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Full text of "Einleitung in die Philosophie"

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Peter  Kaye 


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WILHELM  JERUSALEM 

EINLEITUNO  IN  DIE  PHILOSOPHIE 

NEUNTE  U    ZEHNTE  AUFLAGE 


Übersetzungen  sind  erschienen: 
Ins  Russische  (1901),  ins  Polnische  (1.  Aufl.  1907,  2.  Aufl.  in 
Vorbereitung),    ins   Englische  (1910).    ins  Japanische   (1913), 
ins   Finnische   (1910),    ins   Ungarische   und   ins   Kroatische 


Phot.  Schönikle-Stern,  \\ 


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EINLEITUNG 


IN  DIE 


PHILOSOPHIE 


VON 


WILHELM  JERUSALEM 


„Es  ist  umsonst,  Gleichgültigkeit  in  Ansehung 
solcher  Nachforschungen  erkünsteln  zu  wollen,  deren 
Gegenstand  der  menschlichen  Natur  nicht  gleich- 
gültig sein  kann,"  Kant. 


NEUNTE  U.ZEHNTE  AUFLAGE 

DREIZEHNTES   BIS  SECHZEHNTES  TAUSEND 

MIT  EINEM  BILDE  DES  VERFASSERS 


WIEN  UND  LEIPZIG 
WILHELM  BRAUMÜLLER 

UNI  VERS  ITÄTS- VERLAGSBUCH  HANDLUNG 

GESELLSCHAFT  M.  B.  H. 
1Q23 


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Alle  Rechte,  insbesondere  das  übersetzungsrecht,  vorbehalten 

Druck  von  Friedrich  Jasper  in   Wien.  III.,   Thongasse  12 


Vorwort  zur  7.  und  8.  Auflage 

Zwischen  der  letzten  Ausgabe  dieses  Werkes  (1913)  und  der 
vorliegenden  liegt  der  Weltkrieg.  Mir  erschien  dieses  erschütternde 
Ereignis  zunächst  als  ein  soziologisches  Phänomen  von  über- 
wältigender Größe.  Das  Verhältnis  des  Einzelnen  zum  Staate,  zur 
Nation  und  zur  Menschheit  wurde  von  vielen  Millionen  in  tiefster 
Seele  durchlebt.  Dadurch  sind  die  Wirkungen  des  menschlichen  Zu- 
sammenlebens, der  Organisation,  der  Ein-  und  Unterordnung  ebenso 
in  ihrer  fördernden  wie  in  ihrer  hemmenden  Funktion  zu  lebendigem 
Bewußtsein  gebracht  worden.  Die  Störungen  im  internationalen  Verkehr 
und  der  dadurch  hervorgerufene  Mangel  an  Lebensmitteln  und 
Rohstoffen  haben  gezeigt,  welche  Summe  von  Leiden  eine  derartige 
Katastrophe  im  Zeitalter  des  Weltverkehrs  zur  Folge  hat.  Von  diesen 
Gedanken  erfüllt,  habe  ich  bereits  im  ersten  Kriegsjahre  mein  Buch: 
„Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre"  (Stuttgart  1915)  ver- 
öffentlicht und  darin  den  Krieg  soziologisch  zu  deuten  versucht. 

Im  weiteren  Verlaufe  war  es  dann  wieder  der  immer  deutlicher 
und  in  immer  größerem  Umfang  zutage  tretende  sittliche  Verfall, 
der  mein  Denken  beschäftigte.  Rücksichtslose  Gewaltpolitik,  grau- 
samer Vernichtungswille,  Mißachtung  aller  Verträge,  mit  raffinierter 
Geschicklichkeit  in  Szene  gesetzte  Verleumdungsmaßnahmen  erschienen 
den  Staaten  als  durchaus  erlaubte  Kampfmittel.  Innerhalb  der  Staaten, 
wo  im  Anfang  des  Krieges  große  Opferwilligkeit  und  Hingabe  ge- 
herrscht hatte,  sah  man  im  weiteren  Verlaufe  immer  deutlicher,  wie 
die  in  Friedenszeiten  wirksamen  moralischen  Hemmungen  ihre  Wirk- 
samkeit verloren.  Schrankenloser  Eigennutz  im  Erwerbsleben,  rück- 
sichtslose Ausbeutung  des  Staates  bei  Kriegslieferungen,  schamloser 
Lebensmittelwucher,  unheimliche  Vermehrung  der  Einbruchsdiebstähle 
und  Raubmorde,  planmäßig  betriebene  Ausplünderung  von  Post-  und 
Eisenbahnsendungen,  zunehmende  Pflichtvergessenheit  und  Arbeits- 
scheu, besonders  aber  die  fortschreitende  Demoralisierung  der  Jugend 
bewiesen  immer  aufs  neue  die  tiefe  Wahrheit  des  von  Kant  zitierten 
Ausspruches  eines  alten  Griechen:  „Der  Krieg  ist  darin  schlimm, 
daß  er  mehr  böse  Leute  macht,  als  er  deren  wegnimmt."  Um  die 
Wege  zum  sittlichen  Wiederaufbau  zu  zeigen,  veröffentlichte  ich  im 
Jahre  1918  die  kleine  Schrift:  „Moralische  Richtlinien  nach  dem 
Kriege",  in  der  namentlich  auf  die  erweiterten  ethischen  Aufgaben 
des  Staates  hingewiesen  und  ein  wirklicher  Völkerbund  als  sittliche 
Forderung  hingestellt  wird. 

Als  ich  nun  im  Spätsommer  1918  vom  Verleger  die  überraschende 
Nachricht  erhielt,  daß  die  „Einleitung"  nahezu  vergriffen  und  eine 


y|  Vorwort  zur  7    und  8    Auflage 

neue  Auflage  nötig  geworden  sei,  stellte  sich  die  Notwendigkeit  heraus, 
die  Abschnitte  über  Ethik  und  Soziologie  umzuarbeiten  und  zu  er- 
weitern Das  kostete  aber  nicht  wenig  Zeit  und  infolgedessen  hat  das 
Buch  fast  ein  ganzes   fahr  lang  im  Buchhandel  gefehlt. 

Die  ersten  Teile,  in  denen  die  Erkenntnistheorie,  die  Metaphysik 
und  die  Ästhetik  behandelt  wird,  sind  bis  auf  kleine  Verbesserungen 
und  Ergänzungen  unverändert  geblieben.  Dagegen  ist  der  Abschnitt 
über  „Ethik"  ganz  neu  gearbeitet  und  enthält  jetzt  eine  viel  ausführ- 
lichere Darstellung  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  Nach- 
denkens über  sittliche  Fragen.  Der  S  o  z  i  o  1  o  g  i  e  ist,  ihrer  größeren 
Bedeutung  entsprechend,  ein  eigener  Abschnitt  gewidmet  worden. 
Hier  ist  ein  besonders  wichtiges  Kapitel,  „Soziologische  Grund- 
einsichten", eingeschaltet  worden,  in  welchem  wesentlich  neue  Er- 
gebnisse meiner  Forschungsarbeit  enthalten  sind.  Neu  geschrieben 
ist  ferner  §  44  „Soziologische  Ethik",  der  an  die  Stelle  der  in  den 
früheren  Auflagen  enthaltenen  Darstellung  der  „genetischen  und  bio- 
logischen Ethik"  getreten  ist. 

Die  vorhergehende  Auflage  ist  währ-rd  des  Krieges  verbraucht 
worden  und  ich  darf  deshalb  annehmen,  daß  mein  Buch  auch  hi 
dieser  schweren  Zeit  so  manchem  den  Weg  zu  einer  philosophischen 
Weltanschauung  hat  bahnen  helfen.  Vielleicht  wird  es  in  der  neuen 
Gestalt  dazu  beitragen,  die  Bedeutung  des  menschlichen  Zusammen- 
lebens für  alle  philosophischen  Fragen  klarer  zum  Bewußtsein  zu 
bringen  und  den  sittlichen  Wiederaufbau  der  Menschheit  als  die 
wichtigste  Aufgabe  der  Zukunft  zu  erfassen,  eine  Aufgabe,  an  der 
nicht  nur  die  Einzelnen,  sondern  auch  die  Staaten  und  Nationen 
mitzuarbeiten  berufen  sind. 

Wien,  im  Juli    1919. 

Der  Verfasser. 


Vorwort  zur  9.  und  10.  Auflage 

Die  neue  Bearbeitung  weist  einige  nicht  unwichtige  Erweiterungen 
auf.  Im  Abschnitt  über  Erkenntnistheorie  habe  ich  der  „Phänomeno- 
logie" und  der  „Philosophie  des  Als-Ob"  je  einen  eigenen  Paragraphen 
gewidmet,  weil  diese  Denkrichtungen  in  den  letzten  Jahren  starke 
Verbreitung  gefunden  haben.  In  dem  Abschnitt  über  Soziologie  findet 
man  jetzt  die  Geschichte  dieser  Wissenschaft  bis  zur  Gegenwart  fort- 
geführt. Neu  ist  darin  besonders  der  Hinweis  auf  Lorenz  v.  Stein, 
in  dem  ich  den  Begründer  der  deutschen  Gesellschafts- 
lehre zum  erstenmal  erkannt  und  nach  Verdienst  gewürdigt  habe. 
Hinzugekommen  ist  ferner  ein  eigener  Paragraph  (49)  über  „sozio- 
logische Erkenntnislehre".  Es  ist  das  nicht  mehr  und  will  auch  nicht 
mehr  sein,  als  eine  vorläufige  Skizze,  die  noch  sehr  der  Erweiterung 
und  der  Vertiefung  bedarf.  Trotzdem  glaube  ich,  daß  die  große 
Fruchtbarkeit  der  soziologischen  Betrachtungsweise  darin  deutlich 
zutage  tritt. 

Der  Druck  des  Buches  ist  diesmal  erfreulicherweise  viel  korrekter 
als  in  den  unmittelbar  vorhergehenden  Auflagen.  Sinnstörende  Ver- 
sehen dürften  kaum  zu  finden  sein.  Das  ist  das  ausschließliche  Verdienst 
meines  jüngeren  Fachgenossen  und  Freundes  Dr.  Walther  Eckstein. 
Er  hat  nicht  nur  die  Korrekturen  mit  großer  Sorgfalt  gelesen,  sondern 
mich  auch  vielfach  auf  stilistische  Unebenheiten  aufmerksam  gemacht, 
oft  sehr  berücksichtigenswerte  Vorschläge  zur  Ergänzung  der  Biblio- 
graphie vorgebracht  und  schließlich  auch  das  Namenregister  an- 
gefertigt. Diesem  kenntnis-  und  hilfreichen  jungen  Forscher,  der  in 
nicht  zu  ferner  Zeit  mit  eigenen  Arbeiten  hervortreten  dürfte,  spreche 
ich  hier  für  seine  ebenso  wirksame  als  selbstlose  Hilfeleistung  meinen 
warmen  und  aufrichtigen  Dank  aus. 

Wien,  im  September  1922. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsverzeichnis 

u  Seite 
Paragraph 

Erster  Abschnitt.  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

1.  Begriff  und  Aufgabe  der  Philosophie 1 

2.  Psychologischer  Ursprung  der  Philosophie 2 

3.  Historischer  Ursprung  der  Philosophie 4 

4.  Philosophie  und  Religion •     • 5 

5.  Philosophie  und  Wissenschaft ° 

6.  Einteilung  der  Philosophie J^ 

7.  Geschichte  der  Philosophie }5 

Literatur 

Zweiter  Abschnitt.  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

8.  Gegenstand,  Aufgabe  und  Entwicklung  der  Psychologie 18 

9.  Methoden  und  Richtungen  der  Psychologie 20 

10.  Psychologie  und  Physiologie 27 

11.  Psychologie  und  Philosophie > 2» 

12.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Logik    . 29 

13.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Logik 32 

14.  Grammatik,  Logik  und  Psychologie 35 

15.  Logik  und  Philosophie ^ 

Literatur     .    .    .    .    , 37 

Dritter  Abschnitt.  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

16.  Dogmatismus,  Skeptizismus,  Kritizismus 40 

17.  Die  Erkenntnisprobleme 42 

18.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntniskritik 45 

19.  Der  erkenntniskritische  Idealismus 49 

20.  Würdigung  des  erkenntniskritischen  Idealismus 51 

21.  Der  kritische  Realismus 57 

22.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntnistheorie 58 

23.  Der  Sensualismus 59 

24.  Der  Intellektualismus 61 

25.  Der  Mystizismus  und  die  Intuition 63 

26.  Die  Phänomenologie 66 

27.  Die  Philosophie  des  „Als-Ob" 76 

28.  Der  Pragmatismus 81 

29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie 83 

Literatur 101 

Vierter  Abschnitt.  Metaphysik  und  Ontologie 

30.  Probleme  und  Richtungen  der  Metaphysik 104 

31.  Der  Materialismus       1°9 

32.  Der  Spiritualismus 114 

33.  Der  Monismus  der  Substanz 120 


\  Inhaltsverzeichnis 

pfa  Seite 

14.  Dim   Monismus  des  Geschehens 124 

l  )ii   Dualismus 131 

16.  Das  kosmologisch-theologische  Problem.  Gott  und  \Velt 13/ 

I  iteratur ^ 

I  iinHer   Abschnitt.  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

u.  Begrifl  und  Aufgabe  der  Ästhetik 144 

&  Entwicklung  und  Richtungen  der  Ästhetik 140 

39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik 151 

I  iteratur         • 165 

Sechster  Abschnitt.  Allgemeine  Ethik 

40.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Ethik 167 

41.  Das  Problem  der  Willensfreiheit 16" 

42.  Entwicklung  der  Ethik 173 

43.  Richtungen  der  Ethik 213 

Literatur 217 

Siebenter  Abschnitt.  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

44.  Gegenstand  der  Soziologie 218 

45.  Die  Aufgaben  der  Soziologie 220 

4o.  Entwicklung  der  Soziologie 226 

47.  Richtungen  der  Soziologie ...  255 

48.  Soziologische  Grundeinsichten 261 

49.  Soziologische  Erkenntnislehre ....  286 

50.  Soziologische  Ethik  303 

51.  Die  Philosophie  der  Geschichte 334 

52  Pädagogik 351 

Literatur 356 

Schlußbetrachtung 359 

Namenregister 366 


Erster  Abschnitt 

Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

§  1.  Begriff  und  Aufgabe  der  Philosophie 

Philosophie  ist  die  Denkarbeit,  welche  in  der 
Absicht  unternommen  wird,  die  tägliche  Lebens- 
erfahrung und  die  Ergebnisse  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  zu  einer  einheitlichen  und 
widerspruchslosen  Weltanschauung  zu  vereini- 
gen, die  geeignet  ist,  die  Bedürfnisse  des  Verstan- 
des und  die  Forderungen  des  Gemütes  zu  befrie- 
digen. Der  gemeinsame  Zweck  alles  Philosophierens  war  es  von 
jeher,  ein  einheitliches  Bild  der  Welt  und  des  Menschenlebens  zu  ge- 
winnen. Das  ist  bei  aller  Verschiedenheit  in  bezug  auf  Inhalt  und 
Methode  das  einigende  Band  aller  philosophischen  Systeme.  In  diesem 
Sinne  ist  daher  alle  Philosophie  Weltanschauungslehre.  In 
früheren  Zeiten  glaubte  man,  aus  den  Gebilden  des  eigenen  Denkens 
einen  solchen  Bau  aufführen  zu  können,  ohne  sich  dabei  um  die  Er- 
gebnisse der  Einzelforschung  viel  zu  kümmern.  Die  Philosophie  galt 
damals  als  die  Königin  der  Wissenschaften,  die  von  ihrem  Throne 
herab  entscheiden  durfte,  was  von  den  Ergebnissen  der  Natur-  und 
Geschichtsforschung  wirklich  Geltung  und  Bestand  haben  sollte.  Diese 
Zeiten  sind  wohl  für  immer  vorüber.  Eine  Philosophie,  die  den  Er- 
gebnissen der  wissenschaftlichen  Forschung  gleichgültig  gegenüber- 
stünde, dieselben  meistern  oder  sich  zu  ihnen  in  Widerspruch  setzen 
wollte,  würde  heute  keine  Beachtung  mehr  finden.  Die  Philosophie 
muß  vielmehr  mit  der  Wissenschaft  in  enger  Fühlung  bleiben  und  muß 
die  Resultate  der  Forschung  zur  Kenntnis  nehmen.  Auf  dieser  ge- 
sicherten Grundlage  ruhend,  darf  der  in  uns  liegende  philosophische 
Einheitstrieb  es  dann  wagen,  mit  Benützung  der  wissenschaftlich  be- 
währten Methoden  und  Denkmittel  das  Stückwerk,  über  das  die 
wissenschaftliche  Erfahrung  nicht  hinaus  kommt,  zu  einem  einheit- 
lichen, gegliederten  Ganzen  auszugestalten. 

An  dieser  Arbeit  ist  aber  keineswegs  das  theoretische  Denken 
allein  beteiligt.  An  einer  philosophischen  Welt-  und  Lebensanschauung 
arbeitet  unser  Fühlen  und  namentlich  unser  Wollen  kräftig  mit.  Her- 
bert Spencer,  einer  der  nüchternsten  Philosophen,  hat  seiner  Auto- 
biographie die  Äußerung  vorangestellt :  „Bei  der  Entstehung  eines  Ge- 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  1 


2  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

dankensystems  spielt  das  Gefühlsmoment  eine  große  Rolle,  vielleicht 
eine  ebenso  große  wie  das  intellektuelle  Moment." 

Ein  philosophisches  System  ist  nicht  als  ein  Bau  anzusehen,  in 
den  wir  uns  flüchten,  wenn  wir  von  der  ermüdenden  Alltagsarbeit 
ausruhen  wollen.  Was  für  eine  Philosophie  man  wählt,  sagt  Fichte, 
das  hangt  davon  ab,  was  für  ein  Mensch  man  ist.  Die  Philosophie  ist 
heute  nicht  mehr  und  darf  nicht  mehr  sein  die  Beschäftigung  der  be- 
schaulichen Ruhe.  Unsere  durch  wissenschaftliche  Denkarbeit  er- 
worbene philosophische  Weltanschauung  hat  vielmehr  die  Aufgabe, 
gerade  unsere  Alltagsarbeit  in  eine  höhere  Sphäre  zu  heben  und 
unseren  Entschlüssen  und  Handlungen  die  entsprechende  Richtung  zu 
geben.  Die  Philosophie  soll  uns  lehren,  die  Welt  und  das  Leben  von 
höheren  Gesichtspunkten  zu  betrachten,  aber  nicht  damit  wir  von  der 
höheren  Warte  tatenlos  dem  Treiben  der  Welt  zusehen  können.  Ihre 
höchste  Aufgabe  besteht  vielmehr  darin,  daß  sie  uns  von  dem  gewon- 
nenen höheren  Standpunkt  aus  die  höheren  und  die  ferneren  Ziele 
weist,  denen  die  Menschheit  zustrebt,  und  daß  sie  uns  mit  Kraft  und 
Vertrauen  erfüllt,  damit  wir  an  der  Erreichung  dieser  Ziele  erfolgreich 
mitarbeiten. 

§  2.  Psychologischer  Ursprung  der  Philosophie 

Der  Anfang  aller  Philosophie  ist,  wie  schon  Plato  und  Aristoteles 
gesagt  haben,  das  Gefühl  des  Staunens.  Die  Natur  hat  uns  den 
Trieb  zur  Erkenntnis  zugleich  mit  dem  Willen  zum  Leben  in  die  Wiege 
gelegt.  Wir  werden  hineingeboren  in  eine  Welt  von  Erscheinungen,  die 
mit  erdrückender  und  verwirrender  Fülle  auf  uns  anstürmen.  Wir 
müssen  zusehen,  wie  wir  uns  darin  zurechtfinden,  oder  wir  müssen 
notwendigerweise  zugrunde  gehen.  Die  Wißbegierde  wird  uns  auf- 
genötigt von  dem  Triebe,  unser  Leben  zu  erhalten.  Im  Laufe  der  Ent- 
wicklung wächst  aber  dieser  Trieb  weit  über  das  praktische  Bedürfnis 
hinaus.  Tritt  uns  nun  eine  neue  Erscheinung,  eine  neue  Tatsache  mit 
so  machtvoller,  überwältigender  Realität  entgegen,  daß  wir  an  ihrer 
Existenz,  an  ihrer  Wahrheit  nicht  zweifeln  können,  dann  entsteht,  wenn 
wir  nicht  imstande  sind,  diese  neue  Erscheinung  einzureihen  in  unser 
bisheriges  System  von  Erfahrungen,  wenn  wir  dieselbe  nicht  in  Ein- 
klang zu  bringen  vermögen  mit  dem,  was  wir  bis  dahin  als  unsere  Welt 
betrachtet  haben,  dann  entsteht,  sage  ich,  jene  „echt  philosophische 
Empfindung",  das  Staunen.  Dieses  Gefühl  entspringt  also  dem  aller- 
dings nur  dunkel  empfundenen  Bedürfnis  nach  Einheit  und  Harmonie 
in  unserem  Weltbilde,  und  dieses  Bedürfnis  heißt,  wenn  es  uns  zu 
klarem  Bewußtsein  gekommen  ist,  Philosophie. 

Das  Staunen  begegnet  uns  in  zweifacher  Gestalt.  Wir  kennen  ein 
Staunen,  das  aufs  engste  mit  Furcht  verbunden  ist,  weil  alles 
Fremde  leicht  als  etwas  Feindliches  erscheint.  Dieses  prak- 
tische Staunen  veranlaßt  uns,  an  die  neue  Erscheinung  gleichsam 
nur  die  Frage  zu  stellen,  ob  sie  Freund  sei  oder  Feind.  Wir  sind  zu- 
frieden, wenn  wir  das  Neue  als  unschädlich  erkennen,  und  werden 
durch  Gewohnheit  bald  damit  vertraut.     Daneben  aber  gibt  es  ein 


§  2.  Psychologischer  Ursprung  der  Philosophie  3 

tieferes,  ein  theoretisches  Staunen,  welches  durch  keine  Gewohn- 
heit abgestumpft,  sondern  einzig  und  allein  befriedigt  wird,  wenn  wir 
das  Neue  in  unser  Weltbild  einzufügen  vermögen.  Dieses  theoretische 
Staunen  begleitet  uns  durch  unser  ganzes  Leben.  Zunächst  staunen  wir 
über  das  Neue  und  Fremde.  Aber  es  kommt  die  Zeit,  wo  die  Welt- 
anschauung, die  wir  gleichsam  unbewußt  an  der  Hand  der  Tradition 
und  unter  dem  Einflüsse  sozialer  und  religiöser  Autorität  uns  gebildet 
haben,  unser  reif  gewordenes  Denken  nicht  mehr  zu  befriedigen  ver- 
mag. Jetzt  staunen  wir  über  das,  was  uns  bisher  bekannt  und  geläufig 
war,  weil  es  uns  in  neuem  Lichte  erscheint.  Gerade  dieses  Staunen 
über  das  Alltägliche,  über  das  Bekannte  und  Über- 
lief e  r  t  e  ist  der  eigentliche  Anfang  der  Philosophie. 

Unsere  Seele  gibt  uns  aber  nicht  bloß  den  Anstoß  zum  Philo- 
sophieren, sie  zeigt  uns  auch  die  Richtung,  in  der  sich  unser  Denken 
bewegen  muß,  um  das  philosophische  Staunen  zur  Ruhe  zu  bringen. 
Jeder  Mensch  ist  eine  zentralisierte  Organisation  und  fühlt  sich  des- 
halb als  eine  einheitliche  und  selbständige  Persönlichkeit.  Unser  Ich 
ist  eine  Einheit,  vielleicht  sogar  das  Urbild  aller  Einheit.  Allein  unser 
Ich  ist  kein  Element,  kein  Atom.  Es  ist  vielmehr  der  psychische  Aus- 
druck unserer  zentralisierten  Organisation,  die  eine  unendlich  reiche 
Mannigfaltigkeit  von  Funktionen  aus  sich  erzeugt.  Erst  in  dieser  Viel- 
heit der  Funktionen  wird  unser  Ich  lebendig  und  wirklich.  Wir  ge- 
hören zur  Welt  und  die  Welt  gehört  zu  uns.  Unser  Ich  wird  durch  die 
Welt  bereichert,  die  Welt  durch  unser  Ich  geformt,  gegliedert  und  so 
zur  Einheit  erhoben.  „Der  Einklang  ist's,  der  aus  dem  Busen  dringt 
und  in  sein  Herz  die  Welt  zurücke  schlingt."  Die  Doppelnatur  unseres 
Wesens,  die  Fülle  formgebender  Kraft,  die  den  Stoff  sucht,  und  die 
Fülle  des  Stoffes,  der  nach  Formung  verlangt,  diese  einheitlich  zu 
gliedernde  Mannigfaltigkeit  unseres  Innern,  dies  alles  wollen  wir  im 
Universum  wiederfinden  oder  herstellen.  William  James  hat  in  einem 
eigenen  Kapitel  seines  Buches  über  den  Pragmatismus  die  Gleich- 
berechtigung von  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  lichtvoll  erörtert.  Noch 
tiefer  vielleicht  hat  Karl  Joel  in  seinem  Buche  „Seele  und  Welt"  diese 
Wechselbeziehung  erfaßt  und  in  hinreißender  Sprache  dargestellt.  Die 
Philosophie  hat  in  ihrer  bisherigen  Entwicklung  das  Moment  der  Ein- 
heit oft  zu  ausschließlich  betont,  ist  dadurch  oft  zu  leeren  Abstrak- 
tionen gelangt  und  hat  sich  so  dem  Leben  entfremdet.  Unser  innerstes 
und  tiefstes  seelisches  Bedürfnis  kann  aber  nur  durch  eine  Welt- 
anschauung befriedigt  werden,  welche  die  stete  und  allseitige  Durch- 
dringung von  Ich  und  Welt  anerkennt  und  begreiflich  macht. 

Je  reicher  sich  nun  infolge  der  wissenschaftlichen  Forschung  und 
infolge  der  fortwährenden  Steigerung  des  Verkehrs  unser  Weltbild 
gestaltet,  desto  mehr  Anlaß  finden  wir  zu  stets  erneutem  Staunen.  Die 
alten  Probleme  von  den  Wechselbeziehungen  zwischen  Geist  und 
Materie,  von  der  Möglichkeit,  den  Grenzen  und  den  Zielen  der  Er- 
kenntnis, die  Fragen  nach  der  sittlichen  Bestimmung  des  Menschen, 
nach  dem  Wesen  der  Kunst  und  ihrer  Bedeutung  für  unsere  Kultur 
sind  noch  immer  lebendig  und  verlangen  immer  neue  und  vertieftere 
Untersuchung.  Zu  diesen  alten  Fragen  sind  aber  in  der  letzten  Zeit 

l* 


4  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

sehr  wichtige  neue  Probleme  hinzugekommen.  Die  Struktur  des  mensch- 
lichen Gemeinschaftslebens,  die  Beziehungen  zwischen  dem  Einzelnen 
und  der  I  iesellschaft,  die  Aufgaben  des  Staates,  das  Verhältnis  von 
Politik  und  Moral,  die  internationalen  Beziehungen  der  Völker,  die 
Idee  der  ganzen  Menschheit  in  ihrem  Verhältnis  zu  Staat  und  Nation, 
der  Sinn  der  geschichtlichen  Entwicklung,  das  alles  regt  das  philo- 
sophische  Staunen  mächtig  an  und  fordert  geradezu  gebieterisch  zum 
Nachdenken  auf.  Der  große  Weltkrieg  hat  uns  diese  Probleme  und 
viele  andere  mit  überwältigender  Kraft  in  die  Seelen  hineingeschleu- 
dert  und  verlangt  von  der  Philosophie,  daß  sie  klärend  und  richtung- 
gebend ihres  Amtes  walte.  Man  darf  deshalb  mit  Sicherheit  behaupten, 
daß  trotz  des  energischen  Widerspruches  und  trotz  des  herben  Spottes, 
denen  die  philosophische  Spekulation  von  Seite  der  Spezialwissen- 
schaften  oft  ausgesetzt  ist,  das  Bedürfnis  nach  Philosophie  sich  immer 
.uns  neue  wird  fühlbar  machen.  Wenn  auch  keines  der  konstruierten 
philosophischen  Systeme  auf  die  Dauer  befriedigt,  so  wird  nach  dem 
bekannten  Worte  Schillers  die  Philosophie,  das  heißt  das  Philo- 
sophieren immer  bestehen  bleiben. 

§  3.  Historischer  Ursprung  der  Philosophie 

Unabhängig  voneinander  haben  mehrere  Kulturvölker  eine  Philo- 
sophie ausgebildet.  Die  gelehrte  Sprachforschung  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts hat  uns  mit  umfangreichen  und  oft  sehr  tiefen  philosophischen 
Spekulationen  der  Chinesen,  der  Ägypter,  der  Perser  und  insbesondere 
der  Inder  bekannt  gemacht.  Für  die  Entwicklung  des  abendländischen 
I  tenkens  ist  aber,  wenn  wir  von  einigen  wenigen  Denkern  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  absehen,  nur  die  griechische  Philosophie  bedeutungs- 
voll geworden.  Diese  hat  durch  das  ganze  Mittelalter  hindurch  fort- 
gewirkt, die  neuere  Philosophie  vielfach  beeinflußt  und  befruchtet  und 
ist  mit  ihrer  geschichtlichen  Wirksamkeit  noch  immer  nicht  zu  Ende. 
Hier  sind  zuerst  die  Probleme  aufgestellt  worden,  mit  denen  wir  uns 
noch  heute  beschäftigen,  hier  wurden  zuerst  die  Denkmittel  gefunden, 
mit  denen  wir  noch  heute  operieren.  Das  Studium  der  griechischen 
Philosophie  ist  deshalb  für  das  tiefere  Verständnis  der  Probleme  noch 
heute  unerläßlich  und  überdies  für  den  Anfänger  besonders  lehrreich. 

In  den  reichen  Pflanzstädten  Ioniens  (an  der  Westküste  Klein- 
asiens),  wo  der  rege  Handel  und  Verkehr  vielfache  Anregungen,  der 
zunehmende  Wohlstand  hinlängliche  Muße  zum  Nachdenken  ge- 
währte, waren  die  psychologischen  Bedingungen  für  die  Entfaltung 
des  philosophischen  Triebes  besonders  günstig.  Dort  beginnt  um 
(.00  v.  Chr.  mit  T/iales  die  lange  Reihe  der  Denker,  die  sich  um  die 
Lösung  der  Welträtsel  bemühten. 

Die  Namen  Philosophie  und  Philosoph  sind  jedoch  erst  seit  dem 
I  nde  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.  bezeugt.  Das  griechische  Wort 
Philosophia  i>t  wahrscheinlich  aus  dem  Zeitwort  philosophein  abgeleitet 
und  dieses  bedeutet  soviel  als:  nach  Erkenntnis  streben,  und  zwar  aus 
reiner  Wißbegierde,  ohne  einen  praktischen  Zweck  dabei  im  Auge  zu 
haben.   In  diesem  Sinne  findet  sich  das  Zeitwort  bei  Herodot  (I,  30) 


§  4.  Philosophie  und  Religion  5 

und  bei  Thukydides  (II,  40).  Bei  Piaton  und  bei  Aristoteles  bildet  sich 
immer  deutlicher  der  Begriff  des  Philosophen  und  der  Philosophie  in 
dem  Sinne  aus,  in  welchem  wir  diese  Bezeichnungen  heute  gebrauchen. 
Der  Philosoph  ist  dem  Wortsinne  nach  zunächst  derjenige,  der  die 
Weisheit  liebt  (philein  =  lieben,  Sophia  =  Weisheit),  nach  ihr  strebt, 
sie  aber  noch  nicht  besitzt.  Philosophie  ist  das  stete  Verlangen  nach 
Weisheit  und  in  diesem  Sinne  oft  gleichbedeutend  mit  dem,  was  wir 
Wissenschaft  nennen.  Sie  wird  aber  immer  mehr  zur  Wissenschaft  von 
den  letzten  Dingen,  von  den  Prinzipien  des  Seins,  des  Erkennens  und 
des  Handelns.  Man  kann  also  sagen,  daß  bereits  die  Griechen  den  Be- 
griff der  Philosophie  als  Weltanschauungslehre  heraus- 
gearbeitet haben. 

Überall  aber,  wo  eine  Philosophie  entstanden  ist,  findet  sie  sich 
in  nahen  und  engen  Beziehungen  zur  Religion  und  zur  Wissen- 
schaft. Oft  wächst  die  Philosophie  aus  der  Religion  hervor  und 
wirkt  wieder  ihrerseits  läuternd  auf  die  Religion  zurück.  Es  geschieht 
aber  auch,  daß  sie  der  Religion  kämpfend  entgegentritt  und  sich  dabei 
eng  mit  der  Wissenschaft  verbindet.  Mit  dieser  gilt  sie  anfangs  als 
identisch,  löst  sich  aber  dann  doch  wieder  von  ihr  los  und  schafft  sich 
ihre  eigene  Aufgabe.  Es  erweist  sich  deshalb  schon  hier,  gleich  im 
Eingang,  als  unerläßlich,  das  Verhältnis  der  Philosophie  zur  Religion 
und  zur  Wissenschaft  kurz  zu  erörtern,  damit  die  Eigenart  der  Philo- 
sophie gleich  anfangs  klar  erkannt  werde. 

§  4.  Philosophie  und  Religion 

Philosophie  und  Religion  stehen  vielfach  in  engem  Zusammen- 
hange. Gemeinsam  ist  beiden  das  Bestreben,  die  Erfahrung  zu  einem 
Gesamtbilde  zu  ergänzen,  gemeinsam  ferner,  namentlich  in  ihren  An- 
fängen, das  naive  Vertrauen  in  die  Kraft  des  Denkens  und  Gestaltens 
und  der  feste  Glaube  an  die  Gebilde  der  eigenen  Denk-  und  Phantasie- 
tätigkeit. Plato  glaubt  nicht  minder  fest  an  die  Wirklichkeit  und  Reali- 
tät der  Ideen  als  das  fromme  Gemüt  an  ein  Leben  nach  dem  Tode. 

Neben  diesen  gemeinsamen  Zügen  treten  uns  aber  schon  im  An- 
fang der  geschichtlichen  Entwicklung  große  Verschiedenheiten  ent- 
gegen, die  sogar  zu  scharfen  Gegensätzen  führen.  Die  religiöse  Welt- 
und  Lebensanschauung  entsteht  meist  dadurch,  daß  die  Erfahrungen 
des  Alltags  durch  die  vermenschlichende  Phantasie  ausgedeutet  und 
nach  den  Bedürfnissen  und  Wünschen  des  Gemütes  ausgestaltet  wer- 
den. Der  Glaube  an  unsichtbare  geistige  Mächte,  die  den  Naturlauf 
bestimmen,  Regen  und  Sonnenschein  verursachen,  den  Erfolg  der  Jagd, 
der  landwirtschaftlichen  Arbeit  bestimmen,  Geburt  und  Tod,  Krankheit 
und  Genesung  hervorbringen,  kurz,  alles  Geschehen  mächtig  beein- 
flussen, ist  bei  allen  primitiven  Stämmen  verbreitet  und  bildet  einen 
integrierenden  Teil  ihrer  Welt-  und  Lebensanschauung,  die  für  ihr 
Tun  und  Lassen  maßgebend  ist.  Die  religiösen  Vorstellungen  und 
Glaubenssätze  bilden  einen  gemeinsamen  geistigen  Besitz  Vieler  und 
dieser  gemeinsame  geistige  Besitz  bildet  ein  einigendes  Band,  das  die 
Glaubens-  und  Stammesgenossen  aneinanderschließt.  Die  Religion  be- 


6  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

ruht  namentlich  in  ihren  Anlangen  auf  der  sozialen  Geltung  der 
i  »laubenssätze.  Diese  gemeinsamen  Vorstellungen  werden  dann  mit  der 
\utontut  der  Tradition  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortgepflanzt 
und  später  auch  vielfach  durch  die  Autorität  der  Staatsgewalt  ge- 
schützt. Die  Religion  ist  also  infolge  ihrer  Entstehung  sozial  und 
autoritativ. 

Demgegenüber  verdankt  die  Philosophie  ihre  Entstehung  dem 
selbständig  gewordenen  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  t  r  i  e  b.  Dieser  entwickelt  sich 
aber  erst  dann,  wenn  der  Mensch  sich  aus  dem  Zustande  der 
sozialen  Gebundenheit,  in  der  er  am  Anfange  lebt,  zu  be- 
freien begonnen  und  bereits  im  Begriffe  ist,  sich  zu  einer  selbstän- 
digen und  eigenkräftigen  Persönlichkeit  auszu- 
talten.  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  wie  sich  zugleich  mit  dieser 
I  ndividualisierung  des  Einzelmenschen  die  Intel- 
lektualisierung  der  Seele  vollzieht.  Jetzt  ist  es  vor  allem 
der  e  i  n  z  e  1  n  e  Denker,  der  die  überlieferten  Anschauungen  prüft  und 
aus  der  Kraft  des  eigenen  Denkens  und  Forschens  sich  ein  Weltbild 
/urecht  denkt.  Der  Philosoph  geht  dabei  seine  eigenen  Wege  und  tritt 
den  überlieferten  Anschauungen  seiner  Zeitgenossen  mitunter  mit 
großer  Schroffheit  entgegen.  Im  Gegensatze  zu  der  sozialen  und  autori- 
tativen Religion  ist  also  die  Philosophie,  und  zwar  besonders  in  ihren 
Anfängen,  individualistisch  und  deshalb  kritisch. 

Es  ist  infolgedessen  begreiflich,  daß  beim  ersten  Auftreten  der 
Philosophie  sich  ein  Auflehnen  gegen  die  religiösen  Traditionen  be- 
merkbar macht.  In  der  griechischen  Philosophie  tritt  dieser  Gegensatz 
gelegentlich  scharf  hervor.  Xenophanes  wirft  den  homerischen  Göttern 
ihre  Menschenähnlichkeit  und  ihre  menschlichen  Schwächen  vor,  Prota- 
"oras  weiß  nicht,  ob  es  überhaupt  Götter  gibt,  und  Epikur  läßt  die 
Gottheiten  zwar  als  Idealgestalten  bestehen,  nimmt  ihnen  aber  jeden 
Einfluß  auf  das  Weltgetriebe.  Dagegen  beginnen  schon  in  ziemlich 
früher  Zeit  die  Versuche,  Religion  und  Philosophie  zu  vereinen.  Piaton 
und  Aristoteles  gelangen  auf  spekulativem  Wege  zu  der  Idee  eines 
einzigen  Gottes,  dessen  Verhältnis  zur  Welt  sie  verschiedenartig  be- 
stimmen. Die  Stoiker  versuchen,  die  überlieferten  Götter-  und  Helden- 
sagen durch  allegorische  Umdeutung  in  ihr  philosophisches  System 
einzufügen.  Der  Jude  Philo  aus  Alexandria  (geb.  um  20  v.  Chr.)  sucht 
durch  allegorische  Deutung  aus  der  alttestamentlichen  Schöpfungs- 
ueschichte  eine  rein  philosophische  Kosmologie  herauszulesen.  Das 
I  hristentum  bedient  sich  zunächst  zur  Begründung  und  Verteidigung 
seiner  Heilsbotschaft,  dann  zur  Formulierung  seiner  Lehren  vielfach 
philosophischer  Denkmittel,  stellt  aber  den  Glauben  entschieden  über 
das  Wissen.  In  der  scholastischen  Philosophie  des  Mittelalters  wird 
dann  der  energische  Versuch  unternommen,  die  Dogmen  der  christ- 
lichen Religion  philosophisch  zu  begründen.  Bald  aber  zeigt  es  sich, 
daß  nicht  alle  Dogmen  einer  streng  vernunftgemäßen  Begründung 
fähig  sind,  und  es  wird  eine  Scheidung  vorgenommen  zwischen 
natürlicher  und  zwischen  geoffenbarter  Theologie  (theo- 
logia  naturalis  und  theologia  revelata).  Was  der  letzteren  zugehört, 
das  kann  nicht  bewiesen,  sondern  muß  auf  Grund  der  Offenbarung 


§  4    Philosophie  und  Religion  7 

geglaubt  werden.  Es  tritt  also  der  scheinbar  überwundene  Gegensatz 
schon  innerhalb  der  Scholastik  wieder  auf. 

Die  neuere  Philosophie  wird  durch  die  aufblühende  Naturwissen- 
schaft des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  befruchtet  und  ins- 
besondere von  der  Mathematik  stark  beeinflußt.  Man  lernt  einerseits  Be- 
obachtung und  Versuch  als  die  sichersten  Quellen  empirischer  Erkennt- 
nis schätzen,  während  anderseits  die  Mathematik  ein  System  unbedingt 
gültiger,  von  der  Erfahrung  scheinbar  ganz  unabhängiger  Wahrheiten 
liefert,  die  aus  der  Vernunft  selbst  geschöpft  zu  sein  scheinen.  Daraus 
ergeben  sich  gelegentlich  Konflikte  zwischen  Religion  und  Wissen- 
schaft. Die  römische  Kirche  wollte  anfangs  die  kopernikanische  Lehre 
nicht  gelten  lassen,  weil  sie  mit  dem  Wortlaute  mancher  Bibelstellen 
im  Widerspruch  stand,  gab  aber  später  diesen  Widerstand  auf.  Die 
Philosophen  bemühen  sich  vielfach,  religiöse  Anschauungen  zu  ge- 
winnen, die  mit  der  Wissenschaft  vereinbar  sind.  So  arbeitet  Leibniz 
viele  Jahre  daran,  eine  Vereinigung  der  christlichen  Konfessionen  zu- 
stande zu  bringen.  Kant  will  eine  „Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  bloßen  Vernunft"  begründen  und  auch  die  späteren  Träger  des 
deutschen  Idealismus,  Fichte,  Schelling,  Hegel  und  Schleiermacher, 
sind  tief  religiöse  Naturen. 

Der  Materialismus  des  achtzehnten  und  neunzehnten  Jahrhun- 
derts hatte  zwar  jede  Religion  als  leeres  Hirngespinst  betrachtet  und 
alle  derartigen  Probleme  aus  der  Wissenschaft  eliminieren  wollen; 
allein  die  historischen  und  namentlich  die  ethnographischen  For- 
schungen der  letzten  Dezennien  haben  aufs  neue  gezeigt,  daß  reli- 
giöse Vorstellungen  sich  überall  finden,  wo  Menschen  zusammen- 
wohnen, und  daß  dieselben  somit  zu  den  Elementargedanken  des 
Menschengeistes  gehören. 

Der  Versuch  einer  Vereinigung  von  Philosophie  und  Religion  ist 
nicht  von  vornherein  als  aussichtslos  zu  verwerfen,  da  ja  die  Möglich- 
keit nicht  geleugnet  werden  kann,  daß  die  philosophische,  also  vor- 
urteilslose Untersuchung  zu  Resultaten  gelangt,  die  mit  geläuterten 
religiösen  Vorstellungen  übereinstimmen.  Sicher  ist  es,  daß  die  philo- 
sophische Spekulation  im  Altertum  und  in  der  Gegenwart  sehr  viel  zur 
Läuterung  der  religiösen  Vorstellungen  beigetragen  und  diese  in  theo- 
retischer und  praktischer  Hinsicht  der  wissenschaftlichen  Welt- 
anschauung näher  gebracht  hat.  Sicher  ist  es  aber  auch,  daß  sich  in 
den  gebildeten  und  sogar  in  den  wissenschaftlichen  Kreisen  ein  starkes 
Bedürfnis  nach  geläuterten  und  vertieften  religiösen  Anschauungen 
geltend  macht.  Naturwissenschaft  und  Technik  haben  unsere  Einsicht 
vermehrt,  unsere  Macht  gesteigert,  aber  unser  Herz  ist  dabei  leer  ge- 
worden. Darum  wollen  wir  uns  wieder  auf  uns  selbst  besinnen  und  die 
in  uns  wirksamen  Kräfte  zum  Bewußtsein  und  zur  Geltung  bringen. 
Dadurch  aber  wird  unser  Blick  geschärft  für  den  Anteil  und  für  die 
Bedeutung  des  Geistigen  in  den  Fortschritten  der  Kultur.  Wir 
kommen  zur  Einsicht,  daß  Naturwissenschaft  und  Technik  nichts 
anderes  bewirken,  als  eine  fortgesetzte  Vergeistigung  der 
Materie.  Wir  beginnen  einzusehen,  daß  die  Tatsachen,  mit  denen 
die  Wissenschaft  operiert,  nicht  das  Ursprüngliche  und  auch 


S  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

nicht  das  Letzte  sind.  Wir  fühlen  das  Bedürfnis,  den  Sinn  der 
Tatsachen  zu  deuten  und  ihren  Wert  zu  bestimmen. 

Diese  Deutungsarbeit  ist  in  gewissem  Sinne  die  gemein- 
same Aufgabe  von  Religion  und  Philosophie.  Beide  fragen  nach  dem 
Woher  und  nach  dem  W  o  h  i  n,  nach  den  Anfängen  und  nach 
den  Zielen  der  kosmischen  und  der  menschheitlichen  Entwicklung. 
Die  Antworten  auf  diese  unser  innerstes  Leben  tief  berührenden  Fragen 
werden  aber  nur  dann  befriedigend  ausfallen,  wenn  sie  mit  den  Er- 
gebnissen der  objektiven  Tatsachenforschung  nicht  im  Widerspruche 
stehen.  I  ür  die  Philosophie  ist  es  heute  bereits  selbstverständlich,  daß 
sie  mit  wissenschaftlichen  Methoden  und  mit  wissenschaftlichen  Denk- 
mitteln arbeiten  muß.  Aber  auch  in  der  religiösen  Entwicklung  sehen 
wir  immer  deutlicher  das  Bestreben  hervortreten,  die  Grundlagen  der 
Wissenschaft  anzuerkennen  und  das  Gebäude  des  Glaubens  auf  diesen 
Grundlagen  zu  errichten  und  auszugestalten. 

So  vereinigt  sich  also  die  Philosophie  mit  der  Religion  in  dem 
Bestreben,  das  G  e  i  s  t  i  g  e  im  Menschen  zur  Anerkennung  zu  bringen 
und  so  gleichsam  von  Innen  heraus  ein  einheitliches  Weltbild  zu  ge- 
winnen, das  zugleich  die  Kraft  haben  soll,  dem  Leben  des  Einzelnen 
und  dem  Leben  der  Menschheit  Kraft,  Ziel  und  Richtung  zu  geben. 
Dadurch  nun,  daß  die  Philosophie  sich  dieser  ihrer  aktivisti- 
sehen  und  zugleich  auf  das  Ganze  gerichteten  Bestimmung  immer 
deutlicher  bewußt  wird,  ändert  sich  auch  ihr  Verhältnis  zur  Wissen- 
schaft, über  die  sie  allmählich  hinauswächst,  ohne  jedoch  die  enge 
Zusammengehörigkeit  mit  ihr  zu  verlieren. 

§  5.  Philosophie  und  Wissenschaft 

Die  Philosophie  ist  zur  Zeit  ihres  ersten  Auftretens  bei  den 
Griechen  mit  theoretischer  Wissenschaft  identisch.  Jede  Untersuchung, 
die  aus  reinem  Erkenntnisdrang  unternommen  wird,  gilt  als  philo- 
sophische Arbeit.  Philosophisch  und  wissenschaftlich  ist  ein  und  das- 
selbe. Die  ionischen  Naturphilosophen  beschäftigen  sich  vielfach  auch 
mit  geographischen,  mit  astronomischen,  mit  mathematischen  und  mit 
naturgeschichtlichen  Forschungen.  Das  Auftreten  des  Sokrates  bedeutet 
hier  einen  wichtigen  Wendepunkt.  Er  hat,  wie  Cicero  von  ihm  sagt, 
„die  Philosophie  vom  Himmel  abgelenkt,  sie  in  die  Städte  und  in  die 
Häuser  eingeführt  und  sie  gezwungen,  über  das  Leben  und  über  die 
Sitten,  über  Gut  und  Böse  Untersuchungen  anzustellen"  (Tusc.  V, 
4,  10).  Diese  Hinlenkung  auf  das  Praktisch-Ethische  ist  für  die  Philo- 
sophie bis  auf  den  heutigen  Tag  charakteristisch  geblieben  und  unter- 
scheidet sie  von  der  rein  theoretischen  Wissenschaft.  Auch  für  Plato, 
den  größten  Schüler  des  Sokrates,  bildet  trotz  seiner  Forderung  nach 
streng  wissenschaftlicher,  besonders  nach  mathematischer  Schulung 
der  Philosophen,  dennoch  die  sittliche  Gestaltung  des  Lebens, 
besonders  im  Staate,  den  Mittelpunkt  seines  philosophischen  Inter- 
esses. Dagegen  verkörpert  sich  in  der  Person  des  Aristoteles  noch  ein- 
mal die  I  inheit  von  Philosophie  und  Wissenschaft.  Dieser  „baumeister- 
liche Mann",  der  das  gesamte  Wissen  seiner  Zeit  beherrschte  und  selbst 


§  5.  Philosophie  und  Wissenschaft  9 

wesentlich  bereicherte,  betrachtete  gewiß  seine  ganze  Forscherarbeit  als 
ein  unausgesetztes  „Philosophieren".  In  der  sogenannten 
„alexandrinischen"  Zeit  sehen  wir  einerseits,  wie  die  Konzentration  auf 
das  Praktisch-Ethische  in  den  Schulen  der  Stoiker  und  der  Epi- 
kureer Fortschritte  macht.  Anderseits  scheiden  sich  bereits  einzelne 
Wissenszweige  von  der  Philosophie  ab.  Euklid,  der  die  Lehrsätze  der 
Geometrie  in  ein  System  bringt,  Archimedes  und  Heron,  die  unsere 
physikalischen  Kenntnisse  durch  Experimente  bereichern,  werden  kaum 
mehr  als  Philosophen  bezeichnet.  Noch  deutlicher  vielleicht  hebt  sich 
die  in  A 1  e  x  a  n  d  r  i  a,  wo  die  literarischen  Erzeugnisse  der  klas- 
sischen Zeit  gesammelt  und  gesichtet  wurden,  entstandene  neue  Wissen- 
schaft der  Philologie  von  der  Philosophie  ab. 

Im  Mittelalter  ist  die  T  h  e  o  1  o  g  i  e  die  alles  beherrschende  Diszi- 
plin. Die  weltliche  Wissenschaft  wird  nach  der  antiken  Überlieferung 
vorgetragen  und  nur  von  wenigen  vereinzelten  Forschern  (z.  B.  Roger 
Bacon  im  dreizehnten  Jahrhundert)  selbständig  betrieben.  Die 
Philosophie  hingegen  dient  hauptsächlich  dazu,  die  religiösen  Lehren 
systematisch  zu  ordnen  und  logisch  zu  begründen.  Erst  nachdem  in 
der  Renaissance  der  Mensch  sich  selbst  wiedergefunden  und  mit  er- 
starkten Sinnen  und  mit  erneuter  Lebensfreude  sich  der  Natur  wieder 
zugekehrt  hatte,  entsteht  durch  die  bahnbrechenden  Arbeiten  von 
Kepler  und  Galilei,  Huyghens  und  Newton  in  der  modernen  Physik 
das  Muster  einer  exakten  Wissenschaft.  Ganz  unabhängig  von  jeder 
philosophischen  Spekulation  werden  hier  auf  Grund  sorgsamer  Be- 
obachtungen und  sinnreicher  Versuche  mit  Hilfe  der  inzwischen  über- 
aus verfeinerten  Hilfsmittel  der  Mathematik  die  Gesetze  der 
materiellen  Bewegung  erforscht  und  endgültig  festgelegt. 

Die  großartige  Entwicklung  der  Mathematik  und  der  darauf 
gegründeten  Mechanik  im  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert 
wirkt  nun  ihrerseits  auf  die  Philosophie  zurück.  Man  möchte  eine  Welt- 
anschauung finden,  deren  Sätze  eben  so  einleuchten,  wie  die  mathe- 
matischen Wahrheiten.  In  diesem  Streben  werden  die  Geister  dadurch 
ermutigt,  daß  ihrer  Überzeugung  nach  die  mathematischen  Sätze  nicht 
auf  Erfahrung  beruhen,  sondern  durch  reines  Denken  aus  der  Ver- 
nunft selbst  abgeleitet  wurden  und  doch  so  einwandfrei  dastehen,  daß 
sich  jede  Erfahrung  nach  ihnen  richten  muß.  So  unternimmt  Spinoza 
den  Versuch,  die  Sätze  seines  festgeschlossenen  philosophischen 
Systems  nach  geometrischer  Methode  anzuordnen  und  zu  begründen. 
Immanuel  Kant  aber,  der  von  der  unwiderleglichen  Sicherheit  der 
Ne wtonschen  Himmelsmechanik  tief  durchdrungen  war,  verfiel  auf  den 
überaus  tiefsinnigen  Gedanken,  die  Grundlagen  der  mathematischen 
Naturwissenschaft  im  menschlichen  Geiste  aufzusuchen  und  wurde  da- 
durch der  Schöpfer  einer  neuen  Methode  und  Richtung  in  der  Philo- 
sophie. Sein  kritisches  System  sollte  ein  strenger  Grenzwächter  sein 
und  die  Schranken  der  menschlichen  Erkenntnis  für  alle  Zeiten  fest- 
legen. Seine  Gedankengänge  enthalten  jedoch,  wie  später  deutlicher 
gezeigt  werden  soll,  dennoch  die  Keime  zu  einer  Philosophie,  die  über 
jede  mögliche  Erfahrung  hinausgeht.  Diese  Keime  kommen  bei  Fichte, 
Schelling  und  namentlich  bei  Hegel  zu  voller  Entfaltung  und  erzeugen 


10  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

eine  Zeitlang  den  ( iedanken,  daß  die  Philosophie  nicht  nur  die  Wurzel, 
sondern  die  Königin  der  Wissenschaften  sei,  die  auf  Grund  ihrer  Ein- 
geht in  die  Struktur  des  Menschengeistes  imstande  sei,  endgültig  über 
Wahr  und  Falsch  zu  entscheiden.  Selbst  in  naturwissenschaftlichen 
I  ragen  wollte  mitunter  die  Philosophie  nicht  nur  das  letzte  Wort  haben, 
sondern  man  nahm  sich  sogar  gelegentlich  heraus,  genau  beobachtete 
und  sicher  erwiesene  Tatsachen  in  Abrede  zu  stellen  und  als  unmöglich 
zu  bezeichnen,  weil  sie  in  das  philosophische  System  nicht  paßten. 

Solchen  ganz  unberechtigten  Ansprüchen  gegenüber  mußte  die 
Naturwissenschaft  ihre  Selbständigkeit  geltend  machen  und  immer 
wieder  darauf  hinweiseil,  daß  die  durch  Beobachtung  und  Versuch 
gefundenen  Tatsachen  und  Gesetze  unabhängig  von  jeder  philo- 
sophischen Spekulation  Gültigkeit  haben.  So  gefundene  Tatsachen 
bilden  vielmehr  die  Grundlage,  auf  welcher  eine  wissenschaftliche 
Philosophie  weiterbauen  darf. 

Die  ungeahnten  Erfolge,  welche  Naturwissenschaft  und  Technik 
im  neunzehnten  Jahrhundert  aufzuweisen  hatten,  ließen  nun  bei  der 
großen  Mehrzahl  der  Forscher  die  Meinung  aufkommen,  daß  nur  die 
exakte,  auf  Beobachtung  und  Versuch  einerseits  und  auf  Mathematik 
anderseits  gegründete  Forschungsmethode  zu  einer  wirklichen  Erweite- 
rung unserer  Erkenntnis  führe,  daß  dagegen  alle  philosophische  Spe- 
kulation nur  als  müßiges,  ganz  wertloses  Spiel  zu  betrachten  sei. 

Die  naturwissenschaftliche  Methode  wurde  aber  auch  von  den- 
jenigen Wissenschaften  zur  Anwendung  gebracht,  welche  sich  die  Er- 
forschung des  geistigen  Lebens  zur  Aufgabe  setzen.  Die  Entwicklung 
der  Sprache,  der  Religion,  der  Sitte  und  aller  sozialen  Einrichtungen 
wurde  und  wird  noch  auf  Grund  der  statistischen  und  vergleichenden 
Methode  erforscht,  und  auch  hier  macht  sich  eine  Art  von  Kultus  der 
Tatsache  und  Verachtung  der  Spekulation  geltend. 

Wissenschaft,  so  behauptet  Ernst  Mach,  ist  nichts  anderes  als 
ökonomisch  geordnete  Erfahrung,  und  ihre  Aufgabe  besteht  darin,  die 
Vorgänge  in  der  Natur  und  im  Menschengeiste  möglichst  einfach  zu 
beschreiben.  Die  in  dieser  Definition  enthaltene  Forderung,  alles  das, 
was  wir  von  uns  aus  an  die  Tatsachen  heranbringen,  zu  eliminieren 
und  die  Vorgänge,  so  wie  sie  sich  tatsächlich  vollziehen,  möglichst  ge- 
treu in  unserem  Denken  nachzubilden,  ist  als  methodische  Regel  für 
alle  wissenschaftliche  Forschung  von  außerordentlichem  Werte  und 
kann  daher  nicht  oft  genug  eingeschärft  werden. 

Unser  innerer  Drang  aber,  alles  Erfahrene  zur  Einheit  zu  ver- 
knüpfen, das  Bedürfnis,  die  Welt  und  uns  selbst  nicht  nur  kennen  zu 
lernen,  sondern  auch  zu  begreifen,  wird  durch  keine  methodische  For- 
schungsregel aus  der  Welt  geschafft.  Die  Philosophie  kann  durch  die 
rein  objektive,  Tatsachen  sammelnde  und  ordnende  Wissenschaft  nicht 
ersetzt  werden. 

I  atsachlich  macht  sich  das  Bedürfnis  nach  Zusammenfassung  und 
nach  erneuter  Selbstbesinnung  in  den  letzten  Jahren  bei  den  Ver- 
tretern der  I  inzelwissenschaften  deutlich  bemerkbar.  Der  Chemiker 
Wilhelm  Ostwald  in  Leipzig  hat  Vorlesungen  über  Naturphilosophie 
herausgegeben  und  zugleich   eine  Zeitschrift:   „Annalen  der  Natur- 


§  5.  Philosophie  und  Wissenschaft  1 1 

Philosophie"  begründet,  die  den  eingestandenen  Zweck  hat,  allgemeine 
Fragen  der  wissenschaftlichen  Forschung  zu  erörtern  und  über  die 
wissenschaftlichen  Methoden  und  ihren  Erkenntniswert  Unter- 
suchungen anzustellen.  Auch  die  Geschichtsforscher  sind  es  müde,  bloß 
Daten  zu  sammeln,  und  fühlen  das  Bedürfnis,  den  tieferen  Sinn  der 
geschichtlichen  Entwicklung  zu  erfassen.  Es  kommt  die  von  Herder 
und  Hegel  begründete  Philosophie  der  Geschichte  wieder  zu  Ehren, 
erhält  aber  infolge  der  namentlich  durch  die  Einbeziehung  der  ganzen 
bewohnten  Erde  wesentlich  erweiterten  Kenntnis  der  Tatsachen  eine 
viel  konkretere  und  zugleich  breitere  Grundlage. 

Es  kommt  also,  wie  es  scheint,  den  Vertretern  der  Einzelwissen- 
schaften immer  mehr  zum  Bewußtsein,  daß  alles  menschliche  Wissen 
gemeinsame  Grundlagen  und  gemeinsame  Ziele  hat.  Die  Grundlagen 
alles  Wissens  zu  untersuchen,  das  hat  die  Philosophie  namentlich  seit 
dem  Auftreten  Kants  zu  ihrer  wichtigsten  Aufgabe  gemacht.  Der  von 
Fichte  geprägte  Begriff  einer  Wissenschaftslehre  kommt 
wieder  zu  Ehren,  und  angesehene  Denker  der  Gegenwart  wollen  in  der 
Untersuchung  der  Grundlagen  und  Voraussetzungen  alles  Wissens  die 
wichtigste,  ja  die  einzige  Aufgabe  der  Philosophie  erblicken.  Dann 
wäre  die  Philosophie  allerdings  nichts  anderes,  als  eine  rein  theo- 
retische, nur  betrachtende  Wissenschaft,  die  nichts  anderes  zu  tun  hätte,, 
als  die  Grundlagen  des  menschlichen  Erkennens,  und  zwar  des 
wissenschaftlichen  Erkennens  systematisch  zu  untersuchen.  Eine  der- 
artige Auffassung  entspricht  aber  keineswegs  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  der  Philosophie  und  ist  noch  weit  weniger 
mit  dem  jetzt  so  stark  und  in  so  weiten  Kreisen  gefühlten  Bedürfnis 
nach  einer  das  Ganze  der  Welt  und  des  Lebens  durchdringenden  und 
befruchtenden  Philosophie  vereinbar.  Der  Philosoph  darf  den  Men- 
schen nicht  bloß  als  ein  denkendes  Wesen  ansehen,  sondern  muß  auch 
die  „irrationalen  Teile"  seiner  Seele,  das  Fühlen  und  das  Wollen, 
als  wichtige  Seiten  seines  Wesens  mit  in  Betracht  ziehen. 

Schiller  sagt  einmal  von  seiner  Dichtung  „Die  Künstler",  sie  sei 
darum  nicht  minder  ein  Gedicht,  weil  sie  m  e  h  r  s  e  i  als  ein  Ge- 
dicht. In  ähnlicher  Weise  kann  man  nun  von  der  Philosophie  sagen: 
Sie  ist  darum  nicht  minder  eine  Wissenschaft,  weil  sie 
mehr  ist  als  Wissenschaft. 

Wie  das  zu  verstehen  ist,  ergibt  sich  aus  folgenden  Erwägungen : 
Der  wissenschaftliche  Forscher  geht  von  der  meist  unausgesprochenen 
und  nicht  klar  bewußten  Voraussetzung  aus,  daß  der  Mensch  von 
Natur  aus  die  Fähigkeit  besitzt,  die  auf  ihn  wirkenden  Vorgänge  der 
Umgebung  zunächst  als  Tatsachen,  als  Erlebnisse  rein  objek- 
tiv zu  konstatieren.  Man  hält  dies  sogar  für  die  primitivste, 
für  die  einfachste  und  deshalb  ganz  allgemeine  Form,  in  der  wir  auf 
die  Eindrücke  der  Umwelt  reagieren.  So  lange  man  der  Ansicht  war, 
daß  die  ursprüngliche  und  grundlegende  Funktion  des  menschlichen 
Bewußtseins  das  Denken  sei,  konnte  man  bei  dieser  Meinung  bleiben. 
Dieses  intellektualistische  Vorurteil  ist  jedoch  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten gründlich  zerstört  worden.  Die  Völkerkunde,  die  Kinder- 
psychologie, die  neueren  Forschungen  über  Zeugenaussagen    haben 


1  2  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

sonnenklar  bewiesen,  daß  das  objektive  Feststellen  von  Tatsachen  eben- 
so schwer  wie  selten  ist.   I  ür  den  primitiven   Menschen  wie  für  das 
Kind  sind  die  Vorgänge  in  der  Umgebung  gewiß  nicht  Tatsachen, 
sondern   Anlässe  zu   Angriffs-,  Abwehr-  und  Fluchtbewegungen.  Die 
( rste  und  ursprünglichste  Reaktionsweise  des  Menschen  auf  die  Vor- 
gange der   Umwelt    ist   Stellungnahme,  nicht  objektives   Kon- 
statieren.  Levy-Brähl  sagt  in  seinem  sehr  interessanten  Werke  „Das 
Denken  der  Naturvölker"* ),  daß  von  einer  rein  theoretischen  Vorstellung 
beim  primitiven  Menschen  keine  Rede  sein  kann.  Wir  finden  aber  auch 
bei  den  <  gebildeten  unserer  Tage,  daß  ihre  Beobachtungen  und  Aus- 
ii  keineswegs  reine  Konstatierungen  von  Tatsachen  sind.  Die  von 
William  Stern  in  Breslau  begonnenen  Forschungen  über  die  Psycho- 
logie der  Aussage  haben  ebenso  überraschende  wie  überzeugende  Er- 
gebnisse zutage  gefördert.  In  alle  unsere  Urteile  schleichen  sich  die 
Vorzüge  und  Fehler  unserer  psychophysischen  Organisation  ein  und 
unsere  scheinbar  rein  objektiven  Feststellungen  sind  von  unseren  Inter- 
essen, unseren  Wünschen  und  Neigungen,  von  unserer  unbewußt  aus- 
wählenden Tätigkeit  immer  persönlich  gefärbt.  Diese  psychologischen 
Entdeckungen    lassen    nun    die    Wissenschaft    in    neuem    Licht    er- 
scheinen. Alle  Wissenschaften  sind,  das  wissen  wir,  aus  praktischen 
Bedürfnissen  hervorgegangen.  Die  Not  hat  den  Menschen  nicht  nur 
beten,  sondern  auch  beobachten  und  denken  gelehrt.  Der  Intellekt  ist 
unsere  wichtigste  Waffe  im  Kampf  ums  Dasein.  Die  wissenschaftliche 
Arbeit  der  Jahrhunderte  hat  uns  darin  geübt,  unsere  Gefühle  und 
Wünsche  zu  unterdrücken  und  die  Tatsachen  möglichst  genau  in  Ge- 
danken nachzubilden.  Dadurch  ist  es  der  Wissenschaft  gelungen,  die 
Naturkräfte  in  unsere  Dienste  zu  zwingen  und  die  Macht  des  Menschen 
ins   Riesenhafte  zu  steigern.   Die  Wissenschaft  hat   sich  einen   rein 
theoretischen  Wahrheitsbegriff  zurecht  gedacht,  der  für  sie  Selbstzweck 
ist.  Sie  hat  sich  ein  internationales  Reich  gegründet,  das  sich  selbst 
regiert  und  keine  Bevormundung  verträgt. 

Trotzdem  aber  vermag  die  Wissenschaft  aus  sich  heraus  keine 
Welt-  und  Lebensanschauung  zu  konstruieren,  die  unser  Inneres  be- 
friedigt. Die  irrationalen  Funktionen  der  Menschenseele,  unser  Fühlen 
und  Wollen,  das  die  Wissenschaft  gewaltsam  unterdrücken  muß,  gerade 
sie  bilden  den  tiefsten  Kern  unseres  Wesens,  die  innerste  Kraftquelle 
des  Lebens.  Hier  setzt  nun  die  Philosophie  ein.  Sie  ist  längst 
nicht  mehr  die  Königin  im  Reiche  der  Wissenschaft,  wofür  sie  lange 
gegolten  hat.  Aber  auch  als  einfache  Bürgerin  vermag  sie  ihre  wahre 
Aufgabe  nicht  zu  erfüllen.  Wer  die  Philosophie  zu  einer  Einzelwissen- 
schaft macht  oder  ihr  die  Aufgabe  zuweist,  die  Grundlagen  und 
Voraussetzungen  alles  Wissens  zu  bestimmen,  der  verkennt  ihr  wahres 
Wesen  und  raubt  ihr  ihre  innere  Kraft.  Von  ihrem  alten  Thron  ver- 
trieben, hat  sie  ein  neues  schwereres  und  verantwortungsvolleres 
Herrscheramt  erworben.  Den  unermeßlichen  Kräften,  die  uns  die 
Wissenschaft  zur  Verfügung  stellt,  hat  sie  die  Richtung  zu  geben  und 


*)  Lcvv-Rriihl.   „Das  Denken  der  Naturvölker";   in  deutscher  Übersetzung 
herausgegeben  und  eingeleilet  von   Wilhelm  Jerusalem,  Wien  1921. 


§  6.  Einteilung  der  Philosophie  13 

die  Ziele  zu  zeigen.  Wir  arbeiten  mit  wissenschaftlichen  Methoden, 
denn  wir  müssen  die  Welt  kennen,  um  sie  vorwärts  zu  bringen.  Zum 
Philosophen  aber  gehört  mehr  als  Wissenschaft.  Er  braucht  den  intui- 
tiven, iii  die  Tiefe  und  in  die  Weite  dringenden  Seherblick  und  vor 
allem  braucht  er  einen  kräftigen  idealen  Aufschwung  des  Wil- 
lens. „Was  können  wir?",  so  fragte  schon  vor  mehr  als  hundert 
Jahren  der  französische  Philosoph  Maine  de  Blran,  und  das  ist  auch 
heute  noch  die  Hauptfrage  der  Philosophie.  Den  Sinn  der  Wissen- 
schaft und  des  Lebens  zu  deuten,  dem  menschlichen  Wollen  neue  Im- 
pulse zu  geben,  der  schöpferischen  Entwicklung,  die  in  unserem 
Seelenleben  sich  vollzieht,  die  grenzenlosen  Möglichkeiten  zu  zeigen, 
und  so  ein  neues  und  wirksameres  Leben  zu  schaffen,  das  ist  heute 
die  Aufgabe  der  Philosophie. 

Vielleicht  wird  es  später  auf  Grund  der  soziologischen  Be- 
trachtungsweise möglich  sein,  das  Verhältnis  der  Philosophie  zur 
Wissenschaft  noch  genauer  und  tiefgründiger  zu  bestimmen.  Vielleicht 
zeigt  es  sich,  daß  die  Wissenschaft  in  der  Erkenntnisentwick- 
lung der  Menschheit  eine  breite  Mitte  darstellt,  wo  sie  sich  ein 
eigenes,  rein  theoretisches  Reich  gegründet  hat.  Nach  dem  Woher 
und  nach  dem  Wohin  braucht  die  Wissenschaft  nicht  zu  fragen. 
Gerade  diese  Frage  bildet  aber  das  eigentliche  Problem  und  Gebiet  der 
Philosophie.  Dann  wäre  die  W  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t  die  M  i  1 1  e,  die  Philo- 
sophie aber  der  Anfang  und  das  Ende,  das  A  und  dasO. 
Auf  diesen  hier  nur  angedeuteten  Gedanken  kommen  wir  in  der 
Schlußbetrachtung  zurück. 

§  6.  Einteilung  der  Philosophie 

Von  den  Griechen  her  ist  eine  Dreiteilung  der  Philosophie  über- 
liefert, welche  kurz  nach  Aristoteles,  also  seit  dem  Anfang  des  dritten 
Jahrhunderts  v.  Chr.,  allgemein  wurde.  Die  drei  Teile  heißen 
Logik,  Physik  und  Ethik. 

Unter  Logik  verstand  man  die  Lehre  von  der  Erkenntnis,  von 
den  Gesetzen  des  Denkens,  von  den  Kriterien  der  Wahrheit  und  später 
auch  die  Lehre  von  der  Wahrscheinlichkeit. 

Die  Physik  umfaßte  Naturwissenschaft,  Naturphilosophie, 
Kosmologie  sowie  auch  die  Lehre  von  der  menschlichen  Seele  und  ihren 
Schicksalen.  Später  kommt  der  Name  Metaphysik  auf,  worunter 
man  die  Lehre  vom  Seienden,  das  heißt  von  dem  versteht,  was  unab- 
hängig von  uns  als  das  Wesen  der  Dinge  gelten  muß  im  Gegensatze 
zu  dem,  als  was  die  Dinge  uns  erscheinen.  Der  Name  Metaphysik  ver- 
dankt seine  Entstehung  dem  Zufalle,  daß  die  Schrift  des  Aristoteles, 
die  sich  mit  diesen  höchsten  Fragen  beschäftigt,  in  der  ersten  vollstän- 
digen Ausgabe  seiner  Schriften  nach  der  Physik  kam  und,  da  diese 
Schrift  keinen  Titel  hatte,  als  das  bezeichnet  wurde,  was  hinter  der 
Physik  steht  (ta  \)<zzä  ta  rpootxd).  Name  und  Begriff  haben  sich  bis 
heute  erhalten,  doch  wäre  es  angemessener,  diesen  Teil  der  Philosophie 
mit  dem  Namen  O  n  t  o  1  o  g  i  e,  das  heißt  Lehre  vom  Seienden,  zu  be- 
zeichnen. 


14  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

Unter  Ethik  verstand  man  die  Lehre  von  der  Sittlichkeit  des 
Menschen,  allein  bei  dem  den  Alten  eigenen  Begriffe  von  Sittlichkeit 
ist  es  mehr  die  Lehre  vom  höchsten  Gut,  als  die  von  dem  Wesen  der 
moralischen  Verpflichtung.  Als  ein  Teil  der  Ethik  galt  die  Politik, 
das  ist  die  Lehre  vom  Staate  und  seinen  Formen. 

Die  Lehre  vom  Schöne  n  und  von  der  Kunst  wird  zwar 
gelegentlich  von  Piaton,  Aristoteles  und  namentlich  von  Plotin  behan- 
delt,  bildet  aber  im  Altertum  keinen  ständigen  Teil  der  Philosophie. 

Die  Einteilung  in  Logik,  Physik  und  Ethik  blieb  durch  das  ganze 
Mittelalter  maßgebend  und  wird  noch  jetzt  in  den  Darstellungen  der 
<  ieschichte  der  Philosophie  zugrunde  gelegt.  In  der  neueren  Zeit  haben 
namentlich  Baco  von  Verulam  (1561—1626)  und  Chr.  Wolff  (1679 
bis  1754)  andere  Einteilungen  gegeben,  welche  das  Gebiet  der  Philo- 
sophie auf  psychologischer  Grundlage  zu  gliedern  versuchen.  Eine  viel 
tiefgründigere  Gliederung  liegt  der  kritischen  Arbeit  Kants  zugrunde. 
Dieser  bahnbrechende  Denker  hat  den  groß  angelegten  Versuch  unter- 
nommen, in  der  Struktur  des  menschlichen  Geistes  die  Bedingungen 
für  die  objektive  Gültigkeit  unserer  logischen,  moralischen  und  ästhe- 
tischen Urteile  aufzufinden.  Kant  will  damit  keineswegs  bloß  psycho- 
logische Tatbestände  konstatieren,  sondern  ist  überzeugt,  daß  er  die 
Allgemeingültigkeit  unserer  Entscheidungen  aus  der  reinen,  das  heißt 
von  der  Erfahrung  unabhängigen  Vernunft,  aus  dem  reinen  Willen  und 
aus  dem  reinen  Gefühl  einwandfrei  zu  begründen  vermocht  hat.  Kant 
gibt  uns  also  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  nicht  etwa  eine 
Psychologie,  sondern  eine  Philosophie  des  Erkennen  s,  in 
seiner  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten"  und  in  seiner  „Kritik 
der  praktischen  Vernunft"  eine  Philosophie  des  W  o  1 1  e  n  s  und  im 
ersten  Teil  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft",  wo  er  die  ä  s  t  h  e  t  i  s  c  h  e  n 
Probleme  behandelt,  eine  Philosophie  des  F  ü  h  1  e  n  s. 

Obwohl  ich  nun  von  einem  anderen  Standpunkt  ausgehe  als  Kant 
und  mich  vielfach  in  prinzipiellem  Gegensatze  zu  ihm  befinde,  scheint 
mir  doch  der  architektonische  Aufbau  seiner  Kritik  den  passendsten 
Rahmen  abzugeben  für  eine  übersichtliche  und  zugleich  einheitliche 
Vorführung  der  wichtigsten  philosophischen  Probleme.  Ich  schließe 
mich  also  in  der  folgenden  Darstellung  im  ganzen  der  von  Kant  vor- 
genommenen Gliederung  an  mit  einigen,  durch  die  seitherige  Entwick- 
lung der  Philosophie  nötig  gewordenen  Modifikationen. 

Wir  beginnen  also  wie  Kant  mit  der  Philosophie  des_Er- 
kennens.  Zunächst  werden  da  die  Fragen  nach  der  Möglich- 
keit und  nach  den  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis  erörtert 
(I  rkenntniskritik).  Daran  schließt  sich  die  Untersuchung  des 
Ursprünge  s,  der  Entwicklung  und  der  Ziele  der  mensch- 
lichen Erkenntnistätigkeit  (Erkenntnistheorie).  Daraufwen- 
den wir  uns  dem  ( i  e  g  e  n  s  t  a  n  d  der  Erkenntnis  zu  und  erörtern  in 
einem  weiteren  Abschnitt  die  Probleme  der  Metaphysik  oder 
Ontotogie.  1  lier  wird  sich  auch  Gelegenheit  bieten,  auf  die  grund- 
legenden  Fragen  der  Natur-  und  Religionsphilosophie 
einzugehen. 


§  7.  Geschichte  der  Philosophie  15 

In  einem  weiteren  Abschnitt  über  Wege  und  Ziele  der  Ä  s  t  h  e- 
t  i  k  soll  dann  gezeigt  werden,  daß  die  Lehre  vom  ästhetischen  Ge- 
nießen und  von  der  Bedeutung  der  Kunst  wirklich  nichts  anderes  ist 
als  eine  Philosophie  des  Fühlen s. 

Die  Philosophie  des  W  o  1 1  e  n  s  sucht  die  Bedingungen  und  die 
Normen  der  menschlichen  Handlungen  festzulegen.  Sie  bildet  als  prak- 
tische Philosophie  oder  als  Ethik  seit  jeher  einen  wichtigen  Teil  der 
philosophischen  Systeme.  In  den  letzten  Jahren  ist  es  aber  immer  deut- 
licher geworden,  daß  das  Wollen  des  Einzelnen  in  hohem  Grade  von 
den  Forderungen  beeinflußt  wird,  welche  die  Gemeinschaft,  der  wir 
angehören,  an  jeden  von  uns  stellt.  Diese  Forderungen  treten  mit  so 
großer  Stärke  und  Deutlichkeit  auf,  daß  man  in  ihnen  die  Äußerungen 
eines  Gesamtwillens  erkannt  hat,  der  sich  durch  seine  Wir- 
kungen als  etwas  durchaus  Reales  und  Konkretes  erweist.  Diese  Ein- 
sicht hat  nebst  anderen,  später  zu  erwähnenden  Tatsachen  dazu  ge- 
führt, die  Beziehungen  der  Gesellschaft  zu  dem  Einzelnen  eingehend 
zu  untersuchen,  und  daraus  ist  allmählich  eine  neue  Wissenschaft  ent- 
standen, die  den  Namen  Soziologie  erhalten  hat,  was  soviel  heißt, 
als  Gesellschaftslehre.  Schon  die  bisherigen  Ergebnisse  dieser  Wissen- 
schaft erweisen  sich  als  überaus  bedeutsam  für  unsere  ganze  Lebens- 
anschauung. Wir  widmen  ihr  deshalb  einen  eigenen  Abschnitt,  der 
zugleich  in  die  mit  der  Soziologie  nahe  verwandte  Philosophie  der  Ge- 
schichte einführen  soll.  Der  innige  Zusammenhang  von  Soziologie  und 
Ethik  soll  dabei  noch  besonders  beleuchtet  werden.  Daran  sollen  sich 
noch  einige  Bemerkungen  über  die  allgemeinen  Prinzipien  der  E  r- 
ziehungslehre  oder  Pädagogik  schließen. 

Der  Erörterung  all  dieser  philosophischen  Probleme  muß  aber 
eine  kurze  Betrachtung  der  Psychologie  und  Logik  vorangehen,  die 
man  mit  Recht  als  vorbereitende  oder  propädeutische  Disziplinen  be- 
trachtet. Die  Psychologie  ist  zwar  eine  selbständige  Wissenschaft 
geworden,  die  unabhängig  von  jeder  philosophischen  Spekulation  ihre 
Resultate  auf  rein  empirischem  Wege  zu  gewinnen  sucht.  Sie  bildet 
aber  die  unentbehrliche  Grundlage  für  alle  Geisteswissenschaften  und 
behält  dadurch  eine  innige  Verbindung  mit  der  Philosophie.  Die 
Logik  ist  als  Formenlehre  des  Denkens  für  jede  Wissenschaft  als 
Propädeutik  bedeutsam,  wird  jedoch  wegen  ihres  engen  Zusammen- 
hanges mit  Problemen  der  Erkenntnistheorie  als  Vorschule  der  Philo- 
sophie besonders  wichtig. 

Als  ein  wichtiger  Teil  des  philosophischen  Studiums  gilt  mit  Recht 
die  Geschichte  der  Philosophie,  und  es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  man 
die  ganze  Aufgabe  der  Philosophie  auf  ihre  Geschichte  einschränken 
wollte.  Es  wird  sich  deshalb  empfehlen,  einige  Bemerkungen  über  die 
Bedeutung  dieses  Studiums  hier  einzuschieben. 

§  7.  Geschichte  der  Philosophie 

Für  das  Studium  der  Philosophie  ist  die  Kenntnis  ihrer  Ge- 
schichte von  ungleich  größerer  Bedeutung,  als  dies  bei  anderen 
Wissenszweigen  der  Fall  ist.  Wer  z.  B.  Mathematik  oder  Physik  zu 


lö  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie 

seinem  wissenschaftlichen  Forschungsgebiet  erwählt  hat,  der  kann  sich 
mit  den  Methoden,  Denkmitteln  und  Resultaten  der  Forschung  vertraut 
machen,  ohne  das  allmähliche  Werden  und  Entstehen  aller  dieser  For- 
schungsmittel historisch  verfolgen  zu  müssen.  Erst  auf  der  Höhe  des 
Wissens  angelangt,  wird  mancher  vielleicht  ein  historisches  Bedürfnis 
zu  höhlen  beginnen  und  dann  allerdings  einsehen,  wie  dies  Ernst  Mach 
von  der  Physik  wiederholt  betont  hat,  daß  ein  tiefes  und  volles  Ver- 
ständnis der  Grundbegriffe  ohne  Kenntnis  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung nicht  zu  gewinnen  ist. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  in  dieser  Beziehung  mit  der  Philo- 
sophie. Hier  ist  auch  nur  ein  annähernd  richtiges  Verständnis  eines 
Problems  ohne  Kenntnis  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  fast  un- 
möglich. Wer  z.  B.  die  Behauptung  aufstellen  hört:  alles,  was  ich 
da  vor  mir  sehe,  der  gestirnte  Himmel  über  mir,  die  Häuser,  die  Felder, 
die  Bäume  in  meiner  Umgebung,  die  sind  nur  meine  Vorstellung,  sie 
existieren  nur,  insofern  ich  sie  wahrnehme,  und  nur  als  meine  Wahr- 
nehmung, der  wird  diese  Ansicht  zunächst  für  verrückt  halten.  Durch 
die  Kenntnis  ihres  geschichtlichen  Werdens  wird  sie  aber  jedem  be- 
greiflich, und  erst  dann  ist  es  möglich,  kritisch  Stellung  dazu  zu 
nehmen,  wie  wir  das  weiter  unten  sehen  werden. 

So  ist  denn  die  Bekanntschaft  mit  den  Hauptdaten  der  Geschichte 
der  Philosophie  eine  unerläßliche  Vorbedingung  für  das  Verständnis 
philosophischer  Probleme  und  viele  raten  deshalb,  das  Studium  der 
Philosophie  mit  dem  Studium  ihrer  Geschichte  zu  beginnen. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  aber  ein  Studium,  das  auch 
für  denjenigen  höchst  lohnend  ist,  der  nicht  die  Absicht  hat,  selbständig 
zu  philosophieren.  Man  lernt  hier  die  Entstehung  und  Erarbeitung 
der  Denkmittel  kennen,  mittels  welcher  sich  der  Menschengeist  nach 
und  nach  die  Welt  erobert  hat,  Errungenschaften,  „denen  Gewohnheit 
und  unangefochtener  Besitz  so  gerne  unsere  Dankbarkeit  rauben". 
Wenn  wir  heute  an  den  meisten  Dingen  Stoff  und  Form  unterscheiden, 
wenn  uns  die  Begriffe  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  so  ganz  geläufig 
geworden  sind,  so  vergessen  wir  nur  allzu  leicht  darauf,  daß  Aristoteles 
der  erste  war,  der  diese  Begriffe  deutlich  herausgearbeitet  und  zum  Ge- 
brauche zurechtgedacht  hat. 

Die  Kenntnis  der  allmählichen  Entwicklung  der  Denkmittel  ist 
der  größte  Gewinn,  den  man  aus  dem  Studium  der  Geschichte  der 
Philosophie  ziehen  kann,  und  unsere  Darstellungen  dieses  Gebietes, 
an  denen  ja  kein  Mangel  ist,  sollten  dieses  Moment  deutlicher  heraus- 
stellen. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  aber  nicht  nur  Philosophie, 
sie  ist  auch  Geschichte.  Gar  oft  prägt  sich  in  einem  philosophischen 
System  der  geistige  Gehalt  des  Zeitalters,  in  welchem  es  entstand, 
am  deutlichsten  und  am  tiefsten  aus.  So  ist,  wie  schon  oft  hervor- 
gehoben wurde,  Kants  kategorischer  Imperativ  ein  Niederschlag  des 
preußischen  Pflichtbewußtseins,  während  das  Weltbürgertum  der 
Kyniker  und  Stoiker  den  Untergang  des  griechischen  Nationalgefühls 
deutlich  bekundet. 


§  7.  Geschichte  der  Philosophie  17 

Die  Geschichte  der  Philosophie  bildet  demnach  einen  wichtigen 
Bestandteil  des  philosophischen  Studiums.  Erschwert  wird  dieses 
Studium  allerdings  durch  die  philosophische  Kunstsprache,  die  sich 
allmählich  herausgebildet  hat  und  die  man  sich  schlechterdings  an- 
eignen muß.  Unsere  Einführung  wird  deshalb  auf  die  genaue  Er- 
klärung der  wichtigsten  Kunstausdrücke  große  Sorgfalt  verwenden, 
um  auf  diese  Weise  auch  das  Studium  der  Geschichte  der  Philosophie 
zu  erleichtern.  Indem  wir  anderseits  bei  der  Vorführung  der  einzelnen 
Probleme  ihr  geschichtliches  Werden  wenigstens  skizzieren,  wird  der 
Leser  mit  den  wichtigsten  Tatsachen  der  historischen  Entwicklung  be- 
kannt und  damit  auch  in  die  Geschichte  der  Philosophie  eingeführt. 

Literatur. 

Fr.  Paulsen,  Einleitung  in  die  Philosophie.  33.-35.  Au«.   1920. 

O.  K  ü  1  p  e,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  Aufl.  1919. 

W.  Wundt,  System  der  Philosophie.  4.  Aufl.  1919,  S.  1—26. 

W.  Wundt,  Einleitung  in  die  Philosophie.  7.  Aufl.  1919. 

Rudolf  Eisler,  Kritische  Einführung  in  die  Philosophie.  1905.  Umfassende 
und  sehr  eingehende  Erörterung  der  Probleme  mit  sehr  reichen  Literatur- 
angaben. 

W.  Windelband,  Einleitung  in  die  Philosophie.  2.  Aufl.   1920. 

Rudolf  Eisler,  Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe.  3.  Aufl.  1910. 
3  Bände.  Das  überaus  fleißig  gearbeitete  Werk  erleichtert  wesentlich  die 
Lektüre  philosophischer  Schriften  und  ist  für  wissenschaftliche  Arbeiten  ge- 
radezu unentbehrlich. 

Rudolf  Eisler,  Handwörterbuch  der  Philosophie.  1913.  (Kein  bloßer  Aus- 
zug aus  dem  größeren  Werke,  sondern  eine  kürzere,  aber  durchaus  selb- 
ständige Bearbeitung,  die  neben  dem  größeren  Werk  einen  eigenen  Wert 
besitzt  und  dem  Anfänger  ganz  besonders  zu  empfehlen  ist.) 

Überweg-Heinz e,  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie.  4  Bände 
(Band  I,  Das  Altertum,  11.  Aufl.  1920,  bes.  v.  Praechter,  Band  II,  Mittel- 
alter, 10.  Aufl.  1915,  bes.  v.  Baumgartner,  Band  III,  Die  Neuzeit  bis 
zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  11.  Aufl.  1914,  bes.  v.  Frisch- 
eisen-Köhler, Band  IV,  Die  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhun- 
derts, 11.  Aufl.,  bes.  v.  O  e  s  t  er  r  e  i  ch).  Das  Werk  gehört  zu  den  unent- 
behrlichen Hilfsmitteln  des  Studiums  der  Philosophie.  Besonders  wertvoll 
sind  die  überaus  reichen,  nahezu  vollständigen  Angaben  über  die  ein- 
schlägige Literatur.  Im  ersten  Bande  der  11.  Auflage  (S.  2  ff.  des  Anhanges) 
findet  der  Leser  eine  vortreffliche  Übersicht  über  die  wichtigsten  Darstel- 
lungen der  Geschichte  der  Philosophie  mit  charakterisierenden  Bemer- 
kungen. 

W.  Windelband,  Die  Philosophie  im  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts. 
2.  Aufl.  1907. 


Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.   10.  Aufl. 


Zweiter  Abschnitt 

Die  propädeutischen  (vorbereitenden) 

Disziplinen 

§  8.  Gegenstand,  Aufgabe  und  Entwicklung  der  Psychologie 

Die  Psychologie  ist  die  Wissenschaft  von  den 
Gesetzen  des  menschlichen  Seelenlebens.  Ihr  Gegen- 
stand ist  demnach  das  menschliche  Seelenleben  selbst,  das  heißt  unser 
Denken,  unser  Fühlen  und  Wollen,  kurz  alles  das,  was  wir  als  seelische 
Tätigkeiten  täglich  und  stündlich  erleben,  was  uns  als  solches  Er- 
lebnis unmittelbar  gegeben  und  bekannt  ist.  Die  Psychologie  hat  es 
demnach  immer  nur  mit  Ereignissen,  immer  mit  einem  Geschehen, 
niemals  mit  einem  ruhenden  Sein  zu  tun.  Die  Frage  nach  einem 
substantiellen,  beharrenden  Träger  dieser  von  uns  erlebten  psychischen 
Phänomene,  die  Frage,  ob  diese  Tätigkeiten  von  einem  beharrenden, 
im  Wechsel  der  Erlebnisse  unveränderlichen  Seelenwesen  ausgehen, 
gehört  nicht  in  die  Psychologie,  sondern  bildet  einen  Gegenstand  der 
Metaphysik  oder  Ontologie.  Eben  dahin  gehört  natürlich  auch  das 
Problem  von  dem  Sitze,  der  Einfachheit  und  der  Unsterblichkeit  der 
Seele.  Über  all  diese  Dinge  können  die  verschiedenen  Religionssysteme 
Dogmen  autstellen,  die  kraft  der  religiösen  Autorität  bei  den  An- 
hängern des  betreffenden  Religionsbekenntnisses  Glauben  finden.  Über 
all  diese  Dinge  kann  eine  wissenschaftliche  Philosophie  auf  Grund 
eindringender  Untersuchungen  Hypothesen  aufstellen.  Die  Psychologie 
bleib!  davon  ganz  unberührt;  sie  durchforscht  das  menschliche  Seelen- 
leben, das  eine  der  unzweifelhaftesten  Tatsachen  ist,  die  wir  kennen, 
sucht  seine  Vorgänge  auf  die  einfachsten  Elemente  zurückzuführen 
und  die  darin  waltenden  Gesetze  zu  ermitteln,  ganz  unabhängig  von 
jedem   theologischen    Dogma   und   jeder   metaphysischen    Hypothese. 

Die  Psychologie  lehnt  sich  damit  keineswegs  gegen  irgend  ein 
gma  oder  irgend  eine  metaphysische  Hypothese  auf.  Ihre  Erfor- 
schung des  Seelenlebens  bleibt  vielmehr  für  jedes  metaphysische  und 
theologische  Dogma  gültig.  Die  Psychologie  kann  über  das  Wesen  der 
Seele  ebensowenig  Aufschluß  geben  wie  die  Mechanik  über  das  Wesen 
der  Kraft.  Da  und  dort  wird  nur  das  Gesetz  des  Geschehens  gesucht. 
Die  Psychologie  nähert  sich  also  in  bezug  auf  ihren  rein  erfahrungs- 
tnäßigen  I  Charakter  sowie  in  ihren  Methoden  sehr  den  Naturwissen- 
schaften, bleibt  aber  in  bezug  auf  ihren  Gegenstand  von  diesen  ge- 


§  8.  Gegenstand,  Aufgabe  und  Entwicklung  der  Psychologie  19 

schieden.  Die  hier  vorgetragene  Auffassung  der  Psychologie  sowie 
ihre  Unabhängigkeit  von  jeder  Metaphysik  ist  eine  Errungenschaft  der 
letzten  Dezennien. 

Der  Glaube  an  ein  vom  Körper  verschiedenes  Seelenwesen,  das 
den  Leib  nach  dem  Tode  verläßt  und  dann  ein  selbständiges  Dasein 
führt,  ist  tief  in  der  Menschennatur  begründet  und  findet  sich  tat- 
sächlich schon  bei  den  primitivsten,  auf  der  niedrigsten  Kulturstufe 
zurückgebliebenen  Völkern.  Fast  sämtliche  Religionssysteme  der  Erde 
haben  diesen  Glauben  zum  Dogma  erhoben  und  er  ist  als  selbstver- 
ständliche Voraussetzung  in  viele  philosophische  Systeme  über- 
gegangen. Demgemäß  bildet  die  Psychologie  als  die  Lehre  von  der 
Seele  in  den  Systemen  des  Altertums,  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit 
einen  Teil  der  Metaphysik  oder  Ontologie.  Daneben  finden  wir  jedoch 
schon  verhältnismäßig  früh  die  Beobachtung  des  tatsächlichen  Seelen- 
lebens am  Werke.  Piaton  und  Aristoteles  haben  dazu  ungemein  wert- 
volle Beiträge  geliefert,  ebenso  der  Arzt  Hippokrates  und  seine  Schule, 
wie  nicht  minder  die  späteren  Philosophenschulen  des  Altertums,  die 
Stoiker,  Epikureer  (besonders  der  Dichterphilosoph  Lukrez)  und  die 
Neuplatoniker  (besonders  Plotiti).  Selbst  die  scholastische  Philosophie 
des  Mittelalters  war  darin,  wie  Siebeck  nachgewiesen  hat,  nicht  ganz 
unfruchtbar.  Zu  Beginn  der  neueren  Zeit  wird  diese  Aufgabe  immer 
energischer  in  die  Hand  genommen.  Schon  im  sechzehnten  und  sieb- 
zehnten Jahrhundert  machte  sich  das  Interesse  an  der  erfahrungs- 
mäßigen Beobachtung  und  Beschreibung  des  wirklichen  Seelenlebens 
bemerkbar  (vgl.  Dilthey,  Ges.  Sehr.  II,  416  ff.).  Der  Spanier  Ludwig 
Vives  (1492 — 1540)  gibt  in  seinem  Werke  über  die  Seele  ausführliche 
und  lebendige  Beschreibungen  der  menschlichen  Affekte,  die  später 
von  Descartes  und  Spinoza  weitergeführt  wurden.  Die  englischen 
Denker  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts,  besonders 
Locke,  Shaftesbury,  Berkeley,  Hume,  Smith  u.  a.  fördern  die  Kenntnis 
des  Seelenlebens  durch  eingehende  Zergliederung.  So  entstehen  mehr- 
fach Darstellungen  der  Psychologie,  die  sich  von  Metaphysik  ganz 
fernhalten.  Unter  diesen  verdient  das  Werk  von  James  Mill  (Vater  des 
Logikers  und  Nationalökonomen  John  Stuart  Mill)  „Analysis  of  the 
Phenomena  of  the  human  Mind"  (1829)  besonders  hervorgehoben  zu 
werden. 

Zur  Wissenschaft  wurde  die  empirische  Psychologie  durch  Her- 
bart erhoben,  der  die  Gesetze  des  Vorstellungsverlaufes  festzustellen 
und  sogar  mit  der  Hilfe  mathematischer  Formeln  zu  begründen 
unternahm. 

Herbarts  großer  Schüler,  H.  Lotze,  hat  dann  in  seiner  1852  er- 
schienenen medizinischen  Psychologie  das  Seelenleben  im  Zusammen- 
hange mit  seinen  physiologischen  Begleiterscheinungen  dargestellt. 
Bald  darauf  haben  Fechner  und  Wundt  diesen  Zusammenhang  ge- 
nauer im  einzelnen  untersucht  und  es  zugleich  unternommen,  die  Er- 
scheinungen des  Seelenlebens  dem  Experiment  zu  unterwerfen.  Die 
beiden  letztgenannten  Denker  verdienen  die  Begründer  der  modernen 
Psychologie  genannt  zu  werden.  Wilhelm  Wundt  hat  einerseits  durch 
sein  grundlegendes  Werk  „Grundzüge  der  physiologischen   Psycho- 


20  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

logie"  (zuerst  1874,  jetzt  in  6.  Aufl.  1908 — 1912),  anderseits  durch 
die  1879  erfolgte  Begründung  des  ersten  Instituts  für  experimentelle 
Psychologie  in  Leipzig  einen  mächtigen  Anstoß  zu  weiteren  Arbeiten 
gegeben,  welche  er  selbst  aufs  wirksamste  gefördert  hat.  Nach  dem 
Muster  der  Leipziger  Anstalt  wurden  in  Deutschland,  Frankreich, 
I  Unland,  Italien  und  osterreich,  namentlich  aber  in  Amerika  zahl- 
reiche Institute  hervorgerufen,  in  denen  emsig  an  der  experimentellen 
1  rforschung  des  Seelenlebens  gearbeitet  wird. 

Auf  diese  Weise  ist  die  Psychologie  zu  einer  selbständigen,  von 
aller  philosophischen  Spekulation  unabhängigen  Erfahrungswissen- 
schafi  ueworden,  die  dazu  bestimmt  ist,  allen  jenen  Wissenschaften, 
die  sich  mit  dem  geistigen  Leben  beschäftigen,  und  die  man  in  neuerer 
Zeit  unter  dem  Namen  Geisteswissenschaften  zusammen- 
zufassen pflegt,  als  Grundlage  zu  dienen.  Dabei  haben  sich  bestimmte 
Methoden  und  Richtungen  herausgebildet,  mit  denen  wir  den  Leser 
jetzt  bekannt  machen  wollen. 

§  9.  Methoden  und  Richtungen  der  Psychologie 

Wie  allen  Erfahrungswissenschaften  ist  es  der  Psychologie  zu- 
nächst um  eine  möglichst  reiche  Sammlung  von  Tatsachen  zu  tun.  Das 
nächstliegende  Mittel  dazu  ist  die  Beobachtung  der  sich  vollziehenden 
Ereignisse.  Diese  Beobachtung  ist  jedoch  in  der  Psychologie  eine 
wesentlich  andere  als  bei  den  Naturwissenschaften.  Die  psychischen 
Phänomene  können  nicht  wie  die  Naturereignisse  mit  unseren  Sinnen 
wahrgenommen,  sie  können  nur  auf  eine  jedem  von  uns  bekannte,  aber 
nicht  näher  zu  beschreibende  Art  unmittelbar  erlebt  werden.  Ich  kenne 
aus  Erfahrung  nur  jene  psychischen  Vorgänge,  die  ich  selbst  in  meinem 
Bewußtsein  erlebe.  Um  Tatsachen  zu  sammeln,  muß  ich  also  das,  was 
ich  selbst  innerlich  erlebe,  beobachten  und  dem  Urteil  unterwerfen.  Die 
wichtigste  und  grundlegendste  Quelle  der  Belehrung  für  den  Psycho- 
logen ist  demnach  die  Beobachtung  seiner  eigenen  psychischen  Erleb- 
nisse oder  die  Selbstbeobachtung.  Die  Methode  der  Selbst- 
beobachtung, die  man  nach  dem  englischen  Worte  für  Selbstbeobach- 
tung (introspection  =  Hineinschauen)  die  introspektive  nennt, 
ist  demnach  die  erste  und  wichtigste. 

Die  introspektive  Methode  enthält  aber  in  sich  mannig- 
fache Schwierigkeiten  und  Widersprüche.  Die  Beobachtung  meiner 
psychischen  Erlebnisse  ist  ja  selbst  eine  Seelentätigkeit  und  muß  daher 
bei  dem  innigen  Zusammenhang  unserer  Seelentätigkeiten  unter- 
einander modifizierend  in  den  Verlauf  des  zu  beobachtenden  Phäno- 
mens eingreifen  und  diesen  Verlauf  verändern  oder  unterbrechen.  Wollte 
ich  mich  mitten  in  einem  Zornesausbruche  beobachten,  so  wäre  wohl 
in  demselben  Augenblicke  der  Zorn  verraucht.  Viele  halten  deshalb  die 
Selbstbeobachtung  für  unmöglich  und  die  introspektive  Methode  dem- 
gemäß für  unbrauchbar.  Diese  Ansicht  ist  jedoch  nicht  richtig.  Ele- 
mentare Erlebnisse,  wie  Sinneswahrnehmungen,  einfache  sinnliche  und 
ästhetische  Gefühle  lassen  sich  bei  einiger  Übung  unmittelbar  beob- 
achten, ohne  daß  sie  durch  diese  Beobachtung  wesentlich  verändert 


§  9.  Methoden  und  Richtungen  der  Psychologie  21 

werden.  Komplizierte  Vorgänge  können  wiederum  in  der  Erinnerung 
rekonstruiert  und  so  gleichsam  nachträglich  beobachtet  werden.  Hier 
fällt  der  störende  Einfluß  der  Beobachtung  so  gut  wie  ganz  weg,  weil 
die  Introspektion  mit  der  Erinnerung  in  eins  zusammenfällt. 

Die  beobachteten  Tatsachen  müssen  dann  einer  Zergliederung 
oder  Analyse  unterworfen  werden,  und  in  dieser  Analyse  besteht  der- 
zeit die  Haupttätigkeit  des  Psychologen.  Alle  Vorgänge,  die  wir  wirk- 
lich erleben,  erweisen  sich  nämlich  bei  näherer  Prüfung  als  zusammen- 
gesetzt, und  es  gilt  nun,  die  Elementarvorgänge  ausfindig  zu  machen, 
aus  denen  die  beobachteten  Vorgänge  bestehen  und  e  n  t  stehen.  Zur 
introspektiven  Methode  gehört  also  als  wesentlicher  Bestandteil  die 
Zergliederung  oder  Analyse. 

Die  auf  Grund  der  introspektiven  Methode  unternommene  Zer- 
gliederung gelangt  verhältnismäßig  bald  zu  ihrer  Grenze.  Die  Wahr- 
nehmung eines  Gegenstandes  durch  das  Auge  erscheint  z.  B.  der 
Selbstbeobachtung  als  ein  einfacher,  nicht  weiter  zu  zerlegender  Vor- 
gang. Hier  greift  nun  mit  großem  Erfolge  das  Experiment  ein 
und  hilft  uns  die  Analyse  über  die  Grenzen  der  Selbstbeobachtung 
hinaus  fortsetzen. 

Die  experimentelle  Methode  in  der  Psychologie  besteht 
ebenso  wie  in  den  Naturwissenschaften  darin,  daß  die  Bedingungen 
für  das  Entstehen  psychischer  Vorgänge  absichtsvoll  und  planmäßig 
hergestellt,  und  zwar  so  hergestellt  werden,  daß  man  sie  willkürlich 
in  quantitativer  wie  in  qualitativer  Beziehung  variieren  kann.  Zu  einem 
psychologischen  Experiment  gehören  in  der  Regel  zwei  Personen,  der 
Experimentator  und  der  Beobachter.  Der  Experimentator  stellt  die  Be- 
dingungen her  und  variiert  sie,  ohne  daß  der  Beobachter  von  der 
Variation  Kenntnis  hat.  Der  Beobachter  gibt  dann  seine  Eindrücke 
teils  durch  Worte,  teils  durch  verabredete  Zeichen  zu  Protokoll.  Natür- 
lich ist  beim  Beobachter  wieder  nur  die  Selbstbeobachtung  wirksam 
und  es  gelingt  tatsächlich  erst  nach  einiger  Übung,  Fehlerquellen  aus- 
zuschalten und  sichere  Resultate  zu  erzielen.  Charakteristisch  für  alle 
psychologischen  Experimente  ist  es,  daß  nur  eine  große  Zahl  von  Ver- 
suchen, mit  mehreren  Beobachtern  vorgenommen,  brauchbare  Ergeb- 
nisse liefert.  Hier  bedarf  es  also  besonders  großer  Ausdauer  und  ganz 
besonderer  Genauigkeit.  Jahrelang  werden  deshalb  über  dasselbe  Ge- 
biet Versuche  fortgesetzt  und  unter  veränderten  Bedingungen  wieder- 
holt. Wichtig  ist  es  ferner,  daß  hier  auch  die  mißlungenen  Versuche, 
das  heißt  solche,  die  nicht  das  erwartete  Resultat  ergaben,  sorgfältig 
verzeichnet  werden. 

Die  experimentelle  Methode  hat  sich  in  den  letzten  Dezennien 
sehr  vervollkommnet  und  zahlreiche,  recht  komplizierte  Apparate  her- 
gestellt, welche  die  Versuche  erleichtern  und  ihre  Resultate  exakter 
machen.  Insbesondere  hat  diese  Methode  in  der  Analyse  der  Sinnes- 
wahrnehmungen große  Erfolge  aufzuweisen.  Wir  wissen  jetzt,  daß 
beim  Zustandekommen  einer  Gesichtswahrnehmung  neben  den  Netz- 
hautempfindungen die  Bewegungen  des  Auges  und  die  dabei  entstan- 
denen Muskelempfindungen  eine  große  Rolle  spielen.  Dasselbe  ist  auch 
bei  Tastwahrnehmungen  der  Fall.  Überhaupt  ist  durch  die  experimen- 


Die  propädeutischen    vorbereitendem  Disziplinen 

teile  Methode  die  große  Bedeutung  der  Muskelempfindungen  erkannt 
worden  und  dadurch  ha!  unsere  Vorstellung  von  der  Natur  unseres 
Seelenlebens  die  tiefgreifendsten  Veränderungen  erfahren.  Durch  die 
experimentelle  Methode  sind  ferner  der  zeitliche  Verlauf  der  Vorstel- 
lung.li.  die  I  iesetze  der  Assoziation,  die  Leistungen  des  Gedächtnisses, 
die  1  ehre  von  den  Gefühlen  im  allgemeinen,  insbesondere  in  bezug  auf 
die  dadurch  veranlaßten  Änderungen  der  Pulsbewegungen,  und  be- 
sonders auch  die  elementaren  ästhetischen  Gefühle  vielfach  aufgehellt 
worden,  und  es  ist  zu  hoffen,  daß  der  gemeinsamen  Arbeit  auf  diesem 
Gebiete  noch  manche  Entdeckung  gelingen  wird. 

Neben  der  introspektiven  und  der  experimentellen  Methode  ist 
noch  die  Beobachtung  anderer  eine  nicht  unwichtige  Quelle 
der  Belehrung.  Man  kann  hier  natürlich  nie  den  psychischen  Vorgang 
direkt  beobachten,  sondern  nur  seinen  körperlichen  Ausdruck  in  Be- 
wegung, Miene  und  Sprache.  Der  Vorgang  selbst  muß  erschlossen 
werden,  und  bei  diesen  Schlüssen  bilden  wieder  die  eigenen  Erlebnisse 
des  Beobachters  die  Grundlage.  Besonders  lehrreich  werden  solche  Be- 
obachtungen an  Kindern  und  an  solchen  Individuen,  denen  ein  grau- 
se unes  Experiment  der  Natur  irgend  eine  Erkenntnisquelle  verschlossen 
hat.  Blindgeborene,  Taubstumme  und  die  nicht  allzu  seltenen  Taub- 
stumm-Blinden bieten  da  reiche  Belehrung,  und  wir  verdanken  der 
sorgsamen  Beobachtung  solcher  Personen  nicht  unerhebliche  Auf- 
schlüsse. Insbesondere  sei  hier  auf  die  überaus  lehrreiche  Erziehung 
der  taubstumm-blinden  Laura  Bridgman*),  Helen  Keller**)  und 
Marie  Hcurtin  ***)  hingewiesen,  wo  sich  in  geradezu  staunenswerter 
Weise  zeigt,  welcher  Leistungen  der  Tastsinn  allein  fähig  ist,  und 
welche  Bedeutung  der  Wortsprache  für  die  Entwicklung  des  Denkens 
zukommt. 

Mit  der  introspektiven  Methode,  so  wurde  bereits  gesagt,  ist  auf 
das  engste  die  Analyse  verbunden,  welche  die  beobachteten  Vorgänge 
in  ihre  Elemente  zerlegt.  Vermöge  der  ereignisartigen  Natur  der 
psychischen  Vorgänge,  welche  immer  nur  ein  Geschehen,  niemals 
ein  beharrendes  Sein  darstellen,  geht  die  analytische  Betrachtung 
von  selbst  in  die  g  e  n  e  t  i  s  c  h  e  über,  welche  das  Seelenleben  als  eine 
Entwicklungsreihe  auffaßt  und  fragt,  welcher  Vorgang  der  erste,  der 
ursprünglichste  ist.  Die  Frage,  woraus  ein  Vorgang  besteht,  führt  un- 
abweislich  zu  der  Frage,  wie  und  woraus  er  e  n  t  steht. 

Die  g  e  n  e  t  i  s  c  h  e  Betrachtungsweise  führt  aber  von  selbst  über 
das  Einzelwesen  hinaus  und  zwingt  uns,  die  Gesellschaft,  in  der  der 
Mensch  lebt,  als  wichtigen  Faktor  seiner  seelischen  Entwicklung  mit 
zu  berücksichtigen.  Soweit  wir  nämlich  den  Menschen  zurück  ver- 
folgen können,  überall  und  immer  finden  wir  ihn  als  geselliges  Wesen, 
als  Herdentier.  Das  Wort  des  Aristoteles,  daß  der  Mensch  von  Natur 

*)  VffL   Jerusalem,   Laura  Bridgman,  Erziehung  einer  Taubstumm-Blinden. 
I  im-  |>-\rhologische  Studie.   Wien,   Pichler,   1891. 

|  Helen  Keller,  Geschichte   meines   Lebens.    Deutsche   Übersetzung.    Stutt- 
gart 1005. 

•**)  Marie  Hcurtin,   Erziehung     einer     taub     und     blind     Geborenen,     von 
W.  Jerusalem  (österreichische  Rundschau.  1905,  Nr.  33  und  36). 


§  9.  Methoden  und  Richtungen  der  Psychologie  23 

aus  ein  soziales  Wesen  sei,  wird  durch  die  moderne  Völkerkunde  im 
vollsten  Umfange  bestätigt.  Nicht  nur  die  den  Menschen  umgebende 
Natur,  auch  die  mit  ihm  zusammenlebenden  Mitmenschen  geben  der 
Entwicklung  seines  Seelenlebens  Richtung  und  Inhalt.  So  erweitert  sich 
die  Individualpsychologie  zur  Sozial-  oder  Völkerpsycho- 
logie. Diese  von  Lazarus  und  Steinthal  begründete  Wissenschaft 
hat  in  den  letzten  Dezennien  große  Fortschritte  gemacht.  Das  groß 
angelegte  Werk  über  Völkerpsychologie  von  Wilhelm  Wandt,  der 
namentlich  die  Sprache,  die  Mythenbildung  und  die  Sitte  völker- 
psychologisch zu  behandeln  unternommen  hat,  eröffnet  neue  und  sehr 
bedeutsame  Gesichtspunkte.  Uns  scheint  es  deshalb  eine  unabweisliche 
Forderung  für  jeden  Psychologen,  sich  mit  den  Resultaten  der  mo- 
dernen Völkerkunde  vertraut  zu  machen  und  den  sozialen  Faktor  in 
der  Entwicklung  des  menschlichen  Erkennens,  Fühlens  und  Wollens 
weit  mehr,  als  dies  bisher  geschehen,  zu  berücksichtigen. 

Wenn  wir  nach  dem  Ursprung  und  nach  der  Entwicklung  der 
seelischen  Vorgänge  fragen,  so  kommen  wir  fast  von  selbst  auf  den 
innigen  Zusammenhang  dieser  Vorgänge  mit  der  E  r  h  a  1 1  u  n  g  d  e  s 
Lebens.  Ein  großer  Teil  unseres  Nachdenkens  und  Überlegens  dient 
doch,  das  weiß  jeder,  sogenannten  praktischen  Zwecken,  das  heißt 
er  ist  darauf  gerichtet,  das  Leben  des  Einzelnen,  seiner  Familie  oder 
des  Gemeinwesens,  dem  er  angehört,  zu  erhalten,  dieses   Leben  an- 
genehmer, inhaltsreicher  und  dauernder  zu  machen.  Betrachtet  man 
nun  das  Seelenleben  von  diesem  Standpunkt  aus,  so  fällt  oft  ein  über- 
raschendes Licht  auf  seelische  Vorgänge,  die  sich  bisher  dem  vollen 
Verständnis  nicht  erschließen  wollten.  So  wird  z.  B.  das  Phänomen 
der  Aufmerksamkeit,  die  Entstehung  der  Begriffe,  besonders  aber  das 
ganze  Gefühlsleben  durch  Anwendung  dieser  biologischen  Me- 
thode in  eine  ganz  neue  Beleuchtung  gerückt.  Diese  Methode  ist 
deshalb    für    den     Psychologen     ein    überaus    wertvolles    heuri- 
stisches Prinzip,  das  heißt  ein   Mittel,  um  Neues  zu  finden, 
das  ohne  diese  Betrachtungsweise  nicht  entdeckt  werden  kann.   Der 
englische  Philosoph  Herbert  Spencer  hat  zum  ersten   Male  die  bio- 
logische Betrachtungsweise  auf  die  Psychologie  angewendet.  Er  hat 
aber  darin  geirrt,  daß  er  das  gesamte  Seelenleben  nur  als  Anpassung 
der  inneren  Vorgänge  an  die  äußere  Umgebung  ansah.  Dadurch  ist 
er  der  Eigenart  des   Psychischen,   der  schöpferischen  Tätigkeit  des 
Geistes  nicht  gerecht  geworden.  Ich  selbst  habe,  durch  Spencer  ange- 
regt, die  biologische  Methode  in  meinem  bereits  in  siebenter  Auflage 
(1921 )    vorliegenden    Lehrbuch   der    Psychologie  konsequent   durch- 
geführt, bin  mir  dabei  aber  immer  bewußt  geblieben,  daß  diese  Me- 
thode nicht  mehr  sein  darf  als  eben  ein  heuristisches  Prinzip.  Das 
Seelische  in  uns  ist  nicht  bloß  Anpassung  an  die  Umgebung.  Unser 
Geist  hat  eine  schöpferische  Kraft  in  sich,  die  fähig  ist,  die  von  außen 
kommenden  Eindrücke  nicht  nur  mit  geeigneten  Maßnahmen  zur  Er- 
haltung des  Lebens  zu  beantworten,  sondern  innerlich  zu  verarbeiten 
und    aus   sich   heraus   neue   Gebilde   zu    schaffen,   die   ein    eigenes 
Leben  führen.  Dabei  spielt  allerdings  das  Zusammenleben  der  Men- 
schen eine  überaus  wichtige  Rolle.  Vor  kurzem  hat  Felix  Kraeger  in 


24  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

seiner  Schrift  „Über  Entwicklungspsychologie"  (1915)  ebenfalls  die 
Anwendung  der  biologischen  und  sozialen  Betrachtungsweise  auf  das 
Seelenleben  verlangt  und  weitere  Arbeiten  in  diesem  Sinne  in  Aussicht 
gestellt. 

Die  introspektive  und  die  experimentelle  Methode  suchen  beide 
mit  Hilfe  eindringender  Analyse  den  psychischen  Tatbestand  so  genau 
als  möglich  festzustellen,  während  die  genetische  Betrachtungsweise 
im  Verein  mit  der  biologischen  den  Ursprung,  die  Entwicklung  und  die 
Bedeutung  des  Seelenlebens  zu  erforschen  suchen. 

Was  nun  die  verschiedenen  Richtungen  betrifft,  die  sich 
gegenwärtig  in  der  Psychologie  herausgebildet  haben,  so  entsprechen 
dieselben  teils  der  bevorzugten  Anwendung  gewisser  Methoden,  teils 
grundlegenden  Ansichten  über  die  größere  oder  geringere  Bedeutung 
bestimmter  Grundklassen  von  seelischen  Vorgängen. 

Die  früher  übliche  Unterscheidung  zwischen  rationaler  oder 
spekulativer  und  empirischer  Psychologie  ist  jetzt  gegenstands- 
los geworden.  Was  man  rationale  Psychologie  nannte,  gilt  jetzt  all- 
gemein als  ein  Teil  der  Metaphysik  und  wird  von  der  Psychologie  aus- 
geschlossen. Eben  deswegen  ist  das  Beiwort  „empirisch",  das  heißt  er- 
fahrungsgemäß, jetzt  selbstverständlich  und  damit  überflüssig  ge- 
worden. 

Dagegen  unterscheidet  man  den  betreffenden  Methoden  ent- 
sprechend zwischen  introspektiver  und  experimenteller 
Psychologie.  Beide  Richtungen  bekämpfen  einander  gelegentlich 
scharf.  Die  introspektiven  Psychologen  werfen  den  experimentellen 
vor,  daß  die  Resultate  ihrer  langwierigen  Untersuchungen  oft  un- 
bedeutend sind,  und  daß  dieselben  zudem  mehr  der  Physiologie  als  der 
Psychologie  zugute  kommen.  Dagegen  spotten  die  „Experimentellen" 
gelegentlich  über  die  „Lehnstuhlpsychologen"  und  meinen,  nur  im 
Laboratorium  könne  in  exakter  Weise  Psychologie  getrieben  werden. 

In  den  letzten  Jahren  ist  eine  Art  Kombination  beider  Methoden 
versucht  worden,  die  besonders  an  dem  Würzburger  Institut  für  ex- 
perimentelle Psychologie  durch  seinen  früheren  Leiter  Oswald  Külpe 
zur  Anwendung  gebracht  wurde  und  jetzt  auch  in  anderen  Labora- 
torien gepflegt  wird.  Es  ist  dies  eine  Art  von  Selbstbeobachtung  unter 
genau  bestimmten  Bedingungen.  Auf  diese  Weise  sind  die  Vorgänge 
beim  Urteilen  und  namentlich  komplizierte  Denkprozesse  genauer 
untersucht  worden. 

Nach  unseren  obigen  Darlegungen  sind  beide  Richtungen  berech- 
tigt und  nur  durch  das  Zusammenwirken  von  Experiment  und  Selbst- 
beobachtung wie  durch  eindringende  Analyse  können  Fortschritte  er- 
zielt werden. 

In  be/.ug  auf  die  genetische  Entwicklung  der  psychi- 
schen Vorgänge  selbst  war  man  früher  meist  der  Ansicht,  daß  das 
Wahrnehmen  und  Vorstellen  primäre,  das  Fühlen  und  Wollen  da- 
gegen abgeleitete  Zustände  seien.  Diese  Auffassung  wird  besonders 
tntschieden  von  Herbart  vertreten,  nach  dessen  Lehre  die  Seele  nur 
e  1  n  e  ( irundfunktion  besitzt,  nämlich  das  Vorstellen.  Alle  Gefühle  und 
Strebungen   sind    nach    ihm    nichts   anderes    als   gegenseitige    Hern- 


§  9.  Methoden  und  Richtungen  der  Psychologie  25 

mungen  und  Förderungen  des  Vorstellens.  Man  kann  diese  Richtung, 
die  noch  immer  zahlreiche  Anhänger  zählt,  die  intellektuali- 
s  t  i  s  c  h  e  nennen. 

Demgegenüber  betonen  neuere  Forscher,  daß  nicht  das  Vor- 
stellen, sondern  das  Fühlen  und  das  mit  ihm  aufs  engste  verbundene 
Wollen  die  ursprünglichen  Zustände  seien,  aus  denen  sich  das 
Empfinden,  Wahrnehmen  und  Vorstellen  erst  entwickelt  habe.  Diese 
der  gesamten  Entwicklungsgeschichte  des  Lebens  viel  mehr  ent- 
sprechende Ansicht  nennt  man  die  voluntaristische  Psycho- 
logie. Diese  Richtung  bricht  sich  immer  mehr  Bahn  und  gewinnt  immer 
mehr  Anhänger. 

In  den  letzten  Jahren  hat  die  wissenschaftliche  Psychologie  ihr 
Arbeitsgebiet  stark  erweitert  und  ist  dadurch  mit  dem  konkreten  Leben 
der  Gegenwart  in  engere  Verbindung  getreten.  Die  experimentelle 
Psychologie  war  in  den  ersten  Dezennien  hauptsächlich  Labora- 
toriumsarbeit und  ist  es  zum  größten  Teile  noch  heute.  „Die  For- 
schungen galten  den  letzten  Elementen,  aus  denen  sich  alles  psychische 
Leben  aufbaut"  {William  Stern,  Differentielle  Psychologie,  S.  1).  Man 
richtet  die  Aufmerksamkeit  nur  auf  das,  was  allen  Menschen  gemein- 
sam ist  und  beschäftigt  sich  hauptsächlich  mit  den  Elementarvor- 
gängen, die  meist  nicht  direkt  erlebt,  sondern  erst  künstlich  isoliert 
und  erschlossen  werden  müssen.  Diese  allgemeine  oder  generelle 
Psychologie  wird  zwar  dadurch  exakter  und  wissenschaftlicher,  allein 
sie  bleibt  dem  wirklichen  Seelenleben  fremd  und  fern.  Alles  reale 
psychische  Leben  vollzieht  sich  nämlich  einerseits  nicht  in  elementaren, 
sondern  in  sehr  komplizierten  Vorgängen  und  weist  anderseits  infolge 
der  Jahrtausende  dauernden  Differenzierung  sehr  erhebliche  indi- 
viduelle Unterschiede  auf.  Diese  Einsicht  hat  nun  eine  Anzahl  jüngere 
Forscher  veranlaßt,  der  bisher  fast  allein  betriebenen  generellen  Psy- 
chologie eine  neue  Disziplin  anzugliedern,  für  welche  William  Stern 
den  sehr  treffenden  Ausdruck  „Differentielle  Psychologie"  geprägt  hat. 
Derselbe  Forscher  hat  uns  jüngst  in  seinem  Buche  „Differentielle  Psy- 
chologie in  ihren  methodischen  Grundlagen"  mit  den  Ergebnissen  und 
Aufgaben  dieser  neuen  Wissenschaft  bekannt  gemacht. 

Wir  sehen  aus  dem  Buche,  daß  hier  schon  Erhebliches  geleistet 
wurde.  Zahlreiche  Untersuchungen  deutscher  und  amerikanischer 
Schulkinder  haben  auf  die  Verschiedenheiten  in  der  Merkfähigkeit,  in 
den  herrschenden  Assoziationen,  in  der  allgemeinen  Intelligenz  und 
Begabung  hingewiesen  und  immer  feinere  Feststellungsmethoden  her- 
ausgearbeitet. Die  Forschungen  über  Zeugenaussagen  haben  auf  die 
Unterschiede  in  der  Beobachtungsfähigkeit  aufmerksam  gemacht  und 
zugleich  tief  hineingeleuchtet  in  die  unbewußten  Beeinflussungen  durch 
persönliches  Interesse,  Berufsangehörigkeit  und  Bildungsgrad.  Man 
hat  Schemata  herausgearbeitet  zu  einer  psychologisch  exakten  Beschrei- 
bung hervorragender  Persönlichkeiten,  sowie  auch  zur  Untersuchung 
von  Völkern  primitiver  Kultur.  William  Stern  gibt  mit  sorgsamer  Ge- 
wissenhaftigkeit Rechenschaft  über  das  Geleistete  und  versteht  es 
meisterhaft,  die  Probleme  herauszustellen  und  ihre  Lösung  vorzu- 
bereiten. 


