F. Zerban geschehen ist.
Gelialt an
Gehalt an
Aktivität der Thor-
Mineral
UaOg
ThO.,
erde sofort nach
Fällung
Bröggerit
ca. 78 »/o
ca. is7o
sehr stark
Cleveit
ca. 70«/„
ca. 7 7o
,, ,,
Euxenit
5-12%
sehr wenig
stark
Samarskit
4-i7 7o
ca. 4 7o
,
Fergusonit
-.5-7%
1-3%
schwach
Xenotim
0,5-3,5 7o
0,5-3,5 7o
,,
Thorit
ca. iqO/o
ca. 50%
,,
ürangit
ca. 1%
ca. 72«/„
ganz schwach
Aeschynit
°,3 7o
ca. l6«/o
,,
Monazitsand
ca. 0,1%
1-2,5 7o
„
Es zeigt sich sehr auffallend, daß die Aktivität
der frisch bereiteten Thorerde um so stärker ist,
je größer der Prozentgehalt an Uran im Ausgangs-
material, unabhängig vom Prozentgehalt der in
demselben vorhandenen Thorerde. Weiterhin ist
von Wichtigkeit, daß die Wirksamkeit aller dieser
Thorpräparate nach i — 2 Jahren merklich zurück-
geht und daß ganz reines Thor und seine Ver-
bindungen, die von den oben genannten For-
schern aus vollkommen uranfreien Mineralien, z. B.
Orthit aus Norwegen, gewonnen wurden, sich von
vornherein völlig inaktiv erwiesen. Es ist auch
seither an anderen Substanzen der Nachweis ge-
lungen, daß durch verschiedene Prozesse die Ak-
tivität des Urans mittels chemischer Niederschläge
abgetrennt und auf die im gewöhnlichen Zustand
als vollkommen inaktiv bekannten Substanzen über-
tragen werden kann. Fügt man beispielsweise
Baryumchlorid zu einer Lösung von Urannitrat
und fällt das Baryum als Sulfat aus durch Zu-
fügen von etwas Schwefelsäure, so erweist sich
das abgetrennte und getrocknete Baryumsulfat radio-
aktiv, während sich das Uransalz, welches durch
Eindampfen der rückständigen Lösung wieder-
gewonnen wird, weniger aktiv zeigt als vor dieser
Operation. Allerdings ist nun zu bemerken, daß
das Baryumsalz nach Verlauf einiger Monate seine
Radioaktivität verliert, während die Aktivität des
Uransalzes ihre ursprüngliche Höhe wieder erreicht.
Man kann annehmen, daß das Baryumsalz sich bei
der Berührung mit dem Uran aktiviert hatte, oder
auch daß es einen Teil der Aktivität desselben
in einer besonderen Form mit fortgenommen hat.
Würde die .Aktivität der aus den oben genannten
Mineralien hergestellten Thorerde ihren Ursprung
in derselben Weise einer sog. Induktion durch
Uran verdanken, so bliebe nur die Tatsache des
überaus langsamen Abklingens derselben noch un-
verständlich. Charakteristisch für beide Elemente
ist nun deren hohes Atomgewicht, welches für
Uran 236,7 und für Thor 230,8 beträgt nach den
neuesten Feststellungen der internationalen Atom-
gewichtskommission. Es wird sich im folgenden
zeigen, daß auch die anderen n-it Radioaktivität
behafteten Elemente sehr hohe Atomgewichte haben,
so daß die Anschauung einigermaßen Berechtigung
findet, daß die Erscheinungen der primären Radio-
aktivität an die sciiwersten bekannten Elemente
geknüpft sind. Unter diesem Gesichtspunkt ver-
mögen unsere heutigen Kenntnisse keinen Ein-
spruch dagegen zu erheben, daß wir dem Thor
eine Eigenschaft zugestehen, die wir ebensowenig
speziell für Uran erklären können.
Mit größerer Sicherheit als dem sehr schwach
wirkenden Thor ist dem von Debierne in den
seltenen Erden der Uranmineralien gefundenen
Aktinium primäre Radioaktivität zuzuschreiben.
K. A. Hofmann und F. Zerban haben Aktinium-
präparate aus den aus der Technik zu beziehenden
Sodafällungen der Urannitratmutterlaugen gewonnen
und finden große chemische Ähnlichkeit mit den
entsprechenden Thorverbindungen, so daß sie
glauben, daß das kräftig wirkende, thorähnliche
Aktinium, das zwar nur in äußerst geringen
Mengen vorkommt, der primär aktive Bestandteil
in der Thorerde aus Pechblende sei.
Seit dem Jahre 1898 hat Frau Curie syste-
matisch untersucht, ob es unter den damals be-
kannten Elementen außer Uran und Thor noch
andere gäbe, die mit radioaktiven Eigenschaften
begabt wären, und hat gefunden, daß einige uran-
haltige Mineralien, besonders die Pechblende, aktiver
N'. F. ni. Nr. 6t,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
995
sind als die beiden eben genannten Elemente, daß
also die Aktivität dieser Mineralien weder dem
Uran noch anderen bekannten Elementen zuge-
schrieben werden könne. Diese Entdeckung ist
fruchtbar geworden an neuartigen Ergebnissen und
hat zur Auffindung des Radiums geführt, über
dessen elementare Natur nach den umfassenden
chemischen und insbesondere spektroskopischen
Untersuchungen kein Zweifel mehr besteht. Den
physikalischen Arbeiten dienen in den meisten
Fällen winzige Mengen von Präparaten in Form
des Chlorids oder Bromids, die teils nahezu rein,
teils mit dem entsprechenden Baryumsalz ver-
mischt sind und eine Strahlung abzugeben ver-
mögen, welche etwa millionenmal größer ist als
diejenige des Urans und des Thors. Hergestellt
werden diese Präparate aus einem Rückstand bei
der Fabrikation des Urans aus der Pechblende.
Dieser Rückstand enthält auf lOOO kg nur etwa
0,2 bis 0,3 g Radium. Man zieht zunächst aus
einer Tonne des Rückstandes 10 bis 15 kg radium-
haltiges Baryumsalz aus, aus welchem dann durch
fraktionierte Kristallisation das Radiumsalz erhält-
lich ist, da die aus einer Lösung sich abscheiden-
den Kristalle radiumreicher sind als das in Lösung
bleibende Salz.
Neuerdings ist es A. Coehn gelungen , das
Radium auch metallisch abzuscheiden, indem er
eine wässrige oder besser methylalkoholische Lösung
von Radium-Baryumbromid unter Benutzung einer
Kathode aus Quecksilber oder amalgamiertem
Zink elektrolytisch analysierte. Das Quecksilber
nahm dabei das metallische Baryum und Radium
auf, ohne indes an der Oberfläche eine merkliche
Veränderung zu erleiden. Wurde es aber nach
Unterbrechung der Elektrolyse sorgfältig ausge-
waschen und getrocknet, so erwies es sich stark
radioaktiv, und zwar verminderte sich die Stärke
der Aktivität nicht mit der Zeit, wie es im P"alle
einer Induktion zu erwarten gewesen wäre, sondern
stieg innerhalb mehrerer Tage noch weiter an.
Beim Behandeln des Quecksilbers mit verdünntem
Brom wasserstoff wurde eine geringe Menge dauernd
aktiven Radiumbromids erhalten, ein Beweis dafür,
daß tatsächlich ein Radium-Baryum-Amalgam sich
gebildet hatte. In gesättigten Lösungen würde
diese Radiumabscheidung um mehr als ^/^ Volt
leichter erfolgen als für Baryum; jedoch ist eine
Trennung beider auf diesem Wege wegen der ge-
ringen Konzentration des Radiumsalzes bis jetzt
noch nicht gelungen.
Wird die Radioaktivität eines Radiumsalzes
gemessen zu verschiedenen Zeiten von dem Augen-
blick an, wo das kristallisierte Salz den Trocken-
apparat verläßt, so wird festgestellt, daß die Ak-
tivität genau wie oben im F"alle des Amalgams
von einem bestimmten Anfangswert mit der Zeit
wächst, erst schnell, dann nach und nach lang-
samer, um sich endlich einem Grenzwert zu nähern,
der etwa das Fünffache der ursprünglichen Ak-
tivität beträgt. Diese Stärke bleibt dann jahre-
lang unverändert, falls das Salz in unverändertem
Zustand belassen wird. Eine Erklärung für das
anfängliche Wachsen der Aktivität wird sich später
ergeben.
Im Gegensatz hierzu ist das Polonium oder
Radiotellur, das in der das Wismut enthalten-
den Fraktion der Pechblende sich durch erhöhte
Aktivität bemerkbar machte, ein Körper, welcher
seine Radioaktivität nach und nach verliert, so daß
er nach einigen Jahren völlig unwirksam geworden
ist. Das Polonium verhält sich also wie ein un-
beständiger Körper. Nach Marckwald wird es als
ein schwarzer Niederschlag erhalten, der aus einer
salzsauren Lösung des radioaktiven Wismutchlorids
durch Eintauchen von Wismut oder Antimon oder
durch Zusatz von Zinnchlorür ausfällt. Aus 6 kg
Wismutchlorid , die 2000 kg Pechblende ent-
stammten, wurde so 1,5 g Radiotellur gewonnen;
dies besteht der Hauptsache nach aus gewöhn-
lichem Tellur. Aus der hiervon befreiten Lösung
fällt Zinnchlorür schließlich einen geringfügigen
dunklen Niederschlag von 4 mg, welcher die radio-
aktive Substanz fast völlig enthält. Wird dieser
Rest in ein Chlorid verwandelt, so kann der aktive
Stoff in feinster Verteilung auf eingetauchtes metal-
lisches Wismut niedergeschlagen werden, wodurch
dasselbe stark aktiv und zur Verwendung zu ex-
perimentellen Untersuchungen geeignet wird. Wäh-
rend nun einerseits die spektroskopischen Beob-
achtungen noch nicht ein neues Element in den
Poloniumpräparaten feststellen konnten , zeigte
andererseits Giesel, daß metallisches Wismut, wenn
es in Radiumlösungen eingetaucht wird, alle für
Poloniumlösungen bekannten Eigenschaften an-
nimmt und daß die Aktivierung desselben nur
sehr langsam abklingt. In geringerem Maße werden
auch Platin und Palladium durch Eintauchen aktiv.
Danach ist Polonium wohl nichts anderes als
durch geringe Mengen von Radium induziertes
Wismut.
Um einen primär aktiven Stoff handelt es sich
zweifellos bei dem besonders von K. A. Hofmann
eingehend studierten Radioblei, welches sich
aus verschiedenen Uranmineralen, z. B. Uranpech-
erz aus Joachimsthal, gewinnen und durch Behand-
lung des Chlorids mit salzsaurer alkoholischer-
Schwefelsäure von gewöhnlichem Blei befreien läßt.
Aus den Filtraten wird durch Ammoniak ein braunes
und sehr wirksames Sulfid gefällt; das daraus her-
gestellte reine Chlorid ist ein farbloses, in glänzen-
den doppelbrechenden Prismen kristallisierendes
Salz, das stark aktiv ist und diese Eigenschaft im
Gegensatz zum Polonium dauernd behält. Von
Bedeutung ist hierbei die von Korn und Strauß
beobachtete Tatsache, daß ziemlich schwache
Radiobleipräparate besonders in ihrer photographi-
schen Wirkung durch längere Bestrahlung mit
Kathodenstrahlen wesentlich verstärkt werden und
daß ein Abklingen der so bewirkten Verstärkung
auch nach Monaten nicht wahrnehmbar ist. Ein
solcher Einfluß hat sich bis jetzt bei keiner radio-
aktiven oder inaktiven Substanz in gleicher Weise
bemerkbar gemacht. Hervorzuheben ist, daß mit
996
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 63
der Verstärkung der photographischen Wirkung
nicht eine Verstärkung der elektrizitätzerstreuenden
Wirkung Hand in Hand geht. Es ist aber nicht
einzusehen, warum deshalb die obigen Beobachter
zur Erklärung dieser Tatsachen Annahmen zu
Hilfe nehmen, die von den sonst allgemein üb-
lichen und durch die Erfahrung an den übrigen
radioaktiven Stoffen bewährten Annahmen weit
abweichen, ohne dazu die Erscheinung besser zu
interpretieren.
Fassen wir die vorliegenden Resultate kurz zu-
sammen , so fällt die schon früher angedeutete
Tatsache auf, daß von den bekannten Elementen
gerade diejenigen mit den größten Atomgewichten
entweder als primär radioaktiv sicher erkannt oder
wenigstens leicht einer lange nachwirkenden In-
duktion fähig sind.
Uran
Thor
Radium
Wismut
Blei
Radioblei
236,7
230,8
223,3
206,9
205,3s
260 (?)
Internat. Atomgew.-
Kommission
Hofmann u. Strauß.
Man kann fragen, ob die Radioaktivität sich
an gewisse, gerade von diesen schwersten Ele-
menten vielleicht erfüllten Bedingungen knüpft,
oder ob sie eine allgemeine Eigenschaft der Materie
ist. Diese Frage kann zurzeit noch nicht als ge-
löst betrachtet werden. Nach Untersuchungen von
Frau Curie steht zunächst fest, daß die verschie-
denen bekannten Substanzen keine atomistische
Radioaktivität besitzen , welche auch nur den
hundertsten Teil derjenigen des Urans oder des
Thors erreichte. Modifiziert wird diese Erkenntnis
durch eine Anzahl ganz neuer Arbeiten, in denen
eine gewisse kleine Leitfähigkeit von Gasen in
Metallbehältern nachgewiesen wird , welche von
der Natur des Metalls abhängig ist, und wodurch
die Annahme nahegelegt wird , daß die Radio-
aktivität, wenn auch in äußerst schwachem Grade,
allen Substanzen zukomme. Es wird aber be-
sonders in Anbetracht der minimalen Wirkungen, die
hier neben oftmals großen und unbeachteten Fehlern
konstatiertwerdensollen, noch mancherlei Schwierig-
keit bereiten, ehe die Identität dieser Erschei-
nungen mit den Erscheinungen der atomistischen
Radioaktivität einwandfrei festgestellt ist. Auf der
anderen Seite können gewisse chemische Reaktionen
Veranlassung geben zur Entstehung von Ionen,
welche die Leitfähigkeit eines Gases bedingen,
ohne daß die wirkende Substanz sonstwie den
Charakter atomistischer Radioaktivität zeigte. So
macht z. B. weißer Phosphor bei der Oxydation
die umgebende Luft elektrisch leitend, während
roter Phosphor und die Phosphate sich in keiner
Weise radioaktiv zeigen.
Wenn so die Erscheinungen der Radioaktivität
uns zunächst anmuten wie eine große Zahl un-
gelöster Rätsel, die geeignet scheinen, alle unsere
hergebrachten und vollkommen sicher angenom-
menen Anschauungen von der Materie und den
Kräften zu modifizieren, vielleicht sogar zum Teil
umzustoßen , so gestatten doch die zahlreichen
Untersuchungen der verschiedenen Wirkungsweisen
der genannten Stoffe ein stetiges, wenn auch lang-
sames Vordringen auf diesem neuen Gebiet, das
nur deshalb auf den ersten Blick so fremdartig
zu sein scheint, weil sich hier zum erstenmal
die kleinsten Teilchen eines Körpers als Träger
von Kräften oder Energien von gewaltiger Größe
zeigen,' die ihnen die Naturwissenschaft zwar schon
längst zugeschrieben hatte, die sich aber noch nie
in dieser individuellen Art geäußert haben. So
erwähnt Helmholtz beispielsweise, daß die posi-
tiven und negativen Elektrizitätsmengen, die in
I mg Wasser sich finden, auf lOOO m Entfernung
sich noch mit einer Kraft gleich dem Gewicht
von 100 000 kg anziehen. Wenn wir dieses Bei-
spiel weiter verfolgen und die Energiemenge be-
rechnen , die frei wird , wenn sich die beiden
Elektrizitätsmengen aus einer Entfernung von einem
Millimeter auf einen halben Millimeter nähern, so
findet sich lo'^* Kilogrammeter. Damit würde ein
Energievorrat hervorgebracht, der mehr als 2 X 10'^
Jahre ausreichen würde, falls das Milligramm diese
Energie ebenso schnell auszugeben gedächte wie
I mg Radium.
Strahlung der radioaktiven Körper.
Das Radium ist derjenige radioaktive Körper,
dessen Strahlung am vollständigsten erforscht
worden ist. Zum Nachweis derselben eignen sich
eine große Zahl von Substanzen, wie alkalische
und erdalkalische Salze, Uran- und Kalisulfat,
Baryumplatincyanür, Sidot'sche Zinkblende usw.,
die durch die auffallenden Strahlen zur Phosphores-
zenz erregt werden. Vorteilhafter für viele Unter-
suchungen ist die photographische Platte, deren
Schwärzungen nicht nur ein Maß für die Menge
und die Intensität der Strahlen, sondern auch für
ihre Richtung abgeben. Durchsetzen die Radium-
strahlen irgend ein Gas, so wird dasselbe elek-
trizitätsleitend, so daß ein elektrisch geladener
Körper sich entlädt mit einer Geschwindigkeit, die
von der Intensität der Radiumstrahlung abhängt.
Es ist dies das empfindlichste Mittel zum Nach-
weis von äußerst schwachen Strahlen, die auch
bei wochenlanger Expositionsdauer nicht imstande
wären, die photographische Platte zu schwärzen.
Man erklärt sich die Wirkungsweise des Leitend-
machens von Gasen dadurch, daß man annimmt,
daß die Strahlen die Gasteilchen bei ihrem Hin-
durchfahren in kleinere Partikeln spalten, von
denen die einen positiv, die anderen negativ ge-
laden sind, und unter der Wirkung eines elek-
trischen Kraftfeldes wandern die positiven lang-
sam gegen die negative Elektrode, die negativen
schneller gegen die positive Elektrode hin, um
sich dort zu entladen. Ist beispielsweise ein Elektro-
skop mit positiver Ladung in der Luft aufgestellt,
und wir bringen irgend einen der radioaktiven
Körper in die Nähe, so werden die sich bildenden
negativ geladenen Partikeln — die oft mit Rück-
N. F. m. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
997
sieht auf einen älinlichen Vorgang in der Elektro-
lyse „Ionen" genannt werden, obwohl der unbe-
stimmter gehaltene Ausdruck „Träger" vorzuziehen
wäre — auf das Elektroskop hinwandern und es
um so rascher entladen, je zahlreicher sie sind.
Seitdem man nicht nur beim Studium der Radio-
aktivität, sondern auch in vielen anderen Fällen
Gelegenheit fand, diese Träger wirklich getrennt
nachzuweisen, ist an der Richtigkeit dieser An-
nahme nicht mehr zu zweifeln.
Bei der näheren Untersuchung der von den
Radiumpräparaten ausgehenden Strahlen hat sich
sehr bald gezeigt, daß man es mit Strahlen ver-
schiedener Natur zu tun hat, die sich in drei
wesentlich voneinander verschiedene Gruppen zu-
sammenfassen lassen ; nach dem Vorgang von
Rutherford werden dieselben jetzt allgemein als
a-, ß- und y-Strahlen bezeichnet. Die Wirkung
des Magnetfeldes gestattet, eine erste Unterschei-
dung derselben festzustellen. Läßt man die Strahlen
— am besten im Vakuum — durch eine feine
Öffnung auf eine in einigen Zentimetern aufge-
stellte photograpliische Platte fallen, so erscheint
auf ihr nach dem Entwickeln ein schwarzer Fleck
als Bild der Öffnung, wie er auch mit Lichtstrahlen
erhalten worden wäre. Wird nun aber zwischen
die Öffnung und die Platte ein starker Hufeisen-
magnet gebracht, so daß sich die Strahlen nun in
einem Magnetfeld bewegen müssen, so werden die
a-Strahlen ein wenig von ihrer geradlinigen Bahn
abgelenkt, und zwar geschieht die Ablenkung im
selben Sinne, wie es namentlich Wien für die von
Goldstein entdeckten Kanalstrahlen in Vakuum-
röhren nachgewiesen hat. Im Gegensatz hierzu
werden die ^-Strahlen nach der entgegengesetzten
Richtung abgelenkt; sie verhalten sich genau so,
wie es für Kathodenstrahlen lange bekannt ist.
Die j'-Strahlen dagegen zeigen überhaupt keine
Ablenkung und verhalten sich in dieser Beziehung
wie Röntgenstrahlen.
Wenn so die einzelnen Strahlenarten getrennt
der Untersuchung zugänglich gemacht waren,
mußte die erste Aufgabe diejenige sein, fest-
zustellen, ob in der Tat sich die Parallele mit
schon bekannten Strahlen anderer Herkunft weiter
ziehen lasse, ob also in radioaktiven Körpern eine
Quelle für die Gesamtheit aller in den letzten
Jahren teils mühsam aufgefundenen und eingehend
studierten Strahlenarten vorliege. Da hat sich
allerdings gezeigt, daß in den «- und /-Strahlen
neuartige Erscheinungen gegeben sind, während
nur die /^-Strahlen als bekannte Kathodenstrahlen
anzusprechen sind.
Die a-Strahlen verhalten sich nach den Ab-
lenkungsversuchen wie Projektile, welche mit großer
Geschwindigkeit begabt und mit positiver Elek-
trizität geladen sind. Bewegen sie sich im Vakuum
zwischen zwei entgegengesetzt auf hohes Potential
geladenen Metallplatten, so werden sie ein wenig
nach der negativen Platte hingezogen. Nach den
Messungen im Vakuum findet sich die Geschwindig-
keit, die für alle Projektile als gleich groß anzu-
nehmen ist, zu v=i,65^- 10" cm; die a-Strahl-
teilchen bewegen sich also etwa 20mal langsamer
als das Licht, für welches v=3X 10'" cm be-
kannt ist. Für die Größe der Teilchen ist die
experimentell zu findende Beziehung — = 6400
maßgebend ; dieselbe sagt aus, daß sich die Größe
der elektrischen Ladung des Teilchens zu seiner
Masse verhält \m\& 6400: i. Nimmt man an, daß
die Ladung e ebenso groß ist wie die eines Wasser-
stoffatoms bei der Elektrolyse, so findet man, daß
seine Masse auch ungefähr ebenso groß ist wie
diejenige eines Wasserstoffatoms, für welches
e
~ ^= 9650 bekannt ist. Der Größenordnung nach
ist die Elektrizitätsmenge, \yelche diese Strahlen,
von I g Radium ausgehend, mit sich führen, einem
elektrischen Strom in der Stärke von 1,5 >< io~9
Amperes vergleichbar; wird dieser Wert iür e in
e
die soeben angegebene Gleichung — = 6400
eingesetzt, so ergibt sich die in einer Sekunde von
I g Ra oder 1,62 g Radiumbromid ausgesandte
Masse der a-Teilchen zu m = 1,6 >; io~t >r 1,5 X
0,1 ;•; iO~9 = o,24X lo-'^ g^ d. h. die Gewichts-
abnahme der eben bezeichneten Radiumsalzmenge
betrüge infolge der «-Strahlung 8,6 X'O"* mg in
der Stunde oder nur 0,00075 "ig im Jahr.
Werden die Ablenkungen der «-Strahlen nicht
im Vakuum, sondern in der Luft untersucht, so
zeigt sich nach den Beobachtungen von Becquerel,
daß die Krümmung anfangs noch dieselbe ist wie
die im Vakuum erhaltene, daß sie aber immer ge-
ringer wird in dem Maße, wie sich der Strahl von
der Strahlungsquelle entfernt. Man kann diese
auch bei Kanalstrahlen zu findende Erscheinung
durch die Annahme erklären, daß sich neue Teil-
chen an den Projektilen festsetzen, während sie ihre
Bahn in der Luft vollenden. Dadurch kann ent-
weder die Masse der Projektile vergrößert oder,
wenn negative Träger sich beispielsweise anhängen,
die Ladung vermindert werden ; beides aber be-
wirkt, daß der Strahl weniger von fremden Kräften
beeinflußt wird.
Die «-Strahlen bilden den wichtigsten Teil der
Strahlung des Radiums, insofern sie der Haupt-
sache nach die Leitfähigkeit in Gasen hervorrufen,
und zwar ist nach Rutherford anzunehmen, daß
jedes Teilchen etwa 100 000 der oben charakte-
risierten Ionen zu erzeugen vermag, ehe es in
dem Gas absorbiert wird. Die Absorption ist für
diese Strahlen allerdings sehr groß , so daß sie
die meisten Körper nur in äußerst dünnen Schichten
zu durchdringen vermögen; ein Aluminiumblätt-
chen von einigen Hundertsteln Millimeter Dicke ab-
sorbiert sie fast vollständig. Sie werden auch in der
Luft stark absorbiert und können diese bei Atmo-
sphärendruck deshalb auf eine Entfernung von
mehr als 10 cm nicht durchdringen. Sind die be-
nutzten Radiumpräparate in Glasröhrchen einge-
schmolzen, so treten aus diesen niemals «-Strahlen
998
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 63
aus, da sie in den Wandungen absorbiert wer-
den.
In den /i-Stralilen des Radiums treten uns
Kathodenstrahlen entgegen, die wir als Teilchen
reiner negativer Elektrizität auffassen, welche mit
sehr großer Geschwindigkeit vom Radium fort-
geschleudert werden. Auch sie werden vom IVIag-
neten abgelenkt, und sie nähern sich in einem
starken elektrischen Feld der positiv geladenen
Platte. Es zeigt sich dabei, daß nicht alle Strahlen
gleichstark abgelenkt werden, sondern daß der
Lichtpunkt, der sich ohne elektrisches oder mag-
netisches Feld auf der photographischen Platte
— ähnlich wie bei den «-Strahlen — abbildet, in
einen breiten Streifen ausgezogen wird beim Er-
regen eines Feldes. Wir finden also, daß sich
unter den /i-Strahlen solche unterscheiden lassen,
die ganz wenig, solche die etwas stärker, und
wieder andere, die schon von ganz schwachen
Feldern sehr stark abgelenkt werden. Maßgebend
für die Größe der Ablenkung ist nun die schon
e
vorhin genannte Beziehung - , welche angibt, wie
groß das Verhältnis der elektrischen Ladung zur
Masse eines Teilchens ist, und die Geschwindig-
keit V der Teilchen. Und zwar werden die
Strahlen um so stärker vom Magnetfeld beein-
flußt, je kleiner ihre Geschwindigkeit ist und je
e
erößer . Nun haben die Beobachtungen er-
^ m ^
geben, daß — für alle Strahlen von nicht zu großer
Geschwindigkeit annähernd dieselbe Größe und
zwar — = 1,8 >. 10' ist. In diesem Falle hängt
m ' "
also die Größe der Ablenkung nur noch von der
Geschwindigkeit derStrahlen ab, sodaß wirallgemein
sagen können, daß ein /iStrahl um so stärker ab-
gelenkt wird, je langsamer er ist. Es zeigt sich
so, daß ein Radiumpräparat p'-Strahlen von allen
möglichen Geschwindigkeiten aussendet, die
zwischen etwa i X 10* crn und nahe der Licht-
geschwindigkeit von 3 X 10^" cm verteilt liegen.
Ein ungefähres Bild von der Menge der diesen
Geschwindigkeiten entsprechenden /!^-Strahlen gibt
die beigefügte Kurve von F. Paschen, welche an-
gibt, wieviel Strahlen bei den jeweils beigeschrie-
benen Feldstärken eines Magneten um eine be-
stimmte Größe abgelenkt werden. Man sieht, daß
in verhältnismäßig sehr großer Intensität gerade
die langsamen Strahlen vorhanden sind, die schon
von P'eldern von wenigen Einheiten starke Be-
einflussung erleiden.
Nun hat Becquerel zuerst gefunden, dal5 die
Strahlen, die am stärksten abgelenkt werden, auch
von der Materie am stärksten absorbiert werden ;
wir können auch so sagen: ein /i-Strahl durch-
dringt materielle Medien um so besser, je schneller
er ist. Während die zu Anfang unserer Kurve
markierten Strahlen kaum i cm in Luft von Atmo-
sphärendruck einzudringen vermögen, durchdringen
die folgenden schon gut i mm dickes Glas oder
dünnes Metall, während noch raschere sogar Zenti-
meter dicke Metalle zu durchstrahlen vermögen.
Die Luft und andere Gase werden auch von
den /i-Strahlen — allerdings weit weniger als von
den ö-Strahlen — leitend gemacht und zwar um
so mehr, je langsamer die /^-Strahlen sind.
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Feldstärken in 10' c. g. q.
Aus dem Verhalten dieser Strahlteilchen haben
wir oben gefolgert, daß sie negativ geladen sein
müßten ; direkt ist das auch zuerst von den Curie's
gezeigt worden, indem sie nachwiesen, daß die
Teilchen, wenn sie von einer Metallplatte absor-
biert werden, an diese negative Elektrizität ab-
geben, und zwar ist die von l g Radium ausge-
strahlte Menge etwa einem beständigen Strom von
1,6;- 10-9 Amp. vergleichbar. Daß diese Teil-
chen reine Elektrizität darstellen und nicht an
wägbare Materie gebunden sind, muß daraus ge-
folgert werden, daß sie durch feste, nicht poröse
Körper und besonders auch durch das Vakuum
zu gehen vermögen. Würden wir aber auch, wie
es für die «-Strahlen geschehen ist, ihre Masse m
als wägbare Substanz deuten , so kann man
wieder aus den angegebenen Daten j =i,5> 10'
und V ^ 2 X 10'^ als ungefähre Mittelwerte ge-
setzt) berechnen, wieviel i g reines Ra durch die
Ausstrahlung von /^-Teilchen an Gewicht verlieren
könnte. Es findet sich, daß dieser Verlust in der
Stunde nur etwa 3,96 X I0~" mg oder im Jahre
0,00000035 '■'■'g betragen könnte. Dabei wäre die
Masse eines einzelnen Teilchens ungefähr 200 mal
kleiner als diejenige eines Wasserstoffatoms.
Die y-Strahlen wurden bis auf unsere Tage
als Röntgenstrahlen angesehen, da sie niemals
eine Ablenkung erkennen ließen und ein äußerst
großes Durchdringungsvermögen zeigten. Nun ist
aber kürzlich von Paschen gezeigt worden, daß
diese Strahlen zwar in den stärksten Magnetfeldern
nur unmerklich beeinflußt werden, daß sie aber
negative Elektrizität mit sich führen und deshalb
als Kathodenstrahlen aufzufassen sind mit einer
äußerst großen Grenzgeschwindigkeit, die sich be-
N. F. III. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
999
liebig stark derjenigen des Lichts nähert. Ihre
Absorption ist so gering, daß sie leicht alle Ver-
suchsapparate durchdringen und deshalb noch
nie früher sich wesentlich bemerkbar machten.
Erst durch dicke Schichten von Blei lassen sie
sich so stark aufhalten, daß ihre mitgeführte nega-
tive Elektrizität meßbar wird. Paschen findet so,
daß sie dauernd einen Strom von 3,8 X lO"" Amp.
zu liefern vermögen, wenn sie von i g Radium
ausgehen würden. Aus der großen Geschwindig-
keit der Strahlen geht auch hervor, daß ihre
l^^nergie eine weit größere ist als diejenige der
/:/-Strahlen, so daß es nicht abzusehen wäre, wie
die y-Strahlen als Röntgeneffekt der /i-Strahlung
denkbar wären.
Man hat vielfach die Äußerung gehört, daß die
Radiumsalze insofern so höchst rätselhafte Sub-
stanzen wären, als sie dauernd diese im obigen
angegebenen Strahlenmengen mit einer sehr großen
P^nergie aussenden, ohne daß es bisher gelungen
wäre, einen Gewichtsverlust der Präparate festzu-
stellen, welcher auch nur Viooo ™g i"^ Laufe von
Wochen betragen würde ; man hätte in diesen
merkwürdigen Stoffen zum erstenmal einen Eall,
der sich nicht in das als unerschütterlich vordem
betrachtete Gesetz von der Konstanz der Materie
und der pjiergie einreihen würde, wonach keine
Arbeit auf der einen Seite gewonnen wird, der
nicht auf der anderen Seite ein gleich großer
Verlust an Energie entspräche. Auch alle Hoff-
nungen, die man mit Bezug auf diese PVage an
die Möglichkeit knüpft, weit empfindlichere Wagen
und größere Salzmengen zur Verfügung zu haben,
um doch einen Gewichtsverlust zu verzeichnen,
werden unerfüllt bleiben, wenn wir uns die Zahlen
vergegenwärtigen, die im Vorausgehenden für die
ausgestrahlten Mengen erhalten wurden, und die
uns auch zur Genüge lehren, daß nach wie vor
unsere umfassenden Gesetze gelten und daß sich
auch die neuen Stoffe völlig unter dieselben reihen,
wonach ein Gewichtsverlust, also ein Aussenden
von Strahlen auf Kosten von Gravitationsenergie
in der Tat besteht. Allerdings sehen wir, daß
dieser Verlust mit unseren Mitteln auch nicht
in Jahrzehnten wird experimentell direkt nach-
weisbar sein, da die Summe aller im Jahr aus-
gestrahlten Masse nur etwa 0,0007507 mg be-
trägt, wenn wir annehmen, daß die Masse der
ausgestrahlten j'-Teilchen etwa dieselbe wäre wie
die der |i!/-Teilchen. Berücksichtigt man aber, daß
sich diese Zahl auf i g reines Radium bezieht,
eine Menge, die auf der ganzen Erde bis jetzt
noch nicht existiert, und daß bei den Wägungs-
versuchen das Präparat eingeschlossen ist und des-
halb die «Strahlen nicht verliert, so muß jede
Möglichkeit eines experimentellen Nachweises auf-
gegeben werden.
Was nun die Strahlung der anderen,
früher beschriebenen radioaktiven Körper
betrifft, so liefert dieselbe nichts wesentlich anderes,
als wie für Radiumstrahlen schon mitgeteilt wurde.
Das Polonium sendet nur Strahlen von sehr
geringer Durchdringungsfähigkeit aus, welche mit
den «-Strahlen des Radiums identisch zu sein
scheinen. Sie besitzen ungefähr das gleiche Durch-
dringungsvermögen und werden in derselben Weise
durch ein Magnetfeld abgelenkt. Das Polonium
liefert also eine Quelle für «-.Strahlen ohne Bei-
mischung der anderen Strahlenarten. Daß sich
diese Quelle aber nach Verlauf einiger Jahre er-
schöpft, ist schon früher hervorgehoben worden.
Thor, Uran und Aktinium senden «- und
/^-Strahlen aus; die möglicherweise vorkommenden
/-Strahlen sind noch nicht untersucht worden.
Ebenso sind für B 1 e i p r ä p a r a t e «- und /t?-Strahlen
nachweisbar.
Wirkungen der Radiumstrahlen.
Außer den im vorigen Teil angeführten Wir-
kungen der vom Radium oder anderen aktiven
Körpern emittierten Strahlen ist noch als Er-
gänzung der in den früheren Berichten angegebenen
Tatsachen zu erwähnen, daß die (i- und y-Strahlen
beim Plindurchfahren durch Gase oder besonders
feste Körper aus diesen neue /i-Strahlen, soge-
nannte sekundäre Strahlen austreiben; es ist dies
vornehmlich mit Hilfe der photographischen Platte
nachgewiesen worden.
Hier mögen außerdem die physiologischen
Wirkungen von Interesse sein. Ein Radium-
salz, welches sich in einem lichtdichten Metall-
kästchen befindet, wirkt trotzdem auf das Auge
ein und erregt eine Lichtempfindung, wenn es vor
das geschlossene Auge oder gegen die Schläfe
gehalten wird. Hierbei werden die Augenmedien
unter der Einwirkung der .Strahlen durch Phos-
phoreszenz leuchtend, und das beobachtete Licht
hat so seine Quelle im Auge selbst. Nach J. Da-
nysz (1903) wirken die Strahlen auf tierisches Ge-
webe ein und zwar besonders auf die Epidermis
und die Nervenstränge. In den leichteren Fällen
tritt z. B. bei Mäusen Haarausfall und Hautent-
zündung ein, in den schwereren Phallen Lähmung
der Glieder und nach einigen Wochen der Tod,
verursacht durch Blutgefäßstörungen. Niedere
Tiere, wie Protozoen, ziehen langsam ihre Cilien
zusammen oder sie entfernen sich ganz aus dem
Bereich der Strahlen.
Auf höhere Pflanzen scheinen die Strahlen
keine besondere Wirkung auszuüben; nur in
manchen Fällen ist bei Sämlingen eine Verzöge-
rung in der Entwicklung bemerkbar. Von Wichtig-
keit ist dagegen die Einwirkung der Strahlen auf
Bakterien im Hinblick auf die praktischen Erfolge,
welche die Erkenntnis der bakteriziden Wirkungen
des Lichts neuerdings in der durch Einsen ein-
geführten Lichttherapie gezeitigt hat. Aschkinass
und Caspari haben mit dem Micrococcus pro-
digiosus, der sich zu solchen Beobachtungen be-
sonders eignet, weil seine Entwicklung unter inten-
siverRotfärbung vor sich geht, Untersuchungen ange-
stellt und gefunden, daß die /:?- Strahlen keinen Einfluß
auf den Bazillus ausüben, daß dagegen die «-.Strahlen
seine Entwicklung zerstören. (Schluß folgt.)
lOOO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 63
Die Elektrizität in der Medizin.
Von Werner Otto, Ingenieur, Berlin.
Keine physikalische Erscheinung findet in der
ärztlichen Tätigkeit eine so mannigfaltige, auf die
verschiedensten Gebiete sich erstreckende Anwen-
dung wie die Elektrizität. In direkter Einwirkung
als Heilmittel, als Quelle von Licht und Wärme,
als Triebkraft der verschiedensten Apparate ist sie
ein der ärztlichen Kunst unentbehrlicher Faktor
geworden. Wo aber auch Elektrizität im Ge-
brauch ist, die Technik erst hat sie mit Hilfe
ihrer vielgestaltigen Apparate in das Gewand
kleiden müssen, welches allein sie gebrauchsfähig
macht. Wenn heute die Elektrizität im Dienste
der Medizin so vielfachen Nutzen stiftet, so wird
dies nicht zum wenigsten dem Techniker ver-
dankt, der oft unter Überwindung großer Schwierig-
keiten neue, für ganz spezielle Zwecke bestimmte
Apparate zu konstruieren die Aufgabe hatte. Es
sei mir daher gestattet, an dieser Stelle in einer
kurzen Umschau die einzelnen Arten der Ver-
wendung der Elektrizität in der Medizin zusammen-
fassend zu schildern.
Zunächst zu den Röntgenstrahlen (Fig. i).
E.E.SBMITBä BERU«.
Fig. I. Röntgeninstrumentarium mit Wodalimterbrccher.
Der durch die Primärspule des Induktors ge-
sandte, durch eine besondere Unterbrechungsvor-
richtung unterbrochene elektrische Strom erzeugt
in der Sekundärrolle den Induktionsstrom , der
unter dem Einflüsse der Kraftlinien, welche von
dem in die Primärspule eingeschobenen magnetisch
werdenden Eisenkern ausgehen, hochgespannt wird.
Der Sekundärstrom bekommt auf diese Weise
Spannungsgrößen bis zu lOOOOO Volt und dar-
über, so daß Prunken bis zu 70, 80 und mehr
Zentimeter Länge erzielt werden. Dieser sekun-
däre Strom wird durch die Röntgenröhre geleitet,
in welcher er die Kathodenstrahlen erzeugt, die
vom Spiegel der Antikathode reflektiert und als
X-Strahlen ausgesandt werden.
Neben dem Induktorium ist der Unterbrecher
der wesentlichste Bestandteil einer Röntgenein-
richtung.
Es gibt verschiedene Systeme von Unter-
brechern. Die elektrolytischen und die Queck-
silberstrahl-Unterbrecher sind diejenigen, welche
am meisten in Gebrauch sind. Unter den erst-
genannten ist am bekanntesten der Wehneltunter-
brecher, dem aber naturgemäß die den elektro-
l)'tischen Unterbrechern insgesamt eigentümlichen
Nachteile anhaften. Deswegen werden heute Queck-
silberstrahl- Unterbrecher fast allein bevorzugt. Zu
dieser Klasse von Unterbrechern gehört z. B. der
Wodalunterbrecher.
Der ausgezeichnete Wert der Röntgenstrahlen
für die Diagnose zahlreicher Krankheiten sowie
als Heilmittel für Hautkrankheiten ist jedermann
bekannt.
Mit dem Induktorium und dem Unterbrecher
der Röntgeneinrichtung werden die Apparate für
hochfrequente Ströme (Fig. 2), wie solche von den
Franzosen Oudin und d'Arsonval konstruiert sind.
Fig. 2. Apparate nach Oudin und d'Arsonval,
zur Anwendung hochgespannter Wechselströme mit
hoher Polwcchsclzahl.
betrieben. Die auf sinnreiche Weise hervorge-
brachten oszillatorischen Entladungen zweier Ley-
dener Flaschen erzeugen in dem die Plaschen
verbindenden Solenoid oszillierende Ströme von
hoher Wechselzahl. Diese werden durch einen Re-
sonator aufgenommen und weiter geleitet. Solchen
,, hochfrequenten" Strom läßt man direkt auf den
Körper aus der Elektrode ausstrahlen und be-
handelt mit ihm Nervenkrankheiten , Hautkrank-
heiten etc.
Ein außerordentlich weites Feld für die Anwen-
dung der Elektrizität bietet die Lichttherapie. All-
gemein bekannt ist dieFinsen-Lichtheilmethode, bei
welcher große Bogenlampen von ca. So Ampere
Stärke als Lichtquelle dienen. Die Lichtstrahlen
werden durch etwa i Meter lange Tubusse mit
verschiedenen , zum Teil wassergekühlten Linsen-
systemen geleitet. Auf diesem Wege verlieren sie
den größten Teil ihrer Wärmestrahlen und werden
gleichzeitig konzentriert.
Die P'insenapparate dienen der Behandlung des
Lupus, der Hauttuberkulose. Sie haben den Nach-
teil, daß sie in Anlage, Anschaffung und Betrieb
N. F. m. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
lOOI
sehr teuer sind und daß sie für jede einzelne Be-
handlung die Zeit von einer Stunde erfordern.
Die Folge davon ist, daß für jede einzelne Sitzung
eine beträchtliche Menge Strom verbraucht wird.
Wegen ihrer Kostspieligkeit sind die grol.jen Finsen-
lampen nur in einigen wenigen , hauptsächlich
staatlichen Instituten in Betrieb.
An Stelle der Finsenapparate wendet man heute
die viel kleineren , außerordentlich viel billigeren
und dabei sehr handlichen Eisenlichtlampen an,
die nicht allein für die Behandlung des Lupus
geeignet sind, sondern die auch bei den übrigen
Hautkrankheiten erfolgreiche Verwendung finden.
Diese Lampen sind der Dermoscheinwerfer, die
Dermolampe und die Tripletlampe (Fig. 3 — 5).
Fig- 3-
Dermoscheinwerfer für
Eisen- und Kohlenlicht.
Zur B e li a n (1 1 u n 1
Fig. 4.
Dermolampe. Tripletlampe.
von II a u t k r a n k ii e i t e n.
Wegen ihrer vielseitigen Verwendbarkeit sind
diese Eisenlichtapparate in vielen Spezialanstalten
in Gebrauch und auch bei zahlreichen praktischen
Ärzten verbreitet; durch die wissenschaftlichen
Veröffentlichungen von Prof. Kromayer, Privat-
dozent Dr. Scholtz und Dr. Breiger sind sie all-
gemein eingeführt worden.
Der Dermoscheinwerfer und die Tripletlampe
sind auch für die Erzeugung von Kohlenlicht ein-
gerichtet, welches so intensiv ist, daß es dasjenige
der Finsenapparate noch erheblich übertrift't. Das
Eisenlicht selbst besitzt einen großen Reichtum
an ultravioletten Strahlen des Spektrums. Darauf
gründet sich seine ausgeprägte Fähigkeit, Bak-
terien zu töten, Entzündungen hervorzurufen und
die Körperzelle direkt anzuregen. Diese Eigen-
schaften sind die Grundbedingungen für alle der
Lichtbehandlung von Hautkrankheiten dienenden
Apparate.
Die Dermolampe und die Tripletlampe besitzen
einen wassergekühlten Mantel resp. Schutzscliirm
und werden zwecks Konzentration der Lichtstrahlen
mit besonderen Linsensystemen armiert.
Viel gebraucht wird auch das Kohlenlicht des
Fig. 6. Wechselstrom-Scheinwerfer
für Kohlenlicht, mit schräg-
stehenden Kohlen.
Fig. 7. Elektrosole.
gewöhnlichen Scheinwerfers (Fig. 6), der ebenso
wie der Dermoscheinwerfer einen verstellbaren
Reflektor zur Konzentration und Reflexion des
Lichtes besitzt.
Andere Apparate zur lokalen Behandlung, teils
Licht-, teils Wärmebehandlung, sind die Elektro-
sole (Fig. 7), muldenförmige, mit Glühlampen ver-
schiedener Zahl ausgestattete, tragbare Apparate,
die in erster Linie der Schweißerzeugung dienen
und für die Behandlung einzelner Extremitäten
wie des gesamten Körpers eingerichtet sind. Ferner
der Doppel-Bestrahlungsapparat, bei dem zwei Re-
flektoren mit je einer Glühlampe sich finden und
der zur Behandlung besonders von Gelenken be-
nutzt wird.
Das Lichtbidet.
Fig. 9. Elektrothermophor.
Im Übrigen wäre noch das Lichtbidet (Fig. 8)
zu erwähnen, welches eine Anzahl von (ilühlampen
als Licht- und Wärmequelle besitzt, ferner auch
die Handlampe nach Prof. Minin, die aus einem
Metallreflektor, der von einem Handgriff getragen
wird, und einer vor demselben stehenden Glüh-
lampe besteht.
Bemerkenswert sind auch die P^lektrothermo-
phore (Fig. 9), die als Wärmflaschen dienen. Es
sind zylindrische oder gewölbte Metallbehälter, in
deren Innern eine Glühlampe angebracht ist, welche
den Apparat außerordentlich schnell erwärmt. Die
Elektrothermophore sind jederzeit gebrauchsfertig,
sind sauber und bequem und schließen eine Ver-
brennung vollständig aus.
Der allgemeinen Lichtbehandlung dienen die
Bogenlichtbäder (Fig. 10). 4 Difterentialbogen-
lampen von je 10 Ampere Stärke sind in geräumigen,
Fig. 10. Bogenlichtbad mit Schein-
werfer. Kombiniertes Verfahren.
Glühlichtbad.
mit Tür und Deckel versehenen Badekästen an-
gebracht. Ihr Licht wird in gleichmäßiger Ver-
teilung auf den Körper des Badenden ausgestrahlt.
Spezifische Lichtwirkung sowie allmähliche Tem-
peratursteigerung sind hier die maßgebenden Heil-
faktoren. Bogenlichtbäder eignen sich für die Be-
handlung vieler Krankheiten , in erster Linie
der Krankheiten der Nerven, des Blutes und des
Stoffwechsels.
I002
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 63
Bogenhchtbäder werden für gewöhnhch in Ver-
bindung mit der Bestrahlung durch den Kohlen-
lichtscheinwerfer gebraucht : Das kombinierte Ver-
fahren. Dieses bietet den Vorzug einer noch
erhöhten intensiven und durchgreifenden Behand-
lung.
Zu Schwitzzwecken werden Glühlichtbäder (Fig.
11) benutzt. 48 Glühlampen, jede von 16 Kerzen
Stärke , sind in großen , mit Tür und Deckel
versehenen Badekästen angebracht , welche mit
weißen Reflexionswänden, am besten aus Porzellan
bestehend, ausgestattet sind. Solche Glühlicht-
schwitzbäder zeichnen sich dadurch aus, daß sie
in jeder Weise sauber und auch schwachen Per-
sonen ohne Schaden zugänglich sind.
Für die direkte Anwendung des elektrischen
Stromes auf den menschlichen Körper kommen
verschiedene Formen in Betracht. Zur Behandlung
des gesamten Körpers dienen die elektrischen
Wasserbäder (Fig. 1 2). An den Wänden der Bade-
Fig. 12. Wcchselslrombad auf Wagen,
zur Behandlung von Herzkrankheiten.
wanne werden großflächige Elektroden entweder
fest angebracht oder je nach Bedarf lose aufgestellt.
Stehen sie fest, so ist ihre Zahl so bemessen,
daß für jeden besonderen Körperteil eine Elektrode
vorhanden ist. Ein Badeumschalter gestattet dann
durch beliebige Stöpselung seiner Segmente den
Strom in jeder gewünschten Richtung zwischen
den einzelnen Elektroden durch den Körper des
Badenden hindurch kursieren zu lassen. Das Wasser
des Bades dient als Leiter des von der Elektrode
ausgehenden Stromes zum Körper. Verwendet
werden galvanischer, faradischer und pulsierender
Gleichstrom sowie die Wechselströme.
Der dreiphasige Wechselstrom dient speziell
zur Behandlung von Herzkrankheiten. Seine beste
Wirkung entfaltet er in dem Dreizellenbade (Fig. 13),
welches sich von den gewöhnlichen Wasserbädern
mit dreiphasigem Wechselstom durch eine große
Menge von Vorzügen wesentlich unterscheidet. Da
der Körper hier die einzige Verbindung zwischen
den Elektroden bildet, so muß der gesamte ver-
wendete Strom durch den Körper des Badenden
hindurchgehen , anders als beim Wechselstrom-
wasserbade, wo das Wasser einen großen Teil des
Stromes von Elektrode zu Elektrode direkt leitet.
Das Dreizellenbad erspart daher ganz wesentlich
an Strom und ist fein dosierbar. Es können mit
diesem Apparate auch galvanische und faradische
Bäder verabfolgt werden.
Zur lokalen Applikation des galvanischen und
faradischen Stromes dienen die bekannten Elektri-
sierapparate (Fig. 14), bei denen kleinflächige
Fig. 14. Anschlußtafel
für galvanische und faradische Ströme.
Elektroden in Platten-, Pilz-, Rollen- oder Bürsten-
form den Strom direkt auf den Körper überleiten.
Die einzelnen Apparate haben verschiedene Kon-
struktion und benutzen Elemente verschiedenen
Systems als Stromquelle, in jüngster Zeit vielfach
Trockenelemente.
Die statische Elektrizität wird mit der Influenz-
maschine (Plg. 15) erzeugt, als deren bester Typ
E.CSRNirAS. BESUM
I V Wimshurst-Elektrisiermaschine,
Fig. 13. Das Dreizellenbad,
zur Applikation sinusoidalen dreiphasigen Wechselstromes.
Fig.
zur Behandlung von Nervenkrankheiten.
allgemein die verbesserte sog. Wimshurstmaschine
anerkannt ist. Das Prinzip derselben ist folgendes :
2 oder mehr in kurzem Abstände voneinander
parallel gestellte Martgummischeiben, auf denen
2 Metallbürsten schleifen, mit radial angeordneten
einvulkanisierten Metallstreifen, rotieren in um-
gekehrter Richtung gegeneinander. Dadurch er-
zeugt sich Influenzelektrizität, welche vermittels
N. F. m. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1003
zweier die Platten umfassenden „Kämme" abge-
nommen und zu 2 Konduktorkugeln geleitet wird,
von wo sie in die Leitungsschnüre übergeht. Die
Elektroden sind eigenartig geformt, wir finden eine
Kopfglocke, eine Spitzenelektrode, eine Büschel-
elektrode und eine Isolierplatte mit Schemel.
Das Anwendungsgebiet für die statische Elek-
trizität bilden die verschiedenen Arten der Nerven-
krankheiten.
Die Fähigkeit des galvanischen Stromes, in
dem Körpergewebe, durch das er hindurchgeht,
chemische Veränderungen hervorzubringen , be-
nutzt man in der Elektrolyse. Als Elektroden
finden wir hier blanke Metallplatten, Nadeln mit
einer oder mehreren Spitzen und dgl. Sie werden
direkt auf den Körper gesetzt resp. in die zu be-
handelnde Partie eingestochen und je nach der
beabsichtigten Wirkung mit dem positiven oder
dem negativen Pole der Stromleitung verbunden.
Da an der Anode sich Säuren bilden, so kann
man mit der positiven Nadel die Gerinnung von
Blut und Gewebsflüssigkeit befördern , an der
Kathode hingegen, wo sich Basen bilden, kann
man die Verflüssigung von Geschwülsten usw. er-
zielen.
In der Elektrokaustik dient der elektrische Strom
• — galvanischer oder Wechselstrom — dazu, die
aus Porzellan oder Piatina bestehenden kleinen
Brenner verschiedener Form soweit zu erhitzen,
bis sie in Rot- oder Weißglut geraten sind. In
diesem Zustande werden mit ihnen dann kleine
chirurgische Eingriffe wie die Entfernung kleiner
Gewebsteile usw. vorgenommen.
13er für die Ausführung der Kaustik verwendete
Strom muß eine hohe Amperestärke bei geringer
Spannung besitzen. Die höhere Spannung des
Starkstromes muß deshalb durch einen Neben-
schlußwiderstand vermindert werden, was einen
erheblichen Energieverlust zur Folge hat. Diesem
Übelstande hilft der Kaustiktransformer (Fig. 16)
ab, der den Widerstand in Fortfall bringt. Er ist
Fig. 16. Transformer für Kaustik.
SO eingerichtet, daß ein zu diesem Zwecke speziell
konstruierter Unterbrecher den entnommenen
Gleichstrom des Netzes von hoher Spannung und
wenigen Ampere auf einen Strom von niedriger
Spannung und hoher Amperezahl transformiert.
Für die Apparate der Endoskopie benutzt man
kleine Glühlämpchen, die in Mund, Nase, Rachen
usw. eingeführt werden und dort das zu unter-
suchende Gebiet beleuchten. Konstruktiv am eigen-
artigsten sind die Cystoskope, die eine Besichtigung
des Innern der Blase ermöglichen.
Die Eigenschaft des elektrischen Stromes, einen
Eisenkern magnetisch zu machen, wird in dem
Apparate „Neuron" (Fig. 17) ausgenutzt, der für
die Anwendung des wechselnden magnetischen
Feldes bestimmt ist. Plin pLisenstab wird von einem
Wechselstrom mit regulierbarer Periodenzahl um-
flossen. Dadurch wird er magnetisch. In gleicher
Fig. 17. Elektromagnet ,, Neuron",
zur Behandlung von Nervenschmerzen und Schlaflosigkeit.
Weise nun wie die Richtung des elektrischen
Stromes wechselt, wechselt auch die Polarität
des Magnetstabes, so daß die Enden desselben ab-
wechselnd den magnetischen Nordpol und Südpol
darstellen. Die zwischen den beiden Polen laufen-
den magnetischen Kraftlinien sind außerordentlich
stark, so daß noch in einer Entfernung von mehr
als 3 m vom Apparat eine ausgesprochene Wirkung
auf den Körper nachzuweisen ist.
Die für die Erzeugung einer ausreichenden
magnetischen Kraft erforderliche elektrische Energie
beträgt bis zu 4 Kilowatt. Deshalb war der bei
Benutzung von Gleichstrom erforderliche Gleich-
strom -Wechselstrom - Umformer außerordentlich
voluminös. Beim Neuron ist dieser Umformer
durch einen von mir eigens zu diesem Zwecke
konstruierten direkten Umformer ersetzt worden,
der in bedeutend kleineren Dimensionen gehalten
ist und sich in seiner Anschaffung erheblich billiger
stellt.
Das wechselnde Magnetfeld wird als Heilmittel
bei nervösen Störungen benutzt. Der Neuron ge-
stattet sowohl die Häufigkeit der einzelnen Pol-
wechsel als auch die Intensität der magnetischen
Kraftentfaltung nach Erfordernis zu dosieren.
Bekannt ist die Anwendung des elektrischen
Stromes als treibende Kraft für kleine Motore, die
auch im ärztlichen Instrumentarium in verschie-
dener Form im Gebrauch sind.
Die Apparate für Vibrationsmassage (Fig. 18)
werden fast ausnahmslos elektromotorisch getrieben.
Der Motor versetzt eine biegsame Welle in Um-
drehung, auf welche die Vibratoren, in Kugel- oder
Kapselform und mit verschieden geformten An-
sätzen, aufgesetzt werden. Der elektrische Betrieb
bietet den besonderen Vorteil, daß die Massage
stets gleichmäßig vor sich geht, sehr wenig An-
I004
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 63
forderungen an die Geschicklichkeit und Kraft des
Massierenden stellt und nach Bedürfnis schwächer
oder stärker abgemessen werden kann.
Einen Elektromotor benutzt man auch bei dem
„Nebulor", einem Inhalationsapparate, der die In-
halationsflüssigkeit in gasförmigen Zustand ver-
setzt. Die dazu benötigte komprimierte Luft wird
Vermittelseiner Luftpumpe, die von diesem Elektro-
motor getrieben wird, in den Zylinder des „Nebulor"
eingepumpt.
Fig. 18. ,,Pulsator", Apparat für V'ibrationsmassage.
Ich bin am Schlüsse meiner Umschau. Es
sollte nicht meine Aufgabe sein, den einzelnen
Apparat konstruktiv zu beschreiben, sondern es
sollte in erster Linie illustriert werden, wie außer-
ordentlich vielgestaltig die medizinische Verwen-
dung der Elektrizität ist. Zugleich aber werden
diese Zeilen gezeigt haben , wie eng die Be-
ziehungen sind zwischen dem Techniker, der den
Apparat konstruiert, und dem Arzte, der ihn in
den Dienst seiner Wissenschaft stellt. Sie werden
ferner gezeigt haben , wie zwischen beiden die
Fäden hin- und herlaufen und wie auf beiden
Seiten Anregungen zu neuem Schaffen gegeben
und empfangen werden müssen, soll der einzelne
Apparat seinen Zweck voll erfüllen.
Es ist ohne weiteres zu verstehen, daß der
vielbeschäftigte Arzt nur selten Zeit gewinnt, das
weitere Gebiet, welches ich im vorstehenden ge-
schildert habe, ohne besondere Anleitung be-
herrschen zu lernen. Deshalb verdient hier er-
wähnt zu werden, daß die Elektrizitätsgesellschaft
„Sanitas" zu Berlin, die sich speziell der Fabrikation
elektromedizinischer Apparate widmet, besondere
von einem Ingenieur geleitete Spezialkurse ein-
gerichtet hat , in denen Arzte in allen für die
Medizin wichtigen Anwendungsformen der Elek-
trizität durch Theorie und praktische Übung unter-
wiesen werden. Auf diese Weise wird der Arzt
mit den Eigenschaften und der Hantierung der
Apparate am besten vertraut und die Folge da-
von ist, daß er sich den elektrischen Behandlungs-
methoden immer mehr zuwendet, was wiederum
für die elektrotechnische Industrie selbst von
Nutzen ist.
Kleinere Mitteilungen.
Untersuchungen von H. R ö 1.3 i g ') beschäftigen
sich mit der Frage , von welchen Organen der
Gallwespenlarven der Reiz zur Bildung der
Pflanzengalle ausgehe. Die bisherigen Unter-
suchungen hatten mit Sicherheit dargetan, daß
der Stich der Gallwespe in keiner Weise mit dem
Zustandekommen der Galle etwas zu tun habe,
daß vielmehr das beim Einstechen in den Stich-
kanal ausfließende Sekret nur den Zweck habe,
die Plier, bzw. den Eistiel mit dem Pflanzengewebe
zu verkleben, oder auch den Stichkanal zu ver-
schließen. Weiter hatte man dann gefunden, daß
die Bildung der Galle mit irgend einer Tätigkeit
der sich entwickelnden Larve zusammenhänge, und
zwar nahm Adler an, daß das mechanische Be-
nagen des Pflanzengewebes durch die Kiefer der
Larve als auslösender Reiz betrachtet werden
müsse, wogegen Beyerinck die Gallwirkung auf
eine von der Larve abgesonderte flüssige Substanz,
welche das umgebende Pflanzengewebe durchsetzt,
zurückführte.
Hier setzen die Untersuchungen Rößig's an.
Er fand, daß Galle und Larve ein sehr ungleich-
mäßiges WacJistum im Verhältnis zueinander
zeigen , indem die Hauptwachstumsperiode der
Larve derjenigen der Galle erst nachfolgt. So
') Zoolog. Jahrb. Abt. für System, usw. 20. Bd. 1904.
war z. B. die Mitte Juni auf der Blattunterseite
erscheinende Galle von Dryophanta divisa gegen
Ende Juli völlig ausgewachsen, wogegen die junge
Larve in dieser ganzen Zeit nur von 500 /< auf
800 ,(( Länge heranwuchs. Dann aber setzte hier
eine starke Gröl.jenzunahme ein, und Mitte .August
maß die Larve bereits 3 — 4 mm , d. h. die Larve
war jetzt in 14 Tagen über 2 mm gewachsen,
während sie in den ersten 6 Wochen nur um
300 1.1 zugenommen hatte. Verf. glaubt dies da-
durch erklären zu können, daß in der ersten Zeit
der größte Teil der aufgenominenen Nahrung nicht
zum Aufbau des Larvenkörpers benutzt, sondern
durch die Körperorgane in eine flüssige Substanz
umgewandelt wird, welche das zur Bildung der
Galle notwendige Sekret liefert. Erst wenn dann
die Galle ihre normale Größe erreicht hat, be-
ginnt die Larve die nun reichlich vorhandene
Nahrung zu assimilieren und wächst auf diese
Weise unter beträchtlicher Zunahme des Fett-
gewebes schnell heran. Verf. bekennt sich also
durcliaus zu der von Beyerinck vertretenen
Ansicht, und es würde sich nun weiter fragen,
von welchen Organen die Bildung jenes Reiz-
sekretes ausgehe. Besondere Organe im Inneren
des Körpers fanden sich nicht vor, auch Haut-
drüsen in Form umgewandelter Hypodermiszellen
waren nicht zu entdecken, es blieb also nur übrig
anzunehmen , daß Drüsenorgane von sonst ab-
weichender Funktion eine Rolle bei der Bildung
N. F. m. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1005
des Sekretes spielen müßten. ."^Is solche Drüsen-
organe kamen nur Speicheldrüsen und Malpighi-
sche Gefäße in Betracht. Die paarweise vor-
handenen Speicheldrüsen stellen kleine, rundliche,
von großen Drüsenzellen ausgekleidete Säckchen
dar, von denen jedes zwar einen besonderen Aus-
führgang besitzt, die aber schließlich durch ein
kurzes gemeinsames Endstück ausmünden. Aus
einer Reihe von Gründen glaubt Verf., diese Or-
gane für die vorliegende Frage gänzlich ausschalten
zu können. So beginnt beispielsweise die Gallen-
bildung schon dann, wenn die Larve noch in der
Eihaut eingeschlossen ist und ihre Speicheldrüsen
noch gar nicht funktionieren, weiter besitzen die
Speicheldrüsen überhaupt bei den gallenbildenden
Gallwespen nur eine geringe Entwicklung, wo-
gegen sie bei den schmarotzenden Formen sehr
stark ausgebildet sind. Es blieben somit nur noch
die Malpighi'schen Gefäße übrig. Es sind deren
zwei vorhanden, die im Vergleich mit der kleinen
Larve eine ganz gewaltige Ausdehnung besitzen.
Sie bestehen aus großen Drüsenzellen und münden
in den Enddarm, welcher, da der Mitteldarm auf
diesen Stadien noch nicht durchgebrochen ist, im
wesentlichen als Ausführgang der Drüsen funk-
tioniert. Sie hält Verf für die eigentlichen Ab-
scheidungsorgane des Gallensekretes, da sie schon
frühzeitig eine lebhafte , sezernierende Tätigkeit
aufweisen, und sie zugleich eine beträchtliche Größe
besitzen. Die Verschiedenheit ihres morphologischen
Baues könnte vielleicht die Verschiedenheit der
Gallen, wie sie von mannigfachster Art durch die
einzelnen Formen an ein und derselben Pflanze
hervorgerufen werden, erklären. Auch die sehr
mächtig entwickelten Oenocyten , eigentümliche,
frei in der Leibeshöhle gelegene und gewöhnlich
dem Fettkörper zugerechnete Gewebselemente,
scheinen in hohem Maße an diesen Vorgängen
beteiligt zu sein, insofern sie durch Einwirken auf
die Blutflüssigkeit den Malpighi'schen Gefäßen vor-
arbeiten. Indessen handelt es sich hier überall
nur um Wahrscheinlichkeiten, ein scharfer Nach-
weis der eigentlichen Abscheidungsorgane des
Gallensekretes ist zurzeit kaum zu erbringen.
J. Meisenheimer.
Zur Kenntnis der Apogamie in der Gattung
Hieracium bietet C. H. Ostenfeld in den Ber.
d. Dtsch. Bot. Ges. (Bd. 22, 1904, S. 374—381)
eine Untersuchung. — Unter Apogamie ver-
steht man die Erscheinung, daß an die Stelle
sexueller Fortpflanzung die ungeschlechtliche Ver-
mehrung tritt. Dies kann in sehr verschiedener
Weise geschehen, z. B. dadurch, daß Eizellen, die
unter normalen Verhältnissen der Befruchtung
durch den Pollen bedürfen, auch ohne eine solche
zur Bildung des Embryos schreiten.
Eine solche parthenogenetische Vermehrung
war bei Taraxac u m- Arten bekannt, bei denen
Keimentwicklung ohne vorherige Befruchtung be-
obachtet worden war. Dieselbe Entdeckung
machte Verf. an Hi eraci um- Arten , und es
gelang ihm, auf experimentellem Wege den Be-
weis für die Richtigkeit seiner Beobachtung zu
erbringen. Er fand nämlich, daß, wenn er Exem-
plare von 22 zu den Untergattungen Pilosella und
Archieracium gehörigen Arten „kastrierte", d. h.
sie durch Abschneiden der Antheren, Griffel und
Narben beraubte, alle trotz der Kastration, und
ohne daß etwa vor dieser eine Bestäubung erfolgt
gewesen wäre, reichlich Früchte entwickelten, die
vollkommen normal gebildet waren und gut aus-
keimten.
Verf. zieht aus seinen Versuchen den Schluß,
,,d aß wahrscheinlich alle Pilosellen und
Archieracien ohne Befruchtung Früchte
entwickeln können." Se.
Friedr. Weber 's Arbeit „Über den Kali-
syenit des Piz Giuf und Umgebung (östliches
Aarmassiv) und seine Ganggefolgschaft" (Beitr.
zur Geol. Karte der Schweiz N. F. 14. Lief.) bietet
eine Fülle wertvoller Mitteilungen über die Geo-
logie eines kristallinen Zentralmassivs der Schweizer
Alpen. Das vom Verfasser untersuchte Gebiet
liegt im östlichen Teile des Aarmassivs, jenes ge-
waltigen Zuges kristalliner Gesteine, der sich vom
Lötschental im Westen mit ostnordöstlichem
Streichen, parallel mit dem Gotthardmassiv, auf
eine Länge von 110 km bis in die Tödigruppe
erstreckt. Der Piz Giuf erhebt sich südlich vom
Bristenstock, jenem Berge, der dem Besucher des
Vierwaldstättersees als majestätischer Abschluß der
Landschaft im Hintergrunde des Reußtales wohl
bekannt ist.
Wo der Piz Giuf und seine Nachbarberge den Grenz-
kamm zwischen den Kantonen Uri und Graubünden
bilden, tritt in den granitischen Gesteinen des Aar-
massivs eine etwa 1 3 km lange, schmale Linse
eines syenitischen Gesteins auf Die großen Feld-
spattafeln , die mehr oder weniger parallel in
grünlich-grauer Hornblende und Glimmer liegen,
verleihen ihm ein porphyrartiges Aussehen, ohne
daß aber eine porphyrische Struktur mit einem
Gegensatz zwischen Einsprengungen und Grund-
masse vorhanden ist. Die dunklen Gemengteile
sind gemeine grüne Hornblende und grüner Biotit,
der sich aus jener, namentlich dort, wo der Syenit
durch Druck geschiefert ist, entwickelt. Die großen
Feldspate sind Mikroklinmikroperthit, die übrigen
teils solcher, teils Orthoklas und Oligoklas. Quarz
ist nur spärlich vorhanden. Als Übergemengteile
erscheinen Orthit, Titanit, Apatit und Zirkon. Die
chemische Analyse ergibt einen Kieselsäuregehalt
von 59,58 "/q. Das Gestein gehört zu denjenigen
Syeniten, die man nach einem charakteristischen
Vorkommnis bei Dresden als ,, Typus Plauenscher
Grund" bezeichnet hat. Verfasser nennt es Kali-
syenit im Gegensatz zu den einer anderen Tiefen-
gesteinsfamilie angehörenden Natron- (Nephelin-,
Eläolith- ^Syeniten.