26  Die  propädeutischen  i  vorbereitenden)  Disziplinen 

Die  Psychologie  ist  auch  in  anderer  Hinsieht  dem  wirklichen 
1  eben  naher  gekommen.  .Man  hat  die  Unterrichtsmethoden  psycho- 
logisch untersucht  und  daraus  ist  eine  neue  Zweigwissenschaft,  die 
experimentelle  I 'adagogik  hervorgegangen.  Sogar  mit  dem 
Wirtschaftsleben  hat  die  Psychologie  eine  Verbindung  hergestellt,  in- 
dem die  1  ignung  von  Personen  für  bestimmte  Berufe  experimentell 
geprüft  w urde.  I daraus  hat  sich  allmählich  eine  Psychotechnik 
entwickelt,  deren  Grundzüge  und  Aufgaben  Hugo  Münsterberg  in 
einem  großen  Werke  dargestellt  hat. 

Auf  diesem  Gebiete  können  und  müssen  die  Vertreter  der  ver- 
schiedensten Berufe  zusammenarbeiten.  Lehrer,  Ärzte  und  Unter- 
suchungsrichter, aber  auch  Historiker  und  Philologen  finden  hier  ein 
Feld  interessanter  und  fruchtbringender  Betätigung.  Es  ist  dringend 
zu  wünschen,  daß  die  Hochschulen  und  die  Behörden  sich  für  diese 
Arbeiten  interessieren,  und  daß  weite  Kreise  daran  teilnehmen.  Auf 
dem  hier  eingeschlagenen  Wege  wird  uns  die  Psychologie  zu  vertiefter 
Menschenkenntnis  führen  und  vielleicht  auch  Fingerzeige  geben  für 
eine  richtige  Menschenbehandlung. 

Aber  auch  in  bezug  auf  die  theoretische  Auffassung  und 
Deutung  des  ganzen  Seelenlebens  haben  sich  in  den  letzten  Jahren 
neue  Richtungen  herausgebildet.  Richard  Avenarius  hat  durch  seinen 
Begriff  der  „ V  i  t  a  1  r  e  i  h  e"  die  Aufmerksamkeit  darauf  gelenkt,  daß 
im  tatsächlichen  Verlauf  des  psychischen  Geschehens  ganze  Erleb- 
n  i  s  r  e  i  h  e  n    die    Hauptrolle    spielen,    in    denen    die    verschiedenen 
Grundfunktionen  des  Bewußtseins  intim  zusammenwirken,  so  daß  das 
einheitliche  und  zugleich  das  treibende  Moment  des  ganzen  Prozesses 
deutlicher  hervorgehoben  wird.  Indem  man  sich  nun  bemüht,  durch 
„F  i  n  f  ü  h  1  u  n  g",  durch  ein  nacherlebendes  „Verstehe  n",  durch 
eine  tief  bohrende  „I  n  t  u  i  t  i  o  n"  das  Erlebnis  als  ein  einheitliches 
Ganze  zu  erfassen,  gelangt  man  zu  einer  lebendigeren  Erfassung  des 
wirklichen  Geschehens,  als  dies  durch  die  allzusehr  zersplitternde  Ana- 
lyse    möglich    ist.    Wilhelm    Dilthey,    Theodor    Lipps    und    Eduard 
Spranger  haben  in  dieser  Richtung  tiefgründige  Untersuchungen  an- 
gestellt.   Auch    der    französische    Philosoph    Henri    Bergson,   dessen 
„Intuitionismus"  wir  weiter  unten  besprechen,  gehört  hieher.  Er  hat 
tatsächlich  durch  den  Hinweis  auf  die  Möglichkeit  eines  tiefgründigen 
Sich-selbst-Belauschens,  das  er  als  Intuition  bezeichnet,  auf  eine  neue 
Quelle  psychologischer  Erkenntnis  aufmerksam  gemacht. 

Die  wichtigste  Neuerung  auf  dem  Gebiete  der  Seelenforschung  ist 
die  von  Sigmund  Freud  inaugurierte  und  weiterentwickelte  „Psycho- 
■\  ii  a  1  v  s  e".  Auf  Grund  von  ärztlichen  Erfahrungen,  die  zeigten, 
daß  verhaltene  Affekte,  die  nicht  zur  Entladung  gelangen  konnten,  oft 
starke  Störungen  im  Nerven-  und  im  Seelenleben  zur  Folge  haben,  ist 
von  Freud  —  besonders  durch  ein  tief  eindringendes  Studium  des 
Traumlebens  —  der  Beweis  erbracht  worden,  daß  unser  Vor- 
stellen und  unser  Denken  viel  öfter  und  viel  stärker,  als  man  bis  dahin 
zuzugeben  geneigt  war,  von  unterbewußten  Gefühlen,  Affekten, 
Wünschen  und  Trieben  beeinflußt  und  gelenkt  wird.  Auf  diesem  Wege 
hat  Freud  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  die  p  s  y  c  h  o  -  a  n  a- 


§  10.  Psychologie  und  Physiologie  27 

lytische  Methode  ausgebildet,  die  sich  zur  Aufgabe  macht,  die 
unterbewußten  Vorgänge  in  ihrem  Wesen,  ihrem  Verlauf  und  nament- 
lich in  ihren  Wirkungen  zu  erforschen.  Eine  besonders  wichtige  Rolle 
spielen  dabei  die  mit  dem  sexuellen  (geschlechtlichen)  Leben  zu- 
sammenhängenden Gefühle,  Triebe  und  Vorstellungen,  die  nach  der 
Überzeugung  der  Psycho-Analytiker  oft  schon  in  früher  Kindheit  sich 
geltend  machen.  Die  Zahl  der  Anhänger  Freuds  hat  unter  Ärzten  und 
Psychologen  in  den  letzten  Jahren  sehr  stark  zugenommen,  was  sich 
schon  in  den  rasch  aufeinanderfolgenden  Neuauflagen  seiner  Schriften 
kundgibt. 

Man  hat  beim  Studium  dieser  Arbeiten  allerdings  nicht  selten 
den  Eindruck,  daß  hier  mitunter  vorschnelle  Verallgemeinerungen  voll- 
zogen werden,  und  daß  gelegentliche  Vorkommnisse  zu  rasch  als  all- 
gemein geltende  Gesetze  des  Seelenlebens  hingestellt  werden.  Auch 
die  Deutungen  der  Träume,  eines  zufälligen  Lapsus  linguae 
(wenn  man  sich  einmal  verspricht),  eines  auffälligen  Vergessens, 
woraus  die  Psycho-Analytiker  oft  weitgehende  Schlüsse  ziehen,  er- 
scheinen dem  wissenschaftlich  geschulten  Psychologen  nicht  immer 
ganz  einwandfrei.  Trotzdem  aber  muß  jeder  unbefangene  Beurteiler 
zugeben,  daß  durch  die  Psycho-Analyse  tief  in  Regionen  des  Seelen- 
lebens hineingeleuchtet  wrurde,  die  bis  dahin  ganz  dunkel  geblieben 
waren,  und  daß  hier  zweifellos  eine  neue  und  sehr  ergiebige  Quelle 
psychologischer  Erkenntnis  erschlossen  wurde. 

Ich  muß  bei  diesen  erfolgreichen  Versuchen,  neue  Gebiete  des 
Seelenlebens  der  Forschung  zugänglich  zu  machen,  immer  wieder  an 
den  tiefsinnigen  Ausspruch  Heraklits  denken,  der  schon  vor  mehr  als 
zweitausend  Jahren  gesagt  hat:  „Der  Seele  Grenzen  kannst  du  nicht 
ausfinden,  und  ob  du  jegliche  Straße  abschrittest;  so  tiefen  Grund  hat 
si£"  (Fragment  45,  Diels). 

§  10.  Psychologie  und  Physiologie 

Der  enge  Zusammenhang  zwischen  psychischen  und  physiolo- 
gischen Vorgängen  oder,  wie  man  sich  kürzer  und  populärer  aus- 
zudrücken pflegt,  zwischen  Leib  und  Seele  ist  längst  erkannt  worden 
und  hat  die  hervorragendsten  Denker  viel  und  lange  beschäftigt.  Auf 
die  philosophischen  Probleme,  die  sich  aus  dem  Nachdenken  über 
diesen  Zusammenhang  ergeben,  sowie  auf  die  wichtigsten  Lösungs- 
versuche kommen  wir  weiter  unten  zurück. 

Für  die  moderne  Psychologie  gilt  es  als  ausgemacht,  daß  der 
überwiegenden  Mehrzahl  der  psychischen  Vorgänge  physiologische 
Prozesse  als  Begleiterscheinungen  zur  Seite  stehen.  Es  ist  ferner  voll- 
kommen sicher,  daß  die  letzte  unmittelbare  Bedingung  für  einen  psychi- 
schen Vorgang  immer  ein  Nervenprozeß  sein  muß,  und  zwar  immer 
ein  solcher,  an  welchem  in  letzter  Linie  das  menschliche  Gehirn  be- 
teiligt ist.  Die  Ansicht,  daß  jedem  psychischen  Vorgang  ausnahmslos 
ein  Gehirnprozeß  entspreche,  ist  nur  insofern  eine  allgemein  aner- 
kannte, als  jeder  ernst  zu  nehmende  Forscher  überzeugt  ist,  daß  ohne 
Gehirn  keine  Bewußtseinserscheinung  zustande  kommt.  Dagegen  be- 


23  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

steht  noch  immer  eine  Meinungsverschiedenheit  in  bezug  auf  die  Frage, 
ob  jeder  durch  psychologische  Analyse  bloßgelegte  Teilvorgang  eines 
Phänomens  auch  wiederum  einen  physiologischen  Teilvorgang  des 
physiologischen  Prozesses  voraussetzen  müsse.  So  glaubt  z.  B.  Wundt, 
daß  jede  Wahrnehmung  eines  bestimmten  Dinges  nur  dadurch  zu- 
stande komme,  „daß  der  Komplex  der  durch  das  Objekt  hervor- 
gerufenen Empfindungen  durch  einen  Akt  assoziativer  Synthese'  zu- 
sammengefaßt  werde".  Dieser  Akt  der  Synthese,  glaubt  nun  der  be- 
rühmte Forscher,  sei  rein  psychischer  Natur  und  es  gebe  dazu  keinen 
physiologischen  Parallelvorgang. 

Die  weitgehende  Abhängigkeit  psychischer  Vorgänge  von  Gehirn- 
prozessen hat  nun  viele  Forscher  zu  der  Auffassung  gebracht,  daß  die 
Psychologie  nur  die  Aufgabe  habe,  unsere  Kenntnis  der  Gehirnfunk- 
tionen zu  bereichern,  und  daß  sie  somit  nur  ein  Teil  der  Physiologie  sei. 

Dem  gegenüber  muß  jedoch  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die 
psychischen  Vorgänge  durchaus  eigenartiger  Natur  und  mit  den 
physischen  Phänomenen  unvergleichbar  sind.  Alle  Vorgänge  in  der 
Natur,  wozu  natürlich  die  Prozesse  im  menschlichen  Körper  mit- 
gehören, sind  der  sinnlichen  Wahrnehmung  zugänglich  oder  können 
ihr  durch  Mikroskope  und  andere  Verstärkungen  unserer  Wahrneh- 
mungsfähigkeit zugänglich  gemacht  werden.  Selbst  wo  dies  bis  jetzt 
nicht  möglich  war,  kann  es  jeden  Augenblick  durch  Vervollkommnung 
der  Instrumente  gelingen,  und  es  gibt  keinen  Naturprozeß,  bei  dem  es 
undenkbar  wäre,  daß  er  der  sinnlichen  Wahrnehmung  zugänglich 
werde.  Die  psychischen  Vorgänge  können  jedoch  nie  mit  den  Sinnen 
wahrgenommen  werden,  sondern  nur  in  der  eigenartigen,  jedem  be- 
kannten, aber  nicht  näher  zu  beschreibenden  Art  unmittelbar  erlebt 
werden.  Eben  deshalb  muß  ihre  Erforschung  der  Gegenstand  einer  be- 
sonderen Wissenschaft  bleiben. 

Die  Psychologie  wird  von  der  Physiologie  wertvolle  Anregungen 
zu  erneuter  psychologischer  Analyse  erhalten,  wie  sie  ihrerseits 
wiederum  der  Physiologie  Probleme  bezeichnen  und  Wege  weisen  kann. 
Niemals  aber  kaiin  die  Psychologie  aufhören,  eine  selbständige  Wissen- 
schaft zu  sein.  Ihr  Gegenstand  bleibt  immer  ein  von  dem  jeder  Natur- 
wissenschaft verschiedener. 

§  11.  Psychologie  und  Philosophie 

Die  moderne  Psychologie  hat  sich,  wie  wir  gesehen,  von  jeder 
philosophischen  Spekulation,  namentlich  von  jedem  philosophischen 
System  unabhängig  gemacht  und  sich  zur  selbständigen  Erfahrungs- 
v.issenschaft  entwickelt.  Trotzdem  aber  ist  der  enge  Zusammenhang 
zwischen  Psychologie  und  Philosophie  bestehen  geblieben.  Freilich  hat 
sich  das  Verhältnis  zwischen  diesen  beiden  Wissenszweigen  ein  wenig 
umgekehrt.  Der  Psychologe  könnte,  strenge  genommen,  auf  jede  meta- 
physische Hypothese  verzichten,  allein  der  Philosoph  ist  heute  mehr 
denn  je  aui  eindringende  psychologische  Analyse  angewiesen. 

Wenn  die  Philosophie  zu  ihrem  Ziele,  das  ist  einer  einheitlichen 
Weltanschauung  gelangen  will,  so  muß  sie  nicht  nur  die  Gesetze  des 


§  12.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Logik  29 

physischen  Geschehens,  wie  sie  die  Naturwissenschaft  bietet,  berück- 
sichtigen, sondern  in  noch  höherem  Grade  die  Gesetze  des  psychischen 
Geschehens,  wie  sie  die  Psychologie  zu  erforschen  unternimmt.  Nur  auf 
psychologischer  Grundlage  kann  heute  der  Philosoph  die  Grenzen  des 
menschlichen  Erkennens  abstecken,  nur  mit  Hilfe  der  Psychologie  die 
Formen  finden  und  verstehen  lernen,  in  die  sich  unsere  Erkenntnisse 
notwendig  kleiden  müssen.  Nur  eine  psychologische  Analyse  unserer 
Gefühle  kann  ihn  lehren,  unter  welchen  Bedingungen  wir  etwas  für 
schön  halten,  und  nur  aus  der  Kenntnis  dieser  Bedingungen  können 
sich  gültige  Normen  für  den  Künstler  ergeben.  Erst  ein  eingehendes 
und  genaues  Studium  dessen,  was  in  uns  vorgeht,  wenn  wir  Hand- 
lungen anderer  billigen,  wenn  wir  mit  uns  selbst  zufrieden  oder  un- 
zufrieden sind,  kann  ihn  auf  den  Weg  führen,  von  dem  aus  man  dazu 
gelangt,  sittliche  Normen  für  das  menschliche  Handeln  aufzustellen. 

Es  bildet  demgemäß  die  Psychologie  die  wichtigste  Grundlage  für 
eine  wahrhaft  wissenschaftliche  Philosophie,  und  wer  das  vergißt  oder 
sich  in  kühnem,  aber  recht  unzeitgemäßem  Vertrauen  auf  die  Kraft 
der  Spekulation  über  die  psychologische  Grundlegung  glaubt  hinweg- 
setzen zu  können,  „dem  haften  nirgends  die  sicheren  Sohlen  und  mit 
ihm  spielen  Wolken  und  Winde". 

Aber  auch  die  Psychologie  führt  fast  von  selbst  zu  philosophi- 
schen Problemen,  wenn  sich  auch  nicht  leugnen  läßt,  daß  sie  dieselben 
von  sich  abweisen  kann  und  darf. 

Schon  die  Lehre  von  den  Sinneswahrnehmungen  bringt  uns  auf 
die  merkwürdige  Tatsache  des  ungleich  höheren  Vertrauens,  das  wir 
den  Daten  des  Tastsinnes  im  Vergleich  zu  Gesicht  und  Gehör  ent- 
gegenbringen. Der  Psychologe  hat  gewiß  das  Recht,  sich  mit  der  Ver- 
zeichnung der  Tatsache  zu  begnügen,  allein  die  Versuchung  ist  sehr 
groß,  eine  Erklärung  zu  suchen.  Dies  führt  aber  schon  tief  in  die  Er- 
kenntnistheorie hinein. 

Noch  mehr  reizt  die  Lehre  von  den  sittlichen  und  religiösen  Ge- 
fühlen und  von  den  Willensphänomenen  dazu,  den  Fragen  nach  der 
Begründung  der  Sittengesetze,  dem  Problem  der  Willensfreiheit  näher- 
zutreten. Hier  tut  es  zunächst  not,  den  psychologischen  Tatbestand 
genau  und  ohne  jede  Rücksicht  auf  eine  philosophische  Anschauung 
zu  konstatieren.  Aber  eben  diese  Konstatierung  enthält  oft  schon  die 
Lösung  des  Problems  in  sich,  und  es  ist  nicht  einzusehen,  warum  der 
Psychologe  nicht  den  Mut  haben  sollte,  einige  Schritte  über  die  Kon- 
statierung der  Tatsachen  hinauszugehen. 

Die  Psychologie  ist  also  ihrem  gegenwärtigen  Stande  nach  eine 
selbständige  Wissenschaft,  sie  bildet  aber  die  unentbehrliche  Grund- 
lage für  alle  philosophischen  Untersuchungen. 

§  12.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Logik 

Die  Logik  ist  die  Lehre  von  den  Formen  des 
richtigen  Denkens.  Als  richtig  gilt  uns  das  Denken  dann, 
wenn  es  zu  objektiv  gewissen  Urteilen  führt.  Objektiv 
gewiß  sind  solche  Urteile,  die  jeder,  der  sie  hört  und  dem  zu  ihnen 


30  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

führenden  Gedankengang  mit  Verständnis  folgt,  als  wahr  anzuer- 
kennen nicht  umhin  kann.  Als  ein  zweites  Kriterium  für  die  objektive 
Gewißheit  eines  Urteiles  betrachten  wir  ferner  das  Eintreffen  der  auf 
das  betreffende  Urteil  gegründeten  Voraussagen. 

Der  objektiven  Gewißheit  steht  die  subjektive  gegenüber,  welche 
meist  nicht  auf  einen  anderen  übertragen  werden  kann.  Subjektive 
Gewißheit  haben  wir  /.  B.  davon,  daß  unser  Freund,  den  wir  viele 
Jahre  kennen,  in  einem  bestimmten  Falle  so  und  nicht  anders  han- 
deln wird.  Objektive  Gewißheit  dagegen  haben  wir  z.  B.  davon,  daß 
das  Steigen  des  Barometers  eine  Vermehrung  des  Luftdruckes  bedeutet. 

Die  Formen  des  richtigen  Denkens,  das  heißt  des  Denkens,  das  zu 
objektiv  gewissen  Urteilen  führt,  sind  nun  nichts  anderes  als  die  all- 
gemeinen Bedingungen  dieser  objektiven  Gewißheit.  Berücksichtigt  man 
noch  den  Umstand,  daß  man  in  der  wissenschaftlichen  Forschung  nicht 
immer  zu  objektiv  gewissen,  sondern  sehr  häufig  nur  zu  mehr  oder 
minder  wahrscheinlichen  Urteilen  gelangt,  so  kann  man  die  Logik 
auch  definieren  als  die  Lehre  von  den  allgemeinen  Bedin- 
gungen der  objektiven  Gewißheit  und  Wahr- 
scheinlichkeit. 

Um  die  Formen  des  richtigen  Denkens  zu  finden,  müssen  zunächst 
die  Formen  des  Denkens  überhaupt  untersucht  werden,  das  heißt  es 
muß  nach  dem  geforscht  werden,  was  alle  Denkakte  gemeinsam  haben. 
Hier  drängt  sich  nun  vor  allem  die  U  r  t  e  i  1  s  f  o  r  m  auf,  welche  allem 
Denken  zugrunde  liegt.  Die  einfachsten  Wahrnehmungen  sowie  die 
Resultate  der  verwickeltsten  Überlegungen,  sie  alle  kommen  in  der 
Form  des  Urteils  zum  Ausdrucke.  Diese  Denkform  hat  in  der 
Sprache  die  Form  des  Behauptungssatzes  angenommen  und  so  bilden 
denn  Satz  und  Urteil  oder,  wie  wir  auch  sagen  können,  der  U  r  t  e  i  1  s- 
s  a  t  z  den  Mittelpunkt  aller  logischen  Untersuchungen.  Wann  ist  ein 
Urteil  richtig?  Unter  welchen  Bedingungen  läßt  sich  aus  einem  oder 
aus  mehreren  richtigen  Urteilen  ein  neues  richtiges  ableiten?  Das  sind 
die  Fragen,  welche  den  Hauptgegenstand  der  Logik  bilden.  Man 
konnte  demnach  die  Logik  auch  bestimmen  als  die  Lehre  von  den  all- 
gemeinen  Bedingungen  des  richtigen  Urteilen  s. 

Aber  nicht  an  allen  Urteilen  sind  solche  allgemeine  Bedingungen 
ihrer  Richtigkeit  festzustellen.  Eine  große  Zahl  von  Urteilen  dient  da- 
zu, individuelle  Wahrnehmungen,  Erinnerungen,  Erwartungen  zu  for- 
mulieren und  auszudrücken.  Alle  solche  Urteile,  ich  nenne  sie  Urteile 
der  Anschauung,  haben  ihrer  Natur  nach  nur  subjektive  Gewißheit 
und  geben  datier  zu  logischer  Prüfung  keinen  Anlaß.  Eine  solche 
Prüfung  kann  nur  an  Urteilen  vorgenommen  werden,  welche  all- 
gemeine Behauptungen  aufstellen,  das  heißt  genauer  gesprochen, 
welche  n-cht  individuell  bestimmte  und  individuell  gefärbte  Tatsachen 
bezeichnen,  sondern  vielmehr  ein  Ausdruck  sind  für  Gesetze  des 
Geschehens.  Solche  Urteile  nennen  wir  Begriffsurteile 
und  nur  diese  können  '  Gegenstand  logischer  Prüfung  werden. 

I  ine  solche  Prüfung  gelingt,  wie  eine  mehr  als  zweitausend  Jahre 
alte  Tradition  lehrt,  am  besten  dadurch,  daß  die  Begriffsurteile  künst- 
lich in  ihre  Elemente  zerschlagen  werden.  Diese  Elemente  sind  hier 


§  12.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Logik  31 

Begriffe,  eine  Denkform,  die  zwar  erst  im  Urteil  zu  lebendiger 
Wirkung  kommt,  trotzdem  aber  auch  zu  logischen  Zwecken  einer  selb- 
ständigen Betrachtung  unterzogen  werden  muß. 

Jeder  Begriff  hat  das  Merkmal  der  Allgemeinheit.  Er  ent- 
steht als  Niederschlag  vieler  Anschauungsurteile  und  ist  der  einheit- 
liche Träger  von  Eigenschaften  und  Zuständen,  die  einer  Anzahl  von 
Vorstellungen  gemeinsam  sind.  Der  Begriff  wird  durch  ein  sym- 
bolisches Zeichen,  meist  durch  ein  Wort,  im  Bewußtsein  festgehalten. 
Die  genau  präzisierte  Bedeutung  des  Wortes,  das  heißt  die  Eigen- 
schaften und  Zustände,  deren  Träger  der  Begriff  ist,  bilden  seinen 
Inhalt,  die  Objekte,  an  denen  sich  die  betreffenden  Eigenschaften 
und  Zustände  finden,  den  Umfang  des  Begriffes.  Die  traditionelle 
Logik  hat  nun  die  Prüfung  der  Urteile  in  der  Weise  in  Angriff  ge- 
nommen, daß  sie  dieselben  als  Aussagen  über  Begriffs- 
verhältnisse betrachten  lehrte.  Dabei  erwies  sich  die  Betrach- 
tung der  Umfangsverhältnisse  als  viel  geeigneter,  weil  diese  anschau- 
lich dargestellt  werden  können,  und  weil  sich  auf  diese  auch  mit  Vor- 
teil mathematische  Formeln  anwenden  lassen.  Dagegen  sind  die  In- 
haltsbeziehungen viel  innerlicher,  viel  komplizierter,  und  sind  deshalb 
in  ihrem  Wesen  viel  schwerer  zu  erfassen. 

Die  traditionelle  Logik  ist  also  meist  eine  Umfangslogik  ge- 
blieben. Sie  untersucht  die  möglichen  Begriffsverhältnisse  an  sich,  fragt 
dann,  welche  von  denselben  in  den  Urteilen  zum  Ausdrucke  gelangen, 
und  sucht  zu  ermitteln,  wie  sich  aus  gegebenen  Begriffsverhältnissen 
neue  ableiten  lassen.  Diese  Ableitung  nennt  man  Schließen,  und 
so  zerfällt  die  traditionelle  Logik  in  die  Lehre  vom  Begriff,  vom 
Urteil,  vom  Schluß. 

Die  Auffassung  des  Urteils  als  einer  Aussage  über  ein  Begriffs- 
verhältnis hat  lange  über  die  wahre  psychologische  Natur  des  Ur- 
teilsaktes getäuscht.  Indem  man  immer  von  zwei  Bestandteilen  des 
Urteils  sprach,  hat  man  vergessen,  daß  der  dem  Urteil  zugrunde 
liegende  und  durch  dasselbe  geformte  Vorgang  beide  Bestandteile  un- 
gesondert enthält.  Über  die  psychologische  und  namentlich  erkenntnis- 
theoretische Bedeutung  der  Urteilsfunktion  werden  wir  weiter  unten  zu 
sprechen  haben.  Hier  muß  jedoch  hervorgehoben  werden,  daß  die 
Logik  in  ihrem  vollen  Rechte  ist,  wenn  sie  das  Urteil  in  Begriffe  auf- 
löst, insoferne  diese  Auflösung  ihren  Zwecken  dient.  Nur  darf  eine  zu 
bestimmten  wissenschaftlichen  Zwecken  vollzogene  künstliche  Umfor- 
mung nicht  den  Anspruch  erheben,  für  die  ursprüngliche  und  wesent- 
liche Natur  des  psychischen  Aktes  maßgebend  sein  zu  wollen. 

Mit  der  Lehre  vom  Begriff,  Urteil  und  Schluß  ist  jedoch  die  Auf- 
gabe der  Logik  nicht  erschöpft.  Sie  soll  auch  zeigen,  wie  diese  Formen 
im  wissenschaftlichen  Denken  Anwendung  finden  und  demgemäß  die 
Methoden  der  Forschung  untersuchen.  Dabei  wird  man  mit  Wundt 
am  besten  die  Methoden  der  Darstellung  eines  bereits  bekannten  In- 
haltes von  den  Methoden  der  Untersuchung  sondern.  Die  Methoden 
der  Darstellung  sind  vor  allem  die  D  e  f  i  n  i  t  i  o  n  und  Einteilung 
der  Begriffe  sowie  die  verschiedenen  Arten  der  Beweise.  Bei 
den   Methoden  der  Untersuchung  werden   dann    Induktion   und 


32  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

Deduktion,  Analyse  und  Synthese,  Hypothese  und 
Fiktion*)  sowie  speziellere  Methoden  zur  Darstellung  gelangen. 
Die  Methodenlehre  wird  aber  erst  dann  fruchtbringend,  wenn  sie  zu 
den  einzelnen  Wissenschatten  herabsteigt  und  die  ihnen  eigenen  Me- 
thoden zur  Anschauung  bringt.  Wir  unterscheiden  demnach  eine  all- 
gemeine und  eine  spezielle  Methodenlehre,  welch  letztere  die  Logik  der 
einzelnen  Wissenschaften  darstellt.  Wundt  hat  in  seinem  dreibändigen 
Werk  über  Logik  diese  Riesenarbeit  geleistet  und  damit  die  Aufgabe 
der  Logik  ungemein  erweitert. 

§  13.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Logik 

Das  Bedürfnis  nach  einer  präzisen  Formulierung  der  allgemeinen 
Denkgesetze  machte  sich  gegen  das  Ende  des  vierten  Jahrhunderts 
v.  Chr.  fühlbar,  als  die  der  sogenannten  megarischen  Schule  an- 
gehörigen  Denker  einerseits  an  der  Möglichkeit  wahrer  Urteile  Zweifel 
erhoben,  anderseits  durch  sophistische  Fangschlüsse  den  Gegner  zu 
verwirren  suchten.  Nachdem  Sokrates  die  Forderung  nach  begriff- 
licher Erkenntnis  erhoben  und  Piaton  über  die  Definition  und  Ein- 
teilung der  Begriffe  Untersuchungen  angestellt  hatte,  unternahm  es 
Aristoteles,  die  Regeln  des  Schließens  und  Beweisens  genau  und  aus- 
führlich zu  erforschen  und  darzulegen,  und  wurde  dadurch  der  Be- 
gründer der  Logik. 

Aristoteles  war  sich  vollkommen  darüber  klar,  daß  es  dabei  nicht 
auf  die  Entdeckung  neuer  Wahrheiten,  sondern  auf  die  Prüfung  der 
Resultate  des  natürlichen  Denkens  ankomme.  Er  sagt  ausdrücklich, 
die  Logik  habe  die  Aufgabe,  die  tatsächlich  vollzogenen  Schlüsse  auf 
bestimmte  Formen  zurückzuführen,  um  dadurch  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen.  Auch  das  wußte  Aristoteles,  daß  man  zu  diesem  Zwecke  die 
wirklich  vollzogenen  Schlüsse  in  die  zugrunde  liegenden  Urteile  und 
die  Urteile  in  ihre  begrifflichen  Elemente  auflösen  müsse.  Der  Name, 
den  er  seiner  Wissenschaft  gab,  lautete  demgemäß  ganz  richtig  Ana- 
lytik, das  heißt  Zergliederungskunst. 

Die  logischen  Schriften  des  Aristoteles  (von  den  Kategorien  oder 
<  irundbegriffcn,  vom  Urteilssatze,  von  der  Schluß-  und  Beweislehre, 
die  Lehre  vom  Wahrscheinlichkeitsbeweis  und  von  der  Definition,  ent- 
halten in  den  acht  Büchern  der  Topik)  wurden  vom  späteren  Alter- 
tum und  im  Mittelalter  unter  dem  Namen  „Organon",  das  ist  Werk- 
zeug (des  Denkens),  zusammengefaßt.  Eine  vom  Neuplatoniker  Por- 
phyrius  (drittes  Jahrhundert  n.  Chr.)  verfaßte  und  von  Boethius 
(sechstes  Jahrhundert)  ins  Lateinische  übertragene  Einführung  in 
diese  Schriften,  worin  die  fünf  wichtigsten  Grundbegriffe   (Gattung, 


*)  Unter  einer  Fiktion  verstehen  wir  eine  bewußt  falsche,  in  sich  wider- 
spruchsvolle Annahme,  die  wir  zu  machen  uns  veranlaßt  sehen,  um  eine  be- 
stimmte wissenschaftliche  Aulgabe  zu  lösen.  Die  überaus  große  und  sehr  inter- 
essante Rolle,  die  dieser  Kunstgriff  des  menschlichen  Geistes  in  der  Entwicklung 
der  Wissenschaften  spielt,  besonders  in  der  Mathematik,  Physik,  Jurisprudenz  und 
Nationalökonomie,  findet  man  jetzt  lichtvoll  dargestellt  in  dem  auch  anderweitig 
sehr  bedeutsamen  Buche  „Die  Philosophie  des  ,Als  ob'"  von  Hans  Vaihinger  1911. 


§  13.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Logik  33 

Art,  Artunterschied,  besonderes  Merkmal  [Proprium]  und  zufälliges 
Merkmal)  behandelt  sind,  war  unter  dem  Namen  „Quinque  voces"  als 
Lehrbuch  in  den  Schulen  des  Mittelalters  allgemein  eingeführt.  Durch 
die  Schüler  des  Aristoteles,  Theophrast  und  Eudemos,  durch  die 
Stoiker  und  vielfach  auch  durch  die  scholastischen  Philosophen  des 
Mittelalters  wurden  die  Formen  der  Schlüsse  noch  feiner  ausgearbeitet 
und  eine  Menge  neuer  Kunstausdrücke  geschaffen,  mit  denen  der  ge- 
schulte Dialektiker  rasch  und  sicher  operieren  mußte. 

Im  sechzehnten  Jahrhundert  hat  Petrus  Ramus,  ein  heftiger 
Gegner  des  Aristoteles  und  der  Scholastik,  im  Anschluß  an  Cicero  und 
Quintilian  ein  Lehrbuch  der  Logik  verfaßt,  in  dem  der  Stoff  so  an- 
geordnet war,  wie  heute  noch  in  den  meisten  Lehrbüchern  der  Logik  *). 
Der  Engländer  Bacon  hat  in  seinem  „Novum  Organon"  die  Wert- 
losigkeit der  Aristotelischen  Logik  darzutun  gesucht  und  energisch  auf 
die  Induktion  hingewiesen,  wo  man  vom  einzelnen  zum  allgemeinen 
aufsteigt.  Trotzdem  erhielt  sich  die  Aristotelisch-scholastische  Logik 
in  ihren  Hauptlehren  auch  weiterhin  noch  als  Gegenstand  des  Schul- 
unterrichtes und  ist  es  zum  großen  Teile  bis  heute  geblieben. 

Eine  neue  Richtung  und  ein  neuer  Inhalt  wurde  der  Logik  durch 
Kant  gegeben.  Neben  der  alten,  rein  formalen  Logik,  die  er  gelten  läßt, 
schuf  er  eine  neue  Art  logischer  Betrachtung,  die  er  selbst  trans- 
zendentale Logik  nannte.  In  den  Formen  des  Urteils  glaubte 
er  die  Grundfunktionen  des  menschlichen  Verstandes  zu  finden,  ver- 
möge deren  dieser  die  von  außen  einströmenden  Eindrücke  formt  und 
gestaltet.  Kant  betrachtet  diese  Grundfunktionen  als  eine  Art  Urbesitz 
unseres  Geistes,  der  durch  die  Betätigung  dieser  Funktionen  die  Ge- 
setzmäßigkeit des  Naturgeschehens  gleichsam  selbst  schafft.  Dadurch 
aber  erhalten  die  logischen  Formen  eine  erzeugende,  fast  schöpferische 
Kraft.  In  einseitiger  Weiterentwicklung  dieses  Gedankens  hat  dann 
Hegel  eine  metaphysische  Logik  ersonnen,  in  welcher  die 
logische  Selbstentwicklung  der  Begriffe  mit  dem  wirklichen  Geschehen, 
mit  dem  Sein  der  Dinge  in  eins  zusammenfällt.  Die  Logik  Hegels, 
deren  dialektische  Methode  tiefgreifende  Wirkungen  ausgeübt  hat, 
schien  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  vollständig 
überwunden,  lebt  aber  jetzt  in  anderer  Form  wieder  auf.  Ebenso  findet 
die  Logik  der  Scholastiker  des  Mittelalters  wieder  energische  Ver- 
teidiger. Diesen  Strömungen  gegenüber  sucht  sich  wiederum  eine  ganz 
andere  Auffassung  zur  Geltung  zu  bringen,  welche  den  streng  er- 
fahrungsmäßigen Charakter  der  logischen  Gesetze  betont.  In  der  Logik 
der  Gegenwart  lassen  sich  etwa  folgende  Richtungen  unterscheiden: 
1 .  Die  psychologische  Logik  untersucht  eingehend  die 
psychologischen  Grundlagen  der  Denkgesetze.  Indem  man  hier  das 
tatsächliche  Denken  zum  Ausgangspunkte  nahm,  hat  man  sehr  viel 


*)  Petrus  Ramus'  „Logica",  die  er  auch  „Ars  disserendi"  nennt,  bestand 
aus  zwei  Teilen.  Der  erste,  „de  inventione"  handelt  vom  Begriff,  von  seiner 
Definition  und  Einteilung,  der  zweite,  „de  iudicio"  vom  Urteil  und  vom  Schluß. 
Dieses  Lehrbuch  war  so  allgemein  gebraucht,  daß  man  z.  B.  für  Urteilskraft  den 
Ausdruck  „Secunda  Petri"  (der  zweite  Teil  von  Petras  Ramus'  Logik)  ge- 
brauchte, der  sich  in  diesem  Sinne  noch  bei  Kant  und  Schopenhauer  findet. 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  -> 


3-}  Ine  propädeutischen  (Vorbereitenden)  Disziplinen 

zur  ISuhologie  des  Denkens  beigetragen  und  die  Natur  des  Denk- 
prozesses,  wie  er  sich  tatsächlich  vollzieht,  aufgehellt.  Die  ent- 
schiedensten Vertreter  dieser  Richtung,  zu  denen  sich  auch  der  Ver- 
fasser dieses  Buches  zählt,  fassen  die  logischen  Gesetze  auf  als  den 
Niederschlag  der  allgemeinen  und  bewährten  Erfahrung.  Die  Aufgabe 
der  Logik  besteht  dann  lediglich  darin,  zu  untersuchen,  wieviel  all- 
gemeine und  bewahrte  Erfahrung  in  jeder  einzelnen  Erfahrung  ent- 
halten ist 

2.  Die  erkenntnistheoretische  Logik  sucht  nicht  nur 
die  Geltung  der  Denkgesetze  im  Bereich  des  Erkennbaren  festzustellen, 
sondern  auch  die  Grenzen  des  Erkennens  zu  bestimmen.  Damit  geht 
sie  über  den  Rahmen  des  spezifisch  Logischen  hinaus  und  kommt  tief 
m  die  Probleme  der  Erkenntniskritik  und  Metaphysik  hinein.  Die  be- 
treffenden Untersuchungen  sind  vielfach  sehr  bedeutend,  allein  sie  er- 
reichen den  speziellen  Zweck  der  Logik,  nämlich  die  Erkenntnis  der 
allgemeinen  Bedingungen  objektiver  Gewißheit,  weniger,  weil  sie  zu 
tief  graben  und  den  Glauben  an  jede  objektive  Gewißheit  erschüt- 
tern'*). 

3.  Die  mathematische  Logik  sucht  für  die  Urteils-  und 
^hlußformen  eine  möglichst  genaue  mathematische  Formulierung  zu 
gewinnen.  Die  betreffenden  Untersuchungen  legen  sämtlich  die  Um- 
fangsverhältnisse  der  Begriffe  zugrunde  und  haben  in  der  Tat  oft 
überraschende  Resultate  erzielt.  Die  alten  Schulregeln  werden  dadurch 
ofl  sehr  vereinfacht  und  erhalten  eine  viel  exaktere  Fassung.  Die  ein- 
facheren der  so  gewonnenen  Formeln  könnten  mit  großem  Nutzen  für 
den  Schulunterricht  verwertet  werden,  die  komplizierten  dagegen  sind 
oft  auch  für  den  Fachmann  schwer  verständlich.  Jedenfalls  ist  hier 
ein  Feld  fruchtbringender  Tätigkeit  erschlossen. 

4.  Die  methodologische  Logik  ist  eine  überaus  frucht- 
bringende Erweiterung  der  logischen  Forschung.   John  Stuart  Mills 

*)  In  den  letzten  Jahren  hat  die  erkenntnistheoretische  Logik  eine  neue  Be- 
trachtungsweise eingeführt  und  Untersuchungen  angestellt,  die  sich  in  Deutsch- 
land eines  großen  Ansehens  erfreuen.  Man  versucht  die  Logik  zu  einer  Wissen- 
schaftslehre  zu  erweitern,  indem  man  eine  Verbindung  der  alten  von  Aristo'clcs 
und   den    Scholastikern   ausgebauten   formalen    Logik    mit    der   sogenannten 
transzendentalen   Logik  Kants   herzustellen   unternimmt.   Es   soll   gezeigt 
werden,  daß  der  Fortschritt  im  Denken  und  die  unerschütterlich  feste  Überzeu- 
gung \(ui  der  Richtigkeit  seiner  Ergebnisse  nicht  im  steten  Anwachsen  der  Er- 
fahrung und  in  dem  psychologisch  sich  immer  mehr  verfeinernden  Denkapparat 
Menschen  begründet  sei.  Die  Grundlagen  aller  wissenschaftlichen  Gewißheit 
»Hen  vielmehr  diu  <  harakter  des  Überindividuellen,  Übergeschichtlichen,  oft  so- 
des   Übermenschlichen    tragen.     Man    konstruiert   ein    Reich   der   Gegen- 
n  d  e,  deren  objektiv  bestehende  Beziehungen  allmählich  aufgedeckt  werden. 
Diese  „< u <,'enstände''  sind  aber  keineswegs  die  in  der  Erfahrung  gegebenen  Dinge 
und   Vorgänge.  Der  Gegenstand  wird   vielmehr  erst  durch  die  begriffliche  Be- 
arbeitung erzeugt,  soll  aber  doch  objektive  Geltung  besitzen.  Das  beliebteste  Bei- 
spiel solcher  Gegenstände  sind  die  mathematischen  Gebilde,  die  Zahlen  und  die 
metrischen  Figuren.  Sie  scheinen  in  der  Tat  nicht  der  Erfahrung  entnommen. 
indern       m  .NUnschengeist  konstruiert  zu  sein  und  doch  für  jede  Erfahrung  zu 
Hier    wird    schon   das  auch    in   der   Mathematik   vorhandene  empirische 
Fundament    verkannt.    Windelband,    der   die   Prinzipien   dieser   neuen    Logik   be- 
mdera  lichtvoll  dargestellt  hat,  behauptet  ausdrücklich,  daß  auch  in  den  empiri- 


§  14.  Grammatik,  Logik  und  Psychologie  35 

System  der  induktiven  Logik  und  Wilhelm  Wundts  oben  erwähntes, 
groß  angelegtes  Werk  haben  bereits  Bedeutendes  geleistet.  Hieher  ge- 
hören auch  die  von  amerikanischen  Denkern  ausgehenden,  sehr  be- 
achtenswerten Versuche,  die  Logik  auf  empirisch-praktischer  Grund- 
lage aufzubauen,  Versuche,  die  auf  Grund  des  weiter  unten  (§  28)  zu 
besprechenden  pragmatischen  Prinzipes  unternommen  wurden. 
Es  sind  dies  hauptsächlich  die  Arbeiten  John  Deweys,  Mark  Baldwins 
und  C.  F.  S.  Schillers.  Hier  ließe  sich  noch  tiefer  dringen,  wenn  man 
die  Logik  schlechtweg  als  Methodenlehre  des  Denkens  zu  betrachten 
sich  entschlöße  und  den  von  Ernst  Mach  eingeführten  Begriff  der 
Denkökonomie  darauf  anwenden  wollte.  Logik  wäre  dann  nichts 
anderes  als  allgemeine  Ökonomikdes  Denkens,  und  ihre  Auf- 
gabe bestünde  darin,  herauszufinden,  wie  sich  die  Denkmittel  immer 
ökonomischer  gestaltet  haben  und  weiter  gestalten  lassen. 

Kants  bekannter  Ausspruch,  daß  die  Logik  seit  Aristoteles  keinen 
Schritt  vorwärts  habe  tun  können,  aber  auch  keinen  Schritt  nach  rück- 
wärts habe  tun  müssen,  war  kaum  zu  der  Zeit,  wo  er  getan  wurde, 
berechtigt  und  ist  es  heute  noch  viel  weniger.  Manche  der  grundlegen- 
den Gedanken  des  Aristoteles  werden  erst  jetzt  richtig  verstanden  und 
gewürdigt.  Allein  in  der  Problemstellung  und  in  der  Formulierung 
ist  man  vielfach  von  Aristoteles  ab-  und  über  ihn  hinausgekommen. 

§  14.  Grammatik,  Logik  und  Psychologie 

Die  Logik  ist  gleich  bei  ihrem  Ursprünge  sowie  im  Laufe  ihrer 
Entwicklung  in  die  engsten  Beziehungen  zur  Grammatik  getreten.  Die 
Unterscheidung  von  Subjekt  und  Prädikat,  von  Substantiv,  Adjektiv 
und  Verbum  ist  ein  Resultat  mehr  logischer  als  grammatischer  Er- 
wägung. Die  Denkgesetze  konnten  nur  durch  Zergliederung  des 
sprachlichen  Ausdruckes  gefunden  werden.  Im  Laufe  der  weiteren 
Entwicklung  hat  jedoch  die  Verquickung  logischer  und  grammatischer 

sehen  Wissenschaften  die  „Gegenstände"  vom  Denken  erzeugt  werden  (Enzykl. 
d.  Philos.,  her.  v.  Rune.  I.,  S.  42).  Hierher  gehört  die  von  Meinong  und  seiner 
Schule  ausgebildete  „Gegenstandstheorie".  In  derselben  Richtung  bewegen  sich 
aber  auch  die  Untersuchungen  Wi.idelbands,  Rickerts  und  ihrer  Schüler,  und 
in  gewissem  Sinne  auch  die  Arbeiten  Hermann  Cohens  und  Paul  Natorps  _  und 
der  von  diesen  Denkern  hervorgerufenen  Marburger  Schule.  Husserls  „Logische 
Untersuchungen"  bezwecken  etwas  Ähnliches.  Ich  erkenne  gerne  an,  daß  zur  Be- 
gründung dieser  neuen  Logik,  die  man  ihrem  Hauptbegriffe  nach  die  gegen- 
ständliche Logik  nennen  kann,  ein  großer  Aufwand  von  starker  Denkkraft 
und  viel  Scharfsinn  verwendet  wurde,  muß  aber  unumwunden  erklären,  daß  mir 
diese  ganze  Arbeit  unfruchtbar  scheint.  Man  kann  die  Quelle  menschlicher  Ge- 
wißheit entweder  in  der  Erfahrung  suchen  und  dann  sind  Psychologie  und 
Geschichte  die  Wege  zu  ihrer  Aufhellung.  Oder  man  behauptet  eine  vor 
aller  Erfahrung  vorhandene  festgegebene  Struktur  des  Menschengeistes,  und  dann 
geht  man  nicht  vom  erkenntnistheoretischen,  sondern  vom  metaphysischen 
Standpunkt  aus,  wenn  man  sich  dies  auch  nicht  eingestehen  will.  Ein  drittes 
Reich,  das  zwischen  Psychologie  und  Geschichte  auf  der  einen  und  Metaphysik 
auf  der  anderen  Seite  in  der  Mitte  schwebt,  kann  es  nicht  geben,  wie  ich  in 
meinem  Buche,  „Der  kritische  Idealismus  und  die  reine  Logik"  gezeigt  zu  haben 
glaube.  Im  Abschnitt  über  Erkenntnistheorie  kommen  wir  auf  diese  Bestrebungen 
noch  einmal  zurück.  In  den  Literaturangaben  sind  die  wichtigsten  Werke  dieser 
Richtung  unter  der  Rubrik  „gegenständliche  Logik"  angeführt. 

3* 


3o  Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

Untersuchungen  vielfach  zu  Irrtümern  Anlaß  gegeben.  Indem  man  die 
Bedeutung  eines  Wortes  mit  dem  Inhalt  des  Begriffes,  den  Satz  mit 
dem  Urteil  identifizierte,  glaubte  man,  daß  jede  grammatische  Be- 
ziehung zugleich  eine  logische  sei  und  daß  umgekehrt  die  Sprache  sich 
nach  logischen  Gesetzen  entwickle  oder  entwickeln  solle. 

Die  Grammatik  ist  die  Lehre  von  den  Gesetzen  des  menschlichen 
Sprachbaues.  Diese  Gesetze  entwickeln  sich  nach  physiologischen  und 
psychologischen  Gesichtspunkten,  und  deshalb  muß  Physiologie  und 
Psychologie,  nicht  aber  die  Logik  die  Grundlage  der  Grammatik  bil- 
den. Die  Sprache  ist  Ausdruck  der  Vorstellungen,  Gedanken,  Gefühle 
und  Willensrichtungen.  Wenn  ich  genau  sage,  was  ich  meine,  wenn  ich 
genau  verstehe,  was  der  andere  zu  mir  sagt,  dann  hat  die  Sprache 
ihren  Zweck  erfüllt.  Die  Frage,  ob  meine  Behauptungen  sachlich  rich- 
tig sind,  kommt  hier  entweder  gar  nicht  oder  jedenfalls  erst  in  zweiter 
Linie  in  Betracht.  Die  Grammatik  muß  also  ganz  von  der  logischen 
Grundlage  losgelöst  und  auf  Psychologie  begründet  werden. 

Dagegen  wird  die  Logik  die  in  der  Sprache  geleistete  Denkarbeit 
immer  benützen  und  sich  in  ihren  Bestimmungen  an  den  herrschenden 
Sprachgebrauch  halten  müssen.  Es  wird  der  logischen  Schulung  gewiß 
immer  ein  wesentlicher  Einfluß  auf  die  Korrektheit  des  Ausdruckes 
zukommen,  aber  nie  darf  es  der  Logik  einfallen,  die  Sprache  meistern 
zu  wollen.  Die  Logik  hat  es  mit  den  Formen  des  Denkens  zu  tun,  und 
nur  die  daraus  hervorgehenden  Beziehungen  sind  ihr  Gegenstand. 
Vielfach  wird  sie  die  Sprache  mit  Vorteil  als  Wegweiser  benützen,  aber 
nirgends  darf  sie  sich  von  derselben  irreleiten  lassen. 

Das  Verhältnis  der  Logik  zur  Psychologie  ergibt  sich  eigentlich 
schon  aus  dem  oben  Bemerkten.  Die  Psychologie  muß  das  menschliche 
Denken  in  seinem  tatsächlichen  Verlauf  ebenso  zu  erforschen  suchen 
wie  die  anderen  Seelentätigkeiten.  Auch  der  Logiker  tut  gut,  sich  die 
darauf  bezüglichen  Resultate  der  Psychologie  zu  eigen  zu  machen. 
Allein  es  steht  der  Logik  vollkommen  frei,  ja  es  ist  ihre  eigentliche  Auf- 
gabe, die  natürlichen  Denkformen  künstlich  so  umzugestalten,  daß  die 
Prüfung  der  allgemeinen  Bedingungen  objektiver  Gewißheit  dabei  mög- 
lich werde. 

Für  den  Psychologen  sind  die  Umstände,  unter  denen  ein  Urteil 
gefällt  wird,  die  Personen,  die  es  fällen,  die  Nebengedanken  und  die 
Zwecke,  die  dabei  im  Spiele  sind,  von  der  allergrößten  Bedeutung.  Der 
Logiker  sieht  nur  das  Urteil,  beziehungsweise  das  Begriffsverhältnis. 
Er  muß  den  Gedanken  von  allen  Assoziationen,  von  allen  Gefühls- 
momenten,  von  allen  Zwecken  des  Denkenden,  ja  womöglich  von  der 
Person  des  Denkers  loslösen,  um  ihn  auf  seine  formale  Richtigkeit  zu 
prüfen.  Je  genauer,  je  vollständiger  der  Logiker  diese  Abstraktion  von 
allen  Nebenumständen  vollzieht,  desto  besser  gelingt  seine  logische 
Vufgabe.  Nur  darf  er  dabei  nicht  in  den  Irrtum  verfallen,  als  sei  sein 
künstliches  Präparat  das  wahre,  ursprüngliche,  lebendige  Denken 
elbst. 

Die  reinliche   Abgrenzung  der  logischen   Aufgabe  ist  mitunter 
eine  recht  schwierige.  Eben  diese  Schwierigkeiten  nötigen  oft  dazu,  über 


§  15.  Logik  und  Philosophie  37 

das  spezifisch  Logische  zu  höheren  Problemen  aufzusteigen.  Dadurch 
entstehen  die  Beziehungen  der  Logik  zur  Philosophie,  zu  deren  Be- 
sprechung wir  jetzt  übergehen. 

§  15.  Logik  und  Philosophie 

Die  Logik  gilt  als  unentbehrliche  Vorschule  zur  Philosophie  und 
wird  als  philosophische  Propädeutik  vielfach  an  höheren  Schulen  ge- 
lehrt. Die  Logik  ist  auch  tatsächlich  eine  unentbehrliche  Vorschule, 
aber  nicht  nur  für  die  Philosophie,  sondern  für  jede  Wissenschaft.  Der 
Geist  wird  dadurch  nicht,  wie  Mephisto  scherzt,  in  spanische  Stiefel 
eingeschnürt,  sondern  nur  zur  Besonnenheit  erzogen,  vor  raschen  und 
voreiligen  Verallgemeinerungen  bewahrt  und  daran  gewöhnt,  das 
Sichere  von  dem  bloß  Wahrscheinlichen  zu  unterscheiden.  Die  Logik 
bringt  die  instinktiv  gebrauchten  Denkgesetze  zum  Bewußtsein  und 
heißt  uns  das  Gedachte  vorsichtig  prüfen.  Eine  solche  Schulung  ist  für 
jede  wissenschaftliche  Arbeit  unerläßlich.  Die  intensive  Beschäftigung 
mit  den  logischen  Problemen  führt  jedoch  fast  notgedrungen  über  das 
rein  Logische  hinaus  und  nötigt  zu  streng  philosophischen  Unter- 
suchungen. Wer  in  der  Lehre  vom  Begriff  über  das  Verhältnis  des  Be- 
griffes zu  seinen  Merkmalen  ins  klare  kommen  will,  wer  den  Geltungs- 
bereich unserer  Urteile  und  Schlüsse  zu  prüfen  unternimmt,  der  kann 
an  der  Frage  nicht  vorübergehen,  inwiefern  unser  Verstand  überhaupt 
fähig  ist,  das  Wirkliche  zu  erkennen. 

Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  und  nach  dem  Ursprung  mensch- 
licher Erkenntnis  taucht  auf,  und  damit  sind  wir  mitten  in  einer  der 
wichtigsten  philosophischen  Disziplinen,  in  der  Erkenntnistheorie.  Mit 
dem  Probleme  der  Erkenntnis  hängt  aber  aufs  innigste  die  Frage  nach 
dem  Gegenstande  unserer  Kenntnis,  das  heißt  nach  dem  wirklich  Be- 
stehenden zusammen,  und  so  führt  uns  die  Logik  schließlich  auch  zur 
Lehre  vom  Sein,  zur  Ontologie,  zur  Metaphysik. 

Literatur 

Psychologie 

Fr.  Jodl,  Lehrbuch   der  Psychologie.   2  Bände.   4.   Aufl.   1916.   (Umfassendes 

Werk  mit  überaus  reicher  Bibliographie.) 
W.   Wundt,   Grundzüge   der  physiologischen   Psychologie.   3   Bände.   6.   Aufl. 

1908.  (Grundlegendes  Werk.) 

—  —  Vorlesungen  über  Menschen-  und  Tierseele.  6.  Aufl.  1919.  (Zur  Einführung 

in  die  experimentellen  Methoden  sehr  geeignet.) 

Grundriß  der  Psychologie.  14.  Aufl.  1920. 

-  Psychologie  in  Windelbands  oben  (S.  17)  zitiertem  Sammelwerk. 

T  h.  Elsenhans,  Lehrbuch  der  Psychologie.  1912. 

Richard  Semon,  Die  Mneme  als  erhaltendes  Prinzip  im  Wechsel  des  orga- 
nischen Geschehens.  1908. 
—  Die  mnemisehen  Empfindungen,  erste  Fortsetzung  der  „Mneme".   1909. 

E.  B.  T  i  t  c  h  e  n  e  r,  A  Text-book  of  Psychology.  1901.  Deutsch  von  O.  Klemm. 
1910.  (Das  beste  Handbuch  der  experimentellen  Psychologie.) 

H.  E  b  b  i  n  g  h  a  u  s,  Grundzüge  der  Psychologie.  I.  Band.  4.  Aufl.  1919.  II.  Band. 
3.  Aufl.  1913.  (Gründliche  Darstellung  sowohl  der  allgemeinen  Gesichts- 
punkte als  auch  der  experimentellen  Forschungsresultate.) 

—  —  Abriß  der  Psychologie.  6.  Aufl.,  bes.  v.  Bühler.  1919. 


Die  propädeutischen  (vorbereitenden)  Disziplinen 

\.  Horwicz,  Psychologische  Analysen  auf  physiologischer  Grundlage. 
2  Bände,   1872-  1878. 

Tii.  Ziehen,  Leitfaden  der  physiologischen  Psychologie.  11.  Aufl.  1920. 

II.  Hoff  ding,  Psychologie  im  Umriß,  5.  Aufl.  1914.  (Introspektiv,  reich  an 
(reffenden  Beobachtungen.) 

\\ .  [ames,  Principles  ol  Psychology.  2  Bände,  1890.  (Englisch,  das  hervor- 
ragendste Werk  der  introspektiven  Psychologie.) 

—  lextbook  ol   Psychology.   1904.   Deutsche  Übersetzung.   190S. 
\.  IIa  in,  The  Senses'and  the  Intellect.  3.  Aufl.   1808. 

—  'l  fie  1  motions  and  the  Will.  3.  Aufl.  1880. 

Th.  Lipps,  Leitfaden  der  Psychologie.  3.  Aufl.  1909.  (Introspektiv,  mit  tief 
eindringender  Analyse.) 

I   rnst  Mach,  Die  Analyse  der  Empfindungen.  8.  Aufl.  1919. 

\   Kassowitz,  Allgemeine  Biologie.  IV.  Band:   Nerven  und  Seele.   1906. 

\\ .  |  er  us  a  lern,  Lehrbuch  der  Psychologie.  7.  Aufl.  1921.  (Biologisch.) 
Die  Urteilsfunktion.  (Eine  Psychologie  des  Denkens.)   1895. 

H.  Siebeck,  Geschichte  der  Psychologie.  I.  und  IL  Band,  1.  Abteilung  (bi? 
Riomas  von  Aquino).  1880  und  1884. 

W.  Dessoir,  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie.  1.  Band,  2.  Aufl. 
1S07. 

'  i.  Klemm,  Geschichte  der  Psychologie.  1911. 

\l.ix  Dessoir,  Abriß  einer  Geschichte  der  Psychologie.  1911. 

G.  V  i  I  I  ;i.  Einleitung  in  die  Psychologie  der  Gegenwart.  Deutsch  von  Chr.  D. 
Pflaum.   1902. 

\.  Pfänder,  Einführung  in  die  Psychologie.  1904. 

\\  illiam  Stern,  Differentielle  Psychologie  in  ihren  methodischen  Grundlagen. 
1911.  (Grundlegendes,  inhaltsreiches  und  sehr  anregendes  Werk.) 

Hugo  Münsterberg,  Psychotechnik.  1914.  (Ein  tatsachenreiches,  übersicht- 
lich geordnetes  und  sehr  wichtiges  Buch.) 

W  i  1  h  e  1  m  D  i  1 1  h  e  y,  Ideen  über  eine  beschreibende  und  zergliedernde  Psycho- 
logie. Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie.   1894. 

—  Weltanschauung  und  Analyse  des  Menschen  seit  Renaissance  und  Refor- 
mation. Ges.  Schriften  II,  1914. 

Eduard  Spranger,   Grundlagen  der  Geschichtswissenschaft.    1905. 

-  Phantasie  und   Weltanschauung  in  dem  Sammelwerke   „Weltanschauung". 
Berlin  1911. 

Psych  o-Analyse 

Sigmund  Freud  und  Josef  Breuer,  Studien  über  Hysterie.  Wien  1894. 
Sigmund  Freud,  Traumdeutung,  0.  Aufl.   1921. 

-  Zur  Psychopathologie  des  Alltagslebens.  8.  Aufl.    1922. 

-  Vorlesungen  über  Psycho-Analyse.  6.   Aufl.   1922.   (Diese  in   Amerika  im 
Jahre   K»08  gehaltenen  Vorträge  geben  eine  vortreffliche  Übersicht.) 

Vorlesungen  zur   Einführung  in  die   Psycho-Analyse.  3.   Aufl.   1920.  (Für 
Arzte  bestimmt,  aber  doch  allgemein  verständlich.) 

Logik 

Fr.  Überweg,  System  der  Logik.  5.  Aufl.  1882,  bes.  v.  I.  B.  Meyer. 

H.   Lotze,   Logik.  2.   Aufl.   1881.   Neudruck   1912. 

Chr.  Sigwart,  Logik.  2  Bände,  4.  Aufl.  1911. 

F.  G  S.  Schiller,  Formal  Logic  a  scientific  and  social  problem.  1912.  (Ein- 
dringende Kritik  der  formalen  Logik.) 

\V.  Wim  dt,  Logik.  3  Bände.  (3.  Aufl.  1906,  1907.  1.  Band,  4.  Aufl.  1919.  Be- 
sonders wichtig  die  Methodenlehre.) 

B.  Erdmann.  Logik.  1.  Band.  2.  Aufl.  1907.  (Inhaltslogik.) 

J.  St.  M  i  11,  System  der  deduktiven  und  induktiven  Logik.  Deutsch  von  Gom- 
perz.  3  Bände,  2.  Aufl.  der  Übersetzung  1884. 

W.  Jerusalem,  Der  kritische  Idealismus  und  die  reine  Logik.  1905. 

Mark  B  a  1  d  w  i  n,  Thought  and  Things  or  Genetic  Logic.  1.  Band.  1906. 
'  Band.  1908.  3.  Band.  I«>11.  1.  u.  2.  Band  in  deutscher  Übersetzung  von 
Geisse.    1008     1914. 


Literatur 


39 


Studies  in  Logical  Theory,  herausgegeben  von  John  Dewey.   1903. 

Stanley  Jevons,  Elementary  Lessons  in  Logic.  1870.  Deutsch  von  Klein- 
peter 1906.  (Sehr  leicht  verständlich.) 

Mor.  Willi.  Drobisch,  Neue  Darstellung  der  Logik.  5.  Aufl.  1S87.  (Eine 
der  besten  Darstellungen  der  traditionellen  formalen  Logik.) 

Fritz  Mauthner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  3  Bände,  1901—1902. 
1.  Band,  2.  Aufl.  1909.  (Bes.  d.  3.  Band.) 

Wörterbuch    der    Philosophie,    neue    Beiträge    zur    Kritik    der    Sprache. 

2  Bände,  1910. 

St.  Jevons,  Principles  of  science.  1874. 

E.  Schroeder,  Vorlesungen  über  die  Algebra  der  Logik.  3  Bände,  1890 ff. 

Eugen  Müller,  Ernst  Schroeder,  Abriß  der  Algebra  der  Logik.  I.  und 
IL  1909  ff. 

C.  Prantl,  Geschichte  der  Logik.  4  Bände  (bis  zum  16.  Jahrhundert),   1855 
bis  1870. 

T  h.  Ziehen,  Lehrbuch  der  Logik  auf  positivistischer  Grundlage.   1920.  (Sehr 
reichhaltiges  und  gründliches  Werk  mit  besonders  wertvollen  Beiträgen  zur 
Geschichte  der  Logik.) 
Cohen,  Die  Logik  der  reinen  Erkenntnis.  1902. 
H  u  s  s  e  r  1,  Logische  Untersuchungen.  2  Bände.   1900 

bis  1901. 
—  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  und  phäno- 
menologischen Philosophie  im  „Jahrbuch  für  Philo- 
sophie und  phänomenologische  Forschung"  (1.  Band, 
S.  1—323).  1913. 

A.  M  e  i  n  o  n  g,  Über  Annahmen.  2.  Aufl.   1910. 

Die  Erfahrungsgrundlagen   unseres  Wissens.    1906. 

Die   Stellung   der   Gegenstandstheorien    im   System 

der  Wissenschaft. 

\V.  W  i  n  d  e  1  b  a  n  d,  Prinzipien  der  Logik  in  Arnold 
Ruges  Enzyklopädie  der  philosophischen  Wissen- 
schaften. 1912,  S.  1—60. 


H. 

E. 


Gegenständliche 
Logik. 


Dritter  Abschnitt 

Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

§  16.  Dogmatismus,  Skeptizismus,  Kritizismus 

Im  bezug  auf  das  Vertrauen  in  die  Erkenntnisfähigkeit  des  Men- 
schen ist  die  Philosophie  zuerst  dogmatisch,  dann  skeptisch 
und  zuletzt  kritisch,  wobei  jedoch  Rückfälle  in  eine  frühere  Phase 
gelegentlich  vorkommen. 

Dogmatisch  nennt  man  jene  Denkrichtung,  welche  den 
Resultaten  des  Wahrnehmens  oder  des  Denkens  volles  Vertrauen  ent- 
gegenbringt und  überzeugt  ist,  die  Welt  sei  wirklich  so,  wie  wir  sie 
wahrnehmen  oder  wie  wir  sie  denkend  konstruieren.  Dogmatisch  ist 
der  nicht  philosophierende,  naive  Mensch  in  seinem  Denken  und  Han- 
deln, indem  es  ihm  gar  nicht  einfällt,  an  der  Richtigkeit  seiner  Er- 
kenntnisse oder  gar  an  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis  zu  zweifeln. 
Dogmatisch  ist  auch  die  Religion,  indem  sie  an  die  Wahrheit  ihrer 
Lehren  mit  Festigkeit  glaubt,  auch  dann  oder  besonders  dann,  wenn 
diese  das  Übersinnliche,  das  jenseits  aller  möglichen  Erfahrung 
Liegende  zum  Gegenstande  haben.  Dogmatisch  ist  aber  auch  die 
Philosophie  durch  eine  lange  Zeit  ihrer  Entwicklung.  Piaton,  der  den 
Sinnenschein  nicht  gelten  läßt  und  das  Wesen  der  Dinge  in  un- 
materiellen Ideen  oder  Urbildern  zu  finden  glaubt,  ist  nicht  minder 
dogmatisch  als  Leukipp  und  Demokrit  (450  v.  Chr.),  welche  nur  den 
materiellen  Atomen  und  dem  leeren  Raum  Wirklichkeit  zuerkennen. 
Descartes  (1506—1650),  der  mit  dem  Zweifel  beginnt,  dann  aber  im 
eigenen  Bewußtsein  eine  sichere,  unbestreitbare  Tatsache  erblickt,  ist 
mein  minder  dogmatisch  als  die  Materialisten  des  achtzehnten  und  des 
neunzehnten  Jahrhunderts,  wie  Lamettrie,  Holbach,  Karl  Vogt  und 
Bächner,  welche  nur  den  Stoff  und  seine  Eigenschaften  und  Kräfte 
als  wirklich  gelten  lassen. 

Unter  Skeptizismus  versteht  man  den  absoluten  Zweifel  an 
der  Möglichkeit  der  Erkenntnis  und  die  als  Konsequenz  daraus  ge- 
zogene  Zurückhaltung  von  jeder  positiven  Aussage.  Diese  Denkrich- 
tung ist  im  dritten  Jahrhundert  v.  Chr.  wohl  infolge  der  einander  wider- 
Sprechenden  Ansichten  der  verschiedenen  Philosophenschulen  zuerst 
von  Pyrrhon  ausgebildet  worden  und  hat  bis  in  die  spätrömische  Zeit 
viele  Anhänger  gefunden.  Das  psychologische  Motiv  für  den  syste- 
matischen  Zweifel  ist  das  Streben  nach  Gemütsruhe.  Um  nicht  in  den 


§  16.  Dogmatismus,  Skeptizismus,  Kritizismus  41 

leidenschaftlichen  Streit  der  Philosophenschulen  hineingezogen  zu  wer- 
den, ziehen  es  die  Denker  vor,  gar  nichts  zu  behaupten,  und  geben 
sich  alle  erdenkliche  Mühe,  zu  beweisen,  daß  dies  das  einzig  Ver- 
nünftige sei.  Wir  sind  über  die  von  diesen  Denkern  geltend  gemachten 
Argumente  ziemlich  vollständig  unterrichtet  *),  man  kann  aber  nicht 
sagen,  daß  die  menschliche  Denkfähigkeit  dadurch  wesentlich  gefördert 
worden  wäre.  Höchstens  kann  man  von  ihnen  lernen,  so  lange  mit 
seinem  Urteile  zu  warten,  bis  die  Voraussetzungen  für  eine  Entschei- 
dung gegeben  sind.  Die  absolute  Skepsis  läßt  sich  aber  gar  nicht  kon- 
sequent durchführen.  Der  philosophische  Skeptiker  muß  sich  im  täg- 
lichen Leben  doch  genau  so  benehmen,  als  ob  er  Dogmatiker  wäre. 

Im  sechzehnten  Jahrhundert  haben  Montaigne  und  Charron,  im 
siebzehnten  Jahrhundert  Pierre  Bayle  den  antiken  Skeptizismus  wieder 
aufgenommen  und  namentlich  die  logische  Unbeweisbarkeit  der  reli- 
giösen Dogmen  energisch  verfochten.  Pierre  Bayle  hat  durch  sein  be- 
kanntes enzyklopädisches  Wörterbuch,  das  ganz  von  seinem  Skeptizis- 
mus erfüllt  ist,  stark  auf  das  achtzehnte  Jahrhundert  eingewirkt  und 
einerseits  die  Aufklärung  und  den  Materialismus,  anderseits  den  philo- 
sophischen Kritizismus  vorbereitet.  Zu  den  Skeptikern  pflegt  man  auch 
den  großen  englischen  Denker  David  Htime  (1711 — 1776)  zu  zählen, 
allein  seine  weiter  unten  zu  besprechenden,  wahrhaft  bahnbrechenden 
Untersuchungen  über  die  Grundbegriffe  des  Denkens,  namentlich  über 
Substanz  und  Kausalität  sind  nicht  mehr  skeptisch,  sondern  gehören 
bereits  der  dritten  Entwicklungsstufe,  dem  Kritizismus,  an. 

Kritisch  ist  die  Philosophie  in  gewissem  Sinne  schon  in  ihren 
Anfängen.  Indem  sie  es  unternimmt,  durch  die  Kraft  des  eigenen  Den- 
kens unabhängig  von  der  Überlieferung  zu  einer  Weltanschauung  zu 
gelangen,  gehört  der  Kritizismus  zu  ihrem  Wesen.  Kritizismus  im 
engeren  Sinne  nennt  man  jedoch  erst  diejenige  Denkrichtung,  welche 
nicht  nur  die  Überlieferung,  sondern  auch  die  eigene  Erkenntnisfähig- 
keit einer  Prüfung  unterzieht.  Der  Kritizismus  in  diesem  Sinne  läßt 
gar  nichts  ohne  vorherige  Prüfung  gelten.  Er  fragt  nach  der  Möglich- 
keit und  nach  den  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis,  er  unter- 
sucht den  Ursprung  und  die  Entwicklung  unserer  Erkenntnisse,  fragt, 
was  unser  eigenes  Beibringen  sei  zum  Zustandekommen  der  Erfah- 
rung, und  sucht  die  Grenzen  abzustecken,  innerhalb  welcher  die 
menschliche  Forschung  mit  Aussicht  auf  Erfolg  ihre  Tätigkeit  ent- 
falten könne. 

Anfänge  des  Kritizismus  lassen  sich  schon  in  der  antiken  Philo- 
sophie konstatieren.  Die  Lehre  der  Eleaten,  welche  den  Sinnen  die  Er- 
kenntnisfähigkeit absprach,  die  Behauptung  Demokrits,  daß  Süß  und 
Bitter,  Warm  und  Kalt,  daß  die  Farben  nicht  wirkliche  Eigenschaften 
der  Dinge,  sondern  nur  subjektive  Empfindungen  seien,  sie  alle  atmen 
deutlich  kritischen  Geist.  Viel  entschiedener  und  umfassender  macht 
sich  dann  das  Bedürfnis  nach  einer  Prüfung  unseres  Erkenntnis- 
organes  in  der  neueren  Zeit  bei  John  Locke,  George  Berkeley  und 


*)   Durch    die    uns    erhaltenen    Schriften    des    römischen    Arztes    Sextus 
Empiricus  (um  200  nach  Chr.). 


\2  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

David  ///////<■  geltend.  Die  Untersuchungen  des  letzteren  haben  inten- 
>i\  auf  Immanuel  Kant  eingewirkt,  und  dieser  ist  es,  der  den  philo- 
sophischen  Kritizismus  geschaffen  und  ausgestaltet  hat. 

Nach  Kant  ist  es  nicht  mehr  möglich,  beim  Dogmatismus  stehen 
zu  bleiben.  Man  braucht  Kant  durchaus  nicht  überall  und  in  jeder  Be- 
ziehung zuzustimmen,  aber  man  muß  unbedingt  Stellung  zu  ihm 
nehmen.  Man  muß  die  von  ihm  aufgeworfenen  Fragen  erledigen,  ehe 
man  zu  positiven  Aufstellungen  schreitet.  So  wie  man  nach  Savigny 
wissenschaftliche  Rechtsstudien  nicht  mehr  anders  als  historisch  be- 
treiben,  wie  man  nach  Darwin  Organformen  nicht  mehr  anders  als 
entwicklungsgeschichtlich  und  biologisch  betrachten  darf,  so  ist  es  nach 
Kant  nicht  mehr  erlaubt,  anders  als  kritisch   Philosophie  zu  treiben. 

Der  Kritizismus  stellt  das  Erkenntnisproblem  an  die  Spitze  der 
Philosophie,  weil  dieses  das  grundlegendste  und  bestimmendste  ist. 
Deshalb  beginnen  auch  wir  unsere  Darstellung  der  im  engeren  Sinne 
philosophischen  Probleme  mit  diesem. 

§  17.  Die  Erkenntnisprobleme 

Was  verstehen  wir  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  unter  Er- 
kennen? Ich  erkenne  in  einem  Vorübergehenden  einen  Freund,  einen 
Bekannten,  heißt  so  viel  als:  ich  weiß  den  Namen  des  dort  heran- 
kommenden Mannes  anzugeben,  ich  kenne  viele  Beziehungen,  in  denen 
er  steht,  weiß,  was  seine  Beschäftigung,  sein  Beruf  ist,  und  erinnere 
mich  vielleicht  auch,  dieses  oder  jenes  mit  ihm  gemeinsam  erlebt  zu 
haben.  Ich  erkenne  eine  Pflanze,  will  sagen:  ich  bin  imstande,  die 
Pflanze  botanisch  zu  bestimmen,  ihren  Namen  anzugeben,  und  kenne 
den  Platz,  den  ihr  die  wissenschaftliche  Forschung  im  System  der 
Pflanzen  angewiesen  hat. 

Jedes  Erkennen  gilt  also  als  ein  denkendes  Erfassen  eines  Inhaltes, 
der  vom  Erkennen  selbst  verschieden  ist.  Jede  Erkenntnis  vollzieht  sich 
ferner  in  der  Form  eines  Urteils,  und  wer  dieses  Urteil  fällt,  in  der 
ten  Überzeugung,  eine  Erkenntnis  gewonnen  zu  haben,  der  ist  da- 
mit zugleich  überzeugt,  daß  der  erkannte  Gegenstand  oder  das  er- 
kannte Ereignis  wirklich  besteht  und  wirklich  so  geartet  ist,  unab- 
hängig davon,  ob  er  es  erkennt  oder  nicht.  Das  Erkennen  setzt  also, 
wenigstens  nach  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch,  einen  Gegenstand 
voraus,  der  selbständig  besteht  und  vom  Erkennenden  verschieden  ist. 

Von  diesem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  weicht  die  wissen- 
schaftliche Bedeutung  des  Erkennens  nicht  wesentlich  ab.  Es  wird  da 
nur  deutlicher  zum  Bewußtsein  gebracht,  daß  die  Erkenntnis  nicht 
allein  auf  der  sinnlichen  Wahrnehmung  beruht,  sondern  daß  eine 
denkende  Bearbeitung  dieser  dazu  unerläßlich  ist.  Allein  das  unab- 
hängige Bestehen  des  Erkannten  gilt  auch  für  die  wissenschaftliche 
Forschung  als  selbstverständliche  Voraussetzung. 

Die  tiefer  eindringende  Psychologie  der  Sinneswahrnehmung  und 
des  Urteilsaktes  zeigt  nun,  daß  die  Beziehung  zwischen  dem  Erkennt- 
nisakt und  dem  erkannten  Gegenstand  oder  Vorgang  durchaus  nicht 


§  17.  Die  Erkenntnisprobleme  43 

so  einfach  ist.  Für  den  nicht  philosophierenden  Verstand  gelten  unsere 
Vorstellungen  und  Urteile  einfach  als  Abbilder  der  vorgestellten 
und  beurteilten  Vorgänge.  Für  unsere  sinnlichen  Wahrnehmungen  und 
für  die  anschaulichen  Erinnerungsbilder,  die  besonders  der  Gesichts- 
sinn in  unserem  Kopfe  zurückläßt,  trifft  diese  Auffassung  ja  ungefähr 
zu.  Ich  habe  z.  B.  von  dem  Hause,  in  dem  ich  geboren  bin,  trotz  jahr- 
zehntelanger Abwesenheit  von  meinem  Heimatsorte  dennoch  ein  leb- 
haftes anschauliches  Bild  in  meinem  Bewußtsein  und  könnte  jeden 
Augenblick  eine  Skizze  der  betreffenden  Räumlichkeiten  entwerfen.  In 
solchen  Fällen  sind  unsere  Vorstellungen  tatsächlich  Abbilder.  Unsere 
Denkarbeit  bleibt  aber  bei  solchen  einzelnen  Erinnerungen  nicht  stehen, 
weil  aus  solchen  nur  ein  beschränktes  Erkennen  der  Welt  hervorgehen 
würde.  Wir  achten  vielmehr  auf  die  Gleichförmigkeiten  der 
Dinge  und  Vorgänge,  die  wir  wahrnehmen.  Wir  bilden  Begriffe 
von  Dingen,  Eigenschaften  und  Zuständen,  wir  fällen  Urteile,  die  nicht 
einzelne  Vorgänge,  sondern   Regelmäßigkeiten  des  Geschehens  zum 
Gegenstande  haben.  Solchen  Ergebnissen  der  Denkarbeit  entsprechen 
keine  anschaulichen  Bilder  wirklicher,  sinnlich  wahrnehmbarer  Vor- 
gänge. Zwar  pflegen  sich  beim  Aussprechen  von  Wörtern,  wie  Tier, 
Pflanze,  Tisch,  Fenster,  unbestimmte  und  fließende  Vorstellungen  ein- 
zustellen, allein  diese  entsprechen  nicht  dem  Inhalt  des  durch  die  be- 
treffenden Begriffe  Gedachten ;  auch  gibt  es  viele  Begriffe  und  Urteile, 
die  gar  keine  anschaulichen  Bilder  hervorrufen.  Wenn  wir  vom  Staat, 
von  Recht  und  Sitte,  von  Verfassung  und  Vertrag  sprechen,  so  stellen 
wir  dabei  gar  nichts  Konkretes  vor.  Man  hat  deshalb  versucht,  die 
Welt  der  Vorstellungen  und  Gedanken,  da  sie  sehr  oft  durchaus  nicht 
als  Abbilder  angesehen  werden  können,  als  ein  System  von  Zeichen 
aufzufassen,  die  auf  eine  unabhängig  von  uns  bestehende  Wirklichkeit 
hinweisen.  Für  manche  Vorstellungen  und  Urteile  trifft  das  ja  sicher 
zu.  Urteile,  wie:  es  regnet,  es  schneit,  es  brennt,  sind  gewiß  Zeichen 
von  wirklichen  Vorgängen.  Wir  erzeugen  aber  auch  Vorstellungen  und 
Gedanken,  die  ganz  und  gar  Produkte  unserer  Eigentätigkeit  sind  und 
auf  kein  Objekt  in  der  Außenwelt  hinweisen.  Wovon  sollten  z.  B.  Be- 
griffe   wie   Vergleich,   Gegensatz,   Wissenschaft,   Zeichen   sein.   Viel 
näher  kommt  man  dem  Verhältnis  zwischen  dem  Denken  und  der  von 
uns  unabhängigen  Wirklichkeit,  wenn  man  die  Vorstellungswelt  als 
ein  Mittel  betrachtet,  dessen  wir  uns  bedienen,  um  uns  in  der  Welt 
zu  orientieren  und  um  das  Handeln  darin  möglich  zu  machen.  Diese 
praktische  Auffassung  des  menschlichen  Denkens  wird  uns  noch  weiter 
unten  beschäftigen.  Jedenfalls  zeigt  die  tiefer  dringende  Analyse  des 
Erkenntnisprozesses,  daß  unser  Vorstellen  und  Denken  keineswegs  aus- 
schließlich  durch   die   außer   uns   befindliche   Wirklichkeit   bestimmt 
wird.  Unsere  eigene  physische  und  psychische  Organisation  arbeitet 
hier  selbsttätig  mit  und  geht  dabei  gar  oft  über  das  Gegebene  hinaus. 
Im  Fieber  sehen  wir  Gestalten,  denen  in  der  Wirklichkeit  nichts  ent- 
spricht, und  im  Traume  erleben  wir  Vorgänge,  die  wir  beim  Erwachen 
als  nicht  real  erkennen.  Auch  im  Fortspinnen  unserer  Gedanken  er- 
zeugen wir  oft  Gebilde,  die  weder  Abbilder  noch  Zeichen,  sondern 
unsere  eigenen  Schöpfungen  sind.  Wer  sagt  uns  nun  in  jedem  ein- 


44  l  rkenntniskritiV  und  Erkenntnistheorie 

zeinen  Falle,  ob  unsere  Wahrnehmungen  nicht  Halluzinationen  oder 

Traumbilder  sind,  wer  entscheidet  darüber,  wie  viel  oder  wie  wenig 
Phantasieelemente  sich  in  unsere  Erinnerungsbilder  eingeschlichen 
haben?  Ja  vielleicht  sind  alle  unsere  sogenannten  Erkenntnisse  nur 
unsere  eigenen  Erlebnisse  und  wir  dürfen  auf  Grund  derselben  zwar 
von  Veränderungen  unserer  Bewußtseinszustände  und  Bewußtseins- 
inhalte sprechen,  haben  aber  gar  kein  Recht  dazu,  über  Vorgänge  etwas 
auszusagen,  die  sich  unabhängig  von  uns  abspielen.  Aus  diesen 
Fragen,  die  sich  auf  die  Dauer  nicht  abweisen  lassen,  entstehen  die 
philosophischen  1  xkenntnisprobleme. 

D.is  radikalste  und  zugleich  das  grundlegende  dieser  Probleme  be- 
stellt in  der  Frage,  ob  der  Mensch  die  Fähigkeit  besitzt,  eine  von  ihm 
unabhängige  Wirklichkeit  zu  erkennen  und  ob  er  das  Recht  hat,  über 
die  Existenz  und  die  Beschaffenheit  dieser  Wirklichkeit  objektive  und 
allgemein  gültige  Aussagen  zu  machen.  Die  kritische  Philosophie  wirft 
0  hier  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis  auf. 
Der  Sinn  dieser  Fragestellung  ist  folgender:  Die  aufblühende  Mathe- 
matik des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  hatte  eine  Fülle 
von  Erkenntnissen  gewonnen,  von  denen  man  überzeugt  war,  daß  sie 
unabhängig  von  aller  Erfahrung  (das  heißt  a  priori),  bloß  durch 
die  Kraft  der  reinen  Vernunft  gefunden  wurden  und  dennoch 
für  jede  mögliche  Erfahrung  Geltung  haben.  Kant  glaubte  nun  auch 
in  der  mathematischen  Naturwissenschaft  Erkenntnis- 
elemente zu  finden,  die  nicht  aus  der  Erfahrung  entspringen,  sondern 
als  I  rzeugnis  der  reinen  Vernunft  angesehen  werden  und  somit  von 
vorneherein  (a  priori)  gegeben  sind.  Dieser  Gedanke  regte  ihn  zu 
seiner  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  an,  in  der  der  Ver- 
such unternommen  wird,  die  a  priori  gegebenen  Erkenntnisbedingungen 
in  ein  System  zu  bringen.  Das  Ergebnis  dieser  bahnbrechenden  Unter- 
suchung ist  dieses:  Alle  Objekte  und  Vorgänge,  die  wir  als  Gegen- 
tand der  Erfahrung  antreffen,  sind  durch  die  in  uns  liegenden  An- 
schauungsformen des  Raumes  und  der  Zeit  so  wie 
durch  eine  bestimmte  Zahl  von  Urfunktioncn  des  Verstandes  (Kate- 
gorien) geformt  und  objektiviert.  Wir  erkennen  also  die  Welt  nicht 
wie  sie  an  sich  ist,  sondern  nur  so  wie  sie  unserer  Sinnlichkeit  und 
unserem  Verstände  erscheint.  Schopenhauer  formuliert  dieses 
Grundergebnis  der  kritischen  Untersuchung  in  dem  kurzen  Satze:  „Die 
Welt  ist  meine  Vorstellung."  Dieser  philosophische  Standpunkt  heißt : 
kritischer  Idealismus.  Da  sich  die  dazu  führenden  Erwä- 
gungen auf  die  Überzeugung  stützen,  daß  es  Erkenntnisse  gibt,  die 
a  priori  gegeben  sind,  so  nennt  man  diese  Richtung  in  neuerer  Zeit 
auch  A  p  r  i  o  r  i  s  m  u  s. 

Mit  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis,  die  von  der 
kritischen  Philosophie  in  dem  eben  dargelegten  Sinne  aufgeworfen 
wurde,  verbindet  sich  naturgemäß  die  Absteckung  der  Grenzen 
des  menschlichen  Erkennens.  Kant  war  hier  besonders  streng  und  be- 
tont immer  wieder,  daß  die  theoretische  Vernunft  ihre  a  priori  ge- 
gebenen Funktionen  nur  auf  das  Gebiet  der  möglichen  Sinneswahr- 
nehmung  anwenden  dürfe  und  daß  sie  nicht  befähigt  sei,  über  Dinge, 


§  18.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntniskritik  45 

die  jenseits  aller  möglichen  Erfahrung  liegen,   Erkenntnisse  zu  ge- 
winnen. 

Die  Beschäftigung  mit  den  Fragen  nach  der  Möglichkeit  und  nach 
den  Grenzen  des  Erkennens  nennen  wir  Erkenntniskritik,  und 
diese  bildet  einen  der  schwierigsten  und  zugleich  wichtigsten  Teile  der 
Philosophie. 

Die  von  Kant  und  seinen  Anhängern  gegebene  Lösung  ist  nicht 
ohne  Widerspruch  geblieben.  Es  gibt  wieder  viele  Denker,  die  in 
Übereinstimmung  mit  dem  nicht  philosophierenden  Verstände  der  Mei- 
nung sind,  daß  die  Welt  nicht  bloß  meine  Vorstellung  ist,  sondern  un- 
abhängig von  mir  existiert  und  in  ihrer  wahren  Beschaffenheit  von  mir 
erkennbar  ist.  Dieser  Standpunkt  heißt  im  allgemeinen  Realismus, 
weil  die  Welt  als  r  e  a  1,  als  wirklich,  nicht  bloß  als  i  d  e  a  1,  das  heißt 
in  der  Vorstellung  existierend  angesehen  wird.  Der  Realismus  erkennt 
keine  a  priori  gegebenen  Erkenntnisse  an,  sondern  stützt  sich  auf  die 
E  r  f  a  h  r  u  n  g,  die  er  als  einzige  Erkenntnisquelle  betrachtet.  Er  stellt 
sich  daher  dem  Apriorismus  entgegen  als  Empirismus 
(vom  griechischen  „empeiria"  —  Erfahrung).  Einen  wesentlichen  Teil 
dieser  Erfahrung  bilden  die  durch  eindringende  Selbstbeobachtung  er- 
mittelten psychologischen  Tatsachen  des  Erkenntnisvorganges  und  im 
Hinblick  auf  die  Bedeutung,  die  der  Realismus  der  Psychologie  des  Er- 
kennens beilegt,  nennt  man  diese  Art  der  Bearbeitung  des  Erkenntnis- 
problems auch  Psychologismus. 

Aus  dieser  Betrachtungsweise  entspringen  neue  Probleme.  Der 
Idealismus  und  Apriorismus  fragt  nicht,  woher  die  Erkenntnisse  der 
reinen  Vernunft  stammen,  sondern  konstatiert  ihr  Dasein,  betont  ihre 
objektive  Geltung  und  zieht  daraus  die  logischen  Konsequenzen. 
Der  Realismus  hingegen  will  wissen,  aus  welchen  psychischen  Quellen 
der  Erkenntnistrieb  hervorgeht,  er  will  die  Entwicklung  des 
menschlichen  Erkennens  im  einzelnen  Menschen  und  in  der  ganzen 
Menschheit  durch  psychologische,  durch  historische  und 
namentlich  durch  soziologische  Forschung  verfolgen  und  fragt 
schließlich  auch  nach  den  letzten  Zielen  des  Strebens  nach  Wissen 
und  Erkenntnis.  Die  Arbeit  an  diesen  Problemen  ist  nicht  mehr  Kritik, 
sondern  der  Versuch,  die  tatsächliche  Entwicklung  des  Erkenntnispro- 
zesses psychologisch,  historisch  und  soziologisch  zu  begreifen  und  in 
die  großen  Zusammenhänge  des  Menschenlebens  einzuordnen.  Wir  be- 
zeichnen diese  Fragen  nach  dem  Ursprung,  nach  der  Ent- 
wicklung und  nach  den  Zielen  des  menschlichen  Erkennens  als 
den  Gegenstand  der  Erkenntnistheorie. 

§  18.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntniskritik 

Für  den  nicht  philosophierenden  Menschen  war  es  von  Anbeginn 
unzweifelhaft  und  ist  es  zum  größten  Teile  noch  heute,  daß  die  Dinge 
seiner  Umgebung  unabhängig  von  ihm  existieren,  und  daß  sie  so  sind, 
wie  sie  ihm  erscheinen.  Dieser  nicht  nur  vor  philosophische, 
sondern  auch  vorwissenschaftliche  Standpunkt,  diese  vor 
jeder  Reflexion  über  unser  Erkenntnisorgan  vorhandene  und  die  großen 


4(j  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

Massen  noch  Immer  beherrschende  Denkrichtung  nennt  man  den 
11  a  i  v  e  n  R  eal i s  m  u  s.  Es  ist  Realismus,  weil  man  auf  dieser  Denk- 
stufe die  wahrgenommene  und  vorgestellte  Außenwelt  für  selbständig 
existierend,  für  real  hält,  und  es  ist  naiver  Realismus,  weil  diese  An- 
schauung  nicht  mit  kritischer  Erwägung  herausgebildet,  sondern  weil 
sie  als  selbstverständliche  Voraussetzung  dem  Denken  und  Handeln 
zugrunde  gelegt  wird.  Man  weiß  es  einfach  nicht  anders. 

Der  Standpunkt  des  naiven  Realismus  kann  jedoch  bei  beginnen- 
der'Reflexion  nicht  lange  festgehalten  werden.  Schon  die  gewöhnlichen, 

alltäglichen  Sinnestäuschungen  erschüttern  den  Glauben  an  die 
unbedingte  Richtigkeit  unserer  Wahrnehmungsurteile.  Die  Erfahrung, 
daß  ein  schief  ins  Wasser  getauchter  Stab  nicht  wirklich  gebrochen 
i^t.  sondern  nur  gebrochen  scheint,  daß  die  in  der  Entfernung  ge- 
sehenen Gegenstände  in  der  Tat  größer  sind,  als  sie  uns  erscheinen, 
läßt  nicht  lange  auf  sich  warten.  Dadurch  wird  aber  das  Vertrauen 
in  die  Glaubwürdigkeit  unserer  Sinne  erschüttert  und  die  philo- 
sophische Reflexion  sieht  sich  nach  anderen,  sichereren  Quellen  der  Er- 
kenntnis um.  Es  ist  begreiflich,  daß  man  hier  leicht  in  das  andere 
Extrem  verfiel  und  den  Sinnen  allzu  wenig,  dem  Denken  allzu  viel 
!  ikenntnisfähigkeit  zuschrieb.  Jedenfalls  aber  war  das  Eine  sicher: 
Zum  Zustandekommen  unseres  Weltbildes  tragen  zwei  wesentlich  ver- 
schiedene Faktoren  bei.  Der  eine  ist  außer  uns,  selbständig,  unabhängig 
und  in  gewissem  Sinne  beharrend,  das  ist  der  objektive  Faktor. 
Der  andere  sind  wir  selbst,  unsere  Sinne,  unser  Denken,  unser  Fühlen. 
Dieser  ist  flüchtiger,  veränderlicher  Natur,  es  ist  der  subjektive 
Faktor.  Der  naive  Realismus  betrachtet  die  wahrgenommene  und  die 
erschlossene  Welt  als  durchaus  objektiv.  Für  ihn  ist  der  subjektive 
Faktor  noch  nicht  vorhanden.  Mit  der  Konstatierung 
dieses  subjektiven  Faktors  beginnt  die  Erkennt- 
niskritik. 

Ihre  Entwicklung  vollzieht  sich  nun  in  der  Weise,  daß  zunächst 
gewisse  Sinneseindrücke,  wie  Geschmack,  Temperatur  und  Farbe,  als 
bloß  subjektiv  erkannt  werden.  Dagegen  behalten  die  Data  des  Tast- 
sinnes noch  lange  ihre  objektive  Geltung,  und  erst  in  der  neuesten  Zeit 
hat  man  sich  gesagt,  daß  Hart  und  Weich,  Rund  und  Spitzig  doch 
iau  ebenso  Sinnesdata  sind  wie  Gerüche,  Töne  und  Farben  und  daß 
hc  demgemäß  erkenntniskritisch  dieselbe  Behandlung  erfahren  müssen. 

Viel  später  wurde  auch  an  den  Resultaten  des  abstrakten  Denkens 

subjektive  Faktor  konstatiert,  nachdem  lange  alles,  was  der  speku- 
lativ Geis!  erdacht,  für  objektive  Wahrheit  gegolten  hatte.  Hier  war 
vor  allem  Kant,  welcher  die  Formen  des  Verstandes  aufsuchte,  ver- 
möge welcher  erst  Erfahrung  möglich  werde.  Daß  wir  Komplexe  von 
I  mpfindungen  als  selbständige,  beharrende  Dinge  auffassen,  daß  wir 
regeln  aufeinanderfolgende     Ereignisse    ursächlich    verknüpft 

denken,  das  alles  und  noch  manches  andere,  meint  Kant,  beruht  auf 
ursprünglichen,  nicht  weiter  ableitbaren  Grundfunktionen  unseres  Ver- 
standes. Mittels  dieser  Stammformen  oder  Kategorien  formen 
wir  den  im-  von  außen  gegebenen,  an  sich  chaotischen  Inhalt  und  erst 
dadurch  wird  Erfahrung  möglich.  In  unserem  Weltbild  ist  also  alles 


$  IS.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntniskritik  47 

unserer  Erkenntnis  Zugängliche  zunächst  durch  die  angeborenen 
Formen  der  Sinnlichkeit,  durch  Raum  und  Zeit,  dann 
aber  durch  die  Kategorien  des  Verstandes  bestimmt.  Erkennbar 
und  erfahrbar  ist  also  nur  der  subjektive  Faktor.  Was  von  der  Er- 
fahrung übrig  bleibt,  wenn  wir  den  subjektiven  Faktor  eliminieren, 
das  ist  das  für  uns  vollständig  unerkennbare  „Ding  an  sie  h". 
Daß  dieses  „Ding  an  sich"  selbständig  und  unabhängig  von  uns 
existiere,  das  ist  für  Kant  allerdings  ganz  sicher,  aber  auch  nur  das. 
Der  objektive  Faktor  existiert  also,  ist  aber  für  uns  ganz  unerkenn- 
bar. 

Diese  von  Kant  noch  zugegebene  Existenzdes  Dinges  an 
sich  wird  jedoch  von  neueren  Denkern  ebenfalls  als  ganz  unbeweis- 
bar, ja  als  undenkbar  hingestellt.  Auch  die  Existenz,  sagen  diese, 
ist  nur  eine  Kategorie  des  Verstandes,  und  so  ist  jetzt  ganz 
im  Gegensatze  zum  naiven  Realismus  das  Weltbild  seines  objektiven 
Faktors  vollständig  entkleidet. 

Was  wir  von  der  Welt  wahrnehmen  und  erschließen,  was  uns 
die  wissenschaftliche  Forschung  darüber  lehrt,  das  gilt  nur  von  unseren 
Bewußtseinsinhalten.  Wenn  wir  das  menschliche  Bewußt- 
sein wegdenken,  so  schwindet  mit  ihm  alles,  was  seinen  Inhalt  bildet, 
und  das  ist  die  ganze  Welt.  Himmel  und  Erde,  Wasser  und  Land, 
Berg  und  Tal  sind  nur  unsere  Vorstellungen,  und  wer  behauptet,  daß 
es  eine  von  unserem  Bewußtsein  unabhängige  Außenwelt  gebe,  der 
behauptet  etwas  Unbeweisbares,  Widerspruchsvolles. 

Diese  dem  naiven  Realismus  ganz  entgegengesetzte  Denkrichtung 
führt  im  allgemeinen  den  Namen  Idealismus.  Die  Welt  ist  da- 
nach nur  Bewußtseinsinhalt  oder  wenigstens  nur  insofern  erkennbar, 
als  sie  Bewußtseinsinhalt  ist.  Innerhalb  dieser  Richtung  unterscheidet 
man  mehrere  Schattierungen,  von  denen  die  wichtigsten  hier  angeführt 
seien.  Zuvor  müssen  wir  uns  jedoch  mit  der  hier  üblichen  Terminologie 
vertraut  machen. 

Was  als  Bewußtseinsinhalt  gegeben  ist  oder  nur  als  solcher  be- 
trachtet wird,  das  heißt  immanent.  Was  über  das  Bewußtsein 
hinausgeht  und  unabhängig  davon  besteht,  das  ist  transzendent 
oder  auch  extramental.  Der  strenge  Idealist  glaubt  also  nur  an 
eine  immanente  Welt,  gibt  hingegen  eine  transzendente  oder  extramen- 
tale keineswegs  zu. 

Wesentlich  verschieden  von  dem  Transzendenten  ist  jedoch  das 
Transzendentale,  womit  Kant  besonders  gerne  operiert.  Kant 
nennt  „alle  Erkenntnis  transzendental,  die  sich  nicht  sowohl  mit 
Gegenständen,  sondern  mit  unserer  Erkenntnisart  von  Gegenständen, 
soferne  diese  a  priori  möglich  sein  soll,  beschäftigt"  (Krit.  d.  r.  Ver- 
nunft, Einleitung  zur  2.  Aufl.),  III,  49  (Hartenstein).  Der  trans- 
zendentale Idealismus  Kants  behauptet  also,  daß  es  gewisse 
Stammformen  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  gibt,  welche  nicht 
durch  Erfahrung  entstehen,  sondern  vor  aller  Erfahrung  da  sind  und 
durch  die  Gestaltung  des  auf  sie  wirkenden  Dinges  an  sich  erst  Er- 
fahrung möglich  machen.  Diese  Anschauung  ist  also  insoferne  noch 
Realismus,  als  sie  die  unabhängige,  extramentale  oder  transzen- 


48  1  rkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

dente  1  xistenz  des  Dinges  an  sich  zugibt.  Erkennbar  jedoch  ist  für 
uns  nur  die  I  rscheinung  oder  das  Phänomenon,  weshalb  diese  An- 
schauung «nah  Phänomenalismus  genannt  wird. 

1  dagegen  behauptet  der  immanente  I  d  e  a  1  i  s  m  u  s,  der  sich 
in  letzter  Zeit  auch  immanente  Philosophie  nennt,  daß  die 
i  xistenz  der  Außenwelt  sich  darin  erschöpfe,  daß  dieselbe  Inhalt  des 
menschlichen  Bewußtseins  sei.  Hier  wird  gar  nichts  Transzendentes, 
gar  nichts  I  xtramentales  zugegeben.  Wer  eine  vom  Bewußtsein  unab- 
hängige Welt  behauptet,  der  verdoppelt,  so  argumentieren  die 
Idealisten,  in  ganz  unberechtigter  Weise  die  Welt.  Insoferne  diese 
\\  cltanschauung  dazu  führt,  daß  jeder  Denker  nur  sich  und  seinen  Be- 
wußtseinsinhalt als  gegeben  anerkennt,  pflegt  man  diese  Anschauung 
auch  Solipsismus  (solus  =  allein,  ipse  =  selbst)  zu  nennen. 

Vertreter  dieser  strengen  Auffassung  sind  die  sogenannten  Neu- 
kantianer Schuppe,  Rehmke,  v.  Ledair,  Schubert-Soldern  u.  a. 

Mit  dem  Phänomenalismus  verwandt  ist  auch  der  sogenannte 
Positivismus.  Die  Wissenschaft  soll  ohne  Rücksicht  auf  die 
letzten  Gründe  alles  Seins,  welche  unerkennbar  bleiben  müssen,  das 
Gesetzliche  der  Erscheinung  erforschen,  um  die  Ereignisse  beherrschen 
zu  lernen.  Schöpfer  dieser  Richtung  ist  Auguste  Comte  (1798—1857) 
in  Frankreich,  Anhänger  in  gewissem  Sinne  John  St.  MM  in  England 
und  Ernst  Laas  in  Deutschland  *). 

In  den  letzten  Jahrzehnten  sind  noch  andere  Richtungen  des  kriti- 
schen Idealismus  zutage  getreten,  die  weniger  die  Idealität  der  Außen- 
welt, sondern  mehr  den  apriorischen,  das  heißt  nicht  der  Erfahrung 
entstammenden  Charakter  aller  sicheren  Erkenntnis  betonen  und  sich 
besonders  entschieden  gegen  den  Psychologismus  (s.  oben  S.  45)  wen- 
den.  Herrmann  Cohen  und  Paul  Natorp  (Begründer  der  Marburger 
Schule)  suchen  auf  der  Grundlage  Kants  und  des  im  Kantschcn  Sinne 
umgedeuteten  Piatonismus  ein  auf  reines  Denken  gegründetes  System 
/u  gewinnen.  Cohen  hat  dieses  System  durch  gründliche  Bearbeitung 
des  Kantianismus  vorbereitet  und  dann  in  drei  selbständigen  Werken 
(„Logik    der    reinen    Erkenntnis",      „Ethik    des    reinen    Willens", 
..  \>thetik  des  reinen  Gefühls")  vorgelegt.  In  bezug  auf  die  Erkenntnis- 
lehre, die  uns  hier  allein  angeht,  verwirft  Cohen  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung   als    Erkenntnisquelle    und    schreibt    dafür    dem     reinen 
Denken   die    Fähigkeit    zu,   das    Sein    zu   erzeugen.    Cohen   gründet 
seine  Theorie  auf  die  Tatsache  der  mathematischen  Naturwissenschaft, 
die  nur  durch  unanschauliches  Denken  zur  Feststellung  der  wahren 
Realität  gelangt.    Kraftvolle  und  energische  Denkarbeit,  die  überall 
an  der  konkreten  Wissenschaft  orientiert  ist,  zeichnen  seine  Arbeiten 
aus,  von  denen  auch  derjenige  viel  lernen  kann,  der  auf  einem  anderen 
Sl  and  punkte  steht.  Natorp  versucht  diese  Grundsätze  auf  die  Grund- 

*)  In  der  allerjüngstcn  Zeit  hat  sieh  in  Deutschland  eine  Gesellschaft  für 
ütivistiache  Philosophie  gebildet,  die  es  sich  zur  Aufgabe  macht,  auf  dem 
Boden  der  Erfahrung  eine  Weltanschauung  aufzubauen,  die  den  Ergebnissen  und 
Methoden  der  Wissenschaft  gerecht  wird  und  doch  das  Einheitsbedürfnis  der 
menschlichen  Natur  befriedigt.  Angeregt  wurde  die  Gründung  durch  Joseph 
Petzoldt. 


§  19.  Der  erkenntniskritische  Idealismus  49 

legung  der  Psychologie  und  Pädagogik  anzuwenden  und  hat  sich  be- 
sonders eifrig  um  die  kantianisierende  Auslegung  Piatons  bemüht.  Der 
Marburger  Schule  gehört  eine  Anzahl  jüngerer  Forscher  an,  von  denen 
besonders  Ernst  Cassirer  zu  nennen  ist,  dessen  philosophiegeschicht- 
liche Arbeiten  sehr  bedeutend  sind.  Wilhelm  Windelband  und  Heinrich 
Rickert  haben  mit  Anlehnung  an  Fichte  einen  „teleologischen  Kritizis- 
mus" begründet,  der  eine  a  priorische  Wertlehre  herauszu- 
arbeiten sucht.  Das  Wahre,  das  Gute  und  das  Schöne  sollen  als  a  priori 
gegebene  Werte  aufgefaßt  werden,  deren  objektive  und  absolute  Gel- 
tung die  Philosophie  darzutun  und  herauszuarbeiten  hat.  Dieser  Rich- 
tung steht  auch  Hugo  Münsterberg  nahe.  Gemeinsam  ist  allen  diesen 
Denkern  die  Überzeugung,  daß  in  der  reinen  Vernunft  a  priori  Grund- 
sätze gegeben  sind,  die  es  ermöglichen,  zu  objektiven,  überindividuellen 
Aufstellungen  zu  gelangen,  die  über  allen  psychologischen  Konsta- 
tierungen stehen  und  durch  psychologische  Untersuchungen  weder  be- 
stätigt noch  widerlegt  werden  können. 

Gegenüber  diesen  idealistischen  Richtungen  erhebt  nun  wieder 
der  Realismus  sein  Haupt.  Gewiß,  das  muß  jeder  wissenschaftlich 
Denkende  zugeben,  darf  man  nicht  bei  dem  naiven  Realismus  stehen 
bleiben.  Aber  wenn  man  dem  subjektiven  Faktor  in  unserem  Weltbild 
auch  völlig  gerecht  wird,  so  bleibt  doch  noch  ein  erheblicher  objektiver 
Rest,  und  die  Existenz  einer  von  uns  unabhängigen,  aber  auf  uns  wirken- 
den Außenwelt  läßt  sich  trotz  alledem  beweisen  oder  bleibt  wenigstens 
die  Annahme,  die  nicht  nur  den  gesunden  Menschenverstand,  sondern 
auch  das  philosophische  Denken  am  meisten  befriedigt.  Diese  erkennt- 
niskritische Denkrichtung  nennt  man  den  kritischen  Realis- 
mus. 

Mit  den  verschiedenen  Richtungen  des  kritischen  Realismus  wer- 
den wir  uns  weiter  unten  bei  der  Erörterung  des  Problems  vom 
Ursprung  der  Erkenntnis  zu  beschäftigen  haben.  Jetzt  gilt  es,  die  Argu- 
mente des  Idealismus  kennen  zu  lernen  und  zu  prüfen. 

§  19.  Der  erkenntniskritische  Idealismus 

Die  Ansicht,  daß  die  mich  umgebende  Welt  nur  meine  Vorstellung 
ist,  daß  alles,  was  ich  durch  Wahrnehmen  oder  durch  Denken  von  der 
Welt  zu  erkennen  glaube,  ihr  nicht  an  sich  zukommt,  sondern  nur  a  1  s 
mein  Bewußtseinsinhalt  gelten  darf,  hat  etwas  für  den  nicht 
philosophierenden  Verstand  ungemein  Befremdliches.  Unsere  ganze 
praktische  Weltanschauung  beruht  ja  auf  der  Annahme  oder  vielmehr 
auf  der  selbstverständlichen  Voraussetzung,  daß  das,  was  ich  sehe  und 
greife,  wirklich  besteht  und  auch  dann  besteht,  wenn  ich  es  nicht  wahr- 
nehme. 

Die  historische  Entwicklung  macht  die  Ansicht  von  der  Idealität 
der  Außenwelt  allerdings  etwas  begreiflicher.  Man  sieht  leicht  ein, 
daß  unser  physischer  und  psychischer  Organismus  sich  beim  Zu- 
standekommen des  Weltbildes  nicht  bloß  aufnehmend  oder  rezeptiv 
verhält.  Vielmehr  sind  es  gerade  seine  Reaktionen  auf  die  äußeren 
Reize,  seine  eigenen  Tätigkeiten,  durch  welche  überhaupt  ein  Weltbild 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.   10.  Aufl.  4 


Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

zustande  kommt.  Infolgedessen  wird  es  klar,  daß  wi>  selbst,  das  heiß'. 
unsere  leibliche  und  seelische  ( Organisation  viel  beibringen  zum  Zu- 
standekommen  der   Erfahrung.   Noch  begreiflicher  und  im  einzelnen 
ständlicher  wird  dies,  wenn  wir  uns  ein  wenig  in  der  psychologische! 
Analyse  üben. 

Betrachte  ich  /..  B.  den  Tisch,  an  dem  ich  jetzt  arbeite,  so  ist  der- 
selbe für  den  naiven  Realismus  eine  viereckige,  gelb  angestrichene 
Hol/platte,  die  auf  vier  Füßen  ruht.  Gehe  ich  jedoch  etwas  genauer 
auf  die  !  inzelheiten  dieser  Wahrnehmung  ein,  so  sehe  ich,  daß  zu- 
iist  die  Farbe  nur  als  meine  Empfindung  existiert.  Die  Gestalt  des 
I  isches  kommt  mir  durch  einen  Komplex  von  Netzhaut-  und  Muskel- 
empfindungen  des  Auges  zum  Bewußtsein,  und  die  Härte  sowie  die 
I  Hätte  sind  doch,  genau  besehen,  nur  Tastqualitäten.  Es  ist  demnach 
der  anfangs  ganz  objektive  Tisch  zu  einem  Komplex  subjektiver  Emp- 
tindungsqualitäten  geworden.  Jetzt  fragt  es  sich  noch,  inwiefern  dieser 
Komplex  mir  als  eine  Einheit,  als  ein  Ding  erscheint,  dessen  Eigen- 
schaften eben  jene  Empfindungsqualitäten  sind.  Frage  ich,  was  übrig- 
bleibt, wenn  ich  Farbe,  Gestalt,  Härte,  Glätte  dem  Tisch  wegnehme, 
so  wird  man  jedenfalls  in  Verlegenheit  sein  und  schwerlich  etwas  an- 
geben können.  Wenn  es  sich  nun  zeigt,  daß  auch  diese  Zusammen- 
hing von  Empfindungskomplexen  zu  einheitlichen  Dingen  in  der 
psychischen  Organisation  des  Menschen  begründet  ist,  dann  wird,  so 
scheint  es,  der  ganze  Tisch  tatsächlich  zur  bloßen  Erscheinung,  zum 
Bewußtseinsinhalt,  von  dem  man  durchaus  nicht  behaupten  kann,  daß 
er  unabhängig  von  meinem  Bewußtsein  existiere. 

In  derselben  Weise  kann  ich  von  jedem  Dinge  meiner  Umgebung 
beweisen,  daß  es  ein  Empfindungskomplex  ist,  der  durch  eine  be- 
stimmte Organisation  meiner  Natur  zu  einer  Einheit  zusammen- 
gefaßt wird. 

Wollte  man  nun  die  Entdeckungen  der  Physik  dazu  benützen,  um 
das  Subjektive  vom  Objektiven  zu  scheiden,  so  würde  das  gegenüber 
einem  Idealisten  strenger  Observanz  nichts  helfen.  Was  wir  als  Licht 
empfinden,  könnte  man  einwenden,  das  sind  ja  in  Wirklichkeit  Schwin- 
gungen des  Äthers,  und  die  Töne  sind  Schwingungen  der  Luft.  Farben 
und  Töne  sind  nur  subjektiv  vorhanden,  aber  unabhängig  von  jedem 
Auge  und  Ohr  bestehen  jene  Vibrationen,  welche  die  Physik  als  objek- 
tive Ursache  jener  Empfindungen  erkannt  hat.  Darauf  würde  der 
Idealist  antworten:  Die  Schwingungen  der  Luft  und  des  Äthers  bleiben 
b  auch  immer  nur  gedachte  Schwingungen,  die  unter  günstigen 
Umständen  sinnlich  wahrnehmbar  gemacht  werden  können.  Auch  hier 
isl  also  der  subjektive  Faktor  keineswegs  eliminiert  und  auch  diese 
„objektiven"  Ursachen  unserer  Empfindungen  bleiben  Bewußtseins- 
inhalte. 

I  s  scheint  also  wirklich  ganz  unmöglich,  in  unseren  Erkenntnissen 
einen  wirklich  objektiven,  vom  wahrnehmenden  und  denkenden  Subjekt 
ganz  unabhängigen  Faktor  nachzuweisen.  Wo  sich  eine  Scheidung  von 
objektiver  Ursache  und  subjektiver  Wirkung  zu  ergeben  scheint,  da 
zeigt  es  sich  immer,  daß  auch  die  „objektive"  Ursache  nur  als  Bewußt- 
seinsinhalt gegeben  ist. 


§  20.  Würdigung  des  erkenntniskritischen  Idealismus  51 

Eine  kräftige  Unterstützung  erhielt  der  strenge  Idealismus  noch 
durch  die  moderne  Sinnesphysiologie.  Johannes  Müller  hat  in  seinem 
bekannten  Gesetze  von  den  spezifischen  Sinnesenergien 
die  Tatsache  formuliert,  daß  unsere  Sinnesnerven,  wie  immer  man  sie 
reizt,  immer  nur  in  einer  und  derselben  Weise  reagieren. 

Reizt  man  z.  B.  den  Gesichtsnerv  (Nervus  opticus)  durch  Druck 
oder  durch  einen  elektrischen  Strom,  so  entstehen  ebenso  Farbenempfin- 
dungen, wie  wenn  er  durch  Licht  gereizt  wird.  Wenn  wir  also  eine 
Sinnesempfindung  haben,  so  ist  es  auf  Grund  dieses  Gesetzes  nicht 
einmal  sicher,  ob  ein  objektiv  vorhandener  Gegenstand  oder  ob  irgend 
ein  anderweitig  im  Sinnesnerven  hervorgerufener  Vorgang  die  Ursache 
dieser  Empfindung  ist. 

Solange  ich  als  einzelner  Mensch  der  Welt  gegenüberstehe,  so- 
lange scheint  es  ganz  unwiderleglich,  daß  die  Welt  nur  als  mein  Be- 
wußtseinsinhalt gegeben  sei.  Das  Sein  oder  Esse  der  von  mir  wahr- 
genommenen Dinge  besteht  lediglich  in  ihrem  Wahrgenommenwerden 
(pereipi).  So  formuliert  O.  Berkeley  kurz  und  präzise  den  Stand- 
punkt des  Idealismus.  Die  Annahme  einer  transzendenten,  extramen- 
talen Welt  ist,  so  scheint  es,  etwas  durchaus  Willkürliches,  Überflüs- 
siges, Unbeweisbares.  Hervorragende  Naturforscher,  wie  Helmholtz 
und  Meynert  und  in  gewissem  Sinne  auch  Mach,  haben  es  aus- 
gesprochen, daß  die  Wissenschaft  sich  mit  der  Erforschung  des  Ge- 
setzlichen in  der  Erscheinung  begnügen  müsse  und  die  objektive  Natur 
der  Vorgänge  nicht  beweisen  könne.  Meynert  hat  es  sogar  als  Probe 
der  Denkfähigkeit  bezeichnet,  die  Idealität  der  Welt  denken  zu  können. 

Wir  wollen  nun  daran  gehen,  die  Stichhältigkeit  dieser  Argumente 
zu  prüfen. 

§  20.  Würdigung  des  erkenntniskritischen  Idealismus 

Die  im  Laufe  von  mehr  als  zwei  Jahrtausenden  geleistete  Denk- 
arbeit, welche  zu  der  Ansicht  führt:  das  Sein  der  wahrnehmbaren 
Dinge  besteht  in  ihrem  Wahrgenommenwerden  (esse  =  pereipi, 
Berkeley),  oder  die  Welt  ist  meine  Vorstellung  (Schopenhauer),  hat 
tief  hineingeleuchtet  in  die  Natur  des  menschlichen  Erkennens  und 
hat  seinen  Geltungsbereich  abgegrenzt.  Die  Tatsache  der  Sinnes- 
täuschungen hat  schon  im  Altertum  den  Glauben  an  die  Vertrauens- 
würdigkeit der  Sinne  erschüttert.  Dagegen  wurde  lange  Zeit  hindurch 
dem  abstrakten  Denken  die  Fähigkeit  zugesprochen,  das 
wahre,  das  objektive  Wesen  aller  Wirklichkeit  zu  erfassen, 
und  man  hat  an  die  Ergebnisse  dieser  spekulativen  Denkarbeit  Jahr- 
hunderte lang  fest  geglaubt.  Durch  Berkeley,  Hume  und  Kant  ist  dann 
auch  die  subjektive  Natur  unserer  Denkformen  erkannt  und  auf  Grund 
dessen  nur  die  Erscheinung  als  erkennbar,  das  hinter  der  Er- 
scheinung liegende  Ding  an  sich  als  unerkennbar  bezeichnet 
worden. 

Bis  zu  diesem  Punkte  muß  das  Resultat  der  Erkenntniskritik 
rückhaltlos  anerkannt  werden.  Nur  muß  man,  um  sich  vor  groben  Miß- 


52  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

Verständnissen  zu  bewahren,  die  bei  so  abstrakten  und  in  vieler  Be- 
ziehung fremdartigen  Gedankenreihen  nur  zu  leicht  unterlaufen,  genau 
unterscheiden  zwischen  S  c  h  e  i  n  und  Erscheinung. 

Unter  Schein  verstehen  wir  einen  Anlaß  zu  Vorstellungen, 
welche  zu  unrichtigen  Urteilen  führen.  Der  Sinnenschein,  von  dem 
hier  hauptsächlich  che  Rede  ist,  besteht  also  in  dem  äußeren  Eindrucke, 
den  die  Dinge  auf  unsere  Sinne  machen,  insofern  dieser  Eindruck  zu 
unrichtigen  Urteilen  führt.  Als  unrichtig  gelten  uns  die  Urteile  dann, 
wenn  sie  durch  nachträgliche  Wahrnehmungen  oder  Überlegungen  be- 
richtigt werden,  wenn  die  Voraussagen  sich  nicht  erfüllen,  welche  auf 
die  durch  den  Schein  veranlaßten  Urteile  gegründet  wurden.  Ein  Bei- 
spiel mag  dies  erläutern. 

Der  schief  ins  Wasser  getauchte  Stab  scheint  unserem  Auge  ge- 
brochen, das  heißt  er  veranlaßt  uns  zu  dem  Urteile:  der  Stab  ist  ge- 
brochen. Ziehen  wir  den  Stab  nun  heraus,  so  hat  er  seine  Geradlinig- 
keit behalten,  und  wir  urteilen,  er  sei  jetzt  nicht  gebrochen.  Es  bleibt 
aber  noch  die  Möglichkeit  vorhanden,  daß  das  Wasser  den  Stab  breche. 
Da  überzeugen  wir  uns  durch  Betasten  des  eingetauchten  Stabes,  daß 
auch  im  Wasser  der  Bruch  des  Stabes  durch  unseren  Tastsinn  nicht 
konstatiert  werden  kann.  Die  höhere  Glaubwürdigkeit,  die  wir  dem 
Tasturteil  entgegenbringen,  veranlaßt  uns  nun  zu  urteilen :  der  S  t  a  b 
ist  nicht  gebrochen,  er  scheint  nur  so.  Wenn  wir  dann  die 
Brechungsgesetze  des  Lichtes  kennen  lernen,  so  finden  wir  auch  diesen 
Schein  des  Gebrochenseins  begründet,  und  die  Sache  ist  erledigt.  Wir 
haben  ein  nächstesmal  denselben  Sinneseindruck  des  gebrochenen 
Stabes,  lassen  unser  Urteil  aber  nicht  mehr  dadurch  täuschen. 

Etwas  wesentlich  anderes  verstehen  wir  aber  unter  Erschei- 
nung. Die  Erscheinung  ist  die  Welt,  wie  sie  sich  unseren  Sinnen  dar- 
bietet, und  im  weiteren  Sinne  auch,  wie  sie  von  uns  gedacht  wird.  Unter 
Erscheinung  verstehen  wir  nicht  bloß  den  ersten,  flüchtigen,  äußeren 
Eindruck,  nicht  nur  das  Blendwerk,  das  sich  an  unsere  Sinne  drängt, 
sondern  die  unserer  Erkenntnis  zugängliche  Seite  der  Welt.  Insofern 
die  Welt  für  uns  erkennbar  ist,  insofern  ist  sie  Erscheinung.  Die  Er- 
scheinung trügt  nicht  wie  der  Schein,  der  Ausdruck  erinnert  nur  daran, 
daß  die  Erscheinung  vielleicht  auf  etwas  hinweist,  das  hinter  ihr  steht 
und  ihr  wahres  Wesen  ausmacht. 

Die  einschneidende  Frage  der  Erkenntniskritik  ist  nun  die,  ob  wir 
berechtigt  sind,  aus  der  uns  allein  zugänglichen  Erscheinung 
auf  eine  ihr  zugrunde  liegende  Wesenheit  zu  schließen,  die ^ un- 
abhängig von  uns  besteht,  mag  sie  nun  erkennbar  sein  oder  nicht. 
Kant,  der  ikn  hier  entwickelten  Begriff  der  Erscheinung  zum  ersten- 
mal in  seiner  vollen  Tiefe  erfaßt  hat,  Kant,  der  in  unser  Erkenntnis- 
organ die  Sonde  der  Analyse  so  tief  eingeführt  hat,  wie  keiner  vor  ihm, 
hat  diese  Frage  entschieden  bejaht.  Trotz  mancher  Stellen,  in  denen 
er  das  1  Mag  an  sich  zu  einem  bloßen  Gedanken  herabsetzt,  ist  es  seine 
endgültige  Oberzeugung,  daß  aller  Erscheinung  ein  Reales,  ein  unab- 
hängig vom  erkennenden  Subjekte  Bestehendes  zugrunde  liege.  Mit 
haut  wird  diese  Frage  auch  bejaht  von  unserem  innersten  und  tiefsten 
Gefühl,  das  sich  mit  aller  Kraft  gegen  ihre  Verneinung  sträubt.  Wenn 


§  20.  Würdigung  des  erkenntniskritischen  Idealismus  53 

wir  einen  Gegenstand  mit  unseren  Sinnen  wahrnehmen,  so  stehen  wir 
unter  einem  Zwange,  den  wir  als  äußeren  Zwang  zu  bezeichnen 
nicht  umhin  können.  Wir  sehen,  wie  derselbe  Zwang  von  unseren  Mit- 
menschen empfunden  wird,  und  können  niemals  glauben,  daß  die 
wahrgenommenen  Dinge  verschwinden,  wenn  kein  Mensch  sie  wahr- 
nimmt. 

Trotzdem  aber  besitzt,  wie  wir  oben  sahen,  die  Argumentation 
des  strengen  Idealismus  der  Neukantianer  eine  große  logische  Kraft. 
Solange  ich  und  meine  Umgebung  einander  allein  gegenüberstehen, 
solange  läßt  sich  gegen  den  Beweis  der  Idealisten,  daß  die  Welt  mein 
Bewußtseinsinhalt  sei,  nichts  Stichhältiges  einwenden.  Hier  entsteht 
nun  in  dem  Bewußtsein  des  ernstlich  um  eine  widerspruchslose  Welt- 
anschauung bemühten  Denkers  ein  auf  die  Dauer  unerträglicher  Zu- 
stand. Die  unerbittliche  Logik  weist  jeden  Schritt  ins  Extramentale  als 
unerlaubt  zurück.  Unser  innerstes  Lebensgefühl  aber  kann  und  will 
sich  bei  der  Vorstellung  von  der  Idealität  der  Außenwelt  nicht  be- 
ruhigen. Dieser  Widerspruch  des  Fühlens  darf  jedoch  dem  Philosophen 
nicht  genügen.  Was  er  als  unwahr  empfindet,  das  muß  er  auch  als 
unwahr  erweisen  können. 