Wenn auch gelegentlich rein granitisch-körnige
Abarten auftreten, so herrscht doch im wesent-
lichen die Paralleltextur durch das ganze Gestein,
ioo6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 63
Diese kann nicht als Wirkung des gebirgsbilden-
den Druckes auf das bereits verfestigte Gestein
aufgefaßt werden ; denn sonst müßten die ein-
zelnen Gemengteile unter dem Mikroskop viel
stärkere Spuren der Zertrümmerung zeigen, als
sie es in Wirklichkeit tun. Man kann sich
nicht vorstellen, daß die großen Feldspate hätten
gedreht und gewendet werden können, ohne starke
Deformationen zu erleiden. Hier müssen Vorgänge
auf das noch nicht erstarrte Magma gewirkt haben.
Man hat sich darüber verschiedene Vorstellungen
gebildet : Entweder erstarrte die glutflüssige Masse
unter einem starken seitlichen Druck, der die Feld-
spattafeln in eine bestimmte Stellung brachte.
Oder es handelt sich um Fluktuationen des zäh-
flüssigen Magmas. Dies letztere kann man sich
auch nicht so recht vorstellen. Es bleibt dann
noch die Erklärung, daß die Wände des den erup-
tiven Herd umgebenden Gesteins einen orientieren-
den Einfluß auf die in ihrer Nähe sich ausscheiden-
den Feldspatkristalle hatten und daß dieser Ein-
fluß sich dann von den entstehenden Kristallen
aus immer weiter in die Tiefe fortpflanzte. Me-
chanische Deformationen haben dann einmal die
zuerst ausgeschiedenen Mineralien bei der folgen-
den Bildung der übrigen erlitten, sodann ist aber
der Giufsyenit zweifellos als fertiges Gestein noch
starken Druckwirkungen ausgesetzt gewesen, welche
nicht allein mechanisch, sondern in tieferem Niveau
durch die zirkulierenden erhitzten Wässer auch
chemisch tätig waren. Hierbei findet oft eine
weitgehende Umkristallisation und Neubildung von
Mineralien statt. Aus den Feldspäten stammt
Sericit, aus der Hornblende Epidot. Diese beiden
umflasern Linsen von Quarz und Feldspat und es
entstehen jene für die Alpen so charakteristischen
Gesteine, die man Augengneiße, oder, wenn weniger
stark geschiefert, Protogine nennt.
Als getreue Vasallen folgen emporgedrungenen
Tiefengesteinen die stofflich mit ihnen nahe ver-
wandten Ganggesteine, die sich in Klüfte und
Spalten des erstarrten Gesteins ihren Weg bahnen.
Auch im Syenit des Giuf sind sie weit verbreitet.
Wie immer treten solche auf, die saurer und solche,
die basischer sind als das Tiefengestein, dessen
Gefolgschaft sie bilden. Die letzteren sind durch
Spessartite und Kersantite vertreten. Ihre Gänge
sind von verschiedenster Mächtigkeit und setzen
meist saiger und mit ziemlich geradlinigen
Grenzen durch den Syenit. Bei den Spessartiten
liegen in einer grünlich-grauen, mit dem bloßen
Auge unentwirrbaren Grundmasse von Feldspat,
Quarz, Titanit und Hornblende, schwarze Horn-
blendenadeln ; treten auch noch Feldspateinspreng-
linge auf, so vollziehen sich Übergänge zu Diorit-
porphyriten. Die Kersantite bestehen vorwiegend
aus Plagioklas und Glimmer.
Diese basischen oder, wie man sie ihrer dunklen
Farbe wegen auch nennt, „melanokraten" Gang-
gesteine sind meist sehr stark zersetzt. Daher ist
ihre wahre Natur den früheren Beobachtern ent-
gangen, und man hat sie „Chloritgneiß", „Chlorit-
schiefer", ,, Glimmerschiefergänge" usw. genannt,
ohne eine Erklärung für ihre Entstehung geben zu
können. (Aus diesem einen Beispiel ist schon
aufs deutlichste zu ersehen, wie wenig die älteren
Arbeiten über die Zentralmassive dem heutigen
Standpunkt der Wissenschaft entsprechen.)
Wie in einem erstarrenden Magma zuerst die
kieselsäurefreien, dann die kieselsäurearmen Mine-
ralien auskristallisieren und in dieser Ausscheidungs-
reihenfolge die reine Kieselsäure den Beschluß
macht, so sind auch im Giufgebiet die basischen
Ganggesteine im großen und ganzen früher empor-
gedrungen als die ihnen entsprechenden sauren,
,,leukokraten". (Anderswo liegen diese Verhältnisse
oft umgekehrt.) Diese Granitporphyre und Aplite
hat man schon lange als solche erkannt. Besonders
die letzteren sind ungemein häufig und heben sich
mit ihrer hellen Farbe schon auf weite Entfernung
deutlich von dem dunklen Syenit ab. Ihre Gänge
verlaufen in allen Richtungen, saiger und schräg,
sind oft gewunden und verzweigen sich, was die
Kersantite und Spessartite niemals tun. Die Periode
der Aplitinjektion muß ziemlich lange Zeiträume
in Anspruch genommen haben ; denn manche Vor-
kommnisse scheinen nicht älter als die letzte Ge-
birgsbildung in jenen Gegenden — und das wäre
die tertiäre — zu sein. Dabei muß der Aplit
z. T. in die noch nicht ganz verfestigten Spessar-
tite etc. eingedrungen sein; denn manchmal liegen
abgeschnürte Partien von ihm gekrümmt und ver-
dreht mitten in dem melanokraten Gestein, so
daß es fast aussieht, als lägen Einschlüsse eines
älteren Aplits in jüngerem Spessartit vor, was aber
keineswegs der Fall ist.
Was die chemischen Verhältnisse anbelangt,
so haben die leukokraten Ganggesteine des Ge-
bietes granitischen, die melanokraten diorltischen
Charakter. Die Aplite und Spessartite einerseits
und die Granitporphyre und Kersantite anderer-
seits ergänzen sich — wir können diese chemischen
Verhältnisse hier nur kurz skizzieren — zu einem
intermediären Magma, das etwa die stoffliche Be-
schaffenheit eines Quarzsyenits haben würde. Als
Differentiationsprodukte dieses in bezug auf Acidi-
tät und das Verhältnis der Basen intermediären
Stammmagmas muß man die Ganggesteine des
Giufgebietes auffassen. Auch der Syenit selbst ist
eine Differentiation dieses Stammmagmas, aus dem
man sich alle Intrusivgesteine des Aarmassivs durch
Dififerentationsprozesse hervorgegangen denken
muß. Da Schollen des Giufsyenits sich als Ein-
schlüsse in den nördlich auftretenden sauren Gra-
niten finden, so ist der Syenit als das erste Pro-
dukt der successiven Intrusionsreihe aufzufassen.
Dann folgten die sauren Granite und zuletzt die
Gangnachschübe, in denen sich, wie wir oben
gesehen haben, auch noch eine Altersfolge fest-
stellen läßt.
Diejenigen Gesteine in welche diese Eruptiv-
massen eindrangen und in denen sie unterirdisch
erstarrten, sind uns in Form von Einlagerungen
in der Syenitzone und an ihrem Rand erhalten.
N. F. m. Nr. 63
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Es sind aus sandsteinartigen Gesteinen durch den
Kontakt mit dem Magma hervorgegangene Biotit-
gneiße, aus mergelig-sandigen Substraten entstan-
dene Muscovit-Biotitgneiße, Amphibolite, Chlorit-
gneiße und Kalksilikatfels, die teils als einge-
quetschte Mulden, teils als eingeschlossene Schollen
auftreten. Um das Alter der Intrusionen zu kennen,
müßte man wissen, welcher Formation diese kristal-
linen Schiefer angehören. Leider läßt sich dar-
über nichts Gewisses sagen. Nach Analogie der
ähnlich struierten Gebiete, wie des Mont Blanc-
massivs oder mancher Teile der Ostalpen, und be-
sonders in der Erwägung, daß der bekannte Quarz-
porphyrerguß des Windgällengebietes , der dem
jüngeren Paläozoikum angehört, zweifellos mit den
aarmassivischen Intrusionen zusammenhängt, ent-
wirft Weber folgende Skizze von der Geschichte
dieses Zentralmassivs :
Durch den Druck einer präkarbonischen
Faltung wurde eine quarzsyenitische Magmamasse
in die durch Abstau entstehenden Hohlräume der
sich wölbenden Antiklimalen hineingepreßt, wobei
eine Differenzierung in saurere und basischere
Partien eintrat. Die karbonische Faltung brachte
sodann Nachschübe, namentlich von sauren Graniten,
die wie die ersten Intrusionen unter fortdauerndem
Tangentialdruck erstarrten. In Kontraktionsklüften
und Dislokationsspalten folgten dann die Granit-
porphyre und Kersantite, einzeln auch Dioritpor-
phyrite und Aplite und endlich als letzter und am
weitesten differenzierter Rest des Stammmagmas
die Spessartite und Aplite. Die tertiäre Haupt-
faltung hat dann die mechanischen Erscheinungen,
die oben beschrieben sind, die Druckklüftung und
Druckschieferung, hervorgebracht. Diese letzteren
Erscheinungen derselben Periode wie die Aus-
bildung der Paralleltextur, mit anderen Worten
die Intrusion der Eruptiva und die Herausbildung
all ihrer Eigenschaften, mit denen sie uns jetzt
entgegentreten, einer F"altungsperiode — und dies
könnte dann nur die tertiäre sein — zuzuschreiben
(wie das in neuerer Zeit geschehen), ist durchaus
nicht angängig.
Das Syenitgebiet des Piz Giuf ist nicht das
einzige seiner Art. Östlich .im Puntaiglas- und
westlich im Grimselgebiet treten ähnliche Gesteine
ini Aarmassiv auf und der Verfasser verspricht,
seine Untersuchungen noch weiter auszudehnen. —
Wir dürfen nicht unterlassen schließlich noch
zu erwähnen, daß die Arbeit auch ein ungemein
reiches petrographisches Detail enthält und daß
sich darin viele wertvolle und neue Beobachtungen
finden. Dr. Otto Wilckens.
Bücherbesprechungen.
1007
Dr. Richard Linde, Die Lüneburger Heide.
Mit in Abb. nach photogr. Aufn. des Verf. und
einer farbigen Karte. (Land und Leute. Mono-
graphien zur Erdkunde. In Verbindung mit her-
vorrag. Fachgelehrten herausgegeb. von A. Scobel.
XVIII. Bd.) Bielefeld und Leipzig (Velhagen &
Klasing) 1904. — Preis geb. 4 Mk.
Die Landschaften unserer Heimat Norddeutsch-
land in ihren Eigenarten kennen zu lehren, ist die
schöne Aufgabe der iMonographien , zu denen die
vodiegende gehört. Die Lüneburger Heide kennt
jeder dem Namen nach: wer aber weiß
Näheres über diese reizvolle Landschaft, deren Be-
reisung um ihrer selbst willen leider noch zu den
Seltenheiten gehört. Das Linde'sche Buch ist treflf-
lich geeignet das Charakteristische der Lüneburger
Heide vorzuführen und die guten Abbildungen unter-
stützen den Text auf das Vorteilhafteste. Daß eine
gute geographische Karte beigegeben ist, erhöht die
Brauchbarkeit, so daß auch für den Reisenden aus
dem Buch ein guter Führer wird. Hervorzuheben
ist, daß dort, wo der Verfasser auf Naturhistorisches
eingeht, sich ein Verständnis desselben auch auf
diesem Gebiet kundtut.
J. Perrin, Traite de chimie physique. —
Les Principes. Paris, Gauthier-Villars. 1903.
299 pages. — Prix 10 Frcs.
Das Buch stellt den in sich abgeschlossenen, ersten
Band eines größeren Lehrbuchs der physikalischen
Chemie dar ; es werden in demselben die allgemeinen
Prinzipien, welche dieser Wissenschaft zugrunde
liegen, in möglichst scharfer Fassung formuliert und
diskutiert. Dabei wird durchaus auf die Zuhilfenahme
von Molekular-Hyi)othesen verzichtet, ohne daß Verf.
diesen ihren Wert absprechen möchte, wie er in der
von philosophischem Geiste durchwehten, sehr lesens-
werten Einleitung hervorhebt. Inhaltlich ist der
Band in neun Kapitel gegliedert, die der Reihe nach
überschrieben sind: La notion de force, Les facteurs
d'action, Le principe dequivalence et la notion dener-
gie, Röle des facteurs d'action dans la production de
changements, Le principe d'evolution (Entropie!), Les
caracteres de l'equilibre stable , Corps purs et lois
des combinaisons , Le potentiel chimique, La r^gle
des phases. Naturgemäß mußte die Behandlung die-
ser Gesetze und Erscheinungsgruppen etwas abstrakt
ausfallen, doch hebt Verf. in der Einleitung selbst
hervor, daß sich dies bei den folgenden, spezielleren
Bänden ganz und gar ändern wird. Kbr.
Literatur.
Aus dem wissenschaftlichen Leben,
Am 10. Nov. starb in iJresden im .Mter von 69 Jahren
der Geologe und Forschungsreisende Alfons Stübel, auf
dessen sehr beachtenswerte vulkanologische Studien in dieser
Zeitschrift wiederholt hingewiesen worden ist.
Schmidt, Priv.-Doz. Dr. Jul.: Die Chemie des Pyrrols und
seiner Derivate. (XII, 305 S.) Lex. 8°. Stuttgart '04, F
Enke. — 10 Mk.
Briefkasten.
Herrn A. U. in Plauen i. Vogtl. — Frage: Welches
Werk behandelt Anguillula aceii ausführlich? — Eine
austührliche Behandlung finden Sie in W. Henneberg, Zur
Biologie des Essigaales (Anguillula aceti Müll.), Berlin (Gebr.
ioo8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 63
Unger) 1900, 102 S. mit 10 Fig. (Deutsch. Essigind. Instit.
f. Gärungsgewerbe 1899 Nr. 45 — 52 und igoo Nr. 1 — 5).
Außerdem ist zu nennen P. P a 1 1 e c ch i , Sulla resistenza vitale
deir Anguillula dell' aceto, in: Boll. Musei Zool. Anat. comp.
Genova, 1S93, Nr. 17, 1 2 S. Dahl.
Herrn Dr. S. in Hamburg. — Frage: Gibt es für die
Zoologie einLehrbuch, das dieBiologie im engern
Sinne (Ökologie) in ähnlicher Weise und ungefähr in dem-
selben Umfange behandelt, wie es Wiesner 's ,, Biologie der
Pflanzen" auf dem Gebiete der Botanik tut? — Ein Buch der
genannten Art ist mir in der deutschen und auch in der aus-
ländischen Literatur nicht bekannt. Am nächsten kommt ihm
vielleicht M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena. Vierte
Auflage. 1903. Mit 300 Abbildungen. 6^2 S. Preis: 15 Mk.,
halbfr. geb. 17 Mk. ' Dahl.
Herrn Dr. G. in Dieraeringen. — Frage: Ist die in
Schwalbennestern (Fenster- oder Edelschwalbe) vorkommende
Wanze mit der hauptsächlich in Städten vorkommenden Bett-
wanze identisch? — Die Sc h wa Ib en wanze ist äußerlich
der Bettwanze ziemlich ähnlich und wurde bis in die letzten
Dezennien des vorigen Jahrhunderts vielfach mit ihr zusammen-
geworfen. Eine scharfe Unterscheidung der vier häutigeren
europäischen Arten der Gattung Acanihia (Cimex), der
Bettwanze A. lectularia L., der bei Tauben und Hühnern vor-
kommenden A. columbaria, der bei Fledermäusen vorkommen-
den A. pipistrcUi und der in Schwalbennestern lebenden A.
hirundinis gab zum ersten Male L. J e n y n s (Ann. and Mag.
of nat. History, Vol. 3 p. 243 ff. PI. 5) im Jahre 1839. Da
die Schwalbenwanze sich sehr erheblich von den anderen
Arten unterscheidet, — leicht erkennbar ist sie besonders an den
kurzen, dicken Fühlern — , wurde sie 1873 ^°" C. Stäl als
Vertreter einer besonderen Gattung Oeciacus abgetrennt (Kongl.
Sv. Vet. Akademiens Handlingar Bd. 2 Nr. 2 p. 103-104).
Außer den genannten vier Arten ist aus Europa nur noch
eine weitere Art A. improvisa Reuter bekannt geworden
(vgl. L. Lethierry et G. Severin, Catalogue general des
Hemipteres, T. 3 p. 235 — 236, Berlin 18961. Dahl.
Sandes. In Meyer's Konversationsle.xikon finden Sie unter
,, Blitzröhren" nähere Angaben über diese Gebilde, die natür-
lich mit den sog. Donnerkeilen, d. h. Überresten der zu den
Kopffüßlern gehörenden Belemniten der Kreidezeit nicht das
mindeste zu tun haben, wenn auch die Volksphantasie diese
Petrefakten mit dem die Ägis schüttelnden Donnergotte in
Beziehung gebracht hat. Kbr.
Herrn Dr. W. W. in Fr. — Von den in Deutschland
lebenden Süßwasserschwanimarten gehen alle bis auf eine im
Herbst unter Bildung von VVinterkeimen (Gemmulae) ein ; nur
Ephydatia fluviatilis perenniert. Zurzeit können also nur
von dieser Art Exemplare (sowohl grüne wie chlorophyllfreie)
beschafft werden. Zum Zweck wissenschaftlicher Untersuchun-
gen bin ich bereit, solche zu besorgen.
D. W. Weltner,
Berlin N. 4, Invalidenstr. 43.
Herrn Dr. Th. Seh. in Ludwigsburg. — Die neuesten
mir bekannten Nachrichten über Perlenfischerei gaben
Stadler, Perlfischerei in Bayern. In: Allg. Fischerei-
Zeitschr. 1898, vol. 23, p. 77.
Diquet, La culture de I'huitre perliere et la formation
de la perle. In: Revue scient. Paris Xll, 1899, p- 494
(hauptsächlich die marinen Perlen).
Wichtiger ist die in Nordamerika in großem Maßstab be-
triebene Fischerei der dickschaligen L'nioniden behufs Fabri-
kation von Knöpfen u. dgl. aus der Perlmutter.
Schwanheim (Main). Dr. W. Kobelt.
Herrn Dr. H. T. in Leipzig. — Frage : Wie läßt es sich
experimentell beweisen, daß Eiweißstoffe einen Haupt-
bestandteil der Muskeln bilden und welche weiteren
Bestandteile kommen im Fleische vor? — Die Antwort
auf Ihre Frage finden Sie in den Lehrbüchern , welche die
physiologische Chemie behandeln, z. B. in E. Salkowski,
Praktikum der physiologischen und pathologischen Chemie nebst
einer Anleitung zur anorganischen Analyse für Mediziner 2. Aufl.
Berlin 1900, Preis ge^. 8Mk. Auf S. 97 dieses Buches heißt es:
ICO g feingehacktes Fleisch übergießt man mit 300 ccm Wasser,
rührt gut durch, läßt I — 2 -Stunden stehen, gießt die Mischung
durch ein Leinwandhltcr und preßt mit der Hand nach. Zur
Klärung wird durch Papier filtriert. Eine Probe des Filtrats
erhitzt man langsam mit eingesetztem Thermometer in einem
Reagensglase, das man in ein halb mit Wasser gefülltes, auf
einem Drahtnetz über derP'lamme stehendes größeres Becherglas
taucht und rührt, um die Temperatur gleichmäßig zu ver-
teilen, mit einem an seinem unteren Ende mit Gummischlauch
überzogenen Glasstab häufig um. Schon bei mäßiger Tem-
peraturerhöhung, meistens bei 55 — 56", tritt Gerinnung ein,
das Filtrat vom Coagulum zeigt erneute Gerinnung etwa bei
65°, das Filtrat davon ungefähr bei 75° (lösliche Eiweiß-
körper). — Der im Wasser nicht gelöste Rückstand des
Fleisches wird mit I5°/»'g^'' Lösung von Chlorammonium
zum dünnen Brei angerührt und nach 24 Stunden filtriert.
Tropft man das Filtrat* in ein zu 73 ">'' Wasser gefülltes
Reagensglas , so scheidet sich Myosin, ein in Wasser unlös-
licher Eiweißkörper, in stark gequollenem Zustande aus. —
Die quantitative Bestimmung anderer Bestandteile des Fleisches,
der Wassermenge, des Aschengehaltes, des Fettes, des Phos-
phors und des Schwefels finden Sie auf S. 272 — 274 des ge-
nannten Buches. Als ausführlichere Lehrbücher der physio-
logischen Chemie nenne ich noch F. Hoppe-Seyler, Hand-
buch der physiologisch- und pathologisch-chemischen Analyse,
6. Aufl., Berlin 1893, Preis 14 Mk. und O. Hammarsten,
Lehrbuch der physiologischen Chemie, 5. Aufl., Wiesbaden
1904, Preis 17 Mk. , als umfangreicheres Werk über den
Gegenstand, F. Hoppe-Seyler, Physiologische Chemie,
4 Bde., Berlin 1876—81, Preis 24,50 Mk. und als kleinen
Leitfaden Fr. N. Schulz, Praktikum der physiologischen
Chemie, 2. Aufl., Jena 1904, Preis 2 Mk. Dahl.
Inhalt! A. Becker: Unsere gegenwärtigen Kenntnisse über Radioaktivität. — Werner Otto: Die Elektrizität in der
Medizin. — Kleinere Mitteilungen: H. Rößig: Bildung der Pflanzengallen. — C. H. Ostenfeld: Zur Kenntnis der
Apogamie in der Gattung Hieracium. — Friedr. Weber: Über den Kalisyenit des Piz Giuf und Umgebung (öst-
liches Aarmassiv) und seine Ganggefolgschaft. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen:
Dr. Richard Linde: Die Lüneburger Heide. — J. Perrin: Traite de chimie physique. — Literatur: Liste. —
Briefkasten,
Herrn M. L. in Halle a. S. — Frage: Welche tieri-
schen Schmarotzer des Menschen sind bisher be-
kannt? — Eine Aufzählung der sämtlichen Schmarotzer des
Menschen würde viel Raum einnehmen, Ihnen aber und ande-
ren Lesern ohne Diagnosen und Abbildungen wahrscheinlich
wenig nützen. Ich verweise Sie deshalb auf die in Nr. 56
S. 896 der Naturwiss. Wochenschrift genannten Werke von
Leuckart und Braun. Eine Ergänzung der neuesten
Forschungsresultate auf dem Gebiete finden Sie in E. Peiper,
Tierische Parasiten, 2. Aufl., 376 S. mit 162 Holzschn.
Wien 1904. Dahl.
Herrn H. S. in Schwedt a. O. — Literatur über das
Sehorgan der Fische finden Sie in der Naturw. Wochenschr.
Nr. 55 S. 880. ■ Dahl.
Herrn Lehrer S. in Hötensleben. — Schlangeneier
sind nicht leicht zu bestimmen, namentlich nicht nach
kurzen Angaben, die nichts Näheres über die Herkunft ent-
halten. Oft findet man weit entwickelte Embryonen im
Innern, in diesem Falle ist die Bestimmung leichter. Ich
empfehle Ihnen, sich an einen speziellen Kenner der Gruppe,
etwa an Herrn Prof. Dr. Tornier am Zool. Museum in Berlin
oder an Herrn Dr. F. Werner am Hofmuseum in Wien zu
wenden. Dahl.
Herrn M. Z. in Neu-Ruppin. — Zweifellos handelt es
sich an der betr. Stelle von Darwin's Reisetagebuch um
Blitzröhren, d. h. durch den Blitz erzeugte Verglasungen des
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Bucbdr.), Natunburg a. S.
Einschliefslich der Zeitschrift „DlC NatUT" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Heue Folge 111. Band;
der ganzen Reibe XIX. Band.
Sonntag, den 18. Dezember 1904.
Nr. 64.
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und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
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einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
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Konchyliometrie.
Die Konchyliometrie ist ein Grenzgebiet zwischen
Zoologie und Mathematik, welches die Aufgabe
hat, die Windungsgesetze der Konchj-hen zu er-
mitteln. — Reinecke (i) ') sprach 181S zuerst den
Gedanken aus, daß es mögüch sein müsse, die
Windungsspirale der Schneckengehäuse geometrisch
zu konstruieren. Er sagt von der Apertur oder
dem Querschnitt der Windungen :
„in eius forma, quae canalis in spiram con-
voluti formam et proportiones simul subministrat,
totius testae forma quodammodo data est. Restaret
solum scire, quota cuiusque anfractus pars sequenti
inclusa sit, ut testam geometrice construere possi-
mus." (l, pag. 17.)
Um das Bildungsgesetz einer Schneckenschale
mathematisch zu formulieren, bedurfte es danach
nur einer metrischen Bestimmung des Vergröße-
rungsverhältnisses des Windungsquerschnittes. Diese
führte zuerst Moseley (2) 1838 aus und fand die
logarithmische Spirale
r ^= a-e (I)
Von Kurt Hucke.
als geometrische Form der Windungskurve. Mose-
ley stellte sich das Schneckengehäuse als eine Art
von Rotationsgebilde vor, entstanden durch die
Umdrehung einer geometrischen Figur (der Genera-
trix) um eine feste Achse (die Spindel des Kon-
chyls), doch so, daß die Generatrix, sich selbst
') Die eingeklammerten Ziffern beziehen sich auf die
Literaturangabe am Schluß des Aufsatzes.
Xautilus pompilius. (Nach Moseley.)
lOIO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. in. Nr. 64
ähnlich bleibend, ihre Dimensionen allmählich ver-
größert und dabei ihre Lage zur Achse in be-
stimmter Weise verändert. Figur i und 2. So
entstehen z. B. durch Rotation eines Dreiecks die
Koniden, Trochiden etc., Nautilus pompilius durch
die Rotation einer halben Ellipse um ihre kleine
Fi". 2. Trochi, Murices, Turbincs Strombi. (Nach Moseley.)
Achse, die Cypraeenschale stellt sich dar als Rota-
tionsoberfläche einer ellipsenähnlichen Kurve um
ihre große Achse usw. Nimmt man die 5-Achse
zur Rotationsachse, so ist die Schnittfigur des pro-
jizierenden Zylinders der Windungskurve mit der
Ebene z^=0 eine logarithmische Spirale. Die
wesentlichen Eigenschaften dieser transzendenten
Kurve sind die, daß ihre Radien und Diameter
eine geometrische Reihe bilden und ihr Anfangs-
punkt ein asymptotisclier Punkt ist. Ihr Tangential-
winkel d ist konstant. Die Größe x in (I) ist
gleich cotang i)-.
Im Jahre 1S44 untersuchte dann Heis (7) den
Papiernautilus, Argonauta Argo, auf sein Windungs-
gesetz. Er fand
r=«.</)2 (II)
als mathematisches Gesetz der Kielspirale und be-
zeichnete letztere mit dem Namen der parabolischen
Spirale.
Einen weiteren Fortschritt in der Entwicklung
der Konchyliometrie bedeutete eine größere Ab-
handlung Naumanns aus dem Jahre 1846 (9). Im
Gegensatz zu Moseley schlug Naumann ein neues
Windungsgesetz, die von ihm benannte Koncho-
spirale, Figur 3, mit der Gleichung
(III)
Fig. 3. Konchospirale,
=^ 2,0.
chyliometer, einen Apparat für konchyliometrische
Messungen, der aus einer Art von Teilmaschine
mit drehbarem Tisch besteht. Naumann wurde
zur Einführung seiner Konchospirale veranlaßt
durch die mangelhafte Übereinstimmung, die
zwischen den Messungsresultaten und der Theorie
der logarithmischen Spirale herrschte. Hei der
Konchospirale bilden die singulodistanten Radien,
d. h. die Radien, deren Azimuthe sich um 360"
unterscheiden, eine geometrische Reihe. Die Kon-
stante / in (III) ist der Quotient dieser Reihe und
heißt Windungsquotient. Die Variable v bezeichnet
den Winkel, den der Radius Vektor mit der Null-
richtung bildet, und a ist der erste Radius oder
Parameter. Die Konchospirale hat ihren Anfangs-
punkt im Mittelpimkt und besitzt keinen kon-
stanten Tangentialwinkel. — 2 Jahre später mo-
difizierte Naumann (10) seine Konchospirale in die
zyklozentrische Konchospirale Figur 4,
^ p—i '^
(IV)
wo ;// = — gesetzt ist. Diese Linie bildet sich
2n ^
vor, arbeitete praktische Methoden zur Ermittlung
ihrer Elemente aus und konstruierte das Kon-
Fig. 4. Zylilozentrische Koncliospirale.
X = 0,5. a = 0,5. p = 2,0.
wie die einfache Konchospirale um den Zentral-
nukleus der .Schnecke als einen Kreis mit dem
Radius 0. Die Größe u nennt Naumann den
Archiradius. Die zyklozentrische Konchos]jirale
enthält die logarithmische Spirale als Spezialfall,
denn für a= wird (IV):
p-i ^ >
r =:^ a-p
In der Natur nachgewiesen wurde die zyklo-
zentrische Konchospirale 1852 von Naumann an
Planorbis corneus (Figur 5). Diese Schnecke ist
triplospiral, sie verfolgt also nacheinander 3 ver-
schiedene Windungsgesetze; zuerst eine logarith-
mische Spirale in 2'/., Windungen mit dem Quo-
tienten 3, dann folgen 3 Windungen nach der
zyklozentrischen Konchospirale mit dem Quo-
tienten 2 und dem Archiradius 2, die endlich in
eine dritte Spirale mit dem WindungS(]uolienten f
übergehen (13). — Später gab Naumann (18) die
N. F. in. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
lOII
zyklozcntrische Konchospirale wieder auf, da sie
sich nur an Planorbis corneus und Ammonites
galeatus bestätigte, und kehrte zur einfachen Koncho-
spirale zurück. Bei der Untersuchung einiger Plan-
orben konnte Lehmann 1856 den Zentralnukleus
überhaupt nicht auffinden (17). Dabei erwähnt
Lehmann, ohne näher darauf einzugehen, daß bei
Fig. 5. Stark vergrößerte Milte eines zentralen Quersclinitles
durch Planorliis corneus, den Zentralnukleus zeigend. (Nach
Naumann.)
Planorbis spirorbis Müller und Planorbis contortus
Müller der Quotient der singulodistanten Windungs-
abstände variabel, ihre Differenz aber konstant sei.
Daraus läßt sich ein neues Windungsgesetz ab-
leiten. In diesem Falle schreiten nämlich die
singulodistanten Radien nach einer arithmetischen
Progression fort. Rezeichnet man den Windungs-
abstand allgemein mit h, seinen Zuwachs mit d,
den Winkel gegen die Nullrichtung mit v und den
ersten Radius mit a, so wird für
t; = o • 2 TT h^= a
ZI = l -iTT /i = a -{- 1/
■;' = 2 ■ 2 n li = a -\- 2 d
V = {ni—l)-2TT
Danach ist der Radius
dungsabstand
h = a -\- {in — i) (/
r für den 111^"' Win-
Dder
wenn man
2a-\-{7n — \)d
seinen Wert einsetzt :
für
V -\- 2nl . V
2 7t
( a + — d
\ 4 TT
(V)
Historisch sind also im ganzen 5 verschiedene
Windungsgesetze beobachtet worden. Davon stehen
(II) und (V) nur vereinzelt da, und die zyklo-
zcntrische Konchospirale (IV) hat Naumann selbst
aufgegeben. Es bleiben daher nur noch die loga-
rithmische Spirale (I) und die einfache Koncho-
spirale (III), die sich den Rang um die Realität
in der Natur streitig machen könnten. In der Tat
sind viele Messungen ausgeführt worden, um eine
der beiden Kurven als wahres Windungsgesetz der
Konchylien nachzuweisen. In Deutschland waren
es Müller (12, 14, 15) und Sandberger (16), die
für Goniatiten, Clymenien und Ammoniten aus-
schließlich die logarithmische Spirale ermittelten,
während Naumann (g, 10, II, 13, 18) und Leh-
mann (17) die Konchospirale durch Messungen zu
bestätigen suchten. In England gab Macalister (21)
der logarithmischen Spirale den Vorzug. Da stellte
sich Grabau die interessante Frage, ob es, wenn
auch nicht theoretisch , so doch praktisch mög-
lich sei, die logarithmische Spirale mit der Koncho-
spirale zu verwechseln oder umgekehrt. In seiner
1872 erschienenen Doktorarbeit (22) beantwortete
er diese F'rage dahin, daß eine derartige Ver-
wechslung auf Grund der Daten von praktischen
Messungen sehr wohl vorkommen könnte. Damit
war der Konkurrenz der beiden Windungsgesetze
der Boden entzogen, und wenn auch Grabau an
der Konchospirale festhielt, so bemerkte Blake
1878 (23) und wohl mit Recht, daß die Größe der
Beobachtungsfehler eine strenge Entscheidung über
die Realität der Konchospirale nicht gestatte, und
es daher besser sei, die logarithmische Spirale zu
bevorzugen , deren mathematische Theorie bei
weitem nicht so kompliziert ist als die der Koncho-
spirale. Während dann Blake (23) die Moseley-
sche Theorie weiter ausbaute, machte Grabau 1881
und 1882 noch einige \^ersuche, die Naumann'sche
Konchospirale zu verifizieren (24, 25).
Die folgende Tabelle gibt eine t'bersicht über
die Größe des Windungsquotienten einiger Kon-
chylien.
Haliotis viridis lO.o
Nautilus pompilius 3.0
Dolium zonatum 2.t nach
Euomphalus pentangulatus 2.0 Macalister
Conus betulinus, 1.43 (21)
Conus literatus 1.4
Conus virgo 1.2^
nach
Müller
(12, 14)
1-5
1-5
1-5
'•5
1-5
1-33
1-33
1-5
2.5
1.5 I nach Nau-
1.5 ' mann (9)
2S I , "^^h
^ „ ( Lehmann
Clymenia compressa
Clymenia binodosa
Clymenia arietina
Clymenia undulata '
Clymenia striata
Clymenia laevigata
Clymenia pseudogoniatites
Goniatites bifer
Goniatites carinatus
Helix nemoralis
Solarium perspectivum
Planorbis carinatus Müller
Planorbis marginatus Drap.
Planorbis submarginatus Charp.
Planorbis contrarius L.
Der praktische Wert der Konchyliometrie ist
vielfach überschätzt worden. So schlug Lehmann ( 1 7)
eine neue Art der Benennung und Unterscheidung
fossiler Planorbisarten nach der Anzahl der Win-
dungen vor, die sich jedoch nicht eingebürgert hat.
Noch weiter ging Goodsir in einem 1868 er-
schienenen Vortrage (19). Nach seiner Meinung
würde es dahin kommen, daß der Naturforscher
die .Schnecken nach ihrem Windungsgesetz klassi-
fiziert, ebenso wie etwa die Kristalle nach be-
stimmten mathematischen Gesichtspunkten einge-
teilt werden. An Stelle der üblichen Artendiagnosen
würden dann eine mathematische Formel oder die
Zahlenwerte einiger Konstanten treten. Goodsir's
Prophezeiung ist nicht eingetroffen, und Moseley
den Goodsir wegen der Begründung der Kon-
IOI2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. IIL Nr. 64
chyliometrie mit Newton auf eine Stufe stellte, hat
keine Berühmtheit erlangt. Es muß auch in der
Tat als aussichtslos erscheinen, die natürliche und
ungezwungene Beschreibung der äußeren Merk-
male eines MoUusks ersetzen zu wollen durch die
Angabe der mathematischen Elemente seiner Win-
dungsspirale, welche erst durch langwierige Mes-
sungen und Rechnungen ermittelt werden müssen,
wozu es meist auch einer Zerstörung des betreffen-
den Konchyls durch Anschleifen bedarf. Das Inter-
esse, das die Konchyliometrie bietet, ist viel-
mehr lediglich ein theoretisches. Seit nämlich
V. Möller 1878 (27) an den spiralgewundenen Fora-
miniferen des russischen Kohlenkalks (Fusulina,
Schwagerina, Bradyina, Cribrospira etc.) die Nau-
mann'sche zyklozentrische Konchospirale nach-
wies, lag der Gedanke nahe, daß die spiralige Auf-
rollung nach einem bestimmten Windungsgesetz
nicht in der Natur der betreffenden Organismen
begründet ist, welche ja voneinander grundver-
schieden sind, sondern ihre Ursache in den Ver-
hältnissen der Außenwelt hat und physikalischen
Gesetzen folgt (28). Ein analoger Fall liegt in
der Ähnlichkeit des Wirbeltierauges mit dem des
Tintenfisches vor: in beiden Tierstämmen, die sich
völlig unabhängig voneinander entvi^ickelt haben,
hat dieselbe Naturkraft dasselbe Organ erweckt.
— Die Beantwortung der Frage, welches die me-
chanischen Gesetze sind, welche die Form der
Windungsspirale bei Konchylien und Foramini-
feren bedingen, muß späteren physikalischen und
mathematischen Untersuchungen vorbehalten
bleiben.
Literatur.
1. Reinecke, Maris protogaei Nautili 18 18.
2. Moseley, On the geometrical forms of turbinated and
discoid Shells. Philos. Trans. 1838 p. 351.
3. Naumann, Beitrag zur Konchyliometrie. Pogg. Ann.
Bd. 50, p. 22^. 1840.
4. Naumann, Über die Spiralen der Ammoniten. Pogg.
Ann. Bd. 51, p. 245. 1840.
5. Burhenne, Über Messung der Konchylien. 5. Jabrcsber.
des Vcr. f. Naturk. in Kassel p. 10. 1841.
6. Moseley, On conchyliometrie. Philos. Mag. Bd. 21,
p. 300. 1842.
7- Ileis, Über die mathematische Form des Kiels des Papier-
nautilus. Verh. d. naturhist. Ver. d. preußischen Rhein-
lande Bd. I, p. 23. 1844.
8. Naumann, Über die wahre Spirale der Ammoniten.
l'ogg. .Ann. Bd. 64, p. 538. 184:;.
9. Ders. , Über die Spiralen der Konchylien. Abh. bei Be-
gründung d. königl. Sachs. Ges. d. Wiss., p. 153. 1846.
10. Ders., Über die cyklocentrische Konchospirale und das
Windungsgesetz von Planorbis corneus. Verh, d. königl.
Sachs. Ges. d. Wiss. Bd. i, p. 164. 1848.
u. IJers., Über die logarithmische Spirale von Nautilus pom-
pilius und Ammonites galeatus. Sitzungsber. der königl.
Sachs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig Bd. 2, p. 26. 1848.
12. Müller, Beitrag zur Konchyliometrie. Pogg. Ann. Bd. 81,
p. 533. 1850.
13. Naumann, Über die cyklocentrische Konchospirale als
Windungsgesetz von Planorbis corneus. Abh. d. sächs.
Ges. d. Wiss. I. math.-phys. Kl. Bd. i, p. 171. 1S52.
14. Müller, Zweiter Beitrag zur Konchyliometrie. Pogg.
Ann. Bd. 90, p. 323. 1853.
15. Ders., Über Konchyliometrie. Jahresber. d. Ver. f. Natur-
kunde im Herzogt. Nassau. Heft 9, Abt. 2, p.87. 1853.
16. Sandberger, Clymenia subnautilina. Jahresber. des
Vcr. f. Naturk. im Herzogt. Nassau. Heft 10, p. 127.
1855.
17. Lehmann, Die v. Seyfried'sche Konchyliensammlung
und das Windungsgesefz von einigen Planorben. Constanz-
1856.
18. Naumann, Über die innere Spirale von Ammonites
Ramsaueri. Ber. über d. Verh. d. königl. sächs. Ges. d.
Wiss. Math.-phys. Kl. Bd. 16, p. 21. 1864.
19. Goodsir, On the employement of mathematical modes
of investigation in the determination of organic forms.
The Anatom. Mem. of John Goodsir. Vol. II, p. 205.
i868.
20. Macalis ter, On the law of symmetry as exemplitied in
animal forms. The Journ. of the Royal Dublin Society.
No. 38, p. 327. 1869.
21. Ders., Observations on the mode of growth of discoid
and turbinated Shells. Ann. of nat. bist. IV, series VI,
p. 260. 1870.
22. Grab au, Über die Naumann'sche Konchospirale und
ihre Bedeutung für die Konchyliometrie. Inaugural-
Dissertation. Leipzig 1872.
23. Blake, On the measurement of the curves formed by
Cephalopods and other Mollusks. Philus. Mag. V. series.
Bd. 6, p. 241. 187S.
24. Grabau, Über die Naumann'sche Konchospirale. Sitz.-
Ber. d. naturf. Ges. Leipzig, p. 23. 18S1.
25. Ders., Über die Spiralen der Konchylien mit besonderer
Bezugnahme auf die Naumann'sche Konchospirale. Leipzig
1882.
26. Gino Loria, Spezielle algebraische und transzendente
ebene Kurven p. 456. Leipzig 1902.
27. V. Möller, Die spiralgewundenen Foraminiferen des
russischen Kohlenkalkes. Mem. de l'Ac. de St. Petersb.
Tome XXV, Nr. 9. 1878.
28. Dreyer, Betrachtungen über den Bau der Rhizopoden-
schalen. Biolog. Zentralbl. Bd. g, p. 333. 1889/90.
Unsere gegenwärtigen Kenntnisse über Radioaktivität.
[Nachdruck verboten.'
Sammelreferat von Dr
Wärmewirkung der Radiumstrahlen.
Es ist aus den früheren Berichten bekannt,
daß jedes Radiumpräparat eine ziemlich beträcht-
liche Wärmemenge entwickelt, so daß das Salz
unter manchen Umständen bis zu 3" wärmer sein
kann als seine Umgebung. Diese innerhalb eines
bestimmten Zeitraums ausgegebene Wärmemenge
läßt sich dadurch bestimmen, daß man die Menge
Eis mißt, welche in dieser Zeit geschmolzen werden
A. Becker in Kiel. (Schluß.)
kann, oder daß man beoachtet, welches Gasvolumen
sich zu bilden vermag, wenn die vom aktiven Salz
abgegebene Wärme zur Verdampfung eines ver-
flüssigten Gases, z. B. von flüssigem Wasserstoff,
verwendet wird. Nimmt man an, daß die emit-
tierte Wärmemenge mit der im Präparat vor-
handenen Masse des Radiumelements proportional
zunimmt, so findet man aus diesen Experimenten,
daß die Wärmeproduktion für i g reines Radium
nahe 98,5 Kalorien in der Stunde beträgt, d. h.
N. F. m. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1013
daß mit der freigewordenen Wärmemenge gerade
I g Wasser um 98,5 oder nahezu 100" erwärmt
werden könnte. Nun hat Paschen gezeigt, daß
die gemessene Wärmemenge noch bedeutend
größer wird, wenn das Präparat in einen dictcen
Bleiklotz eingeschlossen ist, und zwar kann in
diesem Falle die Produktion nahe 224,6 Kai. pro
Stunde erreichen.
Wenn nach der Ursache dieser großen Wärnie-
produktion gefragt wird, so liegt die Annahme
nahe, daß sie herrühren müsse von der Energie
der ausgesandten Strahlteilchen, so daß sie also
überall da auftreten wird, wo die Teilchen ihre
Energie verlieren, d. h. wo sie absorbiert werden.
Es ist ja bekannt, daß jede Arbeits- oder Energie-
größe einfach in eine Wärmemenge verwandelbar
ist und zwar in der Weise, daß immer i Kai. zu
gewinnen ist bei Aufwendung einer Arbeit von
427 g auf I Meter. Wollen wir somit ermitteln,
welcher von den 3 Strahlengattungen nun in be-
sonderem Maße die Wärmelieferung zuzuschreiben
ist, so genügt es, die von jeder Gattung mitge-
führte Energie zu berechnen, wie wir es in ähn-
licher Weise oben zur Ermittlung der ausgestrahlten
Masse getan haben. Eines ist dabei von vorn-
herein ersichtlich. Da, wie oben gezeigt, die
Wärmeproduktion beträchtlich zunimmt, wenn das
Präparat mit einer dicken absorbierenden Blei-
schicht umgeben ist, so kann gefolgert werden,
daß die Zunahme der Erwärmung herrühre von
der abgegebenen Energie solcher Strahlen, die
ohne die Bleihülle nicht im Meßapparat zurück-
gehalten wurden, d. h. von den von Paschen
studierten äußerst durchdringlichen j'-StrahJen. Die
Ausrechnung ergibt, daß von der von i g Radium
gelieferten Wärmemenge allein 126,1 Kai. pro
Stunde auf Rechnung der ;'-Strahlen kommen. Es
bleibt zu beantworten, welcher Energie die übrige
Wärmemenge von 98,5 Kai. zu verdanken ist. Be-
rechnen wir zu diesem Zweck die von den (i-
Strahlen getragene Energie, so ergibt sich, daß
diese nur 0,37 Kai. pro Stunde etwa zu liefern
vermöchte; die /:(- .Strahlen spielen demnach bei
diesem Vorgang eine sehr untergeordnete Rolle.
Paschen glaubt, daß die 98,5 Kai. solchen y-
Strahlen zuzuschreiben seien, welche im Innern
des Radiums entstehen und durch die hohen dort
vorhandenen elektrischen Felder verlangsamt und
absorbiert werden. Wahrscheinlicher ist dagegen,
daß, wie Rutherford annimmt, die Erwärmung
durch das innere Bombardement der mit großer
Masse begabten a-Teilchen hervorgerufen wird,
deren kinetische Energie in der Tat auszureichen
scheint, einen so großen Effekt hervorzubringen.
Es wird sich diese Ansicht auch durch späterhin
zu machende Angaben bestätigen.
Es geht also auch aus diesen Erwägungen her-
vor, daß zwar die Erscheinung einer dauernden
und spontanen großen Wärmeproduktion eine recht
wunderbare ist, daß sie aber vollauf erklärt ist
durch die Energien, die in den emittierten Strahlen
transportiert werden.
Die Emanation.
Während die im Vorhergehenden beschriebenen
Eigenschaften der radioaktiven Körper im wesent-
lichen durch klare Anschauungen interpretiert wer-
den können, ist das Wesen der Emanation bisher
trotz zahlreicher Untersuchungen noch nicht er-
schöpfend und einwandsfrei erkannt.
Radium, Thor und Aktinium haben die Eigen-
schaft, nach außen noch anderweitig zu wirken
als durch die von ihnen ausgesandten Becquerel-
strahlen. Sie teilen allmählich den in ihrer Nach-
barschaft befindlichen Körpern ihre radioaktiven
Eigenschaften mit, und diese senden dann ihrer-
seits Becquerelstrahlen aus. Die Aktivität kann
in dieser Weise auf Gase, Flüssigkeiten und feste
Körper übertragen werden, und dies ist das Phä-
nomen der induzierten Radioaktivität.
Entfernt man den aktivierten Körper von dem
radioaktiven, so bleibt die auf diesem Körper in-
duzierte Radioaktivität eine gewisse Zeit lang weiter
bestehen ; sie nimmt indessen nach und nach ab
und erlischt endlich ganz. Zur Erklärung dieser
Erscheinung macht Rutherford die Annahme,
daß Radium oder Thor beständig ein materielles,
radioaktives, unbeständiges Gas abgeben, welches
er Emanation nennt. Diese Emanation ver-
breitet sich in dem Gase, welches den radioaktiven
Körper umgibt; sie vernichtet sich selbst allmählich,
indem sie Becquerelstrahlen aussendet und andere,
unbeständige, radioaktive, materielle Körper hervor-
bringt, welche nicht flüchtig sind; diese neuen
Materien würden sich an der Oberfläche der festen
Körper festsetzen und diese radioaktiv machen.
Es ist schon in den letzten Berichten in dieser
Zeitschrift das Wesen dieser PImanation eingehend
erörtert worden. Als wesentlicher Inhalt dieser
Erörterungen ist der Nachweis hervorzuheben, daß
es sich bei der Emanation tatsächlich um einen
Stoff handelt, der alle Eigenschaften eines Gases
besitzt und zwar eines äußerst trägen Gases, wie
wir solche in der neuesten Zeit im Argon, Helium
usw. kennen gelernt haben. Sie widersteht der
Itinwirkung elektrischer P'unken in Gegenwart von
Sauerstoff und Alkali, oder der Einwirkung einer
erhitzten Mischung von Kalk und Magnesiumpulver.
Sie bildet sich unausgesetzt aus dem Radiumsalz, ver-
mag aber Körper ohne Poren nicht zu durchdringen.
In der Euft diffundiert sie wie irgend ein anderes
Gas, und zwar ist nach der Größe des Diffusions-
koeffizienten anzunehmen, daß ihr Atomgewicht,
wenn von einem solchen gesprochen werden darf,
zwischen 100 und 160 liegen muß. Von Flüssig-
keiten wird die Emanation ebenso absorbiert wie
ein Gas so lange, bis sich ein Gleichgewichtszustand
zwischen Partialdruck bzw. der Konzentration in
Luft und Flüssigkeit hergestellt hat. Bei etwa
— 150" verdichtet sie sich und kann so lange in
einer Kühlröhre festgehalten werden , ohne daß
sie sich mit dem übrigen Gas misclit.
Die Emanation sendet nur «-Strahlen aus und
ist daher leicht durch ihr großes ionisierendes
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 64
Vermögen nachweisbar. Sie selbst ist nach ein-
gehenden Untersuchungen von Rutherford und
McClelland (1904) ungeladen. Deshalb ist das
von Rutherford zuerst beobachtete Phänomen, daß
sich die Emanation auf stark negativ geladenen
Körpern stärker absetzt als auf ungeladenen, noch
unerklärbar.
Wird ein mit Emanation beladenes beliebiges
Gas in ein Glasgefäß eingeschmolzen, so daß keine
Kommunikation mit der äußeren Luft möglich ist,
so konstatiert man ein langsames Verschwinden
der Emanation mit der Zeit. Aus zahlreichen
Beobachtungen geht hervor, daß dieses Verschwinden
in allen Fällen nach einem strengen Exponential-
gesetz von der Form J = Jge^"' erfolgt, wenn
J die zur Zeit t noch vorhandene und Jq die ur-
sprünglich vorhandene Emanationsmenge darstellt.
a ist ein Zahlenkoeffizient, der sich zu 2,01 y:[ 10 ~''
hat bestimmen lassen, wenn als Zeiteinheit die
Sekunde genommen wird. Es ergibt sich daraus,
daß die Emanatiunsmenge in etwa 4 Tagen je-
weils um die Hälfte zurückgeht.
In gleicher Weise wie für Radium wird auch
für die von Thor ausgegebene Emanation ein
Verschwinden konstatiert, ebenfalls nach einem
Exponentialgesetz , dessen Koefizient a aber er-
heblich größer ist. Das Verschwinden erfolgt
weit schneller als oben für Radium mitgeteilt; die
Emanationsmenge des Thors vermindert sich schon
in I IVIinute und 10 Sekunden auf die Hälfte.
Während sich die Radiumemanation fast gleich-
mäßig auf einen großen Raum verbreitet, findet
sich die Thoremanation unter den gleichen Um-
ständen nur in der Nachbarschaft des Präparats
angesammelt, weil sie von selbst verschwindet,
bevor sie Zeit findet, auf merkbare Entfernung in
die Luft hinein zu diffundieren. Der Konden-
sationswert für Thoremanation beträgt — 120".
Aktinium sendet eine Emanation aus, welche
eine sehr intensive Strahlung liefert ; diese Emanation
verschwindet indes spontan mit einer außerordent-
lichen Schnelligkeit; sie nimmt auf die Hälfte ab
in einem Zeitraum von etwa einer Sekunde. Des-
halb kann sich die Aktiniumemanation in Luft
von Atmosphärendruck nicht weiter ausbreiten
als auf 7 — 8 mm Entfernung von der aktiven
Substanz.
Wenn ein fester Körper, der durch Emanation
aktiviert worden ist, sich in freier Luft entakti-
viert, so hängt das Gesetz der Entaktivierung von
der Zeit ab, während welcher der Körper mit der
Emanation in Berührung gewesen ist. Nach einem
einfachen Exponentialgesetz verläuft die Entakti-
vierung nur dann, wenn die Einwirkungsdauer der
Emanation mindestens 1'., Stunden betrug; dann
nimmt die Aktivität für Radium während einer
Periode von 28 Minuten um die Hälfte ab. Für
die von Thor induzierte Radioaktivität beträgt
diese Periode 1 1 Stunden und für Aktinium 36
Minuten.
Es ist bemerkenswert, daß diese konstanten
Werte unter den verschiedensten LImständen un-
veränderlich zu bleiben scheinen. Die oben an-
gegebenen Zeiten für das Verschwinden der Ema-
nation oder der induzierten Radioaktivität bleiben
genau dieselben, welches auch die Versuchs-
bedingungen sein mögen und welches auch die
Temperatur sei zwischen — 180" und -(-450"; die
Schnelligkeit des Verschwindens ist dieselbe, ob
die Emanation sich im Gaszustand befindet oder
im kondensierten Zustand (— 180"). Aus diesem
Grunde gestatten die Zeitkonstanten der Radio-
aktivität eine genaue Charakterisierung der Natur
der verschiedenen radioaktiven Körper, die in
vielen Fällen durch chemische Reaktionen nicht
mehr charakterisiert werden können.
Die Erfahrung von dem allmählichen \'er-
schwinden der Emanation ist geeignet, eine früher
konstatierte Tatsache zu erklären, daß nämlich die
Aktivität eines frisch bereiteten Radiumsalzes an-
fänglich zunimmt. Man kann annehmen, daß das
Salz kontinuierlich Emanation abgibt, daß aber
die ersten Mengen dieser Emanation im Salz selbst
okkludiert bleiben und dort durch Hervorrufung
induzierter Radioaktivität die Stärke des Salzes
vergrößern werden. Der Gleichgewichtszustand,
d. h. konstante Aktivität des Präparats wird dann
erreicht sein, wenn die sich beständig neu bildende
Emanationsmenge gerade ebenso groß ist als die
in jetlem Augenblick verschwindende. Wird das
Salz aufgelöst oder stark erhitzt, so wird die
okkludierte Emanation ausgetrieben, und das Salz
ist dann für einige Zeit wieder weniger stark
aktiv. Dieses Verfahren zur Entfernung der Ema-
nation haben Rutherford und Barnes angewandt,
um zu untersuchen, ob die von einem Radiumsalz
emittierte Wärmemenge von der Emanation ab-
hängig wäre. Zu diesem Zweck wurde die durch
Erhitzen fortgetriebene Emanation bei der Tem-
peratur der flüssigen Luft kondensiert und in ein
Glasröhrchen eingeschmolzen. Dann ergab sich,
daß die Wärmeabgabe des entemanierten Radiums
wäiirend der ersten Stunden stark auf ein Minimum
von etwa 30 "/„ herabging und dann langsam wieder
stieg, während die Wärmewirkung der Emanation
bis zu einem Maximum von 70 "/o anstieg, um
darauf langsam abzunehmen. Daraus geht hervor,
daß ein sehr grol3er Prozentsatz der abgegebenen
Wärmemenge eine Folge der Existenz von «-Strahlen
ist, die ja von der Emanation besonders ausge-
strahlt werden. Dies Resultat ist im Einklang
mit früheren Überlegungen.
Die über die Emanation bekannten Tatsachen,
wie sie in Kürze mitgeteilt wurden, legen eine
große Zahl von Fragen theoretischer Natur nahe.
Sind doch besonders die Erscheinungen des kon-
tinuierlichen Auftretens und des spurlosen Ver-
schwindens dieses eigenartigen Stoffes so über-
raschend und scheinbar mit all unseren sonstigen
Kenntnissen vom Wesen der Materie direkt un-
vereinbar. Es ist daher nicht zu verwundern, daß
die verschiedenen Beobachter, die uns das teil-
weise unverständliche Wirken der radioaktiven
Stoffe soweit erläutert haben, nun als ihre wich-
N. F. m. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
1015
tlgste Aufgabe diejenige betrachten mußten, uns
von dem Scheidewege fortzuführen, an dem wir
stehen, um uns die Gewißheit zu geben, daß
wir entweder ein Land neuer Erl<enntnisse be-
treten oder daß wir auf einem vielverschlungenen
und oftmals aussichtslosen Pfad reicher an Er-
fahrung heimkehren in das sichere Land alter
Wahrheiten. Und so gilt es nun vor allem, die
Fragen zu beantworten, woher kommt die Ema-
nation, was ist sie und was wird sie!?
Unzweifelhaft ist die Annahme berechtigt, daß
sich die Stoffe, die wir als primär radioaktive
ansprechen, in einem kontinuierlichen langsamen
Zerfall befinden, daß sie sich in andere Produkte
umwandeln und dabei eine ziemlich beträchtliche
Energie verausgaben, die wir wenigstens der Größen-
ordnung nach berechnen können und annähernd
im Einklang finden mit der durch das Experiment
ermittelten Wärmemenge, die dauernd auftritt.
Da aller Wahrscheinlichkeit nach die besprochenen
Erscheinungen nur abhängen von der Existenz
eines bestimmten Elements in dem aktiven Präparat,
sagen wir z. B. des Radiums, so erweitert sich
die obige Annahme dahin, daß das Atom dieses
Elements als ein unstabiles anzusehen ist, das lang-
sam in Zerfall geht. Wir haben in einer früheren
Besprechung in dieser Zeitschrift über die Kon-
stitution der Materie Tatsachen angeführt, die uns
an die Zusammengesetztheit des chemischen Atoms
glauben lassen; und sonach wäre es immerhin
noch verständlich, einen Fall zu finden, in dem
eine Zersplitterung des Atoms in seine Grund-
bestandteile einträte. F'assen wir dann die Ema-
nation als einen solchen Bruchteil des Atoms auf,
so wäre es wohl noch erklärlich, warum dieses
materielle Etwas der Einwirkung irgend welcher
chemischen Reagenzien sich widersetzt. Haben
wir doch auch bei allen chemischen Prozessen
immer nur eine gegenseitige Bindung ganzer
Atome, während die Konstitution eines einzelnen
Atoms, d. h. die Grundbestandteile desselben nie-
mals aft'iziert werden. Der Zerfall des Radium-
atoms könnte nun plötzlich oder nur allmählich
vor sich gehen, und man könnte sich einigermaßen
eine Vorstellung von diesem Vorgang machen,
wenn die Menge Emanation bekannt wäre, die
von einer gegebenen Radiummenge emittiert wird.
Ramsa)- und Soddy haben zu diesem Zweck
in diesem Jahre die von einer kleinen Menge
Radiumbromid gelieferte Emanation in einer mit
flüssiger Luft gekühlten Röhre kondensiert und
darauf nach völligem Entfernen aller Begleitgase
das Volumen derselben gemessen. Nach einer
einfachen LImrechnung findet sich, daß die von
I gr Radium pro Sekunde erzeugte Emanation
etwa 3 ■ lo~'^' cmm beträgt. Nimmt man dann
das Atomgewicht') zu etwa 160 an, so kann
I Atom Radium vom Atomgewicht 223 nicht
mehr als i Atom Emanation hervorbringen. Um
') Es ist hier der Einfachheit halber die Emanation als
einatomiges Gas gedacht.
das Verhältnis der Emanationsmenge und der
Menge des erzeugenden Radiums zu bestimmen,
ist es nötig, das Volumen zu kennen, welches
von Radium in der Form eines einatomigen Gases
eingenommen wird ; dies beträgt für i g Radium
lo'' cmm. Das Verhältnis beider Mengen oder
das Umwandlungsverhältnis pro Sekunde ist da-
nach 3X io~" oder pro Jahr 9X lO"*, d. h.
etwas weniger als ein Tausendstel pro Jahr er-
fährt eine Umwandlung. Es würde danach die
durchschnittliche Lebensdauer des Radiumatoms
1000 bis 1 100 Jahre betragen.
Es ist nach dem Vorhergehenden anzunehmen,
daß der Zerfall des Radiumatoms ein äußerst
langsamer ist; die beim Zerfall frei werdende
Energie setzt sich wohl um in kinetische Energie
der ß- und y-Strahlen, während die unbeständigen
F^manationsteilchen bei ihrer langsamen Umwand-
lung reichlich «-Strahlung emittieren. Wenn auf
diese Weise der Ursprung der Emanation gegeben
wäre, hätten wir uns der Frage nach der Natur
derselben zuzuwenden. Wenn ihre Teilchen nur
Bruchstücke von Atomen sind, wie können sie
sich dann wie ein Gas messen lassen? Und wenn
sie ein Gas wäre, wie könnte man sich dessen
Entstehen erklären ? oder wie könnte man dessen
allmähliches Verschwinden deuten? Müssen wir
annehmen, daß hier das Gesetz von der Konstanz
der Materie durchbrochen wird, wo Atome ver-
schwinden, ohne weiterhin mit unseren Mitteln
nachweisbar zu werden? Daß der direkte Nach-
weis nicht möglich ist, haben wir schon früher
auf die Kleinheit der in absehbarer Zeit zerstörten
Masse zurückgeführt.
Nun besitzen wir in der Spektralanalyse ein
Mittel, die Existenz von Materie in fast unbegrenzt
kleiner Menge nachweisen zu können. Es lag
nahe, einer Beantwortung der gestellten Fragen
experimentell näher zu treten durch die Unter-
suchung des Spektrums der Emanation oder all-
gemein der beim Zerfall der Racliumatome ge-
bildeten Stoffe. Solche LTntersuchungen sind von
Ramsay und Soddy angestellt worden. Zunächst
haben sie die Zusammensetzung der Gase unter-
sucht, welche beim Auflösen eines Radiumsalzes
frei werden. Es ergab sich, daß diese der Llaupt-
sache nach aus Wasserstoff und -Sauerstoff be-
stehen, herrührend wahrscheinlich von der Zer-
setzung des Wassers ; meist trat auch das Spektrum
der Kohlensäure auf, die wohl durch Oxydation
von in den Apparaten vorkommendem F"ett ent-
stand. Wurden diese drei Gase möglichst voll-
ständig entfernt, so trat das Spektrum des Heliums
auf. Es war auf diese Weise nachgewiesen, daß
sich in den aus Radiumbromid freiwerdenden
Gasen Helium vorfindet. Von weit größerer Be-
deutung waren dann die folgenden Beobachtungen,
in denen die in einer Kühlröhre gesammelte und
von allen Begjeitgnsen freie Emanation in eine
kleine Vakuumröhre von kapillaren Dimen-
sionen überführt und spektroskopisch untersucht
wurde. Zunächst zeigte das beobachtete Spektrum
ioi6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 64
keine Spur von Helium, es war offenbar ein ganz
neues, der Emanation angehöriges. Nach einem
Stehen der Röhre während 4—5 Tagen erschienen
einige deutliche Heliumlinien, die täglich an Zahl
und Stärke zunahmen, so daß es nicht mehr
zweifelhaft sein konnte, daß sich in der Tat Helium
in der Vakuumröhre vorfand. Die Herren Ramsay
und Soddy schlössen daraus, daß sich die Ema-
nation bei ihrem langsamen Zerfall um-
bildet in Helium.
Es ist begreiflich, daß eine derartige Ent-
deckung, wonach zunächst ein Radiumatom vor-
liegt, welches langsam zerfällt, sich dabei in die
Emanation als Zwischenprodukt und diese sich
wieder in das bekannte Gas Helium verwandelt,
die größte Bewegung in der wissenschaftlichen
Welt hervorrufen mußte, und daß genug Stimmen
laut wurden, die nun die alte Ansicht von der
Unveränderlichkeit der Atome für abgetan er-
klärten. Wir haben zwar im obigen einen Zerfall
der Atome für möglich gehalten, müssen aber die
daran anknüpfende Frage, was mit dem zerfallenen
Atom wird, völlig offen lassen, da sich in keiner
Weise Andeutungen hierfür in der Erfahrung bisher
gezeigt haben. Wenn diese neuen Beobachtungen
lehren, daß ein Atom sich in ein anderes umzu-
bilden vermag, fällt damit die fundamentalste
Wahrheit der Chemie, und wir würden dann
vielleicht nicht mehr so sehr weit davon entfernt
sein, diese noch geheimnisvollen Kräfte uns dienst-
bar zu machen, die es vermögen, den festgefügten
Bau des Atoms zu zerstören und aus den Bruch-
stücken neue Atome aufzubauen. Ehe wir aber
uns zur Annahme der Existenz solcher Kräfte be-
kennen, müssen wir zuerst kritisch Schritt für
Schritt die Entdecker nochmal auf ihrem Weg
begleiten, der sie zu solchen Resultaten führte.
Es ist dabei in erster Linie eine Tatsache auf-
fällig, der vordem keinerlei Bedeutung beigelegt
wurde, daß nämlich die Ausgangsprodukte für die
Radiumsalzgewinnung in den meisten Fällen auch
nutzbar gemacht werden zur Gewinnung von
Helium. In welcher Weise das Helium in diesen
Substanzen sich vorfindet, ist nicht sicher bekannt.
Tatsache ist, daß es wohl infolge einer Art Ok-
klusion festgehalten wird, die aber eine äußerst
starke sein muß, weil es bekanntlich auch durch
stundenlanges Glühen eines solchen Minerals (z. B.
Cleveit) nicht gelingt, viel mehr als etwa 60 Pro-
zent der okkludierten HeHummenge auszutreiben.
Unter diesen Umständen ist es sehr wohl denk-
bar, daß geringe Mengen von Helium durch alle
die chemischen Prozesse hindurch mitgeführt wurden
und im schließUch restierenden Radiumsalz ver-
blieben. Wenn dann in den aus den Radium-
salzen freiwerdenden Gasen Spuren von Helium
nachweisbar wurden, ist das nicht sehr verwunder-
lich. Aber warum tritt dann das Heliumspektrum
in der Vakuumröhre erst nach mehreren Tag auf?
Es ist bekannt, daß in einem Gasgemisch es oft
unmöglich ist, das Spektrum des einen Gases zu
entdecken, solange der Prozentgehalt desselben
gegenüber demjenigen der Begleitgase ein sehr
geringer ist. Da in den ersten Tagen die Emana-
tion in großer Menge vorhanden ist, könnte an-
genommen werden, daß sie allein den elektrischen
Strom leitet, der das Gas erleuchtet, und daß das
Helium sich erst dann beteiligt, wenn schon eine
merkliche Menge der Emanation verschwunden ist,
d. h. nach mehreren Tagen. Von solchen Er-
wägungen ließen sich auch Himstedt und Meyer
leiten, die in diesem Jahre die Versuche von Ram-
say und Soddy wiederholten in der Weise, daß
sie das benutzte Radiumsalz längere Zeit im Vakuum
glühten, ehe sie die abgegebene Emanation sam-
melten. Es zeigten sich auch in diesem F"alle die
Heliumlinien, allerdings viel später nach dem Ab-
schmelzen ihrer Vakuumröhre. Aber auch jetzt
wäre noch an der Verwandlung der Emanation
in Helium zu zweifeln, wenn man nur annimmt
— was in der Tat für die Ausgangsmineralien zu-
trifft — daß das Radium etwa ähnlich stark das
Helium okkludiert hält wie Palladium z. B. den
Wasserstoff, so daß auch längeres Glühen die
letzten Spuren nicht zu entfernen vermag.
Solange demnach dieser wichtige Einwand gegen
die Entdeckung der Herren Ramsay und Soddy
besteht, haben wir keine Ursache, an alten Wahr-
heiten Anstoß zu nehmen, wenn neue Erschei-
nungen nicht völlig einwandfrei bewiesen sind.
Es bleiben hier weiteren Untersuchungen noch
eine ganze Zahl von wichtigen Aufgaben zu lösen,
ehe wir das Wesen der Radioaktivität klar zu er-
kennen vermögen; und ob unsere Hoffnungen auf
baldige Lösung der bestehenden Probleme so rasch
erfüllt werden dürften, kann einigermaßen in Frage
gestellt werden, da die P'orschungen an einer Stelle
angekommen sind, wo unsere anzuwendenden Hilfs-
mittel nur langsames Vorwärtskommen versprechen.