Dieser  Beweis  läßt  sich  am  leichtesten  und  verständlichsten  so 
führen,  daß  man  die  These  des  strengen  Idealismus  „Die  Welt  ist 
mein  Bewußtseinsinhalt"  konsequent  zu  Ende  denkt.  Es  ergibt  sich 
nämlich  dann  die  unerbittliche  Folgerung,  daß  ich,  der  idealistische 
Denker,  ganz  allein  als  wirklich  existierend  übrig  bleibe,  während  die 
ganze  Welt  nur  dadurch  und  nur  darin  besteht,  daß  sie  mein  Bewußt- 
seinsinhalt ist.  Mein  Leib  nicht  nur,  sondern  auch  alle  meine  Mit- 
menschen haben  ihre  selbständige  Existenz  verloren  und  sind  zu 
meinem  Bewußtseinsinhalt  geworden.  Wir  haben  diesen  Standpunkt 
oben  als  Solipsismus  bezeichnet  und  können  nun  sagen,  der 
erkenntniskritische  Idealismus  führt,  soweit  er 
die  Phänomenalität  der  Welt  zu  seinem  Lehr- 
inhalt hat,  unbedingt  zum  Solipsismus.  Diese  An- 
sicht, daß  ich  allein  auf  der  Welt  wirklich  existiere,  ist  nun  nicht  allein 
praktisch  undurchführbar,  sondern  bedeutet  auch,  rein  theoretisch  ge- 
nommen, eine  derartige  Ungeheuerlichkeit  und  Absurdität,  daß  die 
meisten  Vertreter  des  Idealismus  davor  zurückscheuen,  diese  Konse- 
quenz auf  sich  zu  nehmen  und  mit  Hilfe  von  dialektischen  oder  meta- 
physischen Konstruktionen  darüber  hinwegzukommen  suchen.  Beson- 
dere Schwierigkeiten  macht  für  den  Solipsisten  das  sogenannte  „Du- 
P  r  0  b  1  e  m".  Dieses  besteht  darin,  daß  der  Solipsist  seinem  Mit- 
menschen kein  Bewußtsein  beilegen  darf,  weil  dieser  Mitmensch  da- 
durch ein  selbständiges  Wesen  wird,  dessen  Existenz  sich  dann  nicht 
mehr  darin  erschöpfen  würde,  daß  er  Bewußtseinsinhalt  eines  anderen 
ist.  Der  Mitmensch,  der  Bewußtsein  hat,  bekommt  dadurch  auch 
selbst  Bewußtseinsinhalt  und  wird  so  zu  einem  von  mir  unabhängigen 
Bewußtseinszentrum.  Anderseits  will  doch  kein  Philosoph  sich  ernst- 
lich zu  der  absurden  Annahme  versteigen,  daß  er  selbst  ein  vorstellen- 
des und  denkendes  Wesen  sei,  während  alle  anderen  Menschen  nur 
mechanische    Automaten    sein    sollen.    Die   Vertreter  des    Idealismus 


54  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

suchen  deshalb  die  verschiedensten  Auswege  aus  diesem  Dilemma.  Nur 
ganz  vereinzelte  Denker  haben  den  Mut  gehabt,  mit  dem  Solipsismus 
'  rast  zu  machen.  Ich  habe  in  meinem  Buche  „Der  kritische  Idealis- 
mus und  die  reine  Logik",  S.  21 — 67,  diese  Darstellungen  und  Argu- 
mente s,,\\iL-  auch  die  Auswege  und  Ausflüchte  der  Idealisten  aus- 
führlich  besprochen  und  als  unhaltbar  zu  erweisen  versucht.  Indem 
ich  den  1  eser  auf  diese  Ausführungen  verweise,  glaube  ich  hier  sagen 
zu  können,  daß  der  erkenntniskritische  Idealismus,  insofern  er  die  bloße 
Phänomenalitat  der  Außenwelt  behauptet,  dadurch  als  widerlegt  gelten 
kann,  daß  er  unbedingt  zum  Solipsismus  führt. 

I  Mes  haben  denn  auch  die  meisten  Vertreter  des  Idealismus  still- 
schweigend dadurch  zugegeben,  daß  sie  ihre  Denkarbeit  nicht  mehr 
auf  den  Nachweis  der  Phänomenalität  der  Welt  richten,  sondern  ein 
anderes  Merkmal  des  Kritizismus  zur  Hauptsache  machen.  Wir  haben 
bereits     oben     gesagt,     daß     jeder     kritische     Idealismus     zugleich 

\priorismus  ist.  Darunter  verstehen  wir  die  Überzeugung,  daß 
die  menschliche  Vernunft  die  Fähigkeit  besitzt,  aus  sich  heraus  durch 
unanschauliches  Denken  unabhängig  von  der  Erfahrung  objektive  und 
allgemein  gültige  Erkenntnisse  zu  gewinnen.  Diese  dem  reinen  Denken 
zugeschriebene  Kraft  weiter  zu  entwickeln,  ihren  Anteil  an  den  Ergeb- 
nissen der  positiven  Wissenschaft,  besonders  der  mathematisch-natur- 
wissenschaftlichen Disziplinen  herauszuarbeiten  und  so  zu  einer  kriti- 
schen Grundlegung  der  menschlichen  Erkenntnis  zu  gelangen,  das  ist 
die  Aufgabe,  die  von  den  Idealisten  neukantianischer  Richtung  der 
kritischen   Philosophie  gestellt  wird.     Richtunggebend  sind  hier  die 

\rbeiten  Hermann  Cohens  und  der  von  ihm  begründeten  Marburger 
Schule*).  Cohen  übernimmt  von  Kant  nichts  anderes  als  nur  die 
„transzendentale  Methode",  das  heißt  das  Aufsuchen  der  apriorischen 
I  lemente  in  unseren  wissenschaftlichen  Erkenntnissen,  geht  aber  in  der 
Anwendung  dieser  Methode  weit  über  Kant  hinaus.  So  gibt  Cohen 
keineswegs  zu,  daß  dem  reinen  Denken  sein  Stoff  von  der  Sinnlichkeit 
geliefert  werde,  woran  Kant  streng  festgehalten  hatte.  Das  reine  Den- 
ken ist  vielmehr  selbstschöpferisch  und  erzeugt  infolge  der  ihm  inne- 
wohnenden Zeugungskraft  selbst  die  realen  Gegenstände  der  Wissen- 
schaft. Als  lehrreiches  Beispiel  benutzt  hier  Cohen  den  Begriff  des 
Unendlich-Kleinen  oder  des  Differentials,  mit  dessen  Hilfe  die  Mathe- 
matik die  Gesetze  des  kosmischen  Geschehens,  soweit  sie  mechanisch 
sind,  erkannt  und  berechnet  hat.  Dieses  wichtige  Denkmittel  stammt 
nicht  aus  der  Anschauung,  sondern  ist  durch  reines  Denken  geschaffen 
worden.  Erst  dadurch,  daß  man  die  Größen  und  die  Bewegungen  in 
diese  unendlich  kleinen  Teile  zerlegt  hat,  sind  sie  zu  realen  und  erkenn- 
baren  Gegenständen  geworden.  Man  wird  nun,  meint  Cohen,  bei  allen 
wissenschaftlichen  Erkenntnissen  finden,  daß  nur  die  im  reinen  Denken 
erzeugbaren  Vorgänge  es  sind,  die  diesen  Erkenntnissen  Objektivität 
und  Allgemeingültigkeit  sichern.  Damit  wird  aber  das  Denken  zum 
eigentlichen  Schöpfer  des  Seienden  und  „Nur  das  Denken  selbst  kann 

•)  Fiiiie  vortreffliche  Übersicht  über  die  kritischen  und  systematischen 
Leistungen  Cohens  enthält  das  ihm  zu  seinem  siebzigsten  Geburtstage  gewidmete 
l  .-^trieft  der  Zeitschrift  „Kantstudien"    XVII.  3,  1912. 


§  20.  Würdigung  des  erkenntniskritischen    dealismus  55 

erzeugen,  was  als  Sein  gelten  darf".   (Cohen,  Logik  der  reinen  Er- 
kenntnis, S.  17.) 

Mit  großer  Kraft,  mit  hohem  Mut  und  mit  rücksichtsloser  Kon- 
sequenz verteidigt  und  entwickelt  Cohen  diese  schöpferische  Fähigkeit 
des  reinen  Denkens  und  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Anhängern  und 
Schülern  erblickt  in  diesen  Gedankengängen  eine  neue,  überaus  frucht- 
bare   Grundlegung    der    Philosophie.    Gegen    diesen    idealistischen 
Aphorismus  ist  nun  allerdings  der  Einwand  des  Solipsismus  gegen- 
standslos. In  jedem  einzelnen  Menschen  wohnt  ja  diese  überindividuelle 
reine  Vernunft,  die  der  Philosoph  herausstellt  und  zum  Bewußtsein 
bringt.   Allein  zwei  andere,  schwerwiegende  Einwände  erheben  sich 
gegen  diesen  Apriorismus,  die  sich  kaum  dürften  widerlegen  lassen. 
Es  ist  nämlich  erstens  durchaus  nicht  erwiesen,  daß  in  den  Ergeb- 
nissen der  exakten  Wissenschaften  der  von  Außen  gegebene  Empfin- 
dungsstoff eine  so  geringe  Rolle  spiele.  Wenn  auch  die  denkende  Be- 
arbeitung das  meiste  leistet,  so  ist  dieser  Bearbeitung  doch  durch  die 
Art  der  Sinnesaffektion  die  Richtung  gegeben.  Zweitens  aber  vermag 
der  Apriorismus  nicht  auf  dem  Boden  der  Erkenntniskritik  stehen  zu 
bleiben,  sondern  wird  zu  Aufstellungen  gedrängt,  die  ins  Unerfahrbare, 
ins  Transzendente,  ins  Metaphysische  führen.  Die  Frage  läßt  sich  näm- 
lich nicht  abweisen,  woher  das  reine  Denken  stammt,  und  wie  es  zu 
seiner  Schöpferkraft  kommt.  Die  Ergebnisse  und  Fortschritte  der  posi- 
tiven Wissenschaften  können  diese  Frage  weder  beantworten,  noch  aus 
der  Welt  schaffen.  Diese  Fortschritte  ließen  sich  ja  auf  die  stets  wach- 
sende Erfahrung  zurückführen,  die  von  unserem  Verstände  stets  besser 
geordnet  und  gedeutet  wird.     Eine   solche   Auffassung  dürfte  den 
meisten  sogar  als  die  wahrscheinlichere  und  näherliegende  erscheinen. 
Eine  derartige  Erklärung  würde  jedoch  dem  Grundsatze  des  Aprioris- 
mus zuwiderlaufen.   Man  muß  also  in  der  Struktur  des  Menschen- 
geistes irgend  etwas  ursprünglich  Gegebenes  annehmen,  das  ihn  zu 
seinem  schöpferischen  Denken  befähigt.  Er  besitzt  diese  Gabe  vielleicht, 
weil  er  ein  Teil  des  göttlichen  Geistes  ist.  Ich  muß  offen  sagen,  daß  ich 
persönlich   in  solchen  Hypothesen  nichts  Unwissenschaftliches  sehe, 
jedenfalls  aber  sind  derartige  Begründungen  nicht  mehr  erkenntnis- 
kritisch, sondern  metaphysisch  und  dogmatisch.     Eine  latente  Meta- 
physik steckt  aber  in  jedem  Apriorismus.  Darauf  habe  ich  auf  dem 
Heidelberger  Philosophenkongreß  bereits  hingewiesen  *),  und  das  hat 
auch  jüngst  einer  der  angesehensten  Vertreter  des  Apriorismus  zu- 
gegeben. Windelband,  der  einen  Apriorismus  anderer  Art  vertritt,  sagt 
in  der  oben  zitierten  Abhandlung  über  die  Prinzipien  der  Logik  (Enzy- 
klopädie der  philosophischen  Wissenschaften,  L,  S.  4),  es  sei  begreif- 
lich,  daß   die   metalogische    Spekulation    keinen    anderen   Weg   ein- 
schlagen   kann,     als    den    einer    spiritualistischen    Meta- 
physik. 

Ein  charakteristisches  Merkmal  des  Apriorismus  ist  ferner  seine 
entschiedene  Gegnerschaft  gegen  jede  psychologische  Aufhel- 


*)   Verhandlungen   des   3.   internationalen   Kongresses    für    Philosophie    in 
Heidelberg,  1908,  S.  806  ff. 


56  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

hing  des  Erkenntnisprozesses.  Manche  Vertreter  dieser  Richtung  gehen 
darin  so  weit,  dal)  sie  jeden  Psychologismus  nicht  nur  aufs 
schärfste  bekämpfen,  sondern  diesen  Standpunkt  als  eine  philosophische 
Minderwertigkeit,  als  einen  intellektuellen  Defekt  betrachten.  Dadurch 
aber  versperren  sie  sich  und  anderen  den  Weg  zu  wirklich  frucht- 
bringenden Untersuchungen.  Hier  liegt,  glaube  ich,  eine  Selbst- 
täuschung der  kritischen  Idealisten  vor.  Schließlich  gründen  sich  ihre 
Behauptungen  und  Darlegungen  doch  auf  nichts  anderes,  als  auf  ihre 
eigenen,  tief  innerlichen  Denkerlebnisse.  Das  aber  sind  in 
letzter  Linie  doch  immer  wieder  psychologisch  gefundene  Tatsachen. 
Wenn  es  einem  hervorragenden  Denker  dann  gelingt,  eine  Schule  zu 
munden,  dann  bestärken  sich  die  Anhänger  gegenseitig  in  ihren  Über- 
zeugungen  und  das  individuelle  psychische  Erlebnis  wird  zu  einer 
seelischen  Verdichtung,  die  objektive  Geltung  zu  haben  scheint.  Der 
\nti-Psychologismus  der  Aprioriker  steht  also  mit  ihrem  eigenen  Ver- 
fahren im  Widerspruch  und  wirkt  überdies  bahnsperrend,  da  er 
die  wichtigsten  Probleme,  welche  die  psychologische  Betrachtung  des 
1  rkenntnisprozesses  zutage  fördern  könnte,  verhüllt  und  verdeckt. 

Der  erkenntniskritische  Idealismus  vermag  also  weder  in  seiner 
phänomenalistischen,  noch  in  seiner  apriorischen  Richtung  eine  be- 
friedigende Lösung  des  Erkenntnisproblems  zu  geben.  Der  Phänome- 
nalismus nicht,  weil  er,  wie  gezeigt  wurde,  zum  Solipsismus  führt. 
Der  Apriorismus  nicht,  weil  er  der  sinnlichen  Wahrnehmung  nicht 
gerecht  wird,  weil  er  auf  uneingestandenen  metaphysischen  Voraus- 
setzungen beruht  und  dadurch  dogmatisch  wird,  und  endlich  auch  des- 
halb nicht,  weil  er  durch  seine  Gegnerschaft  gegen  die  Psychologie  das 
I  »enken  vollkommen  isoliert,  aus  dem  Lebenszusammenhang  reißt  und  so 
die  wichtigste  Quelle  der  Aufklärung  über  das  Wesen,  die  Entstehung 
und  Bedeutung  der  menschlichen  Erkenntnis  verstopft  und  verschüttet. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  eine  solche,  dem  gesunden  Menschen- 
verstand widerstrebende,  im  praktischen  Leben  auch  für  den  Idealisten 
nicht  durchführbare  Deutung  des  Erkenntnisprozesses  entstehen 
konnte.  Wir  haben  bereits  oben  gesehen,  daß  die  Erkenntniskritik  mit 
der  Konstatierung  des  subjektiven  Faktors  beginnt,  und  daß  im  Laufe 
ihrer  Entwicklung  dieser  subjektive  Faktor  immer  größer  und  größer 
i  einen,  bis  endlich  der  objektive  Faktor  ganz  eliminiert  wurde. 

Daß  dies  geschehen  konnte,  gründet  sich  auf  eine  Tatsache,  die 
ich  schon  anderswo  hervorgehoben  habe*).  Alle  Triebe  des  Menschen 
haben  eine  Tendenz,  sich  weiter  zu  entwickeln,  als  es  die  Lebenserhal- 
tung selbst  fordert.  Der  Erkenntnistrieb  ist,  wie  wir  unten  zeigen  wer- 
den, aus  dem  Selbsterhaltungstrieb  entstanden,  hat  sich  aber  weiter  ent- 
wickelt und  nach  und  nach  das  gewaltige  Gebäude  der  theoretischen 
Wissenschaft  errichtet.  Es  kann  nun  vorkommen,  daß  einzelne  Organe 
und  Funktionen  unseres  Organismus  durch  übermäßige  Betätigung 
»ich  auf  Kosten  der  anderen  Organe  und  Funktionen  so  weit  entwickeln, 
daß  dadurch  eine  Schädigung  des  Ganzen  entsteht.  Wir  sprechen  dann 
i  einer  Hypertrophie  des  betreffenden  Organes  oder  der  be- 

>  Vgl   Jerusalem,  Urteilsfunktion,  S.  232. 


§  21.  Der  kritische  Realismus  57 

treffenden  Funktion.  So  gelangen  z.  B.  bei  leidenschaftlichen  Turnern 
oft  einzelne  Muskeln  zur  Hypertrophie.  Der  erkenntniskritische  Idealis- 
mus hat  nun  die  abstrakte  Spekulation  einseitig  gepflegt,  hat  das 
Denken  isoliert,  aus  seinem  Lebenszusammenhang  herausgerissen  und 
so  immer  mehr  positive  Erkenntnisse  aus  der  eigenen  Vernunft  heraus- 
zuspinnen  versucht.  Ohne  Rücksicht  auf  die  anderen  seelischen  Vor- 
gänge betrachtete  er  das  theoretische  Denken  als  die  allein  maßgebende 
Funktion  und  stellt  sich  somit  dar  als  eine  Hypertrophie  des 
Erkenntnistriebes.  Diese  durchaus  ungesunde,  das  Erkennt- 
nisorgan  und  die  gesamte  geistige  Entwicklung  schädigende  Hyper- 
trophie muß  zur  Rückbildung  gebracht  werden.  Es  ist  deshalb  höchste 
Zeit,  daß  wir  zur  Anschauung  des  gesunden  Menschenverstandes  zu- 
rückkehren, die  Welt  mit  den  Menschen,  die  darin  wohnen,  als  selbstän- 
dig und  unabhängig  vom  erkennenden  Subjekte  existierende  Wesen- 
heiten betrachten,  der  Erfahrung  ihr  Recht  werden  lassen  und  das  Er- 
kennen als  einen  Teil  des  Lebens  erfassen  lernen,  des  Lebens,  dem  die 
Erkenntnis  entspringt  und  dem  sie  zu  dienen  berufen  ist.  Das  aber  ist 
der  Standpunkt  des  kritischen  Realismus. 

§  21.  Der  kritische  Realismus 

Der  kritische  Realismus  nähert  sich  der  Anschauung  des  gesun- 
den Menschenverstandes.  Er  unterscheidet  sich  vom  naiven  Realis- 
mus, indem  er  den  Glauben  an  die  reale  Existenz  der  wahr- 
genommenen Welt  nicht  ungeprüft  hinnimmt,  sondern  sich  diesen 
Glauben  durch  Überwindung  der  Gegenargumente  erarbeitet  und  den- 
selben nach  den  Forderungen  der  Erkenntniskritik  modifiziert. 

Vom  Standpunkte  des  kritischen  Realismus  sind  die  Vorgänge  in 
der  Natur  und  im  menschlichen  Bewußtsein  objektiv  vorhanden  und 
existieren  ganz  unabhängig  vom  erkennenden  Subjekte.  Was  wir  mit 
objektiver  Gewißheit  oder  Wahrscheinlichkeit  wahrnehmend  und  den- 
kend erkennen,  das  ist  ein  Produkt  aus  einem  objektiven,  von  uns  un- 
abhängigen Faktor  und  unserer  eigenen  physischen  und  psychischen 
Organisation.  Die  Data  unserer  Sinne  sind  auch  für  den  kritischen 
Realismus  nur  Erscheinung,  aber  sie  sind  Erscheinung  von  etwas  Wirk- 
lichem, selbständig  Existierendem.  Das  Blatt  ist  grün,  heißt  im  Sinne 
des  kritischen  Realismus  soviel  als :  Dieses  Blatt  besitzt  die  Eigenschaft, 
in  einem  menschlichen  Auge  unter  entsprechender  Beleuchtung  die 
Farbenempfindung  Grün  hervorzurufen.  Grün  ist  ohne  ein  Auge,  das 
sieht,  ganz  inhaltslos,  allein  die  Bedingungen  zur  Grünempfindung 
bleiben  auch  ohne  Licht  und  Auge  bestehen.  Diese  Bedingungen 
kommen  dem  Blatte  objektiv  zu. 

Der  kritische  Realismus  sagt  nicht  wie  der  naive:  Die  Dinge  sind 
s  0,  wie  sie  uns  erscheinen,  sondern  er  sagt :  Sie  sind  auch  so. 
Was  wir  wahrnehmen  und  denkend  erkennen,  das  ist  eine  Seite 
des  wirklichen,  unabhängig  von  uns  sich  voll- 
ziehenden Geschehens,  und  zwar  die  einzige  uns  zugäng- 
liche, aber  auch  die  einzige  für  uns  bedeutungsvolle  Seite.  Wie  die- 
selben Vorgänge  einem  anders  organisierten  Wesen  erscheinen  mögen. 


I  rkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

das  isl  allerdings  nicht  auszuklügeln,  allein  es  läßt  sich  gar  nicht 
sagen,  wie  gleichgültig  das  für  uns  ist.  Das  „Ding  an  sich"  Kants  ist 
also  nicht  vollständig  unerkennbar,  es  bietet  uns  vielmehr  die  uns  zu- 
gängliche  Seite  dar,  und  die  Forschung  ist  bemüht,  immer  neue  Seiten 
zugänglich  zu  machen. 

Die  Röntgen-Strahlen  waren  für  das  Auge  unerkennbar,  und  doch 
ist  ihre  1  xistenz  durch  ihre  so  merkwürdige  Wirkung  erkannt  worden. 
So  werden  gewiß  noch  viele  in  der  Natur  vorhandene  Kräfte  ihr  Dasein 
dem  Forscher  durch  ihre  Wirkungen  verraten  und  damit  werden  neue 
Seiten  des  „Dinges  an  sich"  der  Menschheit  offenbar  werden. 

Der  kritische  Idealismus  läßt  die  Fragen  nach  der  Entstehung  und 
I  ntwicklung  der  Erkenntnis  unerörtert,  weil  es  ihm  um  die  Festlegung 
der  Bedingungen  ihrer  objektiven  Geltung  und  um  die  Betonung  ihres 
apriorischen  Charakters  zu  tun  ist.  Der  kritische  Realismus  hingegen 
läßt  kein  a  priori  gelten,  sondern  stützt  sich  ganz  auf  die  Erfahrung 
und  ist,  wie  bereits  gesagt  wurde,  deshalb  zugleich  Empirismus.  Hier 
erhebt  sich  nun  die  Frage,  aus  welchen  Elementen  Erfahrung  b  e- 
steht  und  entsteht,  wie  sie  sich  weiter  entwickelt,  in  welchem  Zu- 
sammenhang die  Erkenntnis  mit  den  anderen  Kulturfaktoren  des 
menschlichen  Lebens  steht,  und  welches  die  letzten  Ziele  des  mensch- 
lichen Erkennens  sind.  Mit  diesen  Problemen  aber  beschäftigt  sich, 
wie  oben  gesagt  wurde,  die  Erkenntnistheorie. 

§  22.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Erkenntnistheorie 

Die  Erkenntnistheorie  hat  die  Aufgabe,  Ursprung  und  Entwick- 
lung der  menschlichen  Erkenntnis  zu  untersuchen  und  dabei  die  ele- 
mentaren Vorgänge  zu  bestimmen,  aus  denen  sich  der  sehr  komplizierte 
I  rkenntnisprozeß  zusammensetzt. 

Von  der  Erkenntniskritik  unterscheidet  sich  die  Erkenntnistheorie 
dadurch,  daß  die  Kritik  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis 
aufwirft,  während  die  Theorie  die  Tatsache,  daß  erkannt  wird,  voraus- 
setzt, dieselbe  in  ihrer  Entwicklung  und  ihrer  Gesetzlichkeit  zu  er- 
forschen und  auch  den  Zusammenhang  des  Erkennens  mit  dem  übrigen 
Seelenleben  bloßzulegen  unternimmt.  Mehrfach  fallen  jedoch  beide 
philosophischen  Disziplinen  zusammen.  Sie  haben  die  Frage  nach  den 
i  neu/eil  menschlicher  Erkenntnis  gemeinsam  und  werden  daher  viel- 
lach in  eine  Disziplin  zusammengefaßt.  Die  von  uns  eingeführte  Tren- 
nung dürfte  dazu  beitragen,  das  Verständnis  der  Probleme  zu  er- 
leichtern. 

Die  Erkenntnistheorie  ist  in  der  Geschichte  der  Philosophie  später 
aufgetreten  als  die  Erkenntniskritik.  Schon  die  Eleaten  und  nach  ihnen 
die  Atomistiker  (fünftes  Jahrhundert  v.  Chr.)  haben  die  Erkenntnis- 
fähigkeit der  Sinne  geleugnet,  aber  keinen  Versuch  gemacht,  die  Ent- 
stehung der  Erkenntnis  zu  erklären.  Noch  energischere  Kritik  finden  wir 
bei  dm  sogenannten  Cyrenaikern  (viertes  Jahrhundert  v.  Chr.),  welche 
Fast  schon  den  Phänomenalismus  lehren.  Dagegen  ist  ein  nennenswerter 
Versuch,  Ursprung  und  Entwicklung  der  Erkenntnis  zu  erklären,  erst 
von  Aristoteles  unternommen  worden,  aber  gleich  in  umfassender  Weise. 


§  23.  Der  Sensualismus  59 

Ebenso  haben  die  Stoiker  die  Entstehung  der  Erkenntnis  untersucht 
und  nach  dem  Kriterium  der  Wahrheit  gefragt. 

Dennoch  blieb  es  erst  der  neueren  Zeit  vorbehalten,  eine  wissen- 
schaftliche Erkenntnistheorie  auszubilden.  John  Locke  (1632—1704) 
hat  hier  den  mächtigsten  Anstoß  gegeben,  und  Berkeley  sowie  Hume 
haben  weitergearbeitet.  Kant  ist  auch  da  von  grundlegender  Bedeu- 
tung, indem  er  die  Unentbehrlichkeit  erkenntnistheoretischer  Unter- 
suchung für  alle  Zeit  festgestellt  hat. 

In  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  hat  Kant  zwei  Quellen  der 
Erkenntnis  scharf  voneinander  gesondert,  schärfer  vielleicht,  als  es  der 
psychologische  Tatbestand  zulässig  erscheinen  läßt.  Es  sind  dies 
Sinnlichkeit  und  Verstand.  Diese  Zweiteilung  ist  maßgebend 
für  die  Hauptrichtungen  der  Erkenntnistheorie. 

Auf  die  Frage,  woher  unsere  Erkenntnis  stamme,  sind  zunächst 
zwei  verschiedene  Antworten  gegeben  worden.  Die  eine  bezeichnet  die 
Sinne  als  die  wichtigste,  ja  als  die  einzig  zuverlässige  Erkenntnis- 
quelle. Diese  Denkrichtung  heißt  Sensualismus.  Die  andere 
meint,  bloß  durch  abstraktes,  begriffliches  Denken  seien 
sichere  Erkenntnisse  zu  gewinnen,  während  die  Sinne  nur  chaotische, 
verworrene  Eindrücke  liefern.  Diese  Denkrichtung  pflegt  man  Ratio- 
nal i  s  m  u  s  zu  nennen.  Da  jedoch  dieser  Terminus  vielfach  in  anderem 
Sinne  gebraucht  wird,  indem  man  darunter  die  vernunftgemäße  Er- 
klärung der  Wundererscheinungen  versteht,  so  wird  es  sich  empfehlen, 
die  dem  Sensualismus  entgegengesetzte  erkenntnistheoretische  Richtung 
lieber  als  Intellektualismus  zu  bezeichnen. 

Neben  diesen  einseitigen  Richtungen  macht  sich  immer  mehr  die 
Überzeugung  geltend,  daß  Erkenntnis  durch  das  Zusammenwir- 
ken von  Wahrnehmen  und  Denken  zustande  komme.  Für  diese  kom- 
binierende Richtung,  die  gewiß  allein  den  Tatsachen  entspricht,  hat 
sich  kein  bestimmter  Terminus  herausgebildet,  was  begreiflich  ist,  da 
innerhalb  derselben  die  verschiedensten  Anschauungen  Platz  finden. 

Alle  bisherigen  Erkenntnistheorien  haben  sich  darauf  beschränkt, 
Ursprung  und  Entwicklung  der  Erkenntnis  im  Menschen  als  Einzel- 
wesen zu  untersuchen,  das  heißt  insofern  der  Mensch  seiner  Umgebung 
gegenübersteht  und  auf  die  Reize  reagiert,  die  auf  ihn  einströmen.  Die 
moderne  Völkerkunde  macht  es  aber  unzweifelhaft,  daß  nicht  nur  für 
die  Mitteilung,  sondern  auch  für  das  Zustandekommen  der  Erkenntnis 
das  Zusammenleben  und  der  Verkehr  von  großer  Bedeutung  sind.  In 
bezug  auf  die  Sprache  ist  dies  längst  erkannt  und  die  erkenntnistheo- 
retische Bedeutung  der  Sprache  ist  eingehend  untersucht  worden.  Aber 
auch  sonst  gibt  es  zweifellos  einen  sozialen  F  a  k  t  o  r  in  der  Er- 
kenntnisentwicklung, mit  dessen  Untersuchung  sich  die  Wissenschaft 
noch  lange  nicht  ausreichend  beschäftigt  hat. 

§  23.  Der  Sensualismus 

Sensualistisch  ist  in  gewissem  Sinne  der  nicht  philo- 
sophierende Verstand,  insofern  dieser  als  sicherste  Quelle  der  Erkennt- 
nis  die   sinnliche   Wahrnehmung   betrachtet.    Das   griechische   Wort 


50  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

oida  =  „ich  weiß"  ist  eine  Perfektbildung  vom  Stamme  id,  welcher 
„sehen"  bedeutet.  Wissen  ist  demnach  für  das  griechische  Volksbewußt- 
sein  ursprünglich  soviel  als  „gesehen  haben".  Ein  interessanter  Beleg 
für  diese  volkstümliche  Auffassung  ist  die  Stelle  in  Homers  Ilias,  II, 
48  1  ii  ,  wo  der  Dichter  die  Musen  anruft,  die  bei  allem  zugegen  waren 
und  es  datier  wissen.  Charakteristisch  für  diese  Denkstufe  ist  übrigens 
auch  die  Identifizierung  von  Wahrnehmen  und  Denken,  welch  letzteres 
als  eine  An  von  Siniieswahrnehmung  gilt.  Diese  Auffassung  findet  sich 
sogar  noch  in  der  älteren  griechischen  Philosophie. 

Sensualismus  im  philosophischen  Sinne  ist  jedoch  erst  da  vor- 
handen, wo  die  Sinne  allein  im  Gegensatze  zum  Verstände  als  einzige 
Erkenntnisquelle  betrachtet  werden.  Sensualist  in  diesem  Sinne  ist  der 
Sophist  Protagoras  (gest.  411  v.  Chr.),  welcher  gegenüber  der  Ver- 
werfung  des  Sinnenzeugnisses  durch  die  Eleaten  entschieden  ausspricht, 
daß  nur  das  existiert,  was  wir  sinnlich  wahrnehmen,  und  der  sogar  die 
Wahrheit  geometrischer  Sätze  bestreitet,  wenn  dieselben  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  zu  widersprechen  scheinen  *). 

In  neuerer  Zeit  hat  John  Locke  den  Sensualismus  wieder  auf- 
genommen, indem  er  auf  den  sinnlichen  Ursprung  aller  Erfahrung  hin- 
wies. Dadurch  aber,  daß  Locke  auch  eine  innere  Wahrnehmung  (reflec- 
tion)  zugibt,  ist  sein  Sensualismus  nicht  mehr  ganz  rein.  Der  aus- 
gesprochenste Sensualist  in  der  neueren  Philosophie  ist  der  Franzose 
Condillac  (1715 — 17S0).  Nach  Condillac  hat  die  Seele  nur  ein  ein- 
ziges Vermögen,  nämlich  das  der  sinnlichen  Empfindung,  aus  welchem 
sich  die  komplizierteren  Denkprozesse  entwickeln.  Condillac  bedient  sich 
zur  Veranschaulichung  seiner  Theorie  der  Fiktion  einer  Statue,  welche 
nach  und  nach  die  verschiedenen  Sinne  erhält.  Zuerst  bekommt  sie  den 
1  ieruchssinn  und  zuletzt  den  Tastsinn,  welcher  die  Vorstellung  der 
Außenwelt  erzeugt. 

Nachdem  der  Sensualismus  durch  die  großen  intellektualistischen 
Systeme  von  Kant,  Fichte,  Schell ing,  Hegel  eine  Zeitlang  vollständig 
verdrängt  worden  war,  kommt  er  in  der  modernen  Wissenschaft  und 
Philosophie  wieder  einigermaßen  zur  Geltung.  Die  Überzeugung,  daß 
die  sinnliche  Wahrnehmung  die  letzte  Quelle  aller  Erfahrung  bilde, 
wird  immer  allgemeiner.  Wenn,  wie  Kirchhoff  und  Mach  wollen,  die 
Wissenschaft  nur  die  Aufgabe  hat,  dieTatsachenzubeschrei- 
ben,  und  nach  Machs  Formulierung  nichts  anderes  ist  als  ökono- 
misch geordnete  Erfahrun g,  so  ist  dies  in  gewissem  Sinne 
Sensualismus.  Wenn  sich  nun  zeigen  läßt,  daß  auch  das  wichtigste 
Denkmittel,  das  zur  Beschreibung  und  ökonomischen  Ordnung  ver- 
wendet wird,  nämlich  die  Mathematik,  selbst  wieder  in  letzter  Linie  auf 
sinnliche  Anschauung  zurückgeht,  so  wird  die  Auffassung  noch  sen- 
Mialistischer.  In  der  Tat  beruht  die  Geometrie,  trotz  aller  neueren 
Bestrebungen,  die   Anschaulichkeit  aus  ihr  zu  entfernen,   in  letzter 

)  Die  hier  zugrunde  gelegte  Auffassung  von  Profasjnras'  Lehren  weicht 
von  der  üblichen,  in  den  meisten  Geschichten  der  Philosophie  enthaltenen 
wesentlich  ab.  Vj,ri.  darüber  Gomoerz,  Griechische  Denker,  Band  I,  S.  362  f.,  und 
W.  Jerusalem,  Zur  Deutung  des  Homo-mensura-Satzes  in  „Eranos  Vindobonen- 
sis"  (18  153  if. 


§  24.  Der  Intellektualismus  61 

Linie  doch  nur  auf  sinnlicher  Wahrnehmung.  Aber  auch  die  ganz 
abstrakte  Arithmetik  wäre  nicht  möglich,  wenn  nicht  kleine  gleich- 
zahlige  Gruppen  von  Objekten  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  als 
einheitliche  Inbegriffe  erkannt  worden  wären.  Der  Sensualismus  hat 
auch  sicherlich  darin  recht,  daß  er,  soweit  physische  Phänomene  in  Be- 
tracht kommen,  die  Sinneswahrnehmung  als  ursprünglichste  Quelle 
und  letzte  Instanz  der  Erfahrung  ansieht.  Er  übersieht  aber  einerseits, 
daß  daneben  in  der  Beobachtung  der  selbst  erlebten  psychischen  Phäno- 
mene eine  zweite,  nicht  minder  sichere  Quelle  der  Erfahrung  gegeben 
ist,  und  daß  anderseits  in  die  sinnliche  Wahrnehmung  unbemerkt 
höhere,  das  heißt  kompliziertere  psychische  Phänomene  mit  einfließen. 

§  24.  Der  Intellektualismus 

Die  Tatsache  der  Sinnestäuschungen,  sowie  die  der  individuellen 
Verschiedenheit  von  Sinneseindrücken  hat  die  Philosophie  früh  dazu 
geführt,  die  Sinne  nicht  als  reine  Erkenntnisquelle  zu  betrachten.  Viel- 
mehr glaubte  man,  durch  abstraktes,  von  der  Sinnenwelt  ab- 
gekehrtes, sich  in  sich  selbst  versenkendes  Denken  das 
wahre  Wesen  der  Dinge  mit  Sicherheit  erfassen  zu  können.  Der  Intel- 
lektualismus hat  sich  infolgedessen  früh  ausgebildet. 

Wie  schon  öfters  bemerkt  wurde,  glaubten  die  E  1  e  a  t  e  n,  daß 
nur  durch  unsinnliches  Denken  die  wahre  Welt  erkannt  werde. 
Ihren  Spuren  folgt  Piaton,  bei  dem  noch  die  Vorstellung  dazu  kommt, 
daß  die  Seele  im  Körper  wie  in  einem  Gefängnis  wohne,  daß  sie  durch 
Berührung  mit  Körperlichem  verunreinigt  werde,  und  daß  nur  durch 
vollständige  Abkehr  von  der  Körperlichkeit  wahre  Er- 
kenntnis möglich  werde. 

Im  Anschluß  an  diese  Auffassung  Piatons  erklärt  der  heilige 
Augustinus,  unser  Geist  wisse  nichts  so  gewiß  als  das,  was  ihm  gegen- 
wärtig sei,  und  nichts  sei  ihm  so  gegenwärtig  wie  er  sich  selbst.  (Nihil 
tarn  novit  mens,  quam  id,  quod  sibi  praesto  est,  nee  menti  magis  quid- 
quam  praesto  est,  quam  ipsa  sibi.  De  trinitate  14,  7.)  Diesen  Gedanken 
machte  dann  Descartes  zur  Grundlage  aller  Philosophie,  indem  er  das 
Wissen  vom  eigenen  Denken  als  die  einzig  gewisse,  ganz  unbezweifel- 
bare  Tatsache  hinstellt.  Am  meisten  wurde  aber  die  in  den  Behaup- 
tungen des  heiligen  Augustinus  und  in  dem  Satze  von  Descartes 
(cogito,  ergo  sum)  enthaltene  intellektualistische  Auffassung  des  Er- 
kenntnisprozesses gefördert  durch  die  allmähliche  Verbreitung  der 
kopernikanischen  Weltanschauung.  Wer  diese  aner- 
kannte, der  mußte  zugeben,  daß  das  Zeugnis  der  Sinne,  welches  uns 
sagt,  daß  die  Erde  ruht,  und  daß  die  Sonne  täglich  auf-  und  nieder- 
geht, gegenüber  der  sieghaften  Macht  des  kopernikanischen  Gedankens 
nicht  aufrecht  erhalten  werden  könne.  Die  aufblühende  Mathematik 
des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts,  in  der  die  unanschau- 
liche Arithmetik  sich  mächtiger  erwies  als  die  anschauliche  Geometrie, 
trug  ebenfalls  viel  dazu  bei,  das  abstrakte  Denken  als  Erkenntnisquelle 
über  die  Sinne  zu  stellen.  Die  Quelle  dieser  so  unzweifelhaft  gewissen 
mathematischen  Urteile  suchte  damals  niemand  in  der  sinnlichen  An- 


62  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

schauung,  sondern  man  glaubte  allgemein,  daß  hier  die  Vernunft  ganz 
aus  sich  selbsl  schöpfe  und  rinn  deshalb,  weil  sie  ganz  unbeeinflußt 
bleibe  m  Blendwerk  der  1  rscheinung,  mit  so  absoluter  Sicherheit 

arbeite. 

Kants  Verdiene  bleibt  es,  nach  der  Berechtigung  dieses  Glaubens 
zum  erstenmal  gefragt  zu  haben.  „Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?" 
laul  te  I  ragestellung  und  die  Antwort  fällt  nicht  ganz  intellek- 

tualistisch  aus.  Die  Sinne  liefern  nach  Kants  Überzeugung  den  Stoff 
der  1  rkenntnis  und  regen  erst  dadurch  den  Verstand  zur  Ausübung 
der  ihm  angeborenen  Funktionen  an.  Erkenntnis  kommt  aber  doch  erst 
dadurch  zustande,  daß  der  von  den  Sinnen  gelieferte  Stoff  vom  Ver- 
sande geformt  wird.  Der  Verstand  erteilt  der  Natur  seine  eigene  Ge- 
setzmäßigkeit und  wird  dadurch  nach  Kants  bekanntem  Ausspruch 
um  Gesetzgeber  der  Natur.  Kant  geht  aber  noch  einen  wichtigen 
Sehritt  weiter.  Der  Verstand  hat  nach  ihm  das  Recht,  mit  seinen  Stamm- 
begritten  (  Kategorien)  über  die  anschauliche  Grundlage  hinaus  weiter 
u  operieren,  wobei  „der  Gedanke  vom  Objekt  übrigens  noch  immer 

e  wahren  und  nützlichen  Folgen  auf  den  Vernunftgebrauch  des 
Subjektes  haben  kann".  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  §  27,  III, 
135  in  der  Harte/iste irischen  Ausgabe.)  Von  dieser  partiellen  Voll- 
macht, die  hier  Kant  dem  Verstände  erteilt,  hat  dann  Hegel  einen  so 
;ui\giebigen  Gebrauch  gemacht,  daß  der  Intellekt  nicht  mehr  bloß  der 

-etzgeber,  sondern  geradezu  der  Schöpfer  der  Natur  wurde.  Das 
Wesen  der  Welt  ist  nach  Hegel  geistig  und  unsere  Begriffe  stellen  in 
ihrer  dialektischen  Entwicklung  das  Weltgeschehen  dar. 

Damit  ist  der  Intellektualismus  auf  die  Spitze  getrieben,  und  unser 
Denken  hat  sich  von  seiner  stofflichen  Grundlage,  der  Sinneswahr- 
nehmung, ganz  entfernt.  Es  ist  demgemäß  nur  natürlich,  daß  unsere 
Denkrichtung  wieder  scnsualistischer  geworden  ist. 

Der  Intellektualismus  hat  zweifellos  darin  recht,  daß  jede  Sinnes- 
wahmehmung  von  unserem  Verstände  geformt  werden  muß,  damit 
wahre  und  brauchbare  Erkenntnis  entstehe.  Diese  formende  und 
b  e  z  i  e  h  e  n  d  e  T  ä  t  i  g  k  e  i  t  des  Denkens  hat  im  Laufe  der  Zeit  zahl- 
reiche Formen  und  Denkmittel  geschaffen,  die  uns  gleichsam  in  Fleisch 
und  Blut  übergegangen  sind.  Solche  sind  unter  anderen  der  Begriff 
des  Dinges  mit  mehreren  Merkmalen  oder  Substanz  und  Attri- 
b  u  t,  und  ein  solches  ist  ferner  der  Kausalbegriff,  den  wir  auf 
jedes  Geschehen  anzuwenden  nicht  umhin  können.  Da  geschieht  es  nun 
leicht,  daß  man  solche  Begriffe  als  Ur  besitz  des  Verstandes  an- 

.t  und  Für  angeboren  hält.  Die  Annahme  angeborener  Stammformen 

r  Kategorien  hat  aber  immer  sehr  viel  Mißliches  und  enthält  starke 
l  fnbegreiflichkeiten.  Deswegen  muß  an  die  Stelle  solcher  Annahmen  die 

Metische  Analyse  der  formenden  Verstandes- 
tätigkeil  treten,  um  den  erfahrungsmäßigen  Ursprung  jener 
Formen  zu  ermitteln. 

Bevor  wir  jedoch  diese  Analyse  selbst  vornehmen,  müssen  wir  noch 
auf  einige  andere  Richtungen  der  Erkenntnistheorie  aufmerksam 
machen,  die  neben  dem  Sensualismus  und  Intellektualismus  hervor- 
getreten  sind.  Unter  dem  Einfluß  religiöser  Bedürfnisse  hat  sich  bei 


§  25.  Der  Mystizismus  und  die  Intuition  63 

alten  und  neueren  Denkern  der  Glaube  ausgebildet,  daß  der  Mensch 
außer  den  Sinnen  und  dem  Verstände  noch  eine  eigene  Art  innern 
Sehvermögens  besitze,  das  ihn  befähigt,  das  Übersinnliche  un- 
mittelbar zu  erkennen  und  sich  mit  ihm  zu  verbinden.  Die  religiös- 
philosophische Denkrichtung,  die  von  solchem  Glauben  erfüllt  ist,  nennt 
man  im  allgemeinen  „Mystizismu  s".  Für  das  innere  Schauen,  das 
die  Anhänger  dieser  Richtung  zu  erleben  glauben,  ist  das  Wort  „I  n- 
t  u  i  t  i  o  n"  der  übliche  Ausdruck  geworden.  In  neuerer  Zeit  nun  wurde 
versucht,  die  Intuition  ihres  mystischen  Charakters  zu  entkleiden  und 
zu  einer  wissenschaftlich-philosophischen  Erkenntnisquelle  zu  gestalten. 
Wir  besprechen  diese  Denkrichtung  deshalb  unter  der  Überschrift 
„Mystizismus  und  Intuition". 

§  25.  Der  Mystizismus  und  die  Intuition 

Von  Piaton  wird  öfter  der  Gedanke  ausgesprochen,  daß  die 
menschliche  Seele,  bevor  sie  mit  dem  Körper  vereinigt  war,  oder  wenn 
sie  sich  von  ihm  durch  gewaltige  innere  Anstrengung  loslöst,  absolut 
gewisse  und  wahre  Erkenntnisse  besitzt.  Wir  wissen  vieles,  was  wir  im 
Leben  aus  der  Erfahrung  nicht  gelernt  haben,  und  dieses  Wissen  ist 
nichts  anderes  als  eine  E  r  i  n  n  e  r  u  n  g,  die  die  Seele  aus  der  Zeit  her 
bewahrt,  wo  sie  noch  nicht  in  das  Gefängnis  des  Körpers  eingekerkert 
war.  Piaton  hat  diese  Lehre  von  der  seit  dem  sechsten  Jahrhundert 
v.  Chr.  in  Griechenland  verbreiteten  Sekte  der  Orphiker  übernommen 
und  philosophisch  weiter  entwickelt.  Der  Wunsch  aber,  die  Seele  vom 
Körper  loszulösen,  geht  aus  tiefem  religiösen  Bedürfnis  hervor  und  hat 
tiefgehende  religiöse  Bewegungen  hervorgerufen.  Die  Orphiker  haben 
in  ihren  Geheimkulten  oder  Mysterien  zum  Zwecke  der  Erlösung 
der  Seele  nach  dem  Tode  viele  Zeremonien  ausgebildet  und  Gedanken 
entwickelt,  die  uns  im  Christentum  wieder  begegnen. 

Die  Neupythagoreer  und  Neuplatoniker,  die  vom  ersten  Jahrhun- 
dert v.  Chr.  an  in  der  griechischen  und  römischen  Welt  großen  Einfluß 
gewannen,  haben  dann  den  Mystizismus  zu  einem  philosophischen 
System  ausgestaltet.  Der  weitaus  bedeutendste  Vertreter  dieser  Rich- 
tung ist  Plotin  (204—269  n.  Chr.).  In  den  54  Abhandlungen  Plotins, 
die  sein  Schüler  Porphyrius  in  sechs  „Enneaden"  (das  heißt  Bücher, 
die  aus  neun  Aufsätzen  bestehen)  geordnet  hat,  liegt  ein  philo- 
sophisches System  von  großer  Tiefe  und  geschlossener  Einheit  vor  uns. 
Plotin,  der  mit  den  Lehren  des  Plato,  des  Aristoteles,  sowie  auch  der 
anderen  griechischen  Denker  gründlich  vertraut  ist,  betrachtet  die  Gott- 
heit oder  das  All-Eine  als  das  Urwesen,  aus  dem  in  steter  Stufenfolge 
der  Geist,  die  Ideen,  die  Seele  und  endlich  die  Sinnenwelt,  die  er  als 
ein  Nicht-Seiendes  ansieht,  hervorgehen.  Die  höchste  Erkenntnis  und 
zugleich  die  höchste  Seligkeit  erlangt  der  Mensch,  wenn  es  ihm  gelingt, 
seine  Seele  nicht  nur  über  die  Sinnenwelt,  sondern  auch  über  das 
Denken  emporzuheben  und  sich  ganz  mit  dem  Urwesen,  mit  dem  All- 
Einen  zu  verbinden.  In  diesem  Zustande  des  „Aus-sich-Heraustretens", 
der  „E  k  s  t  a  s  e",  den  Plotin  mehrmals  selbst  erlebt  zu  haben  berichtet, 
findet  die  Seele  ihr  tiefstes  Selbst,  ihr  Mittelpunkt  fließt  mit  dem  Mittel- 


64  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

punkt  der  Gottheit  in  Lins  zusammen,  hier  ist  ewige  Ruhe  und  innigstes 
Selbstgenießen.  Die  ergreifende  Schilderung,  die  uns  Platin  von  diesem 
Zustande  der  innigen  Berührung  der  Seele  mit  Gott  hinterlassen  hat 

(VI.  ">,  enthält  die  wichtigsten  Grundgedanken  der  philosophischen 
Mystik.  Im  Altertum  verdienen  neben  Ploün  noch  Jamblichus  und 
Proklus  genannt  zu  werden. 

Im  Mittelalter  entsteht  neben  der  dogmatischen,  in  ein  strenges 
1  ehrsystem  gebrachten  Theologie  der  katholischen  Kirche  aus  dem 
Bedürfnis  nach  vertiefter  persönlicher  Frömmigkeit  heraus  die 
überaus  gefühlsstarke  christliche  Mystik,  welche  durch  die 
über  alle  Fassungskraft  des  Verstandes  hinausgehenden  Glaubens- 
sätze  der  Trinität,  der  unbefleckten  Empfängnis,  der  Auferstehung 
mächtig  angeregt  wird,  nach  neuen,  tieferen  Quellen  der  Erkenntnis 
zu  suchen  und  ähnlich  wie  Ploün  in  der  auf  inneres  Schauen 
gegründeten  Vereinigung  mit  Christus  das  höchste  Ziel  menschlicher 
Erkenntnis  und  Seligkeit  erblickt.  Auch  die  jüdische  Geheimlehre  der 
Kabbala  strebt,  von  neuplatonischen  Gedanken  beeinflußt,  den  innigen 
Anschluß  an  Gott  (Dibbuk)  durch  Abkehr  vom  Irdischen,  durch 
strenges  Fasten  und  inniges  Gebet  herbeizuführen. 

Der  Aufschwung  der  exakten  Wissenschaften  im  siebzehnten  und 
achtzehnten  Jahrhundert  und  die  dadurch  entstandene  Aufklärung 
drängten  die  mystische  Gedanken-  und  Gefühlsrichtung  zwar  einiger- 
maßen zurück,  vermochten  sie  aber  keineswegs  ganz  zu  unterdrücken. 
Swedenborgs  Auftreten  im  achtzehnten  Jahrhundert  hat  selbst  auf  die 
aufgeklärtesten  Geister  seine  Wirkung  nicht  ganz  verfehlt.  In  der 
deutschen  Romantik  finden  wir  sehr  deutliche  Spuren  mystischer  Ge- 
danken und  Gefühlsrichtungen,  und  in  der  neuesten  Zeit  bildet  sich  so- 
gar eine  Art  wissenschaftlicher  Mystik  aus,  die  unter  dem  Namen 
Okkultismus  oder  Theosophie  auftritt  und  die  Fähigkeit  des 
Menschen,  sich  mit  einem  übersinnlichen  Geisterreich  in  Verbindung  zu 
setzen,  durch  eine  Art  methodischer  Forschung  zu  erweisen  sucht.  Die 
in  London  bestehende  „Society  for  Psychical  Research"  (S.  P.  R.),  das 
heißt  Gesellschaft  für  Seelenforschung,  wirkt  in  diesem  Sinne  und  hat 
schon  viele  Bände  solcher  Untersuchungen  publiziert. 

Die  Mystik  berührt  sich  nahe  mit  dem  künstlerischen 
S ch  a  f  f  e  n,  denn  auch  der  Künstler  muß  sich  lebhaft  in  den  Gegen- 
stand seiner  Darstellung  einfühlen,  sich  gleichsam  mit  demselben 
innerlich  vereinigen.  Ebenso  gibt  es  beim  Mystiker  wie  beim  Künstler 
eine  Art  inneren  Schauen  s,  eine  Intuition,  die  bei  beiden 
das  Resultat  einer  ungewöhnlichen  Steigerung  des  Innenlebens,  eine  Art 
von  Ekstase  ist.  Deshalb  konnte  auch  der  Mystiker  Du  Prel  ein  so 
schönes  Buch  über  die  Psychologie  der  Lyrik  schreiben. 

Die  philosophisch  bedeutsamste  Leistung  der  Mystik  ist  der 
I  linweis  auf  den  engen  Zusammenhang,  der  zwischen  dem  menschlichen 
Erkennen  und  den  anderen  Funktionen  des  Bewußtseins  besteht.  Der 
wissenschaftliche  Mensch  ist  nur  zu  leicht  geneigt,  das  Denken  zu  iso- 
lieren, der  Mystiker  zeigt  uns,  daß  Fühlen,  Wollen  und  Denken  aufs 
innigste  zusammenwirken.  Aber  auch  dem  Glauben  der  Mystiker  an  die 
Möglichkeit  eines  vom  Wahrnehmen  und  Denken  gleich  verschiedenen 


§  25.  Der  Mystizismus  und  die  Intuition  65 

inneren  Schauen  s,  auch  dem  Glauben  an  die  Intuition 
liegen  zweifellos  psychologische  Tatsachen  zugrunde.  In  neuerer  Zeit 
haben  zwei  sehr  verschiedene  Denker,  Spinoza  und  der  jetzt  in  der  Voll- 
kraft des  Schaffens  stehende  französische  Philosoph  Henri  Bergson 
auf  die  Intuition  als  philosophische  Erkenntnisquelle  hingewiesen.  Mit 
diesen  Auffassungen  wollen  wir  uns  ein  wenig  bekannt  machen. 

Spinoza  unterscheidet  mehrere  Arten  der  Erkenntnis  (gewöhnlich 
drei,  an  einer  Stelle  vier)  und  bezeichnet  die  intuitive  immer  als 
die  vollkommenste,  allein  anzustrebende.  Über  das  Wesen  dieser  Er- 
kenntnisart hat  er  sich  wiederholt  ausgesprochen,  aber  nirgends  so 
deutlich,  daß  sich  genau  und  bestimmt  sagen  ließe,  was  er  meint.  Er 
scheint  darunter  die  vollständige  geistige  Durchdringung  eines  wahren 
Urteils  zu  verstehen.  Die  intuitive  Erkenntnis  entsteht  aus  der  Ver- 
standeserkenntnis (Eth.  V.,  28),  geht  aber  weit  über  dieselbe  hinaus. 
Sie  wird,  wie  es  einmal  im  sogenannten  „Kurzen  Traktat"  heißt,  nicht 
durch  Überzeugung  aus  Vernunftgründen,  sondern  durch  Gefühl 
und  Genuß  der  Sache  selbst  vollzogen  und  ragt  weit  über  die 
anderen  Erkenntnisarten  empor  (Spinozas  Kurzer  Traktat,  her.  von 
Sigwart,  S.  64).  Je  mehr  Dinge  wir  so  unmittelbar  und  so  ganz  er- 
fassen, desto  mehr  lernen  wir  alles  „sub  specie  aeternitatis"  (in  der 
Form  der  Ewigkeit)  erkennen  und  werden  dadurch  zur  Erkenntnis  und 
Liebe  Gottes  geführt.  Obwohl  nun  der  mystische  Einschlag  in  Spinozas 
Philosophie  hier  nicht  zu  verkennen  ist,  so  glaubt  der  tiefe  und  einsame 
Denker  doch  nicht,  daß  zur  Intuition  eine  Art  von  Ekstase  oder  eine 
göttliche  Erleuchtung  gehört.  Anhaltendes  und  angestrengtes  Nach- 
denken genügt,  um  bei  jedem  Menschen,  der  ernstlich  will,  dieses  innere 
Erfassen  des  Wesens  der  Dinge  herbeizuführen.  Befreiung  der  Seele 
von  Affekten  und  Beschäftigung  mit  Mathematik  kann  jeden  Menschen 
zur  intuitiven,  das  heißt  vollkommen  klaren  Einsicht  in  das  Wesen  der 
Dinge  emporführen.  Weil  bei  Spinoza  Gott  das  sich  ewig  gleich 
bleibende  Wesen  der  Welt  darstellt,  kann  der  menschliche  Geist,  der 
eine  Erscheinungsweise,  ein  Modus  der  göttlichen  Substanz  ist,  durch 
inneres  Schauen  zu  einer  klaren  Einsicht  in  die  Natur  der  Dinge  ge- 
langen. Die  erkenntnistheoretische  Bedeutung  der  Intuition  beruht  in 
letzter  Linie  auf  der  metaphysischen  Grundansicht. 

Viel  deutlicher  ist  die  Intuition  als  eigenartige  Erkenntnisquelle 
von  Henri  Bergson  bestimmt  worden.  Dieser  tiefgründige  Denker  geht 
von  der  Ansicht  aus,  daß  der  menschliche  Verstand  gar  nicht  die  Auf- 
gabe hat,  die  Welt  zu  erkennen,  sondern  einzig  und  allein  darauf  ab- 
zielt, die  Mittel  und  die  Wege  für  das  menschliche  Handeln 
zu  finden.  Zu  diesem  Zwecke  muß  der  Verstand  die  Linie  in  Punkte, 
die  immer  fließende  Zeit  in  eine  Anzahl  zeitloser  Momente  und  die 
Bewegung  in  konstante  Beziehungen  auflösen.  Diese  zerlegende  und 
stabilisierende  Tätigkeit  gelingt  dem  menschlichen  Verstände  am  besten, 
wenn  er  es  mit  der  leblosen  Materie  und  mit  dem  ruhenden  Räume  zu 
tun  hat,  den  er  sich  zu  seinen  Zwecken  konstruiert.  Deshalb  sind 
Mathematik  und  Mechanik  die  exaktesten  und  vollkommensten  Wissen- 
schaften, die  ihren  Zweck,  die  Natur  dem  Menschen  zu  unterwerfen, 
am  vollkommensten  erfüllen.  Dagegen  ist  der  Verstand,  nach  Bergson, 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  -> 


00  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

unfähig,  das  organische  Leben,  das  wahre  Wesen  der  Bewegung  und 
der  psychischen  Vorgänge  zu  erfassen.  Dazu  gehört  eine  ganz  andere 

1  rkenntnisweise,  und  diese  nennt  Bergson  Intuition.  Man  gelangt 
zur  Intuition,  indem  man  sich  in  sich  selbst  versenkt  und  sein  eigenes 
Seelenleben  belauscht.  I  Her  bemerkt  man,  wenn  man  überhaupt  fähig 
ist,  in  diesem  1  laibdunkel  etwas  zu  sehen,  den  ewigen  Fluß,  die  ununter- 
brochene Kontinuität,  die  wahre  Dauer,  die  erfüllte  und  zu- 
gleich schöpferische  Zeit.  Betrachtet  man  dann  mit  Hilfe  der 
so  gewonnenen  Intuition  das  äußere  Geschehen,  so  vermag  man  sich  in 
die  wachsende  Pflanze,  in  das  lebende  Tier,  aber  auch  in  jede  mecha- 
nische Bewegung  einzufühlen  und  erkennt  so  das  von  jeder  Be- 
ziehung auf  den  Menschen  und  von  jedem  praktischen  Interesse  los- 
gelöste absolute  und  wirkliche  Geschehen,  wie  es  an  sich  beschaffen  ist. 

Die  intuitive  Betrachtung  des  Seelenlebens  lehrt  uns  ferner,  daß  in 
jedem  Augenblick  die  ganze  Vergangenheit,  alles  früher  Erlebte  wirk- 
sam ist,  weil  die  seelischen  Vorgänge  im  Gegensatze  zu  den  undurch- 
dringlichen Körpern  einander  vollständig  durchdringen.  Deshalb  gibt 
es  hier  keine  wirkliche  Wiederholung  desselben  Vorganges.  Jeder 
nächste  Augenblick  unterscheidet  sich  von  dem  vorangehenden  schon 
dadurch,  daß  der  frühere  in  ihm  enthalten  ist,  und  so  entsteht  hier 
immer  Neues,  Unvorhersehbares.  Die  Intuition  macht  uns  also  mit  einer 
schöpferischen  Entwicklung  (evolution  creatrice)  bekannt, 
in  der  sich  die  seelische  Vergangenheit  jedes  Menschen  immer  dichter 
zusammenballt,  an  Umfang  und  innerer  Kraft  immer  zunimmt  und 
Unvorhersehbares,  Neues  aus  sich  hervorbringt. 

Die  Mystik  und  die  Lehre  von  der  Intuition  haben  jedenfalls  tief 
hineingeleuchtet  in  unser  Seelenleben  und  auf  die  Entwicklung  der  Er- 
kenntnistheorie und  Metaphysik  einen  noch  nicht  genügend  erkannten 
Einfluß  ausgeübt.  Karl  Joel  hat  dies  für  die  alte  jonische  Naturphilo- 
sophie und  tür  die  Renaissancezeit  nachgewiesen  und  es  wird  sich  bei 
weiterer  Beachtung  dieses  Gesichtspunktes  gewiß  Ähnliches  auch  für 
die  späteren  Perioden  zeigen  lassen.  Aber  auch  die  Lehre  von  der 
intuitiven  Erkenntnis,  besonders  in  dem  Sinne,  wie  sie  Spinoza 
anwendet,  ist  in  der  neuesten  Zeit  weitergebildet  und  zur  Grundlage 
einer  neuen  Erkenntnistheorie  gemacht  worden.  Eine  Reihe  von  Den- 
kern glaubt  in  den  letzten  Jahren  eine  von  Mystik  ganz  freie  Art  der 
Intuition  gefunden  zu  haben,  die  gewöhnlich  als  „W  esensschau" 
bezeichnet  wird.  Edmund  Husserl,  der  diese  neue  Betrachtungsweise 
eingeführt  hat,  bezeichnet  sie  selbst  als  „reine  Phänomenologie" 
oder  als  „phänomenologische  Philosophi  e".  Da  diese 
Denkriehtung  bereits  eine  Reihe  von  Anhängern  gefunden  hat  und  auch 
.mt  die  I  iebiete  der  E  t  h  i  k,  der  Ästhetik  und  der  Rechtsphilo- 
sophie angewendet  wurde,  müssen  wir  versuchen,  ihre  Ausgangs- 
punkte und  ihre  Ziele  kurz  darzustellen. 

§  26.  Die  Phänomenologie 

Das  Wort  „Phänomenologie"  bedeutet  wörtlich  „Lehre  von  den 
Erscheinungen"  (Phänomenen).  Seit  Hegel,  der  seinem  genialen  Erst- 


§  26.  Die  Phänomenologie  67 

lingswerk  den  Titel  gab:  „Phänomenologie  des  Geistes",  versteht  man 
darunter  die  Lehre  von  allem,  was  unserem  Bewußtsein  unmittelbar 
oder  mittelbar  gegeben  ist.  In  diesem  Sinne  will  auch  der  Begrün- 
der der  neuen  Denkrichtung,  Edmund  Husserl,  das  Wort  verstanden 
wissen.  Er  legt  besonderes  Gewicht  darauf,  daß  er  immer  und  überall 
von  dem  ursprünglich  oder,  wie  er  zu  sagen  pflegt,  „originär"  Ge- 
gebenen ausgeht.  „Das  unmittelbare  , Sehen',  nicht  bloß  das  sinnliche, 
erfahrende  Sehen,  sondern  das  Sehen  überhaupt  als  originär 
gebendes  Bewußtsein  welcher  Art  immer,  ist  die  letzte  Rechtsquelle 
aller  vernünftigen  Behauptungen."  („Ideen  zu  einer  reinen  Phäno- 
menologie und  phänomenologischen  Philosophie",  1913,  S.  36.*)  Durch 
tiefdringende  intuitive  Betrachtung  des  sinnlich  und  geistig  Ge- 
schauten, durch  ausführliche  Zergliederung  der  so  gegebenen  Inhalte 
des  Bewußtseins  und  der  darauf  bezogenen  „Akte"  glaubt  nun  Hus- 
serl zu  Wesenserkenntnissen  von  unbedingter  Gültigkeit  und 
reicher  Fruchtbarkeit  gelangen,  durch  diese  zum  absoluten  Sein 
vordringen  und  so  eine  „phänomenologische  Philo- 
sophie" aufbauen  zu  können,  die  selbst  von  jeder  Erfahrung  ganz 
unabhängig  ist,  trotzdem  aber  auch  für  alle  „Tatsachenwissenschaften" 
die  letzten  Begründungen  festzulegen  imstande  sein  soll. 

Die  wichtigste  Erkenntnisquelle,  die  Husserl  neu  erschlossen  zu 
haben  glaubt,  ist  das,  was  er  als  „W  esensscha  u",  als  „W  esens- 
erschauung"  oder  auch  als  „e  i  d  e  t  i  s  c  h  e  Erkenntnis"  be- 
zeichnet. Den  letztgenannten  Ausdruck  wählt  Husserl  im  Hinblick  auf 
das  platonische  Wort  „Eidos",  das  weniger  verbraucht  ist,  als  das  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  vieldeutig  und  unbestimmt  gewordene  Wort 
„Idee".  „Eidos"  und  „eidetisch"  bedeuten  also  in  der  Sprache  der 
„Phänomenologie"  genau  so  viel  als  „Wesen"  und  „wesensmäßig". 

Wir  müssen  nun  versuchen,  genau  festzustellen,  was  die  Anhänger 
der  neuen  Denkrichtung  unter  „Wesensschau",  unter  „eidetischer  Er- 
kenntnis" eigentlich  verstehen,  weil  dies  die  Grundlage  aller  weiteren 
Aufstellungen  bildet. 

Husserl  geht  von  der  „natürlichen  Einstellung"  aus,  stellt  zu- 
nächst fest,  daß  in  der  ersten  „natürlichen  Erkenntnissphäre"  die  Wahr- 
nehmung als  „originär"  gebende  Anschauung  zu  betrachten  ist.  „Ori- 
ginäre Erfahrung  haben  wir  von  den  physischen  Dingen  in  der  ,äußern 
Wahrnehmung';  originäre  Erfahrung  haben  wir  von  uns  selbst  und 
unsern  Bewußtseinszuständen  in  der  sogenannten  innern  oder  Selbst- 
wahrnehmung." („Ideen",  S.  8.)  Was  wir  auf  diese  Art  erfassen,  das 
sind  individuell  bestimmte  und  individuell  gefärbte  Tat- 
sachen. Nun  behauptet  aber  Husserl:  „Individuelles  Sein  jeder  Art 
ist,  ganz  allgemein  gesprochen,  ,z  u  f  ä  1 1  i  g'.  Es  ist  so,  es  könnte 
seinem  Wesen  nach  auch  anders  sein."  („Ideen",  S.  9.)  Nun  geht  Hus- 
serl einen  wichtigen  Schritt  weiter.  Er  sagt:  „Ein  individueller  Gegen- 
stand ist  nicht  bloß  überhaupt  ein  individueller,  ein  ,Dies  da',  ein  ein- 

*)  Diese  Abhandlung,  in  der  die  Grundsätze  der  Phänomenologie  am 
ausführlichsten  dargestellt  sind,  befindet  sich  im  1.  Bande  des  Jahrbuches  für 
Philosophie  und  phänomenologische  Forschung  S.  1 — 323  und  ist  auch  separat 
erschienen.  Ich  zitiere  sie  kurz  als  „Ideen". 

5" 


(in  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

maliger,  er  hat  als  ,i  n  sich  selbst*  so  und  so  beschaffener  seine 
Eigenart,  seinen  Bestand  an  wesentlichen  Prädikabilien,  die  ihm 
zukommen  müssen  (als  Seiendem,  wie  er  in  sich  selbst  ist)."  „So  hat 
/.  B.  jeder  Ton  an  und  für  sich  ein  Wesen  und  zu  oberst  das  allgemeine 
Wesen  Ton  überhaupt  oder  vielmehr  Akustisches  überhaupt,  rein  ver- 
standen  als  das  aus  dem  individuellen  Ton  (einzeln  oder  durch  Ver- 
gleicbung  mit  anderen  als  Gemeinsames)  herauszuschauende  Moment. 
1  benso  hat  jedes  materielle  Ding  seine  eigene  Wesensartung  und  zu 
oberst  die  allgemeine  Artung  materielles  Ding  überhaupt,  mit  Zeit- 
bestimmung überhaupt,  Dauer,  Figur,  Materialität  überhaupt." 
(„Ideen",  S.  9.)  Während  also  die  empirisch  gerichteten  Denker  davon 
überzeugt  sind,  daß  erst  durch  eine,  lange  Zeiten  hindurch  fortgesetzte 
denkende  Bearbeitung  der  Erfahrung  die  Gattungs- 
und Artbegriffe  geschaffen  werden  konnten,  denen  jeder 
einzelne  Gegenstand  zugeordnet  werden  muß,  ist  Husserl  der  Mei- 
nung, daß  wir  imstande  sind,  diese  Zugehörigkeit  aus  der  Wahrneh- 
mung des  individuell  gegebenen  Objektes  unmittelbar  herauszu- 
schauen und  daß  auch  diese  „Erschauung"  etwas  „originär  Geben- 
des" ist.  Das  geht  ganz  deutlich  aus  seinen  weiteren  Ausführungen 
hervor.  Ich  zitiere  noch  einige  Stellen  in  größerem  Umfang,  und  zwar 
hauptsächlich  deshalb,  weil  die  Phänomenologen  sich  so  oft  darüber 
beklagen,  daß  man  sie  mißverstehe  und  weil  sie  den  kritischen  Be- 
denken gegen  ihre  Aufstellungen  meistens  nichts  anderes  entgegen- 
zuhalten pflegen,  als  die  Behauptung,  daß  der  Kritiker  sie  nicht  ver- 
standen habe. 

„Zunächst  bezeichnet  ,Wesen'  das  im  selbsteigenen  Sein  eines 
Individuums  als  sein  Was  Vorfindliche.  Jedes  solche  Was  kann  aber 
,in  Idee  gesetzt'  werden.  Erfahrende  oder  individuelle  An- 
schauung kann  in  Wesensschauung  (Ideation)  um- 
gewandelt werden,  eine  Möglichkeit,  die  selbst  nicht  als  empirische,  son- 
dern als  Wesensmöglichkeit  zu  verstehen  ist."  „Das  Wesen 
(Eidos)  ist  ein  neuartiger  Gegenstand.  So  wie  das  Ge- 
gebene der  individuellen  oder  erfahrenden  An- 
schauung ein  individueller  Gegenstand  ist,  so 
dasGegebeneder  Wesen  san  schauung  ein  reines  Wesen." 
(„Ideen",  S.  10.)  „Hier  liegt  nicht  eine  bloß  äußerliche  Analogie  vor, 
sondern  radikale  Gemeinsamkeit.  Auch  Wesenserschauungist 
eben  Anschauu  n  g,  wie  eidetischer  Gegenstand  eben  Gegenstand 
ist."  „Empirische  Anschauung,  speziell  Erfahrung,  ist  Bewußtsein  von 
einem  individuellen  Gegenstand,  und  als  Anschauendes  bringt  sie  ihn 
zur  Gegebenheit,  als  Wahrnehmung  zu  originärer  Gegebenheit,  zum 
Bewußtsein,  den  Gegenstand  ,originär'  in  seiner  .leibhaftigen' 
Selbstheit  zu  erfassen.  Ganz  ebenso  ist  die  Wesensanschauung  Bewußt- 
sein von  I  twas,  einem  Gegenstand,  einem  Etwas,  worauf  ihr  Blick 
sich  richtet,  und  was  in  ihr  selbst  gegeben  ist."  „Wesenserschauung 
i  s  t  also  Anschauung,  und  ist  sie  Erschauung  im  prägnanten  Sinn 
und  nicht  eine  bloße  und  vielleicht  vage  Vergegenwärtigung,  so  ist  sie 
eine  o  r  i  g  i  n  ä  r  gebende  Anschauung,  das  Wesen  in  seiner  leib- 
haften1 Selbstheit  erfassend.  Anderseits  ist  sie  aber  eine  Anschauung 


§  26.  Die  Phänomenologie  69 

von  prinzipiell  eigener  und  neuer  Art."  („Ideen",  S.  11.)  „Den  Wesens- 
unterschieden der  Anschauungen  korrespondieren  die  Wesensbezie- 
hungen zwischen  , Existenz'  und  , Essenz',  zwischen  Tatsache  und 
Eidos.  Solchen  Zusammenhängen  nachgehend,  erfassen  wir  e  i  n- 
sichtig  die  diesen  Terminis  zugehörigen  und  von  nun  an  fest  zu- 
geordneten begrifflichen  Wesen ;  und  damit  bleiben  alle  sich  zumal 
an  die  Begriffe  Eidos  (Idee),  Wesen  anheftenden,  zum  Teil  mysti- 
schen Gedanken,  reinlich  ausgeschiede  n."  („Ideen", 
S.  12.) 

Von  da  aus  geht  nun  Husserl  einen  wichtigen  Schritt  weiter :  „Das 
Eidos,  das  reine  Wesen,  kann  sich  intuitiv  in  Erfahrungsgegebenheiten, 
in  solchen  derWahrnehmung,  Erinnerung  usw.  exemplifizieren,  ebensogut 
aber  auch  inbloßenPhantasiegegebenheiten.  Demgemäß 
können  wir,  um  ein  Wesen  selbst  und  o  r  i  g  i  n  ä  r  zu  erfassen,  von  ent- 
sprechenden erfahrenden  Anschauungen  ausgehen,  ebensowohl 
aber  auch  von  nicht  erfahrenden,  nicht  Dasein  er- 
fassenden, vielmehr  bloß  einbildenden  Anschau- 
ungen" (12).  An  einer  späteren  Stelle  heißt  es  sogar,  daß  „freie 
Phantasien  eine  Vorzugsstellung  gegenüber  den 
Wahrnehmungen  gewinnen"  (130).  Wir  können,  meint  Husserl, 
aus  fingierten  Akten  „des  Erfahrens,  des  Gefallens  oder  Mißfallens, 
des  Wollens  u.  dgl.  durch  ,Ideation'  mannigfache  reine  Wesen  originär 
erschauen".  „Es  ist  dabei  gleichgültig,  ob  Derartiges  je  in  aktueller 
Erfahrung  gegeben  war  oder  nicht."  „Damit  hängt  wesentlich  zu- 
sammen :  Setzung  und  zunächst  anschauende  Erfassung  von 
Wesen  impliziert  nicht  das  Mindeste  von  Setzung 
irgendeines  individuellen  Daseins;  reine  Wesens- 
wahrheiten enthalten  nicht  die  mindeste  Behaup- 
tung über  Tatsachen,  also  ist  auch  aus  ihnen  allein  nicht 
die  geringfügigste  Tatsachenwahrheit  zu  erschließen"  (13). 

Auf  diese  Erwägungen  gründet  nun  Husserl  seine  Unterschei- 
dung von  „Tatsachenwissenschaften"  und  „Wesenswissenschaften". 
„Es  gibt  reine  Wesenswissenschaften,  wie  reine  Logik, 
reine  Mathematik,  reine  Zeitlehre,  Raumlehre,  Bewegungslehre  usw. 
Sie  sind  durchaus,  nach  allen  ihren  Denkschritten,  rein  von  Tatsachen- 
setzungen oder,  was  gleichwertig  ist,  in  ihnen  kann  keine  Er- 
fahrung  als  Erfahrung,  das  ist  als  Wirklichkeit,  als  Dasein 
erfassendes,  beziehungsweise  setzendes  Bewußtsein  die  Funktion 
der  Begründungübernehmen.  Wo  Erfahrung  in  ihnen  fun- 
giert, fungiert  sie  doch  nicht  a  1  s  Erfahrung.  Der  G  e  o  m  e  t  e  r,  der 
seine  Figuren  auf  die  Tafel  malt,  erzeugt  damit  faktisch  daseiende 
Striche  auf  der  faktisch  daseienden  Tafel.  Aber  so  wenig  wie  sein 
physisches  Erzeugen  ist  sein  Erfahren  des  Erzeugten,  qua  Erfahren, 
begründend  für  sein  geometrisches  Wesensschauen  und  Wesens- 
denken" (16).  „Ganz  anders  der  Naturforscher.  Er  beobachtet 
und  experimentiert,  das  ist  er  stellt  erfahrungsmäßiges  Dasein  fest,  das 
Erfahren  ist  für  ihn  begründender  Akt,  der  nie  durch 
ein  bloßes  Einbilden  ersetzbar  wäre."  „Für  den  Geometer  aber,  der 
nicht  Wirklichkeiten,  sondern  ,ideale   Möglichkeiten',  nicht  Wirklich- 


70  Erkenntimkritik  und  Erkenntnistheorie 

Iceitsverhalte,  sondern  Wescnsverhalte  erforscht,  ist  statt  der  Erfahrung 
die  Wesen  serschauung  der  letztbegründende  Akt"  (17).  Dar- 
aus folgt  nun,  „daß  der  Sinn  eidetischer  Wissenschaft  jede  Ein- 
beziehung von  i  i  keimtnisergebnissen  empirischer  Wissenschaften  prfn- 
ipidl  ausschließt".  „Ist  nun  alle  eidetische  Wissenschaft  prinzipiell 
von  aller  Tatsnchenwissenschaft  unabhängig,  so  gilt  anderseits  das 
l  fmgekehrte  hinsichtlich  der  Tatsachenwissenschaft.  Es  gibt 
kein  e,  die  als  Wissenschaft  voll  entwickelt  rein  sein 
könnte  von  eidetischen  Erkenntnissen  und  somit  unabhängig 
sein  könnte  von  den,  sei  es  formalen  oder  mate- 
rialen  eidetischen  Wissenschaften"  (18). 

Dadurch  erlangen  nun  die  „eidetischen  Wissenschaften"  einen  be- 
deutenden Vorrang  und  eine  große  Überlegenheit  über  alles  empirische 
Suchen  und  Forschen.  Man  darf  hoffen,  auf  diesem  Wege  zu  absoluten 
Wahrheiten  zu  gelangen,  die  nicht  nur  Allgemeingültigkeit  und  innere 
Denknotwendigkeit  besitzen,  sondern  auch  die  Grundlagen  und  die 
Normen  abgeben  sollen  für  alles  auf  Erfahrung  gegründete  Denken. 
Für  Denker-Naturen,  die  an  mühevollen,  zeitraubenden  historischen, 
psychologischen  und  namentlich  soziologischen  Untersuchungen,  die 
niemals  zu  absoluter  Gewißheit,  sondern  immer  nur  zu  einem  größeren 
Grade  von  Wahrscheinlichkeit  hinführen,  weniger  Geschmack  finden, 
hat  diese  neue,  auf  „Intuition"  und  „Wesensschau"  gegründete  For- 
schungsmethode, die  durch  fortgesetzte  Meditation  über  das  innerlich 
Erschaute  zu  immer  bedeutsameren  Ergebnissen  gelangen  zu  können 
vermeint,  offenbar  einen  besonders  großen  Reiz.  Daraus  erklärt  es  sich 
wohl,  daß  die  „Phänomenologie"  in  den  letzten  Jahren  so  zahlreiche, 
so  begabte,  so  tiefgründige  und  zugleich  so  selbstherrliche  Anhänger 
gefunden  hat. 

Damit  nun  die  Unabhängigkeit  von  aller  Erfahrung  und  die  da- 
durch gewonnene  Freiheit  der  Denkbewegung  noch  vollständiger  werde, 
macht  Musserl  ein  kühnes  Gedankenexperiment.  Er  lehnt  sich  dabei  an 
Descartes  an  und  ist  sogar  der  Meinung,  daß  er  dadurch  zu  Folge- 
rungen gelangt,  „in  denen  ein  bloß  nicht  zu  reiner  Auswirkung  ge- 
langter Kern  der  (auf  ganz  andere  Ziele  gerichteten)  Meditationen 
des  Descartes  endlich  zu  seinem  Rechte  kommt"  (87). 

In  der  „natürlichen  Einstellung"  halten  wir  selbstverständlich  die 
uns  umgebende  Welt  mit  unseren  Mitmenschen  darin  für  tatsächlich 
vorhanden,  für  real,  wirklich  und  existierend.  Diese  „Einstellung"  ver- 
sucht nun  Hasser/,  ganz  ähnlich  wie  Descartes,  „radikal  zu  ändern" 
53).  Er  unternimmt  es,  die  Wirklichkeit  der  Dingwelt  und  auch  die 
Menschen  darin  in  Gedanken  einmal  „auszuschalten"  oder  „einzuklam- 
mern", um  zu  sehen,  was  dann  noch  übrig  bleibt.  „Wir  gehen  in  diesen 
Studien  SO  weit  als  es  nötig  ist,  die  Einsicht  zu  vollziehen,  auf  die  wir  es 
abgesehen  haben,  nämlich  die  Einsicht,  daß  Bewußtsein  in 
-ich  selbst  ein  Eigensein  hat,  das  in  seinem  absoluten  Eigenwesen 
durch  die  phänomenologische  Ausschaltung  nicht  betroffen  wird.  Somit 
bleibt  es  als  ,p  h  ä  n  o  m  e  n  o  1  o  g  i  s  c  h  e  s  R  e  s  i  d  u  u  m'  zurück,  als 
eine  prinzipiell  eigenartige  Seinsregion,  die  in  der  Tat  das  Feld  einer 
neuen  Wissenschaft  werden  kann  —  der  Phänomenologie"  (59).  Durch 


§  26.  Die  Phänomenologie  7  i 

solche  „Ausschaltungen"  und  „Einklammerungen"  gelangt  nun  tius- 
serl  zur  Region  des  „reinen  Bewußtseins",  des  „reinen"  oder  des 
„transzendentalen  Ich",  wofür  er  auch  öfter  den  Ausdruck  „reines  Er- 
lebnis", „Bewußtseinserlebnis  überhaupt"  zu  gebrauchen  pflegt.  Die 
Behauptungen  nun,  die  Husserl  in  bezug  auf  das  „reine"  Bewußtsein 
und  auf  die  Außenwelt  aufstellt,  erinnern  zu  einem  Teil  an  die  von 
Augustin  und  Descartes  betonte  Evidenz  der  Selbstwahrnehmung,  zum 
anderen  Teil  an  den  Phänomenalismus  Berkeleys,  der  sich  auf  eine 
spiritualistische  Metaphysik  gründet.  An  Descartes  erinnern  z.  B.  die 
Sätze:  „Der  Thesis  der  Welt,  die  eine  zufällige  ist,  steht  also  gegenüber 
die  Thesis  meines  reinen  Ich  und  Ichlebens,  die  eine  notwendige, 
schlechthin  zweifellose  ist.  Alles  leibhaft  gegebene  Dingliche  kann 
auch  nicht  sein,  kein  leibhaft  gegebenes  Erlebnis  kann  auch  nicht  sein" 
(86).  Dagegen  wird  man  an  die  von  Berkeley  vollzogene  Synthese  von 
der  Phänomenalität  der  Sinnenwelt  mit  der  selbständigen  Existenz  des 
rein  Geistigen  gemahnt,  wenn  man  Ausführungen,  wie  die  folgenden 
liest:  „Das  immanente  Sein  ist  also  zweifellos  in 
dem  Sinne  absolutes  Sein,  daß  es  prinzipiell 
nulla  re  indiget  ad  existendum.  Anderseits  ist 
die  Welt  der  transzendenten  ,r  e  s'  durchaus  auf  Bewußt- 
sein, und  zwar  nicht  auf  logisch  erdachtes,  sondern  aktuelles  an- 
gewiesen" (92). 

Noch  deutlicher  tritt  die  Ähnlichkeit  mit  Berkeley  zutage  in  den 
folgenden  Sätzen:  „Also  wird  es  klar,  daß  trotz  aller  in  ihrem  Sinne 
sicherlich  wohlbegründeten  Rede  von  einem  realen  Sein  des  mensch- 
lichen Ich  und  seiner  Bewußtseinserlebnisse  i  n  der  Welt  und  von 
allem,  was  irgend  dazu  gehört,  in  Hinsicht  auf  ,psychophysische'  Zu- 
sammenhänge —  daß  trotz  alledem  Bewußtsein  in  , Reinheit'  betrachtet 
als  ein  für  sich  geschlossener  Seinszusammenhang 
zu  gelten  hat,  als  ein  Zusammenhang  absoluten  Seins,  in  den 
nichts  hineindringen  und  aus  dem  nichts  entschlüpfen  kann,  der  kein 
räumlich-zeitliches  Draußen  hat  und  in  keinem  räumlich-zeitlichen  Zu- 
sammenhang darinnen  sein  kann."  „Anderseits  ist  die  ganze  räumlich- 
zeitliche Welt,  der  sich  Mensch  und  menschliches  Ich  als  untergeord- 
nete Einzelrealitäten  zurechnen,  ihrem  Sinne  nach  bloßes 
intentionales  Sein,  also  ein  solches,  das  den  bloßen  sekun- 
dären, relativen  Sinn  eines  Seins  für  ein  Bewußtsein  hat.  Es  ist  ein 
Sein,  das  das  Bewußtsein  in  seinen  Erfahrungen  setzt,  das  prinzipiell 
nur  als  Identisches,  von  motivierten  Erscheinungsmannigfaltigkeiten 
anschaubar  und  bestimmbar  —  darüber  hinaus  aber  ein  Nichts 
ist"  (93). 

Es  finden  sich  in  der  „Phänomenologie"  auch  noch  Anklänge  an 
andere,  ältere  Systeme.  So  erinnert  schon  das  Wort  „Eidos"  an  Piaton, 
dessen  Ideenlehre  besonders  in  dem  berühmten  Gleichnis  von  der 
Höhle  im  Anfang  des  siebenten  Buches  der  „Politeia"  sehr  deutlich 
an  die  „Wesensschau"  anklingt.  Ferner  ist  die  Lehre  von  der  „intentio- 
nalen  Beziehung"  als  charakteristisches  Merkmal  alles  Psychischen 
der  Psychologie  von  Franz  Brentano  entnommen,  der  sie  wiederum  aus 
der  scholastischen  Philosophie  des  Mittelalters  geschöpft  hat.  Ferner 


/-' 


Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 


berühren  sich  die  Gedankengänge  der  „Phänomenologie"  vielfach  mit 
Leibniz  und  ganz  besonders  mit  der  „Wissenschaftslehre"  Bernard 
Bolzanos,  was  tiusserl  in  den  „Logischen  Untersuchungen"  selbst 
wiederholt  hervorhebt  Trotzdem  muß  man  aber  sagen,  daß  die  „Phäno- 
menologie"  einen  neuen  und  eigenartigen  Weg  zur  Aufhellung  und  zur 

gründung  der  menschlichen  Erkenntnis  zu  gewinnen  bemüht  ist. 
Durch  tiefgründige,  durch  anhaltende  und  angestrengte  —  allerdings 
wich  sehr  anstrengende  —  Denkarbeit  suchen  Husserl  und  seine  An- 
hänger mittels  der  „Wesenserschauung"  und  mit  Hilfe  der  „phäno- 
menologischen Reduktion"  zum  „reinen  Bewußtsein"  vorzudringen  und 
glauben  da  die  „absolute  Seinssphäre"  gefunden  zu  haben,  über  deren 
Struktur  sie  durch  „eidetische"  Betrachtung  Aussagen  von  hoher  Wich- 
tigkeit machen  zu  können  vermeinen,  denen  Allgemeingültigkeit  und 
zwingende  Denknotwendigkeit  zukommen  soll. 

Wir  haben  den  Weg  gezeigt,  den  die  Phänomenologie  gehen  will, 
und  die  Kernpunkte  der  neuen  Lehre  kurz  dargelegt.  Wir  müssen  nun 
die  Berechtigung  ihrer  Grundlagen  sowie  die  bisherigen  Ergebnisse 
einer  kritischen  Prüfung  unterziehen. 

Schon  der  Grundbegriff  der  Phänomenologie,  die  „Wesens- 
S  c  h  a  u  u  n  g",  die  eine  von  jeder  Erfahrung  freie  und  ganz  unab- 
hängige „eidetische"  Erkenntnis  begründen  soll,  gibt  Anlaß  zu 
schweren  kritischen  Bedenken.  Aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  eines 
Tones  soll  es  möglich  sein,  das  „Wesen"  von  „Ton  überhaupt"  und 
..Akustischem  überhaupt"  unmittelbar  „herauszuschauen".  In 
derselben  Weise  müßte  es  dann  auch  möglich  sein,  aus  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  eines  Baumes  das  „Wesen"  Baum  und  aus  diesem  das 
Wesen  „Pflanze"  und  dann  auch  den  Begriff  „organisches  Gebilde" 
herauszuschauen.  Wer  das  behauptet,  der  scheint  vollständig 
darauf  zu  vergessen,  daß  diese  Fähigkeit,  in  dem  wahrgenommenen 
I  inzelobjekt  oder  Einzelvorgang  die  allgemeinen,  logisch  übergeord- 
neten Begriffe  zu  erkennen,  zu  denen  das  geschaute  Einzelding  gehört, 
erst  im  Laufe  der  Jahrtausende  durch  fortgesetzte  denkende  Bear- 
beitung der  Erfahrung  erworben  werden  mußte.  Wenn  der  wissenschaft- 
lich geschulte  Denker  der  Gegenwart  heute  in  dem  Baum  die  Pflanze 
und  in  mr  das  organische  Wesen  enthalten  zu  sehen  glaubt,  so  ist  das 
kein  „Sehauen"  und  kein  unmittelbares  Erfassen.  Diese  Einsicht  ist  viel- 
mehr da-   Ergebnis  unzähliger  seelischer  und  sozialer  Verdich- 

U  n  g  e  n,  die  im  Laufe  der  Zeiten  vollzogen  werden  mußten.  Die  ge- 
staltende, die  ordnende  Tätigkeit  des  Menschengeistes  hat  die  chaotische 
l  mwelt  gegliedert,  die  darin  waltenden  Regelmäßigkeiten  und  Gesetze 
»teil!  nid  zu  diesem  Zwecke  eine  ganze  Reihe  ökonomischer 
Denkmittel  ausgebildet,  /u  denen  in  erster  Linie  die  Begriffe 
gehören.  Wenn  wir  nun  von  diesen  uns  vertraut  und  geläufig  gewor- 
denen Denkmitteln  Gebrauch  machen  und  eben  dadurch  imstande  sind, 
zugleich  mit  der  sinnlichen  Wahrnehmung  eines  Gegenstandes  oder 
Vorganges  auch  mannigfache  begriffliche  Beziehungen  des  Wahr- 
genommenen /u  erfassen,  so  vergessen  wir  nur  allzu  leicht  darauf,  daß 
diese  Erkenntnisse  nur  als  Ergebnis  verdichteter  Erfahrungen  möglich 
geworden  sind.  Bezeichnet  man  nun,  wie  dies  die  Phänomenologen  tun, 


§  26.  Die  Phänomenologie  73 

derartige,  erst  durch  die  allmähliche  Verfeinerung  unseres  Denkorgans 
möglich  gewordene,  anscheinend  unmittelbare  Erfassungen  rein  begriff- 
licher Beziehungen  als  ein  „Sehen",  als  ein  „Schauen",  das  seinen 
Gegenstand  ebenso  „originär"  gibt,  wie  die  sinnliche  Wahrnehmung, 
so  ignoriert  man  unberechtigterweise  die  durch  psychologische,  durch 
historische,  durch  ethnologische  und  in  der  letzten  Zeit  durch  sozio- 
logische Forschungen  erzielten  Einsichten  in  die  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschengeistes. 

Musserl  hebt  zwar  gelegentlich  den  Unterschied  der  „Wesens- 
erschauung"  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung  hervor  (z.  B.  S.  11  f.), 
betont  aber  doch  immer  wieder  mit  großer  Entschiedenheit,  daß  die 
Wesenserschauung  auch  eine  Art  von  Anschauung  sei,  und  daß  ihr 
Gegenstand  dem  Bewußtsein  gegeben,  und  zwar  „origi- 
n  ä  r"  gegeben  ist.  Nun  sind  aber  tatsächlich  die  Gegenstände  dieser 
sogenannten  „Wesenserschauung"  nichts  anderes,  als  abstrakte  Be- 
griffsbeziehungen von  hoher  Allgemeinheit.  Diese  können  aber,  wie  die 
Entwicklungsgeschichte  des  Menschengeistes  ganz  deutlich  lehrt,  nur 
als  Produkte  verstanden  werden,  bei  deren  Zustandekommen  einerseits 
die  uns  umgebende  Dingwelt  als  objektiver  Faktor,  anderseits 
die  ordnende,  die  gliedernde  und  die  gestaltende  Tätigkeit  des  Men- 
schengeistes als  subjektiverFaktorin  einer  immer  stärker  und 
immer  innerlicher  werdenden  Verflechtung  zusammenwirken.  Je  ab- 
strakter und  je  allgemeiner  die  durch  solche  Denkarbeit  erfaßten  Be- 
ziehungen werden,  desto  deutlicher  tritt  das  geistige  Moment  darin  her- 
vor. Wenn  nun  Hermann  Cohen  hier  von  einem  „Erzeugen"  durch 
das  Denken  spricht,  so  entspricht  das  zwar  auch  keineswegs  den 
Tatsachen,  allein  diese  Ausdrucksweise  scheint  mir  noch  immer  be- 
rechtigter zu  sein  als  Husserls  Rede  von  der  „gebenden"  oder  gar  von 
der  „originär  gebenden"  Wesenserschauung. 

Der  feste  Glaube  an  diese  „Gegebenheiten"  stammt  vielleicht  bei 
Husserl  daher,  daß  er  von  Franz  Brentano  den  Gedanken  der  „inten- 
tionalen  Bezogenheit"  alles  Psychischen  übernimmt.  Bewußtsein  ist,  so 
betont  er  wiederholt,  immer  „Bewußtsein  von  Etwas".  Dem  Vorstellen 
entspricht  ein  Vorgestelltes,  dem  Urteilen  ein  Beurteiltes,  dem  Werten 
ein  Gewertetes,  dem  Wollen  ein  Gewolltes,  der  Freude  ein  Erfreu- 
liches usw.  Allen  diesen  „Gegenständen"  wird  dabei  immer  eine  Art 
von  objektiver  Selbständigkeit  zugeschrieben.  Durch  „Hinwendung  des 
Blickes"  sollen  alle  diese  „Gegenstände"  in  ihrer  „leibhaftigen  Selbst- 
heit"  einfach  „erfaßt",  zur  „Gegebenheit  gebracht"  v/erden  können.  Da- 
bei wird  immer  die  gestaltende  und  umgestaltende  Tätigkeit  des  Geistes 
übersehen  oder  ignoriert. 

Mit  dieser  Lehre  von  der  „originär  gebenden"  Kraft  der  Wesens- 
erschauung scheint  es  nicht  recht  vereinbar,  daß  alle  so  gewonnenen 
„eidetischen  Erkenntnisse"  von  jeder  Erfahrung  ganz  unabhängig  sein 
sollen.  Husserl  geht  in  dieser  Beziehung  viel  weiter  als  alle  früheren 
Denker.  Durch  „Ausschaltung"  und  „Einklammerung"  der  Dingwelt 
vollzieht  er  eine  „phänomenologische  Reduktion"  und  glaubt  auf  diesem 
Wege  zur  Region  des  „reinen  Bewußtseins"  vordringen  zu  können. 
Hier  soll  ein  „Feld"  gewonnen  sein,  eine  „Seinssphäre  absoluter  Ur- 


74  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

Sprünge",  „ein  der  schauenden  Forschung  zugängliches  Feld",  das 
eine  „unendliche  Fülle  einsichtiger  Erkenntnisse  von  höchster  wissen- 
schaftlicher  Dignität"  in  sich  birgt.  („Ideen",  S.  107.)  Dagegen  ist, 
wie  bereits  erwähnt  wurde,  die  ganze  Sinnen-  und  Dingwelt  für  die 
Phänomenologie  nur  Erscheinung:  „Realität,  sowohl  Realität  des 
einzeln  genommenen  Dinges,  als  auch  Realität  der  ganzen  Welt  ent- 
lehn wesensmäßig  (in  unserem  strengen  Sinne)  der  Selbständigkeit. 
i  s  ist  nicht  in  sich  etwas  Absolutes  und  bindet  sich  sekundär  an 
anderes,  sondern  es  ist  in  absolutem  Sinne  gar  nichts,  es  hat  gar  kein 
absolutes  Wesen',  es  hat  die  Wesenheit  von  etwas,  das  prinzipiell  nur 
[ntentionales,  nur  Bewußtes,  bewußtseinsmäßig  Vorstelliges,  Erschei- 
nendes ist"  (931). 

Man  wird  also  sagen  können,  daß  die  „Phänomenologie",  wie  sie 
von  Husserl  begründet  wurde,  eine  eigenartige  Synthese  von  erkennt- 
niskritischem Phänomenalismus  und  einer  spiritualisti- 
sehen  Metaphysik  darstellt.  Den  phänomenalistischen  Charakter 
seiner  Philosophie  betont  Husserl  selbst  mit  der  größten  Entschieden- 
heit, wie  die  eben  zitierte  Stelle  beweist.  Dagegen  dürfte  er  kaum  zu- 
geben, daß  die  Phänomenologie  als  spiritualistische  Metaphysik  be- 
zeichnet werden  dürfe.  Sagt  er  doch  ausdrücklich:  „Man  muß  sich 
überzeugen,  daß  dem  empirischen  Erlebnis  gegenübersteht,  als 
Voraussetzung  seines  Sinnes,  das  absolute  Erlebnis, 
daß  dieses  nicht  eine  metaphysische  Konstruktion,  sondern  durch  ent- 
sprechende Einstellungsänderung  in  seiner  Absolutheit  zweifellos  Auf- 
weisbares, in  direkter  Anschauung  zu  Gebendes  ist"  (105  f.). 

Hier  liegt  nun  meiner  Überzeugung  nach  eine  merkwürdige 
Selbsttäuschung  vor.  Ein  „absolutes  Erlebnis",  das  bestehen 
bleibt,  wenn  man  die  „phänomenologische  Reduktion"  vollzieht  und  die 
ganze  wirkliche  Welt  „ausschaltet"  oder  „einklammert",  ist  nur  dann 
denkbar,  wenn  eine  geistige  Substanz  angenommen  wird,  die 
ein  solches  „reines  Erlebnis"  hervorruft  und  ihm  einen  greifbaren  In- 
halt gibt.  Nun  sagt  aber  Husserl  ganz  ausdrücklich  in  einer  sehr  tief- 
gründigen Auseinandersetzung,  daß  durch  die  „phänomenologische  Re- 
duktion" auch  die  Transzendenz  Gottes  „ausgeschaltet"  sein  soll 
(110  f.).  Dann  schwebt  aber  das  „reine  Erlebnis"  ganz  in  der  Luft 
und  ist  keineswegs  etwas  „in  direkter  Anschauung  zu  Gebendes". 

Man  könnte  nun  daran  denken,  daß  dieses  „reine  Erlebnis"  von 
den  Phänomenologen  bloß  als  Fiktion,  das  heißt  als  eine  bewußt 
falsche  Annahme  gedacht  ist,  die  zu  dem  Zwecke  gemacht  wird,  um 
bestimmte  Probleme  zu  lösen.  Auf  die  große  Bedeutung  solcher  Fik- 
tionen hat  nun  in  jüngster  Zeit,  wie  wir  weiter  unten  ausführlicher 
zeigen  wollen,  Haus  Vaüünger  in  seiner  „Philosophie  des  AI  s- 
(  )  b"  hingewiesen.  In  der  Tat  bezeichnet  einmal  Husserl  die  Fiktion  als 
das  ..I  eben  sei  ement  der  Phänomenologie"  (132)  und 
räumt  wiederholt  der  Phantasie  eine  Vorzugsstellung  ein  gegenüber 
der  sinnlichen  Wahrnehmung.  Nun  kann  aber,  wie  Vai/üuger  klar  ge- 
zeigt hat,  eine  Fiktion  niemals  verifiziert  werden,  sondern  muß  sich 
einzig  und  allein  durch  ihre  Fruchtbarkeit  als  wertvoll  erweisen. 
Man  muß  sich  deshalb  fragen,  ob  diese  Konstruktion  des  „reinen  Er- 


§  26.  Die  Phänomenologie  75 

lebnisses"  und  ob  das  kühne  Gedankenexperiment  der  „phänomeno- 
logischen Reduktion"  neue  Erkenntnisse  gezeitigt  hat.  Da  muß  man 
nun  sagen,  daß  die  von  Husserl  verheißenen  „Erkenntnisse  von 
höchster  wissenschaftlicher  Dignität"  bisher  weder  bei  ihm  selbst,  noch 
in  den  Ausführungen  seiner  Anhänger  zu  finden  sind.  Auf  diese  Un- 
fruchtbarkeit der  „Phänomenologie"  hat  bereits  Wilhelm  Wundt  in 
seiner  überaus  lichtvollen  Darstellung  des  „Logizismus"  hingewiesen 
(Kl.  Schriften  I,  613  f.).  Besonders  klar  hat  77z.  Ziehen  die  Lehren  der 
Phänomenologie  dargestellt  und  diese  Denkrichtung  als  „aussichtslos 
und  verfehlt"  bezeichnet  (Lehrbuch  der  Logik  1920,  S.  184  ff.  u.  bes. 
S.  457). 

Wandt  meint  (a.  a.  O.  S.  614),  daß  die  Phänomenologie  haupt- 
sächlich deshalb  Anerkennung  und  Anhänger  gefunden  habe,  weil  man 
den  darin  enthaltenen  Scharfsinn  besonders  hoch  einschätze.  Meiner 
Meinung  nach  hat  diese  auffallend  hohe  und,  wie  es  scheint,  noch  im 
Zunehmen  begriffene  Schätzung  der  Phänomenologie  einen  tieferen 
Grund.  Den  Anhängern  dieser  Denkrichtung  eignet  ebenso  wie  ihrem 
Begründer  die  Fähigkeit  zu  psychologischen  Tiefblicken.  Manche  von 
ihnen  haben  die  Gabe,  tief  in  sich  hineinzuschauen,  und  sie  entdecken 
da  mitunter  Dinge,  die  anderen  verborgen  bleiben.  Das  habe  ich  in  be- 
zug  auf  Husserl  selbst  schon  in  meiner  scharfen  Kritik  seiner 
„Logischen  Untersuchungen"  ausdrücklich  anerkannt  und  ihn  deshalb 
später  einen  „Psychologen  wider  Willen"  genannt*).  Seine  Erörte- 
rungen über  Evidenz  und  Wahrheit  in  den  „Logischen  Untersuchungen" 
und  das,  was  er  in  den  „Ideen"  über  die  „Abschattungen"  des  Psychi- 
schen sagt,  sind  deutliche  Beweise  seiner  starken  psychologischen  Be- 
gabung. Dasselbe  gilt  von  einem  der  geistvollsten  Anhänger  dieser 
Richtung,  von  Max  Scheler.  Er  weiß  über  das  „Ressentiment",  über  das 
Wesen  des  Tragischen,  über  die  „Idole  der  Selbsterkenntnis"  viel  An- 
regendes zu  sagen.  Solche  Tiefblicke  üben  eine  starke  Anziehungskraft 
aus.  Gerade  darin  scheint  mir  aber  das  Gefährliche  der  Phänomeno- 
logie zu  liegen. 

Was  der  phänomenologisch  „eingestellte"  Forscher  kraft  seiner  Be- 
gabung für  psychologische  Forschung  in  sich  vorfindet,  das  soll  gleich 
viel  mehr  sein  als  eine  neue  psychologische  Erkenntnis.  Er  glaubt  sofort 
eine  „Wesens  schau"  vollziehen  zu  können,  löst  das  so  „Geschaute" 
gleich  los  aus  dem  psychischen  Zusammenhang  und  ist  dann  der  Mei- 
nung, daß  sich  auf  diesem  Wege  das  Wesen  der  sittlichen  Forderung, 
das  Wesen  des  ästhetischen  Genusses,  des  richtigen  Rechtes  oder  gar 
der  „wahren  Religion"  mit  absoluter  Sicherheit  feststellen  lasse.  Da- 
durch aber  wirkt  die  Phänomenologie  geradezu  bahnsperrend. 
Indem  sie  die  geschichtliche  Bedingtheit  alles  Menschlichen  verkennt, 
glaubt  sie  sich  der  großen  Mühe  historischer  und  soziologischer  For- 
schungen überhoben  und  hält  begabte  Geister  von  solchen  For- 
schungen ab. 

*)  Vgl.  Jerusalem,  „Der  kritische  Idealismus  und  die  reine  Logik,  ein  Ruf 
im  Streite"  (1905),  S.  117,  und  meinen  Aufsatz  „Philosophen  und  Psychologen  in 
der  Zeitschrift  „Die  Zukunft",  Mai  1914. 


Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

So  ist  denn  der  Ertrag  dieser  gewaltigen  Denkanstrengung  ein 
verschwindend  geringer,  in  mancher  Beziehung  sogar  ein  ganz  nega- 
tiver. Wir  erfahren  gar  nichts  über  das  Verhältnis  des  „reinen" 
Bewußtseins  zur  Vußenwelt  und  das  für  jeden  Phänomenalis- 
ni  u  schwierige  Problem  des  fremden  Bewußtseins,  das 

oben  erwähnte  „Du-Proble  m"  scheint  für  diese  Denkrichtung  gar 
nicht  zu  existieren.  Weder  die  apriorische,  angeblich  ganz  erfahrungs- 
t'rcie  „Wesensscha  u"  noch  die  „phänomenologische  Reduktion" 
kann  'jemals  gelingen.  Jeder  „e  i  d  e  t  i  s  c  h  e  n  Erkenntnis"  und 
ebenso  auch  dem  „r  e  i  n  e  n  E  r  1  e  b  n  i  s"  haftet,  falls  es  w  i  r  k  1  i  c  h  e 
Erkenntnisse  sind,  immer  noch  ein  empirischer  „Erdenrest"  an, 

g  er  den  Phänomenologen  noch  so  sehr  „zu  tragen  peinlich"  sein. 

*  Im  Gegensatz  zu  solchen  weltfremden  und  unfruchtbaren  Denk- 
richtungen  macht  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  das  Bestreben  geltend, 
das  menschliche  Erkennen  in  seinem  innigen  Zusammenhang  mit  dem 
ganzen  Seelenlebens  zu  betrachten  und  seine  biologische  Be- 
deutung klar  zu  erfassen. 

Eine  der  bedeutsamsten  Denkrichtungen,  die  diesem  Bedürfnis  ihre 
Entstehung  verdanken,  ist  die  von  Hans  Vaihinger  geschaffene 
„Philosophie  des  Als-Ob",  zu  deren  Darstellung  wir  nun- 
mehr übergehen. 

§  27.  Die  Philosophie  des  „Als-Ob" 

Der  Begründer  dieser  neuen,  sehr  fruchtbaren  und  überaus  be- 
deutsamen Erkenntnistheorie,  die  sich  in  den  letzten  Jahren  zu  einer 
ganzen  Welt-  und  Lebensanschauung  auszugestalten  beginnt,  ist  Hans 
Vaihinger,  derzeit  Professor  in  Halle.  Die  Leitgedanken  dazu  hat  er 
schon  als  junger  Mann  in  den  siebziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhun- 
derts konzipiert  und  damit  bei  Ernst  Laas  und  besonders  bei 
Fr.  A.  Lange,  dem  Verfasser  der  „Geschichte  des  Materialismus", 
warme  Anerkennung  gefunden.  Aus  inneren  und  aus  äußeren  Gründen 
konnte  er  damals  das  Werk  nicht  veröffentlichen.  Erst  dreißig  Jahre 
später  entschloß  er  sich,  sein  Jugendwerk  herauszugeben,  weil  in- 
zwischen verwandte  Denkrichtungen  in  der  Philosophie  sich  ausgebildet 
hatten.  So  erschien  denn  im  Jahre  1911  das  grundlegende  Werk  unter 
dem  Titel :  „Die  Philosophie  des  Als-Ob,  System  der  theo- 
retischen, praktischen  und  religiösen  Fiktionen  der  Menschheit", 
und  übte  sofort  eine  tiefgehende  Wirkung  aus. 

Vaihinger  hat  in  der  Vorbemerkung  zur  ersten  und  in  dem  Vor- 
wort zur  zweiten  Autlage  das  Wichtigste  über  die  Entstehung  und  über 
die  Tendenz  seiner  Philosophie  mitgeteilt.  Noch  deutlicher  und  ausführ- 
licher hat  er  sich  darüber  in  seiner  „Selbstdarstellung"*)  ausgesprochen. 

rt  Faßt  er  die  Grundgedanken  seiner  Lehre  in  fünfzehn  klaren,  in- 
haltsvollen und  innerlich  zusammenhängenden  Thesen  überaus  lichtvoll 

, mimen,  so  daß  man  über  den  Gehalt  der  Philosophie  des  Als-Ob 
nicht  im  Zweifel  oder  im  unklaren  bleiben  kann. 

*)  „Die  deutsche  Philosophie  der  Gegenwart  in  Selbstdarstellungen"; 
herausgegeben  von  Raymund  Schmidt.  Leipzig  1921.  2.  Band. 


§  27.  Die  Philosophie  des  „Als-Ob"  77 

Der  wichtigste  Grundgedanke  Vaihingers  ist  die  Auffassung  des 
Denkens  als  einer  biologischen  Funktion.  Der  Intellekt  ist  als 
eine  der  wichtigsten  und  wirksamsten  Waffen  anzusehen,  die  der 
menschliche  Organismus  im  Kampfe  ums  Dasein  aus  sich  heraus  ent- 
wickelt hat.  Dieser  hier  klargelegte  Zusammenhang  zwischen  Denken 
und  Leben  bringt,  wie  wir  weiter  unten  noch  deutlicher  sehen  werden, 
eine  wahre  Fülle  von  neuem  Licht  in  die  Entwicklungsgeschichte  der 
menschlichen  Erkenntnis.  Vaihinger  zeigt  nun,  daß  der  menschliche  In- 
tellekt im  Laufe  seiner  Entwicklung  oft  dazu  gelangt  ist,  durch  b  e- 
wußt  falsche  Annahmen,  die  sogar  meistens  in  sich  wider- 
spruchsvoll sind,  Probleme  zu  lösen,  die  ohne  diese  Schleichwege 
dem  Denken  unzugänglich  geblieben  wären.  Solche  Annahmen,  die 
man  im  Sinne  von  Ernst  Mach  auch  als  Gedankenexperi- 
mente bezeichnen  könnte,  nennt  man  schon  lange  „Fiktionen". 
Man  findet  nun  in  dem  Werke  Vaihingers  eine  ganz  erstaunliche  Fülle 
von  Beispielen  für  wertvolle  Fiktionen,  die  in  den  verschiedensten 
Wissenschaften  mit  großem  Erfolg  zur  Lösung  schwieriger  Probleme 
geführt  haben.  Das  läßt  sich  in  der  Mathematik,  in  der  Physik,  in  der 
Chemie  und  Mineralogie,  aber  auch  in  der  Rechtswissenschaft  und  in 
der  Volkswirtschaftslehre  durch  viele  Fälle  belegen.  Schon  durch  diese 
Nachweise  allein  wird  das  Werk  Vaihingers  für  jeden,  der  in  die  Ent- 
wicklung der  Forschungsmethoden  und  in  die  sich  darin  kundgebende 
schöpferische  Kraft  des  Menschengeistes  Einblick  zu  gewinnen  wünscht, 
eine  reiche  Quelle  der  anregendsten  Belehrung. 

Die  Philosophie  des  Als-Ob  geht  aber  noch  einen  überaus  wich- 
tigen Schritt  weiter.  Vaihinger  weiß,  daß  im  Leben  der  Organismen 
Funktionen,  die  aus  dem  Erhaltungstrieb  entstanden  sind,  sich  oft  v/eiter 
entwickeln,  als  es  die  Bedürfnisse  der  Lebenserhaltung  fordern  und  so 
oft  eine  Art  von  Eigenleben  gewinnen.  Er  nennt  das  die  „Über- 
wucherung des  Mittels  über  den  Zweck".  Eine  solche  Entwicklung  hat 
nun  auch  der  menschliche  Intellekt  durchgemacht.  Das  Denken  hat  sich 
von  seinem  biologischen  Ursprung  losgelöst,  ist  selbständig  geworden 
und  forscht  nun  bloß  um  des  Forschens  willen,  ohne  jede  Rücksicht  auf 
die  praktischen  Konsequenzen.  „Infolgedessen  stellt  sich  dieses  an- 
scheinend unabhängige,  anscheinend  ursprünglich  theoretische  Denken 
Aufgaben,  die  nicht  bloß  dem  menschlichen  Denken,  sondern  jedem 
Denken  überhaupt  unmöglich  sind,  z.  B.  Fragen  nach  dem  Ursprünge 
und  nach  dem  Sinne  der  Welt.  Hieher  gehört  auch  die  Frage  nach  dem 
Verhältnis  von  Empfindung  und  Bewegung,  populär  gesprochen,  von 
Seelischem  und  Materiellem.  Solche  aussichtslose,  streng  genommen 
auch  einsichtslose  Fragen  sind  nicht  nach  vorwärts,  sondern  nur  nach 
rückwärts  aufzulösen,  indem  man  zeigt,  wie  diese  Fragen  psychologisch 
in  uns  entstanden  sind"  {Vaihinger,  „Selbstdarstellung",  S.  27).  Eine 
ganz  ähnliche  Auffassung  vertrete  ich  selbst  seit  mehr  als  zwanzig 
Jahren.  Schon  in  meinem  1895  erschienenen  Buche:  „Die  Urteilsfunk- 
tion" habe  ich  den  Phänomenalismus,  der  die  Welt  zur  „Vorstellung", 
zum  bloßen  „Bewußtseinsinhalt"  verflüchtigt,  als  eine  Hyper- 
trophie des  Erkenntnistriebes  bezeichnet,  die  zur  Rück- 
bildung gebracht  werden  muß.  Deshalb  habe  ich  auch  die  „Philo- 


78  1  rkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

sophie  des  Als-Ob'4  gleich  bei  ihrem  ersten  Bekanntwerden  freudig  be- 
Bfrüßi  und  als  eine  im  höchsten  Grade  fruchtbare  Gedankenrichtung 

bezeichnet. 

VaUünger  hat  au!  den  bedeutsamen  Unterschied  zwischen  Fik- 
tion und  H  v  p  0  t  h  e  s  e  hingewiesen  und  das  Verhältnis  dieser  zwei 
wichtigen  Denkmittel  klargestellt.  Die  Hypothese  ist  eine  Vermu- 
t  u  n  g,  die  aufgestellt  wird,  um  eine  Reihe  von  erwiesenen  Tatsachen 
einheitlich  zu  erklären.  Sie  birgt  immer  die  Hoffnung  in  sich,  durch  die 
Auffindung  neuer  Tatsachen  als  wahr  erwiesen,  oder,  wie  man 
auch  saut,  verifiziert  zu  werden.  Dagegen  ist  die  Fiktion  als  be- 
wußt falsche  Annahme  niemals  verifizierbar,  sondern  muß  ihren  Wert 
nur  durch  ihre  Fruchtbarkeit  erweisen.  Hier  finden  nun,  wie 
VaUünger  zuerst  gesehen  hat,  vielfach  „Ideenverschiebungen"  statt,  die 
für  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  oft  sehr  charakteristisch  sind. 
Man  kann  hier  zwei  einander  entgegengesetzte  Richtungen  beobachten. 
Zuweilen  wird  ein  Hilfsbegriff  zuerst  als  Fiktion  gebildet,  erhebt  sich 
dann  zum  Rang  einer  Hypothese,  um  schließlich  zum  feststehenden 
Dogma  zu  werden.  Umgekehrt  kann  es  vorkommen,  daß  ein  Denkmittel 
zuerst  dogmatisch  als  real  existierende  Tatsache  hingestellt  wird,  um 
später  als  bloße  Arbeitshypothese  verwendet  zu  werden,  bis  man  ein- 
sieht, daß  hier  nur  eine  brauchbare  Fiktion  vorliegt.  Ein  interessantes 
Beispiel  für  den  erstgenannten  Prozeß  ist  der  von  Adam  Smith  ge- 
bildete Begriff  des  „wirtschaftlichen  Menschen",  der  alle  Maßnahmen 
einzig  und  allein  auf  Grund  einer  klaren  und  klugen  Berechnung  seines 
ökonomischen  Vorteils  trifft.  Für  den  Schöpfer  der  wissenschaftlichen 
Volkswirtschaftslehre  war  dieser  Begriff  eine  bloße  Fiktion,  die  es  er- 
möglichte, Gesetze  der  Produktion  und  des  Umlaufes  der  Güter  auf- 
zustellen. Für  seine  Nachfolger  wurde  diese  Fiktion  zur  Hypothese,  die 
dann  infolge  ihrer  scheinbaren  Verifizierung  zum  Dogma  erhoben 
wurde.  An  diesem  Dogma  hält  heute  infolge  der  volkswirtschaftlichen 
Entwicklung  ein  großer  Teil  der  erwerbenden  Menschheit  fest.  Ja,  es  hat 
sich  daraus  sogar  eine  Art  von  panökonomischer  Lebens- 
anschauung herausentwickelt,  die  das  Geld  nicht  mehr  bloß  als 
allgemeines  Tauschmittel,  sondern  als  absoluten  Wertmaß- 
s  t  a  b  ansieht  *). 

Der  umgekehrte  Prozeß  läßt  sich  vielleicht  am  besten  an  dem 
\  t  o  m  b  e  g  r  i  f  f  der  Physik  exemplifizieren.  Im  Altertum  haben  Leu- 
kipp und  Demokrit  die  Atome  als  die  einzig  wirklichen  letzten  Einheiten 
mit  dogmatischer  Bestimmtheit  hingestellt.  Die  neuere  Physik  hat  diesen 
Begriff  als  Hypothese  verwendet  und  heute  gilt  er  meist  nur  mehr  als 
brauchbare  1  iktion.  So  hat  also  VaUünger  in  den  Ursprung  und  in  die 
i  ntwicklung  des  menschlichen  Denkens  tief  hineingeleuchtet  und  für 
die  Erkenntnistheorie  neue  und  wichtige  Wege  gezeigt. 

Die  Philosophie  des  Als-Ob  will  aber  mehr  sein  als  eine  neue  Er- 
kenntnistheorie.  Sie  weist  nicht  bloß  auf  den  biologischen  Ursprung  des 
Denkens  hin,  sondern  sie  zeigt  auch,  daß  der  anscheinend  selbständig 

')    VgL  Jerusalem,   „Der    Krieg   im   Lichte   der   Gesellschaftslehre",   1915, 
6  ff 


§  27.  Die  Philosophie  des  „Als-Ob"  70 

gewordene  Intellekt  Probleme  schafft,  die  auf  rein  rationalem,  logischem 
Wege  ganz  und  gar  unlösbar  und  darum  falsch  gestellt  sind.  Indem 
nun  das  Denken  seiner  ursprünglichen  Aufgabe  zurückgegeben  wird, 
betont  die  Philosophie  des  Als-Ob  mit  Kant  das  Primat  der  prak- 
tischenVernunft  und  stellt  das  Denken  mit  voller  Entschieden- 
heit indenDienstdesLebens.  Dabei  soll  nun  die  Welt  der  F  i  k- 
t  i  o  n  e  n,  deren  Ursprung  und  Bedeutung  Vaihinger  zuerst  voll  er- 
kannt hat,  eine  wichtige  Funktion  übernehmen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Ä  s  t  h  e  t  i  k  spielt  zwar,  wie  Konrad  Lange 
in  seinem  tiefgründigen  Werke :  „Das  Wesen  der  Kunst",  nachgewiesen 
hat,  die  „bewußte  S  e  1  b  s  t  - 1 1 1  u  s  i  o  n"  eine  sehr  wichtige  Rolle, 
und  man  kann  also  hier  mit  einem  gewissen  Recht  von  einer  „Als-Ob- 
Welt"  sprechen,  die  mächtige  Wirkungen  ausübt.  Vaihinger  glaubt 
aber,  daß  die  Philosophie  des  Als-Ob  auch  für  die  letzten  Fragen  der 
Rechtswissenschaft,  der  Ethik  und  der  Religions- 
philosophie Lösungen  zu  bieten  habe,  die  ohne  jeden  Schritt  ins 
Transzendente  geeignet  seien,  tief  gefühlte  Bedürfnisse  des  mensch- 
lichen Gemütes  dauernd  zu  befriedigen. 

Gegen  diese  Erweiterung  der  „Philosophie  des  Als-Ob"  zu  einer 
Welt-  und  Lebensanschauung  erheben  sich  nun  nicht  ungewichtige 
Zweifel  und  Bedenken,  auf  die  ich  zum  Teil  schon  in  meinem  oben  er- 
wähnten Aufsatz  hingewiesen  habe.  Vaihinger  legt  ausführlich  dar, 
daß  der  Begriff  der  Willensfreiheit  nicht  nur  der  beobachteten 
Wirklichkeit,  in  der  alles  nach  unabänderlichen  Gesetzen  erfolge,  son- 
dern auch  sich  selbst  widerspreche.  „Aller  dieser  Widersprüche  un- 
geachtet, wenden  wir  diesen  Begriff  nicht  nur  im  täglichen  Leben  bei 
der  Beurteilung  der  moralischen  Handlungen  an,  sondern  er  bildet  auch 
die  Grundlage  des  ganzen  Kriminalrechtes:  ohne  jene  Annahme  wäre 
eine  Strafe  für  etwas  Getanes  undenkbar  vom  sittlichen  Standpunkt  aus. 
Aber  auch  die  Beurteilung  unserer  Nebenmenschen  hängt  so  voll- 
kommen von  diesem  Begriffsgebilde  ab,  daß  wir  es  nicht  mehr  ent- 
behren können"  (Philosophie  des  Als-Ob,  S.  59).  „Die  Menschheit", 
so  fährt  Vaihinger  fort,  „hat  dieses  wichtige  Begriffsgebilde  im  Laufe 
der  Entwicklung  mit  immanenter  psychischer  Notwendigkeit  gebildet, 
weil  nur  auf  seiner  Grundlage  höhere  Kultur  und  Sittlichkeit  möglich 
ist;  allein  das  hindert  nicht  einzusehen,  daß  dieses  Begriffsgebilde 
selbst  eine  logische  Monstrosität  ist,  daß  es  ein  Widerspruch  ist,  kurz, 
daß  es  nur  eine  Fiktion,  keine  Hypothese  ist"  (a.  a.  O.  S.  60).  In 
ähnlicher  Weise  betrachtet  Vaihinger  auch  die  r  e  1  i  g  i  ö  s  e  n  Ideen  als 
theoretisch  widerspruchsvolle  und  praktisch  wertvolle  Gebilde  und  zählt 
sie  ebenfalls  zu  den  Fiktionen.  Er  hat  zur  Illustration  auf  einen  sehr 
interessanten  Versuch  einer  „Religion  des  Als-Ob"  hingewiesen,  den 
ein  Zeitgenosse  Fichtes,  namens  Forberg,  unternommen  hat  (a.  a.  O. 
S.  735  ff.). 