Die drei an den Anfang unserer letzten Aus-
führungen gestellten Fragen werden es nach wie
vor sein, deren Beantwortung uns den Schlüssel
gibt zum Verständnis von Erscheinungen, die als
Kraftäußerungen wohl der allerfundamentalsten
Bestandteile des materiellen Atoms aufzufassen
sind.
Kleinere Mitteilungen.
Den Gehörsinn der Wale erörtert auf Grund
einer ausführlichen anatomischen Untersuchung über
das Ohr des Braunfisches (Phocaena communis)
Georg Boenninghaus.ij Der Nachweis daß
ein Tier hört, kann einmal dadurch erbracht werden,
daß seine Reaktion auf Schallwellen festgestellt
wird, zweitens durch die Beobachtung, daß ihm
eine Stimme zukommt, und drittens durch die
Zool. Jahrbücher. Abt. für Anatomie. 19. Bd. 1904.
N. F. ra. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1017
Darlegung eines Sinnesorganes, welches unserem
eigenen Gehörorgan im wesentlichen entspricht.
Eine Reaktion der Wale auf Schallwellen scheint
nun in der Tat insofern vorhanden zu sein, als es
wiederholt beobachtete Tatsachen sind, daß
man jeden Laut beim Annähern an einen Wal
vermeiden mu^ß, wenn man ihn erfolgreich jagen
will, wogegen man mit lautem Lärmen eine Herde
gegen das Land zu treiben vermag. Es müssen
allerdings alle diese Geräusche im Wasser statt-
finden, um eine Reaktion hervorzurufen. Recht
unsicher sind die Angaben über eine Stimme der
Wale. Als solche können nur solche Töne be-
zeichnet werden, die mit der Absicht erzeugt
werden, daß andere Geschöpfe der gleichen Art
sie vernehmen. Mit Bestimmtheit wissen wir von
solchen nur beim Buckelwal , insofern dieselben
zur Brunstzeit ein lautes Geheul ausstoßen, welches
wie mächtige Dampfsirenen klingt und die ganze
Tonskala durchläuft, indem es mit tiefen Tönen
beginnt, zu sehr hohen ansteigt und wieder zu
tiefen Tönen herabsinkt. Wertvoller als diese
immerhin unsicheren biologischen Beobachtungen
sind aber nun die anatomischen Befunde. Zwar
ist das äußere Ohr vollständig reduziert, und nur
noch in Rudimenten der Ohrmuskeln und des
Ohrknorpels erhalten , das innere Ohr dagegen,
welches durch den Gehörgang mit der einfachen,
äußeren Öffnung in der Kopfhaut in Verbindung
steht, weist eine sehr hohe, den übrigen Säugern
in keiner Weise nachstehende Entwicklung seines
Baues auf Der innere Bau zeigt alle für den
Gehörapparat charakteristischen Teile, dieselben
sind nur in sehr vollkommener Weise dem Wasser-
leben angepaßt und besitzen eine Reihe von Vor-
richtungen, die zur \^erstärkung und Verbesserung
der Schalleitung in der Kette der Gehörknöchelchen
dienen sowie die Aufnahme der Schallwellen durch
den perzipierenden Apparat erleichtern. Eben dieser
komplizierte Umbau des Gehörorganes deutet mit
Bestimmtheit darauf hin, daß der Wal im Wasser
hören muß. Und er bedarf dieses Sinnes in sehr
hohem Maße, da die übrigen Sinne, abgesehen
vom Auge, nur recht schwach entwickelt sind.
Der Geruclisinn muß auf einer niedrigen Stufe
stehen, weil der Riechnerv der Säuger im Wasser
suspendierte Riechstoffe nicht in dem Maße zu
perzipieren vermag wie der entsprechende Nerv
der Fische, und im Gegensatz zum Olfaktorius
dieser Tiere ist derselbe beim Wal ganz rudimentär.
Das Auge ist weit mehr dem Wasserleben an-
gepaßt, indessen ist seine Bedeutung in den dunk-
leren Wasserschichten nicht allzu groß. Und end-
lich fehlt den Walen der ausgedehnte Hautsinn
der Fische, im Gegensatz zu den hochentwickelten
Hautsinnesorganen derselben ist ihre Haut nerven-
arm und empfindet selbst sehr unsanfte Berüh-
rungen kaum. Und somit ist das Ohr das wich-
tigste Sinnesorgan der Wale. Durch die Wahr-
nehmung des Geräusches^ des Blasens,_welcheSj,für
jede Walart charakteristisch ist, der etwaigen
Stimme, der schraubenartigen Bewegungen der
Schwanzflosse wird das Zusammenhalten der Art-
genossen erleichtert, es warnt weiter das Gehör
vor Gefahren , vor der Brandung der Küste, es
mag endlich den Fischfressern die Nähe der Beute
verkünden. J. Meisenheimer.
Über Kohlensäure - Assimilationsversuche
mittels der Leuchtbakterienmethode äußert
sich Hans Molisch in der Botan. Zeitg. (1904,
Heft I, S. I — 10). — Verf tritt in der vorliegen-
den Arbeit, mit Rücksicht darauf, daß die bis-
herigen Untersuchungen über Kohlensäure - Assi-
milation außerhalb der Pflanze (Friedel, Harroy,
Macchiati, Herzog) nicht zu einem einheitlichen
Ergebnis geführt haben, der Frage noch einmal
näher, ob es sich bei der CO.,- Assimilation um
einen chemischen Prozeß handelt, der sich unab-
hängig vom Leben der Pflanze auch außerhalb
derselben abspielen kann (ähnlich wie die alkoho-
lische Gärung unter dem Einflüsse von Buchner's
Zymase), oder ob der Prozeß nur im Innern leben-
der Pflanzenzellen oder in Berührung mit lebender
Pflanzensubstanz vor sich gehen kann. Er ver-
mutet , daß die sich widersprechenden Resultate
genannter Autoren auf Fehler in den Unter-
suchungsmethoden zurückzuführen seien. Er be-
nutzte das Beijerinck'sche Verfahren, die Sauerstoff-
entbindung durch das Aufleuchten von Photo-
bakterien nachzuweisen, eine bei weitem empfind-
lichere Methode, als das bisher ausschließlich
verwendete gasanalytische Verfahren. Verf. arbei-
tete bei seinen Untersuchungen mit dem durch
besondere Leuchtkraft ausgezeichneten Micrococcus
phosphoreus Cohn.
Blätter von Lamium album, Sambucus, Calen-
dula u. a. wurden mit dest. Wasser verrieben oder
gepreßt, das Gereibsel dann durch P'iltrierpapicr
filtriert. Im Filtrat fanden sich zahlreiche Chloro-
phyllkörner, Stärke, Plasmagerinsel usw.; es wurde
mit Leuchtbakterienbouillon vermengt. Das zu-
nächst in der Dunkelkammer gehaltene Gemenge
wurde darauf für kurze Zeit belichtet (schon das
Licht eines Zündhölzchens genügte , um einen
Erfolg hervorzurufen) ; sofort leuchtete die P'lüssig-
keit auf Nach einigen Stunden verliert das P'iltrat
die Fähigkeit, im Lichte Sauerstoff zu entbinden.
Derselbe Effekt tritt ein, wenn es unmittelbar nach
der Bereitung aufgekocht wird.
Wurde der Saft durch ein Chamberlandfilter
filtriert und dadurch aller festen Bestandteile be-
raubt, insbesondere auch der Chlorophyllkörner,
so vermochte er keinen Sauerstoff mehr zu ent-
binden. Er erhielt die Fähigkeit dazu auch nicht
wieder, wenn er mit dem Pulver von getrockneten
und zerriebenen Blättern vermischt wurde. Auch
ein Glyzerinextrakt aus nicht zerriebenen (frischen
oder getrockneten) Blättern gab negative Resultate.
Der die COo - Assimilati on bewirkende
Körper geht also nicht durch die unver-
letzte Zellmembran hindurch.
Verf. kommt also zu dem Schluß, daß der
aus derPflanze extrahierteChlorophyll-
lOK
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 64
farbstoff nicht die Fähigkeit besitzt,
Kohlensäure zu zerlegen und Sauerstoff
frei zu machen. Von toten Blättern herge-
stellte Präparate ergeben negative Resultate. In
einem Falle fand Verf. allerdings, daß auch das
Gereibsel toter Blätter noch Sauerstoff zu entbin-
den imstande war. Diese Beobachtung wurde an
Blättern von Lamium album gemacht, die vier
Tage an der Luft gelegen hatten und völlig ein-
getrocknet waren, darauf noch zwei Tage im
Exsikkator über Schwefelsäure verweilt hatten.
Sie riefen noch immer ein Aufleuchten der Leucht-
bakterienbouillon hervor, wenn auch schwächer
als das Filtrat frischer, lebender Blätter. Es ge-
lang Verf. nicht, in diesem Falle von postmortaler
Kohlensäureassimilation einen Stoff, etwa ein
Ferment, zu isolieren, der für sich allein oder mit
Chlorophyll vermengt unabhängig von lebenden
Zellbestandteilen Assimilation zu bewirken ver-
mochte. Se.
Über die von der Smithsonian Institution unter
S. P. Langley's Leitung nach Wadesboro in
North-Carolina entsandte Expedition zur Beobach-
tung der totalen Sonnenfinsternis vom 28. Mai
1900 ist kürzlich ein ausführlicher, mit 2 2 Illustra-
tionstafeln luxuriös ausgestatteter Bericht') er-
schienen. Die mit einem reichen Instrumentarium
ausgerüstet gewesene Expedition hat, \-om Wetter
begünstigt, ihr umfassendes Programm im allge-
meinen mit gutem Erfolge durchführen können.
Wenngleich die direkten teleskopischen Beobach-
tungen ein weniger glänzendes Phänomen zeigten,
als es Langley im Jahre 1878 mit dem gleichen
Instrumente beobachtet hatte, so waren doch
einige große Protuberanzen am südwestlichen
Rande der Sonne vorhanden und die mit Cameras
von verschiedenen Brennweiten und bei sehr ver-
schiedener Expositionsdauer aufgenommenen Photo-
graphien zeigen außerordentlicli reiches Detail
und bemerkenswerte Erscheinungen. Natürlich
ist auf den beigegebenen Reproduktionen nur ein
Teil dieses an den Originalnegativen sehr deutlich
wahrnehmbaren Details erkennbar. Die Äquatorial-
strahlen der Corona lassen sich fast 4 Sonnen-
durchmesser weit auf den längst (82 Sekunden)
exponierten Platten verfolgen. Sie verlaufen ziem-
lich geradlinig in der Richtung der Ekliptik und
verlieren sich schließlich infolge der Lichtschwäche,
dürften sich aber in Wirklichkeit noch weiter
ausdehnen. Die von den Polen ausgehenden
Strahlenbüschel zeigen im Gegensatz dazu deut-
lich divergierende Krümmung^.nach Art von mag-
netischen Kraftlinien , so daß an vielen Stellen
eine deutliche Durchkreuzung dieser polaren
Strahlen mit den geradeaus laufenden, äquatorialen
wahrzunehmen ist. Besonders schönes Detail
zeigen die mit einer Linse von 135 Fuß Brenn-
weite erhaltenen Platten , deren Wert besonders
') The 1900 .solar eclipse expedition. By S. P. Langley.
Washington 1904.
in Zukunft beim Vergleich mit ähnlich gewonnenen
Aufnahmen späterer Finsternisse in die Erscheinung
treten wird.
Von besonderem Interesse ist der bei dieser
Finsternis zum ersten Male unternommene Ver-
such, die Strahlung der Corona auf bolomelrischem
Wege zu messen. Diese Aufgabe fiel Mr. Abbot
zu und wenn auch die Ausführung der geplanten
Versuche nicht ohne Störungen und mancherlei
V^ersehen seitens des Hilfspersonals von statten
ging, so konnte doch so viel festgestellt werden,
daß die Wärmestrahlung der Corona im Vergleich
zu ihrer Helligkeit ganz unerwartet gering ist.
Diese geringe Intensität des ultraroten Teiles des
Spektrums soll nach Langley unvereinbar sein eben-
sowohl mit der Annahme, daß das Coronalicht
vornehmlich reflektiertes Sonnenlicht sei, wie auch
mit der Hypothese, daß ihre Teilchen infolge hoher
Temperatur leuchten. Es wäre somit die Annahme
in hohem Grade wahrscheinlich, daß das Leuchten
der Corona durch elektrische Entladungen bedingt
ist, daß also eine nahe Verwandtschaft mit den irdi-
schen Nordlichtern vorliegt. Allerdings kann diese
Auffassung durch die einmalige bolometrische Be-
obachtung noch nicht als erwiesen gelten. Jeden-
falls wird man aber hoffen dürfen, durch wieder-
holte bolometrische Beobachtung der Corona-
strahlung bei künftigen P'insternissen die Frage
nach der Natur dieses Lichtscheines zu entscheiden.
Demgegenüber hat allerdings Sv. A r r h e n i u s
in der Oktober-Nummer des Astrophysical Journal
eine Rechnung veröffentlicht, wonach die von
Abbot beobachtete Strahlungsintensität (sowohl die
Helligkeit als auch die Wärmestrahlung) durch-
aus demjenigen Betrage entsjiricht, den man nach
dem Wien'schen Gesetz von Staubpartikelchen er-
warten muß, die durch die Sonnenstrahlung er-
wärmt werden. Die absolute Temperatur der
Coronapartikelchen würde sich nämlich, wenn man
die Temperatur der Photosphäre gleich 6000" an-
nimmt, in der von Abbot beobachteten Schicht
auf 4620" stellen. Aus der geringen Helligkeit der
Corona, die nach Langley nur der des Vollmondes
entspricht, würde dann folgen, daß nur xy^Vtit d^""
betrachteten Fläche von strahlenden Coronapartikeln
eingenommen wird. Aus der von Abbot beob-
achteten Wärmestrahlung ergibt sich aber nach
Langley's Rechnung für denselben Bruch der Wert
Tu^TiTiTri der seiner Größenordnung nach gut mit
dem obigen übereinstimmt. Das Verhältnis der
Lichtstrahlen zur Gesamtenergie ist eben bei den
Coronapartikelchen wegen ihrer hohen Temperatur
nach Arrhenius etwa 6,7-mal so groß als beim Monde.
Arrhenius hält es für wahrscheinlich, daß die
Coronateilchen Tropfen von geschmolzenem Eisen
sind von derjenigen Größenordnung, daß dem
Strahlungsdruck durch die Gravitation gerade das
Gleichgewicht gehalten wird, d. h. Tröpfchen von
etwa 9^62 • io-'° qcm Querschnitt. Denn größere
Tröpfchen müßten ja zur Sonne zurücksinken,
kleinere aber sich infolge des Strahlungsdruckes
von ihr entfernen. Arrhenius berechnet unter
N. F. in. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1019
dieser Voraussetzung in Verbindung mit den obigen
Annahmen die Masse der gesamten Corona auf
14700000 Tonnen und die Anzahl der Teilciien
zu 107,4 •lO-''. Danach würde je ein Teilchen in
der von Abbot beobachteten Schicht ungefälir auf
einen Raum von 10,7 Kubikmetern entfallen, eine
Zahl, die aber mit der sechsten Potenz der Ent-
fernung vom Sonnenmittelpunkt wachsen würde,
so daß schon im Abstände eines Sonnenradius
von der Oberfläche erst auf 685 Kubikmeter ein
Coronatröpfchen käme.
Auch nach intramerkuriellen Planeten wurde von
Langley's Expedition bei der Sonnenfinsternis am
28. Mai 1 900 auf photographischem Wege gefahndet.
Als Ergebnis dieser Recherchen kann gesagt werden,
daß es intramerkurielle Planeten, die heller wären
als fünfter (iröße, nicht gibt, es sei denn, daß sie
im Momente jener F"insternis durch die Sonne
oder Corona gerade verdeckt gewesen wären.
Lichtschwächere , verdächtige Sternchen konnten
dagegen auf einer mittels einer dreizölligen Linse
von 1 1 Fuß Brennweite erhaltenen Platte im
ganzen acht bemerkt werden. Doch kann eine
Entscheidung darüber, ob es sich bei einigen
dieser Gebilde wirklich um Planeten handelt,
mangels einer zweiten Kontrollaufnahme von
gleicher Güte nicht getroffen werden. Jedenfalls
dürften Cameras der angegebenen Dimension sehr
geeignet dazu sein, bei künftigen Finsternissen
etwaige Planeten bis herab zur neunten Größen-
klasse ans Licht zu ziehen. F. Kbr.
Der elektrolytische Wellendetektor. —
Zum Nachweis elektrischer Wellen sind in den
letzten Jahren schon eine große Zahl von In-
strumenten angegeben worden, deren Wirkungs-
weise zum überwiegenden Teil darauf beruht, daß
ein sie durchfließender elektrischer Strom durch
die auffallenden Wellen eine gewisse Modifikation
erfährt, herrührend von einer durch die Wellen
in dem Instrument hervorgerufenen Veränderung.
In der Praxis der drahtlosen Telegraphie kamen
vorwiegend nur zwei dieser Detektoren als Em-
pfanger für die ankommenden Wellenimpulse zur
Verwendung, derKohaerer und der Magnetdetektor
von Rutherford und Marconi. Während bei dem
ersteren die elektrische Leitfähigkeit eines be-
liebigen Metallpulvers durch elektrische Wellen
vergrößert wird, ist für den zweiten die zuerst
von Rulherford gefundene Wirkung der Wellen
maßgebend, daß sie den Magnetisierungszustand
eines weichen Eisenstückes plötzlich verändern.
In neuerer Zeit ist nun ein Detektor angegeben
worden, der einen Einfluß der Wellen auf eine
elektrolytische Flüssigkeit konstatiert und der ge-
eignet zu sein scheint, auch in der Praxis eine
Rolle zu spielen. Wenn man nach W. Schloe-
milch eine gewöhnliche Polarisationszelle mit
Platin- oder Goldelektroden an eine Stromquelle
anschließt, deren elektromotorische Kraft nur um
einen geringen Betrag höher ist als die Gegen-
kraft der Zelle, so zeigt ein in den Stromkreis
eingeschaltetes Amperemeter eine Verstärkung des
Stromes an, sobald die Zelle durch elektrische
Wellen bestrahlt wird. Notwendig ist dabei, daß
die positive Elektrode mikroskopisch klein ist, be-
sonders hängt auch die Empfindlichkeit des In-
struments wesentlich von dieser Größe ab. Starke
Wellenimpulse können sogar direkt an der Zelle
abgelesen werden, da die vorher schon an den
Elektroden beobachtete zarte Gasentwicklung auf-
fallender wird.
Fast auf dieselbe Form ist Fessenden gekommen
durch Ersetzen des in seinen Empfängern früher
benutzten dünnen Platindrahts durch eine kleine
Flüssigkeitssäule. Während Schloemilch keine Er-
klärung für den physikalischen Vorgang in seinem
Detektor gibt, glaubt Fessenden die Wirkung dar-
auf zurückführen zu müssen, daß sich die Flüssig-
keitsschicht an der kleinen Elektrode, wo sich ja
fast der gesamte Widerstand konzentriert, etwas
erwärmt, wodurch der Widerstand verringert und
somit der Strom vergrößert wird. Seitdem haben
sich mehrere Beobachter mit dem Gegenstand be-
schäftigt, so M. Reich, V. Rotmund u. A. Lessing
und M. Dieckmann. Sie alle kommen überein-
stimmend zu dem Resultat, daß die mögliche Er-
wärmung an der feinen Elektrode nur eine unter-
geordnete Bedeutung für den Vorgang haben kann,
da in vielen Phallen die Stromstärke beim Bestrahlen
der Zelle auf mehr als den 10 fachen Betrag steigen
kann, was nicht durch eine Widerstandsänderung
erklärt wird, selbst wenn man annehmen wollte,
daß die Flüssigkeit in der Nähe der kleinen Anode
bis zum Sieden erhitzt würde. Oder wird bei-
spielsweise die Zelle mit unterphosphoriger Säure
gefüllt, deren Leitfähigkeit mit höherer Temperatur
abnimmt, so zeigt trotzdem das Galvanometer beirn
Auftreffen von Wellen eine starke Stromsteige-
rung an.
Aus den Untersuchungen der genannten Herren
geht weiter hervor, daß die PIrscheinung ebenfalls,
nur etwas schwächer, eintritt, wenn die feine
Spitze zur Kathode gemacht wird. Auch die che-
mische Natur der abgeschiedenen Produkte ist
nicht ausschlaggebend. Versuche mit Salpeter-
säure, Natronlauge, Jodkalium, sogar Salzlösungen
von Schwermetallen usw. ergeben alle ähnliche
Resultate; auch kann das Material der Elektrode
ein anderes sein als Platin. Bei gleichen Elektro-
lyten sind die Stromstärken um so größer, je
größer die Leitfähigkeit der Flüssigkeit ist. Daß
gleichzeitig mit zunehmender Stromstärke eine
Abnahme der -Spannung an den Elektroden statt-
findet, deutet darauf hin, daß die Wirkungsweise
des Detektors darauf beruhen muß, daß der von
den elektrischen Wellen transportierte Wechsel-
strom eine Depolarisierung der Elektroden herbei-
führt , wodurch die dem Gleichstrom entgegen-
wirkende elektromotorische Kraft der Polarisation
geschwächt und infolgedessen der primäre Strom
plötzlich vergrößert wird, bis wueder der ursprüng-
liche Polarisationszustand hergestellt ist. Der De-
tektor hat in dieser Beziehung dem Kohaerer gegen-
I020
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 64
über den Vorteil, daß er nach jeder Bestrahlung
von selbst in den ursprünglichen Zustand zurück-
kehrt. In Übereinstimmung mit der gegebenen
Erklärung findet sich die Tatsache, daß die Emp-
findlichkeit der elektrolytischen Detektoren mit
der Polarisierbarkeit der Spitze wächst. Die Wir-
kung wird um so merkbarer sein, je dichter der
Wechselstrom ist; deshalb ist auch bei den ge-
ringen Strommengen, um die es sich hier handelt,
eine außerordentlich kleine Oberfläche der Elek-
trode die wichtigste Vorbedingung. Auch galva-
nische Elemente derverschiedenstenKombinationen,
deren eine Elektrode aus einer sehr feinen Spitze
besteht, wirken wie die besprochenen Polarisations-
zellen, und zwar findet durch Bestrahlung eine
Verstärkung des Stromes und eine gleichzeitige
Erhöhung der Spannung statt.
Fessenden hat in neuester Zeit größere Ver-
suche mit dem von ihm konstruierten elektro-
lytischen Detektor angestellt, und er ist zu dem
wichtigen Resultat gekommen, daß man mit Hilfe
solcher Empfänger mit den geringsten Energie-
mengen über große Entfernungen zu telegraphieren
vermag, wo die Anordnungen Marconis schon be-
deutende elektrische Kräfte erfordern.
A. Becker.
Elektrizität als Betäubungsmittel. — Eine
interessante Nachricht, die, wenn sie sich in vollem
Umfang bestätigen sollte , von hoher Bedeutung
sein könnte, kommt aus Paris. Sie besagt nichts
weniger, als daß es gelungen sein soll, unsere
wichtigsten Betäubungsmittel , wie Chloroform,
Äther usw. durch die Einwirkung elektrischer
Ströme auf den Menschen zu ersetzen. In Anbe-
tracht der nicht geringen Gefährlichkeit, welche
dem sonst so segensreich wirkenden Chloroform
anhaftet, kann die neue Entdeckung, welche von
Dr. Leduc gemacht worden sein soll, unter Um-
ständen eine große Zukunft vor sich haben.
Leduc stellte seine Experimente zunächst an
Versuchstieren an, Hunden, Kaninchen und Tauben,
und zwar in der Weise, daß er einen Wechsel-
strom von 10 bis 30 Volt Spannung und I bis
200 Perioden auf den Hinterkopf der Tiere ein-
wirken ließ. Er verursachte dadurch bei ihnen
während der Dauer des Stromes vollständige Un-
empfindlichkeit , ohne daß irgendwelche schäd-
lichen Folgen für Leben und Gesundheit der Tiere
eintraten.
Um die Wirkungen der Ströme auch auf den
Menschen zu erproben, benutzte Leduc sich selbst
als Versuchsobjekt. Die Spannung des Stromes
wurde auf 50 Volt erhöht , die Elektroden , von
denen eine auf der Stirn, die andere auf dem
Rücken angebracht wurde, waren zur Steigerung
der Wirkung in Salzwasser getaucht. Unter die-
sen Umständen waren Gehirn und Rückenmark
dem direkten Einfluß des elektrischen Stromes
ausgesetzt. Die Folge war, daß nach etwa 10 Mi-
nuten langer Dauer des Stromes völlige Betäubung
eingetreten war. Dabei war von den oft nicht
geringen Unannehmlichkeiten , welche in der
Chloroformnarkose dem Zustand der Bewußtlosig-
keit vorauszugehen pflegen , nicht das Geringste
zu spüren. Auch das Erwachen erfolgte ohne
eine Spur von Übelkeit sofort, als der Strom
unterbrochen wurde , und war sogar von einem
angenehmen Gefühl der Erfrischung begleitet.
Die Versuche sollen weiter fortgesetzt werden.
Dr. R. Hennig.
Wetter-Monatsübersicht.
Im vergangenen November war das Wetter in Nord-
deutschland trübe und naß, während Süddeutschland etwas
mehr Sonnenschein und viel weniger Niederschläge hatte. Die
Temperaturen' waren überall in der ersten Zeit , wie die bei-
stehende Zeichnung ersehen läßt, für die Jahreszeit recht hoch :
am 5. stieg das Thermometer zu Mülhausen i. E. bis auf
JUifffcra T&niBsrafursn sinacrörfe utiTiaueintsrlSO'f.
I I I I I I I I I
Berliner Wefferbureau.
15" C. Erst gegen Mitte des Monats trat vorübergehend Frost
ein, der im Osten bald ziemlich strenge wurde. In der
Nacht zum 17. November brachten es Breslau und (Irünljcrg
auf 7 , Bromberg und Königsberg i. Pr. auf 8 , Gumbinnen
sogar auf 15" C Kälte. Noch kälter war es in Galizien und
Polen, so daß die Weichsel starken Eisgang hatte; gleich-
zeitig bildete sich eine dünne Eisdecke auf dem frischen
Haff.
Nach einigen wiederum sehr milden Tagen fand um den
23. eine neue Abkühlung statt, von der diesmal Süd- und
Mitteldeutschland am stärksten betroften wurden, wo am 2g.
November das Thermometer zu München bis auf — 13" C,
zu Friedrichshafen auf — 9, zu Chemnitz auf — 7° C herab-
ging. Die Durchschnittstemperaturen des Monats waren im
Norden Deutschlands beinahe um einen Grad zu hoch , im
Süden hingegen um etwa einen halben Grad zu niedrig. Stunden
mit Sonnenschein gab es beispielsweise zu Berlin nur 22,
gerade so viel, wie im gleichfalls außergewöhnlich trüben
November 1903, während liier in den letzten zwölf November-
monaten durchschnittlich 60 Sonnenscheinstunden aufgezeichnet
wurden.
In den ersten 6 Tagen des Monats kamen, der nach-
stehenden Zeichnung zufolge, nur an der Küste ergiebigere
Niederschläge vor, wo am 3. und. 4. stürmische West- und
Nordwestwinde herrschten. Desto allgemeiner und stärker
waren die Regengüsse zwischen dem 7* ^"cl 13., namentlich
vom S. bis 10. November; beispielsweise betrug die Nieder-
N. F. m. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1021
Schlagshöhe am g. zu Ilmenau 63, am 10. zu Lüdenscheid
76, zu Uslar 71, zu Kiel 36 mm. Ganz Deutschland
wurde in dieser Zeit von aufserordentlich heftigen West-
und Nordweststürmen heimgesucht, die besonders der
Westküste von Schleswig-Holstein und der Gegend der Unter-
elbc durcli Sturmfluten schweren Schaden brachten. Wieder-
holentlich kamen dabei in einem großen Teile des Binnen-
landes Gewitter zum .Ausbruch , die von Hagelschauern und
zu Arolsen und Fraustadt von Schneefallen begleitet waren.
sIb .MitflererWertfur
üeufechland.
Monalssumme imNovör
tgotOä.OZ 01.00 1839,
en -3 CO
: 3 «^
E-S_ H > '
Z! 3
. 3 ^c^ SJ
Berliner Welfcrbureau.
Auf den Harzflüssen und denen des Glatzer Gebirges traten
infolge der furchtbaren Unwetter verhängnisvolle Hochwasser
ein.
Seit dem 14. November nahmen die Niederschläge wieder
ab, in Süddeutscliland herrschte bis zum 20., wie am Antang des
Monats, sogar vollständig trockenes Wetter. Dann traten
neuerdings in den meisten Gegenden Regenfälle auf, die zu-
erst im westlichen Küstengebiete , dann in Süd- und Ost-
deutschland in Schnee übergingen. Besonders Bayern,
Schlesien und Sachsen wurden am 23. bis 25. November
von sehr großen Schneemengen überschüttet, die dort i — 2
Dezimeter hoch liegen blieben. Die Niederschlagshöbe des
ganzen Monats betrug im Mittel aller berichtenden Stationen
57,3 irim und übertraf um 14 mm die Xiederschlagshöhen,
die von den gleichen Stationen seit Beginn des vorigen Jahr-
zehntes durchschnittlich im November gemessen worden sind.
Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes zeigte eine
solche Mannigfaltigkeit und oft so plötzliche Änderungen, wie
sie auch im Spätherbst bei uns selten sind. Während zu
Beginn des November der größte Teil Europas von hohem
Luftdruck und nur der Norden und Italien von flachen De-
pressionen bedeckt wurden, trat am 3. auf dem Nordmecr ein
äußerst tiefes Minimum auf, das mit schweren Stürmen inner-
halb 48 Stunden bis in die Mitte Rußlands vordrang. Ihm
schlössen sich bald andere tiefe Minima aus Norden, Nord-
westen und Westen in rascher Aufeinanderfolge an, deren
Mehrzahl durch die skandinavischen Länder, eines am 8. und
9. aber über die Nordsee und Ostsee ins Innere Rußlands zog.
Nachdem dann noch ein paar flachere Depressionen auf
der Nordsee erschienen waren, breitete am 13. November ein
hohes barometrisches Maximum sein Gebiet über Nordwest-
und Mitteleuropa aus und führte hier für kurze Zeit eine
Besserung des Wetters herbei. Bald wurde es aber durch
neue umfangreiche Minima, die im hohen Norden Europas
auftraten, zum Teil nach Südosten, zum Teil nach Südwesten
gedrängt. Diese Minima und ihre zahlreichen , weit nach
Süden hin reichenden Teildepressionen blieben dann für die
Witterungsverhältnisse in der nördlichen Hälfte Europas bis
zum Schlüsse des Monats fast allein maßgebend. Gleichzeitig
wurde das Mittelmeergebiet von flacheren Depressionen ein-
genommen , von denen eine vom 23. bis 26. November bis
zur Ostsee nach Norden vordrang und dabei in Italien, der
Schweiz, Österreich und Deutschland aufserordentlich
starke Regen- und Schneefalle verbreitete. Dr. E. Leß.
Vereinsw^esen.
Deutsche Gesellschaft für volkstümliche
Naturkunde. — Nach der Ruhepause des Sommers
nahm die Gesellschaft am Montag, den 1 7. Oktober,
abends S Uhr, im Bürgersaale des Rathauses mit
einem Vortrage des Direktors der Lungenheil-
stätten Beizig, Herrn Prof. Dr. A. M o e 1 1 e r : ,,D i e
Bekämpfung der Tuberkulose als Vol ks-
krank h e i t" ihre Arbeit wieder auf.
Redner führte aus, daß die Tuberkulose als
eine wahre Vo Iksseuch e zu bezeichnen sei, da
sie jahraus jahrein mehr Opfer im Volke fordere,
als alle anderen Infektionskranklieiten zusammen.
In Berlin sterben jährlich ca. 4500 Menschen an
Tuberkulose. Vom nationalökonomischen
Standpunkte aus als besonders tief eingreifend in
die Volkswohlfahrt ist diese Krankheit zu be-
trachten, da sie ihre Opfer besonders bei Menschen
mittleren Lebensalters fordert, also in einem
Alter, WO der Mensch, der bisher für Ausbildung
und Erziehung nur Ausgaben verursacht hat, ge-
rade anfängt zu arbeiten , um das für ihn aus-
gegebene Kapital zu verzinsen. Durch die Erkran-
kung und infolgedessen eintretende Erwerbsunfähig-
keit geht nun das angelegte Kapital \-erloren.
Hierzu kommt noch, daß bei dem meist chronisch
verlaufenden Charakter der Krankheit bis zum
Eintritt des Todes noch erhebliche Unkosten an
Behandlung, Medikamenten und Unterstützungen
verursacht werden, und die Angehörigen, welche
den Kranken pflegen, werden selbst in ihrer Er-
werbsfähigkeit beeinträchtigt. Man hat berechnet,
daß in den Jahren 1897— 1900 im Alter von 15
bis 60 Jahren von looo Gestorbenen 316 der
Tuberkulose erlagen ; also im erwerbsfähigen Alter
ist fast jeder dritte Todesfall durch Tuberkulose
verursacht. — Redner schildert dann kurz das
Wesen der Schwindsucht und geht auf
die einzelnen hauptsächlichsten Krankheitserschei-
nungen ein. Der Husten zeigt sich anfangs in
kurzen , trockenen Hustenstößen ; mit iiim stellt
sich auch bald der Auswurf ein. Lungenblutungen,
wenn sie stark sind, auch Blutsturz genannt, er-
schrecken den Patienten sehr, sind aber nicht so
sehr zu fürchten, da sie oft durch Blutstauung be-
dingt werden, die nun durch das Auswerfen des
Blutes beseitigt wird. Im allgemeinen hat Redner
die Beobachtung gemacht, daß die Kranken, bei
denen das Leiden mit einer Blutung seinen An-
fang nahm, später nicht schwer erkranken; das
hat seinen Grund wohl vor allem darin, weil diese
Kranken sich sehr zusammennehmen und vor-
sichtig leben; denn vor dem Blute haben die
meisten großen Respekt. — Bei den Erkrankten
stellt sich später auch Pulsbeschleunigung und
Herzklopfen ein. F"ieber ist stets als ein un-
I022
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. ni. Nr. 64
günstiges Zeichen zu betrachten, zumal wenn es
bis auf 40" und höher steigt. — Hierauf bespricht
Redner die Ursache der Tuberkulose. Er führt
die Erreger der Tuberkulose, die Tuberkelbazillen,
in Lichtbildern, sowie auch in Reinkultur (auf
künstlichen Nährböden gewachsen) vor. Sodann
demonstriert er die von ihm 1897 entdeckten, dem
Tuberkelbazillus verwandten Mikroorganismen, die
zu Täuschungen und Verwechslungen mit dem
echten Tuberkelbazillus führen können; er be-
richtet über einen Fall, wo ein Arzt Tuberkel-
bazillen in einem Sandhaufen, in welchem Kinder
spielten, gefunden zu haben glaubte, die sich
aber bei näherer Prüfung als Moeller'sche Gras-
bazillen erwiesen. Redner geht eingehend auf die
Biologie des Tuberkelbazillus ein. Sodann schildert
er die Übertragungsgefahr, welche durch das Zu-
sammenleben mit unvorsichtig lebenden Schwind-
süchtigen entsteht, welche beim Husten tuberkel-
bazillenhaltige Tröpfchen versprühen. Redner hat
die Übertragungsmöglichkeit nachgewiesen , da-
durch, daß er Meerschweinchen einigen Lungen-
kranken übergab, welche die Anweisung erhielten,
täglich mehrere Stunden die Tiere anzuhusten.
Zwei Meerschweinchen erkrankten an Tuberkulose.
Sodann macht Redner aufmerksam auf die große
Gefahr der Tuberkelbazillen-Ubertragung mittels
Fliegen, welche sich auf Nahrungsmittel nieder-
lassen. Auf Radieschen, die auf den Rieselfeldern
der Beiziger Heilstätte gewachsen waren, fand er
einmal virulente Tuberkelbazillen. Betreffs der
Rindertuberkulose steht Redner auf Grund eigener
Experimente (er fütterte monatelang Kälber und
Ziegen mit bazillenhaltigem Sputum, ohne daß
ein Tier erkrankte) auf dem Koch'schen Stand-
punkte.
Berufschädlichkeiten sind Zimmerstaub, Ein-
atmung von ätzendem Kalkstaub, schart kantigem
Stein- und Metallstaub. Bei Lehrern wirken zwei
Schädlichkeiten zusammen: der Aufenthalt in der
verunreinigten Luft überfüllter Schulstuben und
die dauernde Anstrengung der Atmungs- und
Sprachwerkzeuge. — Zur Verhütung der Tuber-
kulose dient außer Vorsicht im Verkehr mit
Schwindsüchtigen eine vernunftgemäße Lebens-
weise, Abreibungen mit kaltem Wasser, Bäder,
Übergüsse. Das Einatmen reiner, d. h. staub und
bakterienfreier Luft ist für die Erhaltung der Ge-
sundheit durchaus notwendig; man lasse daher des
Nachts, wenn kein Straßenstaub aufgewirbelt wird
und kein Fabrikschornstein qualmt, die Fenster
geöffnet. Die Kinder sollen sich möglichst viel
im Freien umhertummeln. Erwachsene sollen täg-
lich eine Zeitlang spazieren gehen; natürlich muß
hierbei jedes Übermaß vermieden werden. Durch
sog. Bravourleistungen hat schon so mancher seiner
Gesundheit ernstlich Schaden zugefügt. Nament-
lich sei vor dem jetzt so sehr viel ausgeübten
Radfahrsport dringend gewarnt. Im Gebrauch der
Kleider soll man sich nach der jeweiligen Witte-
rung und nicht nach der Jahreszeit richten.
Redner geht dann näher auf die Frauen-
Reformkleidung ein, die er vom hygienischen
Standpunkte aus verwirft, da diese Kleidung die
Schultern und Wirbelsäule zu sehr belaste und
somit die Blutzirkulation und Luftventilation in
den Lungenspitzen behindert würde, wodurch diese
Prädilektionsstellen für Tuberkulose noch empfäng-
licher für die Ansiedlung der Bazillen würden.
Redner hat auch vom rein wissenschaft-
lichen Standpunkt aus die Frage, ob Reform-
kleidung oder nicht, geprüft. Er wies zunächst
darauf hin, daß der Atmungstj'pus der Frauen ein
anderer ist wie der bei Männern; bei Männern
sieht man bei ruhiger Atmung die Brust und
Rippen nur wenig sich bewegen , dagegen die
Oberbauchgegend sich hervorwölben infolge des
Herauf- und Herabsteigens des Zwerchfelles = Ab-
dominaltypus (Bauchatmung). Bei Frauen sieht
man bei jedem Atemzuge die Bewegung der
Rippen, Vorwölbung der Brust (Wogen des Busens)
= Kostaltypus (Brustatmen). Daher kommt es bei
P'rauen mehr darauf an wie bei Männern (Hosen-
trägerdruck auf Schultern schadet der Bauch-
atmung nicht viel) Brust und Schultern druckfrei
zu halten (Druck des Leibchens auf Bauchorgane
schadet der Brustatmung der Frauen wenig).
Große Unterschiede zeigten sich bei Messungen der
Lungenkapazität (Luftinhalt der Lungen). Hier
fanden sich Differenzen bis zu 50 cm'' bei Mes-
sung der Respirationsluft (Luftmenge, die man bei
ruhiger Atmung ein- und ausatmet) und bis zu
200 cm'' und mehr bei Messung der Vitalkapazi-
tät (Luftmenge, die bei möglichst tiefer In- und
Exspiration geatmet wird) zuungunsten der
mit Reformkleidung versehenen Personen. Redner
empfiehlt seinen Patientinnen stets ein Leibchen zu
tragen und die Kleidung so zu legen, daß die
Beckenknochen, der kräftigste Teil des weiblichen
Gerüstes, als Stütze und Träger für die Kleidung
dient. — Hierauf bespricht Redner noch die Be-
handlung der Schwindsucht in Heilstätten, länd-
lichen Kolonien, Erholungsstätten, Kinderheilstätten,
Invalidenheimen etc., was er durch Lichtbilder
demonstriert. Er empfiehlt als beste Behandlung
die Kombination von Heilstättenbehandlung mit
Tuber kulinbehandlung, welche er in Beizig
mit gutem Erfolge bei seinen Kranken durchführt.
Redner rät auch in der ambulanten Behandlung,
die Tuberkulösen mit Tuberkulin zu behandeln,
und zwar vor allem die Anfangsstadien der Krank-
heit, die mit Hilfe dieses Mittels mit Sicherheit
geheilt werden könnten.
I. A. : Dr. W. Greif, I. Schriftführer.
Berlin SO !6, Köpenickerstraße 142.
Bücherbesprechungen.
Prof. Dr. Alfred Burgerstein, Die Transpira-
tion der Pflanzen. Eine physiologische Mono-
graphie. Jena, Verlag Fischer, 1904. 8". 2S3 Seiten.
— • Preis 7,50 Mk.
Der durch seine ,, Materialien zu einer [Monographie
der Transpiration" (Verh. d. k. k. zool. bot Ges. Wien
N. F. m. Nr. 64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1023
1878, 1880, 1901) auf diesem Gebiete wohl be-
kannte und bewanderte Verf. hat es in vorliegendem
Werke unternommen, eines der interessantesten Pro-
bleme der Pflanzenphysiologie monographisch zu be-
arbeiten. Mit welcher Sorgfalt der Autor dabei zu
Werke ging, lehrt das Literaturverzeichnis, welches
gegen 400 einschlägige Arbeiten ausweist. Das Buch
stellt gewissermaßen ein kritisches Sammelreferat großen
Stiles dar, ergänzt durch zahlreiche eigene Beob-
achtungen und Versuche , welche hier teilweise zum
ersten Male veröftentlicht werden. Der reiche Inhalt
sei hier nur in Kürze wiedergegeben: Begriffsum-
grenzung und Methode, die Transpiration der ver-
schiedenen Pflanzenorgane in ihrer Beziehung zum
morphologischen und anatomischen Bau, die Abhängig-
keit derselben von Luftfeuchtigkeit, Licht, Temperatur,
Luftbevvegung und Boden, ihre Beeinflussung durch
Äther und ätherische Üle sowie durch verschiedene
andere chemische Substanzen, ihr Zusammenhang mit
dem Auftreten der Mykorrhiza usw. Besonderes Inter-
esse beanspruchen die Abschnitte „Bilanz zwischen
Wasserverbrauch und Regenmenge" sowie die Tran-
spiration im feuchtwarmen Tropengebiete und in der
arktischen Zone. Ein spezielles Kapitel behandelt
die Wasserausscheidung durch Hydathoden, die Gutta-
tion. Die folgenden Abschnitte sind der biologischen
Seite des Transpirationsproblems gewidmet. Hier
werden der Reihe nach die Schutzeinrichtungen gegen
zu weit gehende Transpiration, die Arten der Wasser-
versorgung und Wasserspeicherung sowie die Forde-
rungsmittel der Transpiration eingehend besprochen.
Bemerkungen über die physiologische Bedeutung der
Transpiration beschließen das Werk.
Das Erscheinen des Burgerstein'schen Buches, das
als Nachschlagewerk geradezu unentbehrlich ist, wäre
um so dankbarer zu begrüßen, wenn sich hierdurch
auch andere Autoren veranlaßt fühlten, die Literatur
eines Spezialgebietes, in ähnlicher Weise zu bearbeiten.
Dr. K. Linsbauer (Wien).
G. Graf, Kurze Himmelskunde und die Stern-
bilder des nördlichen Himmels. Schweinfurt, in
Komm, bei Giegler. 1904. 46 Seiten und eine
Sternkarte. — Preis 80 Pf.
Der Te.xt des Heftchens enthält eine ganz kurze
Übersicht der wichtigsten Kenntnisse über die
Himmelskörper, sowie eine Beschreibung der bei uns
sichtbaren Sternbilder. Die beigegebene, dreifarbige
Sternkarte läßt mancherlei zu wünschen. Die Stern-
bilder erscheinen zum Teil recht verzerrt und die
auffällig eingetragenen, ganz willkürlichen Grenzen
dreier Hauptgebiete wirken recht störend. Was sollen
schließlich auf einer Sternkarte die Wendekreise oder
gar der Polarkreis, Linien, die doch nur auf dem
Erdglobus einen Sinn haben? F. Kbr.
F. Klein, Über eine zeitgemäße Umgestal-
tung des mathematischen Unterrichts
an den höheren Schulen. — Mit einem Abdruck
verschiedener einschlägiger Aufsätze von E. Götting
und F. Klein. 82 Seiten. — Preis 1,60 Mk.
E. Riecke, Beiträge zur Frage des Unter-
richts in Physik und Astronomie an den
höheren Schulen von O. Behrendsen, E. Böse, E.
Riecke, J. Stark und K. Schwarzschild. — 190
Seiten. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. 1904.
— Preis 2 Mk.
Die beiden Schriften bilden zusammen eine Samm-
lung von Vorträgen, die Ostern 1904 bei Gelegenheit
eines Ferienkursus für Oberlehrer in Göttingen ge-
halten wurden. Den Kernpunkt der ersten Schrift
bildet eine warme Befürwortung des bereits von ver-
schiedenen Seiten zur Diskussion gestellten Vorschlages,
die Elemente der Difterential- und Integralrechnung
in den Lehrplan womöglich aller höheren Schulen,
mindestens aber der Realanstalten aufzunehmen. So-
wohl Prof. F. Klein, als auch der am Göttinger Gym-
nasium tätige Professor Götting wissen die Vorteile,
die eine derartige Umgestaltung des Lehrplanes nicht
sowohl vom Standpunkte einer fachlichen Vorbildung
der späteren Mathematikstudenten, als vielmehr von
demjenigen der allgemeinen Bildung späterer Juristen,
Techniker, Ärzte usw. aus darbieten würde, mit beredten
und überzeugenden Worten zu schildern. Es kann
wohl keinem Zweifel unterliegen , daß der mathe-
matische Lehrstoff" höherer Schulen, wie er sich im
Laufe der Zeit gestaltet hat, in den oberen Klassen
einerseits vielfach die wünschenswerte Einheitlichkeit
vermissen läßt, andererseits aber zahlreiche Aufgaben
einschließt, die nur als Geistesgymnastik ersonnen und
darum wenig geeignet sind das Interesse aller Schüler
zu fesseln. Hierin würde die befürwortete Umge-
staltung gründlich Wandel schaffen. Der Funktions-
begrift" und die Theorie der Ma.\ima und Minima bilden
ja jetzt schon integrierende Bestandteile des Pensums.
Es läßt sich schwerlich gegen die Durchführbarkeit des
Planes etwas einwenden , unter Verzicht auf manche
weniger nützliche Lehren etwas weiter in die Diffe-
rential- und Integralrechnung einzuführen und damit
die Möglichkeit zu gewinnen, eine große Reihe erfolg-
reichster Anwendungen der Mathematik dem Schüler
zum Verständnis zu bringen, ohne irgend welche Ver-
mehrung der Stundenzahl zu benötigen. Ja es wird
dann sogar möglich werden, mehr als bisher den
mathematischen Übungsstoff der Physik zu entnehmen
und dieser damit die ihr zur Verfügung stehende Zeit
voll zur Entwicklung der Anschauung und induktiven
Ableitung der Naturgesetze frei zu machen.
Die zweite Schrift enthält an erster Stelle eine
instruktive Zusammenstellung der Grundlagen der Elek-
trizitätslehre mit Beziehung auf die neueste Entwick-
lung. Hat diese Abhandlung Prof. Riecke's die Be-
stimmung, den Leser mit den neuesten Anschauungen
der Wissenschaft bekannt zu machen, so beschäftigen
sich die darauf folgenden Aufsätze von Behrendsen,
Stark und Böse direkt mit den Fragen des physi-
kalischen Unterrichts. Es sind Anregungen vom
höchsten, pädagogischen Wert, die hier geboten werden,
auf die aber an dieser Stelle im einzelnen leider
nicht eingegangen werden kann. Im letzten Abschnitt
empfiehlt Dr. Schvvarzschild einige astronomische Be-
obachtungen , die nur ganz einfache Einrichtungen
erfordern , besonders die Bestimmung der Polhöhe
und Zeit nach der Zwei-Fäden-Methode von Harzer,
I024
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 64
sowie nach einer photographischen, von ihm selbst
ausgearbeiteten Methode mittels der Zenitkamera. Auch
wird zum Schluß auf die Nützlichkeit der Beobachtung
der veränderlichen Sterne und der Sternschnuppen im
Sinne der „Vereinigung von Freunden der Astronomie
und kosmischen Physik" hingewiesen. In kleineren
Städten wird solche astronomische Betätigung ein-
zelner Schüler gewiß durchführbar und anregend sein,
für die Großstadt zwingen die örtlichen und zeit-
lichen Verhältnisse wohl leider meistens zum Verzicht
hierauf. F. Kbr.
Literatur.
Fuchs, L. : Gesammelte mathematische Werke. Hrsg. v. Rieh.
Fuchs u. Ludw. Schlesinger. I. Bd.: Abhandlungen (1858
bis 1875). Red. V. L. Schlesinger. (VIII, 476 S. m. Bild-
nis.) Le.x. 8°. Berlin '04 , Mayer & Müller — 30 Mk. ;
auf Schreibpap. geb. 40 Mk.
Hagen, Dir. Joh. G., S. J. : Synopsis der höheren Mathema-
tik. III. Bd. Differential- u. Integralrechng. 5. Lfg. (S. 257
bis 320.) 4". Berlin '04, F. L. Dames. — 5 Mk.
Kayser, Prof. Dr. E. : Abriß der geologischen Verhältnisse
Kurhessens. Mit e. (färb.) geolog. Karte. [Aus: „Keßler,
hessisch. Landes- u. Volkskunde, I. Bd."J (26 S.) gr. 8°.
Marburg '04, N. G. Ehvert's Verl. — 1,50 Mk.
Morgan, Prof. Dr. Thomas Hunt: Die Entwicklung des
Froscheies. Eine Einleitg. in die experimentelle Embryo-
logie. Nach der 2. engl. Aufl. übers, v. Prof. Dr. Bernh.
Solger. {XV, 292 S. m. 62 Abbildgn.) gr. 8". Leipzig
'04, W. Engelmann. — 6 Mk.
Ostwald, W. ; Die wissenschaftlichen Grundlagen der analyü-
sclien Chemie, elementar dargestellt. 4., verb. Aufl. (XII,
223 S. m. 3 Fig.) 8". Leipzig '04, W. Engelmann. —
Geb. in Leinw. 7 Mk.
Briefkasten.
Herrn J. M. in Saalfeld. — Ein Buch, das die genannten
Fragen speziell behandelt, ist mir nicht bekannt, ich glaube
jedoch, daß Sie in Cohnheim, Chemie der Eiweißkörper (1904
bei Vieweg & Sohn in Braunschweig) die gewünscliten Aus-
künfte wenigstens teilweise finden werden. F. Brüggemann.
Flerrn A. S. in Wien. — Das beste, leicht verständliche
Buch ist: Ncrnst, Theoretische Chemie, das sich sehr durch
gute Darstellung auszeichnet; der Einführung in das Gebiet
dient ferner: Ostwald, Grundriß der allgemeinen Chemie, das
bei gleichem Preise viel geringer an Umfang ist wie der Nernst.
Die von Ihnen angegebenen Werke sind ebenso wie Ostwald's
Lehrbuch der allgemeinen Chemie (das umfassendste Werk
auf dem Gebiet) mehr für Fachleute besümmt und machen
daher nicht immer Ansj)ruch auf Leichtverständlichkeit.
F. Brüggemann.
Herrn F. B. in Brüssel. — Für die Analyse von ein-
fachen Salzen und Salzgemengen sowie zur Einführung sind
zu empfehlen : Medicus, Kurze Anleitung zur qualitativen Ana-
lyse sowie Autenrieth, Qualitative chemische Analyse. Von
denselben Autoren sind auch Bücher über quantitative Analyse
erschienen. Bei der Analyse komplizierter Gemenge ist es
angebracht, Tabellen zu Hilfe zu nehmen, etwa Wallach's
,, Tabellen zur chemischen .-Xnalyse" oder die neuen von
Treadwell und V. Meyer {1904I. F. Brüggemann.
Herrn H. H. in Bonn. — Ihren Ansprüchen werden die
Bücher von Hollemann, Anorganische und Organische Chemie,
die wegen ihrer guten Darstellung sehr beliebt sind, genügen.
Ostw-ald's ,, Grundlinien der anorganischen Chemie" sind
neuerdings sehr in Aufnahme gekommen, da sie vollständig
auf modernen Theorien aufbauen , sie sind jedoch mehr für
den Berufschemiker bestimmt. F. Bruggemann.
Herrn L. Tr. in Tiegenhof. — Die meisten Ihrer Fragen
sind im Briefkasten der Nummern von Band III bereits be-
antwortet worden, Bitte nachzuschlagen. Die anderen Fragen
werden beantwortet werden.
Herrn F. in Abschruten (Ostpreußen). — Die Auftreibungen
(Gallen) an den übersandten Weidenblättern sind durch Blatt-
wespen und zwar durch Nematus vesicator bei ihrer Eiablage
im Blatt veranlaßt.
Herrn A. C. in Mährisch-Trübau. — Frage I schon früher
in Band 111 beantwortet. Ein Mikroskop bis 300 X ^^'t-
großerung ist für einen Lernenden durchaus ausreichend.
Herrn R. L. in Pirna. — Nehmen Sie Strasburger, Noll,
Schenck, Karsten's Lehrbuch der Botanik und Haberlandt's
Physiologische Pflanzenanatomie.
Herrn U. — Brenner hat gezeigt, daß unter dem Ein-
fluß des Klimawechsels zunächst die Blattsubstanz, dann die
Form (der Verlauf des Blattrandes, ob dieser mehr oder we-
niger tief gebuchtet) und in letzter Linie auch die Aderung
verändert werden kann ; es ist deshalb recht mißlich, weit ent-
legene Vorfahren (Fossilien), von denen nur Laubblattreste
vorliegen, als solche zu bestimmen. Die tief-lappigen Blätter
sind also besonders unbeständig und können erst vor relativ
kurzer Zeit entstanden sein , worauf die fossilen Reste hin-
weisen, da solche Formen in älteren Schichten unbekannt
sind. Es ist deshalb auch unrichtig ,,die Ibrmenähnlichsten
Blätter der Vorzeit von vornherein als Stammlbrmen jetzt
lebender Arten anzusehen". Das sicherste Kriterium für die
Verwandtschaft liefert die Art des Ansatzes der Sekundär-
adern an die Hauptader. P.
Herrn P. W. in Reval. — Zum Bestimmen euro-
päischer Flechten kommen von neueren Werken in Be-
tracht: P. Sydow, Die Flechten Deutschlands (Berlin, J.
Springer), ferner A. Jatta, Sylloge lichenum italicorum (Trani,
V. Vecchi), Olivier, Lichens du Nord-Ouest de la France,
Crombie, British Lichens, endlich als Nachschlagebuch
ohne Diagnosen Dalla Torre und Sarnthein, Flora von
Tirol, Bd. IV, Flechten. Alle diese Werke behandeln aber
nur ein eng umschriebenes Gebiet und sind deshalb nur mit
großer Vorsicht für andere Länder zu benutzen. Ein neueres
Flcchtenwerk, das ein größeres Gebiet umiaßt, existiert leider
nicht. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb die Flechten-
kunde augenblicklich so vollständig darniederliegt, denn die
Beschaffung der Spezialliteratur ist mit großen Schwierigkeiten
und Kosten verknüpft. Wenn Sie sich in das Gebiet ein-
arbeiten wollen , so kann dies nur geschehen , wenn Sie mit
einem tüchtigen Lichenologen in Verbindung treten. Vielleicht
kann Ilinen Dr. A. Elenkin am Kaiserl. Botan. Garten in St.
Petersburg weiter helfen. G. Lindau.
Herrn G. H. in Ravensburg. — Flageolett -Töne heißen
die Obertöne schwingender Saiten, über die Sie in jedem
physikalischen Schulbuch oder im Konversations-Lexikon aus-
reichende Auskuntt finden.
Inhalt: Kurt Hucke: Konchyliometrie. — A. Becker: Unsere gegenwärtigen Kenntnisse über Radioaktivität. (Schluß.) —
Kleinere Mitteilungen: Georg Boenuinghaus: Gehörsinn der Wale. — Hans Molisch: Über Kohlensäure-
Assimilationsversuche mittels der Leuchtbakterienmethode. — S. P. Langley: Totale Sonnenfinsternis vom 28. Mai
1900. — A.Becker: Der elektrolytische Wellendetektor. — Dr. Leduc: Elektrizität als Betäubungsmittel. — Wetter-
Monatsübersicbt. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Prof. Dr. AI fr e d Burgerstein: Die Transpiration
der Pflanzen. — G. Graf: Kurze Himmelskunde. — F. Klein: Über eine zeitgemäße Umgestaltung des mathematischen
Unterrichts. E. Riecke: Beiträge zur Frage des Unterrichts in Physik und Astronomie. — L.iteratur: Liste. —
Briefkasten,
Verantwortlicher Redalcteur: Prof, Dr, H. Potonie, Grofs-Lichterfelde-West b, Berlin.
Druclc von Lippen & Co. (G. Pätz'sche Buctidr,), Naumburg a, S,
Einschliefslich der[;Zeitschrift ,,Die NatUr" (Halle a. S.) seit i. April 1902.
Organ der Deutsehen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde in Berlin.
Redaktion : Professor Dr. H. Potoni6 und Oberlehrer Dr. F. Koerber
in Grofs-Lichterfelde-West bei Berlin.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Nene Folge III. Band;
der ganzen Reihe XIX. Band.
Sonntag, den '25. Dezember 1904.
Nr. 65.
Abonnement: Man abonniert bei allen Buchhandlung^en ^
und Postanstalten, wie bei der Expedition. Der
Vierteljahrspreis ist M. 1.50. Bringegeld bei der Post
15 Pfg. extra. Postzeitungsliste Nr. 5446.
Inserate: Die zweigespaltene Petitzeile 50 Pfg. Bei größeren
.Aufträgen entsprechender Rabatt. Beilagen nach Über-
einkunft. Inseratenannahme durch Max Gelsdorf, Leipzig-
Gohlis, Blumenstrafie 46, Buchhändlerinserate durch die
Verlagsbandlung erbeten.
Bilder von Windwirkungen am Strande.
fNachdrack verboten.]
Von F. E. Geinitz-Rostock.
I. Kräuselmarken auf dem VVarnemünder
Strand.
Die Windwellen oder Kräuselungsmarken (besser
„Kräuselmarken"), ripplemarks, auf feinem Sande
sind eine ganz bekannte und häufige Plrsclieinung;
die folgenden Beobachtungen beanspruchen nicht,
viel Neues zu deren Erklärung beizubringen, son-
dern sollen hauptsächlich einige gute Bilder für
die Demonstration der Erscheinung liefern. Die
Bilder wurden am 2. September 1903 am Strande
der Stoltera aufgenommen, wo sie nach frischem
westlichen Winde auf der etwa West-Ost ver-
laufenden Strecke von 1,5 km Länge zwischen
Wilhelmshöh und dem Anfang des Klintes sehr
hübsch neugebildet waren.
Die Frage nach der Entstehung der Kräuse-
lungsmarken ist zuletzt ausführlich von E. Berto-
l o 1 y erörtert worden ') ; ich möchte den Aus-
') E. Bertololy, Kräuselungsmarken und Dünen. Mün-
chen 1900; in GUnther's geograph. Studien, 9. Stück. — Hier
findet man auch die frühere Literatur angegeben. Siehe auch
Jentzsch in Gerhardt: Handbuch des deutschen Dünenbaus.
Berlin 1900, S. 54, 77, 8l. V. Cornish: On Kumatology.
führungen dieses Autors nur einiges hinzufügen
was vielleicht nicht ohne Bedeutung für die Ent-
stehungsfrage sein mag.
Eine genaue Betrachtung unserer Photographien
ergibt unter anderem folgendes:
Zunächst macht sich, besonders auf weiten
einheitlichen Flächen, die große Regelmäßigkeit
der Wellen bemerkbar, die den Gedanken aus-
schließt , sie seien in ihrer Ursache auf einzelne
Unregelmäßigkeiten des Bodens oder zufällige
Hindernisse zurückzuführen, wie Bertololy meint.
Fig. I zeigt auf der oberen Hälfte des Bildes
solche weite Flächen am Gehänge einer neuge-
bildeten Düne; hier konnte* der Wind ungehindert
über eine größere Fläche streichen. Auf mehr
oder weniger lange Erstreckung verlaufen die
Wellen in sanft geschwungener Kammlinie ein-
ander parallel (nur durch die photographische
Darstellung erscheint ein Konvergieren nach dem
-Augenpunkt; die Entfernung der Kämme beträgt
Geogr. Journal 1899, London, gibt ein gutes Bild von Dry
Sand rippled by wind. Auch O. Baschin erwähnt in seinen
Dünenstudien, Zeitschr. Ges. Erdkunde Berlin, 1903, S. 429
die Rippelmarken.
1026
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 65
^'-^^jfltr"
■^^
,A^
Ifr
Fig. I. Kräuselmarken auf .Sandanwehung vor der Düne bei Buhne 16 und 17. Stnllera b. Warnemünde. 2. IX. 03
Fig. 2. Kräuselmarkcn auf Sandfläche bei Buhne 20,5. Stoltera. Im Hintergrund eine neugebildete niedere Düne die sich
an den Klint parallel vorlagert. 2. IX. 03.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1027
4 — 6 cm (bei Biegungen wurde als äußerster Ab- Dies ist der häufigste Fall, den man auf vielen
stand 13 cm gemessen), die Höhe der Wellen bis größeren Sandflächen beobachten kann und der
zu ca. I cm. Alles besteht aus ziemlich gleich- vielfach abgebildet ist. Hierbei ist es gleich, ob
körnigem Sand, oft am Grunde etwas gröber als die Grundfläche horizontal ist oder geneigt (z. B.
oben. auf den Seiten ansteigender Dünen).
f ig- 3- Sandfläche mit Kräuselmarken bei der Buhne 20. Stollera. Im Hintergrund eine frische kleine Düne vor dem
Klint. 2. IX. 03.
■^f. t
4A - ^l-:\.
Fig. 4. Ivräuselmarken auf Sandfläche bei Buhne 21. Stoltera. Im Hintergrund frei gewehte Sandfläche. 2. IX. 03.
I028
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 65
Überall ist die Längsrichtung der Wellen un-
gefähr senkrecht auf die Windrichtung oder die
Kompenente der direkt oder reflektiert gehenden
Windrichtung.
Dabei sehen wir häufige Verästelungen;
aber meistens nicht im eigentlichen Sinne des
Wortes, sondern man bemerkt im allgemeinen
einen gleichen Abstand der einzelnen Wellen, wo-
bei eine oder die andere mit Ausbiegungen etwas
zurückbleibt oder sich vorschiebt, und hier
schaltet sich eine neue, ganz selbständige
Welle ein, in ihrem Anfang nicht mit dem
Nachbar zusammenhängend, sondern mit
sanfter Erhebung an der Seite aus dem allgemeinen
Niveau aufsteigend. Eine solche neue Welle bleibt
selbständig und hört in ihrem weiteren Verlauf
ebenso selbständig wieder auf, und die benach-
barte setzt in ihrer alten Richtung fort.
Nur an seltenen Stellen findet eine direkte
Verbindung zwischen alter und neuer Insertion
statt, oder sie ist wenigstens angedeutet durch
einen kurzen Haken der alten, der nach der neuen
hinweist (Fig. i u. 2).
Die gleichen Kräuselmarken finden wir im
flachen Wasser des Strandes, besonders bei vor-
und rückwärtslaufender Bewegung am flachen
Strand oder in kleinen Lagunen ^) ; ebenso an tieferen
Stellen unter dem vom Wind gekräuselten Wasser,
gleichsam die Wellen wiederspiegelnd. Gleiche
Formen von trockenem Sand oder Staub sehen
wir bisweilen auf Chausseen (bei Schneetreiben
seltener, weil hier das Material andere Beschaffen-
heit hat).
Bei der Frage nach der Entstehung ist zu-
nächst der Umstand zu betonen, daß sie um so
reiner und regelmäßiger auftreten, je freier von
Hindernissen die Fläche ist; die Idealform würden
parallele und gerade Linien sein, frei von Biegungen
und Verästelungen ; doch kommt dies auf sehr
lange Strecken wohl nicht vor. Die Erklärungen,
welche zur Bildung ein vorhandenes Hindernis
annehmen, können nicht richtig sein, die Ursache
muß in dem Agens, in der bewegten Luft oder
dem bewegten Wasser, liegen.
Der Windstrom geht über den Boden nicht
in Form einer ebenen Fläche, sondern macht hier
stoßförmige springende oder spiral-, wirbel- oder
walzenförmig aufrollende Bewegungen
(in Wülsten); das Querprofil des Luftstromes ist
') Hier im flachen Wasser des Strandes oder der lagunen-
artigen Pfützen sind es Interferenzerscheinungen der Meeres-
wellen, welche die Kräuselmarken hervorrufen ; besonders ein-
leuchtend ist dies bei den Lagunen zu sehen, welche von zwei
Seiten her von den heranlaufenden Wellen ihr Wasser er-
halten. O. N. Witt hat die Erscheinung kürzlich beschrieben
(Prometheus, XIV, 1903, 751): ,, ganz leichte und gleichmäßige
Wellen laufen am sanft geneigten Strand empor und wieder
zurück. Dabei interferieren die rücklaufenden Wellen mit
den herankommenden. An den Stellen der sich ausbildenden
stehenden Knoten wirken offenbar größere Wasserdrücke auf
den leichten Sand des bespülten Strandes, als an den Stellen
der Bäuche. Hier wird daher der Sand weggespült, während
er sich an den Stellen der Bäuche ansammelt."
also an der Grenze des Bodens nicht eine gerade
Linie, sondern eine von rückläufigen Kreisen unter-
brochene Kurve, ungefähr wie die beistehende
?"igur.
Unsere schematische Figur erinnert an die Ab-
bildungen, die R. Wachs muth gibt.')
Der über die Sandfläche hinstreichende Luft-
strom findet an dem Sande Widerstand und Rei-
bung; aus den Untersuchungen von Helmholtz
folgt, „daß der gerade sich ausbreitende Luftstrom
labil ist und daß er immer in eine Schlangen-
linie überzugehen streben wird, weil er da in
dem Zustand kleinerer Energie ist".-) Auch an
der Grenze sich mischender Luftschichten von
verschiedener Dichte entstehen nach Helmholtz
spiralige Bewegungen.
Unter den Stellen der aufsteigenden Wirbel
wird also die Bewegung Null und der von dem
Luftstrom fortbewegte Sand niederfallen, wie in
dem Diagramm angedeutet. Auch die Anreiche-
rung der ausgeblasenen niederen Stellen an Sand-
körnern erklärt sich dadurch.
Eine den „Verästelungen" der Kräuselmarken
gleiche Form haben auch nach L. Matthiessen ■'')
die Klangfiguren, wo sich nach ihm auch nicht
die Rippen gabelförmig spalten, sondern die
leeren Zwischenräume.
(Versuche mit einem Ventilator, die Herr Prof.
Wachsmuth anstellt, haben zwar die Bildung der
Kräuselmarken prächtig nachahmen können, doch
gelang es bisher nicht, die angenommenen Wirbel
nachzuweisen. Dagegen tritt sehr rasch eine Son-
derung nach der Korngröße ein und es könnten
die reihenweise vorwärts geschleuderten Steinchen
vielleicht schon das von Bertololy gesuchte Hinder-
nis abgeben).
Bei der leichten Beeinflussung der Geschwindig-
keit der über eine Fläche streichenden Luft, im
Querschnitt der Gesamtbahn, ergibt sich der häufig
von der Geraden abweichende, gebogene Verlauf
der Wellenkämme, ergeben sich die Insertionen,
welche an den Wirbelstellen, nicht an den vorigen
Kamm direkt, anschließen^können.