Dagegen  wäre  nun  folgendes  zu  sagen:  Auf  dem  Gebiete  des 
Rechtes  mag  vielleicht  die  Annahme  der  Willensfreiheit  auch  dann 
ihre  Wirkung  tun,  wenn  man  sie  bloß  als  Fiktion  gelten  läßt,  weil  es 
hier  auf  die  s  o  z  i  o  1  o  g  i  s  c  h  e  W  i  r  k  u  n  g  der  Rechtsinstitution  weit 
mehr  ankommt    als  auf  die  theoretische  Grundlegung.     Wesentlich 


80  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

anders  verhalt  es  sich  aber  in  bezug  auf  das  Gebiet  der  Sittlich- 
keit und  der  R  e  1  igi  o  n.  Die  sittlichen  Forderungen  haben  zwar 
ebenso  wie  die  Rechtsinstitutionen  ihre  Quelle  und  ihren  Ursprung 
ebenfalls  im  menschlichen  /  u  s  a  m  menleben.  Allein  hier  gewinnen, 
\\  ie  w  eiter  unten  gezeigt  werden  soll,  die  s  o  z  i  a  1  e  n  Imperative 
erst  dadurch  den  Charakter  von  sittlichen  Pflichten,  daß  sie 
tief  in  das  Bewußtsein  der  Einzelmenschen  eindringen  und  von  ihm 
innerlich  als  verbindlich  anerkannt  werden.  Überdies  zeitigt  die  stets 
wachsende  Überzeugung  vom  Eigenwert  jedes  Einzelmenschen  immer 
mehr  das  ( lefuhl  der  Menschenwürd  e,  das  wir  weiter  unten  als 
überaus  wichtigen  Hebel  der  sittlichen  Höherentwicklung  kennen  lernen 
werden.  Für  diese  Betrachtungsweise  der  ethischen  Probleme  wird  die 
Annahme  einer  Willensfreiheit  von  fundamentaler  Bedeutung,  und  es 
genügt  dafür  nicht,  sie  als  bloße  Fiktion  gelten  zu  lassen.  Nun  steht 
aber  diese  Annahme  zwar  mit  jeder  materialistischen,  aber 
keineswegs  mit  jeder  naturwissenschaftlichen  Welt- 
anschauung in  Widerspruch.  Die  neueren  Untersuchungen  von 
William  James,  von  Karl  Joel  und  von  Heinrich  Oomperz  haben  er- 
wiesen, daß  die  Leugnung  der  Willensfreiheit  keineswegs  eine  wissen- 
schaftliche Selbstverständlichkeit  ist.  Für  die  Begründung  der  sittlichen 
Forderungen  genügt  aber  die  Fiktion  der  Freiheit  oder  eine 
Ethik  des  Als-Ob  durchaus  nicht.  Es  scheint  mir  vielmehr  in  der  sitt- 
lichen Bestimmung  des  Menschen  die  Aufgabe  enthalten  zu  sein,  gerade 
durch  sein  ethisches  Tun  die  Freiheit  und  die  Würde  des  Menschen 
immer  mehr  als  Tatsache  zu  erweisen. 

Noch  weniger  vermag,  meiner  Überzeugung  nach,  eine  Reli- 
gion des  Als-Ob  einen  Ersatz  für  den  lebendigen  Glauben  des 
frommen  Gemütes  zu  bieten.  Wir  brauchen  den  Gottesbegriff,  um 
unserem  empirischen  Weltbilde  den  erwünschten  Abschluß  zu 
geben.  Das  kann  aber  nur  der  Begriff  einer  Gottheit  leisten,  die  von  uns 
ils  reales,  als  wirkliches  und  vor  allem  als  wirkungsfähiges  Wesen  ge- 
dacht wird.  Davon  soll  noch  weiter  unten  die  Rede  sein. 

Wenn  also  die  Philosophie  des  Als-Ob  als  neue  Welt-  und  Lebens- 
anschauung  nicht  ganz  zu  befriedigen  vermag,  so  hat  sie  doch  das 
Wesen  und  die  Entwicklung  der  menschlichen  Erkenntnis  in  eine  neue 
und  in  eine  helle  Beleuchtung  gerückt.  Indem  sie  das  Denken  als  bio- 
logische Funktion  erfaßt,  lehrt  sie  uns  den  innigen  Zusammenhang  von 
1  i  kennen  und  Leben  viel  tiefer  und  viel  klarer  verstehen.  Dadurch  aber, 
daß  sie  auf  die  verschlungenen  Umwege  und  Schleichwege  hinweist,  die 
das  Denken,  vom  Lebensdrang  getragen,  aufzufinden  weiß,  um  die  Natur 
dem  Mensehen  dienstbar  zu  machen,  lernen  wir  auch  die  schöpferische 
Krafl  des  Menschengeistes  viel  besser,  viel  richtiger  und,  wenn  ich  so 
sagen  darf,  viel  konkreter  erkennen  und  würdigen. 

Vaihinger  bezeichnet  seine  Philosophie  als  „idealistischen 
P  o  s  i  t  i  v  i  s  m  u  su.  Sie  ist  Positivismus,  weil  darin  die  Empfindungs- 
welt als  letzte  Realität  betrachtet  und  jeder  Schritt  ins  Transzendente 
vermieden  wird.  Idealistisch  darf  sich  diese  Denkrichtung  deshalb 
nennen,  weil  darin  die  schöpferische  Kraft  des  Geistes  so  lebendig  zum 
Ausdrucke  kommt,  und  weil  in  ihr  die  Erzeugnisse  der  freien  Phantasie, 


§  28.  Der  Pragmatismus  81 

also  das,  was  wir  gewöhnlich  „Ideal  e"  nennen,  eine  so  bedeutsame 
Rolle  spielen. 

In  den  Vorbemerkungen  zu  seinem  Werke  weist  Vaihinger  auf  ge- 
wisse Strömungen  in  der  gegenwärtigen  Philosophie  hin,  durch  die  er 
veranlaßt  wurde,  sein  Jugendwerk  noch  bei  seinen  Lebzeiten,  zu  ver- 
öffentlichen. Als  eines  dieser  „Momente"  bezeichnet  er  den  von  Amerika 
herübergekommenen  „Pragmatismu  s",  bei  dem  man,  wie  er  sehr 
richtig  sagt,  „die  unkritischen  Übertreibungen  von  dem  Wertvollen 
scheiden  muß"  (Philosophie  des  Als-Ob,  S.  XI).  Diese  in  Deutschland 
so  vielfach  mißverstandene  und  arg  verketzerte  Denkrichtung  wollen 
wir  noch  einer  kritischen  Betrachtung  unterziehen,  um  dann  zur  Dar- 
stellung unserer  eigenen  Auffassung  des  Erkenntnisprozesses  über- 
zugehen. 

§  28.  Der  Pragmatismus 

Von  der  Erwägung  ausgehend,  daß  die  kritischen  Untersuchungen 
des  menschlichen  Erkennens  so  wie  die  metaphysischen  Spekulationen 
über  den  Urgrund  der  Dinge  die  Philosophie  immer  mehr  der  wirklichen 
Welt  und  dem  Leben  entfremdeten,  kamen  am  Ende  des  vorigen  Jahrhun- 
derts einige  amerikanische  Philosophen  auf  den  Gedanken,  den  Stand- 
punkt der  Betrachtung  zu  verändern.  Sie  sagten  sich,  daß  das  theo- 
retische Denken  erfahrungsgemäß  dazu  diene,  um  dem  menschlichen 
Handeln  die  Richtung  zu  bestimmen  und  dem  Leben  neuen  Inhalt  zu- 
zuführen. Auf  diese  praktische  Bedeutung  des  Denkens  wurde  nun  die 
Aufmerksamkeit  gerichtet  und  so  entstand  die  neue  Erkenntnistheorie, 
für  welche  später  die  Bezeichnung  Pragmatismus  üblich  wurde. 

Der  Begründer  dieser  neuen  Methode  ist  Charles  Peirce.  In  einem 
im  Jahre  1878  erschienenen  Aufsatze*),  der  das  Thema  behandelt: 
„Wie  wir  uns  unsere  Ideen  klar  machen  können",  hat  er  darauf  hin- 
gewiesen, daß  unsere  Urteile  und  unsere  Überzeugungen  eigentlich 
nichts  anderes  sind  als  Regeln  für  unsere  Handlungsweise.  Wenn  wir 
also  den  wahren  Sinn  und  Inhalt  eines  Gedankens  uns  selbst  zu  voller 
Klarheit  bringen  wollen,  so  müssen  wir  versuchen,  die  Wirkungen  dieses 
Gedankens  auf  menschliche  Handlungen  aufzuzeigen.  Es  gibt  keine  Ge- 
danken-Distinktionen,  und  wären  sie  noch  so  subtil,  die  nicht  irgend 
welche  praktische  Unterschiede  bedingen.  Wo  wir  keine  solchen  prak- 
tischen Konsequenzen  nachweisen  können,  da  ist  der  Gedanke  inhalts- 
los und  besteht  bloß  in  Wortverbindungen.  Die  Erfassung  der  prak- 
tischen Konsequenzen  eines  Gedankens  ist  die  Erfassung  seines  voll- 
ständigen und  seines  einzigen  Sinnes. 

Aus  dieser  Grundanschauung  hat  sich  nun  der  Pragmatismus  als 
Methode  entwickelt,  die  bisher  hauptsächlich  in  zweifacher  Richtung 


*)  Peirces  Artikel  erschien  zuerst  in  der  amerikanischen  Zeitschrift  „Populär 
Science  Monthly"  (Januar  1878)  und  ist  am  besten  zugänglich  in  der  französischen 
Übersetzung,  die  die  „Revue  Philosophique"  (Dezember  1878  und  Januar  1879) 
brachte.  Das  Wort  Pragmatismus  kommt  in  der  Abhandlung  nicht  vor. 
Vgl.  Jerusalem  in  der  Deutschen  Literaturzeitung  1908,  Nr.  4,  und  Ludwig  Stein 
im  Archiv  für  systematische  Philosophie,  1908. 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  0 


Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

gewendet  wurde,  Der  Pragmatismus  ist  zunächst  dazu  verwendet 
den,  um  Probleme  auszuschalten,  deren  Lösung  für  die  praktische 
1  ebensführung  bedeutungslos  ist.  Der  Pragmatist  fragt  sich  nämlich 
bei  jedem  Problem:  Was  für  praktische  Folgen  ergeben  sich  aus  der 
einen  1  ösung  und  welche  aus  der  entgegengesetzten?  Zeigt  es  sich  nun, 
daß  wir  uns  in  beiden  Fällen  gleich  benehmen  müssen,  so  liegt  kein 
Problem  vor.  Dies  nun  /.  B.  bei  der  Frage  nach  der  Realität  oder 
Idealität  der  Außenwelt  zu.  Der  Idealist  muß  sich  der  Außenwelt 
gegenüber  genau  so  benehmen  wie  der  Realist  und  somit  ist  der  ganze 
Streu  im  den  Pragmatisten  wert-  und  bedeutungslos.  Dagegen  ist  die 
I  rage,  ob  die  Welt  von  Gott  geschaffen  wurde  oder  ob  sie  aus  rein 
materiellen  Prozessen  entstanden  sei,  für  die  Lebensführung  von  großer 
Bedeutung,  weil  die  Welt  mir  etwas  ganz  anderes  verheißt,  wenn  ich 
i  ioti  als  ihren  Urheber  betrachten  darf,  als  wenn  die  Materie  selbst 
alles  hervorgebracht  hat.  Es  ist  also  für  den  Pragmatismus  ein  Pro- 
blem, das  des  Nachdenkens  wert  ist. 

Das  zweite  Gebiet,  auf  welches  die  pragmatische  Methode  bis- 
her angewendet  wurde,  ist  der  Erkenntnisprozeß  und  der  Wahr- 
tieitsbegriff.  Der  Pragmatismus  faßt  das  Denken  als  einen  Teil 
und  als  einen  Faktor  des  Lebens  auf.  Die  Wahrheit  eines  Urteils  be- 
steht nach  dieser  Auffassung  nur  in  den  praktischen  Wirkungen,  die 
Jas  Urteil  auslöst.  Wahr  ist  ein  Urteil  dann,  wenn  die  dadurch  ver- 
anlaßten  Maßnahmen  sich  als  lebensfördernd  erweisen.  Eine 
rein  theoretische  Wahrheit,  die  in  der  bloßen  Konstatierung  eines  Tat- 
bestandes sich  erschöpft,  gibt  es  bei  dem  engen  Zusammenhang 
/wischen  Denken  und  Leben  überhaupt  nicht.  Noch  weniger  kann  von 
einer  absoluten,  für  alle  Zeiten  und  für  alle  denkenden  Wesen  gültigen 
Wahrheit  die  Rede  sein.  Die  Wahrheit  hat  immer  etwas  Aktives,  Rich- 
tunggebendes. Sie  ist  nicht  zeitlos,  sondern  immer  der  Zukunft  zu- 
kehrt. 

Diese  neue  Auffassung  des  Wahrheitsbegriffes  erschüttert  alte, 
festgewurzelte  Denkgewohnheiten  und  findet  deshalb  von  vielen  Seiten 
heftigen  Widerspruch.  Es  sind  insbesondere  die  Vertreter  der  alten 
formalen  Logik  und  die  Mathematiker,  die  sich  gegen  die  pragmatische 
Auffassung  der  Wahrheit  wehren.  Die  Logiker  und  Mathematiker 
halten  daran  fest,  daß  es  ewige,  zeitlose  Wahrheiten  gibt,  die  unab- 
hängig von  aller  Erfahrung  gefunden  werden  und  für  jede  mögliche 
Erfahrung  gelten  müssen.  In  den  letzten  Jahren  hat  der  Kampf  gegen 
den  Pragmatismus  und  die  Verteidigung  desselben  in  den  englischen 
und  amerikanischen  Zeitschriften  einen  großen  Raum  eingenommen. 
Auf  dem  Heidelberger  Philosophen-Kongreß  im  Jahre  1908  war  die 
neue  Methode  der  ( iegenstand  sehr  lebhafter  Diskussionen.  Eine 
Klärung  der  Ansichten  ist  zurzeit  noch  nicht  eingetreten,  allein  der 
Pragmatismus  wird  durch  die  Argumente  der  Gegner  zur  Weiter- 
entwicklung des  ihm  zugrunde  liegenden  Gedankens  veranlaßt  werden. 
Die  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtung  des  Erkenntnis- 
pr<  .  die  uns  im  nächsten  Paragraphen  beschäftigen  wird,  dürfte 

/eigen,  daß  der  Pragmatismus  mii   seiner  aktivistischen   Auffassung 
des  Wahrheitsbegriffes  im  wesentlichen  recht  hat.  Die  in  jedem  Urteile 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  83 

enthaltene  Deutung  der  Eindrücke  bleibt  immer  auf  die  V  e  r  w  e  r- 
t  u  n  g  gerichtet.  Wenn  aber  die  Lebensbedingungen  komplizierter 
werden,  so  schaltet  sich  oft  zwischen  Deutung  und  Verwertung  eine 
kleinere  oder  größere  Wartezeit  ein.  Wir  deuten  den  Eindruck  und  be- 
wahren die  Deutung  zur  künftigen  Verwertung  auf.  Wir  lernen  gleich- 
sam auf  Vorrat  urteilen.  Das  Wissen  ist  und  bleibt,  wie  einer 
der  energischesten  Vertreter  des  Pragmatismus,  Prof.  F.  C.  S.  Schiller 
aus  Oxford,  in  Heidelberg  gesagt  hat,  „Mittel  und  Vermittlung".  In 
letzter  Linie  zielt  alles  Urteilen  und  somit  die  ganze  Wissenschaft  auf 
Verwertung  ab.  In  ähnlichem  Sinne  hat  sich  auch  Ernst  Mach  aus- 
gesprochen *).  Allein  die  oben  erwähnte  Wartezeit  zwischen  Deutung 
und  Verwertung  nimmt  immer  größere  Dimensionen  an.  Hier  schaltet 
sich  allmählich  nichts  Geringeres  ein  als  die  ganze  theo- 
retische Wissenschaft.  Diese  lehrt  uns,  die  Erfahrung  zer- 
gliedern und  mit  Hilfe  der  früheren  Erfahrungen  und  der  daraus  ab- 
gezogenen Begriffe  ökonomisch  ordnen.  Wir  sehen  uns  immer  mehr  ge- 
zwungen, von  der  unmittelbaren  Verwertbarkeit  der  Urteile  abzustehen 
und  die  Deutung  der  Eindrücke  ohne  Rücksicht  auf  künftige  Verwer- 
tung möglichst  exakt  und  möglichst  vollständig  zu  gestalten.  Das 
wissenschaftliche  Denken  zeitigt  in  uns,  wie  wir  oben  (§5)  dargelegt 
haben,  die  Fähigkeit,  Tatsachen  zu  konstatieren,  was 
durchaus  nicht  so  leicht  und  so  einfach  ist,  wie  man  gewöhnlich  glaubt. 
Haben  wir  aber  unsern  Intellekt  mit  Hilfe  der  Wissenschaft  so 
geschult,  daß  wir  unsere  Gefühle,  Wünsche  und  Triebe  so  weit  zu 
unterdrücken  vermögen,  daß  wir  imstande  sind,  das  objektiv  Ge- 
gebene rein  zu  erfassen,  so  brauchen  wir  auch  eine  Formel,  welche 
ausdrückt,  daß  das  von  uns  Konstatierte  wirklich  eine  von  uns  unab- 
hängige Tatsache  darstellt.  Diese  Formel  ist  der  für  die  Wissenschaft 
unentbehrliche  theoretische  Wahrheitsbegriff,  eine  Art 
von  Vorratskammer  für  künftige  Verwertungen.  Der  Pragmatismus 
hat  die  Unentbehrlichkeit  des  theoretischen  Wahrheitsbegriffes  für  die 
Wissenschaft  nicht  erkannt  und  sich  deshalb  viel  unnütze  Streitig- 
keiten zugezogen.  Daß  aber  die  rein  theoretische  Wahrheit  der  Wissen- 
schaft nicht  der  letzte  Zweck  alles  Denkens  ist,  darin  hat  der  Pragma- 
tismus zweifellos  recht.  Diesen  letzten  Zweck  zu  bestimmen,  ist  eben 
die  Aufgabe  der  Philosophie,  die  sich  dadurch  von  der  Wissenschaft 
unterscheidet,  wie  oben  (§5)  dargelegt  wurde.  Der  Pragmatismus  ist 
keine  fachwissenschaftliche,  sondern  eine  durchaus  philo- 
sophische Methode.  Er  hat  das  bleibende  Verdienst,  auf  den  engen 
Zusammenhang  zwischen  Denken  und  Leben  hingewiesen  und  die 
Philosophie  dadurch  dem  Leben  näher  gebracht  zu  haben. 

§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie 

Wenn  die  Philosophie  nicht  mehr  weltfremde  Spekulation,  son- 
dern lebensfördernde  Denkarbeit  sein  soll,  so  muß  die  Erkenntnis- 
theorie ihren  isolierenden   Standpunkt  aufgeben  und  muß  den  Ver- 


")  Ernst  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum,  3.  Aufl.  S.  462. 


84  I  rkenntiiiskritik  und  Erkenntnistheorie 

such  unternehmen,  die  menschliche  Erkenntnis  als  einen  Entwicklungs- 
prozeß zu  verstehen,  der  in  der  Entfaltung  des  individuellen  Einzel- 
lebens und  des  Lebens  der  menschlichen  Gesellschaft  naturnotwendig 
hervortritt,  an  der  allgemeinen  Lebensentwicklung  teilnimmt  und  auf 

diese  zurückwirkt.  Die  sinnliche  Wahrnehmung  und  das  begriffliche 
Denken  sind  dann  nicht  als  zwei  getrennte  Seelenvermögen  zu  be- 
trachten;  sie  sind  vielmehr  Ausstrahlungen  einer  und  derselben 
geistigen  Kraft  und  wirken  überall  zusammen.  „Gedanken  ohne  Inhalt 
sind  leer,  Anschauungen  ohne  Begriffe  sind  blind",  hat  schon  Kant 
igt  und  damit  zweifellos  eine  wichtige  Wahrheit  ausgesprochen. 
In  jedem  Erkenntnisakt  tritt  unsere  ganze  psychophysische  Organi- 
sation lebendig  in  Wirksamkeit,  und  die  Erkenntnistheorie  muß  vor 
allem  bemüht  sein,  durch  das  vertiefte  Studium  der  Erkenntnisakte  die 
'  irundform  alles  Erkennens  zu  finden.  Aus  dem  Zusammenwirken  des 
menschlichen  Organismus  mit  seiner  Umgebung,  aus  der  Art  und 
Weise,  wie  unser  Bewußtsein  auf  die  Eindrücke  reagiert,  die  von  außen 
auf  uns  einstürmen,  aus  den  Maßnahmen,  die  wir  treffen  müssen,  um 
uns  in  der  Umwelt  zu  behaupten  und  um  diese  Umwelt  beherrschen  zu 
lernen,  wird  sich  die  dem  Menschen  gemäße  Form  finden  lassen,  in  die 
er  genötigt  ist,  die  Vorgänge  der  Außenwelt  zu  bringen,  um  sich  darin 
/urecht  zu  finden. 

Die  genetische  Betrachtung  wird  daher  den  Erkennt- 
nisprozeß  im  Zusammenhang  mit  dem  übrigen  Seelenleben  unter- 
suchen. Die  Erkenntnistheorie  darf  das  Erkennen  nicht  gewaltsam  von 
seinem  Zusammenhang  mit  dem  Fühlen  und  Wollen  loslösen,  kurz,  die 
Erkenntnistheorie  muß  auf  psychologischer  Grundlage  auf- 
gebaut werden.. 

Man  darf  ferner  nicht  vergessen,  daß  der  Trieb  nach 
Erkenntnis  dem  Lebenserhaltungstriebe  ent- 
stammt. Der  Mensch  muß  sich  in  seiner  Umgebung  zurechtfinden, 
er  muß  wissen,  wessen  er  sich  von  den  ihn  umgebenden  Objekten  zu 
versehen  hat,  muß  ihre  aktuellen  und  ihre  potentiellen 
K  r  a  f  t  ä  u  ß  e  r  u  n  g  e  n  verstehen  und  deuten  lernen,  wenn  er  sich 
in  ihrer  Mitte  soll  erhalten  und  sie  nach  und  nach  soll  beherrschen 
können.  In  der  Tat  verdanken  auch  alle  Wissenschaften  ihr  Entstehen 
einem  praktischen  Bedürfnisse.  So  ist  die  Astronomie  im  Dienste  der 
Landwirtschaft  und  der  Schiffahrt  und  vielleicht  auch  zum  Zwecke 
einer  genaueren  Zeiteinteilung  ausgebildet  worden.  Die  Geometrie  ist 
als  1  eldmeßkunst  entstanden  und  die  Arithmetik  wurde  im  Dienste 
des  Handels  ausgebildet.  Die  Not  hat  nicht  nur  beten, 
sondern  auch  denken  gelehrt.  Sowie  aber  der  Trieb  nach 
I  rkenntnis  geweckt  war,  hat  er  sich  viel  weiter  und  viel  mächtiger  ent- 
wickelt, als  das  unmittelbare  Bedürfnis  reichte.  Er  ist  zu  einem  F  u  n  k- 
tion sb  e  d  ü  r  f  n  i  s  unseres  Organismus  geworden,  das  nach  Be- 
friedigung  verlangt.  Auf  diesem  Wege  ist  das  Streben  nach  Wissen  um 
des  Wissens  willen  entstanden  und  so  hat  sich  auch  jenes  theoretische 
Staunen  entwickelt,  das  wir  oben  als  Anfang  der  Philosophie  bezeichnet 
haben.  Ulein  der  biologische  Ursprung  des  Erkenntnistriebes  darf  doch 
nicht  vergessen  werden. 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkennistheorie  85 

Wenn  ferner  gesagt  wurde,  die  Sinne  liefern  den  Stoff,  der  Ver- 
stand die  Form  der  Erkenntnis,  so  muß  versucht  werden,  diese  Form 
näher  zu  bestimmen.  Kant  hat  die  Stammformen  des  Verstandes  durch 
Reflexion  auf  die  von  der  traditionellen  Logik  überlieferte  Eintei- 
lung der  Urteile  gefunden.  Diese  Klassifikation  ist  jedoch  eine 
zu  logischen  Zwecken  vorgenommene  Umformung  der  wirk- 
lich vollzogenen  Urteile  und  sagt  uns  nichts  über  den 
psychologischen  Vorgang,  der  sich  tatsächlich  in  jedem  Urteilsakte  voll- 
zieht. Deshalb  scheint  es  das  Richtigere,  die  Form  des  U  r  t  e  i  1  s  über- 
haupt, wie  es  tatsächlich  vollzogen  wird,  zu  untersuchen.  M  u  ß  d  o  c  h 
jede  Erkenntnis,  die  einfache  Sinneswahrneh- 
mung ebenso  wie  das  Resultat  einer  sehr  kompli- 
zierten Gedankenreihe,  in  der  Form  des  Urteils 
gedacht  und  ausgedrückt  werden. 

Das  Wesentliche  an  jedem  Urteilsakte  ist  nun  nicht,  wie  vielfach 
geglaubt  wird,  eine  Verbindung  von  Begriffen  oder  eine  Assoziation 
von  Vorstellungen.  Der  beurteilte  Vorgang  ist  vielmehr  vor  dem 
Urteile  als  einheitliche  Vorstellung  gegeben.  Durch  das  Urteil  erfährt 
nun  der  Vorstellungsinhalt  eine  bestimmte  Formung  und  Gliede- 
rung, und  zwar  in  der  Weise,  daß  der  Vorgang  auf  ein  selbständig 
vorhandenes  Kraftzentrum  bezogen  und  als  K  r  a  f  t  ä  u  ß  e- 
rung  dieses  Kraftzentrums  hingestellt  wird.  Die  duftende 
Rose  ist  vor  dem  Urteil  als  Ganzes  gegeben.  Im  Urteil:  „Die  Rose 
duftet"  ist  das  Duften  als  eine  Kraftäußerung  des  Kraftzentrums  Rose 
aufgefaßt.  Das  Kraftzentrum  ist  das  Subjekt,  die  Äußerung  das 
Prädikat. 

Diese  Auffassung  wird  noch  begreiflicher,  wenn  man  versucht, 
das  allgemeine  psychologische  Gesetz  zu  finden,  das  sich  darin  wirk- 
sam erweist.  Es  liegt  hier  nämlich  nichts  anderes  vor,  als  eine  allen 
Menschen  gemeinsame  Art  der  Apperzeption.  Unter  Apperzep- 
tion verstehen  wir  die  Formung  und  Aneignung  einer 
Vorstellung  mittels  der  durch  die  Aufmerksam- 
keit aktuell  gewordenen  Vorstellungsdisposi- 
tionen. Wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand 
konzentrieren,  so  wird  dieser  dadurch  in  den  Blickpunkt  des  Bewußt- 
seins gehoben,  und  alle  Vorstellungen,  die  mit  dem  Gegenstande,  sei 
es  durch  Ähnlichkeit,  sei  es  durch  Kontiguität  zusammenhängen,  wer- 
den dadurch  lebendig.  Diese  wachgerufenen  Vorstellungen  strahlen 
nun  gleichsam  ihr  Licht  auf  den  Gegenstand  zurück,  wodurch  dieser 
selbst  in  eine  neue  Beleuchtung  gerückt  wird. 

Unter  den  vorhandenen  Vorstellungsdispositionen  werden  natur- 
gemäß diejenigen  am  leichtesten  durch  die  Aufmerksamkeit  lebendig 
werden,  die  am  stärksten  ausgebildet  und  demnach  bei  den  betreffen- 
den Individuen  die  vorherrschenden  sind.  Ein  und  derselbe  Gegen- 
stand wird  deshalb  bei  verschiedenen  Personen  verschiedene  Vorstel- 
lungsgruppen wachrufen,  das  heißt  er  wird  in  verschiedener  Weise 
apperzipiert  werden.  Die  am  leichtesten  erregbaren  Vorstellungs- 
gruppen wollen  wir  die  herrschende  Apperzeptions- 
masse nennen.  So  sieht  z.  B.  der  müde  Wanderer  in  einem  Walde 


S6  1  rkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

nur  den  Schatten  gewährenden  Ort,  der  Maler  wird  hingegen  die  Far- 
benschattierungen und  <.lk'  Baumgruppen  beachten,  der  Zimmermann 
wird  auf  die  <  iröße  und  Stärke  der  Stämme  aufmerksam  werden,  der 
I  örster  auf  den   Baumschlag,  der  Jäger  auf  die  Spuren  des  Wildes. 
So  verschieden  nun  auch  dieselben  Objekte  apperzipiert  werden 
können,  so  gib!  es  doch  eine  Auffassungsweise,  eine  Art  der  Apper- 
eption,  die  wir  allem  Geschehen  in  gleicher  Weise  entgegenbringen. 
W  enn   ein    Kind  den  Versuch  macht,  einen  Gegenstand  zusammen- 
zudrücken, so  erscheint  ihm  der  Widerstand,  den  es  empfindet,  als  ein 
wollter  Gegendruck.   Das   Kind   legt  eben   seine  eigenen 
\\  illensimpulse  auch  den  umgebenden  Objekten  bei  und  faßt  so  die 
Vorgänge  als  Willensäußerungen  auf.   Das  Kind  apperzipiert  jeden 
Vorgang  so,  daß  dadurch  die  stärkste  Vorstellungsdisposition  rege 
Aird.  Unter  allen  Dispositionen  hat  aber  keine  auch  nur  annähernd 
dieselbe  Stärke  wie  die  durch  die  Bewegungen  des   Körpers  immer 
wieder  aktuell  werdende  Disposition,  Willensimpulse  zu  erleben.  Die 
I  rinnerung  an  die  erlebten  Willensimpulse  wird  also  am  leichtesten 
wachgerufen,    und    diese    Erinnerungen    bilden    die    vorherrschende 
\pper/eptionsmasse,  die  das  Kind  an  jeden  Vorgang  heranbringt,  dem 
seine  Aufmerksamkeit  zuwendet.  Jedes  wahrgenommene  Objekt  gilt 
dem  Kinde  als  ein  beseeltes  Wesen,  und  alles,  was  es  an  dem  Objekte 
bemerkt,  wird  von  ihm  als  Willenshandlung  des   Dinges  aufgefaßt. 
Dieselbe  beseelende  (animistische)  und  vermenschlichende  (anthropo- 
morphische)  Auffassung  finden  wir  auch  bei  den  Naturvölkern  wirk- 
sam. Das  Fließen  des  Wassers,  das  Wehen  des  Windes,  das  Leuchten 
der  Sonne,  des  Mondes  und  der  Sterne,  alle  diese  Vorgänge  werden  als 
Willensäußerungen  sichtbarer  oder  unsichtbarer  Wesen  gedeutet.  Diese 
\pperzeptionsweise  nun,  durch  welche  alle  Vorgänge  der  Umgebung 
als  Willensäußerungen  selbständiger  Objekte  ge- 
deutet   werden,    nennen    wir    die    fundamentale    Apperzep- 
tion. 

I\üiü  spricht  in  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  (transzendentale 
Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe,  III.  Band,  S.  114  ff.  der 
Hartenstein&chen  Ausgabe)  wiederholt  von  einer  „synthetischen",  „ur- 
sprünglichen" oder  auch  „transzendentalen  Einheit  der  Apperzeption". 
ir  versteht  darunter  die  Fähigkeit  des  Denkens,  das  Angeschaute  in 
der  I  inheit  des  Selbstbewußtseins  zu  verbinden.  „Das  ,Ich  denke',  sagt 
er,  .,11111  ß  alle  meine  Vorstellungen  begleiten  können."  Auch  nach  ihm 
iil.m  sich  diese  Grundvoraussetzung  alles  Erkennens  in  dem  Akte 
des  l  i  teilens,  und  er  sagt  ausdrücklich,  daß  „ein  Urteil  nichts  anderes 
ist  als  die  Art,  gegebene  Erkenntnisse  zur  objektiven  Einheit  der  Apper- 
zeption zu  bringen".  ( S.  121.)  Die  transzendentale  Apper- 
zeption vollzieht  sieh  also  auch  nach  Kant  in  jedem  Urteil  und  ist 
nach  ihm  die  Grundform  und  die  Grundbedingung  alles  Erkennens  *). 


')  Daß  liier  eine  neue  und  sehr  bedeutsame  psychologische  Einsicht 
Kants  vorliegt  habe  ich  nachzuweisen  versucht  in  meiner  Gedenkrede  auf  Kant 
(Wien  l'HM).  S.  15  it..  und  in  meinem  Buche:  „Der  kritische  Idealismus  und  die 
reine  Logik"  (Wien   1905),  S.   10  ff. 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  87 

In  Anlehnung  an  Kant,  aber  doch  in  deutlichem,  ja  in  grundsätz- 
lichem Unterschiede  von  ihm,  nennen  wir  die  Grundform  und  die 
Grundbedingung  alles  menschlichen  Erkennens  nicht  die  transzenden- 
tale, sondern  die  fundamentale  Apperzeption.  Während 
nämlich  nach  Kants  Auffassung  die  Einheit  der  Apperzeption  vor 
aller  Erfahrung  gegeben,  also  transzendental  und  demnach  a  priori  ist,, 
liegt  in  dem,  was  wir  fundamentale  Apperzeption  nennen,  eine  Erfah- 
rung vor,  aber  freilich  eine  Erfahrung,  die  jeder  menschliche  Organis- 
mus, der  inmitten  einer  Umgebung  sich  entwickelt  und  von  dieser  Ein- 
drücke empfängt,  notwendigerweise  machen  muß  und  tatsächlich  auch 
macht.  Während  ferner  Kant  in  der  transzendentalen  Einheit  der 
Apperzeption  nur  die  ganz  allgemeine,  gar  nicht  näher  bestimmte  for- 
male Bedingung  sieht,  Vorstellungen  zu  verbinden  und  sie  in  ein  Selbst- 
bewußtsein einzugliedern,  glauben  wir  in  der  fundamentalen  Apper- 
zeption die  genau  bestimmte,  speziell  menschliche  und  vermensch- 
lichende Formung  zu  finden,  die  jeder  Inhalt  erfahren  muß,  damit  er 
unser  geistiges  Eigentum  werde.  Durch  die  fundamentale  Apperzeption 
werden  die  Vorgänge  unserer  Umgebung  aus  der  Sprache  des  Uni- 
versums ins  Menschliche  übersetzt. 

Versuchen  wir  nun,  den  Entwicklungsgang  der  menschlichen  Er- 
kenntnis, wie  er  sich  im  Lichte  der  fundamentalen  Apperzeption  dar- 
stellt, kurz  zu  skizzieren. 

Den  Anfang  des  Seelenlebens  bildet  wahrscheinlich  ein  dunkles 
Lebensgefühl,  das  sich  in  den  entgegengesetzten  Zuständen  von 
Lust  und  Unlust  bewegt.  Wir  haben  dieses  Gefühl  als  die  ursprüng- 
liche, noch  ganz  und  gar  nicht  differenzierte  Reaktion 
des  Bewußtseins  auf  die  in  der  Umgebung  und  im  Inneren  des  Kör- 
pers wirkenden  Reize  anzusehen.  Dieses  Gefühl  scheint  von  gar  keinen 
Vorstellungen  begleitet,  noch  ganz  verworrenen,  chaotischen  Charak- 
ters zu  sein,  und  äußert  sich  in  lebhaften  Bewegungen,  die  noch  keine 
deutlich  erkennbare  Absicht  und  Richtung  zeigen.  Beim  Erwachen  aus 
tiefem  Schlafe  oder  aus  einer  Ohnmacht  erleben  wir  etwas  dem  Ähn- 
liches, und  einen  solchen  Bewußtseinszustand  dürfen  wir  bei  neu- 
geborenen Kindern  voraussetzen. 

Die  Unlustzustände  scheinen  dabei  viel  deutlicher  merklich  zu  sein 
als  die  Lustzustände.  Schon  in  den  ersten  Tagen,  ja  vielleicht  in  den 
ersten  Stunden  seines  Lebens  dürfte  das  Kind  verschiedene  Arten  von 
Lust-  und  Unlustgefühlen  erleben.  Das  Seelenleben  beginnt  bereits  sich 
zu  differenzieren  und  mannigfacher  zu  gestalten.  Die  junge 
Seele  merkt  anfangs  nur  das,  was  ihrer  Entfaltung  förderlich  oder 
schädlich  ist.  Die  Vorgänge  der  Umgebung  existieren  für  sie  nur,  in- 
soferne  sie  Lust  und  Unlust  bringen.  Je  mannigfachere  Eindrücke  nun 
auf  das  Kind  einströmen,  desto  mehr  differenziert  sich  sein  Lust-  oder 
Unlustgefühl.  Wenn  nun  nach  und  nach  immer  mehr  Zeit  zwischen 
Schlafen  und  Schreien  verstreicht  und  das  Kind  Muße  hat,  die  Um- 
gebung auf  sich  wirken  zu  lassen,  so  heben  sich  die  verschiedenen  Lust- 
und  Unlustzustände  immer  deutlicher  voneinander  ab.  Kälte  bewirkt 
andere  Unlust  als  Hunger,  das  warme  Bad  ein  Lustgefühl,  das  deut- 
lich von  demjenigen  Gefühl  unterschieden  wird,  welches  das  Kind  etwa 


s>  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

beim  Aufnehmen  der  Nahrung  erlebt.  Die  Veränderungen  des  Bewußt- 
seinszustand.es,  die  das  Kind  erlebt,  enthalten  dann  neben  dem  Lust- 
und  Unlustgefühl  noch  einen  deutlieh  merkbaren  Bestandteil,  und 
dieser  Bestandteil  Mein  mit  der  Natur  des  Reizes  in  viel  engerer  Be- 
ziehung als  das  ursprüngliche  Lust-  und  Unlustgefühl. 

Dieser  Bestandteil  ist  das  psychische  Moment,  das  wir  Emp- 
i  i  u  d  u  n  u  nennen.  Die  Empfindung  ist  zunächst  eine  bestimmte 
Veränderung  des  Bewußtseinszustandes,  die  sich 
ebenso  deutlich  von  dem  sie  begleitenden  Lust-  und  Unlustgefühl  wie 
von  anderen  Veränderungen  abhebt. 

1  infache  Empfindungen  kommen  im  entwickelten  Bewußtsein 
nicht  vor.  Es  sind  da  stets  nur  Komplexe  von  Empfindungen  gegeben, 
die  auf  äußere  oder  innere  Reize  bezogen  werden  und  uns  als  wirk- 
liehe Dinge  oder  Vorgänge  erscheinen.  Solche  Empfindungskomplexe 
nennen  wir  Wahrnehmungen.  Die  Zusammenfassung  der  ge- 
gebenen Empfindungsgruppen  zu  einheitlichen  Wahrnehmungen  ist 
nun  das  Werk  der  fundamentalen  Apperzeption.  Das  wahrgenommene 
Ding  ist  das  Kraftzentrum  und  die  Empfindungen,  die  durch  dasselbe 
m  uns  hervorgerufen  werden,  sind  seine  Kraftäußerungen  oder  Eigen- 
schaften. 

Die  Wahrnehmungen  hinterlassen  nun  in  unserem  Organismus 
Dispositionen,  vermöge  deren  das  Bild  des  Gegenstandes  in  unserem 
Bewußtsein  entstehen  kann,  auch  ohne  daß  der  Sinnesreiz  wirkt.  Solche 
reproduzierte  Wahrnehmungen  nennen  wir  im  allgemeinen  Vorstel- 
lungen. Der  Verlauf  dieser  Vorstellungen  wird  durch  verschiedene 
Gesetze  geregelt,  hauptsächlich  aber  durch  eine  Art  Konzentration  des 
Organismus  bestimmt,  die  wir  Aufmerksamkeit  nennen.  Der 
Selbsterhaltungstrieb  veranlaßt  den  Menschen  in  primitivem  Zu- 
stande, vor  allem  auf  diejenigen  Merkmale  der  Gegenstände  seine  Auf- 
merksamkeit zu  konzentrieren,  die  für  die  Erhaltung  seines  Lebens  die 
wichtigsten  sind.  Durch  diese  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  auf 
die  biologisch  bedeutsamen  Merkmale  entstehen  die  so- 
genannten typischen  Vorstellungen,  die  eine  wichtige  Vor- 
stufe  für  die  später  auszubildenden  logischen  Begriffe  abgeben. 
I  >ie  I  ntstehung  der  typischen  Vorstellungen  ist  so  recht  geeignet,  das 
biologische  Moment  in  der  Entwicklung  der  menschlichen  Erkenntnis 
kenntlich  zu  machen.  Dadurch,  daß  wir  zunächst  auf  das  achten,  wo- 
von unsere  Lebenserhaltung  abhängt,  lernen  wir  erst  gleichartige 
Dinge  in  einem  Denkakt  zusammenfassen  und  gewinnen  so  eines  der 
wichtigsten  Mittel,  unsere  Erfahrungen  ökonomisch  zu  ordnen. 

I  inen  höchst  bedeutsamen  Fortschritt  in  diesem  Sinne  bewirkt 
die  Entwicklung  der  Sprache.  Die  Sprachlaute  sind  zweifellos  aus 
unwillkürlich  hervorgestoßenen  Gefühlslauten  entstanden. 
Durch  häufige  Wiederholung  derselben  Eindrücke  stumpft  sich  das 
Gefühl  ab,  und  die  laute  dienen  dazu,  Vorgänge  in  der  Umgebung 
Sprechenden  zu  bezeichnen.  Diese  Laute  werden  von  den  Mit- 
menschen verstanden  und  dann  absichtsvoll  hervorgerufen,  um  mit  den 
Stammesgenossen  Verständigung  behufs  gemeinsamer  Arbeit  zu  er- 
möglichen. Die  ersten  Sprachlaute,  meist  einsilbige  Wurzelwörter,  be- 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  89 

zeichnen  einen  ganzen  Vorgang,  ohne  daß  darin  Ding  und  Tätigkeit 
voneinander  geschieden  werden.  Als  diese  einfachen  Laute  nicht  mehr 
genügten,  um  Verständnis  zu  erzielen,  suchte  man  die  Bezeichnung 
eines  Vorganges  durch  zwei  solcher  Wurzellaute  zu  bewerkstelligen, 
und  damit  war  die  Wurzel  in  Subjekt  und  Prädikat  aus 
einandergetreten,  die  Form  des  Satzes  war  gefunden.  Diese  Entwick- 
lungsphase, die  man  gelegentlich  auch  beim  Sprechenlernen  der  Kin- 
der beobachtet,  ist  von  großer  Bedeutung.  Im  Satze  hat  nämlich  die 
fundamentale  Apperzeption  ihren  adäquaten  Ausdruck  gefunden.  Die 
Form,  in  der  wir  die  Welt  aufzufassen  nicht  umhin  können,  ist  jetzt 
deutlich  ausgeprägt,  der  so  bezeichnete  Vorgang  ist  jetzt  vollständig 
geformt,  gegliedert  und  zugleich  objektiviert.  Die  sprachlich  formulierte 
fundamentale  Apperzeption  wollen  wir  nun  die  Urteilsfun  k- 
t  i  o  n  nennen.  Das  Subjekt  des  Urteiles  ist  jetzt  als  selbständig  exi- 
stierendes Kraftzentrum  hingestellt,  das  Prädikat  bezeichnet  die  sich 
eben  jetzt  vollziehende  Kraftäußerung  des  Subjektes. 

Dadurch  aber,  daß  zur  Bezeichnung  des  Vorganges  ein  Laut  nicht 
mehr  ausreicht,  tritt  eine  neue  und  bedeutsame  Entwicklungsphase 
ein.  Das  Subjekt  des  Urteiles  „Die  Rose  duftet",  also  das  Wort  „Die 
Rose"  bezeichnet  jetzt  nicht  mehr  einen  ganzen  Vorgang,  sondern  wird 
zum  Träger  aller  nur  irgend  möglichen  Wirkungen,  die  von  der  Rose 
ausgehen  können.  Alle  Objekte,  in  denen  dieselben  Kräfte  wohnen, 
werden  mit  dem  gleichen  Namen  bezeichnet  und  dadurch  in  einem 
Denkakt  zusammengefaßt.  Das  Wort  wird  nun  zum  Träger  der  Eigen- 
schaften und  Zustände,  die  allen  gleichnamigen  Objekten  zukommen, 
und  dadurch  entwickelt  sich  die  typische  Vorstellung  zum  festen,  am 
Worte  haftenden  Begriff. 

Durch  das  Prädikatswort  werden  aber  auch  Eigenschaften,  Zu- 
stände und  Beziehungen  von  den  Gegenständen,  denen  sie  anhaften, 
gewissermaßen  losgelöst  und  damit  der  selbständigen  Betrachtung  zu- 
gänglich gemacht.  Eigenschaften  wie  Hart  und  Weich,  Zustände  wie 
Gehen  und  Schlafen,  Beziehungen  wie  Groß  und  Klein,  werden  auf 
diese  Weise  zu  selbständigen  Denkobjekten  gemacht  und  so  zu  Be- 
griffen erhoben.  Erst  jetzt  wird  es  möglich,  Gleichmäßigkeiten  und  Ge- 
setzmäßigkeiten im  Weltgeschehen  nicht  nur  flüchtig  zu  bemerken,  son- 
dern „mit  dauernden  Gedanken  zu  befestigen".  Dadurch  aber  gewinnt 
der  Menschengeist  immer  neue  und  immer  bessere  Denkmittel,  um  die 
Erfahrung  ökonomisch  zu  ordnen,  das  Weltgeschehen  zu  begreifen  und 
zu  beherrschen.  Die  Urteilsfunktion  entwickelt  sich  zu  immer  neuen, 
immer  komplizierteren,  immer  verdichteteren  Formen  und  findet  kurze, 
einfache  und  bequeme  Formulierungen  für  umfassende  Gedanken- 
inhalte. 

Außer  dem  denkökonomischen  Wert  der  Sprache  muß  hier  noch 
auf  eine  andere  Seite  der  Sache  aufmerksam  gemacht  werden.  Dadurch, 
daß  alle  Sprachgenossen  mit  denselben  Worten  ähnliche  Begriffe  und 
mit  denselben  Sätzen  ähnliche  Urteile  bezeichnen,  gesellt  sich  zu  der 
ökonomischen  Allgemeinheit  noch  die  soziale  hinzu.  Die  Worte  und 
Sätze,  die  ich  gebrauche,  sind  in  ihrer  jetzt  allgemein  geltenden  Be- 
deutung Produkte  der  gemeinsamen  Arbeit  der  Sprachgenossen. 


90  1  ikLiintniskritik  und  Erkenntnistheorie 

Meine  Behauptungen  sind  in  Ihrer  sprachlichen  Formulierung  gleich- 
em getragen  von  der  dann  verdichteten  Gesamtarbeit.  Ich  setze  eine 
stillschweigende  Zustimmung  voraus,  wenn  ich  Satze  ausspreche,  die 
allgemein  verstanden  und  allgemein  für  wahr  gehalten  werden.  Mit 
dun  gemeinsamen  Sprachgut  bildet  sich  ein  Grundstock  gemeinsam 
für  wahr  gehaltener  Urteile  aus.  In  diesen  Gemeinbesitz  wird  jeder 
hineingeboren  und  dieses  soziale  Sprach-  und  Gedankengut  hat  einen 
außerordentlich  großen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  Individuums. 
\ut  diesen  sozialen  Faktor  in  der  Erkenntnisentwicklung  kommen  wir 
weiter  unten  noch  zurück. 

Neben  dvn  \V;ihriiehmungsurteilen,  in  denen  ein  eben 
wahrgenommener  Vorgang  in  der  bekannten  Weise  geformt,  gegliedert 
und  objektiviert  wird,  entstehen  Begriffsurteile,  in  denen  G  e- 
M'i/c  des  Geschehens  in  der  Weise  formuliert  werden,  daß  be- 
stimmten Begriffen  bestimmte  Merkmale  zugeordnet  werden.  Der  Satz: 
..her  Walfisch  ist  ein  Säugetier"  enthält  die  Behauptung,  daß  jedem 
Walfisch  die  Merkmale  zukommen,  die  allen  Säugetieren  gemeinsam 
sind.  Auf  Grund  dieses  Urteiles  werde  ich  also  von  jedem  Walfisch  be- 
haupten dürfen,  daß  er  rotes  und  warmes  Blut  hat,  durch  Lungen 
atmet,  lebende  Junge  zur  Welt  bringt  u.  a.  m.  Dabei  bleibt  aber  die 
ursprüngliche  Form  des  Urteiles  bestehen.  Der  grobe  Anthropomor- 
pitismus  der  primitiven  Kulturstufen  und  der  Kinder,  wo  jedes  Ding 
der  Umgebung  als  beseelt  betrachtet  und  jede  Eigenschaft  desselben 
als  Ausfluß  einer  Willcnstätigkeit  angesehen  wird,  kann  der  fort- 
schreitenden Erkenntnis  nicht  standhalten.  Allein  auch  der  abstrakteste 
Begriff  bleibt  für  unser  Denken  eine  Art  Kraftzentrum,  als  dessen 
potentielle  Wirkungen  wir  seine  Merkmale  auffassen  *). 

Aus  der  Urteilsfunktion  entsteht  auch  der  für  die  Erkenntnis- 
theorie so  überaus  wichtige  Begriff  der  Wahrheit.  Schon  Piaton 
und  Aristoteles  haben  richtig  hervorgehoben,  daß  das  Urteil  sich  von 
der  Vorstellung,  oder  wie  Aristoteles  sich  ausdrückt,  von  der  „unver- 
bundenen  Rede"  dadurch  unterscheide,  daß  nur  beim  Urteil  von  wahr 
und  falsch  die  Rede  sein  könne.  Eine  Vorstellung,  die  ich  erlebe,  ist 
tatsächlich  vorhanden,  aber  an  sich  weder  wahr  noch  falsch.  Wenn 
man  trotzdem  von  richtigen  oder  falschen  Vorstellungen  spricht,  so  ist 
dies  nur  eine  abgekürzte  Ausdrucksweise.  Eine  richtige  Vorstellung 
eine  Vorstellung,  die  mich  zu  richtigen  Urteilen  veranlaßt,  eine 
falsche  Vorstellung  ist  diejenige,  aus  der  unrichtige  oder  unwahre 
1  Irteile  sich  ergeben.  Auch  auf  Gefühle  und  Willensentschlüsse  finden 
die  Prädikate  wahr  und  falsch  keine  Anwendung.  Nur  Urteile,  die 
oft  unseren  <  »ei  . hlen  und  Willenshandlungen  vorangehen  und  eine 
wichtige  Teilursache  dieser  Erlebnisse  bilden,  nur  Urteile  können  wahr 

")  Ausführlicher  dargestellt  und  tiefer  begründet  findet  man  diese  Auffas- 
sung in  meinem  Buche:  ..Die  Urteilsfunktion  ,  Wien  18Q5.  Die  dagegen  er- 
hobenen 1  inwände  habe  ich  in  meinem  Buche:  „Der  kritische  Idealismus  und 
die  reine  Logik"  ( 1005)  zu  widerlegen  versucht  und  dabei  zugleich  nach- 
gewiesen, daß  meine  Auffassung  des  Urteils  alle  berechtigten  Elemente  der  bis- 
herigen Theorien  in  sich  vereinigt.  Für  die  psychologische  Entwicklung  des  Er- 
kenntnisprozesses \gl.  mein  „Lehrbuch  der  Psychologie",  7.  Aufl.  (1921). 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  Ql 

oder  falsch  sein,  und  von  der  Wahrheit  oder  Unwahrheit  dieser  Urteile 
hängt  gar  oft  die  Zweckmäßigkeit  der  dadurch  bedingten  Gefühls-  und 
Willenszustände  ab. 

Wahrheit  gibt  es  also  nur  im  Urteil,  und  die  Frage  ist  nun,  wie 
dieser  Begriff  entsteht,  und  was  er  bedeutet.  Auf  Grund  der  hier  vor- 
getragenen Anschauung  ist  die  Beantwortung  dieser  Fragen  nicht 
schwer.  Im  Urteil  wird  ein  gegebener  Vorstellungsinhalt  gegliedert  und 
objektiviert.  Das  Urteil  ist  somit  ein  Akt  der  Spontaneität  oder  der 
Selbsttätigkeit  unseres  Geistes,  ein  Akt,  durch  den  der  aufgenommene 
Eindruck  eine  Deutung  erfährt.  Erinnern  wir  uns  nun  daran,  daß 
dieser  Akt  der  Selbsttätigkeit  zunächst  in  dem  Streben  nach  Selbst- 
erhaltung seine  Wurzel  hat,  so  werden  wir  leicht  einsehen,  daß  die 
mit  dem  Eindruck  vorgenommene  Deutung  ihrem  ganzen  Inhalt  und 
Zwecke  nach  darauf  gerichtet  ist,  die  Maßnahmen  zu  bestimmen,  die 
der  Organismus  zu  treffen  hat,  um  auf  den  Eindruck  in  zweck- 
entsprechender Weise  zu  reagieren.  Auf  dieser  Entwicklungsstufe  ist 
die  Deutung  dann  richtig,  wenn  sie  zweckentsprechende  Maßnahmen 
zur  Folge  hat,  sie  ist  falsch,  wenn  auf  Grund  derselben  verkehrte,  das 
heißt  die  Lebenserhaltung  schädigende  Maßnahmen  getroffen  werden. 
Das  heißt,  richtiger  ausgedrückt,  daß  das  Verhältnis  zwischen  Deu- 
tung und  faktischem  Tatbestande,  das  uns  später  als  Wahrheit  oder 
Falschheit  des  Urteils  zum  Bewußtsein  kommt,  im  Anfang  nur  in  der 
Form  einer  Reaktionstendenz  vorhanden  ist.  Wenn  aber  die  Kultur- 
entwicklung fortschreitet,  die  Bedingungen  der  Lebenserhaltung  kom- 
plizierter werden,  wenn  der  Mensch  fähig  und  genötigt  wird,  sich  ent- 
ferntere Ziele  zu  setzen,  die  nur  durch  eine  kombinierte  größere  Reihe 
sorgfältig  erwogener  Maßnahmen  erreicht  werden  können,  dann 
schaltet  sich  auch  zwischen  die  Deutung  und  die  Verwertung  der  Ein- 
drücke eine  größere  Wartezeit  ein.  (Vgl.  oben  S.  83.)  Wir  vollziehen 
die  Deutungen  oft,  ohne  sie  sofort  zu  verwerten.  Durch  die  sprachliche 
und  schriftliche  Fixierung  solcher  Deutungen  wird  es  möglich,  die  voll- 
zogenen Urteile  für  künftige  Verwertung  aufzubewahren.  Da  sich  aber 
nicht  alle  vollzogenen  Deutungen  als  verwertbar  erweisen,  so  muß  eine 
Auslese  getroffen  werden.  Man  sucht  also  nach  den  Bedingungen  der 
künftigen  Verwertbarkeit,  und  so  entsteht  der  Wahrheitsbegriff. 
Die  Wahrheit  eines  Urteils  ist  nichts  anderes  als  die  Bedingung  seiner 
Verwertbarkeit  für  die  Bestimmung  der  nötigen  Maßnahmen.  Dieses 
aktivistische,  auf  künftige  Tätigkeit  gerichtete  Element  des 
Wahrheitsbegriffes  ist  bis  vor  kurzem  nicht  erkannt  oder  nicht  gewür- 
digt worden.  Alles  theoretische  Denken  ist  ein  Urteilen  auf  Vorrat  mit 
der  Tendenz  zu  künftiger  Verwertung.  Da  aber  die  menschliche  Tätig- 
keit immer  weitblickender  wird  und  sich  immer  entferntere  Ziele  setzt, 
so  nimmt  das  theoretische  Denken  eine  immer  breiter  werdende  Mitte 
ein,  die  sich  zwischen  Deutung  und  Verwertung  einschaltet.  Dadurch 
gewinnt  aber  das  theoretische  Denken  und  Forschen  eine  relative  Selb- 
ständigkeit, die  bei  vielen  den  Schein  erweckt,  als  sei  das  Denken  vom 
Leben  selbst  getrennt  und  unabhängig.  Jedenfalls  bilden  sich  inner- 
halb des  rein  theoretischen  Denkens  Regeln  und  Begriffe  aus,  die  zu 
neuen  Formulierungen  des  Wahrheitsbegriffes  führen. 


t  rkumitniskritik  und  Erkenntnistheorie 

Zum    deutlichen    Bewußtwerden    des    theoretischen    Wahrheits- 
riffes trägt  eine   ratsache  des  sprachlichen  Lebens  viel  bei.  Es  ist 

die  I  ntstehung  der  N  egat i  o  n  oder,  genauer  ausgedrückt,  der 
Verneinungspartikel.  Ein  und  derselbe  Tatbestand  wird 
Leicht  von  verschiedenen  Personen  verschieden  gedeutet.  Jede  Deutung 
Mithalt  im  Anfang  der  Kulturentwicklung  zugleich  die  Tendenz  zu  be- 
stimmten Maßnahmen.  Wer  meine  Deutung  nicht  anerkennt,  der  weist 
eben  dadurch  die  mit  dieser  Deutung  verbundenen  Maßnahmen  zurück. 
I  fiese  Zurückweisung  ist  anfangs  mit  lebhaften  Gefühlen  verbunden  und 
wird  deshalb  durch  einen  eigenen  Laut  ausgedrückt.  Da  solche  Zurück- 
weisungen  sich  häufig  wiederholen,  stumpft  sich  das  Gefühl  ab  und  der 
dafür  erfundene  Laut  wird  als  Verneinungspartikel  zum  formalen 
I  lement  des  Urteils.  Ich  muß  bei  jeder  Deutung,  also  bei  jedem  Urteil 
auf  eine  mögliche  Zurückweisung  gefaßt  sein.  Wenn  ich  nun  trotz  der 
Zurückweisungen  an  meiner  früheren  Deutung  festhalte,  so  bildet  sich 
durch  die  Verteidigung  das  Bewußtsein  von  der  Wahrheit  des  Urteils 
deutlicher  aus. 

Wahrheit  ist  somit  eine  bestimmte  Beziehung  zwischen  dem  Akte 
des  Urteilens  und  dem  beurteilten  Vorgang,  und  es  gilt  nun,  die  Art 
dieser  Beziehung  und  die  Bedingungen  ihres  Vorhandenseins  zu  be- 
stimmen. Gewöhnlich  sagt  man,  Wahrheit  bestehe  in  der  Überein- 
stimmung eines  Urteils  mit  dem  beurteilten  Vorgange.  Daraus 
würde  sich  ergeben,  daß  im  Urteil  der  beurteilte  Vorgang  einfach  nach- 
gebildet, gewissermaßen  kopiert  werde.  Diese  naive  Vorstellungsweise 
■  ntspricht  aber  der  heutigen  Auffassung  nicht  mehr.  Wir  wissen,  daß 
im  Urteil  der  vorgestellte  Inhalt  geformt  und  gegliedert  wird  und  da 
kann  von  Übereinstimmung  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Wir  werden  viel- 
mehr sagen  müssen :  ein  Urteil  ist  wahr,  wenn  die  darin  vorgenommene 
Formung  und  Objektivierung  dem  wirklichen  Vorgang  in  der  Weise 
entspricht,  daß  Voraussagen,  die  sich  auf  das  gefällte  Urteil  gründen, 
tatsächlich  eintreffen,  woraus  dann  hervorgeht,  daß  das  Urteil  dem 
beurteilten  Vorgang  entspricht,  daß  es  ihm  angemessen  oder 
adäquat  ist.  Das  Urteil  muß  in  dem  Sinne  eine  Funktion  des  wirk- 
lichen Vorganges  sein,  daß  eine  Änderung  des  objektiven  Tatbestandes 
luch  eine  entsprechende  Änderung  des  Urteils  zur  Folge  hat,  und  daß 
die  1  olgerungen,  die  sich  aus  dem  Urteil  ergeben,  sich  auch  für  die 
katsächliche  Weiterentwicklung  des  wirklichen  Geschehens  als  gültig 
und  als  maßgebend  bewähren*). 

Das  Eintreffen  der  Voraussagen  ist  das  wichtigste  und  das  ent- 
scheidende Kriterium  für  die  Wahrheit  des  Urteils.  Wir  nennen 
es  das  objektive  Kriterium.  Nicht  die  sogenannte  Evidenz 
eines  Urteils,  nicht  seine  Denknotwendigkeit  ist  der  überzeugende  Be- 
is  »einer  Wahrheit,  sondern  nur  das  Eintreffen  der  darauf  gegrün- 
deten Voraussagen.  Nur  dadurch  kann  das  Universum  in  unwider- 
leglicher Weise  unseren  Urteilen  Beweiskraft  und  Wahrheitswert  ver- 
I  einen. 

'»  i  ber  die  I  ntwicklung  des  Wahrheitsbegriffes  vgl.  „Der  kritische  Idealis- 
mus usw.",  s.  I62ft 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  93 

Es  gibt  nun  freilich  Urteile,  bei  denen  eine  solche  Bestätigung 
nicht  möglich  ist.  Wenn  wir  über  vergangene  geschichtliche  Ereignisse 
urteilen  oder  wenn  wir  in  unserem  Erkenntnisdrang  über  die  Grenzen 
der  Erfahrung  hinausgehen,  dann  müssen  wir  uns  damit  begnügen,  ein 
weniger  sicheres  Kriterium  der  Wahrheit  zu  gewinnen,  das  aber  doch 
immerhin  eine  gewisse  Gewähr  dafür  bietet,  daß  wir  nicht  ganz  ver- 
fehlte Gedankenwege  betreten  haben.  Ein  solches  Kriterium  ist  die  Z  u- 
stimmungder  Denkgenossen.  Wir  wollen  dies  das  inter- 
subjektive Kriterium  nennen. 

Diese  beiden  Kriterien  geben  auch  tatsächlich  den  Maßstab  ab, 
nach  dem  wir  unsere  Überzeugung  von  der  Wahrheit  eines  Urteiles 
bilden,  wenn  wir  uns  auch  derselben  nicht  immer  bewußt  sind.  Beim 
Fällen  eines  Urteiles  wirken  die  in  ähnlichen  Fällen  oft  eingetroffenen 
Bestätigungen  der  darauf  gegründeten  Voraussagen  als  Erinnerungen 
in  der  Weise  auf  uns  ein,  daß  wir  nicht  erst  abwarten  zu  müssen 
glauben,  ob  die  Voraussagen  wirklich  eintreffen.  Ebenso  sind  wir  in 
vielen  Fällen  der  Zustimmung  der  Denkgenossen  im  vorhinein  gewiß. 
Bei  allen  mathematischen  Urteilen,  das  ist  also  bei  solchen,  die  sich  auf 
Zahlen  und  Größen  beziehen,  haben  wir,  wenn  diese  Urteile  den  be- 
kannten Zahlengesetzen  gemäß  gefällt  werden,  die  unerschütterliche 
Überzeugung,  daß  unsere  darauf  gegründeten  Voraussagen  eintreffen 
müssen,  und  daß  jeder  Denkende,  der  den  Sinn  des  Urteiles  versteht, 
demselben  zustimmen  wird.  Infolge  dieser  allgemeinen  Überzeugung 
von  der  Richtigkeit  gewisser  Urteile  hat  sich  bei  vielen  Denkern  die 
Meinung  gebildet,  es  gebe  Urteile,  die  vor  aller  Erfahrung, 
und  ohne  daß  eine  Bestätigung  durch  die  Erfahrung  abgewartet  werden 
müsse,  als  unzweifelhaft  sicher  und  wahr  gelten.  Piaton  gründet  auf 
diese  vermeintliche  Tatsache  den  Beweis,  daß  die  Seele  des  Menschen 
schon  vor  ihrem  Eintritt  in  den  Körper  existiert  haben  müsse,  denn  sie 
besitze  Kenntnisse,    die  sie  nicht  durch   Erfahrung  erworben  haben 
könne.  Diese  Einsichten  seien  Erinnerungen  aus  der  Zeit,  wo  die  Seele 
noch  unvermischt  mit  dem  Körper  ein  unbeflecktes,  reines,  göttliches 
Dasein  führte  und  deshalb  richtige  Einsichten  in  das  Wesen  der  Dinge 
gewinnen  konnte.  In  etwas  weniger  mystischer  Form  kehrt  dieser  Ge- 
danke bei  Philosophen  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts 
wieder,  wo  man  von  angeborenen   Ideen,  ursprünglichen   Einsichten 
spricht  und  der  menschlichen  Vernunft  das  Vermögen  zuschreibt,  aus 
eigener  Kraft  Wahrheiten  zu  finden.  Kant  untersucht  in  seiner  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  dieses  Vermögen  und  sucht  im  ersten  Teile  dieses 
Werkes  die  Frage  zu  beantworten:  „Wie  ist  reine  Mathematik  mög- 
lich?" Er  will  also  zeigen,  durch  welchen  Urbesitz  unseres  Anschau- 
ungsvermögens es  möglich  ist,  daß  Urteile,  die  nicht  empirische  Ele- 
mente in  sich  enthalten,  von  uns  gebildet  werden,  und  warum  diese 
nicht  ganz  der  Erfahrung  entstammenden  Urteile  doch  für  jede  mög- 
liche Erfahrung  Geltung  haben  müssen. 

Die  biologische  Betrachtung  des  Erkenntnisprozesses  und  beson- 
ders des  Wahrheitsbegriffes  lehrt  uns  aber,  daß  die  Annahme  eines 
solchen  Urbesitzes  an  derartigen  ursprünglichen  Einsichten  nicht  nur 
überflüssig,  sondern  ganz  unhaltbar  ist.  Überall,  wo  man  von  Evidenz, 


I  rkenntnlskritik  und  Erkenntnistheorie 

von  Denknotwendigkeit  eines  Urteiles  spricht,  gründet  sich  diese  Evi- 
denz und  Denknotwendigkeii  auf  frühere  Erfahrungen.  Der  Menschen- 
i  hal  eben  im  Laufe  seiner  Entwicklung  gelernt,  die  Erfahrungen 
ökonomisch  zu  ordnen.  I  r  ha1  Mittel  gefunden,  um  die  Erfahrungen 
früherer  Generationen  zu  verwerten  und  sie  auf  möglichst  einfache 
I  ormeln  zu  bringen.  Indem  nun  jede  folgende  Generation  auf  Grund 
des  1  [reichten  weiter  baut,  braucht  sie  die  bereits  getane  Arbeit  nicht 
immer  von  Anfang  an  nochmals  zu  tun.  Wir  lehren  unsere  Kinder 
bereits  in  der  Elementarschule  von  den  ererbten  Denkmitteln  Gebrauch 
machen,  und  da  geschieht  es  denn  leicht,  daß  wir  die  Denkformen,  an 
die  wir  von  Kindheit  an  gewöhnt  sind,  für  einen  Urbesitz  des  Men- 
schengeistes  halten,  wahrend  tatsächlich  nichts  anderes  vorliegt  als  ein 
mühsam  erarbeitetes  Erbgut  vergangener  Geschlechter. 

Wollte  man  den  Prozeß  des  Erkennens,  wie  er  sich  heute  im  Be- 
wußtsein des  erwachsenen  Menschen  tatsächlich  vollzieht,  einer  ana- 
lytischen Beschreibung  unterziehen,  dann  käme  man  allerdings  bald 
auf  gewisse  grundlegende  Erkenntnisse,  von  denen  der  einzelne  nicht 
mehr  nachzuweisen  imstande  wäre,  daß  sie  aus  seiner  selbsterlebten 
Erfahrung  stammen.  Dadurch  wäre  dann  wieder  der  Schein  eines 
i  priori,  eines  Urbesitzes  an  Begriffen  und  Denkformen  hervorgerufen. 
Eben  deshalb  aber  genügt  für  die  Erforschung  psychologischer  Tat- 
sachen und  Gesetze  die  analytisch  beschreibende  Methode  nicht.  Erst 
durch  Hinzutreten  der  genetischen  und  biologischen  Betrachtungsweise 
wird  der  wirkliche  Tatbestand  aufgedeckt. 

Auf  Grund  einer  solchen  Betrachtungsweise  können  wir  nun  sagen : 
Es  gibt  keine  Erkenntnis  a  priori.  Aus  dem  Zusammenwirken  von 
<  »rganismus  und  Umgebung  entwickeln  sich  die  allen  Menschen  ge- 
meinsamen Erkenntnisformen,  als  deren  wichtigste  und  grundlegendste 
wir  die  fundamentale  Apperzeption  und  die  daraus  entstehende  Ur- 
teilsform zu  betrachten  haben.  Aus  dieser  allgemeinen  Grundform  des 
menschlichen  Erkennens  entstehen  dann  auch  einzelne  Erkenntnis- 
formen oder  Kategorien,  unter  denen  die  der  Substantialität 
und  der  Kausalität  die  wichtigsten  sind.  In  Kants  Kategorien- 
tafel  spielen  diese  beiden  tatsächlich  die  Hauptrolle.  Kant  betrachtet 
sie  als  Urbesitz,  als  Urfunktionen  der  Vernunft,  während 
sie  nach  unserer  Theorie  sich  leicht  als  Entwicklungs- 
produkte nachweisen  lassen. 

Der  Begriff  der  Substanz,  worunter  wir  das  beharrende,  im 
Wechsel  der  Erscheinungen  unveränderliche  Wesen  der  Dinge  ver- 
stehen,  liegt  vorgebildet  bereits  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  wo 
Komplexe  von  I  tnpfindungen  vermöge  der  fundamentalen  Apperzep- 
tion zu  einheitlichen  Dingen  zusammengefaßt  werden.  In  unserer  Auf- 
ladung unterscheiden  wir  das  Ding  von  seinen  Eigenschaften  und  be- 
trachten es  als  dasjenige,  was  im  Wechsel  seiner  Zustände  und  Be- 
lebungen beharrt  und  sich  erhält.  Durch  die  Urteilsfunktion  wird  im 
Subjekt  ebenfalls  ein  Beharrendes  geschaffen,  das  als  Träger  der  von 
ihm  ausgehenden  Wirkungen  betrachtet  wird.  Lernen  wir  dann  noch 
au  den  Dingen  Stoff  und  Form  unterscheiden,  so  ist  wieder  der 
:t  dasjenige,  was  im  Wechsel  von  Gestaltung  und  Bewegung  gleich 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  95 

bleibt  und  sich  erhält.  So  bildet  sich  dann  der  Begriff  eines  Unver- 
änderlichen, Beharrenden  heraus,  das  allen  Veränderungen  zugrunde 
liegt  und  sich  selbst  immer  gleich  bleibt.  Da  jedes  Subjekt  den  Sub- 
stanzbegriff in  sich  schließt,  so  ist  es  begreiflich,  daß  dieser  in  jeder 
Auffassung  des  Wirklichen  wiederkehrt,  und  eben  deshalb  glaubte  man 
darin  eine  angeborene  Stammform  des  menschlichen  Verstandes  zu  er- 
blicken. In  den  philosophischen  Systemen  ebenso  wie  in  den  natur- 
wissenschaftlichen Theorien  finden  wir  den  Substanzbegriff  wirksam. 
In  der  Physik  und  Chemie  betrachtete  man  lange  und  betrachtet  viel- 
fach noch  jetzt  die  Atome  als  die  letzten  unveränderlichen  Sub- 
stanzen, als  die  beharrenden  Träger  aller  Veränderungen.  In  der  Bio- 
logie sieht  man  die  Zellen  oder  Bestandteile  derselben  (Neurone, 
Plasome)  als  die  letzten  organischen  Substanzen  an.  In  den  letzten 
Jahren  hat  man  allerdings  den  Versuch  gemacht,  den  Substanzbegriff 
aus  der  Naturbetrachtung  zu  eliminieren.  Wir  kommen  weiter  unten 
auf  diese  Versuche  zurück,  müssen  aber  jetzt  schon  sagen,  daß  diese 
Elimination  von  unserem  Denkvermögen  nie  vollständig  und  dauernd 
durchgeführt  werden  kann. 

Die  Erkenntnisform  der  Kausalität  ist  einerseits  in  unseren 
Willenshandlungen,  anderseits  in  jedem  Urteilsakt  unmittelbar  ge- 
geben. Wenn  wir  die  Wahrnehmung  des  blühenden  Baumes  in  das 
Urteil  umformen:  „Der  Baum  blüht",  so  fassen  wir  den  Baum  als 
Kraftzentrum  auf,  das  aus  sich  heraus  das  Blühen  hervorbringt.  In 
unseren  eigenen  Willenshandlungen  erleben  wir  den  Übergang  vom 
Willensentschluß  zur  Muskelkontraktion  in  lückenloser  Unmittelbar- 
keit. Bei  den  Ereignissen  in  unserer  Umgebung  nehmen  wir  oft  nur 
einzelne  Glieder  der  Reihe  wahr.  Wir  ergänzen  aber  nach  der  Analogie 
unserer  Willenshandlungen  das  Fehlende  und  fassen  infolge  der  funda- 
mentalen Apperzeption  Reihen  von  Geschehnissen,  die  regelmäßig  auf- 
einanderfolgen, so  auf,  als  ob  dieselbe  Lückenlosigkeit  der  Übergänge 
in  ihnen  herrschte.  Wir  müssen  jeden  Vorgang,  den  wir  wahrnehmen 
oder  erschließen,  als  verursacht  denken  durch  das,  was  ihm  voranging, 
wir  können  die  kausale  Verknüpfung  aus  unserem  Denken  nicht  elimi- 
nieren. Indem  wir  urteilen,  stellen  wir  Kraftzentren  hin,  die  wirken,  und 
die  Verbindung  von  Subjekt  und  Prädikat  bleibt  das  Vorbild  für  alle 
ursächliche  Verknüpfung. 

David  Hume  war  der  erste,  der  sich  mit  der  Psychologie  und 
Kritik  des  Kausalbegriffes  befaßte.  Er  glaubte  nachweisen  zu  können, 
daß  in  unserer  unmittelbaren  Erfahrung  nur  regelmäßige  Auf- 
einanderfolge gegeben  sei,  und  daß  die  Idee  der  Verursachung  von  uns 
fälschlich  in  die  Welt  getragen  werde.  Kant,  dem  diese  Kritik,  wie  er 
selbst  sagt,  „den  dogmatischen  Schlummer  unterbrach",  glaubte  dann 
in  der  Kausalität  eine  Stammform  des  Verstandes  zu  finden,  die  wir 
an  den  von  außen  kommenden  Empfindungsstoff  heranbringen  müssen, 
damit  Erfahrung  möglich  sei.  Unsere  Betrachtungsweise  lehrt  uns,  daß 
die  Kausalität  sich  aus  der  Urteilsfunktion  mit  Naturnotwendigkeit 
entwickelt,  und  daß  sie  so  wie  diese  ein  Produkt  der  Wechselwirkung 
zwischen  Organismus  und  Umgebung  ist.  Die  Kausalität  gehört  also 
nicht  ganz  dem  subjektiven  Faktor  der  Erkenntnis  an,  der  objektive 


90  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

1  aktor  i>t  an  ihrem  Zustandekommen  mitbeteiligt,  und  so  hat  es  einen 
ganz  vernünftigen  Sinti,  \o\\  objektiven  Ursachen  zu  sprechen.  In 
neuerer  Zeil  kehrt  man  vielfach  zu  llumc  zurück  und  behauptet  mit 
ihm,  wir  könnten  immer  nur  die  Aufeinanderfolge  der  Ereignisse,  nie 
aber  ihre  kausale  Verknüpfung  erfahren.  Demgegenüber  sei  darauf 
hingewiesen,  daß  sieb  bloße  Aufeinanderfolge  von  kausaler  Ver- 
knüpfung deutlich  unterscheidet.  Zwischen  Ereignissen,  die  regelmäßig 
aufeinanderfolgen,  besteht  meist  außer  der  zeitlichen  Sukzession  noch 
ein  innerer  Zusammenhang,  der  uns  der  Verbindung  zu  gleichen 
scheint,  die  wir  in  unseren  Willenshandlungen  zwischen  dem  Willens- 
impuls  und  der  Muskelkontraktion  täglich  erleben.  Wo  wir  diesen  Zu- 
sammenhang vorfinden  oder  mit  Grund  vermuten,  dort  konstatieren  wir 
kausale  Verknüpfung,  wo  er  fehlt,  dort  kann  nur  von  zeitlicher  Auf- 
einanderfolge die  Rede  sein.  Wenn  einem  großen  Kriege  das  Er- 
scheinen eines  Kometen  vorhergeht,  so  vermag  unser  durch  Erfah- 
rungen geleiteter  Verstand  den  Kometen  niemals  als  das  Kraftzentrum 
zu  betrachten,  dessen  Kraftäußerung  der  Krieg  ist.  Wir  haben  also  nur 
Aufeinanderfolge  vor  uns.  Wenn  dagegen  eine  Dosis  Chinin  zur  Folge 
hat,  daß  die  Körpertemperatur  des  Kranken  sich  vermindert,  so  sind 
wir  auf  Grund  der  wiederholten  Erfahrung  berechtigt,  anzunehmen, 
daß  durch  die  Verabreichung  von  Chinin  ein  physiologischer  Prozeß 
eingeleitet  wird,  der  in  seinem  Verlaufe  eine  Herabsetzung  der  Tem- 
peratur mit  sich  bringt. 

Auch  die  Zahlbegriffe  entwickeln  sich  aus  der  Urteilsfunk- 
tion. Gruppen  gleicher  Objekte  regen  zur  Wiederholung  desselben  Be- 
nennungsurteiles an.  Die  paarweise  angeordneten  Glieder  mögen  dazu 
der  erste  Anlaß  gewesen  sein.  „Hand,  Hand",  „Auge,  Auge"; 
„Bein,  Bein".  Die  Wiederholung  wird  gewiß  ursprünglich  von  Ge- 
bärden begleitet  und  die  Zahl  der  Wiederholungen  durch  die  Objekte 
selbst  bestimmt.  Wer  beim  Anblick  einer  Gruppe  von  drei  Bäumen  die 
l'rteile  fällt:  „Baum,  Baum,  Baum",  dem  wird  eben  bei  der  dritten 
Wiederholung  durch  das  sinnlich  gegebene  Wahrnehmungsbild  der 
I  iruppe  Halt  geboten.  Zu  einer  weiter  fortgesetzten  Wiederholung  fehlt 
der  Anlaß,  das  heißt  das  zugehörige  Objekt.  Die  letzte  Wiederholung 
dürfte  von  einem  Laute  begleitet  gewesen  sein,  aus  dem  sich  allmählich 
das  entsprechende  Zahlwort  entwickelte.  Dieses  wurde  dann  bei  jeder 
1  iruppe  von  Objekten  gebraucht,  die  zu  der  gleichen  Anzahl  von 
Wiederholungen  veranlaßte,  und  so  entstanden  die  ersten  Zahlbegriffe. 
Jede  Zahl  wird  zu  einem  Inbegriff  von  Einheiten,  der  bei 
lauerer  Betrachtung  bestimmte  Beziehungen  zu  diesen  Einheiten  und 
zu  anderen  Zahlen  aufweist.  Diese  Beziehungen  sind  bei  allen  Gruppen 
von  Objekten  dieselben  und  müssen  daher  für  alle  Objekte  Gültigkeit 
haben.  So  wurde  auch  hier  durch  die  zusammenfassende  Tätigkeit  des 
Denkens  unter  der  Mitwirkung  der  Sprache  ein  überaus  wichtiges 
I  ><  nkmittel  gefunden,  von  hoher  Allgemeinheit  und  von  großem  Wert 
ltir  die  ökonomische  Ordnung  der  Erfahrung. 

So  entwickeln  .sich  aus  der  Urteilsfunktion  allmählich  die  Erkennt- 
Formen  und  die  Denkmittel,  mit  denen  wir  operieren  und  die  uns  als 
-tiges  Rüstzeug  dienen.  Immer  aber  bleibt  die  fundamentale  Apper- 


§  29.  Genetische  und  biologische  trkenntnistheorie  97 

zeption  wirksam  und  selbst  die  kompliziertesten  Urteile  vollziehen 
in  derselben  Weise  die  Gliederung  und  Objektivierung  gegebener 
Inhalte.  Indem  wir  die  Eindrücke  unserer  Umgebung  aus  der  Sprache 
des  Universums  ins  Menschliche  übersetzen,  machen  wir  diese  Ein- 
drücke zu  unserem  geistigen  Eigentum.  Dieses  verwerten  wir  dann,  in- 
dem wir  die  erkannten  Naturkräfte  in  unsere  Dienste  zwingen  und  so 
unser  Leben  auch  unter  schwierigen  Bedingungen  zu  erhalten  und 
immer  inhaltsreicher  zu  gestalten  vermögen.  Das  Resultat  der  Wechsel- 
wirkung zwischen  dem  menschlichen  Organismus  und  seiner  Um- 
gebung läßt  sich  nun  in  den  Ausdruck  zusammenfassen :  Erkennt- 
nisderWeltdurch  Gestaltung  und  Gestaltung  der 
Welt  durch  Erkenntnis. 

Die  Wahrheit,  die  gewöhnlich  als  das  Ziel  aller  Erkenntnis  be- 
zeichnet wird,  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  bestimmte  Beziehung 
zwischen  dem  Urteilsakt  und  dem  durch  denselben  geformten  und  ob- 
jektivierten Vorgang.  Diese  Beziehung  besteht  natürlich  nur  im  Be- 
wußtsein denkender  Wesen  und  tritt  am  deutlichsten  hervor,  wenn  wir 
Urteile,  die  uns  überliefert  sind,  mit  den  dadurch  bezeichneten  Vor- 
gängen vergleichen.  Bei  dieser  Prüfung  fremder  Urteile  kommen  nun 
psychische  Phänomene  zum  Vorschein,  die  für  die  Erkenntnisentwick- 
lung von  großer  Bedeutung  sind.  Wollen  wir  ein  gehörtes  oder  ge- 
lesenes Urteil  verstehen,  so  müssen  wir  den  im  gehörten  oder  ge- 
lesenen Urteil  bereits  geformten  und  gegliederten  Vorstellungsinhalt 
wieder  zur  Einheit  zusammenfassen.  Während  das  selbständig  er- 
zeugte Urteil  eine  Analyse  ist,  verlangt  das  überlieferte  Urteil  von 
uns  eine  Synthese.  Bei  diesem  Akte  des  Zusammenfassens  und 
Wiedervereinigens  stellen  sich  nun  oft  Schwierigkeiten  und  Hem- 
mungen ein.  Gelingt  es  uns  nicht,  das  gehörte  Urteil  zu  einer  einheit- 
lichen Vorstellung  zu  vereinigen,  so  verstehen  wir  das  Gehörte  nicht. 
Wir  suchen  uns  dann  durch  Fragen  Aufklärung  zu  verschaffen  *). 
Allein  es  kommt  auch  häufig  vor,  daß  es  uns  wohl  gelingt,  die  im  über- 
lieferten Urteile  gegliederte  Vorstellung  nachzuergänzen,  daß  wir  aber 
finden,  die  im  überlieferten  Urteil  vollzogene  Deutung  sei  nicht  richtig. 
In  diesem  Falle  verstehen  wir  das  Gehörte  oder  Gelesene  sehr  wohl,  aber 
wirglauben  es  nicht.  Auf  diese  Weise  entsteht  das  psychische  Phä- 
nomen des  Glaubens  oder  allgemeiner  ausgedrückt  des  Fürwahr- 
h  alten s. 

In  neuerer  Zeit  ist  mehrfach  die  Ansicht  ausgesprochen  worden, 
daß  in  dem  Akte  des  Fürwahrhaltens  das  Wesen  der  Urteilsfunktion 
selbst  liege.  Der  englische  Logiker  John  St.  MM  hat  gesagt :  „Urteilen 
und  ein  Urteil  für  wahr  halten  ist  ein  und  dasselbe."  Diese  Meinung 
ist  schon  deshalb  unhaltbar,  weil  der  Gegenstand  des  Fürwahrhaltens 
ja  nur  ein  Urteil  sein  kann,  da  z.  B.  eine  Vorstellung  an  sich  weder 
wahr  noch  falsch  ist,  also  auch  nicht  für  wahr  gehalten  werden  kann. 
Richtig  ist  an  dieser  Ansicht  nur  das  eine,  daß  in  jedem  Urteilsakt 
ein  objektivierendes  Element  liegt.  Dieses  besteht  darin,  daß  wir  dem 
Kraftzentrum,  als  dessen  Äußerung  wir  den  beurteilten  Vorgang  auf- 


*)  Vgl.  Urteilsfunktion,  S.  169  ff. 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u    10.  Aufl. 


Qg  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

gen,  zugleich  eine  \rt  selbständiger  Existenz  zuschreiben,  und  zwar 
dieselbe  Selbständigkeit,  die  wir  für  unser  eigenes  Ich  in  Anspruch 
nehmen.  Diese  objektivierende  Funktion  des  Urteils  ist  aber  nicht  das 
l  ianze  des  Urteilsaktes,  sondern  eine  unmittelbare  Folgeerscheinung 
der  darin  vollzogenen  Deutung  und  Gliederung.  Diese  aber  kann  in 
bezug  au!  denselben  Inhalt  von  verschiedenen  Personen  in  verschie- 
dener  Weise  vorgenommen  werden.  So  kann  ein  Geräusch  von  einer 
\n/ahl  versammelter  Flirten  als  das  Geheul  eines  herannahenden 
Wolfes,  von  anderen  als  das  Sausen  des  Windes  gedeutet  werden. 
Objektiviert  ist  der  Vorgang  in  beiden  Deutungen,  allein  das  Kraft- 
zentrum  und  die  Kraftäußerung  ist  sehr  verschieden.  Das,  was  für 
wahr  gehalten  wird,  ist  jedoch  die  Art  der  Deutung  und  Gliederung, 
und  eben  deshalb  ist  der  Akt  des  Fürwahrhaltens  mit  dem  Urteilsakt 
selbst  nicht  identisch.  Er  bedarf  deshalb  einer  besonderen  psycho- 
tischen Zergliederung. 

Das  Fürwahrhalten  ist  uns  in  den  beiden  Erlebnissen  des  W  i  s- 
s  e  n  s  und  des  Glaubens  gegeben.  Zwischen  diesen  beiden  Erleb- 
nissen besteht  nicht  etwa,  wie  häufig  angenommen  wird,  ein  Gegen- 
satz, sondern  nur  ein  gradueller  Unterschied.  Das  Wissen  ist 
der  höchste  für  uns  erreichbare  Grad  des  Fürwahrhaltens.  Wir  sprechen 
von  einem  Wissen  dann,  wenn  mit  dem  Fällen  eines  Urteils  zugleich 
das  objektive  und  das  intersubjektive  Kriterium  seiner  Wahrheit  ge- 
geben ist  (s.  o.  S.  92  f.),  wenn  das  Eintreffen  der  Voraussagen  sich 
durch  Erfahrung  bewährt  hat,  und  wenn  die  Zustimmung  der  Denk- 
genossen  uns  selbstverständlich  erscheint.  Wo  dies  jedoch  nicht  der 
Fall  ist,  wir  aber  doch  geneigt  sind,  ein  gegebenes  Urteil  für  wahr  zu 
halten,  da  sprechen  wir  von  einer  Überzeugung,  von  einem 
Glauben.  Beim  Wissen  hat  es  keinen  Sinn  von  Intensitäts- 
abstufungen zu  sprechen,  weil  das  Wissen  eben  der  höchste  Grad  des 
Fürwahrhaltens  ist,  der  keine  weitere  Steigerung  zuläßt.  Der  Glaube 
jedoch  und  die  Überzeugung,  die  sind  uns  in  verschiedenen  Stärke- 
graden gegeben.  Wir  können  mit  geringerer  oder  mit  größerer  Festig- 
keit glauben,  mehr  oder  weniger  überzeugt  sein. 

Fragt  man  nun  nach  der  psychologischen  Natur  des  Glaubens  und 
der  Überzeugung,  so  führt  schon  die  Tatsache,  daß  beide  intensiv  ab- 
gestuft sind,  auf  die  Vermutung,  daß  wir  es  hier  nicht  mit  Denk- 
prozessen,  sondern  mit  G  ef  ü  h  1  en  zu  tun  haben.  In  dieser  Auffas- 
sung bestärkt  uns  die  Erwägung,  daß  der  Gegensatz  des  Glaubens, 
der  Zweifel,  jedem  von  uns  als  Gefühlszustand  bekannt  ist. 

Fragen  wir  nun  nach  den  Entstehungsbedingungen  dieser  Ge- 
fühle, so  wird  die  Antwort  nicht  schwer.  Das  Gefühl  des  Glaubens 
•  »der  der  Überzeugung  entsteht,  wenn  die  Übereinstimmung  eines  Ur- 
teils  mit  unseren  bisherigen  Erfahrungen,  mit  unserer  Weltanschauung 
uns  deutlich  /um  Bewußtsein  kommt.  Wir  versagen  einem  Urteil  den 
Glauben,  wenn  dasselbe  allen  unseren  bisherigen  Erfahrungen  wider- 
prnlit,  wenn  wir  es  nicht  einzufügen  vermögen  in  unser  Weltbild,  in 
unsere  Weltanschauung.  Die  heftigsten  Seelenkämpfe  sind  oft  die 
Folgen  solcher  neuer  Urteile,  die  uns  entgegengebracht  werden.  So 
versagte  man  den  Behauptungen  des  Kopernikus  lange  den  Glauben, 


§  29.  Genetische  und  biologische  Erkenntnistheorie  99 


s 


weil  man  gewohnt  war,  die  Bibel  auch  in  wissenschaftlichen  Fragen  als 
Autorität  zu  betrachten  *). 

Im  Laufe  der  Entwicklung  muß  es  natürlich  vorkommen,  daß 
Urteile,  die  früher  allgemein  für  wahr  gehalten  wurden,  sich  als  un- 
richtig erweisen.  Solche  Urteile  haben  sich  aber  meist  schon  zu  Be- 
griffen verdichtet,  mit  denen  man  zu  operieren  gewohnt  war.  Wenn 
nun  die  Urteile  nicht  mehr  wahr  sind,  so  können  auch  die  Begriffe 
nicht  mehr  als  wirklich  vorhandene  Kraftzentren  betrachtet  werden. 
Wenn  sich  z.  B.  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  christlichen  Zeit  die 
Heiden  zum  Christentume  bekehrten,  so  verloren  in  ihren  Augen  die 
früher  angebeteten  Gottheiten  ihre  Realität.  Die  Chemiker  des  sieb- 
zehnten und  achtzehnten  Jahrhunderts  glaubten  fest  an  die  Realität 
des  von  ihnen  angenommenen  Phlogiston,  eines  Stoffes,  der  sich  bei 
allen  brennbaren  Körpern  finden  sollte.  Als  dann  Lavoisier  den  Ver- 
brennungsprozeß richtig  erklärte,  verlor  der  Begriff  seine  Geltung,  das 
Phlogiston  seine  Realität.  Es  bildet  sich  demgemäß  ein  dem  Wahrheits- 
begriff analoges  Denkmittel  aus,  das  die  Beziehung  des  Begriffes  zur 
Wirklichkeit  bezeichnet.  Wir  nennen  dieses  Denkmittel  den  Exi- 
stenzbegriff. Auch  dieser  ist  in  neuerer  Zeit  mehrfach  erörtert 
worden  und  hat  zu  manchen  Kontroversen  Anlaß  gegeben.  Wir  fassen 
die  Existenz  als  ein  Prädikat  auf,  das  die  Wirkungsfähig- 
keit  des  Subjektes  ausdrückt.  Wenn  wir  sagen :  Gott  existiert, 
so  heißt  das  soviel  als :  Gott  ist  nicht  etwa  das  Geschöpf  der  mensch- 
lichen Phantasie,  sondern  er  besteht  unabhängig  davon,  ob  wir  an  ihn 
glauben,  er  ist  ein  selbständiges  Kraftzentrum,  das  wir  aus  seinen 
Wirkungen  erkennen.  Der  Tyrann  Dionysius  in  Schillers  „Bürgschaft" 
hat  nicht  geglaubt,  daß  so  etwas  wie  aufopferungsfähige  Freundestreue 
wirklich  existiere.  Nun  erlebt  er  aber  ein  Ereignis,  das  er  nicht  umhin 
kann,  als  Wirkung  eben  jener  angezweifelten  Treue  zu  deuten.  Daher 
ruft  er  überzeugt  aus:  „Die  Treue  ist  doch  kein  leerer  Wahn."  Im 
Deutschen  ist  der  Zusammenhang  von  Existenz  und  Wirkungsfähig- 
keit schon  in  der  Sprache  angedeutet.  Das,  was  existiert,  heißt  ja  das 
Wirkliche. 

Die  aprioristische  Erkenntnistheorie,  die  jetzt  in  Deutschland  so 
viele  Anhänger  zählt,  verschmäht  es,  nach  dem  Ursprung  und  der  Ent- 
wicklung der  Denkformen  zu  fragen.  Sie  will  sich  nur  mit  der  objek- 
tiven Geltung  der  Erkenntnis  befassen  und  sucht  diese  Geltung  auf 
immanente  Eigenschaften  der  Vernunft  zu  gründen,  die  ihre  Fähigkeit, 
objektive  und  allgemeingültige  Erkenntnisse  zu  gewinnen,  in  der 
mathematischen  Naturwissenschaft  bewährt  hat.  Trotz  der  großen 
Denkenergie,  die  in  solchen  Untersuchungen  zutage  tritt,  bleiben  alle 
diese  Spekulationen  deshalb  unfruchtbar,  weil  die  bewegende 
Kraft,  durch  die  alles  Erkennen  in  Tätigkeit  gesetzt  und  vorwärts 
getrieben  wird,  dem  Aprioriker  verborgen  bleiben  muß,  da  er  nicht  nach 
ihr  sucht.  Dagegen  vermag  unsere,  auf  dem  Entwicklungsgedanken 
ruhende;  evolutionistische   Betrachtungsweise  nicht  nur  den 


*)  Weitere  Ausführungen:   Urteilsfunktion,   198 ff.;   Lehrbuch  der  Psycho- 
logie. 7.  Aufl.,  S.  128  ff. 

7' 


100  •  rkenntniskritik  und  liikenntnistheorie 

Ursprung,  das  allmähliche  Wachstum  und  das  letzte  Ziel  aller  Er- 
kenntnis aufzuzeigen,  sondern  auch  die  Grundform  unseres  Denkens 
zu  bestimmen  und  über  das  Wesen  der  Wahrheit  sowie  über  die  Be- 
dingungen  der  objektiven  Geltung  unserer  Urteile  Aufschluß  zu  geben. 
Mierdings  weis!  unsere  Untersuchung  noch  eine  große  Lücke  auf.  Wir 
konnten  aui  dem  Wege  der  individualpsychologischen  Untersuchung, 
in  der  fundamentalen   Apperzeption  die  vermenschlichende  Funktion 
des  Urteilsaktes  erschließen  und  dabei  zeigen,  wie  unser  Fühlen  und 
\\  »llen  dem   Erkennen  die  Form  und   Richtung  gibt.     Wir  konnten 
dartun,  wie  die  in  unserer  zentralisierten  psycho-physischen  Organisa- 
tion begründete  Gliederung  und  Objektivierung  der  von  außen  kom- 
menden Eindrucke  sich  in  der  sprachlichen  Formulierung  des  Urteils- 
satzes  niederschlägt,  und  wie  daraus  die  Begriffe  und  die  Kategorien 
notwendigerweise  hervorgehen  müssen.  Wir  haben  die  Welt  dem  ein- 
zelnen   Menschen  gegenübergestellt  und  gezeigt,  wie  sich  aus  ihrer 
Wechselbeziehung  die  Form  und  die  Formen  unseres  Erkennens  ent- 
wickeln. Was  aber  dabei  so  gut  wie  ganz  unberücksichtigt  blieb,  das 
war  die  seelische  Wechselwirkung  der  Menschen  untereinander,  das 
heißt  der  soziale  Faktor  in  der  Entfaltung  menschlicher  Er- 
kenntnis. Wir  haben  die  Existenz  dieses  Faktors  zwar  einmal  (S.  89  f.) 
angedeutet,  denselben  aber  in  unsere  Untersuchung  nicht  einbezogen. 
Diese  Lücke  ganz  auszufüllen  ist  nun  allerdings  zurzeit  noch  unmög- 
lich.  Man  hat  eben  erst  begonnen,  auf  dieses  wichtige  Moment  die 
Aufmerksamkeit  zu  lenken,  und  der  Verfasser  dieses  Buches  ist  selbst 
mit  einer  diesbezüglichen  Untersuchung  beschäftigt.  Über  die  Wege 
und  Ziele  einer  solchen  „Soziologie  des  Erkennens"  habe  ich  mich  in 
einem  Aufsatze  ausgesprochen,  der  bei  den  französischen  Soziologen 
Beachtung  gefunden  hat  *).  Obwohl  nun  die  Untersuchung  noch  nicht 
ganz  abgeschlossen  ist,  so  sollen  doch  die  wichtigsten  Gesichtspunkte 
und  die  bisherigen  Ergebnisse  weiter  unten  im  Rahmen  des  Abschnittes, 
der  die  Soziologie  behandelt,  mitgeteilt  werden. 

Unsere  eben  dargelegte  biologische  und  genetische  Erkenntnis- 
thorie  ruht,  wie  bereits  bemerkt  wurde,  auf  der  Grundlage  des  kriti- 
schen Realismus.  Wenn  auch  die  Form  alles  Erkennens  aus 
unserer  psycho-physischen  Organisation  stammt  und  nach  psycho- 
logischen Gesetzen  bestimmt  ist,  so  ist  doch  der  durch  diese  Organi- 
sation geformte  und  objektivierte  Inhalt  nicht  von  uns  geschaffen, 
sondern  gegeben  und  besteht  unabhängig  von  uns.  Ferner  sind  wir 
selbst  eingebettet  in  das  Universum,  und  was  in  uns  vorgeht,  ist 
ebenfalls  nichts  anderes  als  ein  Teil  des  kosmischen  Ge- 
schehens. Der  aprioristische  Idealismus  will  das  Wesen  der  Welt 
aus  dem  eigenen  Ich  begreifen  und  sucht  W  e  1 1  e  r  k  e  n  n  t  n  i  s  zu 
ewinnen  durch  Selbsterkenntnis.  Der  evolutioni- 
-tische  Realismus,  den  wir  vertreten,  schlägt  den  umgekehrten 
Weg  ein  und  erstrebt  Selbsterkenntnis  durch  Welt- 
er k  e  n  u  t  n  i  s.  Der  aprioristische  Idealismus  enthält,  wie  bereits  ge- 

•)  Wgl   Jerusalem,   „Die  Soziologie  des  Erkennens"  („Die  Zukunft",  XVII, 
n.  Mai  1909)  und  dazu  Emil  Durkheim   in  „Annee  sociologique",  Band  XXI. 
I2ff.  (1910). 


Literatur  1 0 1 

sagt  wurde,  eine  latente  Metaphysik,  mit  der  er  operiert,  ohne  sich 
darüber  klar  und  deutlich  Rechenschaft  zu  geben.  Der  empirische 
Realismus  sieht  hingegen  ganz  genau,  daß  die  Erfahrung  und  ihre 
wissenschaftliche  Bearbeitung  ihn  niemals  bis  zur  Erkenntnis  des 
Ganzen  und  bis  zur  Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge  führen  kann. 
Da  aber  das  Bedürfnis,  das  Universum  zu  verstehen,  zu  stark  ist,  als 
daß  es  sich  ganz  unterdrücken  ließe,  so  sehen  wir  uns  genötigt,  auf 
Grund  der  bewährten  Erkenntnismethoden  über  die  Erfahrung  hinaus- 
zugehen und  Hypothesen  über  die  Natur  des  Weltalls  und  des 
Menschengeistes  aufzustellen,  die  geeignet  sind,  die  Erfahrung  zu  er- 
klären und  zu  begründen,  unserem  Erkennen  einen  Abschluß  zu  geben 
und  in  einer  so  gewonnenen  einheitlichen  Weltanschauung  Richtlinien 
für  unser  Handeln  zu  gewinnen.  Der  kritische  Realismus,  der  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis  bejaht,  enthält  also  schon 
in  sich  die  weitere  Frage  nach  dem  Wesen  der  Wirklichkeit. 
Mit  diesem  Problem  aber  beschäftigt  sich  der  Teil  der  Philosophie, 
den  wir  oben  als  Metaphysik  oder  Ontologie  bezeichnet 
haben. 

Literatur 

A.  Riehl,  Der  philosophische  Kritizismus.  2  Bände.   1876—1887,   I.  Band  in 

2.  Aufl.   1908. 
W.  Wundt,  Logik.  I.  Band.  4.  Aufl.  1919. 

—  —  System  der  Philosophie.  7.  Aufl.  1919. 

H.  Spencer,  First  Principles,  1862,  6.  Aufl.  1899;  autorisierte  deutsche  Aus- 
gabe von  Vetter  1875,  2.  Aufl.  unter  dem  Titel  „Grundsätze  der  synthe- 
tischen Auffassung  der  Dinge"  neu  übersetzt  von  J.  V.  C  a  r  u  s,  1901. 

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Rudolf  Eisler,  Einführung  in  die  Erkenntnistheorie.  1907.  (Vortreffliche 
Orientierung  über  die  bestehenden  Richtungen  und  Begründung  einer 
voluntaristischen  Erkenntnistheorie.) 

—  —  Grundlagen   der   Philosophie   des   Geisteslebens.    1908. 


102  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie 

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Henri  Bergsoii.  1  ssai  sur  lea  donnees  immediates  de  la  conscience.  6.  Aufl. 
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M.  Frey  tag.  Die  Erkenntnis  der  Außenwelt.  1904.  (Realistisch.) 
1     Cassirer,  Das   Erkenntnisproblem   in  der   Philosophie   und   Wissenschaft 

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T  h.   Ziehen,  Erkenntnistheorie  auf  physiologisch-psychologischer  Grundlage. 

1913. 
ML   Schlick,   Erkenntnistheorie.    1920. 
R.  Reininger,  Philosophie  des  Erkennens.  1911. 
Friedrich   J  o  d  1,   Kritik  des   Idealismus.   Aus  dem  Nachlaß  herausgegeben 

und  bearbeitet  von  C.  Siegel  und  W.  Schmied-Kowarzik.   1920. 

(Energische  Verteidigung  des  Realismus.) 

II.  Rickert,  Der  Gegenstand  der  Erkenntnis,  Einführung  in  die  Transzenden- 

talphilosophie. 3.  Aufl.  1915. 

Zur  Phänomenologie 

E.  Husserl,  Logische  Untersuchungen.  2  Bände.  1900—1901.  1.  Band.  3.  Aufl. 
1922.  2.  Band  in  2.  Aufl.  1013  und  1921. 

Jahrbuch   für   Philosophie   und   phänomenologische   Forschung.    I.   Band, 
Teil  I  und  II.  1913. 
M.  Sch e le r,  Der  Formalismus  in  der  Ethik.  (Jahrbuch  I,  2.) 

Abhandlungen   und  Aufsätze.   2  Bände.   1915. 

-  Das   Ewige   im  Menschen.    1921. 
V    Rein  ach,  Die  apriorischen  Grundlagen   des  bürgerlichen   Rechtes.   (Jahr- 
buch I,  2.) 

Zur   Philosophie  des  Als-Ob 

Hans  Vai  h  inger,  Die  Philosophie  des  Als-Ob.  1.  Aufl.  1911,  5.  und  6.  Aufl. 

1920. 
Selbstdarstellung    in    dem    Sammelwerk    „Die    deutsche    Philosophie    der 

Gegenwart  in  Selbstdarstellungen".  2.  Band.  1920.  (Besonders  wichtig.) 
Vnnalen  der  Philosophie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Probleme  der  Als-Ob- 

Betrachtung.  (Herausgegeben  von  Hans  Vaihinger  und  Raymund 

Schmidt.   1.  Band.  1919.) 

Zum  Pragmatismus 

W  i  1 1  i  a  m  James,  Der  Pragmatismus,  ein  neuer  Name  für  alte  Denkmethoden; 

übersetzt  von  Wilhelm  Jerusalem.  1908. 
I  .  <     S.  Schiller,  Humanism.  1903. 

Studies  in  Humanism.   1907. 

-  Axioms  as  postulates,  enthalten  in  dem  Sammelwerk  Personal  Idealism, 
herausgegeben   von  S  t  u  r  t.    1902. 

Humanismus.   Beiträge  zu    einer   pragmatischen   Philosophie.   Deutsch 
von  Rudolf  E  i  s  1  e  r.   1911.  Auswahl  aus  den  genannten  Werken. 
I  o  li  n  D  e  w  e  y,  Studies  in  logical  theory.  1903. 
'i  inther  Jacoby,  Der  Pragmatismus.   1909. 


Literatur  103 

J.  M.  Eachran,  Der  Pragmatismus.  Eine  neue  Richtung  in  der  Philosophie. 

1910. 
Ludwig  Stein,  Der  Pragmatismus;  im  Archiv  für  systematische  Philosophie. 

1908. 
W.  Jerusalem,  Der  Pragmatismus;  in  Deutsche  Literaturzeitung.  1908,  Nr.  4. 
Henri  Bergson,  Matiere  et  memoire.  5.  Aufl.  1918.  Deutsch  mit  Einleitung 

von  Windel  band.   1908. 

Evolution  creatrice.  4.  Aufl.  1906.  Deutsche  Übersetzung  1912. 

Introduction  ä  la  metaphysique.  (Revue  de  Met.  et  de  Mor.  1903.)  Deutsch 

u.  d.  T.  Einleitung  in  die  Metaphysik.  1910. 
L'intuition  philosophique  im  Bericht  des  IV.  internationalen  Kongresses 

für  Philosophie  in  Bologna.  (I,  174,  besonders  wichtig  für  das  Verständnis 

der  Intuition.) 
D.  L.  Murray,  Pragmatism;  with  a  preface  of  F.  C.  S.  Schiller,  London  1912. 


Vierter  Abschnitt 

Metaphysik  oder  Ontologie 

§  30.  Probleme  und  Richtungen  der  Metaphysik 

Die  Metaphysik  ist  der  älteste  und  zugleich  der  zen- 
tralste Teil  der  Philosophie.  Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Welt 
hat  sich  den  indischen  und  griechischen  Denkern  aufgedrängt,  be- 
vor ihnen  das  menschliche  Erkennen  zum  Problem  geworden  war.  Das 
Denken  ist  eben  zuerst  nach  außen  gerichtet  und  gelangt  erst  viel 
später  dazu,  sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen  und  in  die  Tiefen  des 
Seelenlebens  hinabzusteigen.  Aber  selbst  dann,  wenn  wir  längst  ge- 
lernt haben,  nach  der  Möglichkeit  und  nach  den  Grenzen  des  Erken- 
nens  zu  fragen,  wenn  wir  über  die  sittlichen  Aufgaben  des  Menschen 
Untersuchungen  anstellen  und  uns  redlich  bemühen,  auf  dem  Boden 
der  Erfahrung  zu  bleiben,  immer  zeigt  es  sich,  daß  alle  Erkenntnis- 
theorie und  alle  Ethik  entweder  auf  unausgesprochenen  metaphysischen 
Voraussetzungen  beruht  oder  einer  Ergänzung  und  Abschließung 
durch  metaphysische  Hypothesen  bedarf.  Die  Metaphysik  ist  tatsäch- 
lich der  Mittelpunkt,  von  dem  alle  Philosophie  ausgeht,  und  zu  dem  sie 
wieder  zurückkehrt.  Die  Anhänger  Kants  glaubten  eine  Zeitlang,  daß 
durch  die  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  jede  Metaphysik  für  alle  Zeiten 
unmöglich  gemacht  worden  sei.  Allein  Kant  selbst  gründete  seine 
Sittenlehre  auf  metaphysische  Behauptungen  und  seine  Nachfolger, 
Fichte,  Schilling,  Hegel,  Herbart  und  Schopenhauer,  haben  die  im 
erkenntniskritischen  Idealismus  verborgenen  ontologischen  Voraus- 
setzungen  zu  tief  durchdachten  und  groß  angelegten  metaphysischen 
Systemen  ausgebaut.  Auch  der  von  Auguste  Comte  begründete  Posi- 
tivismus,  der  in  erneuerter  und  vertiefter  Form  von  hervorragenden 
Denkern  der  Gegenwart  vertreten  wird,  lehnt  prinzipiell  jede  Meta- 
physik ab.  Wir  werden  aber  weiter  unten  sehen,  daß  auch  diese  Denk- 
richtung  nicht  bloß  Methode  ist,  sondern  zu  einer  Weltanschauung 
sich  ausgestaltet,  diu  in  gewissem  Sinne  ebenfalls  über  die  Erfahrung 
hinausgeht. 

Das    metaphysische    Bedürfnis   macht    sich    nun   gerade   in    der 

neuestm  Zeit,  die  von  materiellen  und  wirtschaftlichen  Interessen  ganz 

in    Anspruch   genommen   zu  sein  scheint,  in   dem  stark  verbreiteten 

Streben  nach   I  rneuerung  und  Vertiefung  des  religiösen  Lebens 

Itend.    Der  Glaube  an  eine  höhere  geistige   Macht,  die  über  uns 


§  30.  Probleme  und  Richtungen  der  Metaphysik  105 

thront  und  doch  zugleich  in  uns  wirksam  ist,  gehört  keineswegs  der 
Geschichte  an,  sondern  wird  gerade  in  den  Kreisen  der  höher  Ge- 
bildeten wieder  lebendig.  Ebenso  weisen  die  künstlerischen 
Richtungen  unserer  Tage  eine  entschiedene  Abkehr  von  der  naturali- 
stischen Nachahmung  der  Wirklichkeit  auf  und  suchen  wieder  auf  das 
tiefere  geistige  Leben  in  uns  zu  wirken.  Die  Erörterung  metaphysischer 
Probleme  hat  es  also  heute  nicht  bloß  mit  der  Darstellung  vergangener 
Denkrichtungen  zu  tun.  Die  Metaphysik  ist  nicht  tot,  sondern  bildet 
einen  wichtigen  Teil  unseres  wirklichen  Lebens. 

Man  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  viel  von  einer  populären  oder 
unbewußten  Metaphysik  gesprochen.  Der  erkenntniskritische  Idealis- 
mus erklärt  z.  B.  den  Glauben  an  die  Realität  der  Außenwelt,  der  die 
Grundlage  des  naiven,  nicht  philosophierenden  Denkens  bildet,  bereits 
für  eine  unerlaubte  Überschreitung  der  Erfahrung,  für  eine  latente 
Metaphysik.  Dies  ist  jedoch  ein  Mißbrauch  des  Wortes  und  zugleich 
eine  sachliche  Irreführung.  Der  naive  Realismus,  den  wir  oben 
(S.  45  f.)  als  die  Auffassung  des  nicht  philosophierenden  Verstandes 
kennen  gelernt  haben,  ist  ebensowenig  Metaphysik,  wie  er  Erkenntnis- 
kritik ist.  Dieser  Standpunkt  liegt  diesseits  der  Metaphysik  und 
der  Kritik.  Wir  glauben  alle  an  die  von  uns  unabhängige  Realität  der 
von  uns  wahrgenommenen  Dinge  und  sind  überzeugt,  daß  wir  damit 
keinen  Schritt  über  die  Erfahrung  hinausgetan  haben.  Im  Gegenteil. 
Gerade  diese  Überzeugung  scheint  uns  das  charakteristische  Merkmal 
des  Erfahrungsmäßigen  zu  sein  und  wir  richten  eben  deshalb  unser 
praktisches  Handeln  darnach  ein.  Einen  naiven  Realisten  als  Meta- 
physiker  zu  bezeichnen  wäre  ebenso  sinnlos,  wie  wenn  wir  uns  selbst 
Orientreisende  nennen  wollten,  weil  wir  die  tägliche  Drehung  der  Erde 
von  Westen  nach  Osten  mitmachen. 

Aber  auch  die  personifizierenden  Vorstellungen  von  den  Natur- 
gewalten und  der  Seelenglaube  der  primitiven  Völker  sind  noch  nicht 
Metaphysik,  sondern  nur  eine  Vorstufe  dazu.  Der  Mensch  steht  auf 
dieser  Kulturstufe  noch  ganz  im  Banne  der  weiter  unten  zu  besprechen- 
den sozialen  Verdichtungen.  Er  nimmt  den  Glauben  an  die 
vielen  Dämonen  und  Geister  von  frühester  Jugend  an  in  sich  auf,  wird 
darin  von  den  Stammesgenossen  immer  bestärkt  und  so  verschmelzen 
diese  Wesen  mit  seinen  sinnlichen  Wahrnehmungen  und  bilden  für  ihn 
einen  integrierenden  Bestandteil  seiner  vermeintlichen  Erfahrung.  Er 
glaubt  an  die  Geister  und  ihre  Macht  mindestens  ebenso  fest,  wie  an 
das,  was  er  sieht  und  mit  Händen  greift. 

Die  eigentlich  philosophische  Metaphysik  beginnt  erst 
dort,  wo  der  Mensch  sich  in  gewissem  Grade  bereits  unabhängig  ge- 
macht hat  von  der  Tradition,  wo  seine  eigene  selbständig  gewordene 
Vernunft  ein  widerspruchsloses  Weltbild  verlangt.  Die  Philosophie  ist 
eben,  wie  wir  oben  sagten,  ihrem  Wesen  nach  individuali- 
stisch, weil  sie  die  frei  gewordene  Persönlichkeit  zur  Voraussetzung 
hat.  Diese  sucht  nun  zunächst  in  der  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  ein  einheitliches  Band  zu  entdecken.  Der  Mensch  will 
mit  Faust  wissen,  was  die  Welt  im  Innersten  zusammenhält,  will 
schauen  alle  Wirkenskraft  und  Samen.   Das  ursprüngliche  Problem 


]06  Metaphysik  oder  Ontologie 

der  Metaphysik  besteht  also  darin,  daß  man  hinter  der  Vielheit 
der  1  rscheinung  die  Einheit  des  Wesens  zu  finden 
sucht.  Alle  Metaphysik  ist  somit  von  Anfang  an  monistisch  ge- 
richtet. Wir  verstehen  unter  Monismus  jeden  Versuch,  das  Uni- 
.  1 1  >um  aus  einem  einheitlichen  P  r  i  n  z  i  p  zu  erklären,  und  wer- 
den gleich  sehen,  daß  diese  Denkrichtung  in  sehr  verschiedenen  Formen 
zum  Ausdruck  gelangt. 

In  den  Anfängen  der  metaphysischen  Spekulation  ist  das  Denken 
noch  vorwiegend  nach  außen  gerichtet.  Was  man  zu  erklären  und 
einheitlich  zu  begreifen  sucht,  das  ist  die  sieht-  und  greifbare  Welt,  die 
uns  umgibt,  das  Himmelsgewölbe,  das  sich  scheinbar  um  die  Erde  dreht, 
und  diese  Erde  selbst,  die  als  der  Mittelpunkt  des  Weltalls  gilt,  mit  den 
Pflanzen,  Tieren  und  Menschen,  die  auf  ihr  wohnen.  Das  metaphysische 
I  inheitsbedürfnis  führte  nun  auf  dieser  Stufe  zunächst  dazu,  daß  die 
ältesten  griechischen  Denker,  die  beobachtet  hatten,  daß  derselbe 
Stoff  in  verschiedenen  Formen  zutage  trete  (Wasser  als  Dunst  in 
der  Luft,  als  Feuchtigkeitsgehalt  in  festen  Körpern,  Feuer  als  Licht 
und  als  Wärme)  nach  einem  U  r  s  t  o  f  f  e  suchten,  aus  dem  alle  Dinge 
entstehen  konnten.  Thaies  stellte  das  Wasser,  Anaximenes  die  Luft, 
tieraklit  das  Feuer  als  Urstoff  auf.  Dieser  Gedanke  wurde  im  Laufe 
der  Geistesentwicklung  verfeinert,  mit  den  Ergebnissen  der  Physik  in 
Zusammenhang  gebracht  und  bildete  sich  zu  der  Lehre  aus,  daß  allem 
Sein  und  Geschehen  in  der  Welt  der  Stoff  oder  die  Materie  zugrunde 
liege.  Diese  Form  des  ontologischen  Monismus  nennt  man  Materi- 
alismus, eine  Weltanschauung,  deren  Entwicklung  und  Bedeutung 
uns  weiter  unten  eingehend  beschäftigen  wird. 

Je  komplizierter  sich  aber  im  Laufe  der  Zeit  das  soziale  Leben 
gestaltete,  desto  größere  Bedeutung  gewannen  diegeistigen  Vor- 
gänge im  Menschen.  Die  Denker  sahen  sich  genötigt,  den  Blick  immer 
mehr  nach  innen  zu  richten  und  sich  mit  der  Menschenseele  und 
ihrem  Reichtum  zu  befassen.  Reiche  Schätze  wurden  da  entdeckt  und 
so  wurde  der  Geist  immer  höher  gewertet.  Nicht  was  dem  Menschen 
von  außen  entgegentritt,  sondern  was  er  infolge  seiner  Geistestätigkeit 
daraus  macht,  entscheidet  über  sein  Schicksal.  Unterstützt  durch  ge- 
läuterte religiöse  Vorstellungen,  wird  das  spekulative  Denken  ver- 
anlaßt, die  im  eigenen  Innern  erlebten  geistigen  Vorgänge  in  den  Welt- 
bildungsprozeß hineinzudeuten.  Der  tote,  formlose  und  träge  Stoff 
wird  nicht  mehr  als  die  letzte  Wirklichkeit  anerkannt.  Plato  und  Platin 
gehen  sogar  so  weit,  die  Materie  geradezu  als  das  Nicht- 
i  e  n  d  e  zu  bezeichnen.  Jedenfalls  gehören  geistige  Vorgänge  zum 
Wesen  der.  Welt.  Empedokles  läßt  als  erster  Liebe  und  Haß,  also 
seelische  Vorgänge,  bei  der  Weltbildung  mitwirken  und  sein  Zeit- 
genosse Anaxagoras  führte  in  den  Weltprozeß  den  ordnenden  Geist  ein, 
der  das  Chaos  zum  Kosmos  gestaltet.  Die  Ideenlehre  Piatons,  der 
I  iottesbegriff  des  Aristoteles,  die  Religionsphilosophie  Plotins,  die 
jüdische  und  die  christliche  Lehre  von  Gott  als  reinem  Geist,  bringen 
das  spekulative  Denken  immer  mehr  dazu,  das  geistige  Sein  nicht  nur 
für  wertvoller,  sondern  auch  für  wesenhafter  und  wirklicher  zu  halten 
als  die  Materie.  Einen  entscheidenden  Schritt  in  dieser  Richtung  be- 


§  30.  Probleme  und  Richtungen  der  Metaphysik  107 

deutet  die  Entdeckung  des  hl.  Augustinus,  daß  unser  eigener  Geist  das 
Unmittelbarste  und  Gewisseste  für  uns  ist.  Diese  Entdeckung  hat  aller- 
dings erst  zwölf  hundert  Jahre  später  ihre  Wirkung  getan,  als  Des- 
cartes  diese  Überzeugung  in  seinem  „cogito,  ergo  sum"  formulierte 
und  zum  Ausgangspunkt  einer  neuen  Philosophie  machte.  George  Ber- 
keley zieht  dann  daraus  die  Konsequenz,  daß  nur  Geister  wirklich 
existieren,  während  die  sinnliche  Welt  an  sich  nichts  ist,  sondern  nur 
als  Vorstellung  der  Geister  gegeben  ist.  Diese  Lehre  von  der  Geistig- 
keit der  Welt  wird  im  neunzehnten  Jahrhundert  kräftig  ausgebaut  und 
bildet  sich  zu  einer  dem  Materialismus  ganz  entgegengesetzten,  aber 
ebenfalls  monistischen  Metaphysik  aus,  die  wir  S  p  i  r  i  t  u  a  1  i  s  m  u  s 
nennen  wollen.  Diese  Denkrichtung  werden  wir  weiter  unten  genauer 
zu  betrachten  haben.  Hier  sei  noch  bemerkt,  daß  sie  dem  germanischen 
Geist  am  meisten  kongenial  ist.  Deutsche  und  englische  Denker  haben 
sie  am  wirksamsten  ausgestaltet  und  auch  heute  findet  sie  in  Deutsch- 
land, England  und  Amerika  ihre  bedeutendsten  Vertreter. 

Materialismus  und  Spiritualismus  sind  die  inhaltlichen 
Gegensätze,  in  welche  die  monistische  Metaphysik  auseinandertritt. 
Materie  und  Geist  streiten  gleichsam  um  die  Weltherrschaft,  und  dieser 
Streit  ist  auch  heute  noch  nicht  geschlichtet.  Neben  dieser  inhaltlichen 
Verschiedenheit  macht  sich  nun  im  metaphysischen  Denken  noch  ein 
anderer,  mehr  formaler  Gegensatz  geltend,  der  ebenfalls  ver- 
schiedene Formen  des  Monismus  hervorbringt.  Zum  Verständnis  dieser 
etwas  komplizierteren  Denkgebilde  müssen  wir  jedoch  vorher  einige 
Betrachtungen  vorausschicken. 

Die  philosophische  Spekulation  ist  vorwiegend  abstraktes 
Denken.  Das  charakteristische  Merkmal  des  abstrakten  Denkens  ist 
nun  die  Bildung  fester  und  dauernderBegriffe.  Durch  den 
Begriff  werden  die  gemeinsamen  Merkmale  vieler  Einzeldinge  in  einem 
Denkakt  zusammengefaßt.  Auf  diese  Weise  wird  es  möglich,  das  Ge- 
meinsame festzuhalten,  die  Regelmäßigkeiten  des  Geschehens  zu  be- 
merken und  präzise  zu  formulieren,  die  unübersehbare  Menge  der 
Objekte  ökonomisch  zu  ordnen  und  denkend  zu  bewältigen.  Während 
nun  die  Einzeldinge  einer  steten  Veränderung  unterliegen,  hat  es  den 
Anschein,  als  ob  der  Begriff,  der  ja  nur  die  wesentlichen  und  somit 
dauernden  Merkmale  in  sich  enthält,  unverändert  und  immer  sich  selbst 
gleich  bleibe.  Da  nun  im  Begriff  alles  Wesentliche  des  Einzeldinges 
darin  steckt,  so  bildet  sich  leicht  die  Meinung  aus,  daß  die  einzelnen 
Dinge  nur  durch  ihre  Zugehörigkeit  zum  Begriff  das  sind,  was  ihr 
Wesen  ausmacht.  Zu  diesem  Wesen  aber  scheint  es  zu  gehören,  daß 
aller  Veränderung  etv/as  zugrunde  liegt,  was  sich  selbst  nicht  ver- 
ändert, sondern  ewig  dasselbe  bleibt.  Diese  Auffassung  wird  dadurch 
gestützt,  daß  wir  geneigt  sind,  die  Ruhe  als  den  Normal- 
zustand der  Dinge  anzusehen,  während  die  Bewegung  ein  z  u  f  ä  1- 
liges  Ereignis  ist,  das  am  Wesen  des  Bewegten  nichts  ändert. 
Wir  können  diese  Betrachtungsweise  mit  einem  der  Mechanik  ent- 
lehnten Ausdruck  als  die  s  t  a  t  i  s  c  h  e  bezeichnen.  Auf  diesem  Stand- 
punkte glauben  wir  das  Wesen  der  Dinge  am  sichersten  dadurch  zu 
erkennen,  daß  wir  immer  die  bleibenden,  unveränderlichen  Merkmale^ 


108  Metaphysik  oder  Ontologie 

daß  wir  den  ruhenden  Pol  in  der  Flucht  der  Erscheinungen  zu  erfassen 
streben.  Als  beharrender  Träger  aller  Veränderung  wird  zuerst  der 
Stoff  oder  die  Materie  angesehen.  Bald  aber  zeigt  es  sich  einerseits, 
dal>  der  Stoff  den  stärksten  Wandlungen  unterworfen  ist,  anderseits 
brauchl  man  auch  für  die  nicht  stofflichen,  für  die  geistigen  Vorgänge 
einen  keiner  Veränderung  unterworfenen  Träger.  Um  diesen  An- 
sprüchen des  begrifflichen  Denkens  zu  genügen,  bildete  man  einen 
helleren,  allgemeineren  Begriff,  dem  man  später  den  Namen  S  u  b- 
stan  gab.  Die  Substanz  gilt  nun  als  der  schlechthin  beharrende, 
absolut  unveränderliche  Urgrund  alles  körperlichen  und  geistigen  Ge- 
schehens. Die  Aufgabe  der  Metaphysik  besteht  nun  darin,  das  Wesen 
dieser  Substanz  vollständig  zu  erfassen  und  daraus  das  Weltgeschehen 
reiflich  zu  machen.  Wir  wollen  diese  statische  Denkrichtung  der 
Metaphysik  als  Monismus  der  Substanz  bezeichnen.  Im  alten 
Griechenland  hat  der  der  sogenannten  eleatischen  Schule  angehörende 
1  Vnker  Parmerddes  die  Grundlage  zu  dieser  Weltauffassung  ge- 
schaffen, die  dann  von  Spinoza  mit  großer  Denkkraft  zu  einem  System 
ausgestaltet  wurde. 