Wenn man übrigens sieht, wie sowohl im
Wasser, als auf dem trockenen Sande an derselben
Stelle die Richtung der Wellen in den folgenden
Zelten oft wechselt, wie einige hundert Meter
weiter zu gleicher ßeobachtungszeit die Richtung
') Ann. d. Physik. 14, 1904, S. 488 und Taf. 2, vgl. S. 495.
') Wien, Physikal. Zeitschr. 4. 748.
') Matthiessen: Akustische Versuche, die kleinsten
Transversalwellen der Flüssigkeiten betr. Pogg. Ann. 134, 1868,
107. und üb. d. Transversalwellen tönender tropfb. und elast.
Flüssigk. ibid. 141, 1S70, 375 [381),
N. F. m. Nr. 6 s
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1029
verschieden ist, so ergibt sich ohne weiteres, daß
die Richtung der Wellen niemals zur Bestimmung
etwa der durchschnittlichen Windrichtung dienen
kann, wie bisweilen angenommen wurde.
Der nicht geradlinige, sondern schlangenförmige
Verlauf der Kammlinien, welche überall im großen
und kleinen zu beobachten ist (Fig. 4), wird, wie
ein Blick auf unsere Bilder lehrt, durch irgend-
welche Hindernisse verursacht, welche dem freien
Lauf des Windes entgegenstehen. Der rückwärts
laufende Kurventeil führt nach ihm hin.
So sehen wir z. B. auf Fig. 2 , wie die Gras-
und Tangbüschel mit ihrer dahinter gelegenen
Sandzunge solche Hindernisse bilden : Zu beiden
l'ig. 5. Windeinfluß auf Eaumwuchs, Rosenort b. Warnemünde. 7. Vll. 01.
lig. 6. Dasselbe. In beiden Fällen Boden: Heidesand, etwa 3 m ü. M.
I030
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 65
Seiten weht der Wind stärker, schiebt die Kräusel-
marken in Kurven weiter vorwärts; ihr Zusammen-
hang ist bei starker Luftbewegung auf der Höhe
der Sandzunge unterbrochen, bei schwächerer er-
halten, aber in rücklaufender Kurve.
^'S- 7- Vom Winde im Wachstum gestörte Pappelbäume hin
Ribnitzer Stadtwiese bei Wustrow. 21. VIII
Dasselbe sehen wir im kleinsten Maßstab hinter
Steinen (Fig i).
Weiter unterhalb gleichen sich die Kurven oft
wieder aus, auch wenn sie zuerst ganz schroffe
Ausbiegungen zeigten.
Das gleiche sieht man hin-
ter Pfählen von Buhnenreihen
(Fig. 3). .
Die hinter den Grasbüscheln
ansetzenden Sandzungen erläu-
tern auch sehr hübsch die
Dünenbildung von Hocli-
ufern. Auch längs der niederen
Steilufer kann man dieselbe gut
beobachten (Fig. 3). Überall
sehen wir die Dünen parallel
der Küstenkontur laufen. Diese
letztere verläuft ja nie in ge-
rader Linie, sondern macht die
verschiedensten Biegungen. Sel-
ten wird wohl der Sand direkt
senkrecht auf das Steilufer an-
geweht, sondern in den aller-
meisten Fällen in schräger
Richtung, die sich bis zur Pa-
rallelrichtung ändern kann. Der
Satz, die Düne bildet sich senk-
recht zur herrschenden Wind-
richtung, ist in dieser Allge-
meinheit nicht richtig, vielmehr
ist die Dünenbildung durchaus von den kleinen
lokalen Abweichungen des Windes beeinflußt, die
ihrerseits in dem Verlauf des Uferrandes bedingt
sind; daher unendliche Mannichfaltigkeit. Der
Wind mag kommen, von welcher Richtung er
wolle, immer wird er an dem
Ufer abgelenkt, so daß als
Resultante ein dem Ufer parallel-
laufender Luftstrom die Sand-
körner in Arbeit nimmt.
Wie also im kleinen die
Kräuselungsmarken senk-
recht zur Windrichtung stehen,
so sahen wir die einigermaßen
größeren Sandzungen hinter
Hindernissen parallel der-
selben verlaufen und als ihnen
entsprechende, ins große über-
setzte Bildungen, sind die Dü-
nen aufzufassen.
Diese Beobachtungen gelten
für Küsten mit Hochufer oder
Klint (gleich, ob dasselbe wenig
oder viele Meter sich erhebt);
an den offenen Flachküsten, be-
sonders bei Moorniederungen,
wird vielleicht die übliche An-
nahme richtig sein; hier kann
man die Dünen in ihrem dem
Strande parallelen Verlauf gut
mit den parallelen Sandbänken
des flachen Meeres vergleichen,
hier werden sie also im großen ebenso wie die
Kräuselinarken in einer Wellenbewegung ihren Ur-
sprung haben. Ob auch hier der Küste parallele
Sekundärluftströmungen von wesentlicher Bedeu-
tung sind, wobei die kleinen neugebildeten Sand-
ler dem Deicli au der
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Fig. S. Eiiizelbaum obiger Gruppe.
N. F. m. Nr. 65
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1031
liiigel die Rolle des Hochufers übernehmen,
möchte ich nicht fest behaupten; zu beachten
scheint mir indes diese Möglichkeit doch zu sein.
Bei starkem konstantem Winde werden vor-
handene Dünenquerkämme alsdann wieder umge-
bildet, durch die Sichelform in die der Windrichtung
parallel streichenden Kämme, die ,,Rimmer", wie
wir sie auf dem Darßer Ort finden und wie sie
Steenstrup von Jütland beschreibt).^)
2. Windeinfluß aufdasBaumwachstum.
Die folgenden Bilder geben einige Beispiele
für den Einfluß des Windes auf das Baumwachs-
tum. Theoretisch sind die Verhältnisse sehr schön
geschildert von F. Früh : Die Abbildung der vor-
herrschenden Winde durch die Pflanzenwelt. Jahres-
bericht geogr. Ges. Zürich, ig02. Wir finden bei
uns oft die von Früh bezeichnete Form : „Ganze
Pflanze einseitig gebogen, niedrig gewunden, Krone
wie geschoren, buschig-dornig wie Hecken, dem
horizontalen Druck und Zug angepaßt, als Wind-
fahne entwickelt."
^) Steenstrup: om klitterencs Vandring.
Geol Foren. I. Kopenhagen, 1894.
Mcdd. Dansk
Schräg abgeschorene Baumgruppen , deren
Kronen in gerader Linie wie mit einer Garten-
schere abgeschnitten landeinwärts ansteigen, findet
man häufig, z. B. am Rosenort in der Rostocker
Heide. Dasselbe Bild zeigen auch Einzelbäume.
(Fig. 5 u. 6.)
Betrachtet man solche Bäume, so findet man,
daß ihr Stamm nicht gebogen (etwa durch den
Wind landeinwärts gerichtet) ist, sondern derselbe
aufrecht normal entwickelt ist; nur ist die Krone
windwärts verkümmert und die hinteren Zweige
und Äste ragen belaubt landeinwärts (Fig. 5), oder
die vorderen sind zwar auch noch entwickelt,
jedoch nur bis zur Höhe , wo der Wind noch
nicht einwirken kann; über jene Grenze hinaus,
und zwar in landwärts aufsteigender Linie, sind
die Triebe abgestorben. (Fig. 6.)
Dasselbe ist sehr nett an der Straße hinter dem
Deich an den Ribnitzer Stadtwiesen vor Wustrow zu
sehen. Von weitem erscheint die ganze Pappel-
reihe schräg gestellt (Fig. 7); in der Nähe er-
kennt man aber, daß auch hier wieder der Stamm
ziemlich senkrecht steht und nur die Aste auf
der Luvseite abgestorben und verkümmert sind.
(Fig. 8.)
Kleinere Mitteilungen.
Einem Artikel über Tropenkrankheiten (Gel-
bes Fieber, Schlafkrankheiten, Beriberi) von
Dr. B. Nocht, Chefarzt des Hamburger Seemanns-
krankenhauses und Instituts für Schiffs- und Tropen-
krankheiten, erschienen in Nr. 21 der „Zeitschrift
für ärztliche I^'ortbildung", i. Nov. 1904 (Verlag
V. G. Fischer in Jena), entnehmen wir folgende
allgemein interessierende Daten :
I. Das gelbe Fieber. Diese akute hifek-
tionskrankheit zeigt zwar große Neigung, sich von
ihren endemischen, tropischen Herden von Zeit
zu Zeit über weitere Strecken epidemisch zu ver-
breiten; sie ist aber dabei an Gegenden und Jahres-
zeiten mit einer mittleren Temperatur von un-
gefähr 20" gebunden. So ist die Krankheit zwar
oft genug bis an die Küsten Europas verschleppt
worden; sie hat aber nur im Süden Europas, und
auch dort nur im Sommer, Epidemien verursacht;
an die Küsten Mittel- und Nordeuropas sind nur
eingeschleppte F'älle gelangt, die zu keinen Über-
tragungen oder höchstens ganz schnell vorüber-
gehenden lokalen Ausbrüchen im heißen Sommer
geführt haben. Die ersten Nachrichten über die
Krankheit stammen von den Antillen. Es ist
wahrscheinlich, daß eine der Karavellen des Kolum-
bus vom Gelbfieber heimgesucht worden ist. Von
den Antillen ist die Seuche nach dem mexikanischen
Golf und zeitweise bis weit in die Südstaaten der
nordamerikanischen Union gedrungen; in einigen
Hafenplätzen des mexikanischen Golfes ist sie en-
demisch geworden. Von den Antillen ist sie ferner
nach der Ostküste Südamerikas, namentlich nach
Brasilien gelangt und dort endemisch geworden.
Weitere endemische Herde finden wir in gewissen
Teilen von Westafrika, an der Goldküste, in Sierra
Leone, in Teilen von Gambia und von Senegal.
Im übrigen ist die östliche Erdhälfte bisher von
der Seuche verschont geblieben; vielleicht ändert
sich das aber, wenn einmal der Panamakanal fertig
und eröffnet sein wird.
Zur Beurteilung der Gefährlichkeit und der
Verheerungen, die die Seuche auch noch in
neuester Zeit angerichtet hat, mag die Angabe
genügen, daß in Kuba noch 1897 mehr als 6000
Todesfälle an Gelbfieber berichtet worden sind, was
darauf schließen läßt, daß dort die Krankheit in
diesem einen Jahre über 30000 Menschen ergriffen
hatte. Besonders gefährdet sind in den Gelb-
fiebergegenden die neueingewanderten Europäer
und unter diesen wieder besonders die hellfarbigen,
blonden Individuen. So haben unsere Hansestädte,
die ihre Kaufleute hinüber schicken, viele schmerz-
liche Verluste durch die Krankheit zu verzeichnen,
und noch größer sind die Verwüstungen, die das
gelbe Fieber in einzelnen Jahren unter den See-
leuten unserer Handelsflotte angerichtet hat. Im
Jahre 1892 entfielen von den zur Kenntnis des
Hamburger Seemannsamtes gekommenen Sterbe-
fällen an Krankheiten 53 Proz., im Jahre 1893
34 Proz., 1894 40 Proz. auf das gelbe Fieber.
Eine einzige deutsche Reederei verlor in der
Epidemie 1891/92 in Santos 85 ihrer Leute an
der Krankheit. Ein längerer Aufenthalt in gelb-
fieberheimgesuchten Gegenden verleiht Immunität
gegen die Krankheit; hierauf beruht u. a. die
teilweise Immunität der Neger in Brasilien; in
I032
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. III. Nr. 65
gelbfieberfreien Gegenden aber sind die dort
lebenden Negern nicht immun, z. B. im Süden
der Vereinigten Staaten. Wie die neuerdings ein-
wandfrei ausgeführten Übertragungsversuche er-
wiesen haben, verlaufen die leichtesten Formen
des gelben Fiebers als ganz leichte, nicht charak-
teristische fieberhafte Erkrankung; sie verleihen
aber Immunität gegen schwerere Infektionen. Es
ist daher sehr wahrscheinlich, daß die durch
längeren Aufenthalt, durch Akklimatisation, wie
man zu sagen pflegt, erworbene Gelbfieberimmunilät
darauf beruht, daß diese Immunen einmal einen
ganz leichten, nicht beachteten Anfall der Krank-
heit überstanden haben.
Man kann drei Formen der Krankheit unter-
scheiden. Erstens die eben erwähnte, ganz leichte
Form, eine zwei- bis dreitägige, nicht charakte-
ristische, fieberhafte Allgemeinerkrankung. In den
etwas schwereren Fällen, die den Übergang zum
ausgesprochenen Typus der Krankheit bilden, ge-
sellt sich Erbrechen aller Speisen und Albuminurie
hinzu. Der Ausgang in Heilung ist in allen diesen
Fällen die Regel. Die zweite Form stellt das
charakteristische Bild der Krankheit dar, von der
sie ihre verschiedenen Namen hat , wie gelbes
Fieber, Vomito negro, Black vomit, Coup de Barre
und dergleichen. Die Krankheit beginnt mit
plötzlicher, von Frösteln oder ausgesprochenem
Schüttelfrost begleiteter Temperatursteigerung,
Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Rücken- und
Lendenschmerzen. Dieser hoch fieberhafte All-
gemeinzustand bleibt drei bis vier Tage mit nur
geringen Schwankungen bestehen; am vierten
Tage sinkt die Temperatur; es treten aber nach
einer kurzen Pause anscheinender, mit dem Sinken
der Temperatur verbundener Besserung bedroh-
liche Erscheinungen allgemeiner Blutdissolution
auf, Nasenbluten, Zahnfleischblutungen, Erbrechen
schwarzer Massen in den Magen ergossenen Blutes,
Blutstühle und enorme Gelbsucht. Dazu gesellt
sich eine außerordentliche Schmerzhaftigkeit des
Leibes. Die Urinsekretion ist in diesem zweiten
Stadium entweder ganz unterdrückt, oder es werden
nur sehr geringe Mengen stark eiweißhaltigen
Urins entleert. Schon im ersten Stadium der
Krankheit findet sich übrigens in allen ausge-
sprochenen Fällen vom ersten oder zweiten Tage
ab Eiweiß im Urin. Nur in sehr wenigen Fällen
geht, wenn dies zweite Stadium schwere Erschei-
nungen bietet, die Krankheit in Heilung über.
Tiefes Sinken der Temperatur am Ende des
ersten Stadiums ist prognostisch ungünstig ; die
Temperatur bleibt dann während des zweiten
Stadiums subnormal und der Kranke stirbt im
Kollaps. Das Bewußtsein ist meist während der
ganzen Krankheit gut erhalten , der Puls eher
retardiert. Die Milz ist gar nicht oder wenig ge-
schwollen.
Die dritte Form soll foudroyant in wenigen
Stunden unter Hyperpyrexie zum Tode verlaufen,
so daß es gar nicht zur Au.sbildung charakteristischer
Veränderungen und Symptome kommt.
Die Mortalität ist sehr schwankend, bei frisch
Eingewanderten und in Gegenden, in denen die
Krankheit lange nicht mehr geherrscht hat, sehr
hoch, bis 75 Proz.
Die Krankheit wird durch eine bestimmte
Mückenart, die Stegomyia fasciata (Fig. i), über-
tragen. Die einzige, sonst noch bekannte Über-
tragungsart besteht in der direkten Einführung
von Blut eines Gelbfieberkranken während der
.-X
/
/
\
\
Fig. I. Stegomyia fasciata 9-
ersten drei Tage seiner Erkrankung in die Ge-
webe eines gesunden Individuums. Der Verkehr
mit einem Kranken und die noch so innige und
lange Berührung mit seinen Auswurfstoffen, seinen
Kleidern usw. vermag die Krankheit nicht zu
übertragen. Die durch Moskitos übermittelte In-
fektion verläuft um so schwerer, je längere Zeit
verflossen ist, nachdem sich der Moskito infiziert
hat. Ehe nicht 12 Tage verflossen sind, nachdem
der Moskito Blut von Gelbfieberkranken aufge-
nommen hat, ist sein Stich überhaupt nicht ge-
fährlich. Schwere Krankheitsbilder entstehen erst,
nachdem die infizierten Moskitos 3—6 Wochen
und noch länger bei dem Temperatur-Optimum
von 27 — 28" gehalten werden. Früher angestellte
Stechversuche ergeben nur leichte Infektionen.
Mit den Ergebnissen der direkten Blutübertragung
übereinstimmend vermag auch der Stich von
Moskitos nur dann eine Erkrankung hervorzurufen,
wenn die Mücke Gelbfieberkranke in den ersten
drei Tagen der Erkrankung gestochen hat. Später
ausgeführte Stiche infizieren den Moskito nicht
mehr. Die Inkubation nach der Übertragung durch
Stich kann sich auf 14 Tage ausdehnen. Mit der
Lebensweise der Stegomyia stimmt das epidemische
Verhalten des gelben Fiebers sehr gut überein.
Diese Mückenart ist wie das gelbe Fieber auf die
wärmeren Länder beschränkt, übrigens aber sehr
N. F. III. Nr. 65
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1033
viel weiter verbreitet als die Seuche. In tropischer
Temperatur ist diese Mücke außerordentlich aktiv.
Das Weibchen ist sehr blutdürstig; es zieht mensch-
liches Blut dem der Tiere vor. Sie greift zwar
alle Menschenrassen an, mit Vorliebe aber nach den
Ermittelungen der französischen Expedition die
Weißen, und am eifrigsten soll sie sich auf In-
dividuen mit feiner, weißer, blutreicher Haut stürzen.
Sie sticht bei Tage wie bei Nacht. Auf den ersten
Blick scheint das unvereinbar mit der feststehen-
den Erfahrung, daß man das Gelbfieber im all-
gemeinen nur des Nachts akquiriert. So schützen
sich die wohlhabenden Bewohner von Rio seit
vielen Jahren vor dem Gelbfieber dadurch, daß sie
nur den Tag über sich dort aufhalten, die Nächte
aber regelmäßig in dem gelbfieberimmunen Petro-
polis zubringen.
Für die Verhütung des Gelbfiebers kommen
dieselben Methoden in Betracht wie für die der
Malaria.
2. Die afrikanische Schlafkrankheit
ist uns seit mehr als hundert Jahren bekannt. Wir
wußten, daß sie in einzelnen Dörfern und Distrikten
im Hinterland des tropischen Westafrika ende-
misch herrschte. Zur Zeit des Sklavenhandels
starben viele Neger an Bord der Sklavenschiffe
und auch noch nach ihrer Ankunft in Amerika
an dieser Krankheit, die man damals als eine Art
von Nostalgie ansah. Im ganzen galt die Affek-
tion als eine zwar interessante, aber streng ende-
mische , der weiteren Verbreitung nicht fähige
Negerkrankheit. Das ist jetzt anders geworden.
Die Krankheit hat mit einem Male begonnen, in
erschreckender Weise um sich zu greifen , und
erweist sich anscheinend als eine ernste Gefahr
für Ackerbau und Handel im tropischen Afrika.
Die Krankheit hat sich in wenigen Jahren durch
ganz Angola, das portugiesische Westafrika, aus-
gebreitet; sie richtet im französischen Kongo und
im freien Kongostaate große Verheerungen an.
Sie ist den Niger und den Kongo bis nach Zentral-
afrika hinaufgezogen und hat vor kurzem den
Viktoria Nyanza und damit die östliche Hälfte
Afrikas erreicht und soll , um den See herum-
ziehend, nacli englischen Berichten bereits die
Grenzen des deutschen Schutzgebietes überschritten
haben. Auch nach dem oberen Nil ist sie hinauf-
gedrungen. Ganze Dörfer werden durch sie ent-
völkert. In der am Viktoria Nyanza liegenden
Provinz Busoga sollen der Krankheit in den letzten
3 Jahren 30 000 Menschen erlegen sein. Auch ist
die bisherige Ansicht, daß die weiße Rasse immun
gegen die Krankheit sei, anscheinend nicht mehr
aufrecht zu erhalten.
Die Krankheit dauert immer mehrere Monate
bis zu I — 2 Jahren und endet anscheinend immer
tödlich. Sie beginnt mit gelegentlichen Fieber-
attacken ; dann kommen Anfälle von Kopf-
schmerzen, Schwindel hinzu. Das Gesicht erhält
ein gedunsenes Aussehen. Nach und nach befällt
den Kranken eine zunehmende Müdigkeit. Die
Kranken schlafen zu ungewöhnlicher Zeit, bei der
Arbeit, im Gespräch, selbst beim Essen ein.
Schließlich ist der Kranke nur, solange man mit
ihm spricht oder ihm das Essen in den Mund
gibt, wach zu halten. Oft schläft er mit dem
Bissen im Munde ein. Die Intelligenz ist dabei
wohl erhalten. Die Kranken geben auf Fragen
vernünftige Antworten, sind aber zur Fortsetzung
des Gespräches nicht geneigt. Die Temperatur
ist bis auf gelegentliche kurze Fieberanstiege sub-
normal, die Sensibilität nicht wesentlich gestört;
eigentliche Lähmungen kommen nicht zustande.
Die Muskulatur wird aber allmählich schwächer,
die Muskeln zittern; die Nahrungsaufnahme und
die vegetativen Funktionen sind anfangs noch
gut in Ordnung; später bereitet die Ernährung
Schwierigkeiten; die Kranken beschmutzen ihr
Bett; der Speichel fließt aus dem Munde, und so
sterben sie kraftlos und komatös, manchmal mit
terminalen Konvulsionen unter Gehirnerscheinungen.
Die Ätiologie der Krankheit war bis vor
kurzem ganz unklar. Sie scheint auf einem eigen-
artigen Parasiten zu beruhen, den in diesem Jahre
(1903) Gast eil ani in der durch Punktion ent-
leerten Lumbal flüssigkeit von Kranken ge-
funden hat. Er fand in dem durch Zentrifugierung
gewonnenen Bodensatz der Flüssigkeit in 20 von
34 untersuchten Fällen Trypanosomen und zwar
nur bei schlafkranken Negern, bei gesunden oder
an anderen Affektionen leidenden Individuen nicht.
Seitdem sind die Beobachtungen von Castel-
lani durch umfassende Untersuchungen einer
englischen, aus den Forschern Bruce, Navarro
und Greig zusammengesetzten Expedition, ferner
von der französischen Expedition von Wüst und
Brumpt, die auch die drei schlafkranken, mit
Trypanosomen behafteten Neger nach Paris ge-
bracht haben, bestätigt worden. Der englische
Bericht ist eben erschienen. Über die Ergebnisse
der französischen Forscher hat B 1 a n c h a r d auf
dem internationalen Kongreß für Hygiene und
Demographie im September 1903 in Brüssel vor-
läufige Mitteilungen gemacht. Bruce und Na-
varro fanden die Trypanosomen in der Lumbai-
flüssigkeit jedes einzelnen von 40 untersuchten
Fällen von Schlafkrankheit. Wiggins fand sie
in jedem von 53 Phallen. In der Lumbaiflüssigkeit
gesunder oder an anderen Affektionen leidender
Individuen sind noch keine Trypanosomen be-
obachtet worden. Auf Affen übertragen verläuft
die Krankheit viel akuter als bei Menschen. Die
Trypanosomen erscheinen zuerst sehr zahlreich im
Blute, dann aber auch in der Cerebrospinalflüssig-
keit. Die Symptome der Schlafkrankheit äußern
sich bei den Tieren nicht in der charakteristischen
Weise wie beim Menschen ; die Tiere schlafen
zwar viel, und zeigen außer der Somnolenz auch
Blutkühle, aber das tun die Affen auch unter
dem Einfluß anderer Infektionserreger unmittelbar
vor dem Tode; nur in einem Falle traten lethar-
gische Symptome bei einem mit Trypanosomen
infizierten Affen schon 10 Tage vor dem Tode
auf (Fig. 2).
I034
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 6s
Wir kennen eine ganze Reihe pathogener
Trypanosomen, das Rattentrypanosoma, das
Trypanosoma der Dourine, das Trypanosoma der
Tsetsekrankheit und der indischen Surra, den Para-
siten des Mal de Caderas, das südafrikanische
Trypanosoma Teileri, einer Rinderkrankheit u. a.
Der erste, der Trypanosomen bei Menschen fand,
war der Franzose Nepveu 1891, dann kam vor
zwei Jahren der Forde-Dutton' sehe Fall, dann
diagnostizierte Manson mit Daniels einen Fall
Gesundheitsstörungen hervor; bei Europäern ver-
ursachen sie von Zeit zu Zeit eigenartige heftige
Fieberattacken und eine allgemeine Kachexie. Erst
im weiteren Verlaufe der Krankheit dringen die
Parasiten in die nervösen Zentralorgane und be-
wirken dort allmählich Veränderungen, die zu den
Erscheinungen der Schlafkrankheit führen. Es ist
schon lange bekannt, daß die Inkubationszeit der
Schlafkrankheit sich über Jahre erstrecken kann.
Die Neger behaupten, daß man noch sieben Jahre
Fig. 2. Mit Trypanosomen infizierter, schlafender Affe.
im Sept. 1902 ; ein vierter Fall wurde im Dezember
1902 in Brazzaville entdeckt; seitdem sind noch
weitere Fälle hinzugekommen (Fig. 3, 4). Die
Patienten waren zum Teil Europäer; die Trypano-
somen fanden sich lediglich im Blute. Die Sym-
ptome der Trypanosomasen bestanden in eigen-
Fig. 4. Tsetsetrypanosoma.
nach der Entfernung aus dem endemischen Ge-
biete erkranken könne. Zur Zeit des Sklaven-
handels wurden viele Fälle bei Negern beobachtet,
die schon jahrelang auf den Antillen arbeiteten,
niemals aber bei solchen, die in Amerika geboren
Fig.
Rattentrypanosoma.
artigen Fieberanfällen und zunehmender Kachexie.
Alle Beobachtungen deuten darauf hin, daß nach
der Infektion die Trypanosomen sich zunächst nur
im Blute aufhalten. Bei den Negern rufen sie
während dieser Zeit keine oder nur ganz vorüber-
gehende F"ieberattacken und keine erheblichen
Fig. 5. Glossina palpalis.
waren. Noch nicht genügend aufgeklärt ist die
Erscheinung, daß so sehr selten Europäer in den
endemischen Gebieten ergriffen werden. Der oben
zitierte Fall ist vielleicht der erste sicher kon-
N. F. m. Nr. 65
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1035
statierte. Vielleicht spielt dabei die Art der Über-
tragung eine Rolle. Die Krankheit wird nach der
Ansicht der französischen und englischen Forscher
durch eine große, nur am Tage und im Freien
herumfliegende Stechfliege (Fig. 5) übertragen, vor
der sich die apathischen und nackten, viel mehr
im Freien befindlichen Neger nicht so gut schützen
wie die bekleideten, auf sich achtenden Europäer.
Nach der Ansicht der englischen und französischen
Forscher ist es eine Tsetseart, die diemensch-
lichen Trypanosomen überträgt. Bruce und N a ■
varro konnten in drei Fällen die Krankheit auf
Affen durch den Stich vollgesogener Tsetsefliegen
übertragen. Man hat die Vermutung ausgesprochen,
daß die Tatsache, daß die Schlafkrankheit gerade
neuerdings so schrecklich zunimmt, mit der rapiden
Verarmung großer Strecken Afrikas an Wild zu-
sammenhängt. Die Stechfliegen greifen jetzt aus
Mangel an Wild den Menschen mehr an als früher.
Ob die Trypanosomen in der Tsetsefliege eine
Entwicklung und welche sie durchmachen, wissen
wir nicht. Die Verhältnisse müssen aber ganz
anders liegen wie bei Anopheles und der Malaria.
Während das gelbe Fieber bisher auf gewisse
Teile von Amerika und Afrika, die Schlafkrankheit
auf das tropische Afrika beschränkt ist, hat: 3. die
Beriberikrankheit eine viel weitere Ver-
breitung; man kann sie kaum mehr eine Tropen-
krankheit nennen. Der einzige Weltteil, in dem
sie noch keinen festen Fuß gefaßt hat, ist Europa.
Ihre Hauptherde befinden sich in Ostasien, wo
wir zwei Zentren für ihre Verbreitung unter-
scheiden können, nämlich das malayische Insel-
reich mit Hinterindien und den Straits Settlements
mit Südchina, und Japan. In Afrika hat sich die
Krankheit mit der zunehmenden Verwendung
größerer farbiger Arbeitermassen in Minen, Plan-
tagen und dergleichen und von farbigen Soldaten
neuerdings fast durch den ganzen Erdteil gezeigt;
dasselbe gilt für die Südsee und gewisse Teile
von Australien; in Amerika ist der Hauptsitz
Brasilien, ferner wird sie beobachtet auf den An-
tillen, an der Ostküste von Zentralamerika; mit
den Chinesen ist sie nach San Franzisco einge-
wandert und weiter mit den Chinesen bis in die
nördliche Zone nach Alaska gedrungen. In Europa
sind vorübergehende Ausbrüche einer beriberi-
artigen Krankheit in einigen Irrenanstalten in
Irland, England und Frankreich beobachtet worden.
Klinisch erscheint die Beriberi als eine sehr
vielgestaltige Krankheit. Ihre Hauptsymptome
werden bedingt durch eine degenerative Neuromyo-
sitis, die in vielen peripheren Nerven und Muskeln
auftreten kann; am meisten in die Augen springend
sind die Prozesse, die die Gliedmaßen und die-
jenigen, die den Zirkulationsapparat, namenthch
das Herz und den Vagus betreffen. Man kann
vier Formen unterscheiden; nämlich erstens die
unvollkommen ausgebildete Form, die sich als ein
chronischer Zustand von Muskelschwäche in den
Beinen, Papiersohlengefühl, Herzklopfen und Be-
klemmungsgefühl charakterisiert und oft monate-
lang bestehen bleibt. Zweitens die atrophische
Form (Fig. 6) mit fortschreitender Schwächung
und Abmagerung der Arm- und Beinmuskeln bis
an die Grenze der Lähmung, während Herzerschei-
nungen selten oder nur wenig ausgesprochen sind.
Drittens die hydropische Form (Fig. 7) mit mehr
oder weniger allgemeinen Ödemen, Verminderung
Fig. 6. .Atrophische Form der Beriberil<rankheit.
der Urinmenge, Herzklopfen, Beklemmungen und
Vergrößerung mit Insuffizienz des Herzens, und
viertens die akute, kardiale Form, bei der ganz
akut die schwersten Erscheinungen von Herz-
erweiterung auftreten und in wenigen Tagen, ja
Stunden, zum Tode führen können. Immer braucht
die Krankheit mindestens viele Monate bis zur
Heilung; in jedem Stadium, selbst in anscheinend
gut fortschreitender Rekonvaleszenz können akute
Verschlimmerungen und der Tod eintreten.
Fig. 7. Hydropische Form von Beriberikrankheit.
Nach Manson ist Beriberi eine echte mias-
matische Krankheit. S c h e u b e widerstreitet dieser
Ansicht nicht; er hält aber auch für möglich, daß
ein spezifischer Mikroorganismus durch Vermitt-
lung der Atmung oder auf dem Wege des Ver-
dauungskanales in den Körper eindringt. Auf der
anderen Seite stehen die Japaner mit der Ansicht,
I036
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 65
daß die Beriberi durch eine fehlerhaft, namentlich
zu einseitig zusammengesetzte Ernährung, ohne
daß infektiöse Einflüsse dabei eine Rolle spielen,
bedingt wird.
Wir werden zu der Annahme gedrängt, daß
die Beriberi keine einheitliche Ätiologie hat, sondern
daß ihr wie bei der Ruhr verschiedene Ursachen
zugrunde liegen.
Der veränderliche Stern W Sagittarii ist
von R. H. Curtiß auf der Licksternwarte nach
einem besonders genauen Messungsverfahren
spektrographisch untersucht worden (Astrophys.
Journal, Okt. 1904). Aus 43, sich gleichförmig
über die Lichtschwankung verteilenden und fast
den Zeitraum eines Jahres füllenden Aufnahmen
des Spektrums ergab sich eine Geschwindigkeits-
kurve in Bezug auf die Sonne, deren Periode von
7,59 Tagen genau mit der Periode der Helligkeits-
schwankung übereinstimmt, jedoch muß zur Er-
klärung der beobachteten Geschwindigkeiten an-
genommen werden, daß die Bahn des Gestirns
eine Exzentrizität von 0,32 besitzt, so daß das-
selbe abgesehen von einer dem ganzen System
zukommenden Annäherung an die Sonne von
28,6 km pro Sekunde noch eine individuelle
Oszillation vollführt, vermöge deren es sich ab-
wechselnd mit 17,4 km Geschwindigkeit auf die
Sonne zu, und mit 21,6 km Geschwindigkeit von
der Sonne fort bewegt. Diese Hauptschwingung
wird ferner noch überlagert von einer Ober-
schwingung von 3,8 Tagen Periodenlänge (Ge-
schwindigkeiten derselben bis 5 km), die Curtiß
durch auf- und absteigende Bewegungen in der
Atmosphäre des Sterns zu erklären sucht, die in-
folge von Flutwirkungen von selten seines unsicht-
baren Begleiters zustande kommen mögen. Die
Bahnbewegung von W Sagittarii stimmt nun mit
den von Wright und Belopolski für d Cephei und
1^ Aquilae gefundenen Bahnen in auffallender
Weise überein, insbesondere fällt das Helligkeits-
maximum bei allen drei dem „Cepheiden-Typus"
angehörigen Veränderlichen kurz vor die Zeit der
gerade nach der Sonne zu gerichteten Bewegung,
während das Minimum mit der Zeit der größten
Zurückweichung des Gestirns zusammenfällt. Da-
nach könnte vielleicht der Lichtwechsel bei dieser
Gruppe von Veränderlichen zu erklären sein durch
die Annahme eines das Gestirn umgebenden
widerstehenden Mediums, dessen Wirkung die
Temperatur und Helligkeit auf der in der Be-
wegung vorangehenden Seite erhöht. F. Kbr.
Ozonabsorption ist im Sonnenspektrum
jüngst von Knut Angström nachgewiesen wor-
den (Arkiv f. Matem., Astron. och Fysik 1904, I).
Zunächst untersuchte derselbe das Absorptions-
spektrum des künstlich in einer Röhre erzeugten
Ozons mittels eines Spektrobolographen und fand
neben einigen weniger sicheren Bändern ein
scharfes, schmales Absorptionsband bei 4,8 ti und
ein breiteres Absorptionsgebiet zwischen 9,1 und
10,0 /(, dessen Maximum von 9,3 bis 9,7 /t reicht.