Gegen  diese  auf  das  abstrakte  Denken  und  seine  starren  Begriffe 
gegründete  statische  Weltauffassung  lehnt  sich  nun  die  anschauliche 
I  rfahrung  auf.  Was  wir  in  der  Welt  vorfinden,  das  ist  nirgends  starre 
Ruhe,  sondern  im  Gegenteil  stete  Veränderung,  immerwährendes 
Werden  und  Geschehen.  Die  Ruhe,  die  wir  zu  sehen  glauben, 
erweist  sich  bei  genauerem  Zusehen  als  nur  scheinbar.  Das  Wesen  der 
Welt  ist  also  durchaus  nicht  unveränderliches  Sein,  sondern  ewiges 
Werden  und  Geschehen.  Diese  dynamische  Weltbetrach- 
tung, die  in  bewußtem  Gegensatz  zu  den  Eleaten  zuerst  von  Heraklit 
als  die  einzig  richtige  bezeichnet  wurde,  erfährt  durch  die  moderne 
Wissenschaft  immer  neue  Bestätigungen.  Die  moderne  Physik  lehrt 
uns,  daß  es  absolute  Ruhe  nirgends  in  der  Welt  gibt,  und  daß  wirklich, 
wie  Heraklit  lehrte,  alles  in  Bewegung  ist  und  nichts  beharrt.  Durch 
Beobachtung,  Versuch  und  Rechnung  lernen  wir  die  Gesetze 
dieses  Geschehens  kennen  und  machen  uns  so  zu  Herren  der 
Natur.  Allein  nirgends  geraten  wir  dabei  auf  eine  unveränderliche 
und  beharrende  Substanz.  Der  vereinheitlichende  Begriff,  der  ganz 
ungezwungen  auch  das  seelische  Leben  mit  umfaßt,  ist  nicht 
der  des  Seins,  sondern  der  des  Geschehens.  Wir  stellen  also 
dem  Monismus  der  Substanz  einen  Monismus  des  Ge- 
schehens gegenüber,  eine  Denkrichtung,  die  in  der  neuesten  Zeit 
von  besonders  hervorragenden  Denkern  vertreten  und  ausgebildet 
wurde. 

Wir  haben  somit  vier  Grundformen  monistisch  gerichteter  Welt- 
anschauung zu  verzeichnen,  zwischen  denen  allerdings  auch  Kombi- 
nationen möglich  sind.  Jede  derselben  betont  einseitig  ein  einziges 
Prinzip,  einen  ein/igen  Gesichtspunkt  und  wird  eben  durch  diese  Ein- 
seitigkeit geeignet,  eine  monistische  Weltanschauung  konsequent  auf- 
zubauen. Dabei  geht  es  aber  ohne  Gewaltsamkeiten  nicht  ab.  Immer  gibt 
es  Gruppen  von  1  atsachen,  die  bei  der  einen  oder  der  anderen  Form  des 
Monismus  unerklärt  bleiben.     So  kann  der  Materialist  sein  eigenes 


§  31.  Der  Materialismus  109 

Seelenleben  nicht  erklären,  der  Spiritualist  vermag  nicht  anzugeben, 
wie  sich  der  Geist  zur  Materie  verdichtet,  der  Monist  der  Substanz 
steht  der  Veränderung  ratlos  gegenüber,  während  der  Monist  des  Ge- 
schehens die  doch  nicht  wegzuleugnende  Erhaltungs-  und  Beharrungs- 
tendenz der  organischen  und  unorganischen  Strukturformen  nicht  recht 
zu  begreifen  vermag. 

Infolge  dieser  mit  jedem  monistischen  System  verbundenen  Ver- 
gewaltigung der  Tatsachen  gewinnen  ältere  Denkrichtungen,  die  be- 
reits als  vollständig  überwunden  galten,  wieder  neue  Anhänger.  Dazu 
gehört  vor  allem  der  von  allen  monotheistischen  Religionen  zum 
Dogma  erhobene  Dualismus.  Mit  diesem  Namen  bezeichnet  man 
allgemein  die  Lehre,  daß  Materie  und  Geist  zwei  ganz  ver- 
schiedene Wesenheiten  sind.  Im  Menschen  sind  beide  Substanzen  vor- 
handen und  stehen  da  in  steter  Wechselbeziehung.  Der  Dualismus  ist 
keineswegs  bloß  eine  theologische,  sondern  auch  eine  streng  philo- 
sophische Denkrichtung,  die  von  Descartes  am  schärfsten  formuliert 
und  in  neuester  Zeit  wiederholt  sehr  geistvoll  verteidigt  wurde.  Die 
Gründe  für  und  gegen  diese  Weltanschauung  sowie  die  damit  zu- 
sammenhängenden Probleme  werden  uns  weiter  unten  eingehend  be- 
schäftigen. 

In  den  letzten  Jahren  hat  man  mit  der  Rückkehr  zum  Standpunkt 
des  nicht  philosophierenden  Verstandes  vollen  Ernst  gemacht  und  be- 
hauptet, die  Welt  sei  das,  als  was  sie  unserer  Erfahrung  gegeben  ist, 
eine  Vielheit  von  Einzeldingen.  Diese  Ansicht  des  radikalen  Empi- 
rismus, als  dessen  hervorragendster  Vertreter  der  berühmte  ameri- 
kanische Psychologe  William  James  zu  nennen  ist,  wird  als  Plura- 
lismus bezeichnet.  Für  die  Anhänger  dieser  Denkrichtung  ist  die 
Einheit  der  Welt  weder  Tatsache  noch  Vermutung,  sondern  eine  Auf- 
gabe, die  der  menschlichen  Kultur  gestellt  ist.  Die  Welt  soll  vom 
Menschen  immer  mehr  zur  Einheit  ausgestaltet  werden,  in  der  alle 
geistigen  Bestrebungen  und  alle  sittlichen  Ideale  sich  frei  entfalten 
können. 

Wir  müssen  nun  darangehen,  die  wichtigsten  der  hier  genannten 
Denkrichtungen  genauer  darzustellen  und  zu  prüfen. 

§  31.  Der  Materialismus 

„Der  Materialismus  ist  so  alt  wie  die  Philo- 
sophie, abernichtälte  r",  sagt  Fr.  Albert  Lange  am  Anfang 
seiner  vortrefflichen  „Geschichte  des  Materialismus".  Damit  ist  vor 
allem  die  verbreitete,  aber  durchaus  irrige  Ansicht  zurückgewiesen, 
daß  der  Materialismus  die  Auffassung  des  naiven  Verstandes  sei.  Der 
Materialismus  ist  vielmehr  eine  metaphysische,  das  heißt  über 
die  Erfahrung  hinausgehende  Hypothese,  welche  versucht,  den  Zu- 
sammenhang des  Weltgeschehens  begreiflich  zu  machen. 

Die  ersten  Bemühungen  der  griechischen  Philosophen,  die  Welt  zu 
deuten,  sind,  wie  bereits  erwähnt,  entschieden  materialistisch  gerichtet. 
Man  sucht  nach  einem  Grundstoff,  aus  dem  alles  entstanden  sein  soll, 
und  glaubt  ihn  bald  im  Wasser,  bald  im  Feuer,  bald  in  der  Luft  gefun- 


|10  Metaphysik  oder  Ontologic 

den  /.u  haben.  Das  geistige  Leben  bleibt  dabei  freilich  unerklärt,  weil  es 
eben  noch  nicht  Gegenstand  des  philosophischen  Nachdenkens  ist. 
Empedokles  und  Anaxagoras  (beide  um  450  v.  Chr.)  haben,  wie  wir 
oben  sagten,  zuerst  ein  geistiges  Prinzip  zur  Welterklärung  mit  ver- 
wendet, der  erstere  Liebe  und  Haß,  der  letztere  den  ordnenden  Geist. 
i  s  scheint  jedoch,  daß  bei  diesen  Denkern  auch  die  dem  geistigen 
Leben  entnommenen  Lrklärungsprinzipien  noch  stofflich  gedacht 
werden. 

Einen  konsequenten  Materialismus  haben  im  Altertum  zuerst 
Leukipp  und  Denwkrit  in  ihrer  Atomlehre  ausgebildet.  „In  Wirk- 
lichkeit", sagt  Denwkrit,  „existieren  nur  Atome  und  der  leere  Raum." 
Auch  die  Seele  besteht  nach  Denwkrit  aus  feinen,  glatten  und  runden 
Atomen,  durch  deren  Bewegungen  das  Leben  hervorgerufen  wird.  Epi- 
knr  gab  der  Lehre  Demokrits,  die  er  systematisch  weiterbildete,  eine 
antitheologische  Tendenz  und  wird  vom  römischen  Dichter  Lukrez, 
der  uns  in  seinem  Lehrgedicht  „Vom  Weltall"  (De  rerum  natura)  eine 
Darstellung  von  Epikurs  Naturphilosophie  gegeben  hat,  hauptsächlich 
deshalb  gepriesen,  weil  er  die  Menschheit  vom  Aberglauben  befreit  hat. 
Auch  das  Lehrgebäude  der  Stoiker  ruht  sowohl  in  der  Erkenntnis- 
theorie als  auch  in  der  Naturphilosophie  auf  materialistischer  Grund- 
lage. Epikurs  Lehren  haben  in  der  ihnen  von  Lukrez  gegebenen  Form 
auf  die  Philosophie  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts 
mächtig  eingewirkt. 

Zuerst  hat  der  katholische  Geistliche  Pierre  Oassendi  (1502  bis 
1655)  die  Lehre  Epikurs  systematisch  dargestellt  und  mit  den  phy- 
sikalischen Anschauungen  seiner  Zeit  in  Verbindung  gebracht.  Lange 
bezeichnet  daher  Oassendi  mit  Recht  als  den  Vater  des  neueren 
Materialismus.  Auf  anderer  Grundlage  hat  dann  der  Engländer 
Thomas  Hobbes  ein  streng  materialistisches  System  aufgestellt.  Aber 
sowohl  Oassendi  als  Hobbes  wußten  ihre  philosophischen  Ansichten 
mit  der  herrschenden  Kirchenlehre  in  Einklang  zu  bringen.  Dagegen 
tritt  der  Materialismus  der  späteren  Zeit  der  positiven  Religion 
energisch  entgegen  und  wird  zur  mächtigen  Waffe  der  sogenannten 
Aufklärung. 

Im  achtzehnten  Jahrhundert  hat  in  Frankreich  der  Arzt  Lamettrie 
(1709— 1751)  in  seinem  Buche  „L'homme  —  machine"  (der  Mensch 
als  Maschine  betrachtet)  den  entschiedenen  Materialismus  aus- 
gesprochen und  alles  Denken  als  körperliche  Tätigkeit  gedeutet.  Baron 
Holbach  (gest.  1789)  hat  dann  im  „Systeme  de  la  nature"  diesen 
Materialismus  ausführlich  begründet  und  damit  die  religiösen  Vor- 
urteile zu  bekämpfen  versucht. 

Durch  die  idealistischen  Systeme  Kants,  Fichtes,  Schillings  und 
Hegels  verlor  der  Materialismus  eine  Zeitlang  an  Ansehen,  um  nach 
dem  Sturze  Hefreis  neu  zu  erwachen.  Vogt,  Moleschott,  Büchner  sind 
energisch  für  die  materialistische  Weltanschauung  eingetreten  und 
Büchners  in  zahlreichen  Auflagen  erschienenes  Buch  „Kraft  und  Stoff" 
hat  sehr  viel  zur  Verbreitung  dieser  Lehre  beigetragen.  Die  Fortschritte 
der  Sinnesphysiologie  und  der  Gehirnkunde  haben  dieser  Verbreitung 
kräftigen  Vorschub  geleistet.   In  wissenschaftlichen   Kreisen  hat  der 


§  31.  Der  Materialismus  111 

Materialismus  in  den  letzten  Dezennien  wieder  an  Geltung  verloren, 
allein  derselbe  ist  unter  gebildeten  Laien  sehr  verbreitet.  Wir  haben 
uns  nun  mit  den  wichtigsten  Behauptungen  des  Materialismus  sowie 
mit  deren  Begründung  vertraut  zu  machen. 

Der  Materialismus  sucht  vor  allem  zu  beweisen,  daß  alles,  was 
wir  psychische  Vorgänge  nennen  und  was  wir  als  solche  in  unserem 
Bewußtsein  erleben,  tatsächlich  nichts  anderes  als  Funktionen  unserer 
Organe,  insbesondere  unseres  Gehirns  sind.  Das  wahre  Wesen  eines 
psychischen  Vorganges,  also  eines  Gedankens,  eines  Gefühles,  eines 
Willensentschlusses,  ist  erst  dann  erkannt,  wenn  der  entsprechende  Ge- 
hirnprozeß erforscht  ist.  Die  Psychologie  ist  für  den  Materialis- 
mus nichts  anderes  als  G  e  h  i  r  n  p  h  y  s  i  o  1  o  g  i  e.  Insbesondere  sucht 
der  Materialismus  die  Annahme  eines  vom  Körper  verschiedenen  und 
geschiedenen  Seelenwesens  als  unwissenschaftlich  und  als  aller  Er- 
fahrung widersprechend  nachzuweisen.  Die  wichtigsten  Argumente, 
die  er  zum  Beweise  dieser  Behauptung  ins  Feld  führt,  sind  folgende: 

1 .  Das  methodologische  Argument :  Die  Annahme  eines 
immateriellen,  aber  doch  beharrenden,  selbständigen,  vom  Körper  ver- 
schiedenen Seelenwesens  ist  v  o  r  wissenschaftlich  und  u  n  wissenschaft- 
lich. Wer  so  denkt,  der  steht  auf  der  Kulturstufe  der  Naturvölker, 
welche  jeden  Vorgang  als  Wirkung  eines  unsichtbaren  Dämons  auf- 
fassen. In  der  Erfahrung  ist  nur  der  Körper  und  seine  Organe  ge- 
geben. Alles,  was  dieser  Organismus  leistet,  und  was  darin  vorgeht, 
muß  als  Funktion  seiner  Organe  begriffen  werden.  Die  Annahme  eines 
Seelenwesens  ist  ebenso  überflüssige  wie  haltlose  Metaphysik,  welche 
von  der  strengen  Wissenschaft  unerbittlich  eliminiert  werden  muß. 

2.  Das  mechanische  Argument :  Die  naturwissenschaftliche 
Auffassung  des  Weltgeschehens  hat  den  Grundsatz  aufgestellt  und  be- 
währt gefunden,  daß  die  Summe  der  in  der  Welt  vorhandenen  Kraft- 
menge oder  Energie  weder  vermehrt  noch  vermindert  werden  kann, 
sondern  immer  konstant  bleibt.  Alles  Geschehen  besteht  nur  in  Um- 
setzungen von  Energie.  So  setzt  sich  Bewegung  in  Wärme,  Wärme  in 
Bewegung  um,  der  elektrische  Strom  übt,  durch  Wasser  geleitet, 
chemische  Wirkungen  und  der  gesamte  Mechanismus  des  Universums 
wird  unter  der  Voraussetzung,  daß  keine  Neuschöpfung  von  Energie 
stattfindet,  verständlich.  Nimmt  man  nun  ein  vom  Körper  verschiedenes 
Seelenwesen  an,  das  durch  seine  —  nicht  mechanische  —  Einwirkung 
einen  Muskel  zur  Kontraktion  bringt  und  eine  Bewegung  hervorruft, 
so  würde  dies  eine  Vermehrung  der  vorhandenen  Energie,  eine  Neu- 
schöpfung bedeuten.  Diese  Annahme  stünde  mit  dem  so  oft  bewährten 
Prinzipe  von  der  Erhaltung  der  Energie  in  Widerspruch  und  ist  des- 
halb als  unwissenschaftlich  zu  verwerfen. 

3.  Das  kosmologische  Argument :  Es  hat  eine  Zeit  gegeben, 
wo  unsere  Erde  ein  glühender  Gasnebel  war.  Damals  konnte  es  auf 
derselben  kein  organisches  Leben,  keine  Menschen  und  damit  auch 
keine  geistigen  Tätigkeiten  geben.  Erst  als  sich  die  Erde  abgekühlt 
hatte  und  die  Bedingungen  für  die  Entstehung  des  organischen  Lebens 
gegeben  waren,  ist  auf  der  Erde  die  Pflanzen-  und  Tierwelt  entstanden, 
aus  der  sich  dann  auch  der  Mensch  entwickelt  hat.  Geistiges  Leben 


1  i  _  Metaphysik  oder  Ontologie 

isi  somit  erst  mit  dem  organischen  entstanden  und  bleibt  auch  an  das 
Vorhandensein  der  physiologischen  Bedingungen  gebunden.  Es  hat 
■  keinen  Sinn,  ein  von  dem  Organischen  verschiedenes  Geistiges 
anzunehmen,  da  dieses  zugleich  mit  dem  Organischen  entstanden  ist 
und  gewiß  mit  diesem  untergehen  wird. 

Alle  diese  Argumente  zusammengenommen  haben  eine  stark  über- 
zeugende oder  wenigstens  überredende  Kraft,  so  daß  es  nicht  wunder- 
nehmen darf,  wenn  der  Materialismus  in  weiten  Kreisen  als  die  einzig 
mögliche  wissenschaftliche  Weltanschauung  betrachtet  wird. 

"  Was  nun  zunächst  das  methodologische  Argument  gegen  die  An- 
nahme eines  Seelenwesens  betrifft,  so  muß  die  moderne  Psychologie 
dem  Materialismus  zustimmen,  aber  freilich  aus  anderen  Gründen. 
i  in  von  den  psychischen  Vorgängen  selbst  verschiedenes  Seelenwesen, 
das  als  Träger  unseres  Denkens,  Fühlens  und  Wollens  gelten  soll,  ist 
allerdings  in  keiner  Erfahrung  gegeben.  Es  ist  vielmehr  für  die 
seelischen  Vorgänge  charakteristisch,  daß  sie  uns  immer  nur  als  ein 
Geschehen,  als  Ereignisse  entgegentreten,  bei  deren  Beschreibung 
gar  kein  Anlaß  vorliegt,  einen  substantiellen  Träger  einzuführen. 
Wenn  wir  nun  trotzdem  von  einer  Seele  oder  von  einem  Geiste  sprechen, 
i  hegt  der  Grund  tatsächlich  in  dem,  was  wir  oben  die  fundamentale 
Apperzeption  genannt  haben.  Die  einmal  entwickelte  Urteilsfunktion 
kann  sich  einen  Denkinhalt  nur  in  der  Form  von  Subjekt  und  Prädikat 
aneignen.  Solange  die  Psychologie  sich  dieses  Seelenbegriffes  in  der- 
selben Weise  bedient,  wie  der  Physiker  von  Magnetismus  und  Elektri- 
zität spricht,  wo  ihm  doch  tatsächlich  nur  magnetische  und  elektrische 
Erscheinungen  gegeben  sind,  solange  die  Seele  nur  ein  Subjekt  für  die 
psychischen  Vorgänge  bildet  und  nicht  als  selbständige  Substanz  be- 
trachtet wird,  solange  kann  diese  Ausdrucksweise  nicht  unwissenschaft- 
lich genannt  werden.  Sowie  man  jedoch  ein  vom  Leibe  verschiedenes 
Seelenwesen  annimmt,  das  selbständig  existiert  und  nach  dem  Tode 
weiter  besteht,  tut  man  den  in  der  Erfahrung  gegebenen  psychischen 
!  i  iebnissen  Gewalt  an. 

Jede  Substanz  wird  aber,  man  mag  alles  Stoffliche  noch  so  ge- 
waltsam daraus  eliminieren,  doch  immer  wieder  materiell  vor- 
teilt. Alles,  was  beharrt,  muß  nach  unserer  Denkweise  einen  Raum 
einnehmen  und  damit  materiell  sein.  Die  Annahme  einer  Seelensub- 
stanz,  welche  der  Materialismus  so  eifrig  und  auch  mit  Recht  bekämpft, 
führt  also  zum  Materialismus.  Den  Tatsachen  entspricht  es  einzig  und 
allein,  wenn  man  immer  nur  von  einem  psychischen  Geschehen, 
nie  von  einem  psychischen  Sein  spricht,  und  nur  ein  solches  gleich- 
tun substratloses  Geschehen  ist  tatsächlich  etwas  von  allem 
Materiellen  wesentlich  Verschiedenes.  Die  streng  wissenschaftliche 
Methode,  welche  nur  die  Tatsachen  beschreiben  will,  lehrt  uns,  daß  in 
unserer  täglichen  und  stündlichen,  sowie  zugleich  in  unserer  aller- 
sichersten  I  rfahrung  ein  Geschehen  gegeben  ist,  das  sich  von  allem 
sinnlich  Wahrnehmbaren,  allem  Materiellen  wesentlich  unterscheidet, 
ja  mit  diesem  gänzlich  unvergleichbar  ist.  Die  vom  Materialismus  an- 
gerufene  wissenschaftliche  Methode  entscheidet  demnach  gegen  diese 
Weltanschauung. 


§  31.  Der  Materialismus  113 

Das  mechanische  Argument  besitzt  in  den  Augen  der  gebildeten 
Laien  und  auch  bei  vielen  Naturforschern  die  größte  Überzeugungs- 
kraft, und  es  ist  nicht  ganz  leicht,  die  gänzliche  Unhaltbarkeit  des- 
selben einzusehen.  Man  hat  zur  Entkräftung  dieses  Argumentes  darauf 
hingewiesen,  daß  die  psychische  Einwirkung  auf  den  Körper  ja  nicht 
so  gemeint  sei,  daß  neue  Energie  geschaffen,  sondern  nur  so,  daß  vor- 
handene Energie  ausgelöst  werde.  Von  einer  Auslösung  ist  in  der 
Physik  immer  dann  die  Rede,  wenn  ein  geringes  Quantum  von  Energie 
genügt,  um  eine  Entladung  einer  großen  Menge  anderer  Energie  her- 
vorzurufen, z.  B.  wenn  durch  die  Einführung  einer  brennenden  Lunte 
ein  Faß  voll  Schießpulver  zur  Explosion  gebracht  wird.  Alle  Reize, 
die  auf  den  Körper  einwirken  und  Empfindungen  hervorrufen,  erregen 
Auslösungsprozesse,  weil  die  physiologische  Wirkung  immer  weit 
größer  ist  als  die  physikalische  Ursache.  Aber  wenn  auch  nur  ein 
geringes  Quantum  von  Energie  nötig  ist,  um  eine  große  Wirkung  zu 
erzielen,  so  ist  dieses  geringe  Quantum  doch  nicht  Nichts,  es  ist  doch 
nicht  =  Null.  Wenn  aber  die  psychische  Einwirkung  überhaupt  als 
Aufwendung  von  physikalischer  Energie  gefaßt  werden  muß,  so  hat 
der  Materialismus  recht,  und  es  ist  dabei  ganz  gleichgültig,  ob  die 
dem  psychischen  Vorgang  äquivalente  Energie  größer  oder  kleiner  ist. 
Die  Auffassung  der  psychischen  Einwirkung  als  Auslösung  dient  somit 
eher  dazu,  das  mechanische  Argument  zu  bekräftigen,  als  es  zu  wider- 
legen. Trotzdem  ist  dieses  Argument  doch  vollkommen  unhaltbar. 
Das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  hat  nur  dann  Sinn  und  Be- 
deutung, wenn  man  seine  Geltung  auf  physikalische  und  chemische 
Prozesse  einschränkt.  Ja  es  gibt  sogar  hervorragende  Physiker,  die 
auch  auf  diesem  Gebiete  die  unbedingte  Geltung  dieses  Prinzipes  nicht 
zugeben  wollen.  Zur  Erklärung  der  Lebensvorgänge  aber  er- 
weist sich  dieser  Grundsatz  als  unzureichend.  Die  zentralisierte  Organi- 
sation aller  Lebewesen,  das  merkwürdige  Zusammenwirken  aller  Teile 
zu  einem  gemeinsamen  Zweck,  alles  das  läßt  sich  durch  physikalisch- 
chemische Denkmittel  nicht  begreiflich  machen.  Schon  die  rein  bio- 
logische Entwicklung  der  Lebewesen  zeigt  uns  fortwährende  Neu- 
schöpfungen, und  wenn  wir  das  geistige  Geschehen  in  seiner  bisherigen 
Entwicklung  betrachten,  so  sind  wir  genötigt,  mit  Wundt  eine  Ver- 
mehrung der  geistigen  Energie  zu  konstatieren,  während  der  Versuch, 
das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  auch  auf  die  geistige  Entwick- 
lung anzuwenden,  die  offenkundigsten  Tatsachen  unberücksichtigt  läßt. 

Das  mechanische  Argument  der  Materialisten  ist  bei  Lichte  be- 
sehen gar  kein  Argument,  sondern  eine  Voraussetzung.  Nur  wenn  man 
von  vornherein  annimmt,  daß  alles  Geschehen,  also  auch  das  Lebendige 
und  das  Psychische,  sich  nach  physikalisch-chemischen  Gesetzen  muß 
beschreiben  und  erklären  lassen,  nur  dann  hat  es  einen  Sinn,  gegen  die 
Durchbrechung  des  Prinzips  der  Erhaltung  der  Energie  zu  pro- 
testieren. Wenn  man  sich  aber  nicht  an  eine  bestimmte  Theorie,  son- 
dern an  die  Tatsachen  selbst  hält,  so  muß  man  zugeben,  daß  das  Prin- 
zip der  Konstanz  der  Energie  auf  dem  Gebiete  des  Lebendigen  und 
des  Psychischen  zur  Vereinfachung  und  zum  Verständnis  des  tatsäch- 
lich Erlebten  gar  nichts  beiträgt.  Die  hier  konstatierten  Tatsachen  und 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  8 


1  i  4  Metaphysik  oder  Ontologie 

die  bisherige  I  ntwicklung  verlangen  vielmehr  ein  ganz  anderes  Er- 
klärungsprinzip, was  ja  auch  von  hervorragenden  Naturforschern  zu- 
geben wird.  Hur  ist,  wie  U" um/t  gezeigt  hat,  eine  Art  von 
schöpferischer  Synthese  wirksam,  deren  Natur  und  deren  Gesetzmäßig- 
keit erst  näher  erforscht  werden  muß.  Das  mechanische  Argument  ver- 
liert also  sofort  seine  überzeugende  Kraft,  sobald  man  den  Boden  der 
materialistischen  Theorie  verläßt  und  sich  an  die  unzweifelhaften  Tat- 
sachen  des  eigenen  Erlebens  hält. 

Das  kosmologische  Argument  bewegt  sich  ganz  im  Reiche 
schwer  verifizierbarer  Hypothesen.  Anfang  und  Ende  des  geistigen  Ge- 
SChehens  sind  uns  in  keiner  Erfahrung  gegeben.  Wenn  wir  auch  er- 
fahrungsgemäß gewisse  physische  Bedingungen  des  geistigen  Ge- 
schehens  feststellen  können,  so  folgt  daraus  noch  lange  nicht,  daß  diese 
die  einzig  möglichen  sind.  Sicher  ist  aber  das  Eine,  daß  das  psychische 
Leben  wie  das  Leben  überhaupt  seine  eigenartige  Gesetzmäßigkeit  hat, 
die  sich  aus  den  Gesetzen  des  Leblosen  nicht  ableiten  läßt.  Solange 
dieses  uns  heute  erschlossene  Universum  besteht  und  bestehen  wird, 
können  wir  über  diesen  Unterschied  nicht  weg.  Ob  es  jemals  ein  Uni- 
versum ohne  geistiges  Leben  geben  kann  oder  geben  wird,  das  liegt 
außerhalb  unserer  Erkenntnismöglichkeit. 

So  vermögen  denn  alle  diese  Argumente  nichts  an  der  Tatsache 
zu  ändern,  daß  die  von  uns  erlebten  psychischen  Vorgänge  etwas  von 
allem  Materiellen  vollkommen  Verschiedenes  sind.  Henri  Bergson  hat 
durch  seine  eindringenden  Analysen  viel  dazu  beigetragen,  daß  der 
Unterschied  beider  Gruppen  in  seiner  Tiefe  erfaßt  und  erlebt  werde. 
Wer  das  Psychische  in  seiner  Unmittelbarkeit  und  in  seiner  Tiefe  wirk- 
lich durchlebt,  der  kann  niemals  beim  Materialismus  Befriedigung 
finden. 

Der  Materialismus  hat  um  die  Entwicklung  unserer  Denkfähigkeit 
und  als  richtunggebender  Faktor  große  Verdienste.  Der  enge  Zu- 
sammenhang zwischen  Gehirn  und  Seele  ist  durch  ihn  besser  ein- 
geprägt und  erfolgreiche  Forschungen  über  die  Einzelheiten  dieses  Zu- 
sammenhanges sind  durch  ihn  angeregt  worden.  Als  methodisches  und 
heuristisches  (zum  Auffinden  neuer  Tatsachen  führendes)  Prinzip  hat 
er  immer  noch  große  Bedeutung,  als  Weltanschauung  aber  wird  er 
einem  großen  Teil  der  Erfahrung  nicht  gerecht.  Wie  der  erkenntnis- 
kritische Idealist  dem  fremden,  so  steht  der  Materialist  dem 
e  i  g  e  n  e  n  Bewußtsein  ratlos  gegenüber  und  doch  können  beide  die 
ihnen  unerklärbaren  Erscheinungen  nicht  aus  der  Welt  schaffen. 

§  32.  Der  Spiritualismus 

I  >ie  Ansicht,  daß  das  Wesen  der  Welt,  die  wir  mit  unseren  Sinnen 
wahrnehmen,  nicht  körperlich,  nicht  materiell,  sondern  geistiger 
Natur  ist,  hat  für  den  nicht  philosophierenden  Verstand  etwas  sehr 
Befremdendes.  Während  der  Materialismus  auch  dem  minder  Gebil- 
deten schnell  einleuchtet  und  deshalb  leicht  zu  einer  weitverbreiteten 
populären   Weltanschauung   werden   konnte,   setzt  der  Spiritualismus 


§  32.  Der  Spiritualismus  115 

eine  weit  stärkere  Schulung  im  abstrakten  Denken  und  die  Fähigkeit 
voraus,  sich  tief  in  das  eigene  Seelenleben  zu  versenken.  Der 
Grundgedanke  aller  spiritualistischen  Metaphysik  besteht  nämlich  in 
der  zuerst  von  den  indischen  Weisen  tief  erfaßten  und  eindring- 
lich ausgesprochenen  Überzeugung,  daß  wahre  Welterkenntnis 
nur  zu  gewinnen  sei  durch  vertiefte  Selbsterkenntnis.  „Tat 
Twam  Asi"  (Das  bist  du)  sagen  die  alten  Brahmanen  mit  Bezug 
auf  die  Welt  und  meinen  damit,  daß  der  Mensch  nur  tief  genug  in  sich 
selbst  hineinschauen  müsse,  um  sein  eigenes  geistiges  Selbst,  sein 
„Atman",  zu  erfassen,  welches  zugleich  das  Atman  des  Universums 
ist.  Goethes  oft  zitierter  Ausspruch:  „Ist  nicht  der  Kern  der  Natur 
Menschen  im  Herzen?"  gibt  derselben  Grundansicht  einen  ebenso 
kurzen  als  bedeutsamen  Ausdruck. 

Wer  den  Weg  des  Geistes,  von  der  Welt  zu  sich  selbst  und  von  da 
aus  wieder  zur  Welt  zurück  innerlich  mitmachen  und  eine  tiefgründige 
spiritualistische  Metaphysik  auf  sich  wirken  lassen  will,  der  lese  den 
ersten  Band  von  Schopenhauers  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung". 
Von  den  alten  Indern,  von  Plato  und  ganz  besonders  von  Kant  hatte 
Scfiopenhauer  die  Überzeugung  übernommen,  daß  die  Sinnenwelt  nur 
Erscheinung  sei,  daß  es  ohne  denkendes  Subjekt  auch  kein  Objekt  geben 
könne,  und  hatte  sich  so  die  phänomenalistische  Betrachtungsweise  des 
kritischen  Idealismus  zu  eigen  gemacht.  Die  von  Kant  behauptete  Un- 
erkennbarkeit  des  der  Erscheinung  zugrunde  liegenden  Dinges  an 
sich  wollte  und  konnte  er  jedoch  nicht  zugeben.  Die  Welt  ist  meine 
Vorstellung  und  zu  dieser  Welt  gehört  auch  mein  Körper.  Ich  bin  mir 
also  selbst  zunächst  nur  als  Erscheinung,  als  Vorstellung  gegeben.  So- 
bald ich  aber  tiefer  in  mich  hineinschaue,  entdecke  ich  noch  eine  andere, 
viel  wichtigere  und  bedeutsamere  Seite  meines  Wesens.  Mein  Ich  ist 
seiner  wirklichen  Beschaffenheit  nach  Wille,  und  zwar  Wille  zum 
Dasein,  Wille  zum  Leben.  Ich  bin  also  auf  doppelte  Weise  da.  Als 
Vorstellung  in  der  Welt  der  Erscheinung  und  als  Wille  in  meinem 
innersten  Selbstbewußtsein.  Ich  darf  deshalb  annehmen,  daß  auch  die 
Dinge  da  draußen  nicht  bloß  als  Erscheinung  für  mich  da  sind,  son- 
dern daß  auch  ihnen  ein  meinem  Willen  analoges  Wesen  zugrunde 
liegt.  Schopenhauer  sucht  dann  zu  zeigen,  daß  diese  metaphysische 
Annahme  im  Einklang  steht  mit  den  Ergebnissen  der  Naturwissen- 
schaft und  Seelenkunde,  und  daß  sich  daraus  auch  das  Wesen  der 
Kunst  und  die  Prinzipien  der  Ethik  ableiten  lassen.  Vielleicht  werden 
nicht  viele  imstande  sein,  diese  Willensmetaphysik  als  eine  vollkommen 
befriedigende  Lösung  des  Welträtsels  anzuerkennen,  aber  niemand 
wird  das  Buch  ohne  tiefgehende  Wirkung  lesen  und  jeder  wird  darin 
ein  Musterbeispiel  einer  auf  den  Spiritualismus  gegründeten  Welt- 
anschauung kennen  gelernt  haben  und  die  innere  Kraft  einer  solchen 
Denkweise  an  sich  selbst  erleben. 

Das  Studium  Schopenhauers  lehrt  uns  auch  ein  besonders  charak- 
teristisches Merkmal  der  spiritualistischen  Metaphysik  kennen.  Wir 
meinen  die  tiefe  innere  Verwandtschaft  mit  dem  kritischen 
Idealismus  und  dem  erkenntnistheoretischen  Intellektua- 
lismus. Wenn  man  die  sieht-  und  greifbare  Welt  seiner  Umgebung 


1  i  0  Metaphysik  oder  Ontologle 

nichl  als  Wirklichkeit,  sondern  nur  als  Erscheinung  für  ein  denkendes 
Subjekt  ansieht,  wenn  man  ferner  den  Sinnen  die  Erkenntnisfähigkeit 

abspricht,  dann  führl  dies  entweder  bei  demselben  Denker  oder  bei 
seinen  Nachfolgern  mit  unerbittlicher  Konsequenz  zu  der  Annahme, 
daß  das  wahre  Wesen  der  Welt  nicht  körperlicher,  sondern  geistiger 
Natur  ist.  1  >iese  l  iedankenentwicklung  kann  man  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  wiederholt  beobachten. 

Die  eleatischen  Henker  (s.  oben  S.  61)  hatten  den  Sinnen  alle  Er- 
kenntnisfähigkeil abgesprochen,  die  Vielheit  und  Bewegung  geleugnet 
und  nur  die  Manen   Begriffe  des  abstrakten  Denkens  gelten  lassen. 
Unter  ihrem  Einfluß  baut  dann  Piaton  seine  Welt  der  Ideen  auf,  der 
immateriellen  Urbilder  aller  Sinnendinge,  an  deren  Spitze  die  Idee 
des  Oute  n,  also  eine  rein  geistige  Macht,  steht.  Platin  konstruiert 
aus  platonischen  Gedanken,  die  er  mit  den  Lehren  des  Aristoteles  und 
der  späteren   Denker  in   Einklang  bringt,  ein  groß   angelegtes  spiri- 
hialistisches  System,  in  welchem  die  Materie  geradezu  als  das  „Nicht- 
Seiende" bezeichnet  wird.  Descartes  vollzieht  an  sich  ein  Gedanken- 
experiment, indem  er  den  Versuch  macht,  die  Sinnenwelt  für  unwirklich 
zu  halten.   Er  findet  dann  bekanntlich   in  der  unbezweifelbaren  Tat- 
sache seines  eigenen  Denkens  den  festen  Ausgangspunkt  für  das  weitere 
Philosophieren.    Descartes    hat    selbst    die    spiritualistischen    Konse- 
quenzen seiner  Lehre  nicht  gezogen;  er  hat  vielmehr,  wie  wir  später 
sehen  werden,  dem  philosophischen  Dualismus  die  schärfste  Formu- 
lierung gegeben.  Allein  nicht  lange  nach  ihm  finden  wir  bei  Leibniz 
ein  durchaus  spiritualistisches  System.  Die  Welt  besteht  nach  Leibniz 
aus  ausdehnungslosen,  immateriellen  und  beseelten  Monaden, 
deren  Wesen  sich  im  Wahrnehmen  und  Streben  kundgibt.  Es  ist  be- 
greiflich, daß  ein  derartiger  spiritualistischer  Pluralismus  das  meta- 
physische  Einheitsbedürfnis  nur  wenig  befriedigt,  allein  es  zeigt  sich 
doch   auch  hier,  daß  schon  die   Anfänge  erkenntniskritischer  Erwä- 
gungen, wie  sie  bei  Descartes  vorliegen,  die  Tendenz  in  sich  tragen, 
sich  zu  spiritualistischer  Metaphysik  weiterzuentwickeln. 

Viel  deutlicher  tritt  dieser  innere  Zusammenhang  in  der  Entwick- 
lung der  deutschen  Philosophie  von  Kant  bis  Hegel  zutage.  Kant 
glaubte  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  festgestellt  zu  haben,  daß 
unsere  sicheren  Erkenntnisse  Elemente  enthalten,  die  nicht  aus  der  Er- 
fahrung stammen  und  somit  a  priori  im  Menschengeist  angelegt  sind. 
Wenn  nun  unser  Geist  die  Fähigkeit  besitzt,  aus  sich  heraus 
ewige  Wahrheiten  zu  entwickeln,  dann  zieht  man  leicht  daraus  die 
Folgerung,  daß  der  Geist  etwas  Schöpferisches  und  W  e  s  e  ti- 
li a  f  t  e  S  sei.  Wenn  wir  nun  bei  Hegel  die  Sätze  lesen,  daß  die  S  u  fa- 
st a  n  /  Subjekt  und  daß  das  Absolute  Geist  ist,  so  ist  es 
vollkommen  klar,  daß  hier  aus  der  aphoristisch  begründeten  Erkennt- 
niskritik eine  spiritualistische  Metaphysik  hervorgegangen  ist*). 


*)   Vgl.  Jerusalem,    „Apriorismus    und    Evolutionismus"    in    den   Verhand- 
lungen    des    III.    Internationalen    Kongresses    für    Philosophie    in    Heidelberg, 
6  n. 


§  32.  Der  Spiritualismus  117 

Ein  ähnlicher  Entwicklungsgang  scheint  sich  in  der  deutschen 
Philosophie  der  Gegenwart  zu  vollziehen.  In  der  zweiten  Hälfte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  wurde  in  Deutschland  von  mehreren  Seiten 
der  Ruf  erhoben :  „Zurück  zu  Kant."  Die  erkenntniskritische  Arbeit 
Kants  wurde  mit  großer  Energie  wieder  aufgenommen,  kräftig  weiter- 
entwickelt und  besonders  die  apriorische  Seite  dieser  Kritik  zu  einer 
„reinen"  und  „gegenständlichen"  Logik  ausgestaltet.  Allein  die  in 
jedem  Apriorismus  enthaltenen  metaphysischen  Keime  drängen  sich 
vor  und  kommen  immer  deutlicher  zur  Entfaltung.  Wir  sehen  tatsäch- 
lich nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  auch  in  Frankreich,  England 
und  Amerika  immer  neue  spiritualistische  Systeme  erstehen. 

Es  ist  aber  keineswegs  bloß  die  apriorisch  gerichtete  Erkenntnis- 
kritik, die  den  Spiritualismus  begünstigt.  Wir  sehen  hier  noch  andere 
Motive  am  Werk.  Es  wird  sich  weiter  unten  zeigen,  daß  die  soziale 
Differenzierung    der    Menschen    eine    höhere    Wertung    des 
Seelischen  im  Menschen  zur  Folge  hat.  Die  intensive  Beschäfti- 
gung mit  Psychologie,  die  wir  seit  den  Tagen  des  Aristoteles  beob- 
achten können,  ist  gewiß  mit  auf  diese  höhere  Wertung  zurückzuführen. 
Nun  wird  gerade  in  unserer  Zeit  überall  in  großem  Umfang  und  mit 
starkem  Interesse  Psychologie  getrieben.  Wer  sich  sein  Leben  lang  mit 
der  Erforschung  des  Psychischen  beschäftigt,  der  kann  sich  nicht  leicht 
beim   Materialismus  beruhigen.    So   sehen  wir  denn  tatsächlich,  wie 
spiritualistische  Systeme  direkt  aus  der  Beschäftigung  mit  Psychologie 
hervorgehen.    Wilhelm    Wundt,    der    Begründer    der   experimentellen 
Seelenkunde,  ist  überzeugt,  daß  das  wahre  Wesen  der  Welt  geistiger 
Natur  ist,  und  hat  dieser  Überzeugung  in  seinem  „System  der  Philo- 
sophie" Ausdruck  gegeben.  Durch  eine  geistvolle  Kombination  Leib- 
nizscher  und  Schopenhauerscher  Gedanken  und  durch  strenges  Fest- 
halten an  dem  ereignisartigen  Charakter  alles  seelischen  Geschehens 
gelangt  Wundt  zu  seinen   Willenseinheiten,    die  das  wahre 
Wesen  der  Welt  ausmachen.   Diese  sind  aber  nicht  beharrende  Sub- 
stanzen, sondern  Tätigkeiten.   „Der  kosmische   Mechanismus  ist  nur 
die  äußere  Hülle,  hinter  der  sich  ein  geistiges  Wirken  und  Schaffen, 
ein  Streben,  Fühlen  und  Empfinden  verbirgt,  dem  gleichend,  das  wir  in 
uns  selber  erleben."  (Wundt,  System  der  Philosophie,  3.  Aufl.,  I,  422.) 
Auch  Henri  Bergson,  der  die   Intuition  als   Erkenntnisquelle  so 
hoch  einschätzt  (s.  oben  S.  65  f.),  wird  durch  seinen  psychologischen 
Tiefblick  zu  einer  spiritualistischen  Metaphysik  geführt  und  findet  im 
seelischen  Leben  die  „wahre  Dauer"  (la  vraie  duree),  das  heißt  die 
inhaltsvolle  Zeit,  und  in  ihr  eine  „schöpferische   Entwick- 
1  u  ng".   Bergson  hat  seine   Metaphysik  noch  nicht  vollständig  dar- 
gestellt, allein  man  sieht  aus  den  bisher  veröffentlichten  Werken,  daß 
das  Geistige  für  ihn  so  wie  für  Wundt  kein  Sein,  sondern  ein  Wer- 
den ist,  aber  ein   krafterfülltes,  lebendiges  Werden,  das  mit  einem 
ursprünglichen     Lebensdrang    (elan    vital)    beginnt,    sich    die 
Materie  unterwirft  und  als  schöpferische  Entwicklung  immer  neue  un- 
vorhersehbare Wirkungen  hervorbringt.  Für  Bergsons  Metaphysik  ist 
die  innige  Verbindung  von  Seele  und  Leben  charakteristisch.  Er 
hat  deshalb  auch  umfassende  biologische  Studien  angestellt  und  erst 


118  Metaphysik  oder  Ontologie 

auf  Grund  derselben  seine  spirituaiistische  Denkrichtung  zur  vollen 
i  rberzeugung  entwickelt. 

I  in  weiteres  Motiv  zur  Bildung  spiritualistischer  Weltanschau- 
ung», i!  ist  das  geläuterte  und  vertiefte  religiöse  Bedürfnis.  Das 
intellektuell  und  ethisch  höher  entwickelte  menschliche  Bewußtsein  faßt 
die  ( iottheit  immer  vollkommener  und  zugleich  immaterieller  auf  und 
siehi  in  Goti  den  Inbegriff  der  reinen  Geistigkeit.  Wenn  nun  Gott  als 
Schöpfer  und  I  rhalter  des  Universums  angesehen  wird,  so  führt  dies 
naturgemäß  da/u,  alles  Geistige  als  etwas  Höheres,  Wesenhafteres  zu 
betrachten,  und  der  Materie  nur  insofern  Realität  zuzusprechen,  als  sie 
Ausstrahlung  des  göttlichen  Geistes  ist.  Schon  bei  Piaton  finden  wir 
dieses  religiöse  Motiv  wirksam.  Plato  kannte  die  Lehre  der  soge- 
nannten Örphiker,  welche  den  Körper  als  ein  Grab  der  Seele  be- 
trachteten und  von  einem  tiefen  Erlösungsbedürfnis  erfüllt  waren.  Die 
Seele  ist  deshalb  auch  für  Plato  das  Wertvollere  im  Menschen,  sie  ver- 
mag aus  sich  heraus  wahre  Erkenntnis  zu  gewinnen  und  ist  deshalb 
auch  das  wahrhaft  Seiende.  Noch  deutlicher  tritt  das  religiöse  Moment 
bei  Plotin  zutage,  den  wir  ja  bereits  oben  als  den  Begründer  der  philo- 
sophischen Mystik  kennen  gelernt  haben.  Aber  auch  in  unserer  Zeit 
können  wir  dasselbe  beobachten.  Wir  sehen,  wie  auch  heute  noch  spiri- 
tuaiistische Systeme  aus  religiösem  Bedürfnis  hervorgehen  und  eben 
darum  zahlreiche  Anhänger  finden.  Rudolf  Eucken  mahnt  uns  mit 
energischer  Wärme,  durch  angestrengte  geistige  Arbeit  an  uns  selbst 
zur  Aneignung  eines  „geistigen  Lebensinhaltes"  zu  gelangen,  in  dem 
er  das  wahre  Leben,  das  „Bei  sich  selbst  sein"  des  Lebens  erblickt. 
Dieser  geistige  Lebensinhalt  ist  für  Eucken  nicht  das  Produkt  gemein- 
samer geistiger  Arbeit  der  Menschen.  Das  geistige  Zusammenwirken 
wird  vielmehr  selbst  erst  ermöglicht  und  getragen  durch  einen  transzen- 
denten göttlichen  Geist,  der  in  jedem  von  uns  wirksam  ist  und  das 
wahre  Sein  repräsentiert.  In  Amerika  tritt  Josiah  Royce  mit  großer 
Kraft  und  Wärme  für  einen  religiös  gefärbten  Spiritualismus  ein.  Sein 
Hauptwerk  „Die  Welt  und  das  Individuum"  (leider  noch  nicht  ins 
Deutsche  übersetzt)  ist  besonders  darum  bemerkenswert,  weil  Royce  den 
sozialen  Faktor  im  Leben  des  Einzelnen  energisch  betont  und  aus 
dieser  steten  Wechselwirkung  zwischen  Gesellschaft  und  Individuum 
auf  ein  ewiges,  geistiges,  göttliches  Sein  schließt. 

Aus  einer  eigenartigen  Verbindung  erkenntniskritischer  und  reli- 
giöser Motive  ist  der  Spiritualismus  von  Gustav  Theodor  Fechner  her- 
vorgegangen, der  anfangs  wenig  beachtet  wurde,  jetzt  aber  wieder  An- 
hänger gewonnen  hat  (Pau/sen,  Lasswitz  u.  a.).  Fechner  hat  sich  durch 
seine  exakten  Versuche  und  Messungen  um  die  experimentelle  Psycho- 
logie große  Verdienste  erworben  und  hat  in  die  Betrachtung  des  Seelen- 
lebens die  mathematischen  Methoden  mit  viel  größerem  Erfolge  ein- 
geführt, als  vor  ihm  Her  hart.  Fechner  hat  auch  als  erster  eine  Art 
empirischer  und  experimenteller  Ästhetik  begründet.  Neben  diesen  Ar- 
beiten, zu  denen  noch  eine  Reihe  von  Einzeluntersuchungen  auf  dem 
1  iebiete  der  Physik  hinzukommt,  fand  aber  Fechner  noch  Zeit  und 
Muße,  eine  religiös  gefärbte  Metaphysik  aufzubauen,  die  auf  spiri- 
tualistischer Grundlage  ruht.  Nach  dem  von  Kant  begründeten  Phäno- 


§  32.  Der  Spiritualismus  1  ig 

menalismus  sind  alle  sieht-  und  greifbaren  Dinge  nur  als  Erschei- 
nungen gegeben,  die  für  ein  denkendes  Bewußtsein  da  sind.  Fechner 
kann  nun  nicht  glauben,  daß  die  Erde  und  die  Gestirne  nur  für  uns  da 
sein  sollen  und  nicht  zugleich  etwas  für  sich  selbst  sind.  Deshalb 
schreibt  er  der  Erde,  den  Gestirnen  und  den  Pflanzen  Beseeltheit  zu 
und  meint  überhaupt,  daß  das  Unorganische  aus  einem  ursprünglich 
belebten  (kosmorganischen)  Zustande  hervorgegangen  ist.  Fechners 
Lehre  von  der  Allbeseelung  (Panpsychismus)  gipfelt  in  dem 
Glauben  an  Gott  als  persönlichen  Geist,  dessen  Leib  das  Uni- 
versum ist. 

Wir  haben  bisher  die  verschiedenen  Motive  kennen  gelernt,  die  zu 
einer  spiritualistischen  Metaphysik  führen,  und  uns  mit  den  hervor- 
ragendsten Vertretern  derselben  bekannt  gemacht.  Fassen  wir  nun  das 
allen  diesen  Denkrichtungen  gemeinsame  Moment  zusammen,  so  fin- 
den wir  es  in  der  Überzeugung,  daß  das  innerste  und  tiefste  Wesen  der 
Welt  nicht  materieller,  sondern  geistiger  Natur  sein  muß.  Es  ist  der 
Geist,  der  sich  den  Körper  baut.  Diese  Auffassung  steht  in  einer  Be- 
ziehung philosophisch  höher  als  der  Materialismus,  und  zwar  deshalb, 
weil  hier  das  menschliche  Bewußtsein,  dessen  Bedeutung  für  die 
soziale  Entwicklung  immer  deutlicher  hervortritt,  nicht  wie  beim 
Materialismus  als  etwas  Unbegreifliches  und  zugleich  Nebensächliches 
erscheint,  sondern  als  ursprüngliche  kosmische  Kraft  anzusehen  ist, 
die  in  einem  höheren,  universellen,  geistigen  Sein  verankert  ist.  Die 
spiritualistische  Welt-  und  Lebensanschauung  ist  aber  auch  geeignet, 
zur  Konzentration  des  Menschen  auf  das  Geistige  in  ihm  anzuregen 
und  den  Leib  als  Werkzeug  aufzufassen,  das  höheren  geistigen  Zielen 
zu  dienen  bestimmt  ist.  Dieser  ethische  Einschlag  der  spiritualistischen 
Metaphysik  ist  vielleicht  die  vielen  unbewußte  Ursache  dafür,  daß  man 
den  Spiritualismus  gerne  mit  dem  ethisch  anziehenden  Namen 
Idealismus  bezeichnet,  was  tatsächlich  sowohl  in  geschichtlichen 
Darstellungen  als  auch  in  systematischen  Auseinandersetzungen  sehr 
häufig  geschieht. 

Allein  der  Spiritualismus  macht  sich  doch  auch  wieder  derselben 
Einseitigkeit  schuldig,  die  uns  beim  Materialismus  unerträglich  schien. 
Der  Unterschied  zwischen  physischen  und  psychischen  Phänomenen 
wird  auch  im  Spiritualismus  nicht  überwunden  oder  aufgehoben,  son- 
dern einfach  verwischt.  Wir  können  ebensowenig  begreifen,  wie  die 
Materie  denken,  als  wie  der  Geist  ausgedehnt  sein  und  sich  zum  Stoff 
verdichten  kann.  Die  physischen  Phänomene  sind,  wie  wir  schon  be- 
merkten, der  sinnlichen  Wahrnehmung  zugänglich,  die  geistigen  unzu- 
gänglich. Wie  nun  so  ganz  unvergleichbare  Vorgänge  auseinander  ent- 
stehen und  ineinander  übergehen  sollen,  das  will  uns  weder  dann  ein- 
leuchten, wenn  aus  Materie  Geist,  noch  auch,  wenn  aus  Geist  Materie 
werden  soll. 

Diese  sowohl  im  Materialismus  als  auch  im  Spiritualismus  liegen- 
den Schwierigkeiten  des  monistisch  gerichteten  Philosophierens  zeitigen 
das  Bedürfnis,  einen  höheren  Begriff  zu  bilden,  der  Materie  und  Geist 
in  sich  faßt,  oder  einen  Standpunkt  zu  finden,  wo  dieser  Gegensatz 
noch  nicht  besteht.  Der  Monismus  sucht  einen  derartigen  höheren  Be- 


]  _>(j  Metaphysik  oder  Ontologie 

griff,  wie  wir  oben  sagten,  zunächst  durch  statische  Betrachtung 
u  gewinnen  und  bildet  so  ein  metaphysisches  System  aus,  das  wir  als 
Aonis  m  u  -  d  e  r  Subst  a  n  z  bezeichnet  haben. 

§  33.  Der  Monismus  der  Substanz 

Die  älteste  Form  dieser  Auffassung  ist  die  Lehre  der  sogenannten 
I  leaten,  die  im  sechsten  und  fünften  Jahrhundert  v.  Chr.  in  griechischen 
l  anden  ausgebildet  wurde.  Die  Schule  hat  ihren  Namen  von  der  Stadt 
i  lea  in  Unteritalien,  wo  mehrere  dieser  Denker  zu  Hause  waren.  Der 
Mitter  der  Schule,  Xenop/ianes,  hatte  bereits  gegen  die  vermensch- 
lichende Auffassung  der  Götter  bei  Homer  und  Hesiod  protestiert  und 
gelehrt,  daß  die  Gottheit  den  Menschen  weder  an  Gestalt  noch  an 
Denkweise  ähnlich  sei.  Ontologisch  ausgestaltet  wurde  die  Lehre  aber 
erst  von  seinem  Schüler  Pannenides  aus  Elea.  Wir  haben  schon  oben 
(S.  61 )  die  F.leaten  als  Begründer  einer  intellektualistischen  Erkennt- 
nistheorie kennen  gelernt.  Die  sinnliche  Wahrnehmung  ist,  so  lehrt 
Parmenides,  durchaus  trügerisch  *).  Die  Göttin,  die  ihn  belehrt,  warnt 
ihn  davor,  das  „nichts  erschauende  Auge  und  das  brausende  Ohr" 
walten  zu  lassen.  Nur  das  reine  Denken  führt  zur  Erkenntnis  des  wahr- 
haft Seienden.  Dieses  Seiende  ist  einheitlich  und  ewig.  Es  ist  ungewor- 
den,  kennt  keine  Vergangenheit  und  keine  Zukunft,  sondern  nur  ein 
ewiges  „Jetzt".  Das  Seiende  ist  ferner  unteilbar,  unveränderlich  und 
kennt  demnach  weder  Vielheit  noch  Bewegung.  Parmenides  war  frei- 
lich nicht  imstande,  seine  hohe  Abstraktion  konsequent  zu  Ende  zu 
denken.  Sein  unsinnliches,  nur  durch  reines  Denken  zu  erfassendes 
Sein  gleicht,  wie  er  sich  ausdrückt,  „der  Masse  einer  wohlgerundeten 
Kugel,  von  der  Mitte  nach  allen  Seiten  hin  gleich  stark".  Er  stellt  sich 
also  das  Abstrakte  noch  in  sinnlicher  Gestalt  vor.  Parmenides'  Schüler 
Zeno  von  Elea  suchte  die  Lehre  seines  Meisters  scharfsinnig,  aber 
auch  spitzfindig  zu  begründen  und  führte  mehrere  Beweise  gegen  die 
Glaubwürdigkeit  der  Sinne,  gegen  das  Vorhandensein  von  Vielheit  und 
Bewegung.  Die  Lehre  der  Eleaten  übte  großen  Einfluß  auf  Piaton,  der 
seine  Ideen  nach  eleatischer  Denkweise  als  ewig  und  unveränderlich 
hinstellte  und  auch  als  rein  geistige  Wesenheiten,  die  mit  den  Sinnen 
nicht  wahrnehmbar,  sondern  nur  von  dem  zu  erfassen  sind,  der  die 
Seele  von  dem  Blendwerk  der  Erscheinung  nicht  betören  läßt. 

Der  eleatische  Grundgedanke  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  bedeut- 
sam geblieben  und  dürfte  es  auch  in  Zukunft  bleiben.  Daß  die  sinnliche 
Wahrnehmung  auch  in  naturwissenschaftlichen  Fragen  nicht  das  letzte 
Wort  hat,  das  wurde  der  denkenden  Welt  am  deutlichsten  und  ein- 
dringlichsten von  Nikolaus  Köper nikus  bewiesen.  Wenn  man  überzeugt 
sein  muß,  daß  die  Sonne,  die  wir  täglich  auf-  und  niedergehen  sehen, 


•)  Parmenides  hat  seine  Gedanken  in  einem  Lehrgedicht  niedergelegt,  das 
ungefähr  480  v.  <  hr.  abgefaßt  ist.  Von  diesem  Gedichte  sind  uns  etwa  150  Verse 
erhalten.  Die  beste  Ausgabe  ist  jetzt:  „Parmenides  Lehrgedicht",  griechisch  und 
deutsch,  von  Hermann  Dich.  Berlin  1897.  Auch  enthalten  in  der  von  demselben 
\  erfasser  herausgegebenen  Sammlung:  „Die  Fragmente  der  Vorsokratiker". 
1.  Band,  2.  Aufl.  1907. 


§  33.  Der  Monismus  der  Substanz  121 

tatsächlich  ihren  Ort  nicht  verändert,  dann  besitzt  das  abstrakte,  mathe- 
matische Denken,  dann  besitzt  selbst  die  konstruktive,  wissenschaftliche 
Phantasie  mehr  Wahrheitswert  als  das  „nichts  erschauende  Auge  und 
das  brausende  Ohr".  Kopernikus  hat  aber  die  Philosophen  noch  etwas 
anderes  gelehrt.  Die  Erde,  bis  dahin  der  Mittelpunkt  des  Weltalls, 
wurde  zu  einem  kleinen  unbedeutenden  Planeten,  der  mit  vielen  anderen 
um  die  Sonne  kreist.  Oiordano  Bruno  (1548—1600)  war  der  erste 
Philosoph,  der  aus  den  astronomischen  Lehren  des  Kopernikus  die 
ontologischen  Konsequenzen  zog.  Mit  flammender  Begeisterung  ver- 
kündete er  seine  Lehre  von  der  Unendlichkeit  der  Welt  und  von  der 
Einheit  des  Universums.  Oiordano  Bruno  ist  am  17.  Februar  1600  in 
Rom  als  Ketzer  verbrannt  worden,  weil  seine  Lehre  den  damals  gelten- 
den Dogmen  widersprach,  und  weil  er  sich  weigerte,  seine  Überzeugung 
durch  Widerruf  zu  verleugnen.  Brunos  Gedanke  von  der  Einheit  des 
Universums,  die,  wie  weiter  unten  gezeigt  werden  soll,  zugleich  die 
Identität  von  Gott  und  Welt  bedeutete,  ist  jedoch  wirksam  geblieben. 
In  einer  anderen,  weniger  lebendigen,  aber  logisch  konsequenteren 
Form  hat  ihn  Baruch  Spinoza  (1632—1677)  wieder  aufgenommen,  in 
dessen  System  der  Monismus  der  Substanz  am  reinsten  zum  Ausdruck 

kommt. 

Als  Jude  in  Amsterdam  geboren,  war  Spinoza  schon  als  Knabe 
mit  dem  Alten  Testament  vertraut  und  wurde  dann  auch  in  die  Lehren 
der  jüdischen  Religionsphilosophen  eingeführt.  Hier  lernte  er  nun 
einen  Gottesbegriff  kennen,  der,  soweit  dies  dem  menschlichen  Denken 
überhaupt  erreichbar  ist,  von  allen  Anthropomorphismen  (Vermensch- 
lichungen) gereinigt  ist.  Allerdings  bleibt  dieser  Gott  ein  von  der  Welt 
selbst  verschiedenes  Wesen.  Er  war  da,  „bevor  die  Berge  geboren  wur- 
den" (Psalm  90),  und  hat  durch  sein  Wort  die  Welt  geschaffen.  Als 
nun  Spinoza  mit  den  Lehren  des  Philosophen  Descartes  (1596—1650) 
vertraut  wurde  und  die  Strenge  der  mathematischen  Beweisführung 
kennen  gelernt  hatte,  konnte  ihn  der  Dualismus  von  Gott  und  Welt 
nicht  mehr  befriedigen.  Er  faßte  das  im  Alten  Testamente  so  oft  ein- 
geschärfte Gebot  der  G  o  1 1  e  s  1  i  e  b  e  im  strengsten  und  weitesten 
Sinne  auf  und  vermochte  dieses  Gebot  nicht  anders  zu  deuten,  als  daß 
darin  die  unbedingte  Hingabe  der  Menschen  an  die  Unendlichkeit 
Gottes  verlangt  werde.  Daraus  erwuchs  ihm  allmählich  der  Begriff 
Gottesalsdereinzigen  Substanz,  aus  der  alles  Sein,  das 
körperliche  sowohl  als  das  geistige,  mit  logischer  Konsequenz  abzu- 
leiten sei.  Deswegen  sind  ihm,  ebenso  wie  dem  leidenschaftlichen  Oior- 
dano Bruno,  Gott  und  Welt  ein  und  dasselbe  (Deus  sive  natura). 

Diese  einzige  Substanz,  deren  Begriff  die  Existenz  schon  in  sich 
schließt,  hat  zwei  Attribute,  das  Denken  und  die  Ausdeh- 
nung. Jedes  einzelne  Ding  in  der  Welt,  also  auch  jeder  Mensch,  ist 
nichts  als  eine  Erscheinungsform,  ein  Modus  der  einzigen  Substanz. 
Wenn  man  die  Dinge  nicht  in  ihrer  Besonderung,  sondern  vom  Ge- 
sichtspunkt der  Ewigkeit  (sub  specie  aeternitatis)  betrachtet,  dann  ist 
alles  Sein  und  Geschehen  ein  vollkommen  einheitliches.  Wir  haben 
immer  nur  die  eine  Substanz,  deren  Attribute  sich  in  zahllosen  Erschei- 
nungsformen verwirklichen.  Die  Ordnung  der  Vorstellungen  des  Men- 


\22  Metaphysik  oder  Ontotogie 

sehen  und  die  Ordnung  der  Dinge  ist  dieselbe,  weil  beide  aus  derselben 
Quelle,  der  einzigen,  ewigen,  unteilbaren  Substanz  fließen.  Das  höchste 
Ziel  der  menschlichen  Erkenntnis  und  zugleich  der  menschlichen  Glück- 
seligkeit ist  demnach  die  unbedingte  Hingabe  an  das  Universum  oder, 
wie  es  Spinoza  formuliert,  die  intellektuelle  Liebe  zu  Gott. 

Spinozas  Weltanschauung  hat  in  ihrer  Einheitlichkeit  und  in  ihrer 
starren  l  ieschlossenheit  zweifellos  etwas  Großartiges.  Bei  genauerem 
Zusehen  zeigt  es  sich  jedoch,  daß  in  ihrer  Grundlegung  sehr  Wichtiges 
übersehen  ist.  Der  erste  schon  oft  hervorgehobene  Fehler  ist  der,  daß 
Spinoza  das  logische  Verhältnis  von  Grund  und  Folge  mit  dem  onto- 

^, sehen  von  Ursache  und  Wirkung  identifiziert.  Er  glaubt  alles  Sein 
und  Geschehen  aus  dem  B  e  g  r  i  f  f  e  der  Substanz  in  derselben  Weise 
deduzieren  zu  können,  wie  die  Geometrie  ihre  Lehrsätze  aus  ihren  Defi- 
nitionen der  Raumgebilde  tatsächlich  ableiten  darf.  Deswegen  glaubt 
er  auch,  daß  den  metaphysischen  Aufstellungen,  die  er  in  seiner 
„Ethik"  nach  geometrischer  Methode  ableitet,  dieselbe  unerschütterliche 
Beweiskraft  zukommt  wie  den  geometrischen  Lehrsätzen.  Er  vergißt, 
daß  die  Geometrie  mit  selbstgeschaffenen,  die  Philosophie  mit  vor- 
gefundenen und  gegebenen  Begriffen  operiert.  Ein  zweiter  Mangel  des 
Spinozismus  ist  der,  daß  hier  aus  dem  Weltgeschehen  die  Zeit  gleich- 
sam eliminiert  wird.  Spinoza  sieht  in  seiner  begrifflichen  Deduktion 
nur  das  ewig  Beharrende,  sich  Gleichbleibende,  und  merkt  nicht,  daß 
im  Weltgeschehen  stete  Veränderung  und  Entwicklung  vor  sich  geht. 
Als  dritten  Fehler  der  spinozistischen  Weltbetrachtung  muß  man 
ferner  die  in  der  damaligen  Zeit  allgemeine,  rein  intellektualistische 
Auffassung  des  Seelenlebens  bezeichnen.  Für  ihn  wie  für  Descartes  ist 
das  ganze  Seelenleben  ein  Denken.  Nun  lehrt  aber  die  moderne  Psycho- 
logie, daß  Fühlen  und  Wollen  die  ursprünglichen  Betätigungsweisen 
des  Bewußtseins  sind,  und  daß  erst  aus  diesen  die  Denktätigkeit  sich 
entwickelt. 

Spinozas  Monismus  der  Substanz  kann  daher  in  seiner  starren 
Form  nicht  befriedigen.  Goethe,  auf  den  Spinoza  nachhaltig  eingewirkt 
hat,  verlebendigte  aus  eigenem  innern  Antrieb  den  starren  Substanz- 
begriff. Ihm  war  die  Einheit  von  Gott  und  Natur  sehr  sympathisch, 
allein  für  ihn  ist  Natur  Leben,  Entwicklung  und  stete  Veränderung. 
Deshalb  begrüßte  es  auch  Goethe  mit  Freude,  als  im  Jahre  1797 
Schillings  Naturphilosophie  erschien,  ein  Werk,  in  welchem  der  Grund- 
lanke  Spinozas,  die  Einheit  von  Natur  und  Geist,  beibehalten,  aber 
mit  der  Idee  der  Entwicklung  verbunden  war. 

Schilling  (1775—1854)  nahm  mit  vollem  Bewußtsein  den  Ge- 
danken Spinozas  wieder  auf.  Schon  in  einer  seiner  ersten  Schriften 
spricht  er  die  Hoffnung  aus,  „der  Idee,  ein  Gegenstück  zu  Spinozas 
Ethik  aufzustellen,  Realität  zu  geben".  „Ich  bin",  schreibt  er  an  Hegel, 
„Spinozist  geworden,  Du  wirst  bald  sehen,  wie."  Auch  für  Schilling 
sind  Natur  und  Geist  Erscheinungsformen  des  Absoluten,  auch  für  ihn 
ist  das  Universum  einheitlicher  Natur.  Zum  Unterschiede  von  Spinoza 
betrachtet  aber  Schilling  Natur  und  Geist  nicht  als  Attribute,  sondern 
als  die  zwei  Pole  des  Absoluten.  Das  Gesetz  der  Polarität,  wie  es  die 

I  rscheinungen  des  Magnetismus  und  der  Elektrizität  aufweisen,  be- 


§  33.  Der  Monismus  der  Substanz  123 

trachtet  Schetling  als  Weltgesetz.  So  wie  der  Magnet  in  der  Mitte  weder 
Nordmagnetismus  noch  Südmagnetismus  aufweist,  sondern  eine  Art 
Indifferenz  beider,  so  sind  Natur  und  Geist  im  Absoluten  in  un- 
geschiedener Einheit  verbunden  und  treten  erst  infolge  des  Gesetzes 
der  Polarität  auseinander,  ohne  daß  dadurch  ihre  innere  Wesens- 
einheit aufgehoben  wird.  Dabei  aber  bleibt  das  wahre  Wesen  des  Ab- 
soluten doch  ein  Geistiges.  Die  Natur  ist  für  Schelüng  „sichtbar  gewor- 
dener Geist".  Darin  neigt  die  von  Schelüng  so  genannte  „Identitäts- 
philosophie", für  die  Denken  und  Sein  ein  und  dasselbe  ist,  doch  wieder 
dem  Spiritualismus  zu.  Ferner  ist  bei  Schelüng  das  Absolute  zwar  an 
sich  unveränderlich  und  immer  dasselbe ;  es  tritt  aber  in  verschiedener 
Form  in  die  Erscheinung  und  diesen  Prozeß  hat  Schelüng  als  Entwick- 
lungsprozeß gefaßt.  Von  den  beiden  Polen  des  Absoluten  hat  Schelüng 
besonders  ausführlich  die  Natur  behandelt  und  seine  „Philosophie  der 
Natur"  hat  eine  Zeitlang  einen  bedeutenden,  wenn  auch  nicht  gerade 
förderlichen  Einfluß  ausgeübt.  Die  moderne  Naturwissenschaft  mußte 
die  Methode  Schelüngs,  die  Naturgesetze  aus  philosophischen  Ideen  ab- 
zuleiten, aufs  entschiedenste  bekämpfen  und  endgültig  überwinden.  In 
den  letzten  Jahren  aber  begann  man  einzusehen,  daß  Schelüngs  Ge- 
danke, alle  Naturkräfte  aus  einem  einheitlichen  Prinzipe  zu  erklären, 
doch  viel  Richtiges  hat,  da  ja  auch  die  moderne  Naturwissenschaft 
nach  und  nach  zu  der  Auffassung  gelangt  ist,  alles  Naturgeschehen 
als  Umformungen  und  Umsetzungen  einer  einheitlichen  Energie  zu 
betrachten. 

Viel  geschlossener  und  einheitlicher  ist  der  Monismus  der  Sub- 
stanz durchgeführt  bei  Hegel  (1770—1831).  Die  Identität  von  Denken 
und  Sein  wird  von  Hegel  so  aufgefaßt,  daß  die  logische  oder,  wie  Hegel 
sagt,  dialektische  Entwicklung  der  Begriffe  zugleich  die  Entwicklung 
des  Weltgeschehens  ist.  Schelüngs  Gesetz  der  Polarität  wird  bei  Hegel 
zum  rein  logischen  Gegensatz  der  Begriffe.  Jeder  Begriff  drängt  nach 
Hegels  Lehre  dazu,  seinen  Gegensatz  zu  denken.  Jedes  A  verlangt 
gleichsam  zur  Ergänzung  sein  Non  A.  Wenn  aber  ein  Begriff  seinen 
Gegensatz  aus  sich  herausgetrieben  hat,  so  entsteht  das  logische 
Bedürfnis,  beide  Begriffe  unter  einem  höheren  Begriff  zu  vereinen 
oder,  wie  Hegel  sagt,  „aufzuheben".  Man  kann  also  zur  absoluten 
Wahrheit  gelangen,  wenn  man  nur  die  Selbstentwicklung  der  Begriffe 
denkend  nacherzeugt.  Hegel  führt  uns  so  von  dem  reinen,  inhaltslosen 
Begriff  des  Seins  bis  zur  Idee,  die  „sich  als  Natur  frei  aus  sich  ent- 
läßt", um  dann  als  Geist  wieder  in  sich  zurückzukehren.  In  den  drei 
Entwicklungsstufen  des  Geistes,  dem  subjektiven,  dem  objektiven  und 
dem  absoluten  Geiste,  welch  letzterer  sich  in  Kunst,  Religion  und 
Philosophie  offenbart,  erreicht  die  Entwicklung  ihren  Höhepunkt  und 
kehrt  doch  wieder  zu  ihrem  Ausgangspunkt,  dem  reinen  Sein  zurück. 
Während  Schelüng  seine  Aufmerksamkeit  hauptsächlich  der  Natur  zu- 
wendete, liegt  Hegels  Stärke  in  der  Philosophie  des  Geistes.  Hier  hat 
er  namentlich  durch  den  Begriff  des  „objektiven"  Geistes,  der  sich  in 
Recht,  Moralität  und  Sittlichkeit  verwirklicht,  und  dessen  Vorhanden- 
sein sich  in  dem  Familienleben  und  im  Staatsleben  deutlich  zeigt,  die 
historische  Betrachtungsweise  ungemein  vertieft.  Man  hat  von  ihm  ge- 


Metaphysik  oder  Ontologie 

lernt,  daß  jeder  einzelne  Mensch  unter  dem  Einfluß  des  objektiven 
<  ieistes  steht,  und  daß  jede  erreichte  Stufe  der  Geistesentwicklung  nur 
durch  eingehendes  Studium  der  vorhergehenden  Entwicklung  begriffen 
werden  kann.  Allem  Hegel  glaubte,  seine  dialektische  Methode  über- 
hebe der  Muhe,  exakte  naturwissenschaftliche  und  historische  Studien 
zu  machen,  und  g<  statte  es,  die  Gesetze  des  Seins  und  Geschehens 
spekulativ  abzuleiten.  Deswegen  hat  die  exakte  Forschung  so  energisch 

n  seinen  Einfluß  ankämpfen  müssen  und  deswegen  hat  gerade 
Hegel  unter  den  Einzelforschern  so  heftige  Gegner  gehabt.  Heute  frei- 
lieh, wo  die  Tatsachenforschung  längst  gesiegt  hat,  findet  man  wieder 
die  Unbefangenheit,  um  auch  Hegels  Verdienste  um  die  Förderung  des 
menschlichen  Wissens  gerechter  zu  würdigen.  Hegels  Philosophie  ver- 
dient zunächst  als  ein  großartiger,  in  sich  geschlossener  Gedankenbau 
schon  an  sich  Anerkennung  und  Bewunderung.  Aber  auch  aus  dem 
positiven  Inhalt  seiner  Lehre  bleibt  die  geschichtliche  Betrachtungs- 
weise alles  geistigen  Geschehens  als  wertvolles  Ergebnis  bestehen. 

Der  Monismus  der  Substanz  ist  nur  bei  den  Eleaten  und  bei 
Spinoza  in  voller  Strenge  durchgeführt.  Bei  Schelling  und  Hegel  ver- 
bindet sich  damit  auch  der  Gedanke  der  Entwicklung;  bei  Schilling 
im  Sinne  einer  wirklichen  Veränderung,  während  Hegel  die  Entwick- 
lung mehr  als  Selbstentfaltung  des  Begriffes  faßt.  Zugleich  ist  dieser 
Monismus,  wie  schon  bemerkt,  bei  Schelling  und  Hegel  spiritualistisch 
gefärbt,  indem  das  Wesen  des  Absoluten  bei  beiden  doch  geistiger 
Natur  ist. 

Die  Schwierigkeit  dieser  Weltbetrachtung  liegt  hauptsächlich  im 
Begriff  der  beharrenden  Substanz.  Ein  derartiger  Begriff  läßt  sich 
eben  auf  das  geistige  Geschehen  schlechterdings  nicht  anwenden,  weil, 
wie  wir  bereits  wiederholt  bemerkt  haben,  die  seelischen  Vorgänge 
durchaus  ereignisartigen  Charakter  an  sich  tragen.  Außerdem  aber 
widerspricht  die  statische  Betrachtungsweise  dem  modernen  Entwick- 
lungsgedanken. 

Deshalb  wurde  von  anderer  Seite  auf  Grund  physiologischer  und 
physikalischer  Theorien  der  Versuch  unternommen,  den  Substanzbegriff 
als  beharrenden,  sich  immer  gleich  bleibenden  Stoff  ganz  aus  der  Welt- 
betrachtung  zu  eliminieren  und  nur  die  stete,  gesetzmäßige  Veränderung 
als  das  Bleibende  anzusehen.  Diese  etwas  schwerer  verständliche,  aber 
mit  sehr  strenger  Konsequenz  durchgeführte  Betrachtungsweise,  die 
wir  oben  den  Monismus  des  Geschehens  nannten,  soll  jetzt  dargestellt 
werden. 

§  34.  Der  Monismus  des  Geschehens 

So  wie  der  Monismus  der  Substanz,  so  hat  auch  der  Monismus 
ä  Geschehens  im  griechischen  Altertum  seine  Wurzeln.  In  bewußtem 
Gegensatz  zu  den  elektischen  Denkern  hat  Heraklit  aus  Ephesus  (um 
500  v.  Chr.)  d  a  s  W  e  r  d  e  n  und  die  V  e  r  ä  nderun  g  als  das  Prin- 
zip des  Weltgeschehens  aufgestellt.  „Alles  bewegt  sich  und  nichts 
bleibt4*,  lautet  einer  seiner  Aussprüche,  und  indem  er  das  Weltgeschehen 
mit  einem  Flusse  vergleicht,  behauptet  er,  man  könne  nicht  zweimal  in 


§  34.  Der  Monismus  des  Geschehens  125 

denselben  Fluß  hinabsteigen,  denn  es  sei  dann  nicht  mehr  derselbe  *). 
Heraklit  hat  auch  erkannt,  daß  in  all  dieser  Veränderung  ein  Gesetz 
walte,  eine  Art  Weltvernunft,  die  er  Logos  nannte.  „Diese  Weltord- 
nung," sagt  er,  „dieselbige  für  alle  Wesen,  hat  kein  Gott  und  kein 
Mensch  geschaffen,  sondern  sie  war  immerdar  und  ist  und  wird  sein 
ewig  lebendiges  Feuer."  Das  Feuer,  das  nach  Heraklit  den  Urstoff 
bildet,  scheint  auch  nur  ein  Sinnbild  der  ewigen  Bewegung  zu  sein. 
Heraklit  kennt  auch  bereits  den  Gedanken  einer  steten  Entwicklung 
zum  Höheren  und  nennt  deshalb  den  Kampf  den  Vater  aller  Dinge. 
Aus  diesem  Kampfe  sind  nach  ihm  Götter  und  Menschen,  Herren  und 
Knechte  hervorgegangen. 

Heraklits  Gedanken  sind  zum  Teil  von  den  Stoikern  wieder  auf- 
genommen worden,  aber  ohne  daß  diese  die  zugrunde  liegende  An- 
schauung in  ihrer  vollen  Tiefe  erfaßt  hätten.  Auch  bei  Oiordano  Bruno 
begegnen  wir  den  Spuren  Heraklits,  da  auch  dieser  Feuergeist  vom  Ge- 
danken des  ewigen  Werdens  erfüllt  ist.  Hegel  glaubte  bei  Heraklit  die 
Grundideen  seines  eigenen  Systems  zu  finden,  und  Hegels  Schüler, 
Lassalle,  hat  in  diesem  Sinne  ein  zweibändiges  Werk  über  Heraklit 
geschrieben.  Zweifellos  haben  Hegel  und  Lassalle  in  die  Aussprüche 
Heraklits  oft  einen  Sinn  hineingelegt,  der  dem  griechischen  Denker 
fremd  war,  allein  in  der  Hauptsache  haben  sie  doch  richtig  geurteilt. 
Für  Heraklit  ist  das  Universum  nicht  beharrende  Substanz,  sondern 
ein  Weltprozeß. 

Diesen  Gedanken  haben  nun  auf  dem  Grund  der  Entwicklungs- 
lehre neuere  Forscher  energisch  aufgenommen  und  mit  großer  Konse- 
quenz zu  Ende  gedacht.  Bevor  wir  jedoch  diesen  neuen  Monismus  selbst 
darstellen,  sei  ein  Blick  auf  die  erwähnte  Entwicklungslehre  geworfen. 

Für  die  unorganische  Welt  hatte  Kant  in  seinem  Werke  „All- 
gemeine Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  (erschienen  1755) 
den  Gedanken  einer  Entwicklung  nach  mechanischen  Gesetzen  streng 
und  konsequent  durchgeführt.  Seine  Hypothese  von  den  glühenden 
Gasnebeln,  aus  denen  sich  unser  Sonnensystem  gebildet  habe,  wurde 
später  in  ähnlicher  Weise  vom  französischen  Astronomen  und  Mathe- 
matiker Laplace,  der  unabhängig  von  Kant  auf  dieselbe  Idee  ge- 
kommen war,  aufgestellt  und  ist  unter  dem  Namen  der  Kant-Laplace- 
schen  Theorie  allgemein  bekannt**).  Helmholtz  hat  in  einem  überaus 


*)  Von  dem  Werke  Heraklits  besitzen  wir  über  100  Bruchstücke,  die  jetzt 
am  bequemsten  zugänglich  sind  in  dem  Buche:  „Herakleitos  von  Ephesos", 
griechisch  und  deutsch  von  Hermann  Diels.  Berlin  1Q01.  Man  findet  sie  auch  in 
der  oben  zitierten  Sammlung:  „Die  Fragmente  der  Vorsokratiker". 

**)  Lanlace.  hat  seine  Hypothese  nicht  so  ausführlich  dargelegt  wie  Kant. 
Dieselbe  findet  sich  am  Schlüsse  seines  Werkes  „Exposition  du  Systeme  du 
monde"  in  einer  längeren  Anmerkung  (S.  498—509  im  Band  IV  der  großen 
Pariser  Gesamtausgabe).  Während  nun  Kant  voll  Zuversicht  ausruft:  „Gebet 
mir  Materie,  ich  will  eine  Welt  daraus  bauen",  ist  der  Astronom  und  Mathe- 
matiker viel  zurückhaltender.  „Ich  werde",  so  kündet  er  seine  Theorie  an,  „in 
der  Anmerkung  am  Schlüsse  dieses  Werkes  eine  Hypothese  vortragen,  die  nur 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit  aus  den  dargestellten  Phänomenen  sich  zu  er- 
geben scheint,  die  ich  aber  dennoch  mit  all  dem  Mißtrauen  vorbringe,  womit  uns 
alles  erfüllen  muß,  was  nicht  Resultat  der  Beobachtung  und  Rechnung  ist" 
(S.  477). 


1  26  Metaphysik  oder  Ontologie 

lichtvoll  geschriebenen  Vortrage*)  dargetan,  daß  diese  Theorie  auch 
dem  gegenwärtigen  Stande  der  Forschung  am  meisten  entspreche.  Vor 
der  organischen  Welt  macht  aber  Kant  mit  vollem  Bewußtsein  halt. 
Während  er  in  fester  Zuversicht  zu  seinen  Aufstellungen  meint,  man 
könne  ohne  Vermesseuheit  sagen:  „Gebet  mir  Materie,  ich  will  eine 
Wilt  daraus  bauen,  das  ist:  Gebet  mir  Materie,  ich  will  euch  zeigen, 
wie  eine  Welt  daraus  entstehen  soll",  getraut  er  sich  nicht,  die  Er- 
zeugung eines  einzigen  Krautes  oder  einer  Raupe  erklären  zu  können. 

Durch  die  Forschungen  von  Goethe,  Lamarck,  Geojjroy  Saint- 
llilaire,  Spencer  und  Darwin  ist  nun  die  Einsicht  in  die  Entwicklung 
der  organischen  Welt  wesentlich  gefördert  worden.  Man  weiß  jetzt, 
daß  auch  hier  aus  einfachen  Elementen  die  kompliziertesten  Gebilde 
sich  entwickeln,  und  man  hat  wenigstens  eine  Ahnung  von  den  Ge- 
setzen dieser  Entwicklung.  Die  Grundeigenschaften  des  Lebens,  als 
da  sind:  Wachstum,  Ernährung,  Anpassung  der  inneren  Funktionen 
an  die  äußere  Umgebung,  müssen  hier  allerdings  auch  schon  bei  den 
I  lementen,  mag  man  sie  nun  Zellen,  Neurone,  Plasome  oder  wie  immer 
nennen,  vorausgesetzt  werden.  Aber  das  eine  steht  fest,  daß  alle  Organe 
und  alle  Funktionen  sich  auf  Grund  bestimmter  Tendenzen  entwickeln, 
die  darauf  gerichtet  sind,  den  Organismus  und  seine  Gattung  zu  er- 
halten. Die  aus  dieser  Betrachtungsweise  entstandene  Wissenschaft 
von  den  Gesetzen  des  Lebens,  das  ist  die  Biologie,  hat  durch 
emsige  Einzelforschung  große  Fortschritte  gemacht  und  es  ist  eine  un- 
abweisbare Aufgabe  geworden,  auch  das  geistige  Leben  des  Menschen 
vom  Standpunkte  der  Lebenserhaltung  aus  oder,  wie  man  es  wissen- 
schaftlicher ausdrücken  kann,  nach  biologischen  Prinzipien  zu  durch- 
forschen. Herbert  Spencer  hat  dies  in  seinen  „Prinzipien  der  Psycho- 
logie" zuerst  versucht  und  hat  dadurch  trotz  seiner  etwas  zu  engen 
Fassung  des  Lebensbegriffes  viel  zum  besseren  Verständnis  der  seeli- 
schen Vorgänge  beigetragen. 

Wenn  alles,  was  im  menschlichen  Organismus  vor  sich  geht,  als 
Lebensvorgang  aufgefaßt  wird,  so  ist  die  Möglichkeit  geboten,  für 
psychische  und  für  physische  Phänomene  ein  einigendes  Band  zu  fin- 
den und  einen  Begriff  aufzustellen,  der  tatsächlich  beide  vereinigt. 
Von  da  aus  läßt  sich  aber  der  Blick  auf  alles  Geschehen  erweitern  und 
so  eine  monistische  Auffassung  gewinnen,  die  weit  konsequenter  und 
strenger  ist  als  alle  bisher  versuchten.  Diese  Gedankenwege  sind  von 
Richard  Avenarius  und  von  Ernst  Mach  eingeschlagen  worden  und 
der  von  Avenarius  begründete  „Empiriokritizismus"  ist  das  konsequen- 
teste monistische  System,  das  bisher  aufgestellt  wurde. 

Avenarius  und  Mach  sind  unabhängig  voneinander  und  auf  ganz 
verschiedenen  Wegen  zu  ihren  Resultaten  gelangt.  Avenarius,  der  sich 
anfangs  viel  mit  Spinoza  beschäftigte  und  durch  diese  Beschäftigung 
jedenfalls  in  dem  Verlangen  nach  streng  monistischer  Auffassung  des 
Universums  bestärkt  wurde,  geht  vom  materialistischen   Standpunkte 

')  Heimholte,  „Übet  die   Entstehung  des   Planetensystems",  abgedruckt   in 
„Vorträge  und   Reden",  Band  II,  S.   53  ff. 


§  34.  Der  Monismus  des  Geschehens  127 

aus,  während  Mach  anfangs  dem  Idealismus  näher  stand  und  aus- 
drücklich sagt,  daß  der  idealistische  Ursprung  seiner  Anschauungen 
nicht  verdeckt  werden  soll. 

Der  Grundgedanke  des  Avenarius-Machschen  Monismus  ist  die 
Aufhebung  des  Unterschiedes  zwischen  physi- 
schen und  psychischen  Phänomenen.  Zu  dieser  Auf- 
hebung gelangen  diese  Denker  aber  nicht  durch  irgendwelche  mate- 
rialistische oder  spiritualistische  Hypothesen,  sondern  durch  eindrin- 
gende Zergliederung  des  Ich-Bewußtseins.  So  wie  Kopernikus 
uns  gezwungen  hat,  den  geozentrischen  Standpunkt  aufzugeben  und 
unsere  Erde  nur  als  einen  Punkt  im  Universum  zu  betrachten,  so  suchen 
diese  Forscher  einen  Standpunkt  zu  gewinnen,  der  über  dem  Ich  liegt, 
um  so  die  egozentrische  Weltauffassung  zu  überwinden.  Was 
wir  unser  Ich  nennen,  das  ist  ein  Komplex  von  einzelnen  Elementar- 
vorgängen, deren  Zusammensein  ein  festes,  aber  durchaus  kein  unzer- 
störbares ist.  In  dieser  Auflösung  des  Ich-Begriffes  ist  bereits  David 
Hume  vorausgegangen,  dem  Ernst  Mach  in  erkenntnistheoretischen 
Fragen  auch  sonst  sehr  nahe  steht.  Zwischen  den  Elementarvorgängen, 
die  mein  Ich  ausmachen,  und  den  Vorgängen  meiner  Umgebung  be- 
stehen Abhängigkeitsbeziehungen,  die  in  ihrer  Art  gar  nicht  verschie- 
den sind  von  den  Abhängigkeitsbeziehungen,  die  zwischen  den  son- 
stigen Vorgängen  im  Universum  obwalten.  Die  Mathematik  hat  zur 
Zusammenfassung  der  verschiedenen  Abhängigkeiten  zwischen  Größen 
den  allgemeinen  Begriff  der  Funktion  gebildet,  a  ist  eine  Funktion 
von  b  heißt:  Mit  jeder  Größenänderung  von  a  ist  eine  Änderung  von 
b  immer  verbunden.  Verallgemeinert  man  nun  den  Begriff  der  Funk- 
tion in  dem  Sinne,  daß  nicht  nur  quantitative,  sondern  auch  quali- 
tative Abhängigkeitsbeziehungen  darunter  verstanden  werden,  so  wird 
man  sagen  können:  Im  Universum  findet  sich  nichts  anderes  vor  als 
Elementarvorgänge,  zwischen  denen  funktionale  Beziehungen  be- 
stehen. Die  wichtigste,  ja  die  einzige  Aufgabe  der  Wissenschaft  besteht 
nun  darin,  diese  Elementarvorgänge  und  ihre  funktionalen  Bezie- 
hungen möglichst  einfach  zu  beschreiben.  Mit  dieser  Beschreibung  hat 
sich  zugleich  eine  ökonomische  Ordnung  der  Erfahrung  zu  verbinden, 
damit  das  Gemeinsame  nur  einmal  gedacht  werde  und  so  mit  mög- 
lichst geringem  Denkaufwand  möglichst  viele  funktionale  Beziehungen 
zusammengefaßt  und  verwertbar  gemacht  werden.  So  sind  die  Zahl- 
begriffe nichts  anderes  als  sehr  brauchbare  Denkmittel,  die  es  ge- 
statten, Beziehungen  von  hoher  Allgemeinheit  in  kurzen  und  präzisen 
Formeln  zur  Verfügung  zu  haben. 

Die  Welt  ist  somit,  wie  es  ein  jüngerer  Forscher  (Heinrich  Qom- 
perz)  ausdrückt,  ein  geordnetes  Ereignis.  Hier  kann  weder  von  Sub- 
stanzen noch  von  Ursachen  die  Rede  sein.  Jede  Substanz  verflüchtigt 
sich  sofort  in  eine  Reihe  von  Geschehnissen  und  zwischen  diesen  Ge- 
schehnissen kann  nur  von  regelmäßiger  Sukzession  und  Koexistenz, 
nie  aber  von  kausaler  Verknüpfung  gesprochen  werden.  Nur  die  Zweck- 
mäßigkeit der  biologischen  Funktionen  im  Leben  der  Organismen  bleibt 
bestehen,  aber  nur  als  charakteristisches  Merkmal,  als  Wegweiser  zu 
einer  künftigen  ganz  exakten,  ökonomisch  geordneten   Beschreibung. 


Metaphysik  oder  Ontolo»ie 

Die  I  lementarprozesse,  zwischen  denen  die  Funktionalbeziehungen 
obwalten,  sind  bei  Avenarius  materieller,  stofflicher  Natur.  Er  be- 
trachtet jeden  Menschen  mit  seiner  von  ihm  wahrgenommenen,  zu  ihm 
m  Beziehung  stehenden  Umgebung  zusammen  als  eine  „Prinzipialko- 

ordination",  das  heißt  als  eine  von  Anfang  an  bestehende  Zusammen- 
gehörigkeit. Das  „Ich-Bezeichnete"  und  seine  Umgebung  bilden  ein 
Ganzes.  Das  System  C,  so  nennt  Avenarius  das  Gehirn,  ist  das  Zen- 
tralglied dieser  Prinzipialkoordination.  Im  menschlichen  Weltbegriff, 
der  sich  bei  jedem  von  selbst  bildet,  verlegen  wir  nun  die  Wahrneh- 
mungen. Gedanken  und  Gefühle  unserer  Mitmenschen  in  ihr  Inneres. 
Wir  unterscheiden  den  Baum  in  unserer  Umgebung,  gleichsam  „den 
wirklichen  Baum",  von  dem  Bilde  des  Baumes,  das  unser  Mitmensch 
m  seiner  „Seele"  hat.  Diese  „Einlegung"  oder  „Introjektion"  ist  nach 
Ave  mir;  11$  eine  in  den  Tatsachen  nicht  begründete  Verdoppelung  der 
Welt,  indem  wir  den  „Sachen"  in  unserer  Umgebung  unsere  „Ge- 
danken" gegenüberstellen.  Schließlich  gehört  dann  unser  Körper  zu 
den  „Sachen",  aber  in  ihm  wohnt  ein  eigenes  und  eigenartiges  Wesen, 
die  Seele,  als  der  Träger  der  Gedanken  und  Gefühle.  Diese  Verdoppe- 
lung ist  aber  nach  Avenarius  eine  Verfälschung  der  reinen  Erfahrung. 
Jeder  Mensch  ist  nur  ein  Zentralglied  einer  Prinzipialkoordination  und 
seine  Umgebung,  insofern  er  sie  wahrnimmt,  ist  dasselbe,  was  seine 
Gedanken  und  Gefühle:  „Abhängige  vom  System  C"  (Gehirn). 

Durch  Einführung  des  Begriffes  der  Prinzipialkoordination  und 
dadurch,  daß  alle  psychischen  Phänomene  bloß  als  „Abhängige  vom 
System  C"  aufgefaßt  werden,  glaubt  Avenarius  den  Gegensatz 
/wischen  Psychischem  und  Physischem  überwunden  und  den  natürlichen 
Weltbegriff,  für  den  es  seiner  Meinung  nach  nur  eine  einzige  Gattung 
von  Geschehnissen  gibt,  wiederhergestellt  zu  haben.  Da  aber  bei  ihm 
das  Gehirn,  also  etwas  Materielles,  die  Grundlage  für  seine  moni- 
stische Auffassung  bildet,  so  behält  sein  Monismus  immer  etwas 
Materialistisches.  Was  er  als  „Abhängige  vom  System  C"  bezeichnet, 
das  sind  ebenso  wie  das  System  C  selbst  und  alles,  was  darin  vorgeht, 
doch  immer  stoffliche,  an  ein  materielles  Substrat  gebundene  Vorgänge, 
und  wenn  man  seine  Ausführungen  konsequent  zu  Ende  denkt,  so  bleibt 
doch  schließlich  nichts  übrig  als  ein  materialistischer  Monismus. 

Anders  verhält  es  sich  in  dieser  Beziehung  bei  Mach.  Da,  wie  be- 
reits bemerkt  wurde,  Mach  vom  Idealismus  ausgegangen  ist  und  aus 
tiefgründiger  Beobachtung  des  eigenen  Seelenlebens  die  wertvollsten 
Erkenntnisse  gewonnen  hat,  so  erscheint  bei  ihm  der  Monismus  des 
Geschehens  weit  strenger  und  konsequenter  durchgeführt  als  bei 
Avenarius.  Die  Elemente,  aus  denen  das  Universum  besteht,  sind  für 
Mach  zunächst  Empfindungen.  Diese  tragen  als  psychische  Phäno- 
mene den  Charakter  des  Ereignisartigen,  des  substratlosen  Geschehens 
an  sieh,  der  allen  seelischen  Erlebnissen  eigentümlich  ist.  Indem  nun 
Mach  zur  Überzeugung  gelangt,  daß  auch  die  physischen  Phäno- 
mene, wenn  man  sie  eingehend  zergliedert,  sich  nicht  als  beharrende 
Substanzen,  sondern  ebenfalls  nur  als  Ereignisse  darstellen,  zwischen 
denen  gesetzmäßige  Beziehungen  obwalten,  gelangt  er  zu  einer  wirk- 
lich monistischen  Auffassung,  die  nicht  Materialismus  ist.  Der  einheit- 


§  34.  Der  Monismus  des  Geschehens  129 

liehe  Begriff,  durch  den  alles  gedacht  wird,  ist  der  Begriff  des  O  e- 
schehens.  Die  Elemente  sind  nicht  beharrende  unveränderliche 
Atome,  sondern  Elementar  Vorgänge,  zwischen  denen  funktionale 
Beziehungen  bestehen.  Deshalb  betont  auch  Mach  ausdrücklich,  daß  der 
idealistische  Ursprung  seiner  Betrachtungsweise  nicht  verdeckt  werden 
soll.  Denn  zu  dem  Begriff  des  reinen  Geschehens  und  zu  dessen  kon- 
sequenter Anwendung  kann  man  nur  durch  introspektive  Betrachtung 
des  eigenen  Seelenlebens  gelangen.  Um  diese  Auffassung  zu  verstehen, 
muß  man  sich  freilich  über  sich  selbst  erheben.  Man  muß  gleichsam 
den  archimedischen  Punkt  außerhalb  seines  Ich  finden,  um  von  da  aus 
das  Weltgetriebe  zu  überschauen.  Indem  man  sich  eins  fühlt  mit  dem 
Universum,  und  im  Sinne  des  Steinklopferhans  in  Anzengrubers 
„Kreuzelschreibern"  zu  der  Überzeugung  gelangt:  „Du  g'hörst  zu  dem 
Allen  und  dös  Alls  g'hört  zu  Dir",  sieht  man  ein,  daß  das,  was  wir  unser 
Ich  nennen,  nur  ein  vorübergehendes  Zusammenballen  kosmischen  Ge- 
schehens ist,  in  dem  dieselben  Gesetze  herrschen  wie  in  der  Natur.  Dem 
geklärten  Blicke  des  Denkers  erscheint  dann  das  Universum  als  eine 
Reihe  von  Gesetzmäßigkeiten,  und  es  ist  hier  wirklich  gelungen,  den 
Unterschied  zwischen  physischen  und  psychischen  Vorgängen,  wenig- 
stens für  die  Methode  der  Forschung  zu  überwinden. 

In  seinem  Werke  „Erkenntnis  und  Irrtum"  hat  Mach  seine  mo- 
nistische Betrachtungsweise  noch  deutlicher  dargelegt.  Er  billigt  darin 
(S.  460  d.  2.  Aufl.)  die  von  mir  gewählte  Bezeichnung  seines  Stand- 
punktes als  Monismus  des  Geschehens.  Den  Unterschied  zwischen 
Physischem  und  Psychischem  bestimmt  er  dahin,  daß  „die  Gesamtheit 
des  für  a  1 1  e  im  Räume  unmittelbar  Vorhandenen  als  das  Physische", 
„dagegen  das  nur  Einem  unmittelbar  Gegebene,  allen  anderen  aber 
nur  durch  Analogie  Erschließbare  als  das  Psychische  bezeichnet"  wird 
(S.  6).  Diese  Unterscheidung  liegt  aber  nicht  am  Anfang  der  Erfah- 
rung, sondern  vollzieht  sich  erst  durch  den  Verkehr  der  Menschen  mit- 
einander. „Wer  durch  irgendeinen  Zufall  ohne  lebende  Genossen  auf- 
wachsen könnte,  würde  seine  dürftigen  Vorstellungen  schwerlich  den 
Empfindungen  gegenüberstellen,  würde  nicht  zum  Gedanken  des  Ich 
gelangen,  dieses  nicht  der  Welt  entgegensetzen.  AllesGeschehen 
wäre  für  ihn  nur  Eines."  (S.  460.)  „Als  der  Mensch  durch 
Analogie  die  Entdeckung  machte,  daß  noch  andere  ihm  ähnliche,  sich 
ähnlich  verhaltende  Lebewesen,  Menschen  und  Tiere,  bestehen,  und  als 
er  genötigt  war,  sich  zum  klaren  Bewußtsein  zu  bringen,  daß  er  deren 
Verhalten  mit  Rücksicht  auf  Umstände  beurteilen  müsse,  die  er  nicht  un- 
mittelbar sinnlich  wahrnehmen  konnte,  deren  Analoga  ihm  aber  doch 
in  seiner  besonderen  Erfahrung  bekannt  waren,  da  konnte  er  nicht 
anders,  da  mußte  er  die  Vorgänge  in  zwei  Klassen  teilen,  in  solche,  die 
allen,  und  in  andere,  die  nur  Einem  wahrnehmbar  waren  ...  So 
wurde  ihm  zugleich  der  Gedanke  des  fremden  und  des  eigenen  Ich  klar. 
Beide  Gedanken  sind  untrennbar."  (S.  459  f.)  Die  Unterscheidung  von 
Physischem  und  Psychischem  ist  also  für  Mach  und  ebenso  für 
Avenarius  eine  willkürliche  und  darum  nicht  berechtigte.  Beide  wollen 
die  „reine  Erfahrung"  wiederherstellen,  in  der  diese  Scheidung  noch 
nicht  vollzogen  war.  Sie  suchen  keineswegs  das  Physische  und  das 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


130  Metaphysik  "der  Ontologie 

Psychische  durch  ein  unbekanntes  Drittes  zu  verbinden,  wie  dies 
Spinoza  tat,  dessen  göttliche  Substanz  gleichsam  jenseits  von 
Physisch  und  Psychisch  liegt.  Der  Standpunkt,  den  Mach  und 
Avenarius  gewinnen  wollen,  liegt  vielmehr  diesseits  von  Phy- 

5  c  li  und  P  s y  c h  i  s  eh.  I  Kirch  eine  „k  ü  n  s  1 1  i  c  h  e  N  a  i  v  i- 
t  ä  r  will  sich  Mach  (Erk.  und  Irrtum,  2.  Aufl.  S.  16)  auf  den  primi- 
tiven Standpunkt  zurückversetzen,  wo  der  Unterschied  von  Körper- 
lichem und  Seelischem  noch  nicht  gemacht  war.  Es  gibt  nur  ein  Uni- 
versum, nur  ein  einziges  kosmisches  Geschehen,  das  in  zwei  getrennte 
Welten  zu  zerlegen  kein  Grund  vorhanden  ist.  Für  Avenarius  ist  dabei 
mehr  der  systematische,  für  Mach  mehr  der  methodo- 
logische Gesichtspunkt  maßgebend.  Avenarius  will  einen  „natür- 
lichen Weltbegriff",  also  ein  System,  eine  Weltanschauung,  Mach  hin- 

en  nur  einen  Standpunkt,  den  er  nicht  gleich  verlassen  muß,  wenn 
er  von  der  Physik  zur  Psychologie  übergeht.  Machs  Auffassung  ist 
deshalb  nicht  metaphysischer,  sondern  nur  methodologischer 
Monismus  und  als  solcher  jedenfalls  von  großem  Wert  für  den 
Forschungstrieb,  insbesondere  für  die  Ausschaltung  überflüssiger  Pro- 
bleme. Es  läßt  sich  aber  nicht  leugnen,  daß  in  Machs  methodologischen 
Prinzipien  die  Elemente  einer  Weltanschauung  enthalten  sind,  die  man 
als  Monismus  des  Geschehens  bezeichnen  darf. 

Zweifellos  ist  dieser  Monismus  weit  strenger  und  konsequenter 
als  alle  anderen  monistischen  Deutungsversuche.  Aber  auch  hier  muß 
die  Kritik  fragen,  ob  sich  diese  Auffassung  durchführen  läßt.  Ist  auf 
dem  Standpunkte,  der  diesseits  von  Physisch  und  Psychisch  liegt,  über- 
haupt Erfahrung  möglich  und  kann  hier  von  einem  Weltbegriff  ernst- 
lich die  Rede  sein?  Erfahrung  besteht  nicht  bloß  im  Erleben  der 
Tatsachen,  Erfahrung  setzt  überall  schon  Formung  und  Gliederung 
derselben  voraus.  Alle  Eindrücke,  die  von  außen  kommen,  müssen  durch 
die  zentralisierte  Organisation  des  Menschen,  durch  das  System  C, 
wie  Avenarius  sagt,  gleichsam  hindurchgegangen  sein,  wenn  sie  zu  Er- 
fahrungen werden  sollen.  Auch  das  Zusammenwirken  der  Menschen 
ist  zum  Zustandekommen  biologisch  verwertbarer  Erfahrungen  uner- 
läßlich.  Solche  Erfahrungen  können  aber,  wie  oben  gezeigt  wurde, 
ohne  die  fundamentale  Apperzeption  nicht  gemacht  werden  und  diese 
setzt  schon  den  Gegensatz  von  Ich  und  Welt  voraus.  Dieser  Gegensatz 
ist  eben  ein  durchaus  ursprünglicher  und  liegt  von  Anfang  an  dem 
menschlichen    Denken   und    Handeln   zugrunde.   Scheinbar   vermögen 
wir  ihn  vielleicht  auf  Augenblicke  zu  vergessen,  wenn  wir  uns  etwa 
auf  einem  hohen  Berge  befinden  und  uns  ganz  der  Betrachtung  des 
erhabenen    Schauspiels   hingeben.      Auch    im   ästhetischen   Genießen 
großer  Kunstwerke  und  in  der  mystischen  Ekstase  geht  unser  Ich  im 
Kunstwerke  oder  in  der  Gottheit  gleichsam  auf.  Das  sind  aber  nur 
vorübergehen  d  e  Zustände,  aus  denen  unser  Ich  bald,  wie  aus 
einem  Traume  erwacht,  um  sich  gestaltend  und  stellungnehmend  der 
Welt  gegenüber  wieder  selbständig  zu  fühlen.   Diese  im  Wesen  des 
Menschen  begründete  Z  w  e  i  h  e  i  t,  die  zugleich  eine  fortwährend  sich 
erneuernde  S  v  n  t  h  e  s  e  verlangt,  hat  Karl  Joe!  in  seinem  hinreißend 
chriebenen  Werke  „Seele  und  Welt"  sehr  wirkungsvoll  dargestellt. 


§  35.  Der  Dualismus  131 

Mit  der  Auffassung  von  Avenarius  und  Mach  verwandt,  aber 
keineswegs  identisch,  ist  der  Monismus,  der  als  Kulturbewe- 
g  u  n  g  von  Ernst  Hacket  in  seinem  Buche  „Die  Welträtsel"  inauguriert 
wurde,  und  von  Wilhelm  Ostwald  in  der  Form  einer  energeti- 
schen Natur-  und  Kulturphilosophie  mit  Kraft  und  Geschick  ver- 
fochten wird.  Ostwald  baut  seine  Weltanschauung  auf  dem  physikali- 
schen Begriff  der  Energie  auf  und  wendet  dieses  Denkmittel  auch 
auf  das  Seelenleben  an,  indem  er  von  einer  „psychischen  Energie" 
spricht.  Gegen  diese  Erweiterung  erheben  sich  nun  allerdings  wichtige 
Bedenken,  und  zwar  erstens,  weil  die  Eigenart  der  seelischen  Vorgänge 
sich  der  Bearbeitung  durch  physikalische  Begriffe  nicht  ungezwungen 
fügt  und  zweitens,  weil  der  Annahme  einer  Konstanz  der  psychischen 
Energie  wichtige  historische  und  psychologische  Tatsachen  wider- 
sprechen. Trotzdem  aber  muß  man  sagen,  daß  Ostwald  durch  seine 
„energetische  Kulturphilosophie"  sowie  durch  seine  „monistischen  Sonn- 
tagspredigten" den  Beweis  erbracht  hat,  daß  sich  wichtige  Kultur- 
probleme von  seinem  Standpunkte  aus  sehr  lichtvoll  und  belehrend  be- 
handeln lassen.  Der  von  Ostwald  und  dem  großen  deutschen  Monisten- 
bunde verfochtene  Monismus  ist  aber,  wie  gesagt,  mehr  eine  Kultur- 
bewegung als  ein  philosophisches  System.  Die  Tendenz  des  Bundes 
ist  vor  allem  gegen  die  herrschenden  Kirchen  gerichtet  und  die  Haupt- 
arbeit besteht  darin,  der  naturwissenschaftlichen  Betrachtung  alles 
Geschehens  zum  Siege  zu  verhelfen. 

Die  monistischen  Versuche,  das  ontologische  Problem  zu  lösen, 
haben  die  Denkkraft  in  hohem  Maße  gesteigert  und  uns  gelehrt,  den 
Blick  aufs  Ganze  zu  richten.  Tatsächlich  aber  scheint  es  bis  jetzt  nicht 
gelungen,  die  Vielheit  der  Erscheinungswelt  aus  einem  Grundprinzip 
heraus  als  vollkommen  gleichartig  zu  fassen.  Selbst  wenn  man  sich 
auf  den  formalen  Begriff  des  Geschehens  beschränkt  und  in  der  all- 
gemeinen Gesetzmäßigkeit  das  einigende  Band  sucht,  bleibt,  wie  oben 
bemerkt  wurde,  die  Zweiheit  bestehen.  Deshalb  kehrt  man  in  neuester 
Zeit  wieder  mehrfach  zu  der  anscheinend  wissenschaftlich  minder- 
wertigen, tatsächlich  aber  der  wirklichen  Erfahrung  mehr  entsprechen- 
den Auffassung  des  Dualismus  zurück.  Mit  den  damit  zusammen- 
hängenden Problemen  haben  wir  uns  jetzt  zu  beschäftigen. 


§  35.  Der  Dualismus 

Schon  vor  jeder  philosophischen  Spekulation,  noch  auf  dem  Boden 
der  praktischen  Weltanschauung  ist  der  Unterschied  zwischen  B  e- 
1  e  b  t  e  m  und  Leblosem  aufgefallen  und  bemerkt  worden.  Das 
Leblose  bleibt  ruhig,  bis  ein  äußerer  Anstoß  es  in  Bewegung  setzt,  das 
Belebte  bewegt  sich  aus  eigenem  Antrieb  und  in  zweckmäßiger  Weise. 
Dem  Belebten  muß  daher  ein  Wesen  innewohnen,  das  diese  Bewegung 
hervorruft.  Zu  einer  derartigen  Auffassung  führt,  wie  wir  aber  ge- 
sehen haben,  bereits  die  fundamentale  Apperzeption.  Auf  Grund  der- 
selben verlegte  man  das  Kraftzentrum,  das  Bewegende  in  das  Innere 
des  Körpers  und  machte  sich  zunächst  über  die  Gestalt  und  über  die 


I  $_>  Metaphysik  oder  Ontologie 

Schicksale  dieses  von  Innen  heraus  bewegenden  Wesens  keine  Ge- 
danken. Da  traten  nun  im  Laufe  der  Entwicklung  zwei  wichtige  Mo- 
mente da/u  Die  Tatsache  des  Todes  wurde  selbstverständlich  so 
gedeutet,  daß  das  innerlich  Belebende  jetzt  aus  dem  Körper  gewichen 
sei.  Da/u  kamen  nun  mannigfache  Erfahrungen  des  Traum- 
1  e  b  e  n  s.  Primitive  Menschen  betrachten  die  Träume  als  wirkliche  Er- 
lebnisse und  glauben  an  die  Wahrheit  dessen,  was  sie  im  Traume  ge- 
sehen haben.  Wenn  nun  ein  Häuptling  des  Stammes  gestorben  war, 
so  träumten  in  den  darauffolgenden  Nächten  gewiß  viele  Stammes- 
jenossen  von  ihm  und  erzählten  einander,  der  Verstorbene  sei  ihnen 
im  Traume  erschienen.  So  bekam  das  belebende  Prinzip  oder  die 
Seele  Gestalt,  man  glaubte  an  ihr  Weiterleben,  bestärkte  sich  gegen- 
seitig in  diesem  Glauben  und  so  wurde  der  S  e  e  1  e  n  b  e  g  r  i  f  f  zu 
einer  der  ältesten  und  festesten  sozialen  Verdichtungen,  die 
wir  keimen. 

Der  Mensch  besteht  also  nach  dem  überall  verbreiteten  Glauben 
der  primitiven  Völker  aus  zwei  verschiedenen  Wesen,  aus  dem  sicht- 
und  greifbaren  Körper,  der  den  eigentlichen  Menschen  ausmacht 
und  der  Träger  seiner  Persönlichkeit  ist,  und  aus  der  körperlosen,  un- 
greifbaren, aber  darum  doch  nicht  ganz  immateriellen  Seele.  Diese 
wird  als  Hauch,  als  Schatten  vorgestellt.  Sie  verläßt  den  Menschen 
zeitweise  im  Schlafe  und  für  immer  im  Tode.  Für  den  Primitiven  be- 
deutet der  Körper  alles,  die  Seele  wenig  oder  nichts.  Wenn  der  Kanni- 
bale den  Feind  verzehrt,  dann  ist  er  überzeugt,  daß  er  mit  dem  Fleisch 
auch  die  Kraft,  den  Mut  und  den  Verstand  des  Erschlagenen  sich  ein- 
verleibt hat.  In  den  homerischen  Gedichten  sehen  wir,  wie  die  Eigen- 
schaften des  Menschen  am  Körper  haften,  während  die  Seele  ein 
schattenhaftes  Dasein  führt,  die  Trennung  vom  Leibe  beklagt  und  sich 
im  Hades  nach  der  Oberwelt  sehnt. 

Dies  wird  anders,  sobald  die  komplizierteren  Formen  des  sozialen 
Lebens  zu  einer  höheren  Wertung  des  Geistigen  im  Menschen 
führen.  Der  rohe  Seelenglaube  der  Primitiven,  die  mythischen  Phanta- 
siegebilde Homers  machen  nun  ganz  anderen  Vorstellungen  Platz.  Die 
Seele  ist  das  Wertvolle,  das  Höhere,  das  Göttliche  im  Menschen  Ihre 
Vereinigung  mit  dem  Körper  wird  als  Befleckung  aufgefaßt  und  es 
entsteht  die  Sehnsucht  und  die  Hoffnung,  daß  die  Seele,  wenn  sie  aus 
der  ( ietangenschaft  im  Körper  befreit  ist,  zu  ihrem  göttlichen  Urquell 
zurückkehren  wird.  Die  Seelenwanderung  in  der  indischen  und  pytha- 
goreischen Religionsphilosophie  wird  als  ein  langer  Läuterungsprozeß 
der  Seele  aufgefaßt,  und  in  der  bereits  öfter  erwähnten  Religion  der 
Orphiker  bildet  das  Erlösungsbedürfnis  den  Grundgedanken 
und  das  Grundmotiv.  Unter  dem  Einfluß  dieser  Strömungen  lehrt 
Plaio  im  „Phädon"  die  Unsterblichkeit  der  Seele  und  sucht  sowohl  ihr 
I  )asein  vor  der  ( ieburt  als  auch  ihre  Fortdauer  nach  dem  Tode  logisch 
zu  beweisen.  Jetzt  erst  wird  das  Geistige  vollkommen  immateriell  ge- 
faßt und  vom  Körperlichen  scharf  geschieden.  Piaton  selbst  betrachtet 
nur  das  Geistige  als  das  Wirkliche  und  erkennt  der  Materie  kein  wahr- 
haftes Sein  zu.  Allein  der  I.rfahrungsphilosoph  Aristoteles,  der  auch 
den  Sinnendingen  die  vollkommene  Realität  zuerkennt,  formuliert  als 


§  35.  Der  Dualismus  133 

erster  einen  philosophischen  Dualismus.  Die  Seele  ist 
zwar  bei  Aristoteles  nur  die  Form;  die  Vollendung  (Entelechie)  des 
lebenden  Wesens  und  geht  mit  dem  Körper  zugrunde.  Aber  es  gibt 
außer  der  Seele  noch  einen  vom  Körper  verschiedenen  Geist,  der  in 
ihm  wohnt,  solange  der  Körper  lebt,  dann  aber  sich  von  ihm  trennt  und 
ein  Eigenleben  führt. 

Körper,  Seele  und  Geist  sind  aber  nicht  zwei,  sondern  drei  Prin- 
zipien und  diese  bei  Aristoteles  vorgebildete  Dreiheitslehre,  der 
Trialismus,  erhält  sich  lange  Zeit  in  der  c  h  r  i  s  1 1  i  c  h  e  n  Philosophie. 
Das  Wort  aber,  das  den  Geist  zum  Unterschied  von  der  Seele  be- 
zeichnet, ist  nicht  das  von  Aristoteles  gebrauchte  (voü?  Nus),  sondern 
ein  Ausdruck,  der  zuerst  etwas  Materielles  bedeutete.  Es  ist  das 
griechische  Wort  Pneuma  (lat.  Spiritus),  das  in  der  stoischen 
Naturphilosophie  eine  Rolle  spielt.  Wörtlich  heißt  es  „Hauch",  aber 
gemeint  ist  damit  eine  ganz  dünne,  alles  durchdringende  Luftart,  etwa 
dem  Äther  der  modernen  Physik  vergleichbar.  Nach  der  Lehre  der 
Stoiker  ist  das  ganze  Weltall  vom  Pneuma  durchwohnt,  aber  es  ent- 
faltet sich  da  in  verschiedener  Reinheit  und  Feinheit.  Das  Pneuma 
ist  bei  den  Stoikern  zugleich  Urstoff  der  Welt  und  höchste  göttliche 
Intelligenz.  Im  Menschen  wirkt  es  als  vernünftige  Seele,  die  alle 
niederen  Triebe  zu  meistern  vermag  *).  So  wird  das  materiell  gedachte 
Pneuma  zum  Träger  der  reinen  Geistigkeit  und  daraus  erklärt  es  sich, 
daß  dieses  Wort  in  der  jüdisch-alexandrinischen  Philosophie  und 
später  im  Neuen  Testament  der  Ausdruck  wird  für  den  vollkommen 
immateriellen,  reinen  Geist,  der  nicht,  wie  die  Seele,  mit  dem  Körper 
verbunden  ist.  So  stellt  der  Apostel  Paulus  dem  „seelischen" 
(^r/iy-öc)  Menschen,  der  die  Werke  des  Geistes  nicht  in  sich  aufzu- 
nehmen vermag,  den  „geistigen"  (icveojiatix6c)  gegenüber,  der  das 
Göttliche  erkennt  (I.  Cor.  2,  14,  15).  Nach  der  Lehre  der 
„Gnostiker"  **)  wird  das  ganze  Menschengeschlecht  in  Materien- 
menschen (Hyliker),  in  Seelenmenschen  (Psychiker)  und  in  Geistes- 
menschen (Pneumatiker)  eingeteilt.  Nur  die  letzteren  sind  des  gött- 
lichen Geistes  teilhaftig  und  erheben  sich  über  den  Glauben  zum  Wissen 
(Gnosis). 

Allmählich  tritt  diese  Dreiheitslehre  zurück  und  macht  einem  aus- 
gesprochenen Dualismus  Platz.  Schon  Thomas  v.  Aquino  zog  Geist 
und  Seele,  die  bei  Aristoteles  getrennt  waren,  in  einen  Begriff  zu- 
sammen und  seine  Auffassung  wurde  im  Jahre  1311  durch  das  Konzil 
von  Vienne  kanonisiert.  Eine  philosophisch  strenge  Formulierung  hat 
jedoch  der  Dualismus  erst  durch  Rene  Descartes  (1596—1650)  er- 
fahren. 


*)  Vgl.  darüber  Hans  v.  Arnim  in  dem  Sammelwerke  „Allgemeine  Ge- 
schichte der  Philosophie"  (Kultur  der  Gegenwart,  I,  5,  S.  210—250).  Es  ist  dies 
die  weitaus  beste  Darstellung  des  Stoizismus,  die  wir  besitzen. 

**)  Das  sind  christliche  Theologen  des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts, 
die  vom  christlichen  Glauben  zum  christlichen  Wissen  fortschreiten  wollten  und 
die  Lehre  der  christlichen  Religion  zu  einer  philosophischen  Weltanschauung 
weiter  zu  entwickeln  strebten.  {Übcrweg-Heinze,  Grundriß,  10.  Aufl.,  II,  35  ff.) 


134  Metaphysik  oder  Ontologie 

Deseartes  lehrt,  daß  es  zwei  voneinander  ganz  verschiedene  Sub- 
stanzen gibt,  die  nichts  miteinander  gemein  haben.  Es  gibt  in  der  Welt 
ausgedehnte  Dinge  oder  Körper,  die  mechanisch  aufeinander 
wirken.  Ihre  Bewegungen  und  deren  Gesetze  müssen  durch  Beobach- 
tung und  Rechnung  erforscht  werden  und  laufen  mechanisch  ab,  ohne 
daß  dabei  zur  Erklärung  irgendeine  Zweckursache  verwendet  werden 
darf  Außerdem  aber  existiert  in  mir  eine  denkende  Sache,  die 
etwas  ganz  anderes  »st  als  der  Körper.  Die  Existenz  dieser  geistigen 
Substanz  ist  mir  durch  mein  Selbstbewußtsein  unmittelbar  gewiß  und 
kann  nicht  angezweifelt  werden.  Gott,  dessen  Wahrhaftigkeit  über  allen 
Zweifel  erhaben  ist,  hat  mir  die  Überzeugung  von  der  Existenz  der 
Körper  gegeben,  und  er  kann  mich  nicht  täuschen.  Nun  sind  aber  diese 
beiden  Substanzen  im  menschlichen  Organismus  vereint.  Die  Erfah- 
rung lehrt,  daß  körperliche  Vorgänge  mich  zum  Denken  veranlassen, 
und  daß  mein  Wille  den  Körper  zu  bewegen  vermag.  Es  fragt  sich 
nun,  wie  die  Wechselbeziehung  zweier  so  durchaus  verschiedener  Sub- 
stanzen aufeinander  zu  erklären  sei.  Dieses  Problem  der  Wirkung  des 
Körpers  auf  die  Seele  und  der  Seele  auf  den  Körper  ist  das  zentralste 
und  wichtigste  Problem  des  Dualismus.  Um  die  Lösung  desselben 
haben  sich  die  größten  Denker  bemüht  und  der  Streit  darüber  ist  immer 
noch  nicht  geschlichtet. 

Deseartes  selbst  hat  dieses  Problem  in  der  Weise  zu  lösen  ver- 
sucht, daß  er  der  Seele  einen  Sitz  im  Gehirn  (in  der  Zirbeldrüse)  an- 
wies und  sie  von  da  aus  Wirkungen  ausüben  und  empfangen  ließ.  Nun 
erschien  aber  späteren  Denkern  die  Wechselwirkung  zwischen  zwei 
so  ungleichartigen  Substanzen  als  eine  logische  Unmöglichkeit  und 
man  suchte  den  unleugbaren  Zusammenhang  zwischen  Physischem 
und  Psychischem  anders  zu  erklären.  Die  sogenannten  Okkasicna- 
listen  (Oeulincx,  1624—1669,  und  Malebranche,  1638—1715) 
i lahmen  an,  daß  Gott  bei  jeder  Gelegenheit  eines  physischen  Vor- 
ganges den  entsprechenden  geistigen  erzeuge  und  umgekehrt.  Die  Vor- 
gänge seien  also  nur  Gelegenheitsursachen  (occasio  =  Gelegenheit), 
welche  Gott  Anlaß  zum  Eingreifen  geben.  An  Stelle  dieses  jedes- 
maligen Eingreifens  der  göttlichen  Allmacht  setzte  dann  Leibniz  (1646 
bis  1716)  eine  vorher  bestimmte  Übereinstimmung  oder  p  r  ä  s  t  a  b  i- 
lierte  Harmonie.  Wie  ein  geschickter  Uhrmacher  zwei  Uhren 
konstruieren  könnte,  die,  ohne  miteinander  verbunden  zu  sein,  doch 
genau  gleich  gehen,  so  habe  Gott  in  seiner  Allmacht  die  Verfügung 
getroffen,  daß  Leib  und  Seele  in  immer  gleichem  harmonischen  Zu- 
sammenhange  stehen,  indem  jedem  Reize  die  Empfindung,  jedem 
Willensakte  die  Bewegung  folge,  ohne  daß  Leib  und  Seele  aufeinander 
wirken. 

In  neuester  Zeit  hat  man  zur  Erklärung  dieser  Wechselbezie- 
hungen die  Theorie  des  psych  o-physischen  Parallelis- 
mus aufgestellt.  Danach  sind  die  physiologischen  Vorgänge  in  den 
Nerven  und  besonders  im  Gehirn,  welche  in  letzter  Linie  die  psy- 
chischen Vorgänge  bedingen,  psycho-physische  Prozesse.  Es  findet  nur 
ein  Vorgang  statt,  aber  er  bietet  der  Betrachtung  zwei  Seiten. 
Von  außen  ist  er  physischer  Natur  und  steht  mitten  in  der 


§  35.  Der  Dualismus  135 

Kausalreihe  des  Naturgeschehens,  von  innen  aber  ist  dieser  Vor- 
gang ein  psychischer,  er  ist  Empfindung,  Wahrnehmung,  Vor- 
stellung, Gefühl  oder  Willensakt. 

Der  psycho-physische  Parallelismus  ist  nur  eine  scheinbare,  aber 
keine  wirkliche  Lösung  des  Problems,  das  in  der  täglich  erlebten  Tat- 
sache der  Wechselbeziehungen  zwischen  physischen  und  psychischen 
Phänomenen  enthalten  ist.  Wenn  man  von  einer  „Innenseite"  spricht, 
so  ist  dies  nur  ein  täuschendes  Bild.  Nicht  deshalb,  weil  die  psychischen 
Phänomene  sich  im  Innern  des  Organismus  abzuspielen  scheinen, 
heißen  sie  innere  Vorgänge,  denn  sonst  müßten  ja  auch  die  rein  physio- 
logischen Prozesse,  wie  die  Verdauung,  die  Aufsaugung,  der  Blutkreis- 
lauf, die  sich  alle  im  Innern  des  Körpers  vollziehen,  darunter  ver- 
standen sein.  Die  „Innenseite"  des  psycho-physischen  Prozesses  ist  so- 
mit nur  das  Psychische  selbst  als  Bewußtseinsvorgang.  Wird  nun  der 
Bewußtseinsvorgang  zusammen  mit  den  ihm  zugeordneten  Vorgängen 
im  Gehirn  als  ein  einheitlicher  Vorgang  aufgefaßt,  so  läuft  das  immer 
auf  eine  materialistische  Deutung  hinaus.  Man  muß  dann  sagen:  So- 
bald die  physiologischen  Vorgänge  einen  gewissen  Grad  der  Kompli- 
ziertheit erreichen,  gesellen  sich  psychische  Erlebnisse  dazu.  Diese  sind 
aber  dann  nur  Funktionen  des  physiologischen  Prozesses.  Der  einheit- 
liche Vorgang  ist  ein  materieller,  und  das  Psychische  ist,  wie  Ribot 
es  ausdrückt,  nur  eine  Zutat  (surajoute),  die  für  das  Wesen  des  Pro- 
zesses eigentlich  belanglos  ist.  Dadurch  aber  wird  der  psycho-physische 
Parallelismus  zum  reinen  Materialismus  und  alle  Argumente,  die 
gegen  diesen  vorgebracht  wurden,  gelten  auch  hier.  Stellt  man  sich 
aber  auf  den  Standpunkt  Machs,  der  das  Physische  und  das  Psychische 
als  verschiedene  Klassen  von  Vorgängen  auffaßt,  zwischen  denen  funk- 
tionale Abhängigkeitsbeziehungen  bestehen,  so  ist  damit  allerdings  für 
die  Psychologie  ebenso  wie  für  die  Naturwissenschaft  die  Schwierig- 
keit des  Problems  methodologisch  überwunden.  Die  Wissen- 
schaft hat  dann  die  Aufgabe,  diese  funktionalen  Beziehungen  immer 
genauer  zu  erforschen  und  braucht  nicht  zu  fragen,  ob  hier  wirkliche 
Verursachung  vorliegt.  Das  philosophische  Problem  ist  damit 
aber  weder  gelöst,  noch  aus  der  Welt  geschafft.  Für  unseren  Erkennt- 
nisdrang bleibt  immer  noch  das  unausrottbare  Verlangen  bestehen,  das 
innere  Band  zu  schauen,  das  den  Leib  mit  der  Seele  und  die  Seele 
mit  dem  Leibe  verbindet. 

Das  erreichen  wir  am  sichersten,  wenn  wir  uns  aufrichtig  und 
rückhaltlos  zum  Dualismus  bekennen  und  vor  der  Annahme  einer 
Wechselwirkung  zwischen  Physischem  und  Psychischem  nicht  zurück- 
scheuen. Tatsächlich  erleben  wir  ja  diese  Wechselwirkung  täglich 
und  stündlich.  Wenn  wir  auf  Grund  eines  Willensentschlusses  eine  Be- 
wegung ausführen,  so  fühlen  wir  gleichsam,  wie  Ursache  und  Wir- 
kung ineinander  übergehen.  Es  ist  diese  Verbindung,  wie  Jodl  einmal 
sagt,  das  Urbild  aller  Kausalität.  Indem  wir  aber  dabei  an 
unsere  oben  gegebene  Erklärung  von  der  Entstehung  der  Urteilsfunk- 
tion erinnern,  können  wir  noch  mehr  sagen.  Diese  Verbindung  von 
Wille  und  Bewegung  ist  die  einzige  kausale  Verknüpfung,  die  wir  in 
ihrem  Verlaufe  erleben.  Sie  ist  aber  zugleich  infolge  der  durch  sie  ge- 


1  30  Metaphysik  oder  Ontologie 

schaffen«]  fundamentalen  Apperzeptio n  die  Quelle  alles 
unseres  Urteilens  und  damit  alles  unseres  Begreifens. 

I  -  hat  nun  keinen  rechten  Sinn,  eine  solche  Urtatsache  als  un- 
begreiflich zu  bezeichnen.  Unbegreiflich  erscheint  sie  nur,  wenn  man 
die  kausale  Beziehung  vom  einseitigen,  rein  naturwissenschaftlichen 
Standpunkt  betrachtet  und  jede  Wechselbeziehung  dem  Prinzip  der 
1  rhaltung  der  Energie  unterwirft.  Dieses  Prinzip  hat  sich,  ins- 
besondere seitdem  durch  Robert  Mayer,  durch  Joule,  Helmholtz,  Mach 
und  in  neuester  Zeit  durch  Ostwald  seine  wahre  Bedeutung  erkannt 
wurde,  für  alles  physikalisch-chemische  Geschehen  aufs  glänzendste 
bewährt.  Man  wird  deshalb  gewiß  methodologisch  richtig  verfahren, 
wenn  man  an  diesem  bewährten  Grundsatz  auch  neu  hervorkommenden 
Energieformen  gegenüber,  wie  man  sie  z.  B.  an  den  radio-aktiven  Sub- 
stanzen beobachtet,  so  lange  festhält,  als  dies  nur  irgend  möglich  ist. 
Die  Erhaltung  und  Umsetzung  der  Energie  ist  aber  durchaus  nicht  die 
einzige  Betätigungsweise  der  Kausalität.  Wir  bemerken  innerhalb  des 
Gebietes  der  psychischen  Phänomene,  also  im  Reiche  des  Geistes  kau- 
sale Beziehungen,  bei  denen  von  einer  Konstanz  der  Energie  keine 
Rede  sein  kann.  Schon  die  geistige  Entwicklung  jedes  einzelnen  Men- 
schen zeigt  eine  Steigerung  der  seelischen  Leistungsfähigkeit.Weit  groß- 
artiger aber  und  viel  deutlicher  tritt  uns  diese  Steigerung  entgegen, 
wenn  wir  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Menschheit  ins  Auge 
fassen.  Die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  hat  die  geistige  Lei- 
stungsfähigkeit der  Menschheit  in  einem  Maße  gesteigert,  von  dem 
man  sich  gar  keine  Vorstellung  machen  kann.  Spielend  operieren  wir 
heute  mit  Begriffen,  die  zu  bilden  und  auszudrücken  einem  Aristoteles 
die  größte  Anstrengung  gekostet  hat.  Für  das  Verständnis  der  gei- 
stigen Entwicklung  ist  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Energie  kein 
geeignetes  Denkmittel.  Viel  tauglicher  scheint  uns  vielmehr  auf 
geistigem  Gebiete  das  von  Wandt  aufgestellte  Prinzip  des  Wachs- 
tumsgeistiger Energie  zu  sein  (Wundt,  Ethik,  4.  Aufl.,  III, 
41).  In  der  physischen  Welt  ist  die  Kausalität  eine  geschlossene  und 
beruht  auf  dem'  Grundsatze  der  Gleichartigkeit  von  Ursache  und  Wir- 
kung. In  der  Welt  des  Geistes  und  der  Geister  ist  zwar  jedes  Ge- 
schehen durch  die  vorangegangenen  Ereignisse  verursacht,  aber  die 
Wirkungen  gehen  weit  über  das  Vorangegangene  hinaus.  Die  phy- 
sischen Vorgänge  lösen  geistige  Vorgänge  aus,  aber  diese  erfahren 
dann  dadurch,  daß  viele  Menschen  davon  beeinflußt  werden,  eine  Ver- 
mannigfaltung  und  Vervielfältigung,  die  sich  ins  Unermeßliche  steigert. 
Kausalität  ist  also  nicht  nur  da  anzutreffen,  wo  das  Gesetz  der  Er- 
haltung der  I  nergie  Geltung  hat.  Auch  die  tatsächlich  vorhandenen 
Wechselbeziehungen  zwischen  physischen  und  psychischen  Vorgängen, 
Beziehungen,  die  täglich  und  stündlich  erlebt  werden,  können  gar  nicht 
anders  gedeutet  werden,  als  durch  gegenseitige  Beeinflussung  und  Ver- 
ursachung. Diese  Deutung  verstößt  keineswegs,  wie  oft  behauptet  wird, 
gegen  irgendein  wissenschaftliches  Denkgesetz.  Es  liegt  keines- 
wegs im  Begriff  der  Ursache,  daß  die  Wirkung  ihr  äquivalent  oder 
auch  nur  mit  ihr  gleichartig  sei.  Selbst  in  der  physischen  Welt  sind 
die   sogenannten    ,, auslösenden"   Ursachen   durchaus    nicht   den    aus- 


§  36.  Das  kosmologisch-theologische  Problem.  Gott  und  Welt  137 

gelösten  Wirkungen  äquivalent.  Alle  psychischen  Vorgänge  aber  sind 
selbst  eine  Art  von  Auslösungen  und  üben  wiederum  auslösende  Wir- 
kungen aus.  Der  Gedanke  einer  Wechselwirkung  zwischen  Physischem 
und  Psychischem  widerspricht  also  keineswegs  irgendeiner  wissen- 
schaftlich festgestellten  Tatsache.  Er  bleibt  vielmehr  die  einzige  wirk- 
lich einwandfreie  Erklärung  unserer  häufigsten  und  alltäglichsten  Er- 
lebnisse, die  keinem  der  in  diesen  Erlebnissen  wirksamen  Bestandteile 
Gewalt  antut. 

Es  gibt  demnach  in  der  Welt  physische  Vorgänge,  das  ist  solche, 
die  sinnlich  wahrnehmbar  sind  oder  es  werden  können,  und  die  zugleich 
an  einen  substantiellen  Träger  gebunden  erscheinen.  Es  gibt  ferner 
psychische  Vorgänge,  die  niemals  sinnlich  wahrnehmbar  werden 
können,  und  die,  an  sich  betrachtet,  zur  Annahme  eines  substantiellen 
Trägers  keinen  Anlaß  geben.  Ihre  Vereinigung  im  menschlichen 
Organismus  beruht  auf  Wechselwirkung,  welche  an  sich  gar  nichts  Un- 
begreifliches hat. 

Diese  Auffassung  bleibt  wissenschaftlich  möglich,  und  so  verdient 
der  Dualismus  auch  heute  noch  als  berechtigte  Weltanschauung  zu 
gelten. 

Neben  dem  Dualismus  haben  amerikanische  Denker  der  jüngsten 
Zeit  auch  den  ganz  ursprünglichen  Pluralismus  wieder  zur  Gel- 
tung gebracht.  Es  ist  dies  eine  vollkommen  bewußte,  aber  viel  radi- 
kalere Rückkehr  zum  Standpunkt  des  nicht  philosophierenden  Verstan- 
des. Diese  Richtung  hängt  mit  dem  Pragmatismus  zusammen  und  wird 
auch  von  dem  energischesten  Vertreter  des  Pragmatismus,  von  William 
James,  verteidigt.  Der  Einheitstrieb  des  Menschen  soll  nur  nach  vor- 
wärts und  gar  nicht  nach  rückwärts  gerichtet  sein.  Die  Welt  ist  ur- 
sprünglich durchaus  keine  Einheit,  die  menschliche  Arbeit  soll  viel- 
mehr eine  einheitliche  Organisation  erst  herbeiführen.  Die  Philo- 
sophie hat  es  bei  diesen  Denkern  gar  nicht  mit  dem  Universum,  sondern 
nur  mit  der  Erde  und  den  auf  ihr  wohnenden  Menschen  zu  tun.  Der 
Pluralismus  ist  einerseits  radikaler  Empirismus,  anderseits  energischer 
A  k  t  i  v  i  s  m  u  s.  Während  nun  diese  letztere,  vorwärts  treibende,  zur 
Tätigkeit  spornende  Tendenz  sehr  segensreich  werden  kann,  wird  in  der 
theoretischen  Grundlegung  die  bisher  von  der  Wissenschaft  erreichte 
Vereinheitlichung  doch  zu  sehr  vernachlässigt.  Die  physikalisch-chemi- 
schen Vorgänge  haben  soviel  Gemeinsames,  daß  ihre  Zusammenfassung 
in  einen  Begriff  gerechtfertigt  und  geboten  ist.  Ebenso  zeigen  alle 
psychischen  Phänomene  das  gemeinsame  Merkmal  des  Unsinnlichen 
und  des  Ereignisartigen.  Wenn  man  diesen  beiden  Gruppen  ihre  Selb- 
ständigkeit beläßt,  hat  man  der  wirklichen  Erfahrung  hinlänglich  Rech- 
nung getragen. 

§  36.  Das  kosmologisch-theologische  Problem.  Gott  und  Welt 

Der  Gegensatz  von  Beseeltem  und  Unbeseeltem,  von  Körper  und 
Geist,  der  sich  schon  der  naiven  Auffassung  aufdrängt,  und  den  die 
Philosophie  entweder  anerkennt  (Dualismus)  oder  zu  überbrücken 
sucht  (Monismus),  ist  durch  die  Betrachtung  des  Menschen  nahe 


Metaphysik  oder  Ontologie 

gebracht.  Früher  jedoch  als  der  Mensch  war  die  Welt,  die  ihn  umgibt, 
Gegenstand  der  philosophischen  Spekulation. 

Der  früh  bemerkte  Zusammenhang  der  Weltereignisse,  die  gesetz- 
liche Regelmäßigkeit,  die  schon  der  Lauf  der  Jahreszeiten  aufweist, 
verlangten  eine  Erklärung.  Die  Frage  nach  der  wahren  Natur  des 
Weltalls,  nach  seinem  Ursprung,  seiner  Entwicklung  und  seinem  even- 
tuellen Untergang  bildet  den  Inhalt  des  kosmologischen  Pro- 
blems, mit  dessen  Lösung  sich  die  Naturphilosophie  be- 
schäftigt,  welche  ein  Teil  der  Metaphysik  ist. 

Die  ersten  griechischen  Philosophen  glaubten  den  Zusammenhang 
und  die  Gesetzlichkeit  des  Weltgeschehens  am  einfachsten  durch  die 
Annahme  eines  einzigen  Grundstoffes  zu  erklären,  aus  dem  alles  ent- 
standen sei.  Das  Wasser,  die  Luft,  das  Feuer  wurden  von  verschiedenen 
1  tenkern  als  solche  Urstoffe  angenommen.  Empedokles  stellte  dann  die 
bekannten  vier  Elemente  auf  (Wasser,  Feuer,  Luft  und  Erde),  während 
Leuluppos  und  sein  Schüler  Demokrit  die  Atomistik  begründeten,  wo- 
nach die  Welt  aus  qualitativ  gleichen,  nur  durch  Gestalt  und  Größe 
unterschiedenen,  kleinen  Körperchen  besteht,  die  selbst  unteilbar  sind 
(atomon  Unteilbares)  und  durch  ihre  Gruppierung  die  verschie- 
denen Körper  entstehen  lassen. 

Diese  Theorie  wurde  in  der  neueren  Zeit  durch  verfeinerte  Denk- 
mittel und  Denkmethoden  weiter  ausgebildet  und  bildet  noch  heute 
bei  einem  großen  Teile  der  Physiker  die  Grundlage  der  mechanischen 
Auffassung  der  Welt.  Durch  die  genauere  Erforschung  der  Bewe- 
gungsgesetze sowie  durch  die  Erkenntnis  der  chemischen  Eigen- 
schaften der  Körper  ist  diese  Lehre  heute  eine  ungleich  kompliziertere 
und  auch  inhaltlich  verschiedene  gegenüber  der  Leukipps  und  Demo- 
krits,  allein  der  Grundgedanke  ist  derselbe  geblieben. 

Diese  mechanische  Auffassung  befriedigte  aber  nicht  allgemein 
und  nicht  auf  die  Dauer.  Die  auffallende  Zweckmäßigkeit  so 
vieler  Naturvorgänge  zeitigte  bald  den  Gedanken  an  eine  baumeister- 
liche Intelligenz,  die  alles  planmäßig  angeordnet  habe.  Anaxagoras 
ist  der  erste  Philosoph,  der  eine  solche  Intelligenz  zum  Zwecke  der 
Welterklärung  annimmt.  Sein  Nus  (voöc)  oder  Geist  bringt  Ordnung 
in  das  chaotische  Weltall.  Von  da  ab  ist  das  kosmologische  Problem 
eng  verknüpft  mit  der  Frage  nach  dem  geistigen  Urheber  und  Lenker 
des  Weltalls.  Der  G  o  1 1  e  s  b  e  g  r  i  f  f,  der  durch  die  religiösen  Vor- 
stellungen vorgebildet  war,  tritt  nun  in  den  Bereich  der  p  h  i  1  o  s  o  p  h  1- 
schen  Spekulation  und  schafft  das  theologische  Pro- 
blem, mit  dem  sich  ein  anderer  Teil  der  Metaphysik,  die  Religions- 
philosophie, beschäftigt. 

Der  Gottesbegriff  hat  jedoch  in  der  Philosophie  nicht  nur  eine 
metaphysische  und  erkenntnistheoretische,  sondern  auch  eine 
ethische  Bedeutung.  Bald  wird  mehr  die  eine,  bald  wieder  die 
andere  Seite  dieses  Begriffes  betont,  mehrfach  aber  fließen  beide  zu- 
sammen. 

Jeder  Lösungsversuch  des  kosmologischen  Problems  muß  heute 
zum  Gottesbegriff  Stellung  nehmen,  sei  es  auch  nur  in  der  Leugnung 
desselben.  Ganz  außer  acht  lassen  darf  man  ihn  nicht  mehr,  da  der- 


§  36.  Das  kosmologisch-theologische  Problem.  Gott  und  Welt  130, 

selbe  infolge  einer  jahrtausendelangen   Entwicklung   zum  ständigen 
Inventar  unserer  philosophischen  Begriffe  gehört. 

» Das  kosmologisch-theologische  Problem  hat  zunächst  zwei  ent- 
gegengesetzte Lösungsversuche  hervorgebracht,  die  man  kurz  M  e- 
chanismus  und  T  e  1  e  0  1  0  g  i  e  nennt. 

Die  mechanische  Auffassung  betrachtet  das  Weltgeschehen 
als  Ausfluß  von  Kräften,  die  der  Materie  selbst  innewohnen.  Durch 
Anziehung  und  Abstoßung  in  den  verschiedensten  Formen,  durch 
Schwere  und  Fliehkraft  werden  die  Körper  in  ihrer  Zusammensetzung 
und  in  ihren  Bahnen  erhalten.  Auch  die  so  überaus  wichtigen  chemi- 
schen Prozesse  lassen  sich  in  diese  Anschauung  einfügen,  wenn  es 
auch  noch  nicht  gelungen  ist,  alle  qualitativen  Unterschiede  auf  quanti- 
tative zu  reduzieren.  Denn  die  chemischen  Eigenschaften  wohnen  ja 
gleichfalls  den  Stoffen  inne  und  sind  nicht  von  außen  in  sie  hinein- 
gebracht. 

Die  mechanische  Auffassung  liegt  der  antiken  Physik  fast  aus- 
schließlich zugrunde  und  wird  in  neuerer  Zeit  namentlich  von  ma- 
terialistischer Seite  energisch  verfochten.  Auch  die  Vorgänge  in  den 
lebenden  Organismen  sucht  man  auf  Mechanik  und  Chemie  zurückzu- 
führen und  lehnt  die  Annahme  einer  besonderen  Lebenskraft  ab. 

Der  Gottesbegriff  ist  mit  der  mechanischen  Auffassung  vereinbar 
und  ist  auch  häufig  mit  ihr  verbunden  worden.  Gott  ist  hier  der  Ordner 
(Anaxagoras)  oder  erste  Beweger  (Aristoteles)  der  vor  ihm  schon  vor- 
handenen Materie.  Selbst  der  Begriff  Gottes  als  Weltschöpfer  ließe 
sich  mit  einer  mechanischen  Naturauffassung  verbinden,  wenn  man 
Gott  als  Urheber  der  mechanischen  Naturgesetze  denkt,  der  die  ein- 
mal gegebenen  Gesetze  nicht  ändert. 

Die  mechanische  Auffassung  bemüht  sich  namentlich  in  neuerer 
Zeit,  den  Zweckbegriff  ganz  aus  der  Naturerklärung  zu  eli- 
minieren, und  steht  eben  dadurch  im  Gegensatz  zu  der  teleo- 
logischen Auffassung. 

Die  T  e  1  e  0  1  0  g  i  e  ist  nämlich  diejenige  Denkrichtung,  welche, 
die  Zweckmäßigkeit  der  Weltereignisse  und  namentlich  der  ein- 
zelnen Organe  des  Körpers  betonend,  die  Annahme  macht,  die  Welt 
sei  von  einer  höheren  Intelligenz  nach  bestimmten  Plänen  und  Zwecken 
eingerichtet  worden.  Piaton  macht  dem  Anaxagoras  den  Vorwurf,  daß 
sein  Nus  nur  eine  ordnende  Tätigkeit  entfaltet,  über  den  Zweck  der 
einzelnen  Einrichtungen  aber  keine  Rechenschaft  gebe.  Die  teleo- 
logische Auffassung  findet  in  G  0  1 1  den  Schöpfer  und  den  Lenker 
der  Welt. 

Am  deutlichsten  ausgesprochen  ist  diese  Anschauung  in  der 
Schöpfungsgeschichte  des  Alten  Testamentes 
und  von  da  aus  ist  sie  in  die  monotheistischen  Religionen  des  Abend- 
landes eingedrungen,  so  daß  sie  den  Kern  der  wichtigsten  Religions- 
systeme bildet.  Eben  deshalb  ist  uns  diese  Auffassung  von  Kindheit 
an  vertraut  und  geläufig. 

Diese  Form  der  Teleologie  setzt  einen  persönlichen, 
außerweltlichen  Gott  voraus  und  kann  deshalb,  weil  sie  da- 


140  Metaphysik  oder  Ontolojjic 

Jim    über    die     Erfahrung    hinausgeht,    auch    transzendente 
I  e  1  e  o  1  o  g  i  e  genannt  werden. 

In  neuerer  Zeil  hat  sieh  daneben  eine  andere  Form  der  Ideologie 
herausgebildet,  welche  die  Zweckmäßigkeit  als  eine  den  Dingen, 
namentlich  den  Organismen  selbst  innewohnende  Tendenz  auffaßt. 
1  >iese  immanente  T  e  1  e  o  1  o  g  i  e  ist  die  Auffassung  der  soge- 
nannten Entwicklungslehre. 

I  >abei  kommt  allerdings  vorwiegend  die  organische  Natur  in  Be- 
tracht. Man  nimmt  an,  daß  allen  Organismen  der  Trieb  nach  Selbst- 
erhaltimg und  Arterhaltung  innewohne.  Infolge  dieses  Triebes  ent- 
wickeln sich  die  Organismen  entsprechend  den  Lebensbedingungen  und 
passen  sich  diesen  im  Kampfe  ums  Dasein  immer  besser  an. 

Diese  von  Lamarck  begründete  und  von  Goethe  vielfach  vertretene 
Anschauung  ist,  von  Herbert  Spencer  (1856)  zum  erstenmal  philo- 
sophisch formuliert,  durch  Darwin  (Entstehung  der  Arten,  1859)  Ge- 
meingut der  Gebildeten  geworden.  Darwin  erweiterte  sie  durch  die  jetzt 
vielfach  bestrittene  Hypothese,  daß  die  Organismen  ihre  im  Kampf  ums 
Dasein  erworbenen  Eigenschaften  durch  natürliche  Auslese 
oder  Zuchtwahl  vererben  und  so  die  Anpassungsfähigkeit  ins  Un- 
gemessene steigern  können.  Das  Überleben  der  am  meisten  Angepaßten 
(the  survival  of  the  fittest)  und  die  natürliche  Auslese 
bilden  den  Kern  des  sogenannten  Darwinismus,  der  aber  nicht  identisch 
ist  mit  dem  Gedanken  der  Entwicklung  überhaupt.  Wenn  also  in  neuerer 
Zeit  manches  von  den  speziellen  Lehren  Darwins  sich  als  wissenschaft- 
lich unhaltbar  erwiesen  hat,  so  bleibt  doch  der  von  ihm  so  energisch  und 
so  machtvoll  vertretene  Grundgedanke  von  bleibendem  Werte. 

Die  hier  gelehrte  immanente  Teleologie  ist  auch  für  die  Erfor- 
schung des  Seelenlebens  und  für  die  gesamten  Geisteswissenschaften 
von  großer  Bedeutung. 

Auch  mit  der  immanenten  Teleologie  läßt  sich,  wie 
schon  das  Beispiel  von  Darwin  selbst  lehrt,  der  Gottesbegriff 
vereinigen.  Man  muß  dann  nur  annehmen,  daß  Gott  die  ein- 
fachsten Lebewesen,  etwa  das  Protoplasma,  geschaffen  und  daß  sich 
nach  den  von  ihm  vorher  bestimmten  Entwicklungsgesetzen  daraus  die 
Mannigfaltigkeit  der  Organismen  allmählich  herausgebildet  habe. 

Die  Auffassung  Gottes  als  einer  außerweltlichen  Intelligenz,  die 
mit  unendlicher  Denk-  und  Willenskraft  begabt  ist,  nennt  man 
anthropomorphischen  Theismus.  Anthropomorphisch 
muß  jeder  Theismus  bleiben,  weil  wir  eine  Intelligenz  nur  nach  Ana- 
logie der  menschlichen  zu  denken  vermögen.  Wir  können  unsere  Seelen- 
kräfte  ins  Unendliche  gesteigert  denken,  aber  es  bleiben  immer 
menschliche  Kräfte.  Der  Theismus  ist  in  roher  Form  die  Auffas- 
sung aller  Naturvölker,  in  geläuterter  —  nur  letztere  pflegt  mit  diesem 
Namen  bezeichnet  zu  werden  die  Anschauung  der  herrschenden 
monotheistischen  keligionssysteme. 

Davon  verschieden  ist  der  Pantheismus,  wonach  Gott  und 
Welt  nicht  verschieden,  sondern  Eines  sind.  Das  Göttliche 
durchdringt  das  gesamte  W  e  1  t  a  1 1,  ist  überall  vorhanden,  aber  nicht 
getrennt  von  den  Dingen,  sondern  ihnen  immanent.  Anklänge  an 


§  36.  Das  kosmologisch-theologisclie  Problem.  Gott  und  Welt  HI 

den  Pantheismus  finden  sich  schon  bei  Xenophanes.  Pantheistisch  ist 
ferner  in  gewissem  Sinne  die  Weltanschauung  der  Stoiker,  welche 
auch  in  dieser  Richtung  mächtig  auf  die  Philosophie  der  Neuzeit  ein- 
gewirkt haben.  Oiordano  Bruno  tritt  mit  feuriger  Begeisterung  dafür 
ein,  daß  die  ganze  Welt  vom  Hauch  des  Göttlichen  durchdrungen  ist. 
Am  klarsten  und  am  konsequentesten  ist  aber  der  Pantheismus  zu  Ende 
gedacht  und  dargestellt  von  Baruch  Spinoza.  Für  Spinoza  gibt  esr 
wie  wir  oben  gehört  haben,  nur  eine  Substanz,  nämlich  Gott.  Diese 
Substanz  hat  zwei  Betätigungsarten  oder  Attribute,  Denken  und  Aus- 
dehnung. Jedes  Ding  ist  ein  Modus  der  einzigen  Substanz  und  nimmt 
so  teil  an  ihrer  Göttlichkeit.  Das  Ziel  der  Weisheit  ist  die  freudige  Hin- 
gabe an  das  All,  von  dem  wir  ein  Teil  sind,  und  diese  Hingabe  ist  es, 
welche  Spinoza  Gottesliebe  nennt.  Diese  großartige  Welt- 
anschauung hat  besonders  mächtig  auf  Goethe  gewirkt,  der  ihr  schon 
in  seiner  Jugend  in  Fausts  Religionsgespräch  mit  Gretchen  und  später 
als  gereifter  Genius  wiederholt  poetischen  Ausdruck  gegeben  hat: 

„Was  war'  ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße, 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  ließe! 
Ihm  ziemt's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  sich,  sich  in  Natur  zu  hegen, 
So  daß,  was  in  ihm  lebt  und  webt  und  ist, 
Nie  seine  Kraft,  nie  seinen  Geist  vermißt." 

Neben  dem  Pantheismus  bildete  sich  im  siebzehnten  und  acht- 
zehnten Jahrhundert  in  England  eine  besondere  Auffassung  des 
Gottesbegriffes  aus,  für  welche  die  Bezeichnung  Deismus  gewählt 
wurde.  Die  Vertreter  dieser  Auffassung  {Cherbury  f  1648,  Toland 
t  1722,  Collins  f  1729)  nehmen  für  die  Vernunft  das  Recht  in  An- 
spruch, auch  in  den  Fragen  der  Religion  mitzusprechen,  und  lehnen 
sich  gegen  vernunftwidrige  Dogmen  und  gegen  überkommene  Autori- 
tät auf.  Sie  nennen  sich  deshalb  mit  Vorliebe  Freidenker.  Sie 
treten  ein  für  eine  natürliche  Religion,  was  nach  ihrer  Meinung  so  viel 
ist  als  Vernunftreligion.  Gott  ist  für  sie  der  Schöpfer  und  Lenker  der 
Welt,  hauptsächlich  aber  sehen  sie  in  ihm  die  Quelle  des  Sittengesetzes. 
Ein  solcher  Gottesbegriff  kann  aus  der  Vernunft  abgeleitet  werden 
und  es  bedarf  keiner  Offenbarung  und  keiner  Wunder,  um  an  ihn  zu 
glauben.  Der  Wert  der  Religion  liegt  in  der  moralischen  Gesinnung, 
die  durch  sie  hervorgebracht  wird.  „Glaube  an  Gott  und  tue  deine 
Pflicht",  lautet  die  Devise  des  Deismus. 

Das  Bedürfnis,  den  in  der  religiösen  Tradition  gegebenen  Gottes- 
begriff philosophisch  zu  bearbeiten,  hat  sich  im  Mittelalter  besonders 
stark  fühlbar. gemacht.  Zunächst  suchte  man  das  Dasein  Gottes  aus 
seinem  Begriffe,  aus  der  Zweckmäßigkeit  der  Welt  und  aus  anderen 
Argumenten  logisch  zu  beweisen.  Schon  von  manchen  Scholastikern 
\Z.  B.  Duns  Scotus,  1265 — 1308)  wurde  jedoch  die  logische  Unnah- 
barkeit dieser  Beweise  erkannt  und  das  Dasein  Gottes  zu  den  geoffen- 
barten, das  heißt  mittels  der  Vernunft  nicht  zu  begründenden  Wahr- 
heiten gerechnet  (s.  oben  S.  6).  Auch  in  der  neueren  Philosophie  hat 
man  sich  viel  mit  solchen  Beweisen  abgegeben,  bis  Kant  das  Dasein 
Gottes  zwar  als  unbeweisbar,  wohl  aber  als  eine  Forderung  der  prak- 


\\2  Metaphysik  "der  Orttolo^ie 

tischen    Vernunft,    das   heißt    des    Sittengesetzes,   hinstellte.    Seitdem 
schreibt  man  dem  <  iottesbegriffe  vorwiegend  ethische  Bedeutung  zu. 

Unserer  Ansicht  nach  ist  jedoch  der  Gottesbegriff  nicht  so  sehr 
für  die  Begründung  des  Sittengesetzes,  als  vielmehr  für  unsere  theo- 
retische Weltanschauung  von  Bedeutung.  Wir  verweisen,  um  das  deut- 
lich zu  machen,  wieder  auf  die  Urteilsfunktion,  als  auf  die 
I  undamentaleApperzeptio  n.  Wenn  wir  jeden  uns  in  der 
Wahrnehmung  gegebenen  Inhalt  nur  dadurch  zu  unserem  geistigen 
1  igentum  machen  können,  daß  wir  ihn  in  die  unserem  Organismus  ge- 
mäße  I  "im  umgießen,  und  ihn  als  ein  Kraftzentrum  und  dessen  Kraft- 
äußerung  aufzufassen  nicht  umhin  können,  wenn  sich  uns  ferner  diese 
I  "im  in  jahrtausendelanger  Denkarbeit  bewährt  und  erprobt  hat  und 
wir  mit  ihrer  Hilfe  die  Welt  geistig  erobert  haben,  dann  liegt  der  Ge- 
danke gewiß  nahe,  diese  Form  einmal  auf  das  Weltganze  anzuwenden. 
Sowie  wir  dies  aber  versuchen,  dann  erscheint  uns  dieses  Ganze  als 
das  Werk  eines  mächtigen,  unendlichen  Willens,  dessen  Kraftäußerung 
eine  konstante  ist.  Erst  dadurch  aber  erhält  unser  Weltbild  den  wün- 
schenswerten Abschluß.  Dieser  mächtige  Wille  ist  der  Ur- 
grund für  Materie  und  Geist,  die  Naturgesetze  sind  seine 
Gesetze,  er  hat  sie  gegeben,  wie  der  Psalmist  sagt,  und  er 
selbst  bricht  sie  nicht. 

So  gelangen  wir  durch  Anwendung  der  an  der  Erfahrung  be- 
währten Urteilsfunktion  auf  das  Weltganze,  zu  einer  unseren  Erkennt- 
nistrieb befriedigenden  Weltanschauung,  in  der  auch  der  Gottesbegriff 
seine  Stelle  findet. 

Literatur 

Fr.  A.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus.  1.  Aufl.  1866,  9.  Auil.  1914  15. 
Ed.  v.  Hartmann,  Geschichte  der  Metaphysik.  2  Bände  1899  und  1900. 
Lotze,  Mikrokosmus.  3  Bände  1856—1864,  5.  Aufl.  1896  ff. 
-  System  der  Philosophie.  2.  Teil:  Metaphysik.  1S79,  2.  Aufl.  1884.  Jetzt  wieder 

abgedruckt  in  der  „Philosophischen  Bibliothek"  (Leipzig,  Meiner). 
vV.  Wundt,  System  der  Philosophie.  1889,  4.  Aufl.  1919. 

G.   Th.   Fech'ner,   Über  die  physikalische   und   philosophische   Atomenlehre. 
2.  Aufl.  1864 

Zendavesta   oder:    Über   die    Dinge   des    Himmels    und    des    Jenseits. 

3  Bände.  1851,  I.  Band,  5.  Aufl.  1921,  II.  Band,  4.  Aufl.  1920. 

Die  Tagesansicht  gegenüber  der  Nachtansicht.  1879.  2.  Aufl.  1904. 
1  d.  \.  Hartmann,  Die  Philosophie  des  Unbewußten.  1.  Aufl.  1869,  11.  Aufl. 

'1. 
( i.  Ili\  maus,  Einführung  in  die  Metaphysik.  2.  Aufl.  1911. 
Richard   A  venar  ins,   Kritik   der   reinen   Erfahrung.  2  Bände   18S8-1891, 
2.  Ami.  1909. 

Der   menschliche   Weltbegriff.    1891,  3.   Aufl.    1912. 

Der  Gegenstand  der  Psychologie.  Drei  Aufsätze  in  der  Yierteljahrsschnft 

für  wissenschaftliche  Philosophie.   IS(>4  und  18Q5.  Jetzt  als  Anhang  in  der 

Aufl.   von   „Der   menschliche  Weltbegriff".   (Aus  diesen   Aufsätzen   lernt 

man   den    Grundgedanken   des   A venar iusschen   Monismus  am  besten 

kennen.) 

Joseph   Petzoldt,    Einführung   in   die   Philosophie  der    reinen    Erfahrung. 

2  Bande.   1900  und   l1 
Das  Weltproblem.  2.  Aufl.  1Q12. 


Literatur  143 

Ernst  Mach,  Die  Analyse  der  Empfindungen.  Insbesondere  die  3.  bis  8.  Aufl. 
1902—1919. 
—  Erkenntnis  und  Irrtum.  Skizzen  zur  Psychologie  der  Forschung.  4.  Aufl. 
1920. 
-  Die  Prinzipien  der  Wärmelehre.  1896,  S.  362—461.  (3.  Aufl.  1919.) 

Populär-wissenschaftliche  Vorlesungen.   4.   Aufl.    1910.   Vorträge   XII    bis 

XV  (X— XIII  der  1.  und  2.  Aufl.). 

W.  Ostwald,  Vorlesungen  über  Naturphilosophie.   1902,  3.  Aufl.  1905. 

M.  V  e  r  w  o  r  n,  Naturwissenschaft  und  Weltanschauung.   1904. 

Rudolf  Eucken,  Die  Einheit  des  Geisteslebens  in  Bewußtsein  und  Tat  der 
Menschheit.   1888. 

Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung.  1907. 

Geistige  Strömungen  der  Gegenwart.  5.  Aufl.  1916. 

Josiah  Royce,  The  world  and  the  individual.  2  Bände,  1902.  (Enthält  ein 
wohldurchdachtes  System  einer  idealistischen  Metaphysik.) 

Henri  Bergson.  (Die  oben  zitierten  Werke  enthalten  eine  tiefgründige  Meta- 
physik.) 

Ludwig  Busse,  Geist  und  Körper.  1903.  2.  Aufl.  1913.  (Kraftvolle  Verteidi- 
gung des  Dualismus  und  der  Wechselwirkung.) 

Friedrich  Klimke  S.  J.,  Der  Monismus  und  seine  philosophischen  Grund- 
lagen. 1911.  (Ausführliche  und  gründliche  Darstellung  und  Kritik  der  ver- 
schiedenen Formen  des  Monismus.) 

Karl  J  o  e  1,  Seele  und  Welt,  Versuch  einer  organischen  Auffassung.  1912.  (Stellt 
den  Begriff  des  Lebens  in  den  Mittelpunkt  und  zeigt,  daß  Physisches  und 
Psychisches  dabei  zusammenwirken  müssen.  Geistvolle  und  sehr  lebendige 
Darstellung.) 

C.  Siegel,  Geschichte  der  deutschen  Naturphilosophie.  1913. 

Weltanschauung,  Philosophie  und  Religion;  herausgegeben  von  M.  Frisch- 
eisen-Köhler. 1911.  (Ein  Sammelwerk.) 

Carl  Jellinek,  Das  Weltengeheimnis.  1921. 


Fünfter  Abschnitt 

Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

§  37.  Begriff  und  Aufgabe  der  Ästhetik 

Das  ästhetische  Verhalten  des  Menschen  ist  ein  eigen- 
artiger Seelenzustand,  der  im  Laufe  der  Kuiturentwicklung  sich  viel- 
fach differenziert  und  kompliziert  hat.  Das  Charakteristische  dieses 
Seelenzustandes  besteht  darin,  daß  Objekte  und  Vorgänge  der  Um- 
gebung, mögen  es  nun  Naturdinge  oder  Kunstwerke  sein,  in  uns 
durch  ihre  bloße  Betrachtung  Lust-  und  Unlustgefühle  ent- 
stehen lassen,  die  nicht  unmittelbar  Anlaß  zu  heftigen  Begehrungen 
geben.  Kant,  der  dieses  Merkmal  der  ästhetischen  Gefühle  zuerst  er- 
kannte, hat  deshalb  von  einem  „uninteressierten  Wohlgefallen"  ge- 
sprochen. 

Die  ästhetischen  Gefühle  veranlassen  uns  aber  fast  immer  zu  U  r- 
t  eilen  über  die  ästhetischen  Objekte.  Die  Prädikate  dieser  Urteile 
wie:  schön,  reizvoll,  interessant,  oder  häßlich,  reizlos,  langweilig, 
gelten  uns  dabei  für  Eigenschaften  der  betrachteten  Kunstwerke,  die 
denselben  objektiv  zukommen.  Für  diese  Urteile  nehmen  wir  mit- 
unter Allgemeingültigkeit  in  Anspruch  und  verteidigen  unsere  Mei- 
nung oft  sehr  lebhaft  gegenüber  anderen  Ansichten. 

Da  nun  das  ästhetische  Verhalten  im  Leben  des  Einzelnen,  sowie 
auch  in  der  Kulturentwicklung  der  Menschheit  eine  große  Rolle  spielt, 
da  ferner  das  ästhetische  Verhalten  auf  neue  Seiten  der  menschlichen 
Seele  und  des  menschlichen  Tuns  aufmerksam  macht,  so  muß  die  For- 
schung sich  mit  diesem  Gegenstand  beschäftigen.  Es  müssen  die  sub- 
jektiven und  die  objektiven  Bedingungen  des  ästhe- 
tischen Verhaltens  untersucht  werden,  und  darin  besteht  eben 
die  Aufgabe  der  Ästhetik. 

Die  subjektiven  Bedingungen  fallen  ganz  in  das  Gebiet  der 
Psychologie.  Mit  psychologischen  Untersuchungen  hat  sich  die 
Ästhetik  in  den  letzten  Dezennien  vorzugsweise  beschäftigt,  und  wir 
verdanke!]  diesen  Forschungen  eine  nicht  unerhebliche  Vermehrung 
unserer  Einsicht  in  das  Wesen  des  ästhetischen  Verhaltens. 

Wir  wissen  heute  besser  als  etwa  vor  30  Jahren,  was  wir  er- 
leben, wenn  wir  durch  die  Betrachtung  eines  Gemäldes,  durch  das  An- 
hören einer  Symphonie,  durch  die  Lektüre  einer  Dichtung  angeregt  und 
freudig  gestimmt  sind.  Die  psychologische  Ästhetik  untersucht  einer- 


§  37.  Begriff  und  Aufgabe  der  Ästhetik  145 

seits    das    ästhetische    Genießen,    anderseits    das    künst- 
lerische Schaffen  gewissermaßen  von  der  Innenseite. 

In  bezug  auf  die  objektiven  Bedingungen  des  ästhetischen 
Verhaltens  ist  die  Forschung  noch  keineswegs  zu  einer  Einigung  über 
die  Ziele  und  noch  weniger  über  die  Wege  der  Untersuchung  gelangt. 
Philosophische  Spekulationen  über  das  Wesen  des  Schönen  und  über 
seine  kosmische  Bedeutung,  wie  sie  von  Piaton  und  Plotin  im  Alter- 
tum, von  Schelling,  Hegel  und  Schopenhauer  in  der  Neuzeit  angestellt 
wurden,  haben  ihre  Wirkung  auf  die  Geister  noch  nicht  ganz  verloren. 
Wichtiger  jedoch  sind  historische  Untersuchungen  über  die  Entstehung 
und  Entwicklung  der  einzelnen  Künste  und  kulturgeschichtliche  For- 
schungen über  die  Verbreitung  und  Bereicherung  des  ästhetischen  Ver- 
haltens, über  die  allmähliche  Erziehung  zum  Bedürfnis  nach  Kunst 
und  über  die  immer  allgemeiner  werdende  Fähigkeit,  auch  die  Natur 
vom  ästhetischen  Standpunkte  zu  betrachten.  Die  subjektiven  Bedin- 
gungen des  ästhetischen  Verhaltens  sind  psychologisch,  die  objektiven 
historisch  und  soziologisch  zu  untersuchen.  Vielleicht  ist  es  dann,  wenn 
hier  positive  Ergebnisse  vorliegen,  dem  weiterschauenden  Geiste  mög- 
lich, im  Universum  selbst  Keime  des  Ästhetischen  zu  entdecken  und  da- 
mit zu  einer  Philosophie  des  Schönen  und  der  Kunst  vorzudringen. 

Die  Grundlage  alles  ästhetischen  Verhaltens  darf  man  dabei  aber 
nie  aus  dem  Auge  verlieren.  Diese  besteht,  wie  gesagt,  darin,  daß  wir 
reine,  von  heftigen  Begehrungen  freie  Gefühle  erleben.  Die  Tatsache 
des  ästhetischen  Verhaltens  ist  also  zugleich  ein  Beweis  dafür,  daß  das 
Fühlen  eine  eigenartige  Grundfunktion  des  Bewußtseins  ist,  die  sich 
einerseits  vom  Vorstellen  und  Denken  und  anderseits  vom  Begehren 
und  Wollen  unterscheidet.  Da  dieses  reine  Fühlen  nur  im  ästhetischen 
Verhalten  zur  vollen  Entfaltung  gelangt,  so  kann  nur  die  Ästhetik 
über  das  Wesen  und  über  die  Rolle  des  reinen  Fühlens  die  letzten  Auf- 
schlüsse geben.  Man  kann  deshalb  die  Ästhetik  am  kürzesten  und  am 
treffendsten  mit  Heinrich  von  Stein  definieren  als  die  P  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e 
des  Fühlens. 

Durch  diese  Begriffsbestimmung  ist  die  Stellung  der  Ästhetik  im 
System  der  Philosophie  charakterisiert  und  zugleich  auch  ein  reiches 
Feld  für  psychologische,  historische  und  soziologische  Untersuchungen 
eröffnet.  Die  erste  und  wichtigste  Aufgabe  ist  die  psychologische  Unter- 
suchung des  ästhetischen  Genießen  s.  Wir  müssen  uns  zu 
klarem  Bewußtsein  bringen,  was  wir  bei  Betrachtung  von  Kunst  und 
Natur  im  ästhetischen  Verhalten  tatsächlich  erleben.  Wir  müssen  im  be- 
sonderen die  ästhetische  Freude  von  anderen  Lustgefühlen  unter- 
scheiden und  den  Grund  dieser  Unterscheidung  kennen  zu  lernen 
streben.  Wir  müssen  ferner  den  Versuch  wagen,  uns  in  die  Seele  des 
schaffenden  Künstlers  zu  versenken,  um  die  Vorstellungen  und  Motive 
kennen  zu  lernen,  die  ihn  beherrschen  und  bewegen.  Alle  diese  Unter- 
suchungen dürfen  sich  nicht  ganz  auf  das  einzelne  Individuum  be- 
schränken. Der  soziale  Faktor  spielt  im  ästhetischen  Verhalten  eine 
weit  größere  Rolle,  als  man  meint.  Wir  sind  in  unserem  eigenen  ästhe- 
tischen Verhalten  vielfach  von  der  Mode  und  von  anderen  Zeit- 
strömungen beeinflußt,  und  auch  der  schaffende  Künstler  hat  bei  seiner 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  10 


146  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

Arbeit  vielleicht  mehr,  als  er  sich  selbst  und  anderen  eingestehen  will, 
das  Publikum  im  Vuge,  für  welches  sein  Werk  bestimmt  ist.  Die  sozio- 
logische  Bedeutung  der  Kunst,  die  schon  Pluto  und  Aristoteles  erkannt 
haben,  wird  immer  genauer  erforscht  werden  müssen.  Von  da  aus  er- 
geben  sich  Zusammenhänge  zwischen  Ästhetik  und  Ethik  und  auf 
jem  W  ege  kann  man  auch  zu  Normen  gelangen,  die,  ohne  das  Genie 
des  Künstlers  oder  (.las  ästhetische  Recht  des  individuellen  Geschmackes 
irgendwie  einzuschränken,  doch  eine  Skala  objektiver  ästhetischer 
Werte  aufzustellen  vermögen. 

Die  Ästhetik  ist  somit  Philosophie  des  Fühlcns  und  ihre  Aufgabe 
besteht  darin,  die  psychologischen,  die  soziologischen,  die  historischen 
und  schließlich  die  kosmischen  und  metaphysischen  Bedingungen  des 
ästhetischen  Verhaltens  zu  untersuchen. 

§  38.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Ästhetik 

Das  Wort  Ästhetik  im  Sinne  einer  Philosophie  des 
Schönen  wird  zum  erstenmal  von  Baumgarten  (1714—1762)  ge- 
braucht, der  durch  seine  1750 — 1758  erschienene  Ästhetik  eine  Lücke 
in  dem  \Y'o///schen  System  der  Philosophie  auszufüllen  suchte  und 
damit  die  Ästhetik  als  selbständige  philosophische  Disziplin  ge- 
schaffen hat. 

Das  Wort  selbst  (vom  griechischen  aisthänesthai  =  wahrnehmen) 
heißt  eigentlich  Lehre  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  in  dieser 
Bedeutung  gebraucht  es  noch  Kant,  der  einen  Teil  seiner  Kritik  der 
reinen  Vernunft,  eben  die  Lehre  von  der  Sinnlichkeit,  die  transzenden- 
tale Ästhetik  genannt  hat.  Bei  Baumgarten  ist  die  wörtliche  Bedeutung 
noch  insofern  wirksam,  als  dort  die  Schönheit  als  Vollkommenheit  der 
sinnlichen  Erkenntnis  bezeichnet  wird.  Kant  hat  den  von  Baumgarten 
eingeführten  Ausdruck  in  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft"  bereits  in 
dem  heute  üblichen  Sinne  verwendet,  so  daß  das  Wort  „Ästhetik"  bei 
ihm  zwei  ganz  verschiedene  Bedeutungen  hat.  In  seiner  Erkenntnislehre 
heißt  Ästhetik  die  Lehre  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  in 
seinem  Werke  über  die  Urteilskraft  wird  damit  die  Lehre  vom  Wohl- 
gefallen am  Schönen  bezeichnet. 

Wieder  in  anderem,  etwas  erweitertem  Sinne  wird  das  Wort  von 
Herbari  (1776—1841)  verwendet,  der  darunter  die  praktische  Philo- 
sophie überhaupt  versteht,  also  alles,  was  Werturteile  betrifft,  und  der  so 
die  Lehre  vom  Sittlichen  und  die  Lehre  vom  Schönen  unter  dem  Namen 
Ästhetik  zusammenfaßt.  Diese  Schwankungen  im  Wortgebrauche  haben 
aber  jetzt  aufgehört  und  man  versteht  heute  unter  Ästhetik  allgemein 
die  Philosophie  des  Schönen  und  der  Kunst. 

Während  also  der  Name  der  Ästhetik  erst  in  der  neueren  Zeit  ent- 
stand, hat  ihr  I  iegenstand,  das  Schöne  und  die  Kunst,  schon  ziemlich 
frühe  die  Aufmerksamkeit  der  Denker  auf  sich  gezogen.  Piaton  hat  den 
Begriff  des  Schönen  in  einem  eigenen  Dialoge  (Hippias  major)  er- 
örtert und  auch  sonst  viel  von  der  Idee  des  Schönen  gehandelt,  die  er 
in  engen  Zusammenhang  mit  der  Liebe  gebracht  hat.  Aristoteles  hat 
in  seiner  berühmten  Poetik  eine  Theorie  der  Dichtkunst,  insbesondere 


§  38.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Ästhetik  147 

der  Tragödie,  entworfen  und  Horaz  mit  mehrfacher  Benützung  des 
Aristoteles  seine  Epistel  über  die  Dichtkunst  verfaßt.  Der  Neu- 
platoniker  Plotin  hat  zwei  tief  angelegte  philosophische  Abhandlungen 
über  das  Schöne  hinterlassen,  die  heute  noch  ernste  Beachtung  ver- 
dienen. Gelegentliche  Beiträge  zur  Ästhetik  finden  sich  in  der  schola- 
stischen Philosophie,  aber  erst  das  achtzehnte  Jahrhundert  hat  mit  der 
reichen  Entwicklung  des  Gefühlslebens  auch  die  wissenschaftliche  Er- 
forschung des  Schönheitssinnes  gezeitigt. 

Der  Engländer  Shaftesbury  (1671—1713)  hat  durch  seine  ästhe- 
tische Moralphilosophie,  die  Schotten  Home  (1696 — 1782)  und  Burke 
(1728 — 1797)  haben  durch  ihre  psychologische  Ästhetik  sehr  viel  zur 
Kenntnis  der  betreffenden  Seelenvorgänge  beigetragen  und  auf  die 
deutschen  Denker  und  Dichter  mächtig  eingewirkt.  Unter  den  fran- 
zösischen Ästhetikern  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts 
hat  besonders  Dubos  in  seinen  „Reflexions  critiques"  (1719)  wertvolle 
Gedanken  ausgesprochen,  die  erst  in  neuester  Zeit  die  ihnen  gebührende 
Würdigung  erfuhren.  Dubos  findet,  daß  das  ästhetische  Genießen  des- 
halb lustvoll  ist,  weil  es  den  Geist  angenehm  beschäftigt.  Wir  kommen 
auf  diesen  sehr  wichtigen  und  fruchtbaren  Gedanken  in  unserer  eigenen 
Darstellung  des  ästhetischen  Verhaltens  zurück. 

Nachdem  dann  Winckelmann  an  der  antiken  Kunst  das  Schön- 
heitsideal zu  erforschen  sich  mühte,  Lessing  die  Aufgabe  der  Dicht- 
kunst von  der  der  bildenden  Künste  zu  sondern  suchte  und  Herder 
in  der  Tiefe  der  Volksseele  die  Urquelle  der  Poesie  entdeckt  zu  haben 
glaubte,  ging  Kant  daran,  in  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft"  die  Ästhe- 
tik wissenschaftlich  zu  begründen. 

Der  glückliche  Gedanke  Kants,  nicht  das  Schöne,  sondern  unsere 
Geschmacksurteile  zu  untersuchen,  und  die  ebenso  richtige  als  wich- 
tige Behauptung,  daß  das  Wohlgefallen  am  Schönen  ein  „uninter- 
essiertes", das  heißt  nicht  von  Begehrungen  begleitetes  sei,  geben  noch 
heute  der  philosophischen  Ästhetik  Inhalt  und  Richtung. 

Eine  kräftige  Weiterbildung  erfuhr  die  Kantsche  Ästhetik  durch 
Schiller.  Sein  Lieblingsgedanke  zwar,  dem  er  bereits  vor  seiner  Be- 
kanntschaft mit  Kant  in  dem  Gedichte  „Die  Künstler"  Ausdruck  ge- 
geben hatte,  wonach  der  Schönheitssinn  dem  Menschen  allein  eigen  und 
die  Quelle  der  Erkenntnis  und  Sittlichkeit  sowie  aller  Kultur  sei,  läßt 
sich  nicht  halten  und  muß  angesichts  der  modernen  Entwicklungs- 
lehre aufgegeben  werden.  Allein  die  Ableitung  der  Kunst  aus  dem 
Spieltrieb,  die  in  den  Briefen  über  „die  ästhetische  Erziehung  des  Men- 
schen" auseinandergesetzt  wird,  ist  einer  der  bedeutendsten  und  frucht- 
barsten Gedanken,  welche  die  Ästhetik  hervorgebracht  hat.  Erst  in 
der  jüngsten  Zeit  begann  man  die  Tragweite  dieses  Gedankens  zu 
würdigen  und  auf  Schillers  Grundlage  weiter  zu  bauen. 

Hegel,  Schelling  und  Schopenhauer  haben  sich  viel  mit  Ästhetik 
beschäftigt,  und  zwar  im  Sinne  einer  Metaphysik  des  Schönen  und  der 
Kunst.  Für  Hegel  ist  die  Kunst  die  niedrigste  Stufe,  in  der  sich  der 
absolute  Geist  objektiviert,  während  Religion  und  Philosophie  die 
höheren  bilden.  Diese  Stufen  haben  sich  historisch  im  Altertum, 
im   Mittelalter   und   in   der   Neuzeit  nacheinander   und   auseinander 

10* 


14S  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

entwickelt.  Das  Schöne,  besonders  das  Kunstschöne,  ist  nach  Hegel 
das  I  hirchscheinen  der  I  d  e  e  in  dem  Stoff  und  dieser  Gedanke  findet 
mehrfache  Weiterbildung.  In  Hellsehern  Geiste  sind  die  Bearbei- 
tungen der  Ästhetik  von  fr.  Vischer  und  Carriere  gehalten,  von  denen 
dieerstere  heute  noch  die  umfassendste  und  inhaltsreichste  Darstellung 
dieser  Disziplin  ist.  I  ur  Scheüing  ist  die  ganze  Schöpfung  ein  Kunst- 
werk, und  nach  Schopenhauer  bildet  die  Kunst  die  höchste  Errungen- 
schaft des  Menschengeistes,  weil  da  der  blinde  und  dumme  Lebenswille 
vollständig  überwunden  ist  und  der  reine  Intellekt  zum  Ausdruck  ge- 
langt. Als  die  höchste  Kunst  betrachtet  Schopenhauer  die  Musi  K\ 
welche  die  tiefsten  Aufschlüsse  über  das  ihr  Zugängliche  gibt. 

Gegenüber  dieser  auf  den  Inhalt  des  Dargestellten  gerichteten 
Ästhetik  glaubt  Herbart,  das  Wesen  des  Schönen  bestehe  nur  in  ge- 
wissen Formen  und  Verhältnissen.  Diese  Ästhetik  als  Form- 
wissenschaft  hat  der  Herbartianer  Robert  Zimmermann  ausgebildet, 
dem  wir  auch  die  erste  Geschichte  der  Ästhetik  verdanken. 

Während  die  bisher  betrachteten  Versuche  alle  den  spekulativen 
Weg  einschlagen,  betritt  O.  Th.  Fechner  in  seiner  1876  erschienenen 
„Vorschule  der  Ästhetik"  neue  Bahnen.  An  Stelle  der  früheren  Ästhe- 
tik von  Oben  will  er  eine  Ästhetik  von  Unten  setzen  und 
auf  empirischem  und  experimentellem  Wege  zu  Gesetzen  des  ästhe- 
tischen Wohlgefallens  gelangen.  Die  ausgedehnten  Versuche  und  die 
eindringende  psychologische  Analyse  Fechners  haben  viele  wertvolle 
Resultate  zutage  gefördert  und  noch  mehr  Anregungen  gegeben.  Ins- 
besondere ist  Fechners  Unterscheidung  des  direkten  und  des 
»soziativen  Faktors  in  der  ästhetischen  Beurteilung  eine  wert- 
volle Entdeckung.  Gewisse  Sinneseindrücke,  wie  einfache  gesättigte 
Farben  oder  Farbenkombinationen,  Töne  und  Klänge,  sowie  gewisse 
Formen  und  Gestalten  bewirken  ein  direktes  oder  elementares  Wohl- 
gefallen. Dagegen  wirken  größere  Gemälde,  Statuen  und  namentlich 
I  Achtungen  erst  durch  die  assoziativ  erweckten  Vorstellungen  und  Ge- 
fühle ästhetisch. 

In  Fechners  Geiste  wird  nun  durch  Experiment  und  Analyse  emsig 
weitergearbeitet  an  der  Erforschung  der  Gesetze  des  künstlerischen 
Schattens  und  des  ästhetischen  Genießens. 

Über  die  Ergebnisse  und  Aufgaben  der  experimentellen  Ästhetik 
hat  Oswald  Külpe  auf  dem  Würzburger  Psychologenkongreß  ein  licht- 
volles und  sehr  belehrendes  Referat  erstattet,  das  im  Berichte  dieses 
Kongresses  veröffentlicht  ist.  Die  Analyse  des  ästhetischen  Genießens 
ist  in  den  letzten  Jahren  besonders  durch  Theodor  Lipps,  Konrad 
Lange,  Johannes  Volke/t  und  Hugo  Spitzer  sehr  gefördert  worden. 
Max  Dessoir  hat  durch  Begründung  einer  eigenen  Zeitschrift  für  Ästhe- 
tik ein  Zentralorgan  geschaffen,  das  viele  wertvolle  Beiträge  enthält. 
\ls  besonders  anregende  neue  Gesichtspunkte  sind  dabei  der  von 
Lipps  eingeführte  Begriff  der  „Einfühlung"  und  die  „bewußte  Selbst- 
illusion"  von  Konrad  Lange  zu  bezeichnen.  Lipps  geht  von  der 
Voraussetzung  aus,  daß  jedes  ästhetische  Objekt  ein  Lebendiges  dar- 
stellt, und  nennt  den  Seclenzustand,  den  wir  erleben,  wenn  wir  uns  in 
das    Leben   des   ästhetischen    Objekts   hineinversetzen,   „Einfühlung". 


§  38.  Entwicklung  und  Richtungen  der  Ästhetik  141) 

Lipps  findet  die  Einfühlung  schon  in  der  Auffassung  einfacher  geo- 
metrischer Ornamente  sowie  auch  in  der  Betrachtung  der  Natur  und 
führt  dieses  Prinzip  konsequent  und  sehr  anregend  bei  allen  Künsten 
durch.  Konrad  Lange  sieht  wieder  das  Hauptmerkmal  des  ästhetischen 
Genießens  darin,  daß  wir  beim  Betrachten  der  Kunstwerke  eine  be- 
wußte Selbsttäuschung  erleben.  Wir  vergessen  nie,  daß  wir  nur  eine 
Darstellung,  nicht  das  Objekt  selbst  vor  uns  haben.  Jedes  Kunstwerk 
hat  illusionsfördernde  und  illusionsstörende  Elemente,  und  in  diesem 
Wechsel  von  Schein  und  Wirklichkeit  besteht  nach  ihm  der  ästhetische 
Genuß.  Bei  der  im  Flusse  befindlichen  Bewegung  ist  es  nicht  möglich, 
das  sicher  Erkannte  von  dem  bloß  Vermuteten  genau  zu  unterscheiden. 
Es  sollen  daher  nur  die  Richtungen  und  Tendenzen  der  modernen 
Ästhetik  kurz  angedeutet  werden. 

Die  spekulative  Ästhetik  ist  noch  nicht  so  ganz  überwunden  wie 
die  spekulative  Psychologie  (vgl.  oben  S.  18  f.  und  S.  28  f.),  allein  auch 
hier  wendet  sich  das  Hauptinteresse  der  erfahrungsmäßigen  Behand- 
lungsweise  zu.  Die  empirische  Ästhetik  teilt  sich  in  eine  nor- 
mative oder  technische  und  in  eine  beschreibende  oder  ana- 
lytische. 

Die  normative  Ästhetik  stellt  Regeln  für  den  Künstler  und 
Normen  für  den  Beurteiler  auf.  Die  Regeln  für  den  Künstler  betreffen 
meist  das  Handwerksmäßige  der  Kunst  und  das  nennt  man  speziell 
die  Technik.  Diese  ist  bei  den  einzelnen  Künsten  verschieden  und 
auch  von  verschiedener  Bedeutung. 

Die  bildenden  Künste,  wie  Baukunst,  Malerei  und  Bildhauerkunst, 
erfordern  zu  ihrer  Ausübung  ein  großes  Maß  wissenschaftlicher  Vor- 
bildung und  technischer  Ausbildung.  Ihre  Technik  muß  erlernt  werden, 
ehe  die  künstlerische  Aufgabe  beginnt.  Bei  der  Schwierigkeit  dieser 
Technik  kommt  es  nur  allzuleicht  vor,  daß  das  technisch  Korrekte  auch 
schon  für  künstlerisch  gilt.  Die  Technik  ist  also  hier  von  großer  Bedeu- 
tung und  wird  leicht  überschätzt. 

Die  Technik  der  Tonkunst  erfordert  ebenfalls  gründliches  und 
mitunter  schweres  Studium,  allein  trotzdem  wird  hier  auf  das  speziell 
Künstlerische  mehr  Gewicht  gelegt  und  viel  genauer  zwischen  dem 
technisch  Korrekten  und  dem  musikalisch  Bedeutenden  unterschieden. 

In  der  Dichtkunst  endlich  spielt  die  Technik  eine  geradezu  unter- 
geordnete Rolle.  Ihr  Organ,  die  Sprache,  wird  von  jedem  gehandhabt 
und  höchstens  in  der  dramatischen  Kunst  kommt  es  auf  eine  gewisse 
Kenntnis  der  Bühnenverhältnisse  an.  Hier  ist  niemals  die  geschickte 
Technik  allein  ausreichend,  einen  künstlerischen  Erfolg  zu  erringen, 
wenn  sich  auch  nicht  leugnen  läßt,  daß  man  mit  ein  wenig  Bühnen- 
gewandtheit ein  brauchbares  Theaterstück  zustande  bringen  kann. 

Die  technische  Ästhetik  ist  somit  bei  den  bildenden  Künsten  und 
der  Musik  von  großer,  bei  der  Dichtkunst  von  geringerer  Bedeutung. 
Immer  aber  bleibt  sie  vor  dem  Kern  der  ästhetischen  Fragen  stehen, 
sie  hat  es  mehr  mit  den  Außenwerken,  nicht  mit  dem  Innern  des  Kunst- 
werkes zu  tun. 

Die  beschreibende  oder  analytische  Ästhetik  sucht  hingegen 
in  diesen  Kern  möglichst  tief  einzudringen.  Sie  bemüht  sich,  die  Be- 


150  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

dingungen,  unter  denen  ein  Kunstwerk  entsteht  und  wirkt,  in  der  Seele 
des  Künstlers,  in  dem  Kulturzustande,  in  der  Geschmacksrichtung 
seiner  Zeil  nach  allen  Seiten  bloßzulegen.  Auf  diese  Weise  löst  sich  die 
Ästhetik  vielfach  au!  in  Psychologie  und  Geschichte.  In  der 
lat  ist  es  auch  die  Vereinigung  der  psychologischen  und  der  histo- 
rischen  Methode,  welche  am  sichersten  zum  vollen  Verständnis  eines 
Kunstwerkes  fährt. 

Neben  diesen  Unterschieden  in  bezug  auf  die  Methode  und  das 
Ziel  der  Ästhetik  machen  sich  in  neuerer  Zeit  ästhetische  Richtungen 
bemerkbar,  che  in  ihrer  Auffassung  von  der  Aufgabe  der  Kunst  von- 
einander abweichen.  Wir  meinen  den  Idealismus  und  den  ihm  ent- 
uengeset/ten   Realismus  oder  Naturalismus. 

Der  ästhetische  Idealismus  sieht  den  Zweck  der  Kunst  darin, 
uns  in  eine  höhere  Sphäre  „reinerer  Wirklichkeit"  zu  erheben  und 
durch  Darstellung  ergreifender  Menschenschicksale  das  tiefere  Wesen 
der  Menschennatur  zu  enthüllen,  so  daß  wir  uns  erhoben  und  gereinigt 
und  zugleich  neu  gestärkt  fühlen  für  die  Aufgaben  des  Tages.  Dem- 
zufolge muß  alles  Schmutzige,  alles  Gemeine,  ja  alles  Alltägliche  aus 
der  künstlerischen  Darstellung  eliminiert  werden. 

Demgegenüber  behauptet  der  Naturalismus,  die  Kunst 
müsse  uns  die  Welt  zeigen,  wie  sie  ist.  Nur  die  genaueste  und  gewissen- 
hafteste Treue  der  Darstellung  sei  eines  Künstlers  würdig.  Wenn  da 
nun  vieles  häßlich  und  abstoßend  erscheint,  so  will  er  gerade  dadurch 
am  tiefsten  ergreifen  und  erschüttern.  Der  Naturalismus  hat  nicht  nur 
hervorragende  Werke  hervorgebracht,  sondern  auch  seine  Theorie  mit 
viel  Kraft  und  Geschicklichkeit  verteidigt. 

In  den  letzten  Jahren  sind  einige  neue  Richtungen  entstanden,  die 
eine  Art  Synthese  von  Naturalismus  und  Idealismus  anstreben,  aber 
noch  nicht  erreicht  haben.  Der  Symbolismus  in  der  Malerei  und 
in  der  Dichtung  geht  über  das  rein  Gegenständliche  in  der  Darstellung 
hinaus  und  will  in  Gestalten  und  Worte  etwas  Geheimnisvolles  hinein- 
legen, das  aber  meist  nur  dem  Kreise  der  Eingeweihten  verständlich 
wird.  Der  Impressionismus  will  den  momentanen  Eindruck  des 
Künstlers  möglichst  rein  und  vollständig  wiedergeben,  wird  aber  da- 
bei oft  verworren  und  unklar.  In  den  letzten  Jahren  sind  unter  verschie- 
denen Namen  neue  Strömungen  zutage  getreten,  die  besonders  durch 
stelle  Darstellungen  zu  wirken  versuchen.  Dazu  gehört  der 
sogenannte  „Expressionismus"  und  verwandte  Richtungen. 
Die  starke  Verbreitung  und  die  große  Anziehungskraft  des  Kinos 
scheint  auf  eine  Verrohung  des  künstlerischen  Geschmackes  hinzu- 
deuten, die  vielleicht  eine  der  traurigen  Wirkungen  des  Weltkrieges  ist. 
1  )aneben  bemerkt  man  allerdings  auch  eine  Art  von  Neuromantik, 
die  das  I  eben  künstlerisch  zu  gestalten  und  zu  vertiefen  bemüht  ist. 

Die  Stellungnahme  gegenüber  diesen  Richtungen  ist  mit  wissen- 
schaftlicher Überzeugung  unserer  Ansicht  nach  nur  dann  möglich, 
wenn  man  die  Ästhetik  auf  genetische  und  biologische 
I  irundlage  stellt  und  das  Schöne  und  die  Kunst  in  ihren  Ursprüngen 
und  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Lebenserhaltung  zu  erkennen  sucht. 
Die  Grundzüge  einer  solchen  Ästhetik  sollen  nun  hier  skizziert  werden. 


§39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  151 

§  39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik 

Kant  hat  uns  gelehrt,  daß  wir  im  ästhetischen  Urteil  „die  Vor- 
stellung nicht  durch  den  Verstand  auf  das  Objekt",  sondern  „auf  das 
Subjekt  und  das  Gefühl  der  Lust  und  Unlust"  beziehen.  Das  Ge- 
schmacksurteil, sagt  er,  ist  kein  Erkenntnisurteil,  es  wird  dadurch 
nichts  am  Objekt  bezeichnet,  sondern  in  ihm  fühlt  sich  das  Subjekt 
selbst,  wie  es  durch  die  Vorstellung  affiziert  wird. 

Das  Wohlgefallen  am  Schönen  unterscheidet  sich  aber  nach  Kant 
von  der  Lust  am  Angenehmen  und  von  der  Freude  am  Guten.  Das 
Angenehme  sowohl  als  das  Sittlich-Gute  beeinflussen  das  Begehrungs- 
vermögen, während  das  Wohlgefallen  am  Schönen  ein  „uninter- 
essiertes" Wohlgefallen  oder,  wie  wir  auch  sagen  können,  ein  reines 
Fühlen  ist.  Kant  hat  durch  seine  Untersuchung  eine  Umgestaltung, 
und  zwar  eine  Verinnerlichung  der  Ästhetik  vollzogen.  Er  hat  uns,  wie 
es  scheint,  endgültig  bewiesen,  daß  es  das  zentrale  Problem  der  Ästhe- 
tik sein  muß,  in  das  Wesen  des  ästhetischen  Genießens  so 
tief  als  möglich  einzudringen. 

Schiller  hat  darin  einen  mächtigen  Schritt  nach  vorwärts  getan, 
indem  er,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  zur  Erklärung  des  ästhetischen 
Genießens  die  Analogie  des  S  p  i  e  1  e  n  s  heranzog.  Das  Spiel  ist  nach 
Schillers  Meinung  die  Betätigung  der  überschüssigen  Kräfte,  das  heißt 
derjenigen,  die  bei  der  Herbeischaffung  der  Notdurft  des  Lebens  nicht 
zur  Verwendung  gelangen.  In  demselben  Sinne  hat  ^Herbert  Spencer 
das  Spiel  aufgefaßt,  während  Lazarus,  der  mehr  die  Spiele  der  Er- 
wachsenen im  Auge  hatte,  das  Spiel  aus  dem  Erholungsbedürfnis  er- 
klärte. Karl  Oroos  hingegen,  der  die  Spiele  der  jungen  Tiere  und  der 
Kinder  eingehend  untersucht  hat,  sieht  im  Spiel  eine  Vorübung  für 
das  Leben. 

Alle  diese  Auffassungen  des  Spieles  lassen  sich  vereinigen  und 
ästhetisch  verwerten,  wenn  man  sich  daran  erinnert,  daß  beim  Spiel 
die  Freude  aus  der  Tätigkeit  selbst  fließt,  nicht  aber  aus  einem  durch 
diese  Tätigkeit  zu  erreichenden  Ziele.  Bei  jeder  ernsten  Arbeit,  die  wir 
unternehmen,  schwebt  uns  ein  Zweck  vor,  den  wir  erreichen,  eine  Lei- 
stung, die  wir  vollbringen  wollen.  Die  Vorstellung  dieses  Zweckes  ist 
es,  die  uns  spornt  und  treibt,  das  fest  im  Auge  behaltene  Ziel  ist  es, 
das  uns  über  Schwierigkeiten  hinweghilft  und  Unannehmlichkeiten  er- 
tragen läßt,  wie  sie  ja  mit  jeder  Arbeit  verbunden  sind.  Das  Spiel  hin- 
gegen macht  uns  lediglich  deshalb  Freude,  weil  es  uns  angenehm  be- 
schäftigt. Diese  aus  der  Betätigung  der  physischen  und  psychischen 
Kräfte  fließende  Lust  am  Spiel  ist  nur  ein  Spezialfall  eines  allgemein 
biologisch-psychologischen  Gesetzes,  das  bis  jetzt  noch  wenig  Beach- 
tung gefunden  hat. 

Alle  Organe  und  Funktionen,  die  sich  im  psychophysischen  Or- 
ganismus des  Menschen  im  Laufe  der  Zeit  herausgebildet  haben,  ver- 
langen in  gewissem  Sinne  nach  Betätigung.  Diese  Betätigung  ist,  o  b- 
j  e  k  t  i  v  betrachtet,  ein  Erfordernis,  das  heißt  eine  Bedingung 
der  Erhaltung  und  Entwicklung  des  menschlichen  Organismus.  Sie  ist 


152  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

deshalb  ein  Erfordernis,  weil  Organe  und  Funktionen,  die  keine  Ge- 
ilheit zur  Betätigung  finden,  der  Gefahr  des  Verkümmerns 
unterliegen.  <  iliedmaßen,  che  lange  nicht  bewegt  wurden,  werden  steif 
und,  wenn  die  Funktionshemmung  länger  anhält,  sogar  für  die  Dauer 
unbeweglich.  Kinder,  die  im  dritten  oder  vierten  Jahre  taub  werden, 
verlernen  in  der  Regel  auch  das  Sprechen,  weil  die  Funktion  jetzt  nicht 
mehr  durch  das  Sprechenhören  angeregt  wird.  Dieses  Erfordernis 
nach  Betätigung  der  einzelnen  Funktionen  reflektiert  sich  nun,  wie  dies 
auch  bei  anderen  Erfordernissen  der  Fall  ist,  im  Bewußtsein  und  so 
entsteht  eine  Reihe  von  subjektiv  gefühlten  B  e  d  ü  r  f  n  i  s  s  e  n,  die  wir 
I   unktionsbedürfnisse  nennen  wollen. 

Nun  ist  jedes  Bedürfnis  zu  der  Zeit,  wo  es  aktuell  wird,  ein  Un- 
lustgeffihl,  das  mit  bestimmten  Vorstellungen  verbunden  ist  und  uns 
zu  Maßnahmen  veranlaßt,  die  so  lange  fortgesetzt  werden,  bis  das  Un- 
lustgefühl  verschwindet.  So  treibt  uns  der  Hunger  oder  das  Nahrungs- 
bedürfnis  dazu,  uns  auf  irgendeine  Weise  Nahrung  zu  verschaffen, 
wodurch  dann  das  Unlustgefühl  des  Hungers  beseitigt  wird  und  das 
lustvolle  Gefühl  der  Sättigung  eintritt.  Ebenso  ist  jede  längere  Hem- 
mung einer  zum  Leben  notwendigen  Funktion  mit  Unlust  verbun- 
den, während  die  kraftvolle  Ausübung  der  betreffenden  Funktion  uns 
Lust  bereitet. 

So  fühlen  wir  z.  B.,  wenn  wir  lange  gesessen  sind,  das  Bedürfnis 
nach  Bewegung,  und  in  einem  solchen  Falle  macht  uns  das  kräftige 
Ausschreiten  an  sich  Freude.  Eine  derartige  Funktionslust  ist  gar  nicht 
mit  Begehrungen  verbunden,  sondern  bedeutet  für  uns  nur  eine  För- 
derung und  Erhöhung  des  ganzen  Lebensprozesses.  Das  tritt  nun 
beim  Spiel  der  Kinder  deutlich  zutage.  Die  Freude  am  Spiel  ist  eben 
gar  nichts  anderes  als  ein  Lustgefühl,  das  aus  der  Befriedigung  von 
Funktionsbedürfnissen  entspringt. 

Dasselbe  gilt  aber  auch  vom  ästhetischen  Genießen.  D  a  s  ä  s  t  h  e- 
tische  Genießen  ist  als  eine  Art  von  Funktions- 
lust aufzufassen,  das  heißt  als  die  Freude,  die  aus  der  Betätigung 
verschiedener  psychischer  Funktionen  hervorgeht  *).  Deshalb  bleibt 
diese  Lust,  wie  Kant  so  überaus  glücklich  und  treffend  bemerkt  hat, 
ohne  Einfluß  auf  das  Begehrungsvermögen  und  aus  demselben  Grunde 
ist  das  ästhetische  Genießen  dem  Spiele  so  nah  verwandt.  Diese 
Wesensverwandtschaft  darf  aber  keineswegs  als  Identität  betrachtet 
werden.  Die  Funktionslust,  die  wir  beim  Spiele  erleben,  ist  zwar  ähn- 
lich dem  ästhetischen  Genuß,  aber  sie  ist  nicht  dasselbe.  Das  ästhe- 
tische Genießen  tritt  in  seinen  höheren  Entwicklungsformen  mit  solchen 
seelischen  Funktionen  in  Verbindung,  die  beim  Spiel  fast  gar  nicht  zur 
Betätigung  gelangen. 

Die  ästhetische  Funktionslust  ist  eben  dadurch  charakterisiert,  daß 
sie  durch  Betrachtung  von  Objekten  und  Vorgängen 
ausgelöst  wird.  Dabei  verstehen  wir  unter  Betrachtung  nicht  nur  das 
Anschauen  und  das  Anhören,  wie  wir  es  bei  Werken  der  bildenden 


'i  Einen  ähnlichen  Gedanken  hat  bereits  der  französische  Ästhetiker  Dubos 
ausgesprochen.  (S.  oben  S.  164.) 


§39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  j  53 

Kunst,  bei  musikalischen  Kompositionen  oder  im  Theater  üben  und  er- 
leben, sondern  auch  die  Seelenzustände  beim  Lesen  von  Dichtungen. 
Eine  solche  Betrachtung  von  Gegenständen  der  Kunst  oder  auch  der 
Natur  ist  nun  geeignet,  die  verschiedensten  Funktionen  unserer  Seele 
zur  Betätigung  zu  bringen.  Es  werden  dadurch,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  unsere  Sinnesfunktionen  angenehm  beschäftigt,  es 
wird  unsere  Phantasie  angeregt,  unser  Denken  und  Fühlen 
in  Tätigkeit  gesetzt.  Alles  das  bleibt  aber  in  Beziehung  zu  dem  be- 
trachteten Objekt  und  dadurch  erhält  die  ausgelöste  Funktionslust  ihre 
Richtung  und  ihre  Färbung. 

Das  ästhetische  Genießen  ist  demnach  eine  besondere  Art 
von  Funktionslust,  die  durch  Betrachtu  n  g  hervor- 
gerufen wird. 

Schon  die  Sinneswahrnehmungen,  insbesondere  die  des  Gesichtes 
und  Gehörs,  aber  unter  Umständen  auch  die  des  Tastsinnes,  sind  häufig 
mit  elementaren  ästhetischen  Gefühlen  verbunden.  Einfache  Farben, 
noch  mehr  aber  Farbenkombinationen  und  kompliziertere  Lichtwir- 
kungen, wie  sie  etwa  der  Regenbogen  oder  der  gestirnte  Nachthimmel 
bieten,  erwecken  ästhetisches  Wohlgefallen.  Noch  reicher  und  mannig- 
faltiger sind  die  ästhetischen  Gefühle,  die  durch  geometrische  Orna- 
mente und  durch  Gestalten  hervorgerufen  werden.  Die  Ausübung  der 
Funktion  des  Sehens  ist  in  diesen  Fällen  besonders  lustvoll,  wir  suchen 
aber  die  Quelle  der  Freude  nicht  in  uns,  sondern  im  Objekte,  das  zu 
dieser  lustvollen  Ausübung  Anlaß  gibt,  und  bezeichnen  dieses  Objekt 
als  schön.  Die  Quelle  solcher  ästhetischer  Urteile,  insofern  diese 
selbständig  gefällt  und  nicht  etwa  gedankenlos  nachgesprochen  wer- 
den, ist  jedoch  immer  nur  die  tatsächlich  erlebte  Funktionslust.  Die 
objektiv  vorhandenen  Eigenschaften  des  Gegenstandes  sind  immer  nur 
mittelbare  Ursachen  des  ästhetischen  Urteils.  Das  beweist  deut- 
lich die  Tatsache  der  Abstumpfung.  Ein  Objekt,  das  uns  beim  ersten 
und  zweiten  Betrachten  als  schön  erschien,  wird  gleichgültig,  wenn 
wir  es  täglich  und  stündlich  um  uns  haben.  Das  Objekt  hat  sich  nicht 
geändert,  allein  unsere  Funktionslust  hat  sich  abgestumpft. 

Unter  den  Gehörswahrnehmungen  sind  es  zunächst  einfache  Töne, 
besonders  aber  rhythmisch  geordnete  Reihen  von  Tönen  und  Ge- 
räuschen, die  elementare  ästhetische  Wirkungen  auslösen.  Das  Wohl- 
gefallen an  Melodien  und  an  symphonischen  Tonwerken  beruht  hin- 
gegen auf  der  Befriedigung  höherer  und  mannigfaltigerer  Funktions- 
bedürfnisse. Rhythmische  Tonreihen  regen  uns  vielfach  zur  Ausfüh- 
rung rhythmischer  Bewegungen  an  und  da  ist  es  ganz  deutlich  die 
Funktionslust,  die  das  ästhetische  Wohlgefallen  hervorbringt.  In  ähn- 
licher Weise  zeigt  sich  dies  bei  der  ästhetischen  Wirkung  von  Tast- 
wahrnehmungen, wie  dies  in  neuester  Zeit  an  Taub-Blinden  be- 
obachtet wurde*).  Sie  finden  an  der  Betastung  solcher  Gegenstände 
Gefallen,  die  Anlaß  zur  Ausführung  angenehmer  und  rhythmisch  ge- 
ordneter Tastbewegungen  geben. 


*)  Vgl.  oben  S.  22. 


154 


Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 


Elementare  ästhetische  Gefühle  entstehen  also  auf  die  Weise,  daß 
durch  die  Wahrnehmungen,  die  wir  erleben,  unser  sensuelles 
I  unktionsbedürfnisin  angenehmer  und  in  hinreichend  inten- 
siver Weise  befriedigt  wird. 

I  Ingleich  mannigfaltiger  und  reicher  entwickelt  sich  jedoch  das 
ästhetische  Genießen,  wenn  die  auf  uns  wirkenden  Gegenstände  nicht 
nur  unsere  Sinne,  sondern  auch  unser  Vorstellen  und  Denken  angenehm 
beschäftigen.  1  in  Werk  der  Malerei  oder  Skulptur,  dessen  Gestalten 
wir  verstehen  und  zu  deuten  vermögen,  bietet  uns  stärkeren  und  nach- 
haltigeren Genuß.  In  je  höherem  Grade  die  dargestellten  Gegenstände 
und  Vorgänge  unsere  Erinnerungs-  und  Phantasietätigkeit  anregen, 
je  mehr  sie  uns  zu  denken  geben,  desto  intensiver,  desto  reicher  wird 
der  ästhetische  Genuß  und  desto  schwerer  stumpft  er  sich  ab.  Diese 
ästhetisch  wirkende  Befriedigung  unseres  intellektuellen 
Funktionsbedürfnisses  erleben  wir  in  besonders  deutlicher 
Weise  bei  Werken  der  Dichtkunst.  Die  Worte  des  Dichters  bedeuten  als 
sinnliche  Wahrnehmungen  so  gut  wie  gar  nichts  und  wirken  nur  durch 
die  Vorstellungen,  Gedanken  und  Gefühle,  die  durch  sie  in  uns  an- 
geregt werden.  Die  sogenannte  Anschaulichkeit  mancher  Dichtungen 
ist  natürlich  nicht  durch  die  Sinne,  sondern  durch  die  Phantasie  her- 
vorgerufen. Grill parzer  hat  sehr  treffend  gesagt  (XV,  43  der  Sauer- 
schen  Ausgabe),  daß  die  Versinnlichung  in  der  Poesie  nicht  von  außen 
hinein-,  sondern  von  innen  herausgeht.  Wenn  es  uns  nun  gelingt,  dem 
Dichter  leicht  zu  folgen,  wenn  wir  verstehen,  was  er  meint,  wenn  unsere 
Phantasie  durch  ihn  angeregt  wird,  so  ist  schon  das  allein  ausreichend, 
um  uns  einen  hohen  ästhetischen  Genuß  zu  verschaffen. 

„Es  lockt  uns  nach  und  nach,  wir  hören  zu, 
Wir  hören  und  wir  glauben  zu  verstelm. 
Was  wir  verstehn,  das  können  wir  nicht  tadeln 
Und  so  gewinnt  uns  dieses  Lied  zuletzt." 

Schillers  philosophische  Lyrik,  schwierige  Stellen  in  Goethes 
Faust  wirken  erst  dann  ästhetisch,  wenn  es  uns  gelungen  ist,  den  Ge- 
danken des  Dichters  zu  erfassen,  in  uns  nachzuerzeugen  und  weiter 
zu  entwickeln.  Solange  das  nicht  der  Fall  ist,  wird  unser  intellektuelles 
Funktionsbedürfnis  gehemmt  und  die  ästhetische  Wirkung  bleibt  aus. 
Dieselbe  Flemmung  erleben  wir  oft  bei  Gemälden  moderner  Künstler, 
wenn  es  uns  nicht  gelingen  will,  in  dem  Meere  von  Farben  und  Figuren 
den  Plan  der  Komposition  zu  entdecken  und  den  Sinn  des  Ganzen  zu 
enträtseln.  Unser  sensuelles  Funktionsbedürfnis  wird  durch  solche 
Kunstwerke  oft  in  hohem  Maße  befriedigt,  aber  die  damit  verbundene 
I  lemmung  der  intellektuellen  Funktionslust  läßt  eine  nachhaltige  ästhe- 
tische Wirkung  nicht  aufkommen. 

Dagegen  wirkt  die  Betrachtung  großer  Fabriksanlagen,  Ma- 
schinen, sinnreicher  Erfindungen  und  anderer  Meisterwerke  der  Tech- 
nik in  hohem  Grade  ästhetisch,  obwohl  diese  Dinge  ja  zunächst  nur 
praktischen  /wecken  dienen.  Josef  Popper  hat  jedoch  sehr  treffend  dar- 
aui  hingewiesen,  daß  unsere  Freude  an  dem  Verstehen  so  sinnreicher 


§39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  155 

Einrichtungen  und  der   Einblick  in  die  zusammenstimmende  Zweck- 
mäßigkeit dem  ästhetischen  Genießen  ganz  nahe  verwandt  ist. 

Der  intellektuellen  Funktionslust  ähnlich,  aber  doch  nicht  ganz 
mit  ihr  identisch,  ist  die  Freude  an  unserer  eigenen  Phantasie- 
tätigkeit, die  durch  anschauliche  Schilderung  von  Begebenheiten 
und  Objekten  in  uns  ausgelöst  wird.  Beim  Lesen  der  Homerschen  Ge- 
dichte sehen  wir  die  Gestalten  des  Achill,  des  Agamemnon,  des  Odys- 
seus,  der  Nausikaa,  Hektors  und  Andromaches  mit  unserem  inneren 
Auge  leibhaftig  vor  uns  stehen.  Grill parzer  verlangt  diese  Anschaulich- 
keit vom  Dichter  und  tadelt  es  sehr,  wenn  sie  fehlt.  Diese  Freude  am 
inneren  Anschauen  der  durch  den  Dichter  hervorgezauberten  Gestalten 
wollen  wir  als  imaginative  Funktionslust  bezeichnen. 

Auch  elegante  Lösungen  mathematischer  Aufgaben  bieten,  wie 
die  französische  Mathematikerin  Sophie  Germain  * )  sehr  schön  aus- 
geführt hat,  ästhetischen  Genuß.  In  beiden  Fällen  ist  es  lediglich  die 
intellektuelle  Funktionslust,  auf  der  die  ästhetische  Wirkung  beruht. 
Diese  intellektuelle  Funktionslust  ist  der  Inhalt  der  psychischen  Erleb- 
nisse, die  wir  im  gewöhnichen  Leben  theoretisches  Interesse  zu 
nennen  pflegen.  Was  unseren  Intellekt  angenehm  beschäftigt,  das 
interessiert  uns,  das  finden  wir  interessant. 

Die  bisher  betrachtete  sensuelle,  intellektuelle  und  imaginative 
Funktionslust  hat  uns  jedoch  erst  die  Anfänge  des  ästhetischen  Ge- 
nießens,  gewissermaßen  die  Außenwerke  kennen  gelehrt.  In  das  innerste 
Wesen  der  Freude  am  Schönen  in  der  Kunst  und  in  der  Natur  dringen 
wir  erst  dann,  wenn  wir  uns  erinnern,  daß  auch  das  Fühlen  eine 
Grundfunktion  des  Bewußtseins  ist,  die  nach  Betätigung  verlangt.  Wir 
haben  tatsächlich  ein  Bedürfnis  nach  Gemütserregung,  und  die  Befriedi- 
gung dieses  Bedürfnisses  ist  oft  im  höchsten  Grade  lustvoll.  Wir  wollen 
dieses  Bedürfnis  mit  Anlehnung  an  das  englische  Wort  für  Gefühl 
(emotion)  das  emotionale  Funktionsbedürfnis  nennen. 
Der  Bauer,  der  die  ganze  Woche  hinter  dem  Pfluge  einhergeht,  will 
am  Sonntag  im  Wirtshaus  eine  Rauferei  haben.  Sein  Blut  kommt  dabei 
in  Wallung  und  die  damit  verbundene  Erregung  empfindet  er  als  sehr 
wohltuend.  Der  römische  Stadtpöbel  verlangte  bekanntlich  von  den 
Kaisern  Brot  und  Gladiatorenspiele  (panem  et  circenses).  Das  Brot 
für  seinen  Hunger  und  die  Spiele  für  sein  emotionales  Funktionsbedürf- 
nis. Das  tiefsinnige  Märchen  vom  Hans,  der  das  Gruseln  lernen  wollte, 
zeigt  deutlich,  daß  schon  die  vorwissenschaftliche  Psychologie  auf  das 
tatsächliche  Vorhandensein  dieses  Bedürfnisses  aufmerksam  wurde. 

Die  emotionale  Funktionslust  greift  vermöge  der  zentralen  Natur 
alles  Fühlens  viel  tiefer  in  das  Seelenleben  ein  als  die  sensuelle  und 
intellektuelle.  Die  Erregung  breitet  sich  hier  viel  mehr  aus,  dringt  viel 
tiefer  und  löst  deshalb  oft  Wirkungen  aus,  die  den  ganzen  Organismus 
erschüttern  und  bisweilen  dauernd  verändern.  Hier  ist  die  Quelle  jener 
psychischen  Dispositionen  zu  suchen,  die  wir  Leidenschaften 


*)   Vgl.    über   diese   tiefe  Denkerin  Jerusalem,   „Gedanken    und    Denker",. 
S.  94  ff. 


l5o  Weg«  und  Ziele  der  Ästhetik 

nennen,  die  ofl  verzehrend  wirken,  aber  auch  wahrhaft  Großes  zu- 
stande  bringen. 

Was  die  sensuelle  I  unktionslust  auslöst,  das  erscheint  uns  an- 
g  e  n  e  h  in  oder  gefällig,  was  den  Verstand  angenehm  beschäftigt, 
das  linden  wir  interessant.  Für  die  Vorgänge  aber  und  für  die 
»chäftigungen,  die  von  emotionaler  Funktionslust  begleitet  sind,  hat 
die  Sprache  die  Ausdrücke  Reiz,  reizend  und  reizvoll  ge- 
bildet. Hohes  Hazardspiel  und  gefahrvolle  Bergtouren  üben  auf  viele 
Menschen  einen  großen  Reiz  aus,  weil  die  damit  verbundene  Erregung 
emotionale  1  unktionslust  hervorbringt. 

Wenn  nun  die  Betrachtung  eines  Kunstwerkes  in  uns  nicht  nur 
die  .sensuelle,  die  imaginative  und  intellektuelle,  sondern  auch  die  emo- 
tionale Funktionslust  auszulösen  vermag,  so  wird  es  zur  Quelle  des 
reichsten  und  des  intensivsten  ästhetischen  Genießens.  Wir  versuchen 
dies  zunächst  an  einem  Beispiel  zu  erläutern  und  wählen  das  allgemein 
bekannte  Gedicht  Schillers  „Der  Taucher".  Die  spannende  Erzählung 
beschäftigt  unser  Vorstellen  und  Denken  und  erregt  so  unsere  intellek- 
tuelle Funktionslust.  Schon  dadurch  wirkt  das  Gedicht  ästhetisch.  Die 
tiefere  und  intensivere  Wirkung  stellt  sich  aber  erst  ein,  wenn  wir  an 
dem  Schicksal  des  kühnen  Jünglings  Anteil  nehmen,  wenn  wir  mit  ihm 
in  den  Wasserstrudel  hinabtauchen,  alle  Angst  mit  ihm  durchleben 
und  uns  mit  ihm  freuen,  wenn  er  glücklich  wieder  heraufkommt.  Mit 
wachsendem  Anteil  lauschen  wir  seiner  Erzählung  von  den  Un- 
geheuern der  Tiefe,  sind  dann  empört  über  das  grausame  Spiel  des 
Königs,  der  ihn  zum  zweitenmal  hineintreibt,  wir  fühlen  warme  Teil- 
nahme für  die  Königstochter  und  ihre  aufkeimende  Liebe  und  sind  tief 
ergriffen,  wenn  wir  den  Schluß  lesen:  „Den  Jüngling  bringt  keines 
wieder".  Der  Ablauf  der  Gefühle,  dem  wir  uns  ungehemmt,  ohne  jede 
Rücksicht  auf  die  uns  umgebende  Wirklichkeit  hingeben  dürfen,  das 
I  rieben  solcher  rein  menschlicher  Gefühle,  die  im  Alltag  nur  selten  sich 
zu  betätigen  Gelegenheit  haben,  all  das  erzeugt  eine  reiche  und  inten- 
sive Funktionslust  und  in  dieser  emotionalen  Funktionslust  besteht  der 
wahre  ästhetische  Genuß. 

Die  Schicksale  Antigones,  Hamlets,  Macbeths,  Othellos,  König 
Lears,  Maria  Stuarts,  Wallensteins,  Fausts  und  Gretchens  und  anderer 
Stalten,  die  uns  in  den  Dramen  der  Weltliteratur  vorgeführt  werden, 
sind  in  noch  höherem  Grade  geeignet,  lebhafte  Gefühle  auszulösen.  Auf 
dem  Theater  tritt  zu  der  emotionalen  die  sensuelle  und  intellektuelle 
Funktionslust  modifizierend  und  steigernd  (bisweilen  allerdings  auch 
Störend)  hin/u,  aber  das  Wesentliche  bleibt  doch  unser  innerer  Anteil 
an  den  Gestalten,  unsere  emotionale  Funktionslust,  die  durch  verständ- 
nisvolle Aufnahme  des  Kunstwerkes  in  uns  hervorgerufen  wird. 

'  iemälde  und  Skulpturen  sind  ebenfalls  geeignet,  emotionale  Funk- 
tionslust im  Beschauer  zu  wecken,  wenn  es  gelingt,  den  Gesichtsaus- 
druck, die  Korperhaltung  und  die  Gruppierung  der  dargestellten 
I  iguren  richtig  zu  deuten  und  sich  in  das  Kunstwerk  „einzufühlen". 
I  eichte  Verständlichkeit  in  der  Darstellung  fördert  diese  „Einfüh- 
lung" sehr,  während  all/u  komplizierte,  dem  Ideenkreis  fernliegende 
Motive  die  emotionale  I  unktionslust  nicht  aufkommen  lassen. 


§  39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  157 

Die  stärkste  Gefühlswirkung  übt  unter  den  verschiedenen  Künsten 
anerkanntermaßen  die  Musik  aus.  Dies  kommt  daher,  weil  hier  das 
Gefühl  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  der  Töne  direkt,  ohne  Ver- 
mittlung des  Intellektes  angeregt  wird.  Die  rein  musikalische  Wir- 
kung wird  deshalb  bei  der  sogenannten  „absoluten",  der  Textbegleitung 
entbehrenden  Musik  viel  echter  und  inniger  zum  Bewußtsein  kommen. 
Auf  Personen  hingegen,  die  weniger  musikalisch  veranlagt  sind,  wirken 
Lieder,  deren  Text  verstanden  wird,  leichter  und  stärker.  Im  Musik- 
drama der  Gegenwart,  wie  es  von  Richard  Wagner  ausgebildet  wurde, 
werden  alle  vier  Arten  von  Funktionslust,  die  sensuelle,  die  imagina- 
tive, die  intellektuelle  und  die  emotionale,  mächtig  angeregt  und  des- 
halb ist  hier  der  ästhetische  Genuß  ein  besonders  starker  und  dauern- 
der. Allerdings  kommt  es  bei  diesen  Kunstwerken  nicht  selten  vor,  daß 
die  sinnliche  Auffassung  der  Tonfolgen  nicht  sofort  gelingt  oder  auch, 
daß  der  oft  schwierige  Text  nicht  sofort  verstanden  wird.  Dadurch 
wird  dann  die  sensuelle  und  intellektuelle  Funktion  gehemmt  und 
dies  bildet  ein  Hindernis  für  die  Entfaltung  der  emotionalen  Funk- 
tionslust. Hat  man  aber  durch  wiederholtes  Anhören  die  Schwierig- 
keiten der  Auffassung  überwunden,  dann  ist  der  Gesamteindruck  ein 
um  so  stärkerer,  der  sich  auch  infolge  des  fast  unerschöpflichen  Reich- 
tums an  Motiven  beinahe  gar  nicht  abstumpft. 

Alles  ästhetische  Genießen  ist  somit  eine  Art  von  Funktionslust 
und  dadurch  dem  Spiele  verwandt.  Die  Wirkung  der  ästhetischen  Funk- 
tionslust ist  aber  eine  andere  und  eine  tiefere  als  die  des  Spieles.  Das 
Kunstwerk  oder  das  Naturobjekt,  das  die  ästhetische  Funktionslust  in 
uns  entstehen  ließ,  steht  vor  uns.  Es  ist  in  der  Wirklichkeit  vorhanden, 
wir  nehmen  es  mit  unseren  Sinnen  wahr,  sehen  in  ihm  den  Urheber,  die 
Quelle  unserer  Freude,  wir  fühlen  uns  durch  das  Objekt  erfreut,  ge- 
fördert. Vermöge  der  fundamentalen  Apperzeption  betrachten  wir  nun 
unsere  Freude  als  Wirkung,  als  Kraftäußerung  des  vor  uns  stehenden 
Objektes  und  so  entwickeln  sich  aus  unserer  Funktionslust  ä  s  t  h  e- 
tischeUrteile.  Wir  brauchen  zur  Erklärung  solcher  Urteile  nicht 
mit  Kant  ein  besonderes  Seelenvermögen,  eine  „ästhetische  Urteils- 
kraft" anzunehmen.  Die  fundamentale  Apperzeption  genügt  vollstän- 
dig, um  die  Entstehung  solcher  Urteile  begreiflich  erscheinen  zu  lassen. 
Beim  ästhetischen  Genießen  fühlen  wir  uns  angenehm  berührt,  inter- 
essant beschäftigt,  mächtig  ergriffen,  kurz,  niemals  begehrend  und 
wollend,  sondern  immer  affiziert.  Es  ist  daher  nur  natürlich,  daß  wir 
die  Quelle  der  Freude  nicht  in  uns,  sondern  außer  uns  suchen,  und  wir 
finden  sie  dann  auch  dort,  wo  sie  wirklich  ist,  im  Kunstwerk.  Wir  be- 
zeichnen nun,  wie  gesagt,  das  Objekt,  das  in  uns  die  ästhetische  Funk- 
tionslust auslöst,  je  nach  der  Art  der  hervorgerufenen  Funktionslust  als 
angenehm  oder  gefällig,  als  interessant,  als  reizend 
oder  reizvoll.  Das  allgemeinste  Prädikat  aber,  das  wir  den 
ästhetisch  wirkenden  Objekten  zusprechen,  ist  das  der  Schönheit. 
Als  schön  bezeichnen  wir  im  weitesten  Sinne  alles,  was  unsere 
ästhetische  Funktionslust  auszulösen  geeignet  ist. 

Aus  unserer  Theorie  des  ästhetischen  Genießens  ergibt  es  sich  von 
selbst,  daß  in  den  ästhetischen  Urteilen  große  Verschiedenheiten  an- 


]  ££  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

zutreffen  sein  müssen.  Die  Dispositionen  zu  den  verschiedenen  Arten 
von  Funktionslusi  ^ind  bei  den  einzelnen  Individuen  in  sehr  verschie- 
dener Weise  entwickelt.  Es  ist  somit  begreiflich,  daß  ein  und  dasselbe 
(  »bjekt  nicht  in  allen  Betrachtern  dieselbe  Art  und  denselben  Grad  von 
Funktionslusi  auszulösen  geeignet  ist.  Auch  ein  und  derselbe  Mensch 
ist  nicht  zu  allen  Zeiten  in  gleicher  Weise  für  ästhetische  Wirkungen 
empfänglich,  weil  eben  die  Funktionsbedürfnisse  nicht  immer  dieselben 
sind.  1  n>t/dem  gibt  es  Kunstwerke,  die  durch  Jahrhunderte,  ja  durch 
fahrt  ausende  von  sehr  verschiedenen  Menschen  als  schön  bezeichnet 
wurden.  „König  Ödipus"  von  Sophokles,  der  vor  2300  Jahren  in  Athen 
u\k\  in  anderen  Städten  Griechenlands  in  der  Ursprache  starke  Wir- 
kungen auslöste,  wurde  in  unseren  Tagen  auf  deutschen  Bühnen  in 
einer  Übersetzung  vor  einem  Publikum  gespielt,  dessen  Kulturstand 
sich  gewiß  sehr  von  dem  des  athenischen  Urpublikums  unterscheidet. 
Dennoch  hat  das  Stück  viele  Tausende  von  Zuschauern  auch  heute  noch 
mächtig  ergriffen.  Das  berechtigt  wohl  zu  dem  Urteil,  daß  in  dem 
Drama  objektive  Eigenschaften  zu  finden  sind,  die  starke  ästhetische 
Funktionslust  auszulösen  vermögen.  Ähnliches  gilt  von  manchen 
Werken  der  altgriechischen  Baukunst  und  Skulptur,  sowie  von  vielen 
Gemälden  der  altitalienischen  und  niederländischen  Schulen.  Bei 
solchen  Kunstwerken  darf  man  von  objektiver  Schönheit 
sprechen,  indem  man  darunter  die  dem  Kunstwerk  selbst  anhaftenden 
Eigenschaften  versteht,  die  geeignet  sind,  bei  vielen  Menschen  Funk- 
tionslust auszulösen.  Diese  Bedingungen  zu  ermitteln  ist  gewiß  eine 
dankbare  und  keineswegs  aussichtslose  Forscheraufgabe.  Objektive 
Schönheit  ist  aber  keineswegs  gleichbedeutend  mit  a  b  s  o  1  u  t  e  r  Schön- 
heit. Von  einer  solchen  zu  sprechen  ist  bei  dem  durchaus  relativen 
Charakter  des  Schönheitsbegriffes  vollkommen  sinnlos. 

Das  Wort  Schönheit  hat  aber  neben  der  eben  besprochenen 
weiteren  Fassung  auch  noch  eine  engere  Bedeutung.  Wenn  wir  ein 
Objekt  aus  voller  Überzeugung,  ich  möchte  sagen,  aus  vollem  Herzen 
schön  nennen,  so  meinen  wir  damit  nicht  bloß,  daß  es  unser  Wohl- 
gefallen erregt.  Wir  fühlen  für  das  Objekt,  das  wir  in  diesem  engeren 
Sinne  schön  nennen,  eine  Art  von  Dankbarkeit  für  den  Genuß,  den  es 
uns  gewährt,  eine  Art  von  Zuneigung,  die  wir,  wenn  sie  einen 
höheren  Grad  erreicht,  sogar  Liebe  nennen  dürfen.  Jeder  von  uns 
tragt  gewiß  so  manche  Gestalten,  die  von  Künstlern  geschaffen  sind, 
liebevoll  im  Herzen,  betrachtet  sie  als  seinen  kostbaren  Besitz,  den  er 
geneigt  ist,  gegen  hämische  Krittelei  lebhaft  zu  verteidigen.  Wo  ein 
Künstler  in  uns  diese  Liebe  für  seine  Gestalten  zu  wecken  versteht,  da 
hat  er  die  höchste  ästhetische  Wirkung  erzielt  und  es  tritt  hier  zu  der 
Funktionslust  ein  neues  Moment  hinzu,  gerade  das,  wodurch  sich  das 
ästhetische  Genießen  am  meisten  vom  Spiel  unterscheidet. 

Der  Zusammenhang  von  Liebe  und  Schönheit  ist  längst  er- 
kannt und  oft  ausgesprochen  worden.  Die  gewöhnliche  Auffassung  des 
Verhältnisses  ist  aber  meist  die,  daß  die  (objektiv  vorhandene) 
Schönheit  als  U  r  s  a  c  h  e,  die  Liebe  als  ihre  Wirkung  an- 
gesehen wird.  Diese  Auffassung  erweist  sich  aber  bei  genauerer  Unter- 
suchung  als  nicht  ganz  zutreffend.  Gewiß  übt  die  Schönheit  des  Weibes 


§  39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  159 

einen  Reiz  aus,  der  Liebe  zu  erwecken  vermag,  und  zweifellos  hat  im 
Altertum  die  Schönheit  der  Knaben  bei  den  Männern  oft  Liebe  her- 
vorgerufen.  Aber  es  kann  auch  das  Umgekehrte  der  Fall  sein.  Men- 
schen und  Dinge,  durch  die  wir  uns  gefördert  fühlen  und  die  in  uns 
das  Gefühl  der  Zuneigung  und  Liebe  wachrufen,  erscheinen  uns  in- 
folge dieses  Gefühles  wesentlich  verschönert.  Die  Schönheit  ist 
nicht  bloß  Ursache,  sie  ist  vielleicht  häufiger 
noch  die  Wirkung  der  Liebe.  Aus  unserem  Innern  heraus 
strahlt  die  Schönheit  aus  auf  die  geliebten  Gegenstände  und  umgibt 
sie  mit  stets  neuen  Reizen. 

Die  verschönernde  Kraft  der  Liebe  kann  jeder,  der  darauf  achtet, 
durch  eigene  Erfahrung  kennen  lernen.  Die  Mutter  findet  ihr  geliebtes 
Kind  schön,  auch  wenn  dieses  anderen  häßlich  vorkommt.  Die  un- 
beholfene Schreibart  eines  Buches,  das  uns  aus  irgendeinem  Grunde 
lieb  geworden  ist,  gewinnt  für  uns  oft  einen  eigenen  Reiz.  Schopen- 
hauers Schwärmerei  für  die  geradezu  stillose  lateinische  Übersetzung 
der  indischen  Upanishaden,  die  Anquetil  du  Perron  nach  einer  per- 
sischen Übertragung  angefertigt  hatte,  ist  ein  merkwürdiges  Beispiel 
dieser  verschönernden  Kraft  der  Liebe.  Den  deutlichsten  Beweis  aber 
für  die  Richtigkeit  unserer  Behauptung  liefert  die  Entwicklung  des 
Naturgefühles.  Im  Altertum  hatte  man  nur  Sinn  für  die  liebliche 
Sommerlandschaft,  die  ein  angenehmes  Lustwandeln  im  Kühlen  und 
ein  Ausruhen  im  Grase  am  Rande  eines  murmelnden  Quells  darbot. 
Für  die  erhabenen  Schönheiten  der  Alpennatur  aber  wurde  der  Mensch 
erst  dann  empfänglich,  als  er  ein  wenig  kulturmüde  geworden  war  und 
sich  gerne  in  die  Abgeschiedenheit  der  Berge  flüchtete.  Kurz,  der 
Mensch  fand  die  Natur  erst  dann  schön,  als  er  sie 
lieben  gelernt  hatte. 

Wenn  ein  Kunstwerk  in  uns  eine  so  starke  und  so  mannigfaltige 
Funktionslust  auslöst,  daß  wir  die  Gestalten,  die  es  uns  vorführt,  in 
unser  Herz  schließen,  daß  wir  sie  lieben  lernen,  dann  strahlt  aus  dieser 
Liebe  eine  neue,  eigene,  warme  Schönheit  auf  das  Kunstwerk  zurück 
und  diese  Schönheit,  die  aus  der  Liebe  geboren  ist,  die  ist  es,  die  wir 
die  wahre,  die  eigentliche,  die  herzerfreuende  Schönheit  nennen.  Die 
Kunstwerke,  die  wir  in  diesem  Sinne  schön  finden,  begleiten  uns  durchs 
Leben,  bereichern  unsere  Seele  und  vermehren  unser  Glück.  In  das 
Innerste  unserer  Persönlichkeit  dringen  solche  Gestalten  ein,  und  nichts 
ist  charakteristischer  für  die  Eigenart  eines  Menschen,  als  die  Kunst- 
werke, die  er  in  diesem  engeren  Sinne  schön  findet. 

Das  ästhetische  Genießen  ist  somit,  ganz  allgemein  und  kurz  aus- 
gedrückt, durch  Betrachtung  ausgelöste  Funktionslust.  Jede  der  be- 
sprochenen vier  Arten  ist  für  sich  allein  imstande,  ästhetischen  Ge- 
nuß zu  bieten.  Reicher  aber  und  mannigfaltiger,  intensiver  und  er- 
greifender wird  der  Genuß,  wenn  sich  sensuelle,  intellektuelle,  imagi- 
native und  emotionale  Funktionslust  miteinander  verbinden.  Die  Kom- 
binationen sind  bei  den  verschiedenen  Künsten  verschieden.  Skulptur 
und  Malerei  wirken  zunächst  auf  die  Sinne  und  erregen  mittels  des 
Verstandes  unser  Fühlen.  Die  Poesie  beginnt  mit  der  intellektuellen 
Funktionslust  und  ruft  durch  diese  die  emotionale  hervor,  welche  dann 


160  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

wieder  von  innen  heraus  die  Phantasie  zur  Erzeugung  anschaulicher 
Bilder  anregt,  wie  dies  Orillparzer  in  der  oben  (S.  1t4)  zitierten  Stelle 
ausgeführt  hat.  Bei  der  Musik  gehl  die  sensuelle  Funktionslust  viel- 
leieht  mit  Hilfe  von  Irinästhetischen  ( Bewegungs-)  Empfindungen  un- 
mittelbar in  die  starke  Gefühlswirkung  über.  Diese  Gefühlswirkung 
oder  die  emotionale  Funktionslust  bildet  immer  den  zentralen  Teil  des 
ästhetischen  Genießens.  Wo  die  emotionale  Funktionslust  sich  nicht 
einstellt,  bleibt  der  ästhetische  Genuß  gleichsam  an  der  Oberfläche,  er 
entbehrt  der  inneren  Wärme.  Wo  aber  die  emotionale  Funktionslust 
ausgelöst  wird,  da  kann  daraus  das  oben  geschilderte  Gefühl  der  Liebe 
entstehen,  aus  dem  eine  neue,  gefühlswarme  Schönheit  auf  das  Kunst- 
werk zurückstrahlt. 

Die  ästhetische  Funktionslust  unterscheidet  sich  also  von  anderen 
Arten  der  Funktionslust,  z.  B.  vom  Spiele,  schon  dadurch,  daß  sie 
solcher  ins  Innerste  gehender  Wirkungen  fähig  ist.  Es  gibt  aber  noch 
ein  anderes  wichtiges  Merkmal,  durch  welches  sich  der  ästhetische  Ge- 
nuß vom  Spiele  unterscheidet.  Alles  ästhetische  Genießen  löst,  wie  be- 
reits bemerkt  wurde,  ästhetische  Urteile  aus.  Diese  Urteile 
.verden  vom  Genießenden  in  der  Überzeugung  gefällt,  daß  sie  objektiv 
gültig  sind.  Was  mir  gefällt,  das  finde  ich  schön,  das  heißt,  ich  behaupte, 
in  meinem  Urteile,  daß  der  Gegenstand,  den  ich  betrachte,  die  Quelle, 
das  Kraftzentrum  ist,  von  dem  mein  Genuß  bewirkt  wird.  Eindring- 
liche Selbstbeobachtung  und  Erfahrungen  an  anderen  belehren  uns 
nun  allerdings,  daß  das  Schöne  des  Objektes  nur  in  meiner  Freude 
daran  besteht,  allein  es  wäre  trotzdem  verfehlt,  wenn  man  aus  den 
ästhetischen  Urteilen  den  objektiven  Faktor  ganz  eliminieren  wollte. 
Die  ästhetische  Funktionslust  stellt  sich  doch  nur  dann  ein,  wenn  sie 
durch  ein  Objekt  ausgelöst  wird.  Nun  gibt  es  ja,  wie  wir  gesehen  haben, 
Kunstwerke,  die  in  sehr  zahlreichen  Menschen  zu  verschiedenen  Zeiten 
ästhetische  Funktionslust  ausgelöst  haben.  Diese  Kunstwerke  müssen 
demgemäß  objektiv  bestimmbare  Eigenschaften  besitzen,  aus  denen  die 
ästhetischen  Wirkungen  hervorgehen.  Die  Ästhetik  als  Wissenschaft 
hat  nun  die  Aufgabe,  nicht  nur  die  subjektiven,  sondern  auch  die  objek- 
tiven Bedingungen  des  ästhetischen  Genießens  zu  studieren.  Noch  wich- 
tiger aber  werden  diese  objektiven  Eigenschaften  hervorragender  Kunst- 
werke dadurch,  daß  die  schaffenden  Künstler  an  diesen  Werken  die 
Mittel  kennen  lernen,  durch  welche  man  hoffen  kann,  ästhetische  Wir- 
kungen hervorzurufen. 

Damit  sind  wir  bei  der  zweiten  Aufgabe  der  Ästhetik  angelangt, 
die  darin  besteht,  die  Gesetze  des  künstlerischen  Schaffens  zu  erforschen 
und  dadurch  zu  Normen  und  Regeln  zu  gelangen.  Hier  müssen  wir 
uns  kürzer  fassen,  weil  bei  der  großen  individuellen  Verschiedenheit 
der  künstlerischen  Begabungen  sich  nur  weniges  im  allgemeinen  fest- 
stellen  läßt.  Die  Hauptarbeit  bleibt  hier  der  Technik  der  einzelnen 
Künste  übt  rlassen. 

Das  künstlerische  Schaffen  ist  die  Folge  eines  dem  Künstler  inne- 
wohnenden Tätigkeits-  und  Gestaltungsdranges.  Dieses  Schaffen  ist 
ebenfalls  dem  Spiele  verwandt,  insofern  die  Freude  des  Künstlers  im 
Schaffen  selbst,  also  in  der  Funktion  liegt.  Dabei  bleibt  es  aber  nicht 


§  39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  161 

lange.  Wenn  einmal  die  Kultur  so  weit  entwickelt  ist,  daß  das  Bedürfnis 
nach  ästhetischem  Genuß  bei  vielen  Menschen  vorhanden  ist,  dann 
kann  und  darf  dem  Künstler  die  rein  individuelle,  nur  für  ihn  vor- 
handene Freude  an  der  Betätigung  seines  Schaffensdranges  nicht  mehr 
genügen.  Er  ist  dazu  berufen,  anderen  Freude  zu  machen  und  so  das 
Glück  der  Menschheit  zu  vermehren.  Seine  Tätigkeit  ist  nun  nicht  mehr 
bloßes  Spiel,  sie  wird  vielmehr  eine  ernste  soziale  Arbeit,  die 
für  die  Entwicklung  der  Kultur  in  hohem  Grade  bedeutsam  ist : 

„Der  Menschengeist  in  sonnigem  Bezirken 

Will  nicht  nur  tätig  sein,  er  will  bewirken." 

Aber  um  wirken  zu  können,  genügt  es  für  den  Künstler  nicht  mehr, 
sich  blind  seinem  Schaffensdrang  hinzugeben.  Er  muß  jetzt  lernen. 
Die  auf  einer  langen  Kunstübung  beruhende,  mitunter  schwierige 
Technik  seiner  Kunst  muß  er  sich  anzueignen  suchen.  Er  fühlt  sich 
verpflichtet  und  gedrängt,  die  großen  Meister  seines  Faches  zu  stu- 
dieren, um  die  Mittel  kennen  zu  lernen,  durch  die  es  erfahrungsgemäß 
gelingt,  Funktionslust  bei  den  Genießenden  zu  wecken.  In  seinen  Vor- 
stellungskreis tritt  das  Publikum  ein,  für  welches  seine  Werke  be- 
stimmt sind. 

Dadurch  aber,  daß  zum  Verständnis  der  meisten  Kunstwerke  die 
Kenntnis  des  Publikums  gehört,  für  das  sie  bestimmt  waren,  wird  das 
Werk  des  Künstlers  zu  einer  kulturgeschichtlichen  Tatsache.  Man 
sucht  deshalb  jetzt  die  Künstler  vergangener  Perioden  aus  ihrer  Zeit 
heraus  zu  verstehen  und  so  hat  sich  eine  historische  Ästhetik 
ausgebildet,  die  viel  Aufklärung  gebracht,  manches  Mißverständnis 
beseitigt  und  zur  intimeren  Kenntnis  der  Künstler  und  Dichter  viel 
beigetragen  hat.  Bisweilen  wird  allerdings  durch  allzu  einseitiges  Fest- 
halten an  dem  historischen  Gesichtspunkt  der  Blick  für  das  allgemein 
Menschliche,  für  das  Ewige  im  Kunstwerk  getrübt.  Der  Künstler 
schafft  nämlich  nicht  bloß  für  sein  Volk  und  seine  Zeit.  Wie  Thukydides 
von  seinem  Geschichtswerk,  so  darf  der  große  Künstler  von  den  Ge- 
bilden seiner  Phantasie  behaupten,  sie  seien  ein  Besitztum  für  die 
Ewigkeit  uzf^.v.  U  asi)  und  nicht  bloß  ein  Schaustück  für  den 
Augenblick  (a7<oviofj.a  ix  toö  Traoa/o^aa). 

Ein  solcher  Künstler  löst  in  uns  nicht  bloß  eine  vorübergehende 
Funktionslust  aus,  sondern  versteht  es  auch,  in  unserem  Herzen  eine 
dauernde  Liebe  wachzurufen  für  die  Gestalten,  die  er  geschaffen 
hat.  Aus  dieser  Liebe  aber  strahlt,  wie  vorhin  bemerkt  wurde,  eine 
lebendige,  gefühlswarme  und  innige  Schönheit  auf  sein  Kunstwerk 
zurück,  und  diese  zu  erzeugen,  ist  des  Künstlers  letztes  und  höch- 
stes Ziel. 

Das  künstlerische  Schaffen  ist  also  zunächst  Spiel  als  Betäti- 
gung des  Schaffensdranges  und  wird  im  Laufe  der  Kulturentwicklung 
zur  ernsten  sozialen  Arbeit,  die  sich  die  Vermehrung  des  Men- 
schenglückes zum  Ziele  setzt.  In  seiner  höchsten  Vollendung  ist  aber 
das  künstlerische  Schaffen  eine  Art  von  Liebeswerbung.  Wenn 
wir  die  Liebeswerbung  des  Künstlers  erhören,  dann  erscheint  uns  sein 

Jerusalem,  Einleitung-  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


162  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

Wnk  im  tiefsten  und  wahrsten  Sinne  des  Wortes  schön.  Homer  wirbt 
um  1  lebe  für  Achill  und  (  Klvsseus,  Raffael  für  die  göttliche  Madonna, 
Shakespeare  nicht  nur  für  den  philosophierenden  Dänenprinzen  und 
für  den  unglücklichen  König  Lear,  sondern  auch  forden  Falstaff,  diesen 
Vbschaum  der  ( iemeinheit,  den  der  göttliche  Humor  unserem  Herzen 
näherbringt 

Wenn  es  aber  dem  Künstler  gelingen  soll,  in  uns  Funktionslust 
auszulösen  und  Liebe  wachzurufen,  dann  muß  in  ihm  etwas  von  dem 
schöpferischen  Odem  wohnen,  der  seinen  Gestalten  den  Geist  des 
Lebens  einzuhauchen  vermag.  Das  Lebendige  lebendig  darzustellen, 
diese  Aufgabe  ist  allen  Künstlern  gemeinsam.  Das  Lebendige  aber 
an  den  Menschen  und  Dingen  in  unserer  Umgebung,  das  Lebendige 
an  den  Vorgängen  der  Gegenwart  und  der  Geschichte,  das  ist  das, 
was  in  uns  Leben  weckt,  was  uns  zu  entsprechenden  Reaktionen  ver- 
anlaßt. Dieses  Lebendige  ist  nichts  anderes  als  das  Charakteri- 
stische an  den  Dingen,  das,  was  sie  zu  dem  macht,  was  sie  sind, 
und  was  sie  für  uns  bedeuten,  und  das  ist  das  T  y  p  i  s  c  h  e  an  ihnen. 
Die  typische  Vorstellung  ist,  wie  ich  anderswo*)  gezeigt  habe,  un- 
mittelbar aus  dem  Lebensbedürfnis  entstanden.  Das  biologisch  Be- 
deutsame an  den  Dingen  zwingt  uns,  die  Aufmerksamkeit  darauf  zu 
konzentrieren,  und  so  wird  das  Typische  vieler  gleichartiger  Dinge 
zu  einer  Einheit  zusammengefaßt.  Wir  sehen  dieses  Typische  in  jedem 
F.inzeldinge  und  richten  darnach  unser  Verhalten  ein.  Der  Künstler 
muß  nun  in  noch  höherem  Grade  als  jeder  Mensch  die  Fähigkeit  be- 
sitzen, im  Individuellen  das  Typische  zu  sehen  und  darzustellen.  Die 
Gestalten  des  Künstlers  sind  für  uns  immer  Typen,  auch  wenn  sie  ganz 
den  Eindruck  wirklicher  Personen  in  uns  hervorrufen.  Gretchen  in 
(ioethes  Faust  ist  so  anschaulich  und  so  individuell  dargestellt,  daß 
wir  ihre  Lebensgeschichte  schreiben  könnten.  Trotzdem  lebt  sie  in 
unserer  Vorstellung  als  der  Typus  des  Mädchens,  das  sich  liebevoll  hin- 
gibt und  verlassen  wird.  Dem  König  Lear  streifen  wir  das  Königs- 
gewand ab  und  übrig  bleibt  nur  der  Vater,  für  den  zärtliche  Worte 
mehr  bedeuten  als  Cordelias  „Lieben  und  Schweigen".  Weil  aber  in 
jedem  Vater  ein  Stück  vom  König  Lear  steckt,  deshalb  verliert 
Shakespeares  Dichtung  nie  ihre  Wirksamkeit. 