Ebendieselben Banden wurden danach auch im
Sonnenspektrum als vorhanden erkannt und es ist
wohl mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen , daß
sie erst durch die Absorption des Sonnenlichtes
in der Erdatmosphäre entstehen. Diese Ozon-
banden müssen nach Ängström eine nicht uner-
hebliche meteorologische Bedeutung haben, da
sie für die Ausstrahlung der Erdwärme sehr in
Betracht kommen. ^Man weiß nämlich seit Tyn-
dall (1861) — und Angström hat dies auch noch-
mals experimentell bestätigt — , daß Strahlen von
Wärmequellen niederer Temperatur in besonders
hohem Grade vom Ozon absorbiert werden. Der
wechselnde Ozongehalt der Erde könnte daher
von Einfluß auf die Temperatur der Erde sein
und es wäre interessant, wenn vielleicht auf diesem
Wege ein Zusammenhang der irdischen Tem-
peraturen mit der Sonnenfleckenperiode (vgl. Bd. II,
S. 491) begreiflich gemacht werden könnte, da ja
die Ozon erzeugenden elektrischen Entladungen
in der Erdatmosphäre mit den Sonnenflecken in
Zusammenhang zu stehen scheinen.
F. Kbr.
Die Intensitätsverhältnisse der Spektra
von Gasgemischen. — Es ist für spektralanaly-
tische Untersuchungen von Gasen von großer
Wichtigkeit, den Einfluß zu kennen, welchen kleine
oder größere Beimengungen von anderen Gasen
auf die Helligkeiten der dem untersuchten Gase
zukommenden Spektrallinien ausüben. Diese Frage
ist von E. Waetzmann in Breslau für einige
Fälle bearbeitet worden ; den in den Annalen der
Physik 14, S. 772, 1904 mitgeteilten Resultaten
entnehmen wir folgendes. Wird zu einem Gase
(Wasserstoff) eine ganz geringe Menge eines zwei-
ten Gases (Stickstoff) hinzugefügt, so wird dadurch
die Intensität der Spektrallinien des ersteren be-
deutend geschwächt. Ein weiteres Hinzufügen
des zweiten Gases verursacht eine weitere
Schwächung der Linienhelligkeit, aber in viel ge-
ringerem Maße als vorher, bis schließlich, wenn
fast 100 °/„ des zweiten Gases vorhanden sind,
ein Sprung der Intensität zu Null stattfindet.
Diese Schwächung ist aber für die Linien ver-
schiedener Wellenlängen eine verschieden starke,
und zwar tritt sie für die Linien mit größerer
Wellenlänge im allgemeinen in höherem Maße
auf als für die mit kleinerer Wellenlänge. Außer-
dem ist die Größe der Intensitätsänderung sehr
wesentlich abhängig von dem Druck, unter dem
die geprüften Gase stehen, und von der Strom-
stärke in der Entladungsröhre, und zwar ist diese
Abhängigkeit wieder für jedes verschieden-
prozentige Gasgemisch etwas modifiziert.
I. Ist die Menge des zweiten Gases eine sehr
kleine, so verhält sich das Gemisch fast genau
wie ein reines Gas, d. h. die Intensität der Spek-
trallinien ist bei konstantem Druck der Strom-
stärke proportional. Bei konstanter Stromstärke
wächst die Intensität mit abnehmendem Druck,
allerdings etwas langsamer als beim reinen Gase.
N. F. m. Nr. 65
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1037
Von einem bestimmten Druck an (bei Wasser-
stoff und Sticl<stofif etwa 0,1 mm) bleibt sie bei
weiterer Abnahme desselben bis etwa 0,03 mm
nahezu konstant, um endlich bei noch geringeren
Drucken abzunehmen.
2. In den Gemischen, in welchen das zweite
Gas in etwas größerer Menge vorkommt, wird die
Helligkeit schon bei etwas höheren Drucken wie
oben von dem Druck unabhängig.
3. Ist das zweite Gas schließlich bis zu etwa
90 "/,, im Gemisch enthalten , so ist bei konstan-
tem Druck die Helligkeit der Spektrallinien nicht
mehr proportional der Stromstärke, sondern sie
wächst langsamer als diese; bei den kleinsten
Drucken wird sie von der Stromstärke unabhängig.
Ist die Stromstärke konstant, so wächst die Hellig-
keit mit abnehmendem Druck ähnlich wie vorher.
Für das Gasgemisch Wasserstoff- Stickstoff
speziell wird die Tatsache gefunden, daß die
Intensität des Stickstoffs durch einen bestimmten
Zusatz von Wasserstoff mehr geschwächt wird als
diejenige des Wasserstoffs durch einen gleich-
großen Zusatz von Stickstoff. Bei ganz geringen
Drucken ist dagegen das Umgekehrte der Fall,
weil mit abnehmendem Druck die Helligkeit der
Linien des reinen Wasserstoffs viel stärker wächst
als diejenige des reinen Stickstoffs. A. Becker.
Eine 5000 km lange Fernsprechlinie. — In
den Vereinigten Staaten von Nordamerika plant
man gegenwärtig den Bau einer rund 5000 km
langen F'ernsprechlinie zwischen den beiden Haupt-
städten der östlichen und westlichen Union, New
York und San Francisco. Die bisher längsten
direkten Telephonlinien der Welt, New York —
Chicago und die nur wenig kürzere Strecke Paris —
Rom, sind nur rund 1600 km lang, während die
längste, von der deutschen Telegraphenverwaltung
betriebene Fernsprechstrecke Berlin — Paris sich
nur über rund 1200 km erstreckt. Freilich ist
hierbei zu berücksichtigen , daß man auf nicht
direktem Wege, durch Aneinanderschaltung zweier
Linien, auch noch weiter telephonieren kann. So
kann man z. B. von Berlin über Paris nach Bordeaux
(1800 km) und selbst nach Marseille (2100 km)
sprechen. Doch sind dies Ausnahmefälle.
Im allgemeinen pflegt eine Entfernung von
1500 oder 1600 km als oberste Grenze einer ver-
ständlichen Sprechübertragung zu gelten, wenn
die auf die Anlage verwendeten Kosten sich in
normalen Grenzen halten und eine Rentierung des
Unternehmens ermöglichen sollen. Die Stärke
der zum Telephonieren verwendeten Bronze-
freileitungen wächst mit der Größe der zu über-
windenden Entfernung. Für eine Strecke von
1500 km muß man schon einen 5 oder 6 mm
starken Bronzedraht verwenden, dessen Preis natur-
gemäß schon ein recht hoher ist. Noch dickere
Drähte scheut man sich bereits zu benutzen, weil
der Preis der Leitungen proportional dem Quer-
schnitt (und außerdem proportional der Länge)
wächst. Für die Verbindung New York — San
F'rancisco müßte man , um eine brauchbare Ver-
ständigung zu erzielen, eine nahezu 2 cm starke
Bronzeleitung wählen. Daß 5000 km einer der-
artigen Leitung ein ganz horrendes Stück Geld
kosten würden, dürfte einleuchtend sein. Es ist
daher zu vermuten, daß man das vielbesprochene
System des Amerikaners Pupin für die 5000 km-
Linie benutzen wird, weil dadurch eine beträchtliche
Verminderung der Anlagekosten ermöglicht wird.
Bekannt geworden ist nur, daß ein Dreiminuten-
Gespräch zwischen New York und San Francisco
auf der neuen Linie nicht weniger als 16 Dollar
(rund 50 Mark) kosten wird. Ob unter solchen
Umständen für amerikanische Verhältnisse die
Anlage sich rentieren wird , läßt sich nicht über-
sehen; in Europa könnte jedenfalls — nach allen
bisherigen Erfahrungen — bei solchen Preisen
von einer hinreichenden Benutzung und Verzinsung
nicht die Rede sein. Auf der Linie Berlin — Paris
kostet das Dreiminuten -Gespräch 5 Mark; hier
wird eine ausreichende Benutzung noch erzielt.
Schon die Linie Berlin — Petersburg scheute man
sich jedoch bisher zu bauen, weil man bei einem
Einheitssatz von 7,50 Mark für das Gespräch, wie
er sich als notwendig herausstellte, möglichenfalls
nicht mehr auf eine ausreichende Benutzung rech-
nen konnte und nicht mehr auf seine Kosten ge-
kommen wäre. Ein Gespräch von Paris nach
London (durch ein Seekabel) kostet IG Francs,
ungefähr ebensoviel eine telephonische Unterhaltung
von Marseille nach Berlin. Die Preise der Ge-
spräche wachsen also rasch mit der Länge und
mit den Anlagekosten der Leitung. Jedenfalls
erscheint nach all dem Gesagten etwas Skepsis an
dem glücklichen Zustandekommen der neuen
5000 km-Linie nicht unangebracht.
Himmelserscheinungen im Januar 1905.
Stellung der Planeten: Merkur ist vom lo. ab mor-
gens im SO bis ','2 Stunde lang sichtbar, Venus glänzt als
Abendstern bis 3'/4 Stunden lang nach Sonnenuntergang.
Mars steht in der Jungfrau und kann bis ^^j^ Stunden lang
vor Sonnenaufgang beobachtet werden, Jupiter steht im
Waltisch und kann abends noch 8 bis 6 Stunden lang be-
obachtet werden, während Saturn gegen Ende des Monats
in den Strahlen der Sonne verschwindet.
Verfinsterungen der Jupitertrabanten:
Jan. 7 Uhr 13 Min. 22 Sek. M.E.Z. ab., Austr. d. II. Trab.
2
6,
9
9
'3
i';
16
'7
17
22,
24
24
29,
9
7
9
1 1
6
10
5
7
7
9
1 1
9
36
26
50
32
I
3
3S
1 1
57
40
12
52
36
7
31
22
22
20
26
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46
25
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Eintr. ,,
Austr. ,,
Eintr. „
Algol-Minima: Am 16. um 10 Uhr 25 Min. ab. M.E Z.,
und am 19. um 5 Uhr 14 Min. nachm. M.E.Z.
Bücherbesprechungen.
Meyer's Grofses Konversations -Lexikon. Ein
Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste,
I038
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 6s
gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage.
8. Band. Glashütte bis Hautflügler. (Verlag des
Bibliographischen Instituts in Leipzig und Wien.) —
Preis geb. lo ]Mk.
Der soeben erschienene 8. Band bringt wieder
eine Reihe wichtiger Artikel. Von allgemein tech-
nischem Interesse sind die physikalisch-mathematischen
Artikel über „Gleichgewicht", „Gravitation", „Graphi-
sche Statik" , ferner über „Größe" und „Grenze",
während die mechanische Technologie und das Ma-
schinenwesen durch sehr instruktive Abhandlungen
über „Hämmer" — begleitet von 2 Bildertafeln —
„Göpel", „Hahn", ,, Glockenstühle", „Glocken" und
„Hartguß", ferner durch die Artikel „Granaten" und
„Handfeuerwaften" vertreten sind, denen ebenfalls
3 Tafeln mit den verschiedensten Typen zur Belehrung
beigegeben sind. Einen wichtigen Platz nimmt das
Eisenbahnwesen ein. Für das Berg- und Hütten-
wesen sind von Bedeutung die hierfür in Betracht
kommenden Teile des Artikels „Gold", sowie die
instruktiven Aufsätze über „Grubenunfälle", „Gruben-
explosionen", auch die Artikel ,, Granit", „Graphit",
„Ghmmer" etc. Dem Bautechniker werden die Be-
merkungen über „Gründung" (mit Tafel), „Grundbau",
„Grundwasser" , über „Hausschwamm" und „Haus-
entwässerung" manchen guten Wink geben können ;
die dem Artikel Hamburg beigegebenen Tafeln
„Hamburger Bauten" geben ein gutes Bild von den
hervorragendsten architektonischen Schöpfungen dieser
Stadt. Neben den chemischen Artikeln über „Gold",
„Gummi", ,,Harz", „chemisches Gleichgewicht" sind
vor allem eine ganze Reihe Aufsätze aus verschiede-
nen Gebieten der Kunstindustrie hervorzuheben. Die
Naturwissenschaften (Geographie, Biologie etc.) sind
wieder gebührend berücksichtigt.
H. Conwentz, Die Gefährdung der Natur-
denkmäler und Vorschläge zu ihrer Er-
haltung. Denkschrift, dem Herrn Minister der
geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegen-
heiten überreicht. Gebrüder Bornträger in Berlin.
1904. — Preis geb. 2 Mk.
Der Schrift des verdienten Direktors des muster-
gültig eingerichteten Westpreußischen Provinzial-
museums zu Danzig muß man die größte Verbreitung
nicht nur unter den Naturkundigen, sondern auch in
breiteren Schichten des naturliebenden Publikums
wünschen. Besonders sei das geschmackvoll ausge-
stattete Buch den Touristen-, Fremdenverkehrs- und
Verschönerungsvereinen empfohlen, damit der Tafel-
unfug und alle die übrigen sattsam bekannten Aus-
wüchse einer an sich sehr lobenswerten Tätigkeit
allmählich einem ersprießlicheren Beginnen Platz
machen.
Nach eingehender Erläuterung des Begriffes
„Naturdenkmäler" verbreitet sich der Verfasser über
die Ursachen ihrer unzweifelhaften Gefährdung und
führt für diese Tatsache eine Anzahl Belege an, die
jeder aus eigener Erfahrung reichlich zu ergänzen im-
stande sein wird. Die zweite Hälfte des Werkes be-
schäftigt sich dann mit Vorschlägen zur Erhaltung
des Antlitzes unserer Heimat und schließt mit dem
Hinweis auf die nationale Bedeutung der angeregten
Bewegung. Es sei mir gestattet, hier die letzten
Sätze des Schlußwortes wiederzugeben. „Werden in
jedem Landesteil die natürlichen Schönheiten und
Seltenheiten erhalten und den Bewohnern geistig
näher gerückt, so erwächst diesen hieraus eine erhöhte
Freude und Liebe zur heimatlichen Scholle. Heimat-
liebe und Vaterlandsliebe, welche zu allen Zeiten mit
die schönsten Züge des Volkscharakters bildeten,
würden durch die angeregte Pflege der Naturdenk-
mäler eine nicht gering anzuschlagende, lebhafte För-
derung und Stärkung erfahren."
Diese eben angeführten Sätze müßten jeden, der
ein offenes Auge und Herz für seine Heimat oder
die Umgebung seines augenblicklichen Wohnortes
besitzt, veranlassen, auf eigene Faust zu tun, was die
Behörden und ihre doch nur pflichtgemäß interessierten
Organe auszuführen lässig oder nicht imstande sind.
Auffindung und Schutz der Naturdenkmäler muß in
erster Linie aus dem Publikum heraus geübt werden,
und man dürfte eigentlich nicht warten, bis man par
ordre du moufti gezwungen wird, seine ideellen Pflich-
ten der Allgemeinheit gegenüber zu erfüllen. Denn
zu denen gehört es sicher auch, die Sprengung eines
erratischen Blockes an hervorragender Stelle , das
Fällen eines bemerkenswerten Baumes und ähnliches
zu verhindern.
Als Vorbereitung für die zu erwartenden behörd-
lichen Maßnahmen würde es sich vielleicht empfehlen,
daß Privatpersonen , die dieser Sache Interesse ent-
gegenbringen , Verzeichnisse der ihnen bekannten
Naturdenkmäler mit genauer Ortsangabe und, wenn
möglich, Photographie oder Skizze des betreffenden
Gegenstandes an eine zu bildende Zentralstelle (Ver-
ein oder Privatmann, der. durch Anzeigen in Tages-
blättern dazu anregt) einsenden, welche letztere Ord-
nung, Sichtung und Überweisung des gesammelten
Materials an ein zuständiges Institut zu besorgen
hätte ; ein System , das ich in letzter Zeit für Ost-
und Westpreußen im kleinsten ^Maßstäbe und ganz
privatim mit Hilfe einiger Gesinnungsgenossen ein-
gerichtet habe, und das uns einigen Erfolg verspricht.
Auf diese Weise könnte im Sinne der Anregungen
des Herrn Prof. Conwentz ein vorläufiger, inoffizieller
Schutz organisiert werden, an dem sich, wie ich zu-
versichtlich hofte, die weitesten Kreise beteiligen
würden (wird doch auch schon die geringfügigste
Mitteilung auf einer Postkarte mit Dank angenommen),
und der ja für das spezielle Gebiet der Forstbotanik
in der Provinz Posen so schöne Früchte gezeitigt
hat (Naturw. Wochenschr. N. F. IIP Nr. 58 p. 922 ff.
„Bäume und Wälder"). Kurt Boris Meyer.
Dr. Ludwig Jost, a. o. Prof. d. Botanik a. d. Universität
Straßburg. Vorlesungen über Pflanzen-
physiologie. Mit 172 Abbildungen. Jena, Gustav
Fischer 1904. gr. 8". XIII, 695 S. Preis: brosch.
13 Mk. eleg. geb. 15 Mk.
Es fehlte bisher an einem derartigen Werke. Das
haben alle die, welche sich mit Pflanzenphysiologie
beschäftigen, längst gefühlt. Das bekannte Pfeft'er'sche
Handbuch ist für den Zweck der Einführung in das
N. F. m. Nr. 6S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1039
Gebiet zu groß und umfangreich, während die in den
bekannten größeren Lehrbüchern vorhandenen Be-
arbeitungen naturgemäß kürzer und knapper gehalten
sein müssen. Der Verfasser hat selbst richtig er-
kannt, daß ein Lehrbuch der Pflanzenphysiologie von
mittlerem Umfange not tut. Und so hat er
denn ein solches geschaffen, wie es besser und zweck-
entsprechender kaum gedacht werden kann. Das
Buch ist aus den Vorlesungen hervorgegangen, welche
der Verfasser seit einer Reihe von Jahren an der
LTniversität Straßburg gehalten hat und stellt sich die
Aufgabe, den mit den Grundlagen der Naturwissen-
schaft Vertrauten in die Physiologie der Pflanzen ein-
zuführen. Die Einleitung behandelt die Aufgaben und
Methoden der Physiologie. Den Stoff gliedert der
Verf in folgender Weise : L Hauptteil : Stoff-
wechsel: I. Stoffe. Zusammensetzung der Pflanze,
2. Stoffaufnahme im allgemeinen. 3. Stoftaufnahme im
einzelnen. Verwendung der aufgenommenen Stoffe,
n. Hauptteil: Form Wechsel: i. Aufgaben der Ent-
wicklungsphysiologie. 2. Wachstum und Gestaltung
unter konstanten äußeren Bedingungen. 3. Einfluß
der Außenwelt auf Wachstum und Gestaltung. 4. Die
Entwicklung der Pflanze unter dem Einfluß von inneren
und äußeren Ursachen. III. Hauptteil: Energie-
wechsel: I. Hygroskopische Bewegungen. 2. Varia-
tions- und Nutationsbewegungen. 3. Lokomotorische Be-
wegungen. Aus der überreichen Fülle des Stoffes hat der
Verf. mit glücklichem Grift" das ausgewählt, was zu einer
abgerundeten und relativ vollständigen Darstellung des
Gesamtgebietes notwendig ist. Dabei ist die Art und
Form der Darstellung meisterhaft zu nennen. Es ist
ein Genuß, das Werk durchzuarbeiten. Man könnte
es, ohne zu ermüden, in einem Zuge durchlesen. Die
zahlreich beigegebenen, guten Abbildungen unter-
stützen das Verständnis des Textes wesentlich. Die
Literaturzusammenstellungen am Schlüsse jeder Vor-
lesung enthalten neben den grundlegenden wichtigen
Arbeiten über das betrefiende Gebiet meist auch zahl-
reiche Spezialarbeiten. Sie sind für den Studieren-
den von ganz besonders hohem Werte.
Wir sind dem Verf dankbar dafür, daß er dieses
vortreffliche Werk den Jüngern der botanischen Wissen-
schaft dargeboten hat und empfehlen es den Botanikern,
die sich in die Pflanzenphysiologie gründlich ein-
arbeiten wollen, aufs angelegentlichste.
F. Schleichert, Jena.
Dr. W. Ahrens, Scherz und Ernst in der
Mathematik. Geflügelte und ungeflügelte Worte.
Leipzig, B. G. Teubner, 1904. 522 Seiten. —
Preis geb. 8 Mk.
Das Werk stellt eine Sammlung besonders charak-
teristischer Aussprüche hervorragender Mathematiker
oder sonst bedeutender Männer über mathematische
Gegenstände dar, die zum großen Teil aus Briefen
entlehnt sind, und bei deren Zusammenstellung nicht
sowohl ein systematisches Durchsuchen der Literatur,
als vielmehr die allerdings recht vielseitige und vor
allem die bedeutendsten Autoren umfassende Lektüre
des Verf maßgebend war. Es ist höchst anregend
und unterhaltend, in diesem mathematischen Stamm-
buch zu blättern, wenn auch nach des Ref. Ansicht
der Ernst im allgemeinen den Scherz überwiegt. Die
großen Mathematiker, besonders des letzten Jahrhun-
derts, treten uns durch diese Aussprüche menschlich
näher und über manche gelehrte Streitfrage und
manche Persönlichkeit lernt man aus den intimen
Äußerungen von Zeitgenossen anders urteilen. Be-
sonders wertvoll ist die genaue Quellenangabe unter
jedem Zitat, die es dem Leser ermöglicht, in den
Originalpublikationen nachzulesen. Wir zweifeln nicht,
daß das Buch vielen Mathematikern eine reiche Quelle
bildender Unterhaltung sein wird, aus der sie oft und
gern zu ihrer Erfrischung schöpfen werden. F. Kbr.
Dr. Karl Elbs, o. Professor u. Direktor des Labora-
toriums für physikalische und organische Chemie
an der Universität Gießen : Übungsbeispiele
für die elektr oly tisch e Darstellu ng ch e -
mischer Präparate. Zum Gebrauch im Labora-
torium für Chemiker und Elektrochemiker. Mit
8 Abbildungen im Te.\t. Hafle a. S., Wilhelm
Knapp. 1902. — Preis geb. 4 Mk.
Während für die Ausbildung des Chemikers im
präparativen Arbeiten auf rein chemischem Gebiete
zahlreiche brauchbare Werke zur Verfügung stehen,
mangelte es bisher an einer Anleitung zum elektro-
chemischen Arbeiten, die nicht nur auf die physika-
lische Seite der Ausbildung Rücksicht nimmt, sondern
auch der chemisch - präparativen Richtung Rechnung
trägt. Als eine solche ist das vorliegende Buch
freudig zu begrüßen. Es enthält eine Samm-
lung von Übungsbeispielen, wie sie den Praktikanten
des Gießener elektrochemischen Laboratoriums zur
Einführung in den präparativen Teil der Elektro-
chemie dient, und wie sie jedem zu empfehlen
ist, der sich eingehender mit diesen Arbeiten vertraut
zu machen sucht Wie der Verf im Vorwort betont,
ist dabei vorausgesetzt, daß der Benutzer der Anleitung
bereits nicht nur anorganisch und organisch präparativ
gearbeitet und sich im physikalischen Praktikum die
erforderlichen Kenntnisse erworben hat, sondern daß
er auch mit den Gesetzen des elektrischen Stromes,
mit den elektrischen Meßinstrumenten und Meß-
methoden vertraut ist und ebenso grundlegende
elektrochemische Übungen , wie die Feststellung der
Kapazität eines Akkumulators, seines Nutzeffektes in
Amperestunden und Wattstunden , die Ermittlung des
Einflusses derStromdichte und Konzentration des Elektro-
lyten bei einfachen Elektrolysen u. dgl. mit Erfolg durch-
gemacht hat. Es ist also ein Buch, welches nur dem
auf elektrochemischem Gebiete Fortgeschtitteneren
nutzbringend sein will und kann. — Auf 97 Seiten
Text wird zuerst im allgemeinen Teil auf die Strom-
quellen und Leitungen, Widerstände, Meßapparate und
Messungen sowie auf die Elektrolysierapparate einge-
gangen. Im speziellen Teil sind I. Beispiele aus der
anorganischen Chemie (Versuche mit unangreifbaren
Anoden und Versuche mit angreifbaren Anoden),
II. Beispiele aus der organischen Chemie (a. Elektro-
lyse organischer Säuren ; b. Elektrochemische Reduk-
tionsverfahren und von ihnen Reduktion von aroma-
tischen Nitrokörpern und von Carbonylverbindungen,
I040
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. m. Nr. 64
endlich c. Elektrochemische Oxydationsverfahren) ge-
geben. Eine elektrochemische Äquivalent-Tabelle ist
beigefügt.
Der Verfasser, welcher als eine Autorität auf elektro-
chemischem Gebiete gelten kann, hat seine Aufgabe
in glücklicher Weise gelöst, und es wäre die Ein-
führung des vorliegenden Buches auch an anderen
elektrochemischen Universitätslaboratorien als Ratgeber
und Wegweiser für den fortgeschrittenen Studierenden
nur zu erhoffen. R. Lb.
Literatur.
Keller, Prof. Dr. C. : Naturgeschichte der Haustiere. (VII,
304 S. m. 51 Abbildgn.) gr. 8". Berlin '05, P. Parey. —
9 Mk.
Krümmel, Prof. Dr. Otto : Die deutschen Meere im Rahmen
der internationalen Meeresforschung. Öffentlicher Vortrag.
Mit 3 Taf. in Steindr. u. 12 Abbildgn. im Text. (III, 36 S.)
Berlin '04, E. S. Mittler & Sohn. — 1,50 Mk. ; geb. 3 Mk.
Mach, em. Prof. Dr. Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwick-
lung historisch-kritisch dargestellt. Mit 257 Abbildgn. 5.
verb. u. verm. .^ufl. (XVI, 561 S.) Leipzig '04, V. A.
Brockhaus. — 6 Mk. ; geb. 8 Mk.
Oltmanns, Prof. Dr. Frdr. : Morphologie u. Biologie d. Algen.
1. Bd. Spezieller Tl. Mit 3 färb. u. 473 schwarzen Ab-
bildgn. im Text. (VI, 733 S.) Lex. 8". Jena '04, Gustav
Fischer. — 20 Mk.
Ritter's geographisch-statistisches Lexikon. Ein Nachschlage-
werk üb. jeden geograph. Namen der Erde v. irgendwelcher
Bedeutg. f. den Weltverkehr. 9., vollständig umgearb., sehr
stark verm. u. verb. Aufl. Unter Red. v. Johs. Penzier.
(In etwa 42 Lfgn.) i. Lfg. (1. Bd. S. 1-56.) Lex. 8».
Leipzig '04, O. Wigand. — i Mk.
Herrn K. R. in Feldberg. — Die Leiter der bekanntesten
und besten Tauschvereine sind augenblicklich die Herren : Lehrer
P. F. F. Schulz, Berlin NO, Virchowstraße 9, Seminar-
oberlehrer O. E. Leonhardt, Nossen i. S. und J. Dörfler,
Wien III, Barichgasse 36. G. Lindau.
Briefkasten.
Herrn L. O. in Nordhausen (Harz). — In einem mit Nr. I
Bd. IV beginnenden illustrierten Artikel über die Ent-
stehung der Steinkohle werden • — wenn auch sehr
kurz — über die in Aussicht gestellten Themata i. zur Ge-
schichte des genannten Gegenstandes, 2. über Schwarzwässer
und 3. über die Entstehung der Moore die allerwichtigsten
Tatsachen mitgeteilt werden. Falls dann Näheres gewünscht
wird, bin ich gern bereit in eingehenderen Artikeln diese
Themata oder auch andere aus dem Gebiet etwas spezieller
zu behandeln. P.
Herrn L. Tr. in Tiegenhof. — I. Vielerlei fmden Sie in
dem Buch von Hinterwaldner, Wegweiser für Naturaliensamm-
ler (A. Pichler's Witwe & Sohn in Wien, 1889). Seit dem
Erscheinen haben freilich insbesondere die Konservicrungs-
methoden Fortschritte gemacht, z. B. fehlt in dem Buch noch
die Angabe des Formols als Konservierungsflüssigkeit.
2. Als zool. u. bot. Wandtafeln sind für Realschulen zu
empfehlen: Pfu rtsc h eller 's Zool. Wandtafeln (A. Pichler's
Witwe & Sohn in Wien), Zippe 1 & Bell mann, Ausländi-
sche Kulturpflanzen (Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig),
Pilling & Müller, Anschauungstafeln f. d. Unterr. in der
Pflanzenkunde (derselbe Verlag), Engleder's Wandtafeln,
I. Tierkunde, II. Pflanzenkunde (Schreiber in Eßlingen) ; höheren
Ansprüchen sind angepaßt: Peter' s Wandtafeln für Syst.,
Morph, u. Biologie d. Pfl. (Theodor Fischer in Kassel 1 uftd
insbesondere Kny's treffliche Botan. Wandtafeln (Paul Parey
in Berlin). Sehr schöne Pfianzengeographische Tafeln hat
Adolph Hansen (Neue photogr. Ges. in Steglitz) heraus-
gegeben.
Herrn Gymnasial-Oberlehrer N. in Heiligenstadt (Erfurt).
— Frage: Gibt es in der Literatur irgendwo sichere Angaben
darüber, daß Haeckel in bezug auf die Embryologie
Versehen begangen hat? — Zu der in Frage kommenden
Literatur gehört zunächst eine Besprechung der ersten Aus-
gabe von E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte,
Berlin 1868, von L. Rütimeyer in Archiv für Anthropologie
Bd. 3, Braunschweig 1868, S. 301 — 302. Rütimeyer gibt
an, daß in dem genannten Buche auf S. 248 ein und derselbe
Holzschnitt dreimal abgedruckt ist unter den Bezeichnungen:
Embryo des Hundes, des Huhnes und der Schildkröte und
daß dazu auf S. 249 steht: ,, Wenn Sie die jungen Embryonen
des Hundes, des Huhnes und der Schildkröte in Fig. 9, 10, 1 1
vergleichen, so werden Sie nicht imstande sein, einen Unter-
schied wahrzunehmen." — W. His gibt an (Unsere Körper-
form und das physiologische Problem ihrer Entstehung, Leipzig
1874, S. 168 fT.), daß auf S. 242 der genannten Ausgabe in
derselben Weise ein dreimal wiedergegebener Holzschnitt ein-
mal als Ei des Menschen, einmal als Ei des Affen und einmal
als Ei des Hundes bezeichnet ist und daß in der 5. Auflage
der Natürlichen Schöpfungsgeschichte bei dem von Bischoff
entnommenen Hundeembryo der Stirnteil um 3'/, mm ver-
längert, bei dem von Ecker entnommenen Menschenembryo
um 2 mm verkürzt und durch Vorrücken des Auges zudem
um 5 mm verschmälert, der Schwanz des letzteren aber auf
das Doppelte verlängert ist und daß dadurch die beiden Fi-
guren einander bedeutend ähnlicher geworden sind. Ferner
gibt His an, daß in E. Haeckel, Anthropogenie, Leipzig
1874, die Figur 45, der Urkeim des Menschen in Gestalt einer
Schuhsohle, erfunden ist und ebenso die zwei Figuren auf
S. 272, welche den menschlichen Embryo mit einer in Blasen-
form sichtbaren AUantois darstellen und die Mehrzahl der
Figuren auf den beiden Embryonentafeln 4 und 5 , z. B. die
Embryonen vom Fische und Frosche, welche wie die Embry-
onen der höheren Wirbeltiere mit Scheitelkrümmung des Ge-
hirns dargestellt sind. — V. Hensen (Die Plankton-Expedi-
tion und Ilaeckel's Darwinismus, Kiel 1891, S. 10 f.) hat die
Angaben von Rütimeyer und His bestätigend wieder-
gegeben. Dahl.
Herrn E. P. in Rathenow. — Von einem Leser der
Naturw. Wochenschr. werde ich freundlichst darauf aufmerksam
gemacht, daß ich bei meinen Literaturangaben über die
Zelle auch V. Haecker, Praxis und Theorie der Zellen-
und Befruchtungslehre, 268 S. mit 137 Texttab., Jena 1899,
Preis 7 Mk., hätte nennen müssen. Außerdem kommt hinzu
A. Gurwitsch, Morphologie und Biologie der Zelle mit
239 Textabb., Jena 1904, Preis geb. 10 Mk. — Meine Literatur-
angaben können auf einem so vielseitig behandelten Gebiete,
wie es das vorliegende ist, natürlich nur sehr unvollständig
sein. Außer einigen grundlegenden älteren Werken und eini-
gen Schriften, die mir gerade zur Hand sind, pflege ich in
einem solchen Falle je eine ältere und eine neuere Arbeit mit
ausführlichen Literaturverweisen zu nennen und versuche da-
durch wenigstens indirekt Vollständigkeit zu erreichen. Die
neueste der genannten Aibeiten braucht keineswegs immer
die beste zu sein. Genannt zu werden verdienen übrigens
vor allem auch selbständig erschienene Werke, da sie man-
chem Leser leichter zugängig sind als Aufsätze in Zeitschritten.
— Sollte ich in meinen Literaturangaben, die nach diesem
Prinzip gemacht sind, Fehler begehen, so bin ich jedem
Leser, auch dem Verfasser selbst, der sich zurückgesetzt glaubt,
für freundliche Mitteilung dankbar. Dahl.
Inhalt: F. E. Geinitz: Bilder von Windwirkungen am Strande. — Kleinere Mitteilungen: Dr. B. Nocht: Über
Tropenkrankheiten (Gelbes Fieber, Schlafkrankheiten, Beriberi. — R. H. Cur t iß: Der veränderliche Stern
W Sagittarii. — Knut Angström: Ozonabsorption im Sonnenspektrum. — E. Waetzmann: Die Intensitäts-
yerhältnisse der Spektra von Gasgemischen. — Eine 5000 km lange Fernsprechlinie. — Himmelserscheinungen
irn Januar 1905. — Bücherbesprecbung;en: Meyer's Großes Konvers.ations-Lexikon. — H. Conwentz:
Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. — Dr. Ludwig Jost: Vorlesungen über
Pflanzenphysiologie. — Dr. W. Ahrens: Scherz und Ernst in der Mathematik. — Dr. Karl El bs: Übungsbeispiele
für die elektrolytische Darstellung chemischer Präparate. — Literatur: Liste. — Briefkasten.
Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonic, Grofs-Lichterfelde-West b. Berlin.
Druck von Lippert & Co. (G. Päti'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
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