Wie  sehr  das  Typische  zum  Wesen  der  künstlerischen  Darstellung 
gehört,  das  sieht  man  am  deutlichsten,  wenn  der  Gegenstand  der  Dar- 
stellung ein  in  der  Wirklichkeit  nur  einmal  vorhandenes  Objekt,  eine 
historische  Persönlichkeit,  eine  ganz  bestimmte  Landschaft  oder  ein 
ein /einer  Mensch  aus  der  Umgebung  des  Künstlers  ist.  Auch  in  der 
Darstellung  des  Individuellen  muß  der  Künstler,  um  ästhetisch  zu 
wirken,  das  Typische,  das  Charakteristische,  das  wirklich  Lebendige  an 
dem   I  inzelobjekt  herausfinden  und  zum  Ausdruck  bringen. 

Das  Typische,  das  jeder  künstlerischen  Darstellung  eigen  ist, 
bringt  nun  die  Kunsl  in  einen  eigenartigen  Zusammenhang  mit  unserer 
i   rkenntnistäti  g  k  e  i  t  und  mit  der  Wissenschaft. 

*)  Lehrbuch  der  Psychologie,  7.  Aufl.,  S.  101  U. 


§  39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  163 

Die  typische  Vorstellung  ist,  wie  wir  oben  (S.  88)  ge- 
hört haben,  in  der  Erkenntnisentwicklung  eine  Vorstufe  des  abstrakten 
Begriffes.  Da  nun  die  Kunst  ihrem  Wesen  gemäß  typische  Vor- 
stellungen hervorzurufen  geeignet  ist,  die  bei  voller  lebendiger  An- 
schaulichkeit doch  auch  den  Charakter  des  Repräsentativen,  des  All- 
gemeinen an  sich  tragen,  so  übernimmt  die  künstlerische  Darstellung 
oft  die  Aufgabe,  wissenschaftliche  Erkenntnisse,  die  mit  Begriffen 
arbeiten,  in  anschaulichen  Bildern  darzustellen.  Der  abstrakte  wissen- 
schaftliche Begriff  verwandelt  sich  unter  der  Hand  der  Kunst  in  eine 
lebendige,  gefühlswarme  und  anschauliche  Vorstellung,  die  wir  dann 
oft  mit  dem  vieldeutigen  Namen  einer  Idee  bezeichnen.  Die  pla- 
tonischen Ideen  sind  nichts  anderes  als  Begriffe,  die  der  künstlerische 
Geist  des  tiefen  und  genialen  Denkers  zu  anschaulichen  Vorstellungen 
verkörpert  hat.  Eben  deswegen  konnte  Plato  auch  an  die  selbständige 
Existenz  dieser  künstlerischen  Denkgebilde  glauben  und  sie  zu  wir- 
kungsvollen Urbildern  der  Dinge  erheben  *).  Auch  Hegels  Gedanke, 
daß  das  Schöne  sich  bestimme  als  „das  sinnliche  Scheinen  der  Idee" 
{Hegels  Werke,  X,  1,  141),  und  daß  das  Schöne  als  Träger  der  Idee 
mit  dem  Wahren  identisch  sei,  wird  verständlich,  wenn  man  dabei 
an  den  typischen  Charakter  jeder  künstlerischen  Darstellung  denkt. 
Am  tiefsten  aber  und  zugleich  am  klarsten  scheint  mir  Schiller  den 
auf  der  typischen  Vorstellung  beruhenden  Zusammenhang  von  Kunst 
und  Wissenschaft  erfaßt  zu  haben,  wenngleich  sein  Gedanke,  der 
Schönheitssinn  habe  den  Erkenntnistrieb  erst  hervorgerufen,  sich  nicht 
festhalten  läßt  (s.  oben  S.  147).  Vorahnend  eilt  die  künstlerische  Phan- 
tasie oft  der  Wissenschaft  voraus  und  bahnt  ihr  den  Weg: 

„Eh'  vor  des  Denkers  Geist  der  kühne 
Begriff  des  ew'gen  Raumes  stand, 
Wer  sah  hinauf  zur  Sternenbühne, 
Der  ihn  nicht  ahnend  schon  empfand  ?" 

Wenn  aber  die  Wissenschaft  ihren  eigenen  Weg  geht  und  durch 
mühsames  Forschen  und  strenges  Denken  der  Natur  ihr  Geheimnis  ab- 
gerungen und  die  Gesetze  des  Geschehens  ergründet  hat,  dann  ist  es 
wieder  Sache  des  Künstlers,  die  Arbeit  des  Denkers  zu  krönen  und  zur 
Vollendung  zu  bringen.  Was  die  Wissenschaft  in  trockenen  Formeln 
und  in  toten  Begriffen  ihren  Jüngern  verkündet,  das  muß  erst  die 
Kunst  durch  ihre  Bilder  beleben,  damit  alle  Menschen  die  abstrakte 
Wahrheit  in  konkreter  Anschaulichkeit  vor  sich  sehen  und  sie  in  ihr 
Herz  aufnehmen  können. 

„Was  in  des  Wissens  Land  Entdecker  nur  ersiegen, 

Entdecken  sie,  ersiegen  sie  für  euch. 

Der  Schätze,   die   der  Denker  aufgehäufet, 

Wird  er  in  euern  Armen  erst  sich  freun, 

Wenn  seine  Wissenschaft,  der  Schönheit  zugereifet, 

Zum   Kunstwerk  wird   geadelt   sein." 


s>v 


*)  Wenn  Natorp  in  seinem  Buche  über  die  platonische  Ideenlehre  die  Idee 
als  das  Gesetz  betrachtet,  so  verkennt  er  meines  Erachtens  den  ästhetischen  und 
künstlerischen  Untergrund,  auf  dem  Piatons  Lehre  erwachsen  ist. 

11* 


lo4  Woge  und  Ziele  der  Ästhetik 

In  noch  innigeren  Zusammenhang  aber  ist  die  Kunst  seit  jeher  mit 
der  Religion  getreten.  Im  griechischen  Altertum  nicht  minder  als 
im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit  hat  die  Kunst  ihre  liebewerbende 
Kraft  in  den  Dienst  der  Religion  gestellt.  Der  Zeus  des  Phidias,  der 
Moses  MicheU Angelos,  die  'vielen  herrlichen  Dome,  Rajjaels  Ma- 
donnen  und  Lionardos  Abendmahl  sind  die  großartigsten  und  innig- 
sten  I  iebeswerbungen  für  die  Gestalten  des  religiösen  Glaubens.  Aber 
auch  dadurch,  daß  die  Kunst  reine,  begehrungslose  Freude  in  uns 
wach  ruft,  erhebt  sie  uns  über  die  Alltagsstimmung  und  erhöht  unsere 
Disposition  zur  Andacht  und  innerlichen  Frömmigkeit.  Deshalb  spielt 
besonders  die  Musik  im  religiösen  Kultus  eine  so  große  Rolle. 

Nicht  so  ganz  klar  hingegen  ist  der  oft  besprochene  Zusammen- 
hang /wischen  Ästhetik  und  Ethik,  oder  richtiger  zwischen  Kunst 
und  Sittlichkeit. 

Wenn  von  der  veredelnden  Wirkung  der  Kunst  gesprochen  wird, 
so  ist  dies,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  in  gewissem  Sinne  berechtigt, 
aber  keineswegs  so,  daß  der  Kunst  die  Aufgabe  zufiele,  die  Tugend 
schön,  das  Laster  häßlich  darzustellen.  Das  Lebendige  und  Lebens- 
volle in  der  Natur  und  in  der  Menschenwelt  sucht  der  Künstler  zu  er- 
fassen und  darzustellen,  und  wo  es  ihm  gelingt,  das  volle  Menschen- 
leben zu  packen,  da  wird  sein  Werk  für  uns  interessant.  Rohe  Kraft, 
ungebändigte  Leidenschaft,  ja  selbst  gemeinen  Eigennutz  vermag  der 
große  Künstler  so  vor  uns  hinzustellen,  daß  seine  Vorführung  in  uns 
die  lebhafteste  Funktionslust  weckt.  Nie  und  nimmer  braucht  der 
Dichter  darnach  zu  fragen,  wie  die  landläufige  Moral  seine  Charaktere 
beurteilt.  Wo  er  zu  engherzig  darauf  Rücksicht  nimmt,  da  verliert  seine 
Darstellung  nur  zu  leicht  den  künstlerischen  Wert.  Shakespeares 
Richard  der  Dritte  und  noch  mehr  sein  Falstaff  sind  deutliche  beweise 
dafür,  daß  das  ästhetische  Genießen  von  sittlichen  Werturteilen  unab- 
hängig ist.  Die  falsch  verstandene  Lehre  des  Aristoteles  von  der 
tragischen  Schuld  hat  lange  genug  über  den  wahren  Grund  des  Ver- 
gnügens an  tragischen  Gegenständen  getäuscht.  Niemals  kann  die 
Kunst  dadurch  veredelnd  wirken,  daß  sie  in  irgendeiner  Form  Moral 
predigt. 

Trotzdem  aber  besteht  ein  tiefer  Zusammenhang  zwischen  Kunst 
und  Sittlichkeit.  Das  ästhetische  Genießen  ist  reine,  begehrungslose 
Freude,  und  indem  der  Künstler  uns  zum  Erleben  solcher  Freude  Ge- 
legenheit gibt,  entrückt  er  uns  auf  eine  Zeitlang  den  egoistischen 
Regungen  des  Alltagslebens  und  hebt  uns  für  eine  Weile  über  uns 
selbst  empor.  s<>  lange  wir  im  Zauberbanne  des  Künstlers  stehen,  hat 
in  unserer  Seele  das  rein  Menschliche  die  Herrschaft  inne.  Nichts 
Kleines  und  Niedriges  findet  da  Raum  im  Herzen,  wir  sind  empor- 
gewachsen  und  befinden  uns  auf  dem  Wege  zur  inneren  Freiheit.  Durch 
diese  befreiende  und  läuternde  Wirkung,  die  von  jedem  wahren  Kunst- 
werk ausgeht,  muß  allmählich  ein  höherer  Standpunkt  erklommen 
werden.  Wenn  wir  <>tt  Gelegenheit  haben,  uns  an  Kunstwerken  zu  er- 
freuen, so  lernen  wir  andere  Vergnügungen  verschmähen,  die  mehr  die 
rohen  und  niedrigen  Instinkte  wecken.  Deshalb  ist  die  jetzt  mit  Recht 
befürwortete  künstlerische  Erziehung  der  Jugend  von  großer  Bedeu- 


§39.  Genetische  und  biologische  Ästhetik  165 

tung  auch  für  die  sittliche  Entwicklung  der  künftigen  Generation.  In- 
dem wir  unseren  Kindern  Gelegenheit  bieten,  sich  an  Kunstwerken  zu 
erfreuen,  erschließen  wir  ihnen  nicht  nur  eine  reiche  Quelle  reinen 
Glückes,  sondern  wir  bewahren  sie  auch  vor  verderblichen  Genüssen. 
„Interest,  unde  quis  gaudeat",  sagt  sehr  treffend  Augustinus.  Es  ist 
nicht  gleichgültig,  wo  man  seine  Freuden  sucht.  Die  Kunst  aber  läßt 
den  Menschen  Freuden  finden, 

„Die  seine   Gier  nicht   in   sein   Leben  reißt, 
Die  im  Genüsse  nicht  verscheiden." 

Nicht  durch  Moralpredigen  wirkt  die  Kunst  veredelnd,  wohl  aber 
dadurch,  daß  sie  unsere  Freude  läutert  und  unsere  Teilnahme  für  alles 
Menschliche  erhöht. 

Die  Ästhetik  wurde  oben  (S.  145)  als  Philosophie  des 
F  ü  h  1  e  n  s  bezeichnet.  Das  Fühlen  tritt  aber  am  reinsten  in  den  Funk- 
tionsgefühlen auf,  weil  diese  ohne  Einfluß  auf  das  Begehren  bleiben. 
Die  Philosophie  des  Fühlens  hat  nun  zu  zeigen,  welche  Bedeutung  dem 
reinen  Fühlen  für  das  Seelenleben  des  Menschen  und  für  die  mensch- 
liche Kultur  zukommt.  Sie  hat  sich  aber  auch  mit  den  Objekten  zu  be- 
schäftigen, welche  geeignet  sind,  dieses  reine  Fühlen  auszulösen.  Unsere 
genetische  und  biologische  Betrachtung  hat  nun  gezeigt,  wie  sich  aus 
dem  Funktionsbedürfnis  das  ästhetische  Genießen  als  Funktionslust  ent- 
wickelt. Aus  dieser  Funktionslust  entsteht  dann  zuweilen  jene  innige 
Liebe  zu  den  Gestalten  des  Künstlers,  eine  Liebe,  welche  in  Verbindung 
mit  der  Funktionslust  die  Quelle  der  Schönheit  ist.  Die  ästhetischen 
Urteile,  die  durch  diese  Gefühle  ausgelöst  werden,  enthalten  neben  dem 
subjektiven  auch  einen  objektiven  Faktor,  den  zu  erforschen  eine  wich- 
tige Aufgabe  der  Ästhetik  bildet.  Durch  diese  Betrachtungsweise  wurde 
aber  auch  das  Schaffen  des  Künstlers  in  seinen  Hauptzügen  verständ- 
licher gemacht.  Damit  sind  die  Ziele  einer  wissenschaftlichen  Ästhetik 
gezeigt  und  zugleich  die  Wege  gewiesen,  auf  denen  wir  hoffen  dürfen 
durch  emsige  Arbeit  zu  einer  Philosophie  des  Fühlens  zu  gelangen,  die 
nicht  nur  dem  ästhetisch  empfindenden  Subjekt,  sondern  auch  dem 
ästhetisch  wirkenden  Objekt  seine  Stelle  und  seine  Bedeutung  im  Uni- 
versum anweist,  im  Universum,  von  dem  der  Mensch  nur  ein  winziger 
Teil  ist,  aber  ein  Teil,  dem  das  Streben  innewohnt,  das  Ganze,  dem  er 
angehört,  zu  begreifen,  zu  bewundern  und  zu  lieben. 

Literatur 

Fr.  Vi  scher,  Ästhetik.  3  Bände,  1846     1858.  (Im  Geiste  Hegels,  sehr  reich 

an  feinsinnigen  Beobachtungen.) 
R.  Zimmerman,  Ästhetik.  2  Bände,   1858  ff.  (Der  erste  enthält  die  Geschichte 

der  Ästhetik,  das  im  zweiten  Bande  niedergelegte  System  der  Ästhetik  ruht 

auf  H  e  r  b  a  r  t  scher  Grundlage.) 
H.  Lotze,  Geschichte  der  Ästhetik  in  Deutschland.   1808,  Neudruck  1913. 
G.  Th.  Fechner,  Vorschule  der   Ästhetik.  2.  Aufl.   1897. 
Johannes  Volkelt,   Ästhetische  Zeitfragen.   1894. 

-  Ästhetik  des  Tragischen.  189b,  3.  Aufl.  1917. 
System  der  Ästhetik.  1.  Band   1905,  2.  Band   1910,  3.  Band    1913. 


),,(,  Wege  und  Ziele  der  Ästhetik 

K.  Groos,  Der  ästhetische  Genuß.  1902 
-   Die  Spiele  der   fiere.  1896,  2.  Aufl.  1907. 
Die  Spiele  der   Menschen.   I8nt|. 

II.  \.  Stein,   Die  Entstehung  der  neueren   Ästhetik.   ISSo. 
Vorlesungen  über  Ästhetik.   18"/. 

H.   Cohen.   Kants  Begründung   der    Aslhetik.    1889.   2.    Aufl.    1910. 
Die    Isthetik  des   reinen  Gefühles.    1912. 

Jonas  Colin.   Allgemeine  Ästhetik.   1901. 

I  h    1   i  p  p  5,  Ästhetik.  Psychologie  des  Schönen  und  der  Kunst. 

1.  Band:  Grundlegung  der  Ästhetik.   1903.  2.  Aufl.   1914. 

2    Band:     Die    ästhetische    Betrachtung    und    die    bildende     Kunst.     190o. 
2  Aufl.  1921.. 
Benedetto  Croce,  Ästhetik  als  Wissenschaft  des  Ausdruckes.  Übersetzt  von 

Karl   Federn.    1905.   (Enthält   eine  sehr   beachtenswerte  Geschichte  der 

Ästhetik.) 
Max  Dessoir.  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft.    l<->üo. 
Konrad  Lange,  Das  Wesen  der  Kunst.  2.  Aufl.   1907. 
\\  .   W  un  dt,   Völkerpsychologie.   II.  Band,   1.  Teil.   Mythus  und  Religion.    U>05. 

(Enthält   eine   sehr  gründliche  psychologische   Analyse  der   Phantasie    und 

eine  Entwicklungsgeschichte  der  Kunst.) 
\\  i  Nie  Im  Scher  er,  Poetik.   1883.  Unvollständig,  jedoch  reich  an  wertvollen 

Anregungen. 
\\ .    Dilthev,   Die    Einbildungskraft   des   Dichters.   Bausteine   für   eine    Poetik. 

1887  in -.'Philosophische  Aufsätze  zum  50jährigen  Doktorjubiläum  Eduard 

Z  e  1 1  e  r  s. 
Das  Erlebnis  und  die  Dichtung.  2.  Aufl.  18Q0. 
A.  v.  Berger,  Dramaturgische  Vorträge.   1890. 

-  Zur  Katharsisfrage  in  T  h.  Qomperz'  Übersetzung  der  „Poetik"  des 

Aristoteles.    1897. 
M.  Burckhard,  Ästhetik  und  Sozialwissenschaft.  1S95.  (Hier  wird  die  Kunst 

ebenfalls  mit  dem  Liebesleben  und  mit  der  Entwicklungslehre  in  Zusammen- 
hang gebracht.) 
Josef  Popper,  Die  technischen  Fortschritte  nach   ihrer  ästhetischen  und  kul- 
turellen Bedeutung.   1886. 
Otto  Busch,  Naturgeschichte  der  Kunst.   1S77.   (Evolutionistisch.) 
Hugo  Spitzer,   Hermann   Hettners  kunstphilosophische   Anfänge   und 

Literaturästhetik.     Untersuchungen      zur     Theorie     und     Geschichte     der 

Ästhetik,  I.  Band.   1903.  (Enthält  eine  Fülle  feinsinniger  Erörterungen.) 
T  h.  A.  Meyer,  Das  Stilgesetz  der  Poesie.  1901.  (Enthält  treffende  Bemerkungen 

über  unanschauliche  Vorstellungen  und  ihre  ästhetische  Wirkung.) 
F.  Meumann,  Einführung  in  die  Ästhetik  der  Gegenwart.   1909. 
M.  Verworn,  Die  Anfänge  der  Kunst.  1909. 
E.  U  t  i  t  z.  Die  Funktionsfreudeu   im  ästhetischen  Verhalten.   1  •-»  1 1 . 
\.   Hildebrand,  Das  Problem  der  Form.  7.  und  8.   Aufl.   1910. 
N.  Müller-Freien  fei  s,  Psychologie  der  Kunst.   1912 
Friedrich     Jodl,      Ästhetik     der     bildenden     Künste;      herausgegeben     von 

W.  Börner.   1917. 


Sechster  Abschnitt 

Allgemeine  Ethik 

§  40.  Gegenstand  und  Aufgabe  der  Ethik 

Gegenstand  der  Ethik  oder  Moralphilosophie  sind  die 
Motive,  die  Normen  und  die  Ziele  der  menschlichen 
Handlungen.  Das  Tun  der  Menschen  wird  nämlich  nicht  bloß 
darnach  beurteilt,  ob  es  nützlich  oder  schädlich,  ob  es  ästhetisch  wohl- 
gefällig oder  häßlich  ist,  sondern  auch  nach  einem  ganz  anderen  Maß- 
stabe der  Beurteilung  unterzogen.  Wir  fragen  nicht  nur,  ob  eine  Tat 
klug  und  richtig  berechnet,  wir  fragen  auch,  ob  sie  gerecht  und 
gut  war.  Wir  untersuchen,  ob  der  Einzelne  durch  sein  Tun  die  Inter- 
essen der  Gemeinschaft,  der  er  angehört,  gefördert  oder  geschädigt  hat, 
und  entscheiden  zunächst  darnach,  ob  die  Tat  allgemeine  Billi- 
gung oder  Mißbilligung  verdient.  Im  Laufe  der  Kulturentwick- 
lung hat  sich  jedoch  die  Überzeugung  herausgebildet,  daß  der  sittliche 
Wert  einer  Tat  nicht  oder  nur  in  geringem  Grade  von  ihrem  Erfolge 
bedingt  ist.  Maßgebend  dafür  ist  vielmehr  die  Absicht  des  Täters 
oder,  richtiger  ausgedrückt,  die  seiner  Tat  zugrunde  liegende  Gesin- 
nung oder  Willensrichtung.  „Es  ist  überall  nichts  in  der 
Welt,  ja  überhaupt  auch  außerhalb  derselben  zu  denken  möglich,  was 
ohne  Einschränkung  für  gut  könnte  gehalten  werden,  als  allein  ein 
guter  Wille."  Diese  Worte  Kants*)  sind  für  die  Bestimmung 
des  Gegenstandes  der  Ethik  maßgebend  geblieben.  Der  menschliche 
Wille,  seine  Eigenart  und  seine  Bestimmung  sind  ihr  Forschungs- 
gebiet. Man  kann  also  kurz  sagen :  Ethik  ist  Philosophie  des 
Wollens. 

Die  Aufgabe  der  Ethik  ist  eine  mehrfache.  Es  gilt  zunächst  die 
psychologischen  Gesetze  zu  erforschen,  nach  denen  wir  tatsächlich 
eigene  und  fremde  Handlungen  moralisch  beurteilen,  das  heißt  billigen 
und  mißbilligen.  Eine  solche  Untersuchung  des  Ursprungs  und  der 
Entwicklung  der  moralischen  Beurteilung  wäre  eigentlich  die  grund- 
legende Vorarbeit  zu  einer  wissenschaftlichen  Ethik.  Diese  Aufgabe  ist 
einerseits  psychologischer,  anderseits  historischer  Natur. 
Durch  genaue  psychologische  Analyse  dessen,  was  in  uns  vorgeht,  wenn 
wir  eigene  oder  fremde  Handlungen  moralisch  beurteilen,  müßte  die 
psychologische  Grundlage  der   Sittenlehre  geschaffen   werden.    Diese 

*)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  erster  Abschnitt,  IV,  241 
(Hartenstein). 


Allgemeine  Ethik 

Arbeit  müßte,  wie  wir  dies  als  allgemeine  Regel  für  die  Psychologie 
kennen  gelernt  haben,  nicht  nur  analytisch,  sondern  auch  genetisch 
und  biologisch  durchgeführt  werden.  Man  müßte  also  auf  den 
prung  des  moralischen  I  iefühls  zurückgehen  und  auch  zeigen,  in 
welchem  Zusammenhang  die  sittlichen  Forderungen  mit  dem  Leben 
des  Einzelnen  und  dem  der  ganzen  Menschheit  stehen. 

I  >a  es  nun  aber  schon  dem  oberflächlichen  Betrachter  auffallen 
muß,  daß  dieselben  Handlungen  zu  verschiedenen  Zeiten  und  bei  ver- 
schiedenen Völkern  verschieden  beurteilt  wurden,  daß  die  eine  Zeit  oft 
dasselbe  schätzt  und  bewundert,  was  die  andere  verabscheut,  und  daß 
namentlich  die  Intensitätsunterschiede  der  moralischen  Mißbilligung 
so  außerordentlich  bedeutend  sind,  so  erwächst  der  wissenschaftlichen 
Ethik  die  äußerst  schwierige  und  langwierige  Aufgabe,  die  moralische 
Beurteilung  von  den  niedrigsten  Kulturstufen  an  geschichtlich  zu  ver- 
folgen, um  vielleicht  die  Gesetze  ihrer  Entwicklung  kennen  zu  lernen. 

Dieser  historische  Teil  der  Ethik  ist  jetzt  durch  das  gründliche 
Werk  von  Eduard  Westermarck:  Origin  and  development  of  the  moral 
ideas  (Ursprung  und  Entwicklung  der  Moralbegriffe,  deutsche  Be- 
arbeitung von  Leopold  Kutscher,  1906— 1909)  auf  eine  viel  festere 
Grundlage  gestellt  worden.  In  dem  genannten  Werke  ist  die  moralische 
Beurteilung  insbesondere  bei  den  Naturvölkern  durch  ein  außerordent- 
lich reiches  Tatsachenmaterial  veranschaulicht  und  es  ist  auch  ver- 
sucht worden,  den  allmählichen  Wandel  dieser  Beurteilungen  bei  den 
Kulturvölkern  darzustellen.  Dieser  Teil  des  Werkes  bedarf  allerdings 
noch  vielfach  der  Ergänzung,  allein  die  Grundlage  für  weitere  For- 
schungen ist  auch  hier  gegeben. 

Erst  wenn  durch  psychologische  und  historische  Untersuchungen 
das  Material  gesammelt  und  verarbeitet  vorliegt,  kann  mit  Aussicht 
auf  Erfolg  die  weitere  Aufgabe  der  Ethik  gelöst  werden,  die  meist  als 
die  wichtigste  betrachtet  wird.  Die  Ethik  hat  nämlich  auch  Normen 
aufzustellen  für  das  menschliche  Handeln,  welche  zu  Grundsätzen 
werden  sollen,  nach  denen  wir  unser  Benehmen  einrichten,  und  die 
namentlich  in  den  so  häufigen  Fällen  der  Kollision  der  Pflichten  unsere 
Entscheidung  zu  bestimmen  berufen  sind.  Insbesondere  aber  sollen 
diese  Normen  für  die  Erziehung  der  Jugend  maßgebend  sein.  Hier 
können  sie  viel  leichter  zu  fruchtbringender  Wirkung  gebracht  werden 
und  zum  Fortschritt  der  sittlichen  Entwicklung  beitragen.  Diese  n  o  r- 
m  a  t  i  v  e  Aufgabe  der  Ethik  ist  viel  früher  und  in  weit  ausgedehnterem 
Maße  in  Angriff  genommen  worden  als  die  theoretisch-historische. 

Die  Ethik  oder  Moralphilosophie,  auch  praktische  Philo- 
sophie genannt,  ist  demnach  die  PhilosophiedesWollens. 
Ihre  Aufgabe  besteht  darin,  die  Gesetze  der  moralischen  Beurteilung 
zu  erforschen  und  Normen  für  das  sittliche  Handeln  aufzustellen. 

\K  Philosophie  des  Wollens  findet  aber  die  Ethik  gleich  bei  ihrem 

Ausgangspunkt  ein  Problem  vor,  das  sogar  ihre  Möglichkeit  in  Frage 

stellt.  Es  ist  dies  die  viel  erörterte  Frage,  ob  der  Wille  des  Menschen 

überhaupt  frei  und  ob  er  fähig  ist,  die  an  ihn  gestellten  Forderungen 

zu  erfüllen. 

/u  diesem  Problem  müssen  wir  also  vorerst  Stellung  nehmen. 


S  41.  Das  Problem  der  Willensfreiheit  169 

§  41.  Das  Problem  der  Willensfreiheit 

Die  Frage,  ob  der  Wille  des  Menschen  frei  ist,  gehört  nicht  zu 
denen,  auf  die  sich  einfach  mit  „ja"  oder  mit  „nein"  antworten  läßt. 
Man  stellt  die  Frage  von  sehr  verschiedenen  Standpunkten  aus  und  da 
bekommt  das  Wort  „frei"  jedesmal  einen  ganz  anderen  Sinn.  Es  gibt 
eben  nicht  bloß  ein  einziges  Problem  der  Willensfreiheit,  sondern 
mehrere  solche  Probleme.  Man  kann  zum  mindesten  drei  verschiedene 
Standpunkte  und  damit  ebensoviele  verschiedene  Fragestellungen 
unterscheiden. 

1.  Was  man  gewöhnlich  unter  dem  Problem  der  Willensfreiheit 
versteht,  das  ist  eine  metaphysische  oder  ontologische  Frage. 
Wer  in  diesem  Sinne  die  Behauptung  aufstellt:  Der  Wille  des  Men- 
schen ist  frei,  für  den  bedeutet  das  Wort  „f  r  e  i"  soviel  als :  außer- 
halb des  Kausalgesetzes  stehend.  Es  gibt  zwar  jeder- 
mann zu,  daß  Vorstellungen  und  Urteile  als  Motive  auf  unseren  Willen 
einwirken,  und  gewöhnlich  leugnet  man  auch  nicht,  daß  Gefühle  als 
Triebfedern  bei  unseren  Willensentscheidungen  eine  Rolle  spielen.  Allen 
diesen  Einflüssen  gegenüber,  so  lehrt  der  Anhänger  der  metaphysischen 
Willensfreiheit,  hat  der  Wollende  jedoch  die  Macht,  sich  ganz  selbständig 
zu  entscheiden.  Jeder  Willensentschluß  ist  eine  freie  Tat  meiner  Per- 
sönlichkeit. Mein  Wille  ist  die  einzige  Ursache  meiner  Tat  und  hat  selbst 
keine  andere  Ursache  als  sich  selbst.  Jeder  Willensakt  ist  in  diesem 
Sinne  ein  absoluter  Anfang.  Der  Wille  mag  also  durch  Motive  und 
Triebfedern  beeinflußt  werden,  endgültig  bestimmt  oder  determiniert 
kann  er  nur  durch  sich  selbst  werden.  Da  also  nichts  Äußeres  den 
Willen  zu  lenken  vermag  und  die  Entscheidung  niemals  durch  andere 
Ursachen  endgültig  determiniert  werden  kann,  so  bezeichnet  man  diese 
Ansicht  von  der  absoluten,  metaphysischen  Willensfreiheit  als  I  n- 
determinismus.  Die  Anhänger  dieser  Theorie  stützen  sich  auf 
die  psychologische  Tatsache,  daß  wir  vor  jeder  Entscheidung  über- 
zeugt sind,  wir  könnten  auch  anders,  und  nach  der  Entscheidung  mit 
Sicherheit  glauben,  wir  hätten  auch  anders  können.  Sie  weisen  ferner 
auf  die  Unvorhersehbarkeit  jeder  Willenshandlung  hin  und  bedienen 
sich  mitunter  auch  noch  eines  ethischen  Argumentes.  Wenn  wir  nämlich 
für  unsere  Handlungen  verantwortlich  sein  sollen,  so  sei  dies  nur  dann 
mit  der  Forderung  der  Gerechtigkeit  vereinbar,  wenn  wir  bei  der  Ent- 
scheidung vollkommen  selbständig  und  frei  waren. 

Gegen  diese  Auffassung  werden  nun  überaus  gewichtige  Ar- 
gumente ins  Feld  geführt.  Man  weist  zunächst  darauf  hin,  daß  jede 
Willenshandlung  doch  auch  in  physischen  Bewegungen  bestehe,  und 
daß  diese  Bewegungen  doch  irgendwie  durch  vorhergehende  physische 
Vorgänge  verursacht  sein  müssen.  Man  macht  ferner  geltend,  daß  auch 
das  seelische  Geschehen  dem  Kausalgesetz  unterworfen  sei.  Jeder 
Mensch  ist  durch  seine  angeborenen  Anlagen,  durch  die  Erziehung 
und  durch  die  sonstigen  Einflüsse  seiner  Umgebung  zu  dem  geworden, 
was  er  ist.  Seine  Willenshandlungen  müssen  also  unbedingt  Ergeb- 
nisse seiner  bisherigen  Entwicklung  sein  und  könnten  von  einer  Intelli- 
genz, die  alle  diese  Faktoren  mit  einem  Blicke  zu  übersehen  in  der  Lage 


]  70  Allgemeine  Ethik 

wäi      .    nz   ebenso   vorausberechnet   und   vorausgesagt  werden,  wie 
etwa  Jas  I  intreten  einer  Sonnenfinsternis.  Endlich  sei  ein  ursachloses 

schehen  für  den  wissenschaftlich  geschulten  Verstand  einfach  un- 
denkbar. Deshalb  müsse  man  jede  Willenshandlung  als  einen  Vor- 
gang  ansehen,  der.  wie  alles  andere  Geschehen,  durch  das,  was  vorher- 
ging, vollkommen  oder,  wie  die  Mathematiker  sagen,  eindeutig  bestimmt 
"der  determiniert  sei.  Hiese  vollständige  Leugnung  der  Willensfreiheit 
« ird  nun  als  Determinismus  bezeichnet. 

Infolge  der  großen  Fortschritte,  welche  die  mathematische  Natur- 
wissenschaft,  die  Chemie  und  besonders  die  Technik  in  den  letzten 
Jahrhunderten  machen  konnten,  schien  der  Determinismus  derart  die 
t  überhand  gewonnen  zu  haben,  daß  viele  Philosophen  und  Psychologen 
die  Frage  für  erledigt  hielten  und  der  Ansicht  waren,  jeder  wissen- 
schaftlich Denkende  müsse  sich  zum  Determinismus  bekennen.  In  den 
letzten  Jahrzehnten  sind  aber  in  William  James,  in  Henri  Bergson 
und  in  Karl  Joel  wieder  geistvolle  Verteidiger  des  Indeterminismus  er- 
standen. Man  hat  die  überaus  große  Kompliziertheit  der  Willensvor- 
g  ige  richtiger  erkannt  und  überdies  auch  einsehen  gelernt,  daß  die 
geistigen  Prozesse  im  Menschen  selbst  bedeutsame  kosmische  Kräfte 
sind,  die  das  Weltgeschehen  nachhaltig  beeinflussen.  Man  muß  des- 
halb sagen,  daß  sich  das  metaphysische  Willensproblem  derzeit  in 
vollem  Flusse  befindet. 

Die  Entscheidung  darüber,  ob  eine  Willenshandlung  im  meta- 
physischen Sinne  als  „f  r  e  i"  angesehen  werden  kann,  hängt  in  letzter 
Linie  von  der  Auffassung  des  Verhältnisses  zwischen  Geistigem  und 
Körperlichem,  zwischen  Leib  und  Seele  ab.  Für  den  Anhänger  des 
Materialismus  kann  es  keine  Willensfreiheit  geben,  weil  er  ja  alles 
Seelische  nur  als  sekundäre  Begleiterscheinung  physiologischer  Vor- 
gänge ansieht,  die  selbstverständlich  durch  das  allgemeine  Kausal- 
etz  alles  Naturgeschehens  vollkommen  determiniert  sind.  Aber  auch 
die  anderen  monistischen  Weltanschauungen  betonen  die  Gesetzlichkeit 
alles  Geschehens  so  stark,  daß  für  die  Willensfreiheit  kein  Raum  bleibt. 
Nur  vom  Standpunkte  der  dualistischen  Weltanschauung,  die 
wir  oben  als  durchaus  berechtigt  nachgewiesen  haben,  läßt  sich  eine 
im  metaphysischen  Sinne  freie  und  eben  deshalb  unvorhersehbare 
Willensentscheidung  denken.  Aber  auch  hier  liegt  die  Sache  nicht  so 
einfach.  Wenn  wir  auch  überzeugt  sind,  daß  unser  Wille  aus  eigener 
Kraft  in  der  Lage  ist,  unseren  Körper  zu  bewegen,  so  müssen  wir  doch 
zugeben,  daß  unser  Wollen  mit  den  übrigen  Vorgängen  in  unserem 
Bewußtsein  in  einem  innigen  Zusammenhange  steht.  Daß  auf  unseren 
Willen  die  Motive  und  die  Triebfedern,  die  in  uns  wirksam  sind,  einen 
großen  I  influß  haben,  wird  ja  niemand  leugnen  können.  Fs  kann  sich 
also  bloß  darum  handeln,  ob  diese  Motive  und  Triebfedern  die  Willens- 
handlung  vollständig  bestimmen,  oder  ob  ihnen  gleichsam  nur  eine 
beratende  Stimme  zufällt,  der  gegenüber  schließlich  doch  der  Wille 
seine  souveräne  1  ntscheidung  trifft.  So  betrachtet,  verliert  aber  das 
metaphysische  Willensproblem  viel  von  seiner  Bedeutung.  Wer  die 
menschlichen  Willenshandlungen  zum  Gegenstand  des  Nachdenkens 
macht,  also  der  Psycholog,  der  Richter  und  der  Ethiker,  der  Soziologe 


§  41.  Das  Problem  der  Willensfreiheit  171 

und  der  Geschichtschreiber,  der  wird  immer  nach  den  Motiven  und 
nach  den  Triebfedern  suchen  müssen  und  kann  die  subtile  Frage  nach 
der  endgültigen  Entscheidung  auf  sich  beruhen  lassen.  So  führt  also 
das  metaphysische  Freiheitsproblem  selbst  zu  den  anderen  Stand- 
punkten hin,  von  denen  wir  oben  sprachen. 

2.  Vom  psychologischen  Standpunkt  aus  betrachtet,  heißt 
„f  r  e  i"  soviel  als  „ohne  das  Gefühl  des  äußeren  oder 
inneren  Zwange  s".  Wenn  wir  im  Vollbesitze  unserer  geistigen 
Kräfte  mit  ruhiger  Überlegung  eine  Entscheidung  treffen,  deren  Trag- 
weite wir  zu  ermessen  vermögen,  dann  handeln  wir  aus  unserer 
eigensten  Persönlichkeit  heraus  und  fühlen  uns  vollständig  frei.  Stehen 
wir  dagegen  unter  äußerem  Zwange  oder  sind  wir  von  einer  heftigen 
Leidenschaft  bewegt,  dann  handelt  etwas  Fremdes  in  uns  und  wir 
fühlen  uns  unfrei.  Psychologisch  betrachtet  ist  also  die  Freiheit  des 
Willens  kein  Problem,  sondern  eine  unleugbareTatsache.  So- 
bald sich  die  Willensfunktion  über  das  Streben  und  Begehren  hinaus 
zum  deutlich  bewußten  Wollen  entwickelt  hat,  dann  erleben  wir  die 
Tatsache  der  psychologischen  Willensfreiheit  in  jedem  Willensakt  und 
jedes  solche  Erlebnis  ist  ein  neuer,  unwiderleglicher  Beweis  dafür.  Je 
reicher  sich  nun  unser  Denken  entwickelt,  je  mehr  Vorstellungen  und 
Urteile  uns  bei  unseren  Willensakten  zur  Verfügung  stehen,  desto  freier 
erscheint  dann  jedes  Wollen.  „Bildung  macht  frei",  weil  sie 
uns  reicher  macht  an  Erfahrungen  und  Kenntnissen  und  uns  dadurch 
immer  neue  Mittel  und  Wege  erschließt,  unter  denen  wir  wählen  können. 
Je  reicher  die  Auswahl  ist,  desto  deutlicher  fühlen  wir  die  Freiheit 
unseres  Wählens  *). 

3.  Durch  den  Hinweis  auf  die  Tatsache  der  psychologischen 
Willensfreiheit  wird  auch  das  ethisch-juristische  Willens- 
problem geklärt.  Von  diesem  Standpunkt  aus  wird  eine  Willenshand- 
lung dann  als  f  r  e  i  betrachtet,  wenn  sie  mit  dem  Bewußtseinder 
Verantwortlichkeit  vollzogen  wird.  Wenn  ich  nun  im  Voll- 
besitz meiner  geistigen  Kräfte  eine  Entscheidung  fälle,  so  ist  das  meine 
eigene  Tat  und  ich  finde  es  ganz  in  der  Ordnung,  daß  sie  mir  zu- 
gerechnet wird.  Handeln  wir  aber  unter  äußerem  Zwang  oder  unter  der 
Herrschaft  eines  starken  Affektes,  dann  betrachtet  uns  auch  das  Gesetz 
nicht  mehr  als  voll  verantwortlich.  Kinder,  Schwachsinnige,  Betrunkene 
sind  nicht  im  Vollbesitze  ihrer  geistigen  Kräfte  und  gelten  daher  vor 
dem  Gesetz  nicht  als  zurechnungsfähig.  Notwehr,  heftige  Leidenschaft 
und  Verhältnisse,  welche  das  Gesetz  als  „unwiderstehlichen  Zwang"  be- 
trachtet, heben  die  Zurechnungsfähigkeit  auf  oder  vermindern  sie  doch. 

Für  die  Ethik  und  für  die  Rechtswissenschaft  ist  also  die  Willens- 
freiheit eine  unerläßliche  Voraussetzung.  Alle  moralische  Be- 
urteilung und  alle  strafrechtlichen  Bestimmungen  gehen  von  der  An- 
nahme aus,  daß  der  im  Vollbesitz  seiner  geistigen  Kräfte  befindliche 
Mensch  die  Fähigkeit  besitzt,  aus  eigener  Überlegung  frei  zu  handeln. 
Ohne  diese  Annahme  müßten  die  Begriffe  der  Absicht  und  der  Schuld, 
die  Institutionen  der  Haftung  und  der  Strafe  ihren  Sinn  und  ihre  Be- 


")  Vgl.  Jerusalem,  Lehrbuch  der  Psychologie,  7.  Aufl.,  S.  202  ff. 


1  72  Allgemeine  tthik 

deutung  verlieren.  1  ür  den  Sittenlehrer  und  für  den  Gesetzgeber  genügt 
aber  vollständig  das  Bewußtsein  der  Freiheit  und  beide  brauchen  in 
ihrem  Denken  und  in  ihrem  Handeln  nicht  darauf  zu  warten,  bis  das 
metaphysische  Willensproblem  gelöst  ist. 

1  u r  den  \ufbau  der  Ethik,  mit  der  wir  es  hier  zu  tun  haben, 
kompliziert  sich  jedoch  das  Willensproblem  durch  zwei  Momente,  die 
schon  jetzt  erwähnt  werden  müssen,  obwohl  sie  erst  weiter  unten  den 
I  iegenstand  unserer  Darlegungen  bilden  werden.  Das  eine  dieser  Mo- 
mente ist  der  soziologische,  das  zweite  der  metaphysische 
I  inschlag  der  Ethik. 

1  He  grundlegende  und  umfassende  Bedeutung  der  Soziologie 
für  die  ganze  Ethik  wird  weiter  unten  dargelegt  werden.  Schon  hier 
aber  muß  auf  einen  Begriff  hingewiesen  werden,  dessen  Wichtigkeit 
für  die  Soziologie  und  für  die  Ethik  erst  in  der  neuesten  Zeit  erkannt 
wurde.  Wir  meinen  den  Begriff  des  Gesamt  willens,  der  neben 
und  über  dem  Einzelwillen  seinen  mächtigen  Einfluß  geltend  macht. 
Der  Gesamtwille  tritt  uns  in  den  herrschenden  Glaubensvorstellungen, 
im  geltenden  Recht,  in  der  Sitte,  in  der  Mode,  in  der  öffentlichen  Mei- 
nung und  schließlich  in  der  Organisation  des  Staates  entgegen.  Er 
durchdringt  jede  Willensentscheidung  des  Einzelnen  in  hohem  Grade 
und  oft  ist  der  Einzelne,  der  sich  frei  zu  entscheiden  meint,  nur  ein 
unbewußter  Träger  des  Gesamtwillens.  Im  Laufe  der  Kulturentwick- 
lung hat  sich  der  selbständig  gewordene  Einzelmensch  aber  auch  die 
Fähigkeit  und  die  Neigung  erworben,  dem  Gesamtwillen  kritisch  gegen- 
überzutreten und  ihn  eventuell  auch  zu  bekämpfen.  Gerade  diese  Selb- 
ständigkeit der  reif  gewordenen  Persönlichkeit  gegenüber  den  Impera- 
tivischen Forderungen  der  Gesellschaft  meint  man  gewöhnlich,  wenn 
man  im  engeren  Sinne  von  der  Freiheit  des  Individuums  spricht. 
Das  Verhältnis  des  Einzelwillens  zum  Gesamtwillen  ist  für  die  Entwick- 
lung der  sittlichen  Forderungen  von  grundlegender  Bedeutung.  Wir 
werden  weiter  unten  sehen,  daß  die  Entfaltung  selbständiger  und  eigen- 
kräftiger Persönlichkeiten  ein  wichtiger  Hebel  der  moralischen  Entwick- 
lung wird  und  neue  Forderungen  aufstellt,  die  das  ethische  Niveau 
immer  höher  zu  heben  geeignet  sind.  Dabei  bleibt  aber  der  Gesamtwille 
ethisch  in  höchstem  Grade  bedeutsam,  weil  er  der  Träger  der  sozialen 
Imperative  wird,  von  deren  Befolgung  das  Wohl  und  die  Existenz  der 
I  iesellschafi  abhängen.  Inwiefern  die  dadurch  entstehenden,  oft  schein- 
bar entgegengesetzten  ethischen  Ziele  und  Richtungen  sich  vereinigen 
lassen,  das  wird  in  dem  Abschnitt  über  soziologische  Ethik  klargestellt 
werden. 

I  inen  metaphysischen  Einschlag  erhält  die  Ethik  da- 
durch, daß  der  menschliche  Wille  und  überhaupt  die  Bestimmung  des 
Menschen  seit  den  ältesten  Zeiten  mit  dem  göttlichen  Willen  in 
Beziehung  gebracht  wird.  Man  hat  mit  tiefem  Ernst  die  Frage  er- 
örtert, ob  der  Mensch  die  I  ähigkeit  besitzt,  aus  eigener  Kraft  sich  zur 
sittlichen  Vollkommenheit  emporzuarbeiten  und  sich  dadurch  die  ewige 
Seligkeit  zu  sichern,  oder  ob  dabei  die  göttliche  Gnade  mitwirken  müsse. 
Die  ethischen  Probleme  treten  überhaupt  von  allem  Anfang  an  im 
Zusammenhang  mit  religiösen  Vorstellungen  auf  und  bis  in  die 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  173 

neueste  Zeit  hinein  wird  darüber  gestritten,  ob  Sittlichkeit  ohne  Reli- 
gion möglich  sei.  Die  sittlichen  Forderungen  werden  jedenfalls  vielfach 
als  Gebote  Gottes  aufgefaßt  und  erhalten  dadurch  ihre  metaphysische 
Begründung.  Es  läßt  sich  aber  auch  nachweisen,  daß  die  Entwicklung 
des  sittlichen  Bewußtseins,  das  im  Laufe  der  Zeiten  durch  die  kompli- 
zierteren Formen  des  gesellschaftlichen  Zusammenlebens  sich  immer 
reicher  gestaltet,  in  hohem  Grade  läuternd  auf  die  religiösen  Vorstel- 
lungen zurückwirkt.  Der  menschliche  Wille  scheint  sich  dabei  zu  so 
großer  Freiheit  und  Selbständigkeit  zu  erheben,  daß  er  aus  eigener 
Kraft  sich  selbst  das  Sittengesetz  gibt  und  dadurch  der  Religion  einen 
rein  ethischen  Charakter  verleiht. 

Dadurch  wird  aber  die  Ethik  selbst  zur  Grundlegung  der  Meta- 
physik erhoben.  Der  sittliche  Wille  gibt  erst  der  Welt  und  der  Gottheit 
ihre  wahre  Bedeutung.  Das  ist  ganz  deutlich  die  Meinung  Fichtes,  der 
ausdrücklich  sagt:  „Unsere  Welt  ist  das  versinnlichte  Material  unserer 
Pflicht"  *).  So  gestaltet  sich  die  Ethik  immer  deutlicher  zu  einer  wirk- 
lichen Philosophie  des  Wollen  s,  in  der  der  sittliche  Wille 
nicht  nur  frei,  sondern  auch  schöpferisch  erscheint  und  so  selbst  zu 
einem  kosmischen  Prinzip  geworden  ist. 

Wir  wollen  nun  zeigen,  wie  sich  die  Ethik  zu  dieser  hohen  Auf- 
gabe allmählich  hinauf  entwickelt  hat. 

§  42.  Entwicklung  der  Ethik 

Als  Begründer  der  wissenschaftlichen  Ethik  gilt  dem  ganzen 
Altertum  Sokrates,  der  Sohn  des  Sophroniskos  aus  Athen  (469 — 399 
v.  Chr.).  Cicero  sagt  von  ihm,  er  habe  als  erster  die  Philosophie  von 
den  verborgenen  Dingen,  mit  denen  alle  früheren  Philosophen  sich  be- 
schäftigt hatten,  abgelenkt  und  sie  dem  gewöhnlichen  Leben  zugeführt. 
Die  Dinge  im  Himmel  liegen  weitab  von  unserer  Erkenntnis,  könnten 
aber  auch,  selbst  wenn  sie  genau  bekannt  wären,  nichts  zum  richtigen 
Leben  beitragen  (Academica  post.  I,  IV,  15).  An  einer  anderen  Stelle 
heißt  es  noch  deutlicher,  Sokrates  habe  als  erster  die  Philosophie  vom 
Himmel  abgelenkt,  sie  in  die  Städte  und  in  die  Häuser  eingeführt  und 
sie  gezwungen,  über  das  Leben  und  über  die  Sitten,  über  Gut  und  Böse 
Untersuchungen  anzustellen  (Tusc.  V,  4,  10).  Damit  ist  ausdrücklich 
bezeugt,  daß  Sokrates  zuerst  mit  vollem  Bewußtsein  den  Menschen  und 
seine  sittliche  Bestimmung  zum  Gegenstand  des  philosophischen  Nach- 
denkens gemacht  hat.  Dazu  waren  allerdings  in  den  Strömungen  seiner 
Zeit  die  mannigfachsten  Anlässe  gegeben.  Durch  die  Denkarbeit  der 
ionischen  Naturphilosophen  war  der  Glaube  an  die  überlieferten  Er- 
zählungen von  den  Göttern  stark  erschüttert.  Die  Aufklärungstätigkeit 
der  älteren  Sophisten  (Protagoras,  Oorgias,  Hippias)  und  die  fort- 
gesetzte Demokratisierung  Athens  unter  Perikles  und  seinen  Nach- 
folgern hatte  zur  Folge,  daß  das  geltende  Recht,  die  Autorität  des 
Staates,  die  überkommenen  Sitten  und  Einrichtungen,  das  Verhältnis 
der  Kinder  zu  den  Eltern  und  überhaupt  Erziehungs-  und  Bildungs- 

*)  Fichte,  „Über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine  göttliche  Welt- 
regierung", S.  W.  5,  185. 


j  74  Allgemeine  Ethik 

[ragen  lebhaft  erörtert  wurden.  Die  [ragödien  des  Euripides,  die  Lust- 
spiele des  Aristophanes,  besonders  die  „Wolken"  und  die  „Wespen", 
einzelne  Stellen  im  Geschichtswerk  des  Thukydides  (bes.  II,  35  ff.  und 

III.  82),  die  Dialoge  Piatons  aus  seiner  Frühzeit  (bes.  der  Protagoras, 
der  Gorgias,  der  kl.  Iltppias)  geben  ein  anschauliches  Bild  dieser  Be- 
wegung der  <  leister. 

-  krates  hatte  sich  mit  den  Lehren  der  Naturphilosophen  bekannt 
gemacht  und  keine  Befriedigung  darin  gefunden.  Er  war  mit  einigen 
Sophisten  zusammengekommen,  hatte  ihre  Vorträge  gehört  und  die  Art 
ihres  fugendunterrichtes  kennen  gelernt.  Dadurch  gelangte  er  dann  zur 
Klarheit  über  seinen  eigenen  Beruf.  Mit  vollem  Bewußtsein  stellte  er 
sich  die  Aufgabe,  seine  Mitbürger,  besonders  die  jungen  Leute,  zur 
Selbstbesinnung  anzuregen  und  ihnen  zu  zeigen,  daß  im  richtigen 
Denken  und  im  starken,  zielbewußten  Wollen  für  jeden  Menschen  die 
sichere  Quelle  des  wahren  Glückes  zu  finden  sei.  „Für  den  guten  Mann 
gibt  es  kein  Übel  weder  im  Leben  noch  im  Tode,"  sagt  Sokrates  in 
seiner  Verteidigungsrede  vor  Gericht  und  in  diesen  Worten  sind  zwei 
Grundgedanken  der  somatischen  —  und  wir  dürfen  auch  sagen 
der  allgemein  menschlichen  Ethik  enthalten.  Es  ist  einerseits  die  A  u  t  o- 
nomie  und  anderseits  die  Autarkie  des  sittlichen  Bewußtseins, 
die  Sokrates  hier  für  seine  Mitbürger,  aber  auch  für  alle  Menschen  und 
Zeiten  verkündet  hat. 

Die  Autonomie  oder  die  Selbständigkeit  des  sittlichen  Be- 
wußtseins ist  für  Sokrates  dadurch  gegeben,  daß  er  überzeugt  ist,  jeder 
I  inzelne  habe  in  sich  die  Fähigkeit  zur  sicheren  Einsicht  in  das 
R  i  c  h  t  i  g  e  zu  gelangen.  Diese  durch  eindringendes  Nachdenken  über 
sich  selbst  gewonnene  Erkenntnis  macht  den  Menschen  u  n  a  b  h  ä  n- 
g  i  g  von  der  Meinung  der  Vielen  und  gibt  zugleich  dem  Willen  die 
Kraff,  gemäß  der  so  erarbeiteten  Überzeugung  zu  handeln.  In  diesem 
Sinne  ist  die  Tugend  für  Sokrates  ein  W  i  s  s  e  n,  eine  Erkenntnis 
und  deshalb  1  e  h  r  b  a  r.  Wer  sich  etwa  durch  sinnliche  Begierden 
von  dem  richtigen  Weg  ablenken  läßt,  der  hat  sich,  nach  Sokrates 
Meinung,  eben  noch  nicht  zu  der  vollständigen,  zu  der  sicheren  Ein- 
sicht emporgearbeitet.  Dieser  intellektua  listische  Grundzug 
der  somatischen  Ethik  ist  oft  als  verfehlte  Einseitigkeit  bezeichnet  und 
bekämpft  worden.  Tatsächlich  hat  aber  Sokrates  damit  die  ewige  Wahr- 
heit ausgesprochen,  daß  das  bewußte  Nachdenken  über  sittliche  Fragen 
die  erste  und  die  wichtigste  Bedingung  für  einen  sittlichen  Lebens- 
wandel ist,  wenn  man  auch  vielleicht  wird  zugeben  müssen,  daß  die 
richtige  I  rkenntnis  allein  nicht  immer  dazu  ausreicht. 

Das  intellektualistische  Moment  in  der  Ethik  des  Sokrates  hängt, 

wie  wir  später  deutlich  sehen  werden,  mit  seinem  indi vidual isti- 

h  e  n  Standpunkt  eng  zusammen.  Sokrates  hatte  in  seinem  Wirken 

Sittenlehrer  minier  nur  den  einzelnen   Menschen  im  Auge.  Diesen 

wollte  er  anregen  und  zur  sittlichen  Selbstbesinnung  veranlassen.  Er 

einer  Verteidigungsrede  ausdrücklich,  daß  er  die  öffentliche 

Wirksamkeil  im  Staate  nicht  für  das  richtige  Mittel  halte,  die  Menschen 

besser  zu  machen.  „Wer  wirklich  für  das  Rechte  kämpfen  will,  der  muß 

dies  im  Privatleben  tun  und  nicht  im  öffentlichen."  {Pluto,  Apol.  C.  20.) 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  175 

Von  diesem  Standpunkt  aus  wird  das  zweite  Prinzip  der  soma- 
tischen Ethik  verständlich,  das  wir  eben  als  Autarkie  des  sittlichen  Be- 
wußtseins bezeichnet  haben.  Autarkie  heißt :  Selbstgenügsam- 
keit. Nun  ist  das  Ziel  alles  menschlichen  Handelns,  also  auch  des 
sittlichen  Tuns,  nach  Sokrates  Überzeugung  die  eigene  Glückselig- 
keit oder  Eudämonie.  Sokrates  ist  aber  davon  durchdrungen,  daß 
das  wahre  Glück  jedes  Menschen  nur  durch  die  Einsicht  in  das  Richtige 
zu  gewinnen  ist.  Handelt  er  nun  auf  Grund  dieser  Einsicht,  so  wahrt  er 
zugleich  am  sichersten  seinen  wahren,  seinen  dauernden  Vorteil.  Das 
Einhalten  des  als  richtig  erkannten  Weges  bringt  nämlich  selbst  das 
stärkste  Glücksgefühl  mit  sich  und  reicht  somit  für  sich  allein  zur  Er- 
langung der  Glückseligkeit  aus,  die  eben  in  diesem  Tun  besteht.  Das 
sittliche  Bewußtsein  ist  also  sich  selbst  genug  und  wer  ganz  davon 
durchdrungen  ist  und  darnach  sein  Leben  einrichtet,  wird  dadurch  zu- 
gleich unabhängig  vom  Schicksal.  Wir  finden  diesen  großen 
ethischen  Gedanken  der  Autarkie  bei  den  Stoikern,  bei  Spinoza  und 
auch  bei  Kant  wieder  und  dürfen  also  sagen,  daß  Sokrates  hier  wahr- 
haft grundlegend  gewirkt  hat.  Was  wir  in  der  Lehre  des  Sokrates  ver- 
missen, das  ist  eine  nähere  Bestimmung  des  Inhaltes  der  sittlichen 
Normen.  Sokrates  wollte  offenbar  keine  bestimmten  Lehren  verbreiten, 
sondern  glaubte,  daß  die  Aufrüttlung  des  Gewissens,  das  Hinlenken 
auf  Selbstbesinnung  das  Wesentliche  sei.  Jeder  einzelne  werde  dann 
schon  den  seiner  Natur,  seinen  Anlagen,  seinen  Kräften  gemäßen  Weg 
finden.  Zu  einer  solchen  Wirksamkeit  brachte  Sokrates  allerdings  eine 
ganz  ungewöhnliche  Begabung  mit.  Die  Wirkung  seiner  Unterredungen 
wird  uns  in  der  Rede  des  Alkibiades  in  Piatons  „Gastmahl"  überaus 
eindrucksvoll  geschildert.  Wir  erkennen  sie  aber  auch  an  den  lebendigen 
Anregungen  des  Meisters,  die  wir  bei  seinen  Schülern  und  Enkel- 
schülern wirksam  finden. 

Für  sich  selbst  hat  übrigens  Sokrates  sich  seinen  Pflichtenkreis 
auch  inhaltlich  bestimmt.  Er  hat  sich  aus  freiem  Entschluß  den  Beruf 
erwählt,  gemäß  dem  Gebote  des  delphischen  Gottes  „Erkenne  dich 
selbst"  sein  Inneres  zu  erforschen  und  seine  Mitbürger  zu  steter  Selbst- 
prüfung anzuregen  und  ihr  Gewissen  aufzurütteln.  Diesem  Berufe  zu- 
liebe hat  er  seine  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  vernachlässigt,  und 
während  die  Sophisten  sich  durch  ihren  Unterricht  bereicherten,  ist 
Sokrates  sein  ganzes  Leben  lang  arm  geblieben.  Diese  erzieherische 
Tätigkeit,  dieses  ununterbrochene  Forschen  und  Prüfen  ist  ihm  nach- 
gerade so  sehr  zum  Bedürfnis,  so  sehr  zur  zweiten  Natur  geworden, 
daß  er  seinen  Richtern  sagte:  „Ein  Leben  ohne  fortgesetzte  Prüfung 
ist  für  den  Menschen  nicht  lebenswert."  (P/ato,  Apol.  C.  28.)  Für 
diesen  Beruf  hat  Sokrates  gelebt  und  für  ihn  ist  er  standhaft  in  den 
Tod  gegangen. 

Neben  dieser  selbstauferlegten  Pflicht,  in  der  Sokrates  eine  Art 
göttlicher  Sendung  erblickte,  erkannte  er  auch  die  Pflichten  gegen  den 
Staat  in  vollem  Ausmaß  an  und  hat  sein  Handeln  auch  diesem  Grund- 
satze gemäß  eingerichtet.  Sokrates  fühlte  sich  ganz  als  athenischer 
Bürger.  Als  solcher  hat  er  dreimal  Kriegsdienste  geleistet  und  sich  da- 
bei sehr  tapfer  gehalten.   Als  ihn  nun  seine   Freunde  dazu  bewegen 


1  7o  Allgemeine  t'thik 

wollten,  eins  dem  Kerker  zu  entfliehen,  da  weigerte  er  sich  entschieden 
und  setzte  ihnen  auseinander,  daß  er  sich  ja  dadurch,  daß  er  immer  in 
\ilun  geblieben  sei,  stillschweigend  verpflichtet  habe,  die  Gesetze 
-seiner  Vaterstadt  zu  halten.  Er  müsse  sich  ihnen  deshalb  auch  jetzt 
fügen,  wenngleich  er  auf  Grund  derselben  zum  Tode  verurteilt  sei. 
Sokrates  fühlte  also  in  sich  eine  doppelte  moralische  Verpflichtung. 
Diesem  Gedanken  hat  er  in  seiner  Verteidigungsrede  einen  ebenso 
schlichten  als  erhabenen  Ausdruck  verliehen.  „Wo  einer  sich  selbst  hin- 
gestellt hat,  weil  er  es  für  das  beste  hielt,  oder  wo  er  vom  Vorgesetzten 
hingestellt  wurde,  dort  muß  er  ausharren,  auch  in  der  Gefahr,  und 
darf  sich  dabei  weder  um  den  Tod  noch  um  etwas  anderes  mehr  küm- 
mern, als  um  das,  was  die  Ehre  gebietet."  (Plato,  Apol.  C.  16.) 
SokraUs  hat  damit  eine  moralische  Synthese  vollzogen,  die  wir  später 
als  den  Höhepunkt  der  sittlichen  Entwicklung  werden  darzulegen 
haben.  Wag  sein,  daß  Plato,  der  uns  ja  die  Verteidigungsrede  über- 
liefert hat,  seinen  Meister  darin  etwas  idealisiert  hat,  aber  sicher  ist 
doch  so  viel,  daß  Sokrates  für  seinen  sittlichen  Beruf  ruhig  und  freudig 
in  den  Tod  gegangen  ist.  Dadurch  aber  haben  seine  Lehren  eine  so 
große  Kraft  erhalten,  daß  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  fortwirken. 

Sokrates  hat  selbst  nichts  geschrieben,  sondern  nur  durch  persön- 
liche   Unterredung    seine    Grundsätze    weitergegeben.    Unter    seinen 
Schülern  ist  wohl  Antisthenes  derjenige,  der  die  Lehren  des  Meisters 
am  treuesten  bewahrt  und  in  seinem  Sinne  fortgebildet  hat.    Anti- 
sthenes hielt  sich  vor  allem  an  die  Autarkie  des  sittlichen  Bewußt- 
seins und  glaubte,  in  der  Bedürfnislosigkeit  die  wichtigste 
Bedingung  dafür  gefunden  zu  haben.  Diese  macht  den  Menschen  wahr- 
haft unabhängig  von  der  Meinung  der  Menge  und  vom  Schicksal,  sie 
ist  die  Quelle  der  von  Sokrates  geforderten  inneren   Freiheit. 
Antisthenes  ist  der  Begründer  derkynischen  Schule,  deren  charak- 
teristischester Vertreter  sein  Schüler  Diogenes  aus  Sinope  geworden 
ist.  Diogenes  hat  den  Grundsatz  der  Bedürfnislosigkeit  auf  die  Spitze 
getrieben,  ist  mit  Bettelstab  und  Ranzen  umhergezogen,  hat  sich  über 
alle  konventionellen  Schranken  der  Sitte  hinweggesetzt  und  mit  großer 
Derbheit  den  Luxus  und  die  Sinnenlust  als  die  Quelle  eingebildeter  Be- 
dürfnisse gegeißelt.  Mit  der  von  Sokrates  geforderten  Autarkie  hat  er 
in  so  radikaler  Weise  Ernst  gemacht,  daß  ihn  Plato  einen  verrückt  ge- 
wordenen Sokrates  nannte.  In  konsequenter  Verfolgung  des  Gedankens 
der  inneren  Freiheit  und  Selbstgenügsamkeit  hat  Diogenes  seine  Zu- 
gehörigkeit zu  einem  bestimmten  Gemeinwesen,  zu  einem  Staate  geleug- 
net und    ich  einen  „Bürger  der  Welt",  einen  Kosmopoliten  ge- 
nannt.  Damit  aber  hat  dieser  als  Karikatur  verspottete  Kyniker  den 
Gedanken   und   die    Idee  der  ganzen    Menschheit  als  einer 
großen  I  inheit  in  die  Welt  gebracht.  Wir  werden  weiter  unten  sehen, 
daß  dieser  Übergang  vom  extremen  Individualismus  zum  U  n  i- 
versalismus  ein  bisher  wenig  beachtetes,  aber  sehr  wichtiges  sozio- 
logisch« -  I  lesetz  zum  Ausdruck  bringt,  das  sich  in  den  verschiedensten 
Zeitperioden  als  wirksam  und  für  die  Entwicklung  der  Ethik  als  sehr 
bedeutsam  erweist.     Daß  aber  dieser  Übergang  ganz  im  Geiste  des 
Sokrates  begründet  war.  erhellt  daraus,  daß  man  im  Altertum  gelegent- 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  177 

lieh  auch  von  Sokrates  selbst  erzählte,  er  habe  sich  einen  Weltbürger 
genannt,  was  freilich  mit  seiner  treuen  Anhänglichkeit  an  seine  Vater- 
stadt sich  schwer  in  Einklang  bringen  läßt  *).  Jedenfalls  hat  Diogenes 
dadurch,  daß  er  den  Namen  und  den  Begriff  des  Weltbürgers  schuf, 
in  der  Entwicklung  des  sittlichen  Bewußtseins  einen  wichtigen  Schritt 
nach  vorwärts  getan. 

Die  S  t  o  i  k  e  r,  die  wir  als  die  philosophischen  Erben  der  kynischen 
Schule  betrachten  dürfen**),  haben  die  Gemeinschaft  aller  Menschen 
energisch  betont  und  sind  auch  für  die  Autarkie  des  sittlichen  Bewußt- 
seins entschieden  eingetreten.  Nun  haben  aber  die  Stoiker  nicht  nur  auf 
die  christliche  Gedankenwelt  des  Altertums,  sondern  auch  auf  die 
Philosophie  der  neueren  Zeit,  besonders  auf  Descartes,  auf  Spinoza 
und  auf  Kant  starken  Einfluß  geübt  und  so  haben  die  sittlichen 
Grundsätze  des  Sokrates  bis  auf  unsere  Zeit  weitergewirkt  und  wirken 
noch  fort. 

Die  Kyniker  glaubten,  wie  gesagt,  die  Autarkie  des  sittlichen  Be- 
wußtseins am  sichersten  durch  die  Bedürfnislosigkeit  zu  erreichen.  Um 
sich  nun  zu  dieser  Unabhängigkeit  hinaufzuarbeiten,  dazu  bedarf  es 
zunächst  der  Einsicht  in  die  Nichtigkeit  der  Güter,  die  von  den  Men- 
schen am  meisten  erstrebt  werden.  Dazu  bedarf  es  ferner  der  „soma- 
tischen Kraft",  um  die  sinnlichen  Triebe  zu  überwinden  und  überdies 
unaufhörlicher  „Übung"  in  dieser  Überwindung.  Als  Folgeerscheinung 
dieser  fortgesetzten  Arbeit,  die  von  den  Kynikern  mit  den  Arbeiten  des 
Herakles  verglichen  wurde,  stellte  sich,  namentlich  bei  Diogenes,  ein 
starkes  Gefühl  der  inneren  Sicherheit  ein,  das  eine  heitere  Seelenstim- 
mung auslöste,  die  sich  in  seinem  überlegenen,  oft  sehr  drastischen,  aber 
auch  sehr  treffenden  Witz  äußert.  Diese  Freudigkeit,  die  überall  die 
Wirkung  der  inneren  Freiheit  ist,  liegt  nun  ebenfalls  auf  dem  Wege, 
den  Sokrates  gewiesen  hat  und  selbst  gegangen  ist.  Höffding  hat  in 
seinem  schönen  Buche  über  den  „großen  Humor"  Sokrates  mit  vollem 
Recht  als  einen  der  größten  Humoristen  bezeichnet***).  Es  ist  deshalb 
kein  Wunder,  wenn  ein  anderer  Schüler  des  Sokrates  den  Weg  zur 
inneren  Freiheit  nicht  wie  die  Kyniker  durch  Entbehrung,  sondern 
durch  überlegenes  Genießen  zu  gewinnen  suchte. 

Dieser  Schüler  war  Aristipp,  der  Begründer  der  k  y  r  e  n  a  i- 
sehen  Schule.  Das  Ziel  des  Lebens  ist  für  ihn  nicht  der  allgemeine, 
unbestimmte  Zustand  der  Glückseligkeit,  sondern  die  unmittelbar  er- 
lebte, gegenwärtige  sinnliche  Lust.  Diese  darf  aber  nicht  so  stark, 
nicht  so  heftig  sein,  daß  sie  den  Menschen  ganz  einnimmt,  sie  muß 
vielmehr  einer  „sanften  Bewegung"  gleichen,  so  daß  der  Weise  immer 
noch  darüber  steht  und  sie  mit  vollem  Bewußtsein  genießt.  Aristipp 
verlangt  vom  Philosophen,  daß  er  in  jeder  Lebenslage  das  Lustvolle 

*)  So  finden  wir  bei  Cicero  Tusc.  V,  37,  108,  die  Mitteilung-,  daß  Sokrates 
auf  die  Frage,  was  für  ein  Landsmann  er  sei,  geantwortet  habe,  „ein  Weltbürger", 
denn  er  hielt  sich  für  einen  Einwohner  und  Bürger  der  ganzen  Welt.  Ebendas- 
selbe sagt  Epiktet,  Diss.  I,  9,  1. 

**)  Zeno,  der  Stifter  der  stoischen  Schule,  war  ein  Schüler  des  Kynikers 
Krates. 

***)  Höffding,   „Der  Humor  als  Lebensgefühl  (Der  große  Humor)",  Deutsch 
v.  Göbel,  Leipzig  1918.  S.  170  ff. 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u    10.  Aufl.  12 


]  78  Allgemeine  Ethik 

zu  finden  und  in  voller  Überlegenheit  zu  genießen  verstehe.  Auch  er 
strebt  also  nach  innerer  Freiheit,  nach  Unabhängigkeit  vom  Schicksal 
und  gib!  so  dem  soldatischen  Grundgedanken  der  Autarkie  eine  neue, 
eigene  Gestalt.  Sein  Liebesverhältnis  zu  der  berühmten  Hetäre  Lais  be- 
zeichnet Aristipp  mit  den  Worten:  „Ich  bin  Besitzer,  nicht  Besitz" 
(:/,„.  oox  :/v'7'i  Horaz  kennzeichnet  die  Lehre  des  Aristipp  sehr 
treffend  mit  den  Versen:  „Wiederum  komm  ich  zurück  auf  den  Satz 
Arisüpps  und  versuche,  Mir  die  Dinge,  nicht  mich  den  Dingen  gefügig 
zu  machen"  *).  Während  also  die  Kyniker  die  Unabhängigkeit  durch 
Entbehren  und  Entsagen,  durch  kraftvolle  Bekämpfung  der  sinnlichen 
Triebe  zu  erringen  suchten,  glaubt  Aristipp  auf  dem  Wege  der  mäßigen 
Freude  zur  inneren  Freiheit  gelangen  zu  können.  Er  hat  damit  einen 
sehr  wichtigen  ethischen  Gedanken  ausgesprochen,  dessen  Bedeutung 
allerdings  nur  langsam  und  spät  erkannt  wurde  und  vielleicht  heute 
noch  nicht  genügend  gewürdigt  wird.  Epikur,  der  Arisüpps  Anschau- 
ungen aufnahm,  galt  lange  und  gilt  vielen  heute  noch  als  der  Vorkämpfer 
der  Sünde.  Die  christliche  Kirche  hat  die  Lehren  Epikurs,  die  zu  ihrer 
1  leilslehre  in  schroffem  Gegensatze  standen,  begreiflicherweise  immer 
auf  das  schärfste  bekämpft.  Erst  in  der  neueren  Zeit  haben  einzelne 
Denker  den  ethischen  Wert  der  Freude  einzusehen  begonnen.  So  finden 
wir  bei  Spinoza  (Eth.  IV.,  45.  Anmerkung)  die  entschiedene  Über- 
zeugung ausgesprochen,  daß  mäßige  Freude  den  Körper  und  den  Geist 
der  Vollendung  näher  bringe.  In  voller  Tiefe  hat  allerdings  erst  Schiller 
die  sittliche  Bedeutung  der  Freude  erkannt.  Schon  in  seiner  Jugend  hat 
er  in  dem  bekannten  Hymnus  die  menschenverbindende  Kraft  der 
Freude  gepriesen.  Als  reifer  Mann  aber  hat  er  in  seinen  Briefen  über 
die  ästhetische  Erziehung  des  Menschen  die  Freude  am  Schönen  und 
an  der  Kunst  als  den  besten  Weg  zur  inneren  Freiheit  und  zur  wahren 
Menschlichkeit  bezeichnet.  Auch  Goethe  hat  gesagt,  daß  die  Freudig- 
keit die  Mutter  aller  Tugenden  ist.  Die  wissenschaftliche  Ethik  unserer 
Zeit  hat  diesen  Gedanken  bis  jetzt  nicht  genügend  gewürdigt  und  so 
bleibt  es  wohl  erst  der  Zukunft  vorbehalten,  den  ethischen  Wert  der 
Freude  ganz  zu  erfassen  und  daraus  für  die  Sittenlehre  und  besonders 
für  die  Erziehung  der  Jugend  die  Konsequenzen  zu  ziehen.  Jedenfalls 
aber  sehen  wir  schon  jetzt,  wie  mannigfach  und  wie  fruchtbar  die  An- 
regungen sind,  die  Sokrates  für  die  Erkenntnis  des  sittlichen  Bewußt- 
seins gegeben  hat. 

I  >ies  tritt  vielleicht  noch  deutlicher  bei  Piaton  hervor,  dem  größten 
und  einflußreichsten  Schüler  des  Sokrates. 

Piaton  hat  die  ethischen  Gedanken  seines  Meisters  dadurch  er- 
weitert und  vertieft,  daß  er  bemüht  war,  ihnen  eine  ausreichende  theo- 
retische Grundlage  zu  geben.  Er  versucht  zunächst  eine  psycho- 
logische Grundlegung  der  Ethik  zu  gewinnen.  Die  Seele  besteht 
nach  Piaion  aus  drei  Teilen,  aus  der  V  e  r  n  u  n  f  t,  aus  der  edlen,  mut- 
artigen Leidenschaft  und  aus  der  niederen  sinnlichen  Begierde.  Sollen 
nun  alle  diese  Teile  harmonisch  zusammenwirken,  so  muß  die  Vernunft 

*)  „Nunc  in  Aristippi  furtim  praeeepta  relabor.  Et  mihi  res,  non  me  rebus 
subjungere  conor."  Hör.  epist.  I,  1,  18  f. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  179 

über  die  edle  Leidenschaft  ebenso  wie  über  die  sinnliche  Begierde  die 
Herrschaft  führen.  Piaton  bedient  sich  im  Dialog  „Phaedrus"  dafür  des 
berühmt  gewordenen  Bildes  von  einem  Zweigespann,  dessen  Rosse  der 
Mut  und  das  Begehren  sind,  während  die  Vernunft  zum  Wagenlenker 
bestimmt  ist.  Wenn  nun  in  der  Seele  dieses  Verhältnis  zwischen  ihren 
Teilen  besteht,  dann  ist  Gesundheit,  Harmonie  vorhanden,  und  diesen 
Zustand  bezeichnet  Piaton  als  G  e  r  e  c  h  t  i  g  k  e  i  t.  Das  Wesen  dieser 
wichtigsten  Tugend  tritt  aber  nach  Piatons  Überzeugung  viel  deut- 
licher zutage,  wenn  man  ihre  Bedingungen  nicht  in  der  Seele  des  Ein- 
zelnen, sondern  im  S  t  a  a  t  e  aufsucht.  Piaton  hat  bekanntlich  in  seinem 
bedeutendsten  Werke,  in  der  „Politeia",  den  Plan  eines  idealen  Gemein- 
wesens entworfen,  in  welchem  den  drei  Teilen  der  Seele  drei  ver- 
schiedene Stände  entsprechen.  Die  Vernunft  wird  darin  vertreten 
durch  den  Stand  der  „Hüter",  die  den  Staat  zu  leiten  berufen  sind.  Das 
„Mutartige"  (döfioeiSsc)  wird  repräsentiert  durch  die  Klasse  der 
„Helfer"  oder  Krieger,  die  dazu  bestimmt  sind,  den  Staat  zu  verteidigen. 
Der  dritte  Stand  ist  der  der  Landwirte  und  der  Gewerbetreibenden.  Er 
entspricht  insofern  den  niederen  Begierden,  als  er  alles  herbei- 
zuschaffen hat,  was  zur  Befriedigung  der  sinnlichen  Bedürfnisse,  also 
zur  Ernährung,  zur  Bekleidung,  zur  Wohnung  u.  dgl.,  nötig  ist.  Wenn 
nun  in  diesem  Staate  jeder  „das  Seine"  tut,  das  heißt  das,  wozu  er 
durch  seine  Geburt,  seine  Anlage  und  seine  Erziehung  am  besten  be- 
fähigt ist,  wenn  ferner  die  Klasse  der  „Hüter"  genügend  wissenschaft- 
lich, philosophisch  und  moralisch  geschult  ist,  um  überall  das  Richtige 
anzuordnen,  dann  fühlt  sich  jeder  einzelne  wohl  und  das  Ganze  wird 
einheitlich,  harmonisch  in  sich  gefestigt  und  deshalb  von  dauerndem 
Bestand  sein.  Das  ist  nun  die  G  e  r  e  c  h  t  i  g  k  e  i  t  im  großen,  die  auch 
hier  wieder  im  harmonischen  Zusammenwirken  der  Teile  besteht*). 

Piaton  hat  also  nicht  nur  eine  psychologische,  sondern  auch  eine 
soziologische  Grundlegung  der  Ethik  versucht  und  gerade 
dadurch  sind  seine  Darlegungen  für  die  Gegenwart  und  be- 
sonders für  die  Zeit  nach  dem  Weltkrieg  von  geradezu  aktueller  Be- 
deutung. Die  Forderungen,  die  er  an  die  Lenker  der  Staaten  stellt,  so- 
wie seine  Betonung  der  ethischen  Aufgaben  des  Staates  werden  jetzt 
besonders  dringend  und  bedeutungsvoll.  Wir  verstehen  vielleicht  erst 
heute  diese  Gedanken  ganz  zu  würdigen. 

Dazu  kommt  aber  noch  ein  Weiteres.  Piaton  hat  neben  der  psycho- 
logischen und  soziologischen  Begründung  der  ethischen  Forderungen 
noch  den  Versuch  gemacht,  diese  Forderungen  mit  seiner  Weltanschau- 
ung in  Einklang  zu  bringen  und  ihnen  so  eine  Art  metaphysischen  oder 
kosmischen  Gepräges  zu  geben.  Das  wahrhaft  Seiende  sind  für  Piaton 
die  ewigen,  unveränderlichen,  nur  geistig  zu  schauenden  Urbilder  der 
Dinge,  die  Ideen.  An  einer  Stelle  seines  Werkes  über  den  Staat  legt 
er  nun  dar,  daß  die  Ideen  selbst  ihr  Dasein,  ihren  Zweck  und  ihre 

*)  Piaton  stellt  das  Wesen  der  Gerechtigkeit  zuerst  im  Staate  dar  und  zeigt 
dann  in  einer  sehr  geistvollen  ausführlichen  Erörterung,  daß  die  Gerechtigkeit 
in  der  Seele  des  Einzelnen  auf  denselben  Grundlagen  beruht  wie  im  Staate. 
(Polit.  IV,  c.  11—19,  p.  435—445,  in  der  deutschen  Übersetzung  von  Apelt, 
S.  156  ff.) 

12* 


1  80  Allgemeine  Ethik 

Wesenheit  dadurch  erhalten,  daß  sie  von  der  Idee  des  Guten 
gleichsam  durchdrungen  werden.  Die  Idee  des  Guten  wirkt  dabei  auf 
die  Ideen  ähnlich  wie  die  Sonne  auf  die  sichtbaren  Dinge.  „Die  Sonne 
verleiht  dem,  was  gesehen  wird,  nicht  nur  das  Vermögen,  gesehen  zu 
werden,  sondern  auch  Werden,  Wachstum  und  Nahrung.  Also  mußt 
du  auch  sagen,  daß  dem  Erkennbaren  nicht  nur  das  Erkanntwerden 
von  dem  Guten  zuteil  werde,  sondern  daß  es  sein  Sein  und  Wesen 
von  ihm  habe"*).  Die  Idee  des  Guten  fließt  bei  Piaton  gelegentlich 
mit  der  ( Gottheit  in  eins  zusammen.  Jedenfalls  bezeichnet  der  Philosoph 
den  Weltbildner,  wo  er  von  einem  solchen  spricht,  als  Inbegriff  der 
Güte  und  sagt  von  ihm,  daß  er  beim  Schaffen  der  Welt  die  Absicht 
hatte,  daß  alles  gut  sei  und  nichts  Schlechtes  bestehe  (Timaeus, 
p.  29  E  ff.).  Das  Sittliche  wird  hier  von  Piaton  zum  Weltprinzip  er- 
hoben und  mit  der  Religion  in  nahen  Zusammenhang  gebracht.  Auch 
hier  hat  Piaton  anregend  auf  das  spätere  Altertum,  auf  die  christliche 
Ethik  und  auf  die  neuere  Zeit  eingewirkt.  Wird  doch  das  Verhältnis 
der  Sittlichkeit  zur  Religion  auch  heute  als  eine  durchaus  noch 
nicht  endgültig  gelöste  Frage  betrachtet. 

Wir  dürfen  also  sagen,  daß  Piaton  durch  seine  psychologische, 
durch  seine  soziologische  und  durch  seine  theologische  Grundlegung 
der  Ethik  geradezu  die  Richtlinien  gezogen  hat,  auf  denen  sich  das 
Nachdenken  über  sittliche  Fragen  in  der  Folgezeit  bewegt  hat. 

Aristoteles  hat  der  wissenschaftlichen  Ethik  den  Namen  gegeben 
und  als  erster  diesem  Gegenstand  in  der  sogenannten  „Nikomachischen 
Ethik"  eine  eigene  Abhandlung  gewidmet.  Er  hat  darin  zunächst  die 
psychologische  Grundlegung  wesentlich  vertieft.  Durch  die  wichtige 
Entdeckung,  daß  die  Glückseligkeit  nicht  im  passiven,  untätigen  Ge- 
nießen gegeben  ist,  sondern  nur  durch  eine  dem  Wesen  des  Menschen 
entsprechende  und  gemäße  Tätigkeit  erlangt  werden  kann,  kommt  er 
zu  dem  bedeutsamen  Ergebnis,  daß  die  Tugend  in  einer  vernunft- 
gemäßen Tätigkeit  der  Seele  bestehe.  Aristoteles  erkannte  auch  die  in- 
tellektualistische  Einseitigkeit  des  Sokrates  und  wirft  ihm  mit  Recht 
vor,  daß  er  die  irrationalen  Teile  der  Seele  (ta  äXoY«  TV  V'rÄ->  ver" 
nachlässigt  habe.  Er  betont  deshalb  wiederholt  die  Bedeutung  der  Ge- 
wohnheit und  der  Willensenergie  für  die  sittliche  Entwicklung.  Wenn 
aber  Aristoteles  der  vernunftgemäßen  Tätigkeit  der  Seele  hauptsäch- 
lich die  Aufgabe  zuschreibt,  überall  die  Extreme  zu  vermeiden  und  die 
richtige  AI  i  1 1  e  zu  finden,  so  hat  er  ein  allzu  äußerliches  Merk- 
mal hervorgehoben,  das  für  das  Wesen  der  sittlichen  Forderung  so  gar 
nicht  charakteristisch  ist.  Es  ist  zwar  nicht  uninteressant  zu  lesen,  wie 
Aristoteles  die  einzelnen  Tugenden  nach  diesem  Prinzipe  darstellt,  in- 
dem z.  B.  die  Sparsamkeit  als  Mitte  zwischen  Geiz  und  Verschwen- 
dung, die  Tapferkeit  als  Mitte  zwischen  Feigheit  und  Verwegenheit  be- 
zeichnet wird.  Allein  er  vermag  selbst  das  Prinzip  nicht  überall  durch- 
zuführen und  wir  müssen  heute  offen  sagen,  daß  die  Philosophie  der 
mittleren  I  inie  die  größten  Taten  der  heroischen  Begeisterung  oder  der 
heroischen  Entsagung  ganz  und  gar  nicht  zu  würdigen  vermag.  Trotz- 


•    Plato,  „Staat",  509  b,  Obersetzung  von  Apelt,  S.  304. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  181 

dem  bleibt  die  nikomachische  Ethik  ein  sehr  anregendes  Werk.  Die 
schwierigen,  aber  tiefgründigen  Erörterungen  über  die  Gerechtigkeit  im 
fünften  Buche,  die  warmherzige,  und  feinsinnige  Schilderung  der 
Freundschaft  (VIII.  u.  IX.  Buch),  die  geradezu  erhebende  Lobpreisung 
des  der  denkenden  Betrachtung  gewidmeten  Lebens  (X.  Buch)  sind 
überaus  eindrucksvoll  und  von  bleibendem  Wert.  Als  notwendige  Ergän- 
zung seiner  Ethik  bezeichnet  Aristoteles  am  Schlüsse  des  Werkes  die 
Lehre  vom  Staate.  Nach  seiner  Überzeugung  ist  nämlich  der  Mensch 
von  Natur  aus  ein  soziales  Wesen,  das  nur  im  Zusammenleben  seine 
Kräfte  voll  entfalten  kann.  Der  staatlose  Mensch  ist,  wie  sich  Aristo- 
teles ausdrückt,  ein  Tier  oder  ein  Gott.  Die  „Politik"  soll  nach  dem 
eigenen  Zeugnis  des  Aristoteles  den  Abschluß  der  auf  das  Mensch- 
liche bezogenen  Philosophie  bilden  (Eth.  Nik.  X,  9).  Wir  kommen  auf 
dieses  Meisterwerk  weiter  unten  in  anderem  Zusammenhange  noch 
einmal  zu  sprechen. 

Die  auf  Aristoteles  folgende  hellenistisch-römische 
Periode  der  griechischen  Philosophie  ist  für  die  Entwicklung  der  Ethik 
besonders  bedeutsam.  Die  kleinen  griechischen  Stadtstaaten  verlieren 
nach  dem  Eroberungszuge  Alexanders  immer  mehr  ihre  Selbständig- 
keit und  infolgedessen  bekommt  das  Denken  der  Philosophen  eine  stark 
individualistische  Richtung.  Dazu  kam  noch,  daß  infolge  der 
vorangegangenen  Aufklärungszeit  im  fünften  und  vierten  vorchrist- 
lichen Jahrhundert  der  Glaube  an  die  überlieferten  Götter  seine  Macht 
über  die  Seelen  verloren  hatte.  So  verlangte  dann  der  nunmehr  ganz 
auf  sich  selbst  gestellte,  seiner  Götter  und  seines  Staates  verlustig  ge- 
gangene Einzelne  von  der  Philosophie  alles  das,  was  ihm  früher  der 
Glaube  und  die  Staatszugehörigkeit  gegeben  hatte.  Jeder  sehnte  sich 
nach  Seelenruhe,  nach  innerer  Unabhängigkeit  und  nach  persönlichem 
Glück.  Aus  diesen  Gründen  treten  in  der  Philosophie  dieser  Zeit  d  i  e 
ethischen  Probleme  in  den  Vordergrund.  Die  Philosophie  soll  die 
Wege  der  richtigen  Lebensführung  zeigen  und  so  die  Mittel  zur  Er- 
reichung des  nunmehr  ausschließlichen  Lebenszweckes,  der  indi- 
viduellen Glückseligkeit  darbieten. 

Epikur  (340—270  v.  Chr.)  versuchte  diesem  Bedürfnisse  durch 
eine  bequeme  und  leicht  annehmbare  Welt-  und  Lebensanschauung  zu 
genügen.  Seine  an  Demokritos  sich  anlehnende  materialistische  Natur- 
philosophie soll  die  Menschen  zunächst  von  der  abergläubischen 
Furcht  vor  übersinnlichen  Mächten  befreien  und  ihnen  die  Angst  vor 
dem  Tode  benehmen.  Als  das  höchste  Gut  bezeichnet  Epikur,  der  in 
der  Ethik  sich  an  Aristipp  anschließt,  die  Lust,  aber  nicht  den  für  den 
Augenblick  bestimmten  gegenwärtigen  Sinnengenuß,  sondern  das 
dauernde  Wohlbefinden  und  vor  allem  die  Schmerzlosigkeit.  Er  schätzt 
ferner  die  geistigen  Freuden  höher  ein  als  die  sinnlichen,  preist 
besonders  warm  den  Wert  der  Freundschaft  und  rät  seinen  Jüngern, 
sich  von  Staatsgeschäften  fernzuhalten  und  ein  zurückgezogenes  stilles 
Leben  im  Verborgenen  zu  führen  (Xdfte  ßtrioas). 

Epikurs  Naturphilosophie  ist  von  dem  römischen  Dichter  Lukrez 
(96—55  v.  Chr.)  in  seinem  Lehrgedicht  „Vom  Weltall"  (De  rerum 
natura)  eindrucksvoll  dargestellt  worden.  Seine  Lebensanschauung  hat 


Allgemeine  Ethik 

in  dem  vielgelesenen  Dichter  Horaz,  der  sich  selbst  ein  Tier  aus  Epi- 
kurs I  leide  nennt,  einen  warmen  und  liebenswürdigen  Anwalt  gefun- 
den. Durch  diese  zwei  Dichter,  besonders  durch  Lukrez,  ist  Epikur 
in  der  Rennis^auce/eü  wieder  bekannt  geworden  und  dadurch  ist  seine 
i  eine  auch  in  der  neueren  Zeit  einflußreich  geblieben.  Im  17.  Jahrhun- 
dert hat  Gassendi  ein  großes  Werk  über  Epikur  geschrieben  und  darin 
nicht  nur  die  mit  der  neu  entstandenen  mathematischen  Naturwissen- 
schaft übereinstimmende  Naturphilosophie  Epikurs,  sondern  auch  seine 
I  tluk  gewürdigt.  Auch  die  späteren,  auf  die  Selbstliebe  gegründeten 
Moralsysteme,  wie  z.  B.  das  des  tielveüus  im  achtzehnten  Jahrhundert, 
sind  von  Epikur  beeinflußt. 

Über  den  wertvollsten  ethischen  Gedanken,  den  Epikur  von  Ari- 
stipp  übernommen  hat,  den  Gedanken  nämlich,  daß  auch  die  Freude 
ein  Weg  zur  inneren  Freiheit  werden  kann,  haben  wir  bereits  oben  ge- 
sprochen. Daraus  kann  aber  ein  geläuterter  Epikureismus  hervorgehen, 
der  eine  EthikderFreude  herausarbeitet,  die  für  die  fernere  sitt- 
liche Entwicklung  neue  Wege  zu  bahnen  berufen  ist. 

Nachhaltiger  als  durch  Epikur  ist  die  Ethik  der  Folgezeit  von 
den  Stoikern  beeinflußt  worden.  Diese  Philosophenschule,  die  un- 
gefähr gleichzeitig  mit  der  Epikurs  begründet  wurde  (um  300  v.  Chr.), 
hat,  wie  bereits  oben  bemerkt  wurde,  das  philosophische  Erbe  der 
Kyniker  übernommen,  deren  Grundlehren  aber  selbständig  weiter  ent- 
wickelt. Die  sicherste  Gewähr  der  dauernden  Glückseligkeit  finden  die 
Stoiker,  wie  vor  ihnen  die  Kyniker,  in  der  Unabhängigkeit  vom 
Schicksal,  in  der  Bedürfnislosigkeit  und  im  kraftvollen  Vertrauen  auf 
die  eigene  Vernunft.  Das  höchste  Gut  ist  für  sie  nicht  die  Lust,  sondern 
die  Freiheit  von  Leidenschaften,  die  Apathie.  Um  dazu  zu  gelangen, 
muß  man  ein  Leben  führen,  das  mit  der  Naturübereinstimmt. 
Wie  Epikur,  so  gründen  nämlich  auch  die  Stoiker  ihre  Ethik  auf  eine 
bestimmte  Naturphilosophie.  Diese  ist  bei  den  Stoikern  m  a- 
terialistisch  und  pantheistisch  zugleich.  Die  ganze  Welt 
ist  für  die  Stoiker  ein  großer,  lebendiger  Körper,  dessen  Teile  sämtlich 
von  dem  göttlichen  Urfeuer,  vom  Lebenshauch  (Pneuma)  durchdrungen 
werden.  Dieses  Pneuma  ist  in  verschiedenen  Graden  der  Reinheit  und 
der  Feinheit  vorhanden.  In  den  unorganischen  Körpern  bewirkt  es  den 
Zusammenhalt  der  Teile,  bei  Pflanzen  und  Tieren  ist  es  der  Quell  des 
sich  selbst  erhaltenden  Lebens.  Im  Menschen  wirkt  es  als  vernünftig 
erkennende  und  das  Vernünftige  wollende  Seele.  In  der  Natur  herrscht 
unverbrüchliche  Gesetzmäßigkeit,  die  von  den  Stoikern  als  „Schicksal" 
bezeichnet  wird.  Zugleich  aber  wirkt  das  göttliche  Urfeuer,  aus  dem 
die  Welt  hervorgeht,  auch  als  anerkennende  Vernunft  und  als  zweck- 
setzende Intelligenz.  Neben  dem  unerbittlichen  Schicksal  steht  die  gütig 
vorsorgende  Vorsehung.  Ja,  es  ist  ein  und  dasselbe  reale,  materielle 
Wesen,  das  beide  Funktionen  ausübt,  die  kausale  Bewirkung  alles  Ge- 
schehens und  die  Hinführung  dieses  Geschehens  zum  schönsten,  besten 
und  vernünftigsten  Zweck  *). 

*)  Ich  folge  in  der  Darstellung  der  stoischen  Lehre  den  vortrefflichen  Dar- 
ungen    Hans   v.  Arnims     (Aller.   Gesch.   der   Philosophie),   S.   219  ff.,   in   dem 
Sammelwerke  ..Die  Kultur  der  Gegenwart",  I,  5. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  183 

Der  Mensch  besitzt  nun  im  „führenden"  Teil  seiner  Seele  (im 
Hegemonikon)  eine  geistige  Kraft,  die  der  göttlichen  Weltvernunft 
wesensgleich  ist.  Bringt  er  diese  seine  Vernunft  zur  vollen  Entfaltung, 
so  daß  sie  imstande  ist,  die  störenden  Triebe  und  Affekte  niederzuhalten, 
dann  erfüllt  er  seine  eigentliche  Bestimmung,  dann  erwirbt  er  die 
Tugend  und  findet  in  ihrem  Besitz  das  wahre  und  dauernde  Glück.  Da 
nun,  wie  bereits  bemerkt  wurde,  die  menschliche  Vernunft  mit  der  gött- 
lichen Weltvernunft  wesensgleich  ist,  so  ist  das  der  Vernunft  gemäße 
Leben,  in  dem  die  Tugend  besteht,  zugleich  in  vollem  Einklänge  mit 
der  den  Naturlauf  bestimmenden  Weltvernunft  und  somit  auch  über- 
einstimmend mit  der  Natur. 

Die  Begründer  und  ersten  Häupter  der  stoischen  Schule  (Zeno, 
Kleanthes  und  besonders  Chrysippus)  bilden  diese  Lehre  mit  schroffer 
Konsequenz  aus.  Wer  vernunftgemäß  lebt,  der  ist  ganz  unabhängig 
vom  Schicksal,  frei  von  Leidenschaften,  vollkommen  tugendhaft  und 
damit  zugleich  vollkommen  glücklich.  Er  hat  die  Gottheit  in  seinen 
Willen  aufgenommen  und  wird  dadurch  den  Göttern  gleich.  Dieses 
Ideal  des  Weisen  schildern  die  Stoiker  mit  den  stärksten  Aus- 
drücken und  können  sich  in  seinem  Preise  gar  nicht  genug  tun.  Wer 
dagegen  die  Vernunft  in  sich  nicht  zur  Herrschaft  bringen  kann,  der 
bleibt  ein  unwissender  Tor,  wird  von  Begierden  und  Leidenschaften 
hin-  und  hergeworfen  und  kann  daher  niemals  die  Seelenruhe,  niemals 
die  Tugend  und  deshalb  auch  niemals  die  Glückseligkeit  gewinnen. 
Zwischen  dem  Weisen  und  dem  Toren,  zwischen  dem  Tugendhaften  und 
dem  Schlechten  gibt  es  bei  den  älteren  Stoikern  keine  Übergänge.  Man 
muß  die  Tugend  und  damit  das  Glück  entweder  ganz  besitzen  oder 
ihrer  vollständig  entraten.  Für  den  vollkommen  Weisen  sind  Lust,  Ge- 
sundheit, Reichtum,  Ehre  und  Ruhm  keine  Güter,  Krankheit,  körper- 
licher Schmerz,  Armut  keine  Übel.  Alles  dies  gehört  für  ihn  zu  den 
gleichgültigen  Dingen  (Adiaphora).  Zwischen  diesen  Adiaphora  gibt 
es  nun  allerdings  doch  Wertunterschiede.  Alles  das,  was  dem  natür- 
lichen Selbsterhaltungstriebe  gemäß  ist,  wie  Gesundheit,  Kraft,  gutes 
Gedächtnis,  leichte  Auffassungsgabe,  das  gehört  zu  den  „bevorzugten" 
Dingen  (Proegmena),  was  diesem  Triebe  widerstreitet,  wie  z.  B. 
Schmerz,  Krankheit,  seelische  Stumpfheit  wird  den  „nicht  bevorzugten", 
den  zu  vermeidenden  Dingen  zugezählt  (Apoproegmena).  Was  und 
wieviel  uns  von  diesen  Dingen  zuteil  wird,  hängt  nicht  von  uns  ab  und 
deshalb  sind  sie  weder  Güter  noch  Übel.  Zu  wahren  Gütern  werden 
sie  erst  durch  den  Gebrauch,  den  der  Weise  von  ihnen  macht,  und  so 
ändert  diese  Unterscheidung  nichts  an  der  konsequenten  Strenge  der 
stoischen  Tugendlehre.  Nur  ein  der  Vernunft  gemäßes  und  eben  des- 
halb auch  mit  der  wahren  Natur  des  Menschen  übereinstimmendes 
Leben  entspricht  den  Forderungen  der  Tugend.  Ihr  Besitz  aber  macht 
uns  vollkommen  frei  von  Leidenschaften,  ganz  unabhängig  vom  Schick- 
sal und  bedeutet  somit  für  jeden  auch  die  vollkommenste  Glückseligkeit. 

Die  Stoiker  haben  somit  die  von  Sokrates  aufgestellte  Forderung 
nach  vollständiger  Autonomie  und  Autarkie  des  sittlichen  Be- 
wußtseins streng  durchgeführt  und  ihr  durch  die  metaphysische  Be- 
gründung   einen    festen    Halt    gegeben.     Die    Geschlossenheit    ihres 


184  Allgemeine  Ethik 

Systems  und  die  Strenge  ihrer  sittlichen  Vorschriften  hat  dieser  Philo- 
sophie m  Kom  Eingang  verschafft  und  durch  die  Vermittlung  von 
(  icero  und  Seneca  haben  ihre  Gedanken  auf  die  Philosophie  der  Neu- 
zeit mächtig  eingewirkt.  Wir  finden  die  Spuren  stoischen  Denkens  ganz 
deutlich  bei  Descartes,  bei  Spinoza  und  insbesondere  in  der  Ethik 
Kants. 

Der  nachhaltige  Einfluß  der  stoischen  Ethik  ist  aber  nicht  bloß 
auf  die  Strenge  ihrer  sittlichen  Forderung  zurückzuführen.  Es  kommt 
dabei  muh  ein  anderes  wichtiges  Moment  in  Betracht,  das  bisher  nicht 
genügend  erkannt  und  gewürdigt  wurde.  Die  Ethik  der  Stoiker  ist  so 
u Ie  die  Epikurs  zunächst  ebenfalls  rein  individualistisch  ge- 
richtet. Sie  soll  dem  Einzelnen  den  Weg  zeigen,  wie  er  in  sich  die  Ver- 
nunft zur  Herrschaft  bringen,  die  Leidenschaften  überwinden  und  da- 
durch zur  inneren  Freiheit,  zur  Unabhängigkeit  vom  Schicksal,  zur 
Tugend  und  zur  Glückseligkeit  gelangen  kann.  Nun  führt  aber,  wie 
weiter  unten  ausführlicher  gezeigt  werden  soll,  der  Individualismus 
mit  einer  Art  von  Naturnotwendigkeit  zum  Universalismus  und 
zum  Kosmopolitismus.  Diesen  Übergang  haben  nun  die  Stoiker 
mit  ausgesprochener  Deutlichkeit  vollzogen.  Die  Vernunft  ist  allen 
Menschen  in  gleicher  Weise  gegeben.  Wer  also  die  Vernunft  in  sich  zur 
Herrschaft  gebracht  hat,  der  lebt  in  natürlicher  Gemeinschaft  mit  allen 
Vernunftwesen.  Er  ist  Bürger  eines  großen  Staates,  der  die  ganze  Welt 
umfaßt  und  auch  die  Götter  in  sich  schließt.  Aus  dieser  Idee  der  Ein- 
heit des  Menschengeschlechtes  und  des  Weltbürgertums  haben  nun  die 
Stoiker  die  neue  sittliche  Forderung  der  allgemeinen  Mensch- 
lichkeit abgeleitet,  die  uns  gebietet,  in  jedem  unserer  Neben- 
menschen das  Menschentum  anzuerkennen,  an  allem,  was  ihn  betrifft, 
verständnisvollen  Anteil  zu  nehmen,  ihm  zu  helfen,  wenn  er  in  Net  ist, 
freundlich  mit  ihm  zu  verkehren,  zugleich  aber  auch  in  uns  selbst  den 
Sinn  für  jede  Art  feinerer  Ausbildung  des  Geistes  und  des  Herzens 
zu  wecken.  Neuere  Forschungen  haben  ergeben,  daß  es  besonders  der 
Stoiker  Panaeüus  aus  Rhodus  (zirka  180—110  v.  Chr.)  war,  der  für 
diese  neue  Forderung  in  Wort  und  Schrift  mit  besonderem  Nachdruck 
eingetreten  ist.  Panaeüus  war  viel  in  Rom  und  verkehrte  dort  in  dem 
vornehmen  und  gebildeten  Kreise,  der  sich  um  den  jüngeren  Scipio  ge- 
bildet hatte.  Dort  ist  wahrscheinlich  der  sprachliche  Ausdruck  für  diese 
neue  sittliche  Pflicht  geprägt  worden.  Sie  wurde  als  „h  u  m  a  n  i  t  a  s", 
als  Menschlichkeit,  als  Humanität  bezeichnet  und  in  diesem  Wort 
verdichteten  sich  hinfort  alle  auf  edlere  Menschlichkeit,  auf  Güte  und 
Wohlwollen,  auf  innere  Anteilnahme  gerichteten  ethischen  Bestre- 
bungen •).  Demselben  Kreise  gehörte  auch  der  Lustspieldichter  Terenz 
an  und  es  ist  deshalb  kein  bloßer  Zufall,  daß  das  oft  zitierte  Glaubens- 
bekenntnis der  Humanität  „Ein  Mensch  bin  ich,  nichts  Menschliches 
ist  mir  tremd"  (homo  sum,  humani  nil  a  me  alienum  puto)  sich  in 
einem  seiner  Lustspiele  findet**).  Aus  dieser  Forderung  ergeben  sich 
nun  viele  neue  Pflichten  für  den  Verkehr  der  Menschen  untereinander 

•)  Vgl. Reitzcnstcin, „Werden  und  Wesen  der  Humanität  im  Altertum",  1907. 
'•)  Heauton  Timorumenos  V.  77. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  185 

und  es  ist  deshalb  begreiflich,  daß  Panaetius  ein  eigenes  Buch  über 
die  Pflichten  verfaßt  hat,  dessen  Inhalt  und  Gedankengang  wir  aus 
Ciceros  freier  Bearbeitung  kennen  *).  Damit  ist  aber  die  Lehre  von 
den  Pflichten,  die  z.  B.  bei  Aristoteles  noch  gar  nicht  behandelt  wird, 
zu  einem  unentbehrlichen  Bestandstück  der  wissenschaftlichen  Ethik 
geworden,  das  nicht  mehr  daraus  verschwinden  kann. 

Wie  stark  die  von  Panaetius  aufgestellte  und  von  seinem  römi- 
schen Kreise  weitergebildete  Forderung  der  Humanität  auf  die  Neuzeit 
gewirkt  hat,  sieht  man  schon  daraus,  daß  Herder  die  Entwicklung  zur 
Humanität  als  den  Sinn  der  Weltgeschichte  ansah,  daß  Wilhelm  von 
Humboldt  eine  Philosophie  der  Humanität  zu  begründen  unternahm, 
und  daß  in  der  neuesten  Zeit  Wilhelm  Wundt  den  Gedanken  Herders 
wieder  aufgenommen  und  völkerpsychologisch  zu  begründen  ver- 
sucht hat. 

Die  Stoiker  haben  also  nicht  nur  die  von  Sokrates  aufgestellten 
Forderungen  der  Autonomie  und  der  Autarkie  des  sittlichen  Bewußt- 
seins weitergebildet  und  vertieft,  sondern  auch  neue  und  wertvolle  An- 
regungen für  das  Nachdenken  über  sittliche  Fragen  gegeben,  die  bis 
auf  unsere  Tage  fortwirken.  Dazu  gehört  besonders  die  Idee  des  Welt- 
bürgertums und  der  daraus  entstandene  Gedanke  der  Humanität.  Des- 
halb sind  die  auf  uns  gekommenen  Lehren  und  Schriften  der 
Stoiker  auch  heute  noch  besonders  geeignet,  denen,  die  darnach  ver- 
langen, sittliche  Belehrung  und  Erbauung  zu  bieten  **). 

Der  Grundzug  der  stoischen  Ethik  ist  die  Herrschaft  der  Vernunft 
über  die  Affekte.  In  dem  Ideal  des  Weisen,  das  die  Stoiker  so  gerne 
schildern,  gelangt  diese  Herrschaft  zur  Vollendung  und  damit  ist 
Tugend  und  Glückseligkeit  vollkommen.  Zu  dieser  Höhe  vermögen  sich 
aber  nur  ganz  wenige  hinaufzuschwingen.  Die  überwältigende  Mehr- 
zahl der  Menschen  fühlt  sich  unfähig,  aus  eigener  Kraft  zur  Selbst- 
erlösung zu  gelangen.  Deshalb  sehen  sich  die  meisten  nach  über- 
irdischer Hilfe  um  und  so  entsteht  in  der  ganzen  hellenistisch-römischen 


*)  Cicero  „De  ofh'ciis"  (Über  die  Pflichten),  in  drei  Büchern.  Was  darin 
dem  Panaetius  gehört,  hat  Schmekel  (Philosophie  der  mittleren  Stoa,  1892, 
S.  29 — 46)  sorgfältig  herausgearbeitet. 

**)  Von  den  Vertretern  der  älteren  und  der  mittleren  Stoa  sind  uns  nur 
Bruchstücke  oder  fremde  Bearbeitungen  erhalten.  Die  Lehren  der  älteren  Stoiker, 
besonders  die  des  Chrysippus,  sind  jetzt  vollständig  gesammelt  und  übersichtlich 
geordnet  in  dem  Werke  .,Stoicorum  veterum  fragmenta"  von  Hans  v.  Arnim  in 
5  Bänden  (1903).  Die  ethischen  Fragmente  finden  sich  im  dritten  Bande.  Die 
mittlere  Stoa,  deren  Hauptvertreter  Panaetius  und  Posidonius  waren,  kennen  wir 
aus  Ciceros  Schrift  Von  den  Pflichten  und  aus  seinen  allerdings  nur  fragmen- 
tarisch erhaltenen  Werken  über  den  Staat  (de  republica)  und  über  die  Gesetze  (de 
legibus).  Dagegen  besitzen  wir  von  den  Stoikern  der  römischen  Kaiserzeit  voll- 
ständige Werke  und  gerade  diese  sind  für  die  Gegenwart  bedeutsam.  Da  ist  zu- 
nächst Seneca  zu  nennen,  der  Lehrer  des  Kaisers  Nero,  auf  dessen  Befehl  er  sich 
im  Jahre  65  v.  Chr.  selbst  den  Tod  gab.  Von  seinen  Schriften  sind  besonders  die 
124  Briefe  moralischen  Inhalts  hervorzuheben.  Ferner  die  Schriften  über  den 
Zorn,  über  die  Milde,  über  Wohltun,  die  Trostschrift  an  seine  Mutter  Hclvia,  über 
das  glückliche  Leben,  über  die  Ruhe  des  Gemütes.  Sehr  eindrucksvoll  sind  ferner 
die  Schriften  des  Epiktet,  die  von  seinem  Schüler  Arrian  herausgegeben  wurden, 
und  ebenso  die  „Selbstbetrachtungen"  des  Kaisers  Mark  Aurel,  des  Stoikers  auf 
dem  Throne. 


1 36  Allgemeine  Ethik- 

Welt  eine  tiefe  Sehnsucht  nach  religiöser  Erbauung  und  Beruhi- 
gung. Da  jedoch  der  ülaube  an  die  olympischen  Götter  erschüttert 
war,  suchte  mau  bei  fremden,  namentlich  bei  orientalischen  Gottheiten 
Zuflucht.  Man  betete  zu  den  ägyptischen  Gottheiten  Serapis  und  Isis, 
/.u  der  phrygischen  Göttermutter  Kybele  und  besonders  zum  persischen 
Mithras.  Auch  der  geheimnisvolle,  durch  kein  Kultbild  dargestellte 
i  i-itt  der  Juden  Fand  vielfach  unter  den  Heiden  Gläubige  und  Verehrer. 
I  läufig  traten  Wahrsager,  Wundermänner  und  Zauberer  auf  und  fan- 
den leieln  eine  Gemeinde. 

Die  Philosophie  sah  sich  veranlaßt,  diesem  religiösen  Be- 
dürfnis Rechnung  zu  tragen.  Die  Stoiker  ließen  den  Volksglauben 
gelten  und  versuchten,  durch  allegorische  Umdeutung  der  überlieferten 
Mythen  die  volkstümlichen  Überlieferungen  in  ihr  philosophisches 
System  aufzunehmen.  Von  dieser  Methode  machen  dann  auch  die 
jüdisch-alexandrinischen  Denker  Gebrauch,  als  deren 
weitaus  hervorragendster  Vertreter  Philo  von  Alexandria  (20  v.  Chr. 
bis  50  n.  Chr.)  zu  betrachten  ist.  Philo  ist  ein  frommer,  gesetzestreuer 
Jude,  der  tief  in  die  griechische  Philosophie  eingedrungen  und  haupt- 
sächlich von  Piaton  und  von  den  Stoikern  beeinflußt  ist.  In  zahlreichen 
Schriften,  die  sich  meistens  an  die  fünf  Bücher  Mosis  anlehnen,  sucht 
er  darzutun,  daß  in  der  jüdischen  Religion  die  erhabenste  und  reinste 
Gotteslehre  und  Sittenlehre  enthalten  ist.  Diese  aber  stimmt  mit  der 
wahren  Philosophie,  wie  sie  von  Piaton  und  von  den  Stoikern  gelehrt 
wird,  vollständig  überein.  Philo  hat  den  Gottesbegriff  von  den  ihm  in 
der  Bibel  beigelegten  Vermenschlichungen  gereinigt  und  betrachtet 
Gott  als  das  höchste  Wesen,  das  vollendet  in  sich  ist  und  sich  selbst 
genügt.  Er  ist  von  der  Welt  geschieden  und  erfüllt  sie  doch  ganz.  Seine 
Eigenart  kann  der  Menschengeist  nie  ganz  ergründen.  Bei  der  Welt- 
schöpfung bedient  sich  Gott  der  in  ihm  wohnenden,  aber  nicht  mit  ihm 
identischen  Weltvernunft,  des  „Logos",  der  zwischen  Gott  und  Welt 
in  der  Mitte  steht  und  beide  miteinander  verbindet.  Philo  nennt  den 
Logos  gelegentlich  auch  den  erstgeborenen  Sohn  Gottes  oder  den 
„zweiten  Gott"  und  schreibt  ihm  auch  die  Aufgabe  zu,  der  Fürsprecher 
zu  sein  für  das  sterbliche  Geschlecht  in  seinen  Ängsten  vor  dem  Ewigen. 
Durch  diese  Lehre  hat  Philo  sehr  nachhaltig  auf  die  christliche 
Theologie  eingewirkt.  Von  den  Kirchenvätern  wird  er  sehr  häufig  zitiert 
und  diesem  Umstände  ist  es  auch  zu  danken,  daß  seine  Werke  uns  er- 
halten blieben. 

Für  die  Entwicklung  der  Ethik  wird  Philo  dadurch  bedeutsam, 
daß  er  neben  der  weltlichen  Ethik,  die  er  ganz  nach  den  Grundsätzen 
der  Stoiker  darstellt,  dem  Menschen  noch  eine  höhere  Aufgabe  stellt. 
Wenn  die  Seele  die  volle  Glückseligkeit  erlangen  will,  dann  muß  sie 
nicht  bloß  sich  von  der  Sinnlichkeit  abwenden,  nicht  bloß  die  Leiden- 
schaften überwinden,  sondern  auch  über  das  Denken  hinausgehen.  Sie 
muß  sich  selbst  zu  entrinnen  suchen  und  in  Ekstase  aus  sich  selbst 
heraustreten,  um  sich  dann  in  einer  Art  von  Enthusiasmus  mit  Gott 
selbst  zu  vereinigen  und  ganz  in  ihm  zu  verharren. 

In  dieser  mystischen  und  theologischen  Richtung  der  Ethik  sind 
dem  Philo  die  Neupia  toniker  gefolgt,     als  deren  weitaus  be- 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  187 

deutendsten  Vertreter  wir  Plotin  betrachten  müssen  (204—269  n.  Chr.). 
Die  Schriften  dieses  tiefen  Denkers  sind  von  seinem  Schüler  Porphy- 
rius  mit  großer  Sorgfalt  herausgegeben  und  geordnet  worden.  (Vgl. 
S.  63.)  Plotins  Denken  ist  theologisch  gerichtet.  Die  Gottheit  ist 
für  ihn  das  Ur-Eine,  aus  dem  das  Weltall  herausströmt.  Die  Welt 
ist  bei  Plotin  nicht  durch  einen  schöpferischen  Willensakt  hervorge- 
bracht worden  wie  bei  Philo.  Es  ist  vielmehr  das  Ur-Eine  oder  die  Gott- 
heit, die  nichts  verlangte  und  nichts  bedurfte,  in  seiner  Fülle  über- 
geströmt, und  seine  Überfülle  hat  dann  das  andere  ins  Dasein  gerufen. 
(V,  2,  1.)  So  ging  aus  dem  Ur-Einen  zunächst  der  Geist  und  die 
Ideen  hervor,  aus  diesen  entstand  die  Seele  und  aus  dieser  erst  die 
M  a  t  e  r  i  e,  die  vom  Ur-Einen  am  weitesten  entfernt  ist  und  keinen  An- 
teil hat  am  wirklichen  Sein  und  deshalb  auch  nicht  an  dem  Guten. 
Die  Materie  ist  für  Plotin  das  Nichtseiende  und  das  Böse.  Deshalb 
besteht  die  sittliche  Aufgabe  der  Seele  darin,  daß  sie  sich  mit  voller 
Kraft  auf  sich  selbst  konzentriert,  die  Materie  und  die  Sinnlichkeit 
überwindet  und  sich  aufs  neue  mit  dem  Ur-Einen,  mit  der  Gottheit  ver- 
bindet, aus  der  sie  hervorgegangen  ist.  Plotin  glaubte,  daß  er  solche 
Zustände  oft  selbst  erlebt  habe,  und  schildert  dies  einmal  mit  folgenden 
Worten :  „Oft  schon  bin  ich  aus  meinem  Körper  zu  mir  selbst  erwacht, 
befand  mich  außerhalb  alles  anderen,  aber  innerhalb  meiner  selbst. 
Ich  sah  eine  Schönheit  von  wunderbarer  Größe,  und  war  überzeugt, 
das  bessere  Teil  ergriffen,  das  beste  Leben  verwirklicht  zu  haben  und 
mit  der  Gottheit  eins  geworden  zu  sein,  in  ihr  fest  zu  ruhen  und  mich 
über  alles  Denkbare  erhoben  zu  haben."  (IV,  8,  1.) 

Wir  haben  bereits  oben  Plotin  als  den  Begründer  der  philoso- 
phischen Mystik  kennen  gelernt  (S.  63  f.).  Hier  sehen  wir,  daß  er  die 
Vereinigung  mit  Gott  zugleich  als  die  höchste  sittliche  Aufgabe 
betrachtet.  Für  die  Entwicklung  der  Ethik  ist  Plotin  aber  auch  dadurch 
bedeutsam,  daß  er  mit  voller  Schärfe  betont,  nicht  die  Handlungen 
seien  an  sich  gut,  sondern  „die  Gesinnungen  sind  es,  welche  auch 
die  Handlungen  zu  guten  machen".  (I,  5,  10.)  Die  „bürgerlichen" 
Tugenden,  die  von  Plato  und  den  Stoikern  als  die  grundlegenden,  als 
die  Kardinaltugenden  bezeichnet  wurden,  die  Weisheit,  die  Tapferkeit, 
die  Mäßigkeit  (Sophrosyne)  und  die  Gerechtigkeit,  haben  nach  Plotin 
ihren  Wert  darin,  daß  sie  dazu  beitragen,  die  Herrschaft  der  Vernunft 
über  die  Affekte  zu  befestigen.  Sie  sind  aber  nur  Mittel  und  Wege  zum 
höchsten  Zweck  und  zum  höchsten  Ziel,  zur  schließlichen  Einswerdung 
der  Seele  mit  dem  Urquell  alles  Seins,  mit  der  Gottheit. 

Plotin  ist  der  letzte  große  Denker,  den  das  Altertum  hervor- 
gebracht hat,  und  wir  dürfen  also  mit  ihm  die  Darstellung  der  anti- 
ken Ethik  beschließen  und  nun  darangehen,  die  Bedeutung  derselben 
für  die  Entwicklung  des  Nachdenkens  über  sittliche  Fragen  zusammen- 
zufassen. 

Als  das  charakteristische  Merkmal  der  antiken  Sittenlehre  wird 
gewöhnlich  die  Richtung  auf  die  individuelle  Glückselig- 
keit bezeichnet.  Nach  dem  griechischen  Worte  für  Glückseligkeit 
(Eudaimonia)  nennt  man  diese  Denkrichtung  der  Ethik  „E  u  d  a  i- 
m  o  n  i  s  m  u  s".  Man  kann  diese  Behauptung,  wenn  auch  nicht  unein- 


ls>s  Allgemeine  Hthik 

geschränkt,  so  doch  im  allgemeinen  als  richtig  gelten  lassen,  man  muß 
aber  sagen,  daß  damit  der  Wert  der  antiken  Ethik  keineswegs  ge- 
bührend  eingeschätzt  ist.  Wichtiger  ist  schon  die  Tatsache,  daß  die 
meisten  Sittenlehrer  des  Altertums  die  Herrschaft  der  Vernunft  über  die 
Affekte  als  die  bedeutsamste  sittliche  Forderung  bezeichnen.  In  diesem 
intellektualistischen  Zuge  der  antiken  Ethik  ist  aber  die 
überaus  wichtige  Wahrheit  enthalten,  daß  das  Nachdenken  über 
sittliche  Probleme  die  unerläßliche  Vorbedingung  für  den 
ethischen  Fortschritt  ist.  Wir  können  aber  noch  viel  mehr  und  viel  Be- 
deutenderes von  den  ethischen  Denkern  des  Altertums  lernen.  Schon 
Sokrates  hat  die  Autonomie  und  die  Autarkie  des  sittlichen 
Bewußtseins  als  Forderung  verkündet  und  damit  für  die  Moralphilo- 
sophie Kants  eigentlich  die  Grundlage  geschaffen.  Piaton  und  Aristo- 
ieles  haben  auf  den  engen  Zusammenhang  zwischen  den  sittlichen  For- 
derungen und  dem  Gemeinschaftsleben  hingewiesen  und  die 
ethischen  Aufgaben  des  Staates  betont.  Damit  haben  sie  aber  An- 
regungen gegeben,  die  wir  erst  heute  ganz  würdigen  können.  In  dieser 
Beziehung  möchte  ich  noch  nachträglich  darauf  hinweisen,  daß  der 
Geschichtschreiber  Polybius  (200—120  v.  Chr.)  in  der  Übersicht  über 
die  verschiedenen  Staatsformeii,  die  er  am  Anfang  des  sechsten  Buches 
seines  großen  Geschichtswerkes  gibt,  ausdrücklich  sagt,  daß  erst  durch 
die  Gewohnheit  des  geordneten  Zusammenlebens  sich  bei  den  Menschen 
die  Begriffe  der  Sittlichkeit  und  der  Gerechtigkeit  gebildet  haben,  und 
daß  aus  der  naturgemäßen  Billigung  des  Guten  und  Mißbilligung  des 
Bösen  das  bewußte  Nachdenken  über  diese  Fragen  hervorging,  und 
daß  dies  die  Grundlage  der  Gerechtigkeit  sei  {Polybius  VI,  5,  10, 
u.  VI,  6,  7).  Wir  haben  also  bereits  im  Altertum  die  Keime  zu  einer 
soziologischen  Ethik  gegeben. 

[n  der  hellenistisch-römischen  Periode  tritt  nun  allerdings  die  i  n- 
dividualistische  Richtung  der  Ethik  wieder  stärker  hervor. 
Daraus  ist  jedoch,  wie  wir  gezeigt  haben,  die  Idee  der  ganzen  Mensch- 
heit als  einer  großen  Einheit  hervorgegangen  und  dieser  Gedanke  ist, 
wie  wir  später  zeigen  werden,  für  die  Entwicklung  der  Ethik  von  fun- 
damentaler Bedeutung.  Es  ist  mit  Sicherheit  anzunehmen,  daß  der 
Menschheitsgedanke  gerade  jetzt  nach  dem  Weltkriege  zu  neuem  Leben 
erwachen  wird  und  für  die  ethische  Zielsetzung  richtunggebend  zu 
werden  bestimmt  ist.  Das  Altertum  hat  aber  aus  dieser  großen  Idee  die 
Pflicht  der  allgemeinen  Menschlichkeit  entwickelt  und  so 
den  Gedanken  der  Humanität  geschaffen,  der  die  neuere  Ethik 
eine  Zeitlang  fast  allein  beherrscht  hat,  wobei  die  Beziehung  auf  das 
klassische  Altertum  immer  lebendig  geblieben  ist. 

Philo  und  Platin  haben  der  Ethik  eine  tief  religiöse  Richtung  ge- 
geben und  stehen  damit  schon  mitten  in  der  geistigen  Bewegung,  die 
durch  das  Christentum  geschaffen  wurde.  Beide  haben  tatsächlich  auf 
die  Entwicklung  der  christlichen  Lehre  stark  eingewirkt. 

Wir  dürfen  also  sagen:  Die  antike  Ethik  hat  für  die  psycho- 
logische, für  die  soziologische,  für  die  metaphysische  und  religiöse  Be- 
gründung der  Sittenlehre  die  Fundamente  gelegt,  auf  denen  die  neuere 
Philosophie  weiter  gebaut  hat.  Sie  hat  aber  auch  die  Selbständigkeit 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  189 

und  Eigenberechtigung  der  sittlichen  Forderungen  energisch  betont 
und  ist  auch  dadurch  wieder  bis  auf  unsere  Zeit  herab  fruchtbar  ge- 
blieben. Von  Plato  und  von  den  Stoikern  sind  ethische  Gedanken  ge- 
formt worden,  deren  Bedeutung  wir  erst  heute  würdigen,  und  deren 
Verwirklichung  wir  erst  von  der  Zukunft  erhoffen.  Wir  haben  deshalb 
die  antike  Ethik  etwas  ausführlicher  dargestellt  und  werden  uns  für 
die  Folgezeit  kürzer  fassen  können. 

Das  Christentum  hat  in  den  ersten  Jahrhunderten  seiner 
Entwicklung  viele  Elemente  der  antiken  Philosophie  in  seine  Welt- 
anschauung und  in  seine  Sittenlehre  aufgenommen.  Allein  die  Grund- 
lage der  christlichen  Ethik  bildet,  wie  dies  durch  die  Zeit  und  durch 
den  Ort  der  Entstehung  des  Christentums  gegeben  ist,  die  Sittenlehre 
des  Alten  Testamentes.  Die  Ethik  des  Judentums  unterscheidet 
sich  von  der  philosophischen  Ethik  der  Griechen  zunächst  durch  ihren 
streng  theologischen  Charakter.  Die  Sittengesetze  sind  ebenso 
wie  die  zahlreichen  Vorschriften  über  Reinigungen,  über  Opfer  und 
Feste,  Gebote  Gottes,  die  er  seinem  erwählten  Volke  auferlegt,  Gebote, 
deren  Erfüllung  er  mit  Strenge  fordert,  und  deren  Übertretung  er  mit 
schweren  Strafen  bedroht.  Trotzdem  aber  besteht  die  Sittlichkeit  und 
Frömmigkeit  keineswegs  bloß  in  äußerem  Gehorsam.  Gott  verlangt 
vielmehr  innere  Hingabe  an  seinen  Willen.  Sein  Grundgebot 
lautet :  „Heilig  sollt  ihr  mir  sein,  denn  heilig  bin  ich,  der  Herr".  (3.  Mos. 
IQ,  2.)  „Ihr  sollt  mir  sein  ein  Reich  von  Priestern,  ein  heilig  Volk." 
(2.  Mos.  19,  6.)  In  den  fünf  Büchern  Mosis,  die  in  der  jüdischen  Theo- 
logie kurz  die  „Thora",  das  heißt  die  Lehre,  genannt  werden,  sind 
Zeremonialgesetze  und  Sittengesetze  enthalten  und  das  Ganze  wird 
wiederholt  als  eine  Einheit  bezeichnet,  zu  der  nichts  hinzugefügt  und 
von  der  nichts  hinweggenommen  werden  darf.  Dort  finden  sich  auch 
in  zwei  nicht  ganz  gleich  lautenden  Fassungen  die  sogenannten  Zehn 
Gebote,  die  durch  das  Christentum,  welches  sie  übernahm,  zum  all- 
gemeinen Sittenkodex  der  Menschheit  geworden  sind.  (2.  Mos.  20, 
1— 17und5.yWos.5,6— 18.)  Die  großen  Propheten  Israels,  unter  denen 
Arnos,  Jesaia,  Micha,  Jeremia,  Ezechiel  und  der  sogenannte  Deutero- 
Jesaia  besonders  hervorragen,  haben  dann  das  Zeremonialgesetz  als 
weniger  bedeutsam  hingestellt  und  vor  allem  die  Erfüllung  der  sitt- 
lichen Forderungen  als  das  Wesentliche,  ja  als  das  allein  Maß- 
gebende bezeichnet.  So  betont  z.  B.  der  Prophet  Micha  die  sittliche 
Wertlosigkeit  der  Opfer,  indem  er  sagt :  „Hat  Gott  etwa  Wohlgefallen 
an  Tausenden  von  Widdern,  an  Myriaden  von  Strömen  Öles?  Soll  ich 
etwa  meinen  Erstgeborenen  als  Sühne  für  mich  hingeben,  die  Frucht 
meines  Leibes  als  Sühnopfer  für  mein  Leben?  Er  hat  dir  gesagt, 
o  Mensch,  was  gut  ist,  und  nichts  anderes  fordert  Gott  von  dir,  als  daß 
du  Gerechtigkeit  übest,  Liebe  beweisest  und  in  Demut  wandelst  vor 
deinem  Gott."  {Micha  6,  v.  7  u.  8.) 

Noch  schärfer  eifert  De  utero- Jesaia  *)  gegen  die  Verdienstlichkeit 
des  Fastens  und  fordert  statt  dessen  Werke  der  Nächstenliebe.  Daß  von 

*)  So  bezeichnet  man  den  großen  Unbekannten  unter  den  Propheten,  der 
zur  Zeit  des  Perserkönigs  Cyrus  (6.  Jahrh.  v.  Chr.)  lebte.  Seine  Reden  sind  in 
unserer  Bibel  mit  denen  des  Jesaia  (8.  Jahrh.  v.  Chr.)  vereinigt  (Kap.  40—66). 


1  .iii  Allgemeine  lithik 

dem  wahrhaft  Frommen  nur  die  I  Erfüllung  der  sittlichen  Pflichten 
verlangt  wird,  das  ist  besonders  deutlich  und  wirksam  ausgesprochen 
im  fünfzehnten  Psalm.  Dieser  beginnt  mit  der  Frage:  „Wer  wird  weilen 
in  deinem  Zelte,  o  I  lerr,  wer  wird  wohnen  auf  deinem  heiligen  Berge?" 
Die  Antwort  lautet:  „Wer  in  Unschuld  wandelt  und  Gerechtigkeit  übt 
und  Wahrheit  redet  in  seinem  Merzen.  Keine  Verleumdung  schwebt 
auf  seiner  Zunge,  er  fügt  seinem  Mitmenschen  nichts  Böses  zu  und 
ladet  keine  Schande  auf  seinen  Nächsten.  Der  Verächtliche  ist  in  seinen 
Augen  verworfen,  die  den  Herrn  fürchten,  denen  erweiset  er  Ehre.  Er 
schwört  sich  zum  Schaden  und  ändert  es  nicht.  Sein  Geld  leiht  er  nicht 
aus  auf  Zinsen,  Bestechung  gegen  den  Unschuldigen  nimmt  er  nicht 
an.  Wer  so  handelt,  der  wankt  nicht  in  Ewigkeit." 

In  der  Zeit  nach  dem  babylonischen  Exil  wurde  das  Gesetz  beson- 
ders durch  die  Anregung  Esras  eifrig  studiert  und  dadurch  der  Be- 
griff der  „Thora"  wesentlich  erweitert.  Man  nahm  an,  daß  Moses  von 
Gott  noch  viele  Erläuterungen  zu  den  Vorschriften  vernommen  und 
diese  durch  mündliche  Mitteilung  seinem  Volke  überliefert  hatte.  Alle 
diese  im  Laufe  der  Zeiten  sich  immer  mehrenden  Einzelbestimmungen 
werden  mit  zur  Thora  gerechnet,  die  dadurch  an  Umfang  stetig  zu- 
nahm *).  Sie  ist  die  Summe  alles  dessen,  was  Gott  seinem  Volke  ge- 
offenbart hat.  Das  tägliche  Leben  des  Einzelnen  wird  dadurch  auf  das 
strengste  geregelt,  allein  der  Fromme  fühlt  sich  dabei  keineswegs 
beengt  und  bedrückt,  sondern  freut  sich  vielmehr,  daß  er  so  oft  Ge- 
legenheit hat,  Gottes  Gebote  zu  erfüllen  und  ihm  so  zu  dienen. 

Aber  auch  in  dieser  Zeit,  von  der  manche  Geschichtschreiber  be- 
haupten, daß  hier  die  rein  äußerliche  Befolgung  der  Zeremonial- 
vorschriften  den  ganzen  Inhalt  der  Frömmigkeit  bildete,  blieb  für  die 
tiefer  Blickenden  das  Sittengesetz  der  weitaus  wichtigste  Inhalt  der 
Thora.  Dies  beweist  folgende  im  Talmud  überlieferte  Geschichte.  Zu 
dem  Weisen  Hillel,  der  ungefähr  zur  Zeit  Christi  in  Palästina  lebte 
und  lehrte,  kam  einst  ein  Heide  und  erklärte  ihm,  er  möchte  sich  zum 
Judentum  bekehren,  wenn  ihm  Hillel  die  Grundlehren  dieser  Religion 
in  der  Zeit  mitteilen  könne,  während  er  auf  einem  Fuße  stehe.  Mit  dem- 
selben Ansinnen  war  er  kurz  zuvor  von  einem  anderen  Schriftgelehrten 
schroff  abgewiesen  worden.  Hillel  aber  sagte  zu  ihm:  „Was  du  nicht 
willst,  daß  dir  geschehe,  das  tue  auch  deinem  Nächsten  nicht.  Das  ist 
die  ganze  Thora,  alles  Übrige  ist  nur  die  Erklärung  dazu.  Geh  hin  und 
lerne"**). 

Daß  zur  Zeit  der  Entstehung  des  Christentums  eine  derartige  Kon- 
zentration der  jüdischen  Religionslehre  auf  das  reine  Sittengesetz  mög- 
lich war,  beweist  deutlich,  daß  die  Thora  auf  die  äußere  Erfüllung  des 
Gesetzes  niemals  das  Hauptgewicht  gelegt  hat.  Werktätige  Menschen- 
liebe, strenge  Gerechtigkeit,  Schutz  der  Schwachen,  unbedingte  Wahr- 


•)  Der   Begriff  der  Thora   und   ihre  religions-geschichtliche  Bedeutung  ist 

.im  tiefsten  erfalh  und  am  klarsten  herausgestellt  von  dem  englischen  Geistlichen 

Travers  Herford    in  seinem  Werke  „Das  pharisäische  Judentum"  (deutsche  Über- 

etzune  v.  Rosalia  Pcrlcs  mit  einer  1  inleitung  von  Felix  Perlcs  1913),  S.  48 — 92. 

**)  Babylonischer  Talmud.  Traktat  Sabbath  p.  31. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  IQ] 

haftigkeit  sind  die  Forderungen,  die  von  allen  hervorragenden  Sitten- 
lehrern des  Judentums  immer  wieder  als  das  Wesentliche  der  jüdischen 
Frömmigkeit  bezeichnet  werden.  Ihren  theologischen  Charakter  behält 
aber  die  jüdische  Ethik  immer  bei.  Die  Sittengesetze  sind  Gebote  Gottes. 
Als  Grundforderungen  der  jüdischen  Ethik  darf  man  vielleicht  in 
kurzer  Zusammenfassung  die  Gottesliebe  und  die  Menschen- 
liebe bezeichnen. 

Auf  diesem  geistigen  Boden  ist  das  Christentum  entstanden. 
Sein  erhabener  Stifter  hat  die  soeben  genannten  Grundforderungen  aus- 
drücklich anerkannt.  Heißt  es  doch  wörtlich  im  Evangelium  Matthaei 
(22,  36  ff.):  „Meister,  welches  ist  das  vornehmste  Gebot  im  Gesetz? 
Jesus  aber  sprach  zu  ihm:  Du  sollst  lieben  Gott  deinen  Herrn  von 
ganzem  Herzen,  von  ganzer  Seele  und  von  ganzem  Gemüt  (5.  Mos. 
6,  5).  Das  ist  das  vornehmste  und  größte  Gebot.  Das  andere  aber  ist 
ihm  gleich.  Du  sollst  deinen  Nächsten  lieben  als  dich  selbst  (3.  Mos. 
19,  18).  In  diesen  zwei  Geboten  hanget  das  ganze  Gesetz  und  die  Pro- 
pheten." Da  Christus  überdies  ausdrücklich  sagt,  er  sei  nicht  ge- 
kommen, um  das  Gesetz,  das  heißt  die  Thora,  aufzulösen,  sondern  zu 
erfüllen,  so  unterscheidet  sich  seine  Predigt  nicht  wesentlich  von  der 
der  alten  Propheten.  Er  treibt  die  Wechsler  und  die  Krämer  aus  dem 
Tempel,  eifert  gegen  die  Scheinheiligkeit  der  Schriftgelehrten,  dehnt  die 
Liebespflicht  auch  auf  die  Feinde  aus,  verlangt  von  seinen  Anhängern 
eine  gründliche  Sinnesänderung,  betont  die  Wertlosigkeit  der  irdischen 
Güter,  fordert  Sanftmut,  Friedfertigkeit  und  demutsvolle  Hingabe  an 
Gott  und  verkündet  das  Nahen  des  Himmelreiches.  Das  Christentum 
Christi  erscheint  für  die  objektive  geschichtliche  Beurteilung  als  eine 
sittliche  Läuterung  des  Judentums,  wobei  der  Jenseitsgedanke  stärker 
betont  wird,  als  dies  im  Alten  Testament  der  Fall  war. 

Seine  weltgeschichtliche  Bedeutung  erlangt  aber  das  Christen- 
tum erst  dadurch,  daß  der  Kreuzestod  Christi  von  seinen  Jüngern  dahin 
gedeutet  wird,  daß  Christus  durch  seinen  Tod,  den  er  auf  sich  nahm, 
die  Menschheit  von  der  Erbsünde  erlöst  hat,  die  ihr  von  Adam  her  an- 
haftet und  dadurch  erst  die  Menschen  des  ewigen  Heiles  fähig  und 
würdig  gemacht  hat.  Jetzt  ist  Jesus  von  Nazareth  kein  reformierender 
Prophet  mehr.  Er  ist  zum  Erlöser,  zum  Heiland,  zum  Messias,  zum 
Christus*),  zum  eingeborenen  Sohn  Gottes  geworden,  der  mit  dem 
Vater  wesensgleich  ist.  Diese  Lehre  vom  göttlichen  Heiland  verkündet 
der  Apostel  Paulus  nicht  mehr  bloß  den  Juden,  sondern  in  viel  weiterem 
Umfange  den  Heiden  und  findet  unter  diesen  zahlreiche  Anhänger.  In- 
folgedessen scheidet  sich  das  Christentum  immer  deutlicher  vom  Juden- 
tum und  tritt  schon  im  zweiten  Jahrhundert  in  entschiedenen  Gegensatz 
dazu.  Die  Christen  nehmen  auch  das  Alte  Testament  als  die  ihnen  zu- 
teil gewordene  Offenbarung  für  sich  in  Anspruch  und  deuten  viele 
Weissagungen  der  alten  Propheten  auf  die  Erscheinung  Christi.  Die 
zahlreichen  Gemeinden  schließen  sich  allmählich  zu  größeren  Verbän- 
den zusammen  und  so   entsteht   im  vierten   Jahrhundert  die  große 


*)  Christus  (yowro?  von  yptw  —  ich  salbe)  ist  die  wörtliche  Übersetzung  von 
„Messias"  (hebr.  Meschiach,  der  Gesalbte). 


]  o_>  Allgemeine  Ethik 

<  Organisation  der  katholischen  (allgemeinen)  Kirche,  die  für  die 
sittliche  Entwicklung  der  abendländischen  Menschheit  von  so  großer 
Bedeutung  werden  sollte. 

Die  Kirche  verlangt  von  ihren  Anhängern  zunächst  Festigkeit 
im  Glauben  an  Christum,  zuversichtliche  Hoffnung  auf  das 
künftige  Heil  und  besonders  werktätige  Liebe.  Alle  Menschen  sind 
Kuider  Gottes  und,  soweit  sie  zur  Kirche  gehören,  überdies  Brüder  in 
Christo.  Dieser  universalistische  Charakter  der  römisch-katholischen 
Kirche  hat  /weifellos  erziehlich  auf  die  germanische  Welt  des  Mittel- 
alter gewirkt.  Trotz  allen  individuellen  und  nationalen  Differenzen 
haben  sich  da  gewisse  einheitliche  Grundsätze  der  Welt-  und  Lebens- 
anschauung  ausgeprägt,  die  bis  tief  in  die  Neuzeit  hinein  und  vielfach 
bis  zur  Gegenwart  die  Entwicklung  des  sittlichen  Bewußtseins  be- 
stimmt haben. 

Dazu  gehört  vor  allem  der  asketische,  weltvernei- 
n  ende  Zug  im  kirchlichen  Christentum.  Schon  in  den  Evangelien 
tritt  uns  der  neue  Glaube  als  Erlösungsreligion,  als  Jenseitshoffnung 
entgegen.  Das  verstärkt  sich  nun  im  Laufe  der  Zeit  derart,  daß  das 
irdische  Leben  ganz  und  gar  als  sündhaft  betrachtet  wird.  Der 
Christenmensch  muß  sich  durch  Bußübungen  und  Kasteiungen  von 
dieser  Sündhaftigkeit  rein  zu  erhalten  suchen  und  sich  so  auf  das  wahre 
Leben  vorbereiten,  das  erst  nach  dem  Tode  beginnt.  Gott  und  Welt  sind 
Gegensätze.  Der  im  Jahre  630  verstorbene  spanische  Bischof  Isidor 
erklärte:  „Gut  ist  die  Absicht,  welche  auf  Gott,  böse  aber  diejenige, 
welche  auf  irdischen  Gewinn  oder  vergänglichen  Ruhm  gerichtet  ist." 
Bernhard  von  Clairvaux  mahnte  einmal  zur  Gottesfurcht  mit  den 
Worten:  „Vergiß  dein  Volk,  dein  Vaterhaus,  entsage  den  fleischlichen 
Neigungen,  verliere  die  weltlichen  Sitten."  Auch  Katharina  von  Siena 
stellte  Reichtum  und  weltliche  Ehren  auf  eine  Stufe  mit  sündhafter 
Sinnlichkeit:  „Die  Welt,"  sagte  sie,  „ist  Gott  entgegen  und  Gott  der 
Welt.  Beide  haben  nichts  miteinander  gemein.  Der  Sohn  Gottes  er- 
wählte sich  Armut,  Niedrigkeit,  Verhöhnung,  Hunger  und  Durst.  Die 
Welt  sucht  Reichtum,  Ehren  und  Lüste."  Am  vollständigsten  klang 
diese  weltverneinende  Stimmung  des  Mittelalters  in  der  Schrift  „Über 
die  Verachtung  der  Welt"  aus,  welche  der  Papst  Innozenz  III.  als 
Kardinal  vor  dem  Jahre  1198  verfaßte.  In  derselben  heißt  es:  „Wir 
sterben,  indem  wir  leben,  und  dann  erst  hören  wir  auf  zu  sterben,  wenn 
wir  aufhören  zu  leben"  *).  In  der  Zeit  der  Gegenreformation  (16.  und 
17.  Jahrhundert)  hat  der  Jesuitenorden  die  Pflicht  der  Askese  noch 
-i  irker  betont  und  ausdrücklich  verlangt,  daß  der  fromme  Christ  sich 
selbst  irii willig  Qualen  und  Leiden  auferlege.  (Belege  bei  Eicken 
807  ff.) 

Infolgedessen  hat  sich  in  der  christlichen  Welt  allmählich  die  An- 
schauung  herausgebildet,  daß  eine  menschliche  Handlung  nur  dann 
wahrhaft  sittlich  ist.  wenn  sie  mit  E  n  t  s  a  g  u  n  g,  mit  Selbstübe  r- 

*)  Diese  Zitate  entnehme  ich  dem  grundlegenden  und  überaus  lehrreichen 
Werke:  „Geschichte  und  System  der  mittelalterlichen  Weltanschauung"  von  Hein- 
rich v.  Eicken,  S.  '314  ff. 


§  42.   Entwicklung  der  Ethik  193 

Windung,  mit  einem  persönlichen  Opfer  verbunden  ist.  Ja,  man 
mißt  den -sittlichen  Wert  einer  Tat  geradezu  nach  der  Größe  des 
Opfers,  das  der  Handelnde  dabei  bringen  muß.  Dieser  asketische 
Grundzug  der  christlichen  Sittenlehre  tritt  uns  mit  voller  Deutlichkeit 
noch  in  der  Kantschen  Ethik  entgegen.  Es  ist  zweifellos,  daß  diese  hohe 
Wertschätzung  der  Selbstüberwindung  die  Opferfähigkeit  der  Mensch- 
heit gesteigert  und  dadurch  in  hohem  Grade  erziehlich  gewirkt  hat. 

Trotzdem  werden  wir  später  zu  untersuchen  haben,  ob  Selbstüber- 
windung und  Opfer  wirklich  zum  Wesen  der  sittlichen  Verpflichtung 
gehören  und  namentlich,  ob  dieser  selbst  auferlegte  Zwang  schon  an 
sich  einen  moralischen  Wert  besitzt,  ganz  abgesehen  von  dem  Zwecke, 
dem  diese  Entsagung  dienen  soll. 

In  wesentlich  anderem  Sinne  hat  die  Gnadenlehre  der 
römischen  Kirche  die  sittliche  Entwicklung  beeinflußt.  Der  Kirchen- 
vater Augustinus  (354—430  n.  Chr.)  ist  in  seiner  tief  innerlichen 
Frömmigkeit,  der  er  namentlich  in  seinen  „Bekenntnissen"  einen  mäch- 
tig ergreifenden  Ausdruck  verliehen  hat,  zur  Überzeugung  gelangt, 
daß  der  von  Natur  aus  sündhafte  Mensch  ganz  unfähig  sei,  sich  aus 
eigener  Kraft  die  Erlösung  zu  erwirken.  Diese  bleibt  immer  ein  frei- 
williges Geschenk  der  göttlichen  Gnade.  Da  nun  Augustin 
auch  mit  aller  Entschiedenheit  für  die  Einheit,  für  die  Heiligkeit,  für 
die  Irrtumslosigkeit  der  Kirche  eintrat  und  immer  wieder  lehrte,  daß 
nur  in  der  Kirche  und  durch  die  Kirche  für  den  Einzelnen  das  Heil 
zu  gewinnen  sei,  so  bildete  sich  in  der  Folgezeit  die  Lehre  aus,  daß  die 
Kirche  die  alleinige  Spenderin  der  Gnadenmittel  sei.  Ihre  Priester 
konnten  durch  Mitteilung  oder  Verweigerung  der  Sakramente,  beson- 
ders des  Abendmahls,  das  Heil  dem  Einzelnen  gewährleisten  oder  ver- 
sagen. Dadurch  wurde  es  für  den  Christenmenschen  wichtiger,  durch 
Erfüllung  der  religiösen  Zeremonien  sich  sein  Heil  zu  sichern,  als  nach 
innerer  sittlicher  Läuterung  zu  streben. 

Da  nun  die  Kirche,  wie  Heinrich  von  Eicken  gezeigt  hat,  im  Laufe 
des  Mittelalters  durch  Weltverneinung  zur  We  1 1  b  e  h  e  r  r- 
s  c  h  u  n  g  gelangte,  indem  sie  genötigt  war,  zu  den  konkreten  Lebens- 
verhältnissen, wie  z.  B.  zur  Ehe,  zur  Erziehung,  zum  wirtschaftlichen 
Erwerb  und  besonders  zum  weltlichen  Staate,  Stellung  zu  nehmen,  so 
mußte  geradezu  eine  immer  stärkere  Verweltlichung  der  leiten- 
den Kirchenmächte  eintreten. 

Als  Reaktion  auf  die  Verweltlichung  macht  sich  schon  im  drei- 
zehnten und  vierzehnten  Jahrhundert  innerhalb  der  Kirche  das  Be- 
dürfnis nach  intensiver  persönlicher  Frömmigkeit  geltend.  Die  Bettel- 
orden wollen  durch  strenge  Bußübungen  und  durch  ein  gottgeweihtes 
Leben  diesem  Bedürfnis  entgegenkommen.  Aus  demselben  Drange  ent- 
steht die  christliche  Mystik  eines  Meister  Eckhart,  eines  Suso  und 
Johannes  Tauler,  die  alle  durch  tiefes  Versenken  in  sich  selbst  sich  mit 
der  Gottheit  zu  vereinigen  streben. 

Aus  solchen  Bestrebungen  ging  dann  im  sechzehnten  Jahrhundert 
die  große  Reformation  hervor,  die  einen  nicht  geringen  Teil  der 
Christenheit  von  Rom  losriß.  Der  Protestantismus  lehnt  sich 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  13 


194  Allgemeine  Ethik 

vor  allem  gegen  die  Autorität  der  Kirche  als  der  alleinigen  Spenderin 
der  Gnade  auf  und  will  das  ursprüngliche,  das  evangelische 
l  hristentum  wieder  herstellen.  Er  lehnt  ferner  die  Weltverneinung  ab 
und  betrachtet  die  Wirksamkeit  des  Menschen  im  diesseitigen  Leben, 
in  der  I  he,  in  der  Berufsarbeit,  in  der  Beteiligung  am  Staate  als  einen 
wesentlichen  Teil  seiner  sittlich-religiösen  Aufgabe. 

I  her  tritt  nun  der  Protestantismus  in  enge  Beziehungen  zu  den 
anderen  Strömungen  der  Zeit,  die  im  Verein  mit  dieser  religiösen  Be- 
wegung eine  neue  Epoche  der  Weltgeschichte  heraufführen. 

Die  wichtigste  dieser  Strömungen  ist  die  neu  erwachte  Freude  am 
Menschen  und  an  der  Welt.  Man  bezeichnet  deshalb  diese  Zeit  des 
fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts  gerne  als  die  der  Wieder- 
geburt ( Renaissance)  und  des  Humanismus.  Die  Wieder- 
belebung des  klassischen  Altertums,  die  von  Italien  ausgeht  und  bald 
nach  Deutschland  und  Frankreich  übergreift,  wirkt  bei  dieser  Um- 
wandlung des  inneren  Menschen  kräftig  mit.  Die  Entdeckung  Amerikas 
und  des  Seeweges  nach  Indien  erweitert  den  geographischen  Horizont 
und  eröffnet  dem  wirtschaftlichen  Leben  neue  und  sehr  ergiebige 
Quellen.  Zu  gleicher  Zeit  wird  aber  durch  die  Erfindung  der  Buch- 
druckerkunst eine  geradezu  unendliche  Fülle  neuer  Bildungsmöglich- 
keiten erschlossen. 

Infolge  dieser  Tatsachen  und  Strömungen  vollzieht  sich  im  poli- 
tischen, im  wirtschaftlichen  und  im  geistigen  Leben  Europas  eine 
überaus  bedeutsame  Umwandlung.  Es  bildet  sich  eine  neue  E  i  n  s  t  e  1- 
lung  des  Geistes  heraus  gegenüber  der  Natur,  gegenüber  der 
Geschichte,  gegenüber  dem  Staate,  gegenüber  dem  Einzel- 
menschen und  seiner  sittlichen  Aufgabe.  Dabei  wirken  die  Ge- 
danken des  wiedererstandenen  Altertums  überaus  befruchtend  mit.  Die 
neue  Zeit  kehrt  vielfach  zur  Gedankenwelt  der  Griechen  und  Römer 
zurück,  wächst  aber  durch  die  Auffindung  neuer  Denkmittel  und  neuer 
Forschungsmethoden  namentlich  in  der  mathematischen  Naturwissen- 
schaft gewaltig  über  das  Altertum  hinaus.  Durch  die  Arbeiten  von 
Kopernikus,  Galilei,  Kepler,  Huyghens  und  Newton  wird  die  Mechanik 
der  leblosen  Körper  auf  eine  feste  Grundlage  gestellt  und  die  Struktur 
unseres  Sonnensystems  bloßgelegt.  Durch  solche  Ergebnisse,  an  deren 
Richtigkeit  ein  Zweifel  unmöglich  schien,  wurde  das  Vertrauen  in  die 
Kraft  des  Menschengeistes  ganz  außerordentlich  gestärkt.  Die  auf- 
blühende Mathematik  läßt  die  Meinung  aufkommen,  daß  die  mensch- 
liche Vernunft  aus  sich  selbst  heraus,  ohne  die  Erfahrung  befragen  zu 
müssen,  unumstößliche  Wahrheiten  zu  gewinnen  vermag,  die  für  jede 
Erfahrung  Geltung  besitzen.  Anderseits  sieht  man  wieder  ein,  daß  die 
genaue  Beobachtung  der  Tatsachen,  die  durch  das  Experiment  wirk- 
sam unterstützt  wird,  weit  sicherere  Einsichten  in  das  Wesen  der  Natur 
verschafft,  als  die  überlieferte  Bücherweisheit.  Die  Beobachtung  be- 
schränkt sich  aber  nicht  auf  die  sinnlich  wahrnehmbare  Außenwelt. 
Man  bemüht  sich  auch  tiefer  in  die  eigene  Seele  zu  blicken  und  die 
Regungen  der  Seele  bei  anderen  sorgsam  zu  untersuchen.  Auch  hier 
glaubt  man  ein  Stück  Natur  zu  finden,  und  zwar  ein  sehr  wichtiges 
stuck.  Man  will  auf  diesem  Wege  das  Wesen  des  Menschen  ergründen, 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  ]95 

alle  ihm  von  der  Natur  verliehenen  Anlagen  kennen  lernen,  die  man 
dann  bei  allen  Menschen  als  gegeben  voraussetzen  darf.  Da  erneuert 
sich  die  schon  von  den  Stoikern  verkündete  Lehre  von  dem  natür- 
lichen Lichte  der  Vernunft,  das  allen  Menschen  verliehen 
wurde  und  die  sicherste  Quelle  der  Wahrheit  sei.  Man  geht  aber  jetzt 
noch  weiter.  In  den  Tiefen  der  Menschenseele  findet  man  auch  das 
natürliche  Recht,  das  für  alle  Menschen  gelten  müsse  und 
höhere  Autorität  für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf,  als  alle  positiv 
geltenden  Rechte  in  den  verschiedenen  Staaten.  Aus  der  allgemeinen 
Menschenvernunft  glaubt  man  dann  auch  eine  natürliche  Religion  ab- 
leiten zu  können,  die  keiner  Dogmen  und  keiner  Wunder  bedarf.  In 
derselben  Weise  hofft  man  dann  auch  eine  allgemein  geltende  natür- 
liche Sittenlehre  aus  dem  Wesen  des  Menschen  heraus  begrün- 
den zu  können.  In  welcher  Weise  dieser  neue  Geist  sich  in  der  philo- 
sophischen Ethik  der  Neuzeit  kundgibt,  das  hat  nebst  anderen  beson- 
ders Friedrich  Jodl  in  seinem  grundlegenden  Werke  „Geschichte  der 
Ethik"  (zwei  Bände,  2.  Aufl.  1906—1912)  ausführlich  dargestellt.  In- 
dem ich  die  Leser  auf  dieses  vortreffliche  Werk  verweise,  hebe  ich  hier 
nur  die  wesentlichsten  Züge  dieser  Entwicklung  hervor. 

Für  die  philosophische  Ethik  der  neuen  Zeit  darf  man  vielleicht 
folgende  Strömungen  als  charakteristisch  herausheben: 

1.  Besonders  deutlich  macht  sich  das  Streben  nach  einer  Sä- 
kularisation der  Ethik  bemerkbar.  Man  bemüht  sich  nach- 
zuweisen, daß  die  sittliche  Verpflichtung  ganz  unabhängig  sei  von 
jedem  religiösen  Dogma,  und  daß  die  Moral  keiner  theologischen  Be- 
gründung bedürfe. 

2.  Durch  eindringende  Zergliederung  der  seelischen  Vorgänge, 
die  wir  bei  der  moralischen  Beurteilung  unserer  eigenen  und  fremder 
Handlungen  erleben,  sucht  man  eine  psychologische  Grund- 
legung der  Ethik  herauszuarbeiten. 

3.  Bei  diesen  Bemühungen  zeigt  es  sich  immer  deutlicher,  daß  für 
die  Herausbildung  ethischer  Normen  das  Zusammenleben  der  Men- 
schen von  entscheidender  Wichtigkeit  ist.  So  entsteht  allmählich  das 
Bedürfnis  nach  einer  soziologischen  Untersuchung  der 
moralischen  Entwicklung. 

4.  Neben  diesen  streng  wissenschaftlichen  Bestrebungen  finden 
sich  auch  noch  bedeutsame  Versuche  einer  metaphysischen  Moral- 
begründung, in  denen  das  ethische  Verhalten  zum  kosmischen  Ge- 
schehen in  Beziehung  gebracht  und  als  ein  letztes  Ziel  der  Weltordnung 
betrachtet  wird. 

In  allen  hier  genannten  Denkrichtungen  wirken  Ideen  der  antiken 
Ethik  befruchtend  und  anregend  mit.  Am  deutlichsten  ist  dabei  der  Ein- 
fluß von  Sokrates,  von  Piaton  und  von  den  Stoikern  bemerkbar.  Da- 
neben aber  haben  auch  Aristoteles,  Epikur  und  die  Neuplatoniker  auf 
die  Ethik  der  Neuzeit  eingewirkt.  Wir  wollen  nun  diese  vier  Strö- 
mungen durch  Anführung  der  wichtigsten  geschichtlichen  Tatsachen 
illustrieren  und  behalten  uns  dabei  vor,  bei  einzelnen  besonders  her- 
vorragenden und  richtunggebenden  Denkern  etwas  länger  zu  verweilen. 

13* 


1QÖ  Allgemeine  Ethik 

Ad  1.  (Säkularisation  der  Ethik.)  Schon  im  sechzehnten  Jahr- 
hundert hat  in  Frankreich  Charron  in  seinem  Buche  „Von  der  Weis- 
heit" eine  von  jedem  religiösen  Dogma  unabhängige  Ethik  zu  begrün- 
den gesucht  und  dabei  die  stoische  Formel  vom  „naturgemäßen  Leben" 
sich  zu  eigen  gemachl  </<><//  1,  191  ff.).  Noch  entschiedener  betont 
Herbert  von  ( '.herbury  (H81— 1648)  in  seinem  Werke  „Von  der  Wahr- 
heit", daß  die  l  nterscheidung  von  Gut  und  Böse  eine  Gabe  der  Natur 
sei,  und  daß  unsere  Urteile  in  moralischen  Fragen  eine  innere  Gewiß- 
heit in  sieh  tragen,  wie  sie  sonst  nur  den  mathematischen  Urteilen  inne- 
wohne. Herbert  wird  allgemein  als  der  Vater  des  englischen  Deis- 
mus bezeichnet,  über  den  wir  bereits  oben  (S.  141 )  gesprochen  haben. 
Die  Vertreter  dieser  Religionsphilosophie  bezeichnen  sich  selbst  als 
„Freidenke  r".  Sie  behaupten,  daß  es  eine  natürliche  Religion 
gibt,  die  in  der  menschlichen  Vernunft  selbst  begründet  sei.  In  den 
»itiven,  den  „geoffenbarten"  Religionen  sei  nur  das  wahr  und  richtig, 
was  mit  der  Vernunftreligion  übereinstimmt.  Die  wesentliche  Aufgabe 
der  Vernunftreligion  besteht  aber  darin,  die  sittlichen  Forde- 
rungen, die  in  der  menschlichen  Vernunft  selbst  ihre  hinreichende  Be- 
gründung finden,  zu  stärken  und  zu  vertiefen.  Der  englische  Deismus 
hat  in  Frankreich  und  in  Deutschland  die  Bewegung  der  Geister  her- 
vorgerufen, die  man  gewöhnlich  als  „Aufklärung"  bezeichnet. 
Nach  Kants  berühmter  Definition  *)  ist  Aufklärung  „der  Ausgang  des 
Menschen  aus  seiner  selbstverschuldeten  Unmündigkeit".  Die  mensch- 
liche Vernunft  wird  also  für  selbständig  und  für  frei  erklärt.  Sie  will 
sich  weder  in  ihren  wissenschaftichen  Erkenntnissen,  noch  auch  in  ihren 
sittlichen  Forderungen  durch  überkommene  Autoritäten  irgendwie  ein- 
schränken lassen.  Für  die  Ethik  wird  damit  vor  allem  die  Entbehrlich- 
keit jeder  theologischen  Begründung  behauptet.  Man  geht  sogar  noch 
einen  Schritt  weiter,  indem  man  umgekehrt  den  Wert  und  die  Wahrheit 
der  Religion  durch  den  sittlichen  Gehalt  ihrer  Lehren  zu  begründen 
sucht.  Diesen  hohen  Gedanken  hat  Lessing  in  seinem  „Nathan"  aus- 
gesprochen, indem  er  in  der  Parabel  von  den  drei  Ringen  dem  Richter 
die  Worte  in  den  Mund  legt: 

„Wohlan! 
Es  eifre  jeder  seiner  nnbestoclinen. 
Von   Vorurteilen   freien   Liebe  nach! 
Es  strebe  von  euch  jeder  um  die  Wette, 
Die  Kraft  des  Steins  in  seinem  Ring  an  Tag 
Zu   legen:   komme  dieser  Kraft  mit  Sanftmut, 
Mit  herzlicher  Verträglichkeit,  mit  Wohltim. 
Mit  innigster  Ergebenheit  in  Gott 
Zu    lliilf.    Und   wenn   sich  dann  der  Steine   Kräfte 
Bei  euern  Kindes  Kindeskindern  äußern, 
So   lad  ich  über  tausend  tausend  Jahre 
wiederum  vor  diesen  Stuhl." 

Die  sittlichen  und  die  erziehlichen  Wirkungen  einer  Religion  sind 
es  also,  die  allein  ihre  Wahrheit  beweisen  können.   Einen  ganz  ähn- 

i   Beantwortung  der  frage:     „Was  ist   Aufklärung?"     (IV,   161,  Harten- 
\\xsg  ibe.) 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  197 

liehen  Gedanken  hat  Goethe  in  seiner  Ode  „Das  Göttliche"  klar  und 
deutlich  ausgedrückt: 

„Edel  sei  der  Mensch, 

Hilfreich  und  gut, 

Denn   das  allein 

Unterscheidet  ihn 

Von  allen  Wesen, 

Die  wir  kennen. 

Heil  den  unbekannten 

Höhern  Wesen, 

Die  wir  ahnen. 

Sein  Beispiel  lehr  uns 

Jene  glaube  n." 

Die  Fähigkeit  des  Menschen,  entsagungsvoll  sich  dem  Wohle 
anderer  zu  widmen,  soll  der  Beweis  dafür  sein,  daß  es  ein  allgütiges 
göttliches  Wesen  gibt. 

Die  philosophische  Ausgestaltung  dieser  Verselbständigung  der 
Ethik  hat  dann  Immanuel  Kant  vollzogen.  So  wie  die  Erkenntnistheorie 
Kants  gegründet  ist  auf  den  Glauben  an  eine  von  allem  Anfang  an 
gegebene,  zeitlose  logische  Struktur  der  „reinen"  Vernunft,  so 
beruht  auch  seine  strenge  Sittenlehre  auf  der  Überzeugung  von  einer 
festen,  unveränderlichen  ethischen  Struktur  des  menschlichen 
Willens  oder,  wie  er  lieber  sagt,  der  praktischen  Vernunft.  Kant  ist 
also  ebenso  wie  Sokrates  und  die  Stoiker,  von  denen  er  stark  beeinflußt 
ist,  für  die  unbedingte  Autonomie  des  sittlichen  Bewußtseins  und  der 
daraus  sich  ergebenden  ethischen  Normen  eingetreten.  Er  hat  aber 
diesen  Gedanken  mit  einer  derartigen  Konsequenz  durchgeführt  und 
die  daraus  entspringenden  Folgerungen  mit  so  unerbittlicher  Strenge 
gezogen,  zugleich  aber  in  seiner  Begründung  so  viel  neue  Gedanken 
ausgesprochen,  daß  seine  Denkarbeit  in  der  Entwicklung  der  Ethik 
eine  neue  Epoche  heraufgeführt  hat. 

Kant  bekennt  sich  in  seiner  Ethik  ebenso  wie  in  seiner  Erkenntnis- 
theorie mit  voller  Entschiedenheit  zum  Apriorismus.  (Vgl.  S.  54.) 
Niemals  können  wir  durch  die  Erfahrung,  das  heißt  durch  die  Beob- 
achtung dessen,  was  die  Menschen  in  moralischen  Dingen  wirklich 
tun,  zur  Klarheit  darüber  gelangen,  was  sie  tun  sollen.  Darüber 
kann  uns  nur  das  in  unserer  Brust  wohnende  Sittengesetz  be- 
lehren, das  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft  selbst,  aus  ihrem 
innersten  Wesen  abgeleitet  ist  und  eben  deshalb  unabhängig  von  jeder 
Erfahrung  für  alle  vernünftigen  Wesen  unbedingte,  objektive  und  all- 
gemeine Gültigkeit  besitzt.  Vor  diesem  Richterstuhl  in  unserem  Innern 
müssen  sich  auch  die  religiösen  Begriffe  erst  rechtfertigen,  wenn  sie 
moralisch  vollgültig  sein  sollen.  „Selbst  der  Heilige  des  Evangelii", 
sagt  Kant,  „muß  zuvor  mit  unserem  Ideal  der  sittlichen  Vollkommen- 
heit verglichen  werden,  ehe  man  ihn  dafür  erkennt;  auch  sagt  er  von 
sich  selbst:  was  nennt  ihr  mich  (den  ihr  sehet)  gut?  Niemand  ist  gut 
als  der  einige  Gott  (den  ihr  nicht  sehet).  Woher  haben  wir  aber  den 
Begriff  von  Gott  als  dem  höchsten  Gut?  Lediglich  aus  der  Idee,  die 
die  Vernunft  a  priori  von  sittlicher  Vollkommenheit  entwirft  und  mit 


Allgemeine  Ethik 

dem  Begriffe  eines  freien  Willens  unzertrennlich  verknüpft"*).  Man 
sieht  also  deutlich,  daß  Kant  ebenso  wie  Lessing  und  Goethe  die  Reli- 
gion  auf  die  Sittlichkeil  gründet  und  nicht  umgekehrt. 

Worin  besteht  min  dieses  der  praktischen  Vernunft  immanente, 
a  priori  erkennbare  und  für  alle  gültige  Sittengesetz?  Kant  legt  großen 
\\  er!  ilarauf,  immer  wieder  zu  betonen,  daß  das  Bewußtsein  von  diesem 
inneren  Wertmaßstab  schon  dem  nicht  philosophierenden  Verstände 
innewohnt.  Man  hält  auch  im  gewöhnlichen  Leben  nur  solche  Hand- 
lungen für  wahrhaft  sittlich,  bei  denen  sich  keine  Spur  eines  selbst- 
süchtigen Motives,  kein  Gedanke  an  einen  etwaigen  Vorteil,  keine 
Furcht  vor  Strafe  nachweisen  oder  vermuten  läßt.  Der  moralische 
\\\rt  einer  Handlung  liegt  ferner,  auch  nach  der  allgemeinen  An- 
sicht, nicht  in  den  besonderen  Absichten,  die  uns  dabei  leiten,  und 
noch  weniger  in  den  Wirkungen,  die  wir  damit  erzielen,  sondern  einzig 
und  allein  in  den  Grundsätzen,  von  denen  wir  uns  bestimmen 
lassen.  Der  Philosoph  findet  also  im  allgemeinen  Bewußtsein  die 
Keime  des  wahren  A4oralprinzips  bereits  vor.  Seine  Aufgabe  besteht 
nun  darin,  das  Prinzip  deutlich  zu  formulieren  und  zu  zeigen,  daß  es 
wirklich  aus  dem  Wesen  der  praktischen  Vernunft  mit  innerer  Not- 
wendigkeit abgeleitet  werden  könne. 

Das  Sittengesetz  stellt  an  den  menschlichen  Willen,  der  ja  in  der 
Regel  von  Neigungen  und  Wünschen  beeinflußt  wird,  Forderungen, 
es  richtet  an  ihn  Gebote.  Kant  nennt  diese  Forderungen  Impera- 
tive. 

Diese  Imperative  unterscheiden  sich  von  den  sonstigen  Forde- 
rungen, die  die  Vernunft  zur  Erreichung  bestimmter  Zwecke  an  den 
Willen  richtet,  dadurch,  daß  jene  nur  bedingte  Geltung  haben,  während 
die  Imperative  der  Sittlichkeit  unbedingt  gebieten  und  zu  jeder 
Zeit  von  jedem  Befolgung  verlangen.  Deswegen  werden  diese  Forde- 
rungen von  Kant  als  kategorische  Imperative  bezeichnet. 

Sollen  nun  derartige  Imperative  aus  der  Vernunft  selbst  abgeleitet 
werden  können,  so  dürfen  sie  keine  bestimmten  Vorschriften,  keine 
speziellen  Anweisungen  enthalten,  da  hiezu  überall  Erfahrung  nötig 
ist.  Das  in  der  praktischen  Vernunft  selbst  begründete  Sittengesetz 
kann  sich  nur  auf  allgemeine  Grundsätze  beziehen.  Kant  nennt 
den  ( irundsatz,  durch  den  ich  mich  in  jedem  einzelnen  Falle  zum  Han- 
deln bestimmen  lasse,  die  Maxime  meines  Handelns.  Wenn  nun 
diese  Maxime  dem  Sittengesetz  gemäß  sein  soll,  so  muß  ich  wollen 
können,  daß  sie  zum  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  gemacht 
werden  könnte.  Und  so  lautet  denn  die  erste  Formulierung  des  kate- 
gorischen Imperativs  folgendermaßen:  „Handle  nur  nach  derjenigen 
Maxime,  durch  die  du  wollen  kannst,  daß  sie  ein  allgemeines  Gesetz 
werde"  Kant  versucht  nun  in  der  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der 
Sitten"  an  mehreren  Beispielen  zu  zeigen,  daß  diese  Formel  tatsäch- 
lich einen  sicheren  Maßstab  für  die  Beurteilung  der  Grundsätze  unseres 
I  landelns  abgeben  kann. 

•)  Grundlegung  z.  Met.  d.  Sitten.  2.  Abschnitt.  IV.,  256  (Hartenstein). 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  199 

Hier  muß  zunächst  ein  naheliegendes  Mißverständnis  verhütet 
werden.  Die  Ausdrücke  „Prinzip  einer  Gesetzgebung"  und  „allgemeines 
Gesetz"  könnten  den  Gedanken  nahelegen,  als  wolle  Kant  die  Richtig- 
keit seines  Moralprinzips  aus  den  Bedingungen  des  menschlichen 
Zusammenlebens  erweisen.  Dies  würde  jedoch  dem  apriorischen 
Charakter  seiner  Ethik  ganz  widersprechen.  Er  sucht  vielmehr  zu 
zeigen,  daß  jede  unmoralische  Maxime  sich  dadurch  als  solche  erweist, 
daß  sich  sofort  ein  logischerWiderspruch  ergibt,  wenn  man 
versucht,  diese  Maxime  zu  verallgemeinern.  Es  läßt  sich  nicht  leugnen, 
daß  es  dabei  nicht  ohne  dialektische  Spitzfindigkeiten  abgeht  und  eben 
deshalb  wirkt  diese  Formulierung  des  Sittengesetzes  nicht  ganz  über- 
zeugend. 

Wichtiger  und  bedeutsamer  ist  die  zweite  Formulierung  des  kate- 
gorischen Imperativs,  die  mit  der  ersten  nur  lose  zusammenhängt.  Wenn 
die  Vernunft  sich  selbst  ihre  Gesetze  gibt,  so  erhält  das  vernünftige 
Wesen  eben  dadurch  eine  innere  Selbständigkeit,  einen  inneren 
Wert,  der  es  von  den  übrigen  Dingen  der  Welt  wesentlich  unterscheidet. 
Die  Dinge,  die  wir  als  Sachen  bezeichnen,  gewinnen  für  uns  nur 
dadurch  einen  Wert,  daß  wir  sie  als  Mittel  für  unsere  Zwecke  ge- 
brauchen. Der  Mensch  aber  ist  als  Vernunftwesen  nicht  Sache,  sondern 
Person  und  besitzt  dadurch  seinen  eigenen  Wert.  Man  darf  ihn 
deshalb  niemals  bloß  als  Mittel  zu  irgendeinem  Zwecke  betrachten, 
sondern  muß  in  ihm  eine  Art  von  Selbstzweck  erblicken,  der  an 
sich  Wert  hat.  Aus  dem  Bewußtsein  der  eigenen  Vernunft,  die  jedem 
Menschen  gegeben  ist,  ergibt  sich  demnach  die  Forderung :  „Handle 
so,  daß  du  die  Menschheit  sowohl  in  deiner  Per- 
son, als  in  der  Person  eines  jeden  andern  jeder- 
zeit zugleich  als  Zweck,  niemals  bloß  als  Mittel 
brauchst"  (IV,  277.) 

Mit  dieser  Forderung  hat  Kant  einen  ganz  neuen  Begriff  in  die 
wissenschaftliche  Ethik  eingeführt.  Jeder  einzelne  Mensch  besitzt  nach 
dieser  neuen  Lehre  als  Träger  der  Menschheitsidee,  als  Vernunftwesen 
einen  eigenen  inneren  Wert  (oder  wie  Kant  schön  sagt,  eine  eigene 
Würde  [IV,  282  f.]).  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  wie  der  Be- 
griff der  Menschenwürde  als  besonders  wichtiger  Hebel  der 
sittlichen  Höherentwicklung  wirkt,  und  behalten  uns  vor,  dort  nochmals 
auf  diese  von  Kant  zuerst  aufgestellte  Forderung  zurückzukommen. 

In  dem  Begriffe  der  Würde  konzentriert  sich  gleichsam  Kants 
energisches  Eintreten  für  die  Autonomie  des  Sittengesetzes.  Wo 
unser  Wille  durch  eine  Autorität  bestimmt  oder  auch  nur  durch  Nei- 
gungen beeinflußt  ist,  da  herrscht  Heteronomie,  das  heißt,  fremde 
Gesetzgebung.  Sittlich  aber  handeln  wir  nur  dann,  wenn  wir  einzig 
und  allein  dem  in  uns  selbst  liegenden,  von  der  Vernunft  gegebenen 
Moralgesetz  folgen.  Kant  ist  fest  davon  durchdrungen,  daß  die  Hetero- 
nomie des  Willens  der  Quell  aller  unechten  Prinzipien  der  Sittlichkeit 
sei  (IV,  289). 

Daraus  erklärt  sich  auch  die  unerbittliche  Strenge  seiner  mora- 
lischen Forderungen,  eine  Strenge,  die  man  oft  als  übertriebenen  R  i- 
g  o  r  i  s  m  u  s  getadelt  hat.  Kant kann  aber  konsequenterweise  gar  nicht 


ji)  i  Allgemeine  Ethik 

anders  denken.  Was  .1  priori  aus  der  reinen  Vernunft  sich  ableiten  läßt, 
dem  kommt  allgemeine  Gültigkeit  und  innere  Notwendigkeit  zu.  Das 
mit  aber  nach  Kants  ( Fberzeugung  vom  Sittengesetz.  Wo  sich  also  bei 
einer  I  landlungsweise  empirische  Elemente  eindrängen,  wie  z.  B. 
irgendeine,  und  sei  es  auch  nur  die  geringste  Neigung  oder  eine  Aus- 
sicht ant  einen  Vorteil  oder  Furcht  vor  Strafe,  da  ist  die  Tat  nicht  mehr 
bloß  von  der  reinen  praktischen  Vernunft  diktiert  und  darum  nicht  mehr 
moralisch.  Koni  weiß  ganz  genau,  daß  eine  wahrhaft  sittliche  Tat,  die 
seiner  strengen  Forderung  vollkommen  gerecht  wird,  vielleicht  niemals 
von  einem  Menschen  vollbracht  worden  ist  •).  Das  beeinträchtigt  aber 
in  keiner  Weise  die  „unnachlaßliche"  Strenge  seiner  Forderung.  Er 
denkt  hier  genau  so,  wie  die  älteren  Stoiker.  Moralisch  ist  nur  die  Tat, 
die  ganz  und  gar  dem  Sittengesetz  entspricht.  Jeder  fremde  Zusatz 
vernichtet  sofort  ihren  moralischen  Charakter. 

Auch  der  Pflichtbegriff  Kants,  der  seiner  Ethik  das  Gepräge  gibt, 
hängt  mit  seiner  Überzeugung  von  der  Autonomie  des  Sittengesetzes 
zusammen.  „Pflicht  ist  Notwendigkeit  einer  Handlung  aus  Achtung 
für  das  Gesetz."  (IV,  248.)  Sie  ist  somit  das  unbedingte  Gebot,  das 
die  ihrer  selbst  bewußte  praktische  Vernunft  aus  ihrem  eigensten  Wesen 
heraus  sich  selbst  gibt.  In  der  ergreifenden  Apostrophe  an  die  Pflicht, 
die  sich  in  der  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  findet  („Pflicht,  du 
erhabener  großer  Name"  usw.),  fragt  Kant:  „Welches  ist  der  deiner 
würdige  Ursprung  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner  edlen  Abkunft?" 
Seine  Antwort  lautet:  „Es  ist  nichts  anderes  als  die  Persönlich- 
keit, das  ist  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  von  dem  Mechanismus 
der  ganzen  Natur."  (V,91 .)  Die  Pflicht  ist  also  nach  Kant  der  Ausdruck 
der  inneren  Selbständigkeit  des  Menschen  als  eines  Vernunftwesens.  „Er 
ist  das  Subjekt  des  moralischen  Gesetzes,  welches  heilig  ist,  vermöge 
der  Autonomie  seiner  Freiheit."  (V,  92.)  In  dem  Pflichtbewußtsein  ist 
also  die  eigentliche  Würde  des  Menschen  und  zugleich  seine  Be- 
stimmung enthalten. 

Mit  dieser  Auffassung  der  Pflicht  hängt  auch  Kants  entschiedene 
Bekämpfung  des  Eudaimonismus  zusammen.  In  einer  tiefgrün- 
digen Auseinandersetzung  zeigt  er,  daß  die  Natur  den  Menschen  gar 
nicht  zur  Glückseligkeit  bestimmt  haben  kann.  Diesen  Zweck  hätte  sie 
nämlich  weit  sicherer  erreicht,  wenn  sie  ihm  statt  der  Vernunft  bloß 
einen  Naturinstinkt  verliehen  hätte.  „In  der  Tat  finden  wir  auch,  daß, 
je  mehr  eine  kultivierte  Vernunft  sich  mit  der  Absicht  auf  den  Genuß 
des  Lebens  und  der  Glückseligkeit  abgibt,  desto  weiter  der  Mensch  von 
der  wahren  Zufriedenheit  abkomme."  (IV,  243.)  Daraus  schließt  Kant, 
der  fest  davon  überzeugt  ist,  daß  die  Natur  niemals  zweckwidrig  vor- 
geht, daß  sie  dem  Menschen,  indem  sie  ihm  die  Vernunft  verlieh,  ein 
ganz  anderes  Ziel  als  die  Glückseligkeit  gesetzt,  daß  sie  ihm  eine  ganz 
andere  Bestimmung  gegeben  habe.  Dem  Menschen  als  einem  Vernunft- 
westn  ist  vielmehr  die,  vielleicht  unerfüllbare,  aber  dennoch  „unnach- 

*)  Vgl.  „Grundlegung  der  Met.  d.  Sitten",  IV.  275:  „In  einer  praktischen 
Philosophie,  wo  es  uns  nicht  darum  zu  tun  ist,  Gründe  anzunehmen  von  dem. 
was  geschieht,  sondern  Gesetze  von  dem,  was  geschehen  soll,  ob  es 
gleich  niemals  geschieht"  usw. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  201 

läßliche"  Aufgabe  gestellt,  das  in  ihm  liegende  Sittengesetz  durch  sein 
Tun  zur  Verwirklichung  zu  bringen. 

Wir  sehen  also,  daß  Kant  den  somatischen  und  stoischen  Ge- 
danken von  der  Autonomie  des  sittlichen  Bewußtseins  sich  zu  eigen  ge- 
macht, diese  Forderung  aber  durch  seine  tiefgründigen  Untersuchungen 
wesentlich  erweitert,  vertieft  und  mit  dem  wahren  Wesen  des  Menschen 
in  Zusammenhang  gebracht  hat.  Kants  Ethik  ist  durch  ihre  Strenge, 
durch  ihre  innere  Geschlossenheit  und  ganz  besonders  durch  die  hohe 
Aufgabe,  die  er  dem  Menschen  stellt,  selbst  eine  sittliche  Tat  von  der 
größten  Tragweite  geworden.  Seine  Lehre  von  der  Würde  des  Menschen 
kann  erst  heute  auf  Grund  der  soziologischen  Methode  in  ihrer  wahren 
Bedeutung  erfaßt  werden.  Wir  werden  in  unserer  eigenen  Darstellung 
der  Ethik  vielfach  genötigt  sein,  über  die  Begriffe  der  Menschenpflicht 
und  Menschenwürde,  über  Autonomie  und  Heteromie  Überzeugungen 
vorzubringen,  die  in  wesentlichen  Punkten  von  Kant  abweichen.  Nie- 
mals aber  werden  wir  vergessen,  daß  Kant  es  war,  der  den  sittlichen 
Beruf  des  Menschen  in  seiner  vollen  Tiefe  erfaßt  und  das  Vertrauen 
in  die  moralische  Kraft  des  Willens  durch  seine  tief  bohrende  Denk- 
arbeit so  außerordentlich  gestärkt  hat. 

Die  Unabhängigkeit  des  Sittengesetzes  von  jedem  religiösen 
Dogma  ist  in  der  Zeit  nach  Kant  vielfach  zu  einer  fast  selbstverständ- 
lichen Überzeugung  geworden.  Die  Entwicklungslehre  hat  es  nahe- 
gelegt, die  moralischen  Vorstellungen  und  Gefühle  als  ein  natur- 
gemäßes Produkt  der  Lebensnotwendigkeit  anzusehen.  Erst  in  den 
letzten  Dezennien  haben  wir  infolge  der  ausgedehnten  geschichtlichen 
Studien  und  insbesondere  durch  die  völkerkundlichen  Forschungen 
wieder  einsehen  gelernt,  daß  Religion  und  Sittlichkeit  sich  von  allem 
Anfang  an  in  innigem  Zusammenhang  miteinander  entwickelt  haben. 
Hier  wird  die  soziologische  Betrachtungsweise  geeignet  sein,  uns  dar- 
über aufzuklären,  in  welcher  Weise  ein  Zusammenwirken  dieser  beiden 
durch  und  durch  sozialen  und  zugleich  durch  und  durch  geistigen  Pro- 
zesse in  der  Zukunft  möglich  und  wünschenswert  sein  wird. 

Ad  2.  (Psychologische  Grundlegung  der  Ethik.)  Auf  diesem  Ge- 
biete haben  englische  und  insbesondere  schottische  Denker 
fruchtbringende  Arbeit  geleistet.  Als  das  wichtigste  Ergebnis  ihrer 
psychologischen  Untersuchungen  darf  wohl  die  allmählich  gewonnene 
Erkenntnis  gelten,  daß  die  beiden  Grundtatsachen  des  sittlichen  Lebens, 
die  moralische  Beurteilung  fremder  Handlungen  und  die 
warnende  Stimme  in  unserem  Innern,  die  wir  das  Gewissen 
nennen,  nicht  in  der  Vernunft,  sondern  in  einem  viel  ursprünglicheren 
Gefühl  ihre  seelische  Quelle  haben.  Über  die  Art,  den  Ursprung 
und  die  Zusammensetzung  dieses  sittlichen  Grundgefühls  gehen  be- 
greiflicherweise die  Meinungen  stark  auseinander. 

John  Locke  (1632 — 1704)  hat  durch  seine  entschiedene  Bekämp- 
fung der  Annahme  angeborener  Ideen  auf  die  Notwendigkeit 
einer  empirischen  Moralbegründung  hingewiesen,  diese  aber  selbst 
nicht  gegeben.  Recht  und  Unrecht  wird  seiner  Überzeugung  nach  immer 
nur  in  bezug  auf  ein  Gesetz  unterschieden.  Solche  Gesetze  gibt  es 
nach  Locke  dreierlei.  Das  göttliche,  das  bürgerliche  und  das  der  öffent- 


202  Allgemeine  Ethik 

liehen  Meinung.  Diese  übt,  wie  Locke  sehr  treffend  bemerkt,  den  stärk- 
sten Einfluß  auf  das  wirkliche  Handeln  der  Menschen  aus.  Locke  hat 
damit  .mt  ein  sehr  wichtiges  soziologisches  Moment  in  der 
!  tlnk  hingewiesen,  worauf  wir  später  noch  zurückkommen.  Für  die 
psychologische  Moralbegründung  hat  er  jedoch  nicht  viel  getan. 

Diese  hat  vor  anderen  der  feinsinnige  Denker  Shajtesbury  (1671 
!>-.s  1713)  sich  zur  Aufgabe  gemacht.  In  striktem  Gegensatz  zu  Hobbes, 
der  im  Menschen  nur  selbstsüchtige  Triebe  gelten  ließ,  die  erst  durch 
die  Vergesellschaftung  gehemmt  werden,  glaubt  Shajtesbury  fest  an  die 
l  frsprünglichkeit  sozialerGefühle.  Die  zärtliche  Fürsorge  der 
I  ltern  für  die  Kinder,  das  natürliche  Mitgefühl  mit  dem  Leidenden, 
die  Freude  an  der  Geselligkeit,  die  Abneigung  gegen  die  Einsamkeit 
sind  ihm  Beweise  dafür.  Zu  wirklich  moralischen  Gefühlen  wer- 
den diese  natürlichen  Affektionen  erst  dadurch,  daß  wir  sie  in  unser 
reflektierendes  Bewußtsein  erheben  und  uns  dann  an  ihrem  Ablauf 
innerlich  erfreuen  können. 

Dazu  kommt  bei  dem  von  antiker  Bildung  ganz  durchtränkten 
Denker  noch  die  Überzeugung,  daß  wir  von  Natur  aus  einen  Sinn  für 
Ordnung,  für  Harmonie  und  Proportionalität,  kurz  für  das  richtige 
Maß  besitzen  und  uns  am  Anblick  dieser  Verhältnisse  erfreuen.  Des- 
halb betont  er  wiederholt  im  Anschluß  an  Aristoteles,  daß  jedes  Über- 
maß, jedes  Zuviel  in  irgendeiner  einzelnen  Neigung,  und  sei  sie  auch 
an  sich  tugendhaft,  eben  durch  die  Übertreibung  zu  einem  Fehler,  ja 
sogar  zu  einem  Laster  werde. 

Die  Religion  kann  die  Kraft  dieser  moralischen  Gefühle  erhöhen, 
wenn  der  Gott,  an  den  sie  glaubt,  nicht  bloß  als  ein  mächtiges,  sondern 
auch  als  ein  gütiges  Wesen  gedacht  wird.  Wer  aber  nur  aus  Furcht 
vor  der  göttlichen  Strafe  oder  in  sklavischem  Gehorsam  gegen  das  Ge- 
bot des  Allmächtigen  seine  bösen  Triebe  im  Zaume  hält,  dessen  Sitt- 
lichkeit ist  nicht  größer  als  die  eines  gefangenen  Tigers  *). 

Aus  der  antiken  Ethik  übernimmt  Shajtesbury  den  Eudaimonis- 
mus  und  bemüht  sich  nachzuweisen,  daß  die  Betätigung  der  sozialen 
Gefühle  das  Glück  des  Einzelnen  sicherer  und  dauernder  zu  begründen 
vermag,  als  die  ausschließliche  Verfolgung  seiner  selbstsüchtigen  Inter- 
essen. Wie  Epikur,  so  schätzt  auch  Shajtesbury  die  g  e  i  s  t  i  g  e  n  Freu- 
den viel  höher  ein  als  die  sinnlichen.  Ganz  besonders  aber  betont  er, 
daß  die  Betätigung  von  Wohlwollen  und  Menschenliebe  dauernde  Freu- 
den schafft,  die  sich  nicht  so  leicht  abstumpfen. 

Das  wichtigste  in  Shajtesburys  Moralphilosophie  bleibt  aber  die 
Begründung  der  Sittlichkeit  auf  ein  natürliches  Gefühl,  das  in  jedem 
Menschen  wirksam  ist  und  nur  der  Entfaltung  bedarf. 

Der  Schotte  Huicheson  (1694—1741)  entwickelt  Shajtesburys  Ge- 
danken weiter  und  gelangt  zu  der  Annahme  eines  eigenen  „mora- 
lischen Sinne  s",  eines  ursprünglichen  Unterscheidungsver- 
mögens,  mit  dem  wir  die  menschlichen  Handlungen  ganz  abgesehen 
davon  beurteilen,  ob  sie  uns  Vorteil  bringen  oder  nicht.  Hutcheson  be- 
müht sich,   das   Vorhandensein   dieses  „moral  sense"   (ein    Aus- 

*)  Shaftesbury,  ..Characteristics"  ed.  Robertson.  London  1Q0O,  I,  267. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  203 

druck,  den  schon  Sfiajtesbury  gelegentlich  anwendet)  an  verschiedenen 
Beispielen  nachzuweisen,  von  denen  wir  eines  wegen  seines  kultur- 
historischen Interesses  anführen  wollen.  Die  spanische  Inquisition  hat 
eine  nicht  geringe  Zahl  von  niederländischen  Gewerbetreibenden  zur 
Auswanderung  nach  England  veranlaßt.  „Sie  haben  uns  in  Fabrika- 
tionen unterwiesen,  die  Millionen  von  armen  Leuten  Brot  gaben,  den 
Reichtum  fast  aller  in  unserem  Staate  vermehrt  und'  uns  unsern  Nach- 
barn gefährlich  gemacht  haben."  Bald  darauf  unternahmen  es  einige 
mutvolle  „Burgemeister"  in  den  Niederlanden,  durch  einen  gefahrvollen 
Krieg  das  spanische  Joch  abzuschütteln  und  begründeten  selbst  einen 
großen  Industriestaat,  der  uns  in  unserem  Handel  eine  sehr  erhebliche 
Konkurrenz  macht.  „Die  ganze  Welt  sieht  leicht,  ob  die  ersteren  (die 
zu  uns  geflüchteten  Handwerker)  oder  die  letzteren  (die  mutvollen 
„Burgemeister")  uns  den  größeren  Vorteil  gebracht  haben.  Trotzdem 
aber  schätzen  wir  die  mutvollen  Burgemeister,  durch  deren  Vaterlands- 
liebe wir  geschädigt  wurden,  moralisch  höher  ein,  als  die  Flüchtlinge, 
die  uns  genützt  haben"  *). 

Mit  Hilfe  dieses  jedem  Menschen  verliehenen  „moralischen  Sinnes" 
betrachten  wir  nun  immer  solche  Handlungen  als  sittlich,  die  aus  dem 
Wohlwollen  für  andere  und  aus  der  Absicht  hervorgehen,  das  Gesamt- 
wohl zu  fördern. 

Eindringender  und  erfolgreicher  hat  David  Hume  (1711 — 1776) 
die  psychologischen  Grundlagen  der  Ethik  untersucht.  Schon  in  seinem 
Erstlingswerk  in  der  „Abhandlung  über  die  menschliche  Natur"  hat  er 
mit  dem  größten  Nachdrucke  darauf  hingewiesen,  daß  niemals  die 
Handlungen  selbst,  sondern  immer  nur  die  ihnen  zugrunde  liegenden 
Gesinnungen  Gegenstand  der  moralischen  Billigung  oder  Miß- 
billigung sind.  Er  zeigt  ferner,  daß  der  Grund  unserer  Billigung  und 
Mißbilligung  nicht  in  Erwägungen  der  Vernunft,  sondern  in  einem  ur- 
sprünglichen G  e  f  ü  h  1  zu  suchen  sei.  Nun  schätzen  wir  im  allgemeinen 
solche  Gesinnungen  am  höchsten,  die  dem  Wohle  der  Gesellschaft 
förderlich  sind,  und  viele  sind  daher  geneigt,  den  letzten  Grund  für 
unsere  moralische  Billigung  und  Mißbilligung  menschlicher  Hand- 
lungen in  dem  Nutzen  zu  suchen,  den  diese  Handlungen  für  uns  selbst 
oder  für  die  menschliche  Gemeinschaft  stiften.  Mit  dieser  oberfläch- 
lichen Erklärung  ist  aber  Hume  nicht  zufrieden.  Das  Wohl  anderer 
Menschen  und  das  der  Gemeinschaft,  in  der  wir  leben,  muß  unmittel- 
barer auf  uns  wirken,  als  durch  die  kalte  Überlegung  des  Vorteils,  den 
wir  etwa  selbst  daraus  ziehen  könnten.  Eine  solche  unmittelbare  Wir- 
kung findet  denn  auch  Hume  in  der  jedem  Menschen  naturgemäßen 
Fähigkeit,  fremdes  Leid  ebenso  wie  die  Freude  anderer,  sobald  diese 
Gefühle  sich  in  den  Gebärden  und  Mienen  deutlich  äußern,  selbst  mit- 
zuempfinden. Hume  nennt  dieses  Mitempfinden  Sympathie  und 
charakterisiert  sie  einmal  sehr  treffend  mit  folgenden  Worten :  „Wie  bei 
gleich  gestimmten  Saiten  eines  Instrumentes  die  Bewegung  einer  Saite 
sich  leicht  den  anderen  mitteilt,  so  gehen  alle  Affekte  leicht  von  einem 


*)  Hutcheson,  „Inquiry  into  the  origin  of  our  ideas  of  beautv  and  virtne", 
3.  edition.  London  173«.  S.  116. 


204  Allgemeine  Ethik 

Menschen  auf  den  anderen  über  und  erzeugen  entsprechende  Bewe- 
gungen  in  jedem  menschlichen  Wesen"*).  In  dieser  ursprünglichen 
I  ähigkeit  des  Mitempfindens  liegt  nach  Hume  der  letzte  Grund  für 
alle  moralische  Beurteilung.  Durch  den  gegenseitigen  Verkehr  und  den 
|  iebrauch  der  Sprache,  die  dazu  nötigt,  allgemeine  Begriffe  zu  bilden, 
klaren  sich  die  Svmpathiegefühle  allmählich  ab  zu  allgemeinen  Regeln 
der  moralischen  Beurteilung,  wobei  der  durch  vernünftige  Überlegung 
immer  deutlicher  erkannte  Nutzen  der  sozialen  Gefühle  eine  wichtige 
Rolle  spielt**). 

Tiefgründiger  noch  als  Hume  untersucht  sein  persönlicher  Freund, 
der  berühmte  Nationalökonom  Adam  Smith  (1732—1790),  in  seinem 
1750  erschienenen  Werke  „Theory  of  moral  sentiments"  (Theorie  der 
moralischen  Gefühle)  die  psychologischen  Grundlagen  der  sittlichen 
Beurteilung  und  Verpflichtung.  Er  geht  ebenfalls  von  unserer  Fähig- 
keit der  „Mitempfindung",  der  „Sympathie"  aus,  die  er  jedoch  viel 
sorgfältiger  zergliedert.  Unsere  Fähigkeit,  uns  mittels  der  Phantasie 
in  den  Seelenzustand  eines  anderen  zu  versetzen,  bildet  unseren  Maß- 
stab für  die  Beurteilung  der  Schicklichkeit  (propriety)  und  der 
Unschicklichkeit  (impropriety)  fremder  Handlungen.  Die 
Freude,  die  Trauer,  der  Zorn,  die  Entrüstung,  die  wir  bei  einem 
anderen  beobachten,  erscheint  uns  angemessen  und  schicklich,  wenn 
wir  glauben,  daß  wir  in  derselben  Lage  ebenso  empfinden  würden.  Ein 
weiteres  Moment  für  die  moralische  Beurteilung  anderer  liegt  in  den 
„Vergeltungsgefühle  n".  Sie  entscheiden  darüber,  ob  wir 
eine  Handlung  als  verdienstlich  oder  als  strafbar  be- 
zeichnen. Was  in  uns  das  Gefühl  der  Dankbarkeit  hervorruft,  das  be- 
trachten wir  als  verdienstlich,  was  gerechten  Unwillen  (resentment)  er- 
zeugt, das  gilt  uns  als  strafbar.  Unser  Urteil  richtet  sich  dabei  auf  die 
Gesinnung,  die  der  Handlung  zugrunde  liegt.  Allein  Smith  legt 
mit  lichtvoller  Klarheit  dar,  daß  trotzdem  der  tatsächliche  Erfolg 
der  Handlung  unser  moralisches  Urteil  in  hohem  Grade  beeinflußt. 

Die  Gewohnheit,  fremde  Handlungen  unserem  moralischen  Urteil 
zu  unterwerfen,  hat  dann  zur  Folge,  daß  wir  auch  bei  unserem  eigenen 
Tun  uns  auf  den  Standpunkt  eines  fremden  Beobachters  stellen,  um 
uns  gleichsam  selbst  zu  fragen,  ob  das,  was  wir  zu  tun  im  Begriffe  sind, 
schicklich  oder  unschicklich,  verdienstlich  oder  strafbar  sei.  So  entsteht 
allmählich  in  unserem  eigenen  Innern  ein  unparteiischer  Richter,  der 
uns  sagt,  ob  das,  was  wir  tun  wollen,  recht  sei  oder  nicht,  und  ob  das, 
was  wir  getan  haben,  die  allgemeine  Billigung  verdiene,  oder  ob  wir 
uns  damit  verdiente  Mißbilligung  zugezogen  haben.  Ganz  unparteiisch 
ist  diese  innere  Stimme  in  uns,  die  wir  unser  Gewissen  nennen, 
allerdings  in  den  meisten  Fällen  nicht.  V  o  r  der  Tat  sind  wir  gewöhn- 
lich durch  unsere  selbstsüchtigen  Interessen  so  befangen,  daß  wir  nur 
selten  ganz  ruhig  abzuwägen  imstande  sind.  Aber  auch  nach  der  Tat 


')  Hume,  „Treatise  on  human  nalure"  ed.  Green  and  Grose.  II,  395. 
'')  Vgl  die  tiefgründige  Auseinandersetzung  in  Hume,  „Untersuchung  über 
die  Prinzipien  der  Moral"  in  dem  Abschnitt:  „Why  Utility  pleases"  (warum  der 
Nutzen  gefällt).  Hume,  „Essays"  her.  v.  Green  u.  Grose  II,  202  ff. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  205 

weiß  die  sophistische  Vernunft  meistens  allerlei  Entschuldigungsgründe 
aufzufinden. 

Wenn  wir  aber  diesen  Richter  in  unserem  Innern  durch  fortgesetzte 
Selbstschulung,  durch  Vernunft  und  Philosophie  wirklich  zu  einem 
vollkommen  unparteiischen  Beurteiler  gemacht  haben,  dann  werden 
wir  zu  den  höchsten  moralischen  Leistungen  befähigt.  „Es  ist  dann 
nicht  mehr  die  Liebe  zu  unserem  Nächsten,  nicht  die  Liebe  zur  Mensch- 
heit, die  uns  zur  Ausübung  dieser  göttlichen  Tugenden  veranlaßt.  Es 
ist  eine  stärkere  Liebe,  ein  mächtigerer  Affekt,  der  bei  solchen  Gelegen- 
heiten entsteht,  es  ist  die  Liebe  zu  all  dem,  was  ehrenvoll  und  edel  ist, 
die  Liebe  zur  Größe  und  zur  Würde  und  zur  Überlegenheit  unseres 
eigenen  Charakters"  *).  Smith  hat  hier  den  Gedanken  der  Menschen- 
würde als  eines  Höhepunktes  der  moralischen  Entwicklung  aus- 
gesprochen, einen  Gedanken,  den  wir  weiter  unten  vom  sozio- 
logischen Gesichtspunkt  aus  werden  zu  würdigen  haben.  Seine 
Analyse  des  Gewissens  ist  überhaupt  ein  Meisterstück  psychologischer 
Zergliederung  und  schon  deshalb  verdient  sein  Buch  auch  heute  noch 
gelesen  und  studiert  zu  werden. 

Durch  die  fortgesetzte  Übung  in  der  moralischen  Beurteilung 
fremder  und  eigener  Handlungen  bilden  sich  allmählich  a  1 1- 
gemeine  Regeln  aus,  die  sehr  geeignet  sind,  selbstsüchtige  An- 
wandlungen zu  hemmen  und  zu  unterdrücken.  Das  Bewußtsein  dieser 
allgemeinen  Regeln  ist  dann  das,  was  wir  die  Pflicht  nennen.  Der 
Pflichtbegriff  ist  für  Smith  keineswegs  etwas  ursprünglich  Gegebenes, 
wie  bei  Kant,  sondern  das  Produkt  einer  langsam  sich  bildenden  Er- 
fahrung. Smith  zeigt  uns,  wie  auf  Grund  der  in  der  allgemeinen 
Menschennatur  liegenden  Sympathiegefühle  und  der  Vergeltungs- 
gefühle die  moralische  Beurteilung,  das  Gewissen  und  das  Pflicht- 
bewußtsein entstehen.  Sein  Werk  ist  die  beste  Darstellung  der  Ethik 
auf  empirischer  und  auf  psychologischer  Grundlage.  Es  bedarf,  wie 
wir  sehen  werden,  nur  noch  der  Ergänzung  durch  die  soziologische 
Betrachtungsweise. 

Die  Lehren  der  englischen  Moralphilosophen  sind  im  Laufe  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  vielfach  in  Deutschland  bekannt  geworden 
und  haben  da  mehrere  Versuche  hervorgebracht,  zwischen  dem  Ratio- 
nalismus der  Leibniz-Wolffschen  Philosophie  und  dem  englischen 
Empirismus  zu  vermitteln.  Da  jedoch  Kants  apriorisch  gerichtete  Ethik 
jede  psychologische  Grundlegung  schroff  ablehnte,  so  konnte  die 
deutsche  Philosophie  die  von  den  Engländern  so  erfolgreich  betretenen 
Wege  nicht  weiter  verfolgen.  Erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  finden 
wir  in  Deutschland  einige  nennenswerte  Versuche  einer  psychologischen 
Moralbegründung.  Hier  ist  vor  allem  Schopenhauers  tiefgründige 
Mitleidsmoral  zu  nennen,  die  zwar  mit  seiner  pessimistischen 
Weltanschauung  zusammenhängt,  von  ihm  aber  trotzdem  rein  erfah- 
rungsmäßig begründet  wird.  Der  von  den  Engländern  eingeführte 
allgemeine    Begriff    der    Mitempfindung    oder    Sympathie    wird    von 

*)  Smith,  „Theory  of  moral  sentiments",  3.  Ausg.  v.  J.  1767,  3.  Teil,  2.  Kap., 
S.  214. 


206  Allgemeine  Ethik 

Schopenhauer  auf  das  Mit- Lei  den  eingeengt,  weil  der  Anblick 
des  zufriedenen  und  glücklichen  Menschen  uns  entweder  gleichgültig 
läßl  oder  gar  unseren  Neid  erweckt.  Dagegen  ist  das  Mitgefühl  mit 
dem  Leiden  anderer  tief  in  der  Menschennatur  begründet  und  dieses 
ist  für  Schopenhauer  die  tatsächlich  vorhandene  Quelle  aller  selbst- 
losen, das  heißt  aller  wirklich  moralischen  Handlungen.  Schopenhauer 
Intet  daraus  die  beiden  Kardinaltugenden  der  Gerechtigkeit  und  der 
Menschenliebe  in  überaus  anregender  Weise  ab.  Seine  Darlegungen 
sind  auch  für  denjenigen  sehr  belehrend,  der  den  pessimistischen 
Grundanschauungen  des  Philosophen  nicht  zuzustimmen  vermag. 

Die  bisher  betrachteten  Versuche  einer  psychologischen   Grund- 
legung der  Ethik  stimmen  darin  überein,  daß  alle  ein  Motiv  des  selbst- 
losen  Handelns  zu  finden  sich  bemühen.  Demgegenüber  versuchen  die 
französischen    Aufklärungsphilosophen   und    Materialisten   des   acht- 
zehnten Jahrhunderts  die  Sittlichkeit  einzig  und  allein  aus  dem  alle 
I  landhingen   der   Menschen   bestimmenden    Egoismus  abzuleiten. 
I  Hes  hatte  schon  Lamettrie,  der  Begründer  des  neueren  Materialismus 
(s.  oben  S.  110  f.),  in  seinem  „Discours  sur  le  bonheur"  in  wenig  ge- 
schmackvoller Darstellung  versucht  (Jodl  I,  454).  Systematisch  durch- 
geführt ist  die  egoistische  Moralbegründung  bei  Helvetius  (1715  bis 
1771 )  in  seinem  Werke  „De  l'esprit"  (Vom  Geiste).  Helvetius  bekennt 
sich  zum  Sensualismus  Condillacs  (s.  oben  S.  60)  und  findet,  daß  Lust 
und  Schmerz  die  einzigen  wahren  Beweggründe  des  menschlichen  Han- 
delns sind.  Wir  suchen  die  Lust  und  meiden  den  Schmerz.  Als  An- 
hänger  Epikurs  meint   auch   Helvetius,  daß   die  geistigen    Freuden 
dauernder  sind  als  die  sinnlichen,  aber  wir  suchen  auch  diese  nur  aus 
Selbstliebe.  Wir  nennen  diejenigen  Handlungen  gut,  die  uns  nützen. 
„Ein  Richter  spricht  einen  Schuldigen  frei,  ein  Minister  erhebt  einen 
unwürdigen  Menschen  zu  hohen  Ehren.  Beide  sind  immer  gerecht  in 
den  Augen  ihrer  Schützlinge"  *).   Auch  die  menschliche  Gesellschaft 
urteilt  nicht  anders.  Sie  erklärt  das  für  gut,  was  ihr  nützt  und  für 
böse,  was  ihr  schadet.  Indem  wir  nun  das  Wohl  der  Gemeinschaft,  in 
der  wir  leben,  zu  fördern  streben,  handeln  wir  unmittelbar  auch  im 
eigenen  Interesse  und  so  bleibt  die  Selbstliebe  immer  das  letzte  Motiv. 
Trotzdem  aber  bezeichnet  es  Helvetius  als  das  sicherste,  ja  als  das  ein- 
zige Kriterium  der  Rechtschaffenheit  einer  Handlung,  wenn  dadurch 
das  öffentliche  Wohl  befördert  wird.  Er  hat  ausdrücklich  das  größte 
Glück  der  größten   Anzahl    als  das  Ziel  der  Tugend  hingestellt  und 
damit  die  später  von  Bentham  gebrauchte  Formel  vorweggenommen. 
Die  egoistische  Moralbegründung  ist  nach  Helvetius  noch  wieder- 
holt versucht  worden.   Am  radikalsten  vielleicht  von   Max  Stirner  in 
meinem   1845  erschienenen   Buche  „Der  Einzige  und  sein   Eigentum". 
Hier  wird  jede  I  l.indlung,  auch  die  der  größten  Hingabe  an  das  Ideal 
,nif  egoistische  Motive  zurückgeführt  und  damit  eigentlich  jede  Moral 
negiert.    Infolge  einiger   äußeren    Ähnlichkeiten   hat  man   Stirner  mit 
Friedrich  Nietzsche  in  Verbindung  gebracht,  weil  dieser  die  asketische 
I  thik  des  l  hristentums  als  Sklavenmoral  gebrandmarkt  und  eine  auf 

*)  Helvetius,  Oeuvn     complettes,  I.  182  (Ausgabe  Paris  17Q5). 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  207 

dem  Willen  zur  Macht  gegründete  „Herrenmoral"  gepredigt  hat,  die 
in  der  Konzeption  des  „Übermenschen"  ihren  Höhepunkt  erreicht,  'Das 
wäre  jedoch  eine  arge  Verkennung  Nietzsches,  der  ein  hohes  Ideal  auf- 
stellt, um  dessen  allmähliche  Verwirklichung  sich  die  Menschheit  be- 
mühen soll.  Nietzsche  ist  eben  bereits  mächtig  beeinflußt  vom  Ent- 
wicklungsgedanken, der  die  psychologische  Untersuchung 
des  sittlichen  Bewußtseins  auf  eine  neue  Grundlage  gestellt  hat. 

Der  Evolutionismus  -so  bezeichnen  wir  die  auf  der  Idee 
der  Entwicklung  beruhende  Betrachtungsweise  —  ist  von  uns  bereits 
oben  (S.  125  f.)  in  seinen  wichtigsten  Zügen  dargestellt  worden.  Hier 
haben  wir  nur  auf  seine  Bedeutung  für  die  Psychologie  und  für  die 
Ethik  hinzuweisen. 

Darwin  und  Spencer  haben  uns  gelehrt,  bei  allen  seelischen  Vor- 
gängen, die  wir  an  uns  selbst  beobachten  oder  bei  anderen  erschließen, 
uns  die  Frage  vorzulegen,  in  welchem  Zusammenhange  diese  Vorgänge 
und  die  ihnen  zugrunde  liegenden  psychischen  Dispositionen*) 
mitderErhaltungdesLebens  stehen. 

Durch  diese  biologische  Betrachtungsweise,  die  wir  oben 
(S.  23  f.)  als  ein  sehr  wichtiges  heuristisches  Prinzip  be- 
zeichnet haben,  sind  neue  und  überaus  bedeutsame  Einsichten  für  die 
Psychologie  gewonnen  worden.  Es  lag  nun  nahe,  dieselbe  Methode 
auch  auf  die  Tatsachen  und  auf  die  Normen  der  Ethik  anzuwenden. 
Darwin  hat  im  fünften  Kapitel  seines  Buches  über  die  Abstammung 
des  Menschen  {Kröners  Volksausgabe,  S.  99  ff.)  in  bescheidenem  Maße 
versucht,  die  Entwicklung  der  intellektuellen  und  moralischen  Fähig- 
keiten während  der  vorgeschichtlichen  und  zivilisierten  Zeiten  darzu- 
stellen. Er  hat  darauf  hingewiesen,  wieviel  die  Erwerbung  sozialer 
Fähigkeiten,  also  die  Sympathie,  die  gegenseitige  Hilfe,  die  Fähigkeit 
der  Unterordnung,  die  Empfänglichkeit  für  Lob  und  Tadel  der  Mit- 
menschen zum  Entstehen  und  zum  Wachstum  sozialer  Verbände  bei- 
trägt, und  meint  deshalb,  daß  diese  Eigenschaften  sich  durch  natür- 
liche Zuchtwahl  vererbt  und  gesteigert  haben.  In  weit  umfassenderer 
und  gründlicherer  Weise  hat  dann  Herbert  Spencer  diese  Arbeit  in 
Angriff  genommen.  Sein  großangelegtes  „System  der  synthetischen 
Philosophie",  das  ganz  auf  dem  Entwicklungsgedanken  aufgebaut  ist, 
findet  seinen  Abschluß  in  den  „Prinzipien  der  Ethik",  die  von  Anfang 
an  als  Krönung  des  Ganzen  gedacht  waren.  Spencer  weist  zunächst 
nach,  daß  das  sittliche  Handeln  als  eine  sehr  komplizierte  Verbindung 
von  Vorstellungen,  Gefühlen,  Willensakten  und  Körperbewegungen, 
eine  sehr  hohe  Entwicklungsstufe  der  Lebenserscheinungen  darstellt. 
Er  zeigt  das,  indem  er  die  moralischen  Handlungen  vom  physi- 
kalischen, vom  biologischen,  vom  psychologischen  und  vom  sozio- 
logischen Gesichtspunkt  einer  eingehenden  Betrachtung  unterzieht. 
Daraus  zieht  er  dann  den  Schluß,  daß  wir  in  den  moralischen  Normen 
der  Vollkommenheit  nahekommende  Anpassungserscheinungen  zu  er- 
blicken haben.  Ein  Hindernis  für  die  Entwicklung  bildet  nach  Spencer 

*)  Vgl.  über  diesen  wichtigen  Hilfsbegriff  Jerusalem,  „Lehrbuch  der  Psycho- 
logie", 7.  Aufl.,  S.  30  ff. 


20S  Allgemeine  Ethik 

die  schon  bei  Primitiven  vorhandene  und  bis  in  die  Gegenwart 
reichende  Wertschätzung  der  kriegerischen  Tugenden.  Diese 
muß  im  1  aufe  der  Zeiten  abnehmen  und  an  die  Stelle  der  zwangsweisen 
Kooperation  muH  die  freiwillige  Kooperation  treten.  Das  Ideal  ist  für 
//«  rberi  Spencer  ein  Zustand,  in  dem  jeder  Einzelne  durch  seine  Arbeit 
für  sein  eigenes  Wohl  zugleich  das  Wohl  der  Gesellschaft  befördert. 

\ui  dem  Wege,  den  Spencer  gezeigt  hat,  sind  viele  andere  For- 
scher  gegangen  und  haben  zum  Verständnis  der  moralischen  Entwick- 
lung viel  beigetragen.  Wir  werden  weiter  unten  zu  zeigen  haben,  daß 
der  Evolutionismus  im  Verein  mit  der  soziologischen  Betrachtungs- 
weise es  tatsächlich  ermöglicht,  das  sittliche  Bewußtsein  als  Entwick- 
lungsprodukt zu  begreifen  und  zu  den  ethischen  Problemen  in  befrie- 
digender Weise  Stellung  zu  nehmen. 

Die  meisten  der  von  uns  betrachteten  Versuche  einer  psycho- 
logischen Moralbegründung  fanden  auf  ihrem  Wege  das  Zusam- 
menleben der  Menschen  als  wichtigen  Faktor  der  sittlichen 
Entwicklung  vor.  Es  war  deshalb  darin  vielfach  von  sozialen  Gefühlen 
und  von  Pflichten  gegen  die  Gemeinschaft  die  Rede.  Dies  gilt  auch  von 
den  oben  nicht  erwähnten  psychologischen  Untersuchungen  des  sitt- 
lichen Bewußtseins,  die  von  Herbart,  von  Beneke  und  von  Feuerbach 
unternommen  wurden.  Bei  einigen  Denkern  der  Neuzeit  tritt  nun  dieses 
soziologische  Moment  derart  in  den  Mittelpunkt  ihrer  Betrachtungen, 
daß  man  sie  zu  einer  besonderen  Gruppe  zusammenfassen  kann.  Eine 
vortreffliche  Übersicht  über  diese  Denkrichtung  gibt  das  fleißig  ge- 
arbeitete Buch  von  Georg  Cohn:  „Ethik  und  Soziologie",  Leipzig  1916. 
I  >a  wir  weiter  unten  selbst  die  Grundzüge  einer  soziologischen  Ethik 
geben  wollen,  so  können  wir  uns  hier  auf  die  Anführung  der  alier- 
wichtigsten  dieser  Denker  beschränken. 

Ad  3.  (Soziologische  Untersuchung  des  sittlichen  Bewußt- 
seins.) Hier  ist  vor  allem  der  kraftvolle  und  originelle  Denker  Thomas 
Hobbes  (1588—1679)  zu  nennen.  Nach  seiner  Überzeugung  ist  der 
ursprüngliche  Zustand  der  Menschheit  derart,  daß  er  als  Krieg  aller 
gegen  alle  zu  charakterisieren  ist.  In  diesem  Kriegszustand  haben 
die  Begriffe  von  Recht  und  Unrecht  keine  Stätte.  Wo  keine  gemein- 
same Macht  ist,  da  ist  kein  Gesetz.  Wo  es  kein  Gesetz  gibt,  da  gibt 
es  keine  Ungerechtigkeit*). 

Aus  diesem  Zustand  des  Krieges  aller  gegen  alle  sucht  nun  der 
Mensch,  da  er  sein  Leben  erhalten  will,  dadurch  herauszukommen,  daß 
er  sich  mit  anderen  /nsammenschließt,  auf  das  Recht  der  Gewalt  ver- 
zichtet, um  durch  die  Gemeinschaft  den  gegenseitigen  Frieden  zu 
Meilern  Da/u  zwingt  ihn  seine  eigene  Vernunft,  die  ihm  gebietet,  für 
die  I  rhaltung  seines  Lebens  zu  sorgen.  Es  ist  daher,  nach  Hobbes,  das 
erste  Vernunftgebot,  den  Frieden  zu  suchen.  Dies  erreichen  die  Men- 
SChen,  indem  sie  sieh  zu  einem  Gemeinwesen  (Commonwealth)  zu- 
Dimenschließen,  und  sieh  durch  ausgesprochenen  oder  stillschweigen- 
den V  e  r  t  r  a  g  verpflichten,  den  G  esetzen  dieses  Gemeinwesens 

)  Hobbes  Leviathan,  cap.   13  in  der  (iesaintausgabe  der  englischen  Werke 
v.  Molesworth,  nach  der  ich  zitiere,  III.  115. 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  209 

zu  gehorchen.  Das  Einhalten  dieses  Vertrages  gebietet  ihnen  wieder 
ihre  eigene  Vernunft,  das  heißt  das  Interesse  ihrer  Selbsterhaltung. 
Darauf  gründet  Hobbes  ein  weiteres  Vernunftgesetz,  das  er  auch  ein 
Gesetz  der  Natur  nennt,  nämlich  die  Verpflichtung,  Verträge  zu 
halten.  Aus  diesen  zwei  Bestimmungen  leitet  dann  Hobbes  im 
15.  Kapitel  des  „Leviathan"  (III,  130  ff.)  eine  ganze  Reihe  von  „Ge- 
setzen der  Natur"  ab,  die  zusammen  einen  ziemlich  reichhaltigen 
Moralkodex  ausmachen.  Er  faßt  sie  dann  in  der  einen  Grundforderung 
zusammen :  „Was  du  nicht  willst,  daß  dir  geschehe,  das  tue  auch  keinem 
andern."  Er  sagt  aber  ausdrücklich,  daß  diese  „Diktate  der  Vernunft" 
nichts  anderes  sind  als  „Schlüsse,  als  Theoreme,  die  sich  auf  das  be- 
ziehen, was  für  jeden  zur  Selbsterhaltung  und  zur  Selbstverteidigung 
nötig  sei"  (III,  147). 

Die  bindende  Kraft  erhalten  diese  sittlichen  Forderungen  erst  da- 
durch, daß  ein  Gemeinwesen  entsteht,  in  welchem  diese  Forderungen 
durch  die  zur  Herrschaft  berufenen  Organe  des  Gemeinwesens  —  sei 
es  nun  ein  Monarch  oder  ein  Parlament  —  zu  „bürgerlichen  Gesetzen" 
(civil  laws)  erhoben  werden.  „Denn  die  Gesetze  der  Natur,  die  in  der 
Billigkeit,  in  der  Gerechtigkeit,  in  der  Dankbarkeit  und  anderen  davon 
abhängigen  moralischen  Tugenden  bestehen,  sind  im  Naturzustande, 
wie  ich  am  Ende  des  15.  Kapitels  gezeigt  habe,  nicht  eigentlich  Ge- 
setze, sondern  Eigenschaften,  die  zum  Frieden  und  zum  Gehorsam  be- 
fähigen. Wenn  ein  Gemeinwesen  begründet  ist,  dann  sind  sie  wirklich 
Gesetze  und  nicht  früher;  denn  dann  sind  sie  Gebote  des 
Staates  und  deshalb  auch  bürgerliche  Gesetze.  Denn  es  ist  die  sou- 
veräne Macht,  welche  die  Menschen  verpflichtet,  ihnen  zu  gehorchen. 
Um  nämlich  in  den  privaten  Streitigkeiten  der  Menschen  zu  bestimmen, 
was  Billigkeit,  was  Gerechtigkeit,  was  moralische  Tugend  ist,  und  um 
diese  Forderungen  bindend  zu  machen,  dazu  bedarf  es  der  Befehle  der 
souveränen  Macht."  (Leviathan,  26.  Kap.,  III,  253.) 

Hobbes  sagt  also  klar  und  deutlich,  daß  die  sittlichen  Forde- 
rungen ihre  bindende  Kraft  erst  dadurch  erhalten,  daß  sie  zu  Staats- 
geboten gemacht  werden.  Da  nun,  wie  Hobbes  im  42.  Kapitel  des 
„Leviathan"  ausführlich  darlegt  (III,  485  ff.),  nach  seiner  Überzeu- 
gung das  Staatsoberhaupt  auch  in  religiösen  Fragen  zu  entscheiden 
hat,  was  im  Staate  geglaubt  und  gelehrt  werden  soll,  so  wird  hier  der 
Staat  zur  letzten  und  zur  höchsten  Autorität  der  Moral  emporgehoben. 
Hobbes''  Lehre  von  der  unbedingten  Autorität  der  Staatsgewalt  ist  in 
der  Folgezeit  heftig  bekämpft  worden.  Für  die  Entwicklung  der  Ethik 
bleibt  seine  Meinung  aber  höchst  bedeutsam  und  verdient  besonders 
heute,  wo  infolge  des  Weltkrieges  das  Verhältnis  der  Politik  zur  Moral 
der  Gegenstand  intensiven  Nachdenkens  und  lebhafter  Erörterungen 
geworden  ist,  besondere  Beachtung. 

Das  soziale  Wohlfahrtsprinzip  bildet  den  Kern  der  Lehre 
Jeremias  Benthams  (1748—1832),  der  den  bereits  von  Helvetius  auf- 
gestellten Grundsatz  vom  größten  Glück  dergrößten  An- 
zahl zur  Grundlage  der  Moral  und  der  Gesetzgebung  machte.  Von 
der  Richtigkeit  dieses  zu  erstrebenden  Zieles  ist  Benthatn  so  überzeugt, 
daß  er  eine  Begründung  für  überflüssig  hält.  Seine  Hauptarbeit  besteht 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  14 


210  Allgemein«  lithik 

darin,  in  die  Einschätzung  von  Lust-  und  Unlustwerten  eine  Art  von 
System  hineinzubringen  und  so  eine  Berechnung  der  Summe  von  Lust 
oder  Unlust,  die  sich  als  Folgen  der  verschiedenen  Handlungsweisen 
ergeben,  möglich  zu  machen.  Man  nennt  seine  Lehre,  die  den  all- 
gemeinen Nutzen  zum  einzigen  Wertmaßstab  macht,  gewöhnlich 
Utilitarismus.  Benthams  begeisterter  Verehrer  John  Stuart  Mill 
hat  diese  Richtung  weiterentwickelt,  die  auch  heute  noch  angesehene 

Anhänger  besitzt. 

her  Schöpfer  der  Soziologie,  Auguste  Conüe  (1798—1857),  ist 
für  ehe  ( »eschichte  der  Ethik  schon  deshalb  wichtig,  weil  er  den  Begriff 
des  „Altruismu  s"  eingeführt  hat,  in  welchem  alle  nicht  von  der 
Selbstliebe  herstammenden  und  also  dem  Egoismus  entgegengesetzten 
Motive  zusammengefaßt  werden.  Comtes  Ethik  ist  besonders  durch 
seine  hohe  Wertschätzung  der  Familie  charakteristisch,  in  deren 
Schoß  die  altruistischen  Gefühle  sich  am  reinsten  und  am  reichsten 
entwickeln.  In  den  größeren  sozialen  Gebilden  wirkt  wiederum  der  i  n- 
tellektuelle  Faktor  stärker,  da  die  Einsicht  in  die  Notwendig- 
keit der  Eingliederung  den  egoistischen  Trieben  entgegenarbeitet. 

Nachdem  einmal  durch  Comte  die  Gesellschaftslehre  als  eigener 
Wissenszweig  geschaffen  war,  stand  die  Ethik  von  da  an  immer  stärker 
unter  soziologischem  Einfluß.  Das  beweisen  alle  neueren  Darstel- 
lungen der  Moralphilosophie,  die  wir  deshalb  nicht  einzeln  aufzuzählen 
brauchen. 

Dagegen  verdienen  in  diesem  Zusammenhange  zwei  Denker  Er- 
wähnung, die  im  menschlichen  Zusammenleben  und  der  daraus  er- 
wachsenden Kultur  einen  Faktor  erblicken,  der  die  moralische  Entwick- 
lung nicht  nur  nicht  fördert,  sondern  ihr  direkt  entgegenarbeitet.  Der 
eine  ist  Bernard  de  Mandeville  (1670—1733),  ein  Franzose,  der  in 
London  als  Arzt  lebte.  Im  Jahre  1708  ließ  er  eine  Flugschrift  in  Lon- 
don drucken  mit  dem  Titel :  „Der  summende  Bienenstock  oder  Schelme, 
die  ehrlich  wurden"  („The  grumbling  hive  or  knaves  made  honest"). 
Er  schildert  da  in  etwa  400  Versen  im  Bilde  eines  Bienenstockes  einen 
Staat,  der  in  großer  Blüte  steht.  Rastlosigkeit,  Unzufriedenheit, 
Wollust,  Eitelkeit,  Betrug  sind  herrschend,  tragen  aber  alle  zum  ge- 
meinen Besten  bei.  Da  kamen  nun  einige,  die  zu  rufen  begannen :  „Fort 
mit  der  Verderbtheit.  Du  lieber  Gott,  wären  wir  doch  bloß  ehrenhaft." 
Die  Götter  erhören  den  Ruf.  Die  Heuchelei  verschwand,  der  Luxus 
hörte  auf.  Man  begnügte  sich  mit  den  heimischen  Erzeugnissen  und 
bedurfte  keiner  kostbaren,  eingeführten  Waren.  Die  Schiffahrt  wurde 
eingestellt.  Die  Bevölkerung  nahm  ab  und  zuletzt: 

„Sie  flüchten  sich  in  einen  hohlen  Baum, 
Dort  hat  Zufriedenheit  und  Tugend  Raum." 

Mandeville  fügt  dann  noch  die  „Moral  der  Fabel"  hinzu  und 
sagt:  „Ohne  Laster  einen  Staat  groß  zu  machen,  ist  eine  Utopie,  ein 
Hirngespinst.  Das  Laster  ist  für  das  Gedeihen  des  Gemeinwesens 
ebenso  nötig,  wie  der  Hunger  für  die  Ernährung  des  Körpers.  Die 
Tugend  allein  ist  nicht  imstande,  die  Völker  in  Überfluß  und  in  Glanz 
leben  zu  machen.  Wer  das  goldene  Zeitalter  wieder  herstellen  will,  der 


§  42.  Entwicklung  der  Ethik  211 

muß  für  Eicheln  als  einzige  Nahrung  ebenso  begeistert  sein,  wie  für 
die  Tugend."  Als  das  Gedicht  unbeachtet  blieb,  veranstaltete  Mande- 
ville einige  Jahre  später  eine  neue  Ausgabe  unter  dem  Titel:  „Die 
Bienenfabel,  oder:  Wie  private  Laster  zu  öffentlichen  Wohltaten  wer- 
den" („The  fable  of  the  bees,  or  private  vices  public  benehts"),  bei 
welcher  Gelegenheit  er  eine  Reihe  von  Abhandlungen  über  den  Ur- 
sprung der  Tugend,  über  Barmherzigkeit  und  über  das  Wesen  der  Ge- 
sellschaft hinzufügte.  In  diesen  Aufsätzen  trat  er  besonders  scharf  dem 
Optimismus  Shaftesburys  entgegen  und  suchte  mit  großem  Scharfsinn 
darzutun,  daß  ohne  den  Ansporn  der  Habsucht,  der  sinnlichen  Be- 
gierden, des  Wettbewerbes  ein  reicheres  und  verfeinertes  Kulturleben 
sich  nicht  entwickeln  könne. 

Mandeville  hat  zweifellos  darin  recht,  daß  die  egoistischen  Triebe 
im  Menschen  der  stärkste  Ansporn  zur  Aktivität,  zur  Unternehmungs- 
lust sind,  und  daß  die  vollständige  Unterdrückung  derselben  eine 
Stagnation  des  wirtschaftlichen  Lebens  und  damit  des  kulturellen  Fort- 
schrittes nach  sich  ziehen  müßte.  Er  hat  jedoch  ganz  übersehen,  daß 
ohne  gegenseitige  Hilfe,  ohne  Rücksicht  auf  die  Rechte  der  anderen, 
ohne  Einordnung  und  Unterordnung  ein  Zusammenleben  ebensowenig 
möglich  wäre. 

Von  einem  ganz  anderen  Standpunkt  ausgehend  als  Mandeville 
hat  Jean  Jacques  Rousseau  (1712—1778)  darzutun  versucht,  daß  die 
Kultur  die  Sitten  der  Menschen  verderbe.  Auf  die  Preisfrage  der  Aka- 
demie von  Dijon,  ob  die  Erneuerung  der  Wissenschaften  und  Künste 
dazu  beigetragen  habe,  die  Sitten  zu  reinigen,  antwortet  er  in  seiner  Be- 
werbungsschrift mit  einem  flammenden  „Nein".  In  seiner  nächsten  Arbeit 
über  die  Gründe  der  Ungleichheit  unter  den  Menschen  predigt  er  die 
Rückkehr  zum  Naturzustande.  Am  eindrucksvollsten  legt  er  dann  seine 
Ansichten  dar  in  seinem  1762  erschienenen  pädagogischen  Roman 
„Emile".  „Alles  ist  gut;"  heißt  es  da  am  Eingang,  „so  wie  es  aus  den 
Händen  des  Urhebers  der  Dinge  hervorgeht;  alles  entartet  unter  der 
Hand  des  Menschen."  Rousseau  glaubt  also  im  Gegensatz  zu  Hobbes 
und  zu  Mandeville  an  die  ursprüngliche  Güte  und  Reinheit  der  Men- 
schennatur, ist  aber  davon  überzeugt,  daß  diese  ursprüngliche  Rein- 
heit durch  das  Zusammenleben  der  Menschen  und  die  daraus  ent- 
standenen Einrichtungen  arg  getrübt  worden  sei.  Er  empfiehlt  deshalb 
eine  Erziehungsmethode,  bei  der  der  Zögling  möglichst  losgelöst  vom 
gesellschaftlichen  Verkehr  in  der  Natur  aufwachsen,  die  in  ihm  liegen- 
den Anlagen  entfalten  und  die  fürs  Leben  nötigen  Erfahrungen  selbst 
machen  und  selbst  deuten  lernen  möge. 

Im  „Emile"  findet  sich  auch  Rousseaus  berühmtes  Glaubens- 
bekenntnis, das  er  einem  savoyschen  Vikar  in  den  Mund  legte.  Hier 
sieht  man,  daß  Rousseaus  Glaube  ganz  auf  seinem  lebendigen  Gefühl 
von  der  Schönheit  der  Natur  beruht,  einem  Gefühl,  das  ihm  bei  seinen 
einsamen  Wanderungen  in  der  Alpenwelt,  deren  erhabene  Reize  er  erst 
neu  entdecken  mußte,  am  reinsten  zum  Bewußtsein  kam.  Solch  ein 
inniges  Naturgefühl  wird  nun  freilich  durch  das  Leben  in  der  Gesell- 
schaft niemals  hervorgerufen,  sondern  im  Gegenteil,  weit  eher  ver- 
dorben. Rousseaus  Ruf  nach  Rückkehr  zur  Natur  ist  deshalb  mehr 

14* 


2  1  2  Allgemeine  Ethik 

persönliche  Stimmung,  als  wissenschaftliche  Überzeugung.  Hat  er  doch 
selbst  in  seiner  Schrift  vom  Gesellschaftsvertrag  einen  sehr  wirksamen 
Versuch  gemacht,  das  Zusammenleben  der  Menschen  auf  neue  Grund- 
Lagen  zu  stellen. 

Jedenfalls  beweisen  Manäeville  und  Rousseau  besonders  deutlich, 
wie  dringend  notwendig  das  soziologische  Studium  der  Beziehungen 
des  ein/einen  Menschen  zur  organisierten  Gesellschaft  für  das  Ver- 
ständnis der  moralischen  Entwicklung  geworden  ist.  Nur  auf  diesem 
Wege  können  solche  Einseitigkeiten  vermieden  werden. 

Ad  4.  (Metaphysische  Begründung  der  sitt- 
lichen Forderungen.)  Neben  den  psychologischen  und  sozio- 
logischen Untersuchungen  des  sittlichen  Bewußtseins  und  zum  Teil 
sogar  in  Verbindung  mit  ihnen  finden  wir  auch  in  der  neueren  Philo- 
sophie einige  Versuche,  die  Ethik  durch  Annahmen  zu  begründen, 
die  über  die  Erfahrung  hinausgehen,  und  das  Sittliche  als  etwas  an- 
zusehen, das  in  der  ganzen  Weltordnung  seine  Grundlage  hat. 

Wie  Spinoza  aus  seinem  Pantheismus  heraus  die  Liebe  zu  Gott 
als  unbedingte  Hingabe  des  Menschen  an  das  All  fordert  und  in  dieser 
vollkommen  selbstlosen  Hingabe  die  höchste  Verpflichtung  des  Men- 
schen findet,  haben  wir  bereits  oben  (S.  121  f.)  gesehen.  In  ähnlicher 
Weise  bezeichnet  der  französische  Denker  Malebranche  (1638 — 1715) 
es  als  die  höchste  sittliche  Aufgabe  des  Menschen,  Gott,  in  dessen 
Wesen  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  in  eins  zusammenfallen,  zu  er- 
kennen und  zu  lieben.  Unser  Wille  muß  die  Kraft  erlangen,  die  durch 
die  Sinnlichkeit  nahegelegten  Irrtümer  ebenso  zu  vermeiden,  wie  die 
aus  unseren  Trieben  stammenden  Neigungen  zu  bekämpfen.  Dadurch 
gelangen  wir  dazu,  uns  mit  Gott,  in  dem  alle  Dinge  sind,  eins  zu  fühlen. 
Unseren  Nebenmenschen  sollen  wir  Achtung  und  Wohlwollen  entgegen- 
bringen, weil  sie  in  gewissem  Grade  die  Vollkommenheiten  des  gött- 
lichen Wesens  ausdrücken.  (Jodl  I,  347.) 

Metaphysische  Voraussetzungen  liegen  auch  der  Kantschen  Ethik 
zugrunde.  Die  ethische  Struktur  der  praktischen  Vernunft,  die  nach 
Kant  a  priori  gewiß  ist,  stellt  sich  bei  näherer  Betrachtung  als  eine 
über  die  Erfahrung  hinausgehende,  also  metaphysische  Annahme  her- 
aus. Diese  versteckte  Metaphysik  tritt  bei  Kants  Nachfolgern  deutlich 
hervor.  Für  Fichte,  der  die  Selbständigkeit  und  Freiheit  unseres  Ich  als 
absolute  und  zugleich  unmittelbare  Gewißheit  ansieht,  ist  die  ganze 
Welt  nichts  anderes  als  „das  versinnlichte  Material  der  Pflicht".  Da- 
mit ich  meine  sittliche  Bestimmung  erfüllen  kann,  dazu  muß  eine  Welt 
da  sein  als  Betätigungsgebiet  meines  sittlichen  Willens. 

Bei  He  ^el,  der  von  früher  Jugend  an  gewohnt  war,  geschicht- 
lich zu  denken,  wird  dann  die  sittliche  Forderung  zu  einer  Tat  des 
„objektiven  Geiste  s".  Dieser  verkörpert  sich  zunächst  im 
Recht,  das  als  Erzeugnis  des  Gesamtwillens  das  Leben  regelt 
und  dabei  in  das  subjektive  Bewußtsein  eindringt.  Dort  entfaltet  es 
sich  zur  „ Moral ität",  worunter  Hegel  die  allmählich  sich  entwickelnde 
Fähigkeit  versteht,  Recht  und  Unrecht,  Gut  und  Böse  zu  unterschei- 
den,  also  das,  was  wir  das  „Gewissen"  nennen.  Dieses  subjektive 
Gefühl  kann  aber  irren.  Seinen  objektiven  Inhalt  bekommt  es  erst  in 


§  43.  Richtungen  der  Ethik  213 

der  konkret  gegebenen  Sittlichkeit,  wie  sie  in  der  Familie,  in  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  und  im  Staate  gegeben  ist. 

Wir  übergehen  die  Versuche  Schellings  und  Schleiermachers,  das 
Sittliche  aus  der  romantischen  Weltanschauung  zu  begründen  und 
ebenso  den  tiefgründigen  Gedanken  Eduard  von  Hartmanns,  der  die 
Sittlichkeit  als  Erlösung  Gottes  darzustellen  unternahm.  Wir  bemerken 
nur  noch,  daß  auch  für  die  Stellungnahme  zu  einer  metaphysischen 
Moralbegründung  die  weiter  unten  folgende  Darstellung  einer  sozio- 
logischen Ethik  die  Richtlinien  zu  ziehen  haben  wird. 

§  43.  Richtungen  der  Ethik 

Im  Laufe  der  hier  von  uns  skizzierten  historischen  Entwicklung 
der  philosophischen  Ethik  haben  sich  nun  bestimmte  Probleme  und 
ihnen  entsprechende  Grundrichtungen  herausgebildet,  die  wir  zum 
Schluß  noch  kurz  zusammenfassen  wollen.  Wir  ordnen  die  Probleme  der 
leichteren  Übersicht  wegen  nicht  nach  historischen,  sondern  nach  metho- 
dischen und  nach  sachlichen  Gesichtspunkten. 

Da  haben  wir  denn  zunächst  die  Frage  nach  dem  Ursprünge 
der  moralischen  Beurteilung,  des  sittlichen  Gefühles,  der  ethischen 
Verpflichtung.  Die  wissenschaftliche  Ethik  hat  auf  diese  Frage  zwei 
einander  entgegengesetzte  Antworten  gegeben.  Die  einen  behaupten, 
die  Unterscheidung  von  Gut  und  Böse  sei  eine  ganz  ursprüngliche 
Funktion  des  Menschengeistes.  Wir  haben,  wie  es  namentlich  Hut- 
cheson  formuliert,  einen  „moralischen  Sinn",  der  untrüglich  ent- 
scheidet, was  gut  und  was  böse  ist.  Oder  aber  man  läßt  die  Frage  des 
Angeborenseins  einer  solchen  Fähigkeit  beiseite  und  begnügt  sich  da- 
mit, die  G  e  1 1  u  n  g  des  Sittengesetzes  als  eine  von  jeder  Erfahrung  un- 
abhängige und  eben  darum  objektive  und  allgemeine  hinzustellen. 
Diese  beiden  nicht  identischen,  aber  doch  ähnlichen  Auffassungen  kann 
man  als  Apriorismus  bezeichnen,  weil  es  a  priori,  das  heißt  von 
vornherein,  vor  aller  Erfahrung  feststeht,  was  dem  Sittengesetz  gemäß 
ist  und  was  nicht.  Kant  und  Fichte  sind  die  bedeutendsten  Vertreter 
des  ethischen  Apriorismus. 

In  vollständigem  Gegensatze  dazu  behaupten  die  anderen,  das 
Sittliche  sei  ganz  und  gar  als  Produkt  der  Entwicklung  aufzufassen. 
Erst  die  Erfahrungen  des  menschlichen  Zusammenlebens  lassen  die 
moralische  Beurteilung,  das  moralische  Gefühl  und  den  Gedanken  einer 
moralischen  Verpflichtung  entstehen.  Man  könnte  eine  derartige  e  r- 
fahrungsmäßige  Begründung  der  Ethik  als  ethischen  Empi- 
rismus bezeichnen.  Tatsächlich  aber  verbindet  sich  diese  Auffassung 
in  der  neueren  Zeit  immer  mit  dem  Entwicklungsgedanken  und  wird 
deshalb  besser  Evolutionismus  genannt. 

Als  Zweck  des  sittlichen  Handelns  gilt  der  antiken  Ethik  die 
individuelle  Glückseligkeit.  Das  ist,  wie  Aristoteles  darlegt,  ein 
Gut,  das  wir  um  seiner  selbst  willen  begehren  und  eben  deswegen  kann 
man  es  als  das  allgemeine  Ziel  bezeichnen,  dem  alle  Menschen  nach- 
streben. Wir  haben  diese  Denkrichtung  der  Ethik  bereits  wiederholt  als 
Eudaimonismus  bezeichnet.  Da  jedoch  das  Wesen  der  Glück- 


214  Allgemeine  Ethik 

seligkeil  verschieden  bestimmt  wird,  so  müssen  wir  auch  verschiedene 
I  ormen  des  I  udaimonismus  unterscheiden.  Faßt  man  mit  Aristipp  und 
mit  lipikur  die  Glückseligkeit  als  sinnliche  oder  geistige  Lust  auf,  so 
haben  wir  einen  hedonistischen  Eudaimonismus  vor  uns,  den  wir  auch 
kurz  als  H  ed  o  n  i  s  m  u  s  (vom  griechischen  „Hedone"  =  Lust)  be- 
zeichnen  können. 

Nimmt  man  jedoch  mit  Aristoteles  an,  daß  das  Glück  nicht  in 
passivem  ( ienusse,  sondern  in  einer  vernunftgemäßen  Betätigung 
unserer  inneren  Kräfte  bestehe,  dann  haben  wir  eine  viel  brauchbarere 
Form  der  Glückseligkeitslehre  gegeben,  die  wir  vielleicht  sachgemäß 
da\  energetischen  Eudaimonismus  nennen  können. 

Betrachtet  man  mit  Bentham  als  das  erstrebenswerte  Ziel  alles 
menschlichen  Tuns  das  größte  Glück  der  größten  Anzahl,  so  darf  man 
diese  als  Utilitarismus  bezeichnete  Denkrichtung  mit  noch 
besserem  Rechte  einen  sozialen  Eudaimonismus  nennen.  Die  Lehre 
derjenigen  Religionen,  die  das  irdische  Leben  nur  als  Vorbereitung  für 
das  Leben  im  Jenseits  ansehen  und  das  künftige  Heil  als  das  wahre 
Ziel  des  Lebens  hinstellen,  ist  passend  als  jenseitiger  Eudaimonis- 
mus zu  bezeichnen. 

Kant  bekämpft  nun,  wie  wir  gesehen  haben,  den  Eudaimonismus 
in  jeder  Form.  Das  Ziel  des  Menschen  kann  es  nicht  sein,  die  Glück- 
seligkeit zu  erlangen.  Sein  einziger  Zweck  ist,  das  in  ihm  wohnende 
Sittengesetz  zu  verwirklichen  oder,  wie  es  Fichte  formuliert,  seine  Be- 
stimmung zu  erfüllen.  Man  kann  diese  Denkrichtung  als  Vollkom- 
menheitsmoral, als  Perfektionismus  bezeichnen.  Mir 
erscheint  es  passender,  sie  einfach  ethischen  Idealismus  zu 
nennen, 

Als  Motive  des  menschlichen  Handelns  will  eine  große  Zahl 
von  Denkern  ausschließlich  das  eigene  Interesse,  die  Selbstliebe,  kurz 
alles  das  gelten  lassen,  was  man  im  Leben  als  Egoismus  be- 
zeichnet. Man  versucht  demgemäß,  auch  das  moralische  Handeln  auf 
egoistische  Motive  zurückzuführen.  Für  die  meisten  antiken  Ethiker, 
für  Hobbes,  für  Helvetius,  für  Holbach,  für  Max  Stirner  gilt  das 
sogar  als  selbstverständlich.  Die  darauf  sich  gründenden  Ableitungen 
der  sittlichen  Normen  und  die  damit  verbundene  psychologische  Er- 
klärung haben  jedoch  immer  etwas  äußerst  Gezwungenes.  Sie  erweitern 
dabei  meist  den  Umfang  des  Begriffes  „Egoismus"  über  das  zulässige, 
meist  sogar  über  jedes  verständliche  Maß  hinaus.  Der  normal  denkende 
und  natürlich  empfindende  Mensch  wird  niemals  verstehen  können, 
daß  sich  jemand  aus  Selbstsucht  für  sein  Vaterland  opfert  oder  aus 
reinem  Egoismus  sein  Leben  dem  Wohle  der  Menschheit  widmet.  Wenn 
jemand  in  einer  solchen  Handlungsweise  innere  Befriedigung  findet, 
so  ist  er  eben  deshalb  kein  Egoist.  Die  Freude  an  solchen  gemein- 
nützigen Bestrebungen  hat  vielmehr  ihre  Quelle  in  ganz  anderen 
lenkräften,  die  ebenso  ursprünglich  sind,  wie  der  Trieb  nach  Selbst- 
erhaltung  und  das  Verlangen  nach  Genuß. 

Die  eben  besprochenen  psychologischen  Untersuchungen  des  Ur- 
sprunges der  moralischen  Gefühle  haben  in  ihrer  überwiegenden  Mehr- 
zahl das  Vorhandensein  einer  natürlichen  Mitempfindung  oder  Sym- 


§  43.  Richtungen  der  Ethik  215 

pathie  mit  den  Gefühlen  anderer  bei  jedem  Menschen  nachzuweisen 
unternommen.  In  neuerer  Zeit  haben  diese  Untersuchungen  auch  eine 
biologische  Grundlage  erhalten.  Neben  dem  von  Darwin  und  Spencer 
-aufgestellten  Prinzipe  des  „Kampfes  ums  Dasein"  haben  namhafte 
Forscher  die  Wirksamkeit  eines  wesentlich  anderen  Faktors  erwiesen. 
In  der  ganzen  Tierwelt  und  ebenso  bei  den  primitiven  Menschen  finden 
wir  das  Streben  nach  „gegenseitiger  Hilf e",  wofür  besonders 
Peter  Kropotkin  in  seinem  bekannten  Werke  überaus  zahlreiche  und 
sehr  beweiskräftige  Belege  beigebracht  hat. 

Auguste  Comte  hat  nun  alle  Motive  des  menschlichen  Handelns, 
die  nicht  auf  Selbstsucht  zurückgehen,  unter  dem  Namen  „A  1 1  r  u  i  s- 
m  u  s"  (von  alter  =  der  andere)  zusammengefaßt  und  so  steht  jetzt 
der  egoistischen  Moralbegründung,  die  noch  immer  ihre  An- 
hänger zählt,  die  altruistische  gegenüber,  die  den  gegebenen 
Tatsachen  und  dem  allgemeinen  Bewußtsein  zweifellos  besser  ent- 
spricht. Der  Begriff  des  Altruismus  scheint  jedoch  etwas  zu  eng  zu 
sein.  Man  denkt  dabei  bloß  an  die  Beziehungen  der  einzelnen  Menschen 
zueinander  und  weniger  an  das  allgemeine  Solidaritätsgefühl, 
das  die  Mitglieder  einer  Gruppe  und  schließlich  alle  Menschen  unter- 
einander verbindet.  Gerade  darauf  aber  führt  Kropotkin  die  Tatsachen 
der  gegenseitigen  Hilfe  mit  vollem  Recht  zurück.  Meynert  hat  in  seinem 
gedankenreichen  Vortrag  „Gehirn  und  Gesittung"  für  diese  auf  das 
Wohl  anderer  und  auf  das  Wohl  der  Gemeinschaft  gerichtete  Gesin- 
nung die  sehr  treffende  Bezeichnung  „M  u  t  u  a  1  i  s  m  u  s"  vor- 
geschlagen und  dieses  Wort  charakterisiert  die  gemeinte  Denkrichtung 
viel  schärfer  und  viel  präziser*).  Der  Mutualismus  oder  das  Prin- 
zip der  Gegenseitigkeit  ist  auch  geeignet,  den  Wahrheits- 
gehalt der  egoistischen  Moralbegründung  in  sich  aufzunehmen.  Das 
Solidaritätsgefühl,  aus  dem  das  Streben  nach  gegenseitiger  Hilfe  her- 
vorgeht, steht  mit  meinen  eigenen  Interessen  nicht  im  Widerspruch.  Ich 
fördere  auch  mein  eigenes  Wohl,  indem  ich  dem  Ganzen  diene.  Das 
Motiv  des  Mutualismus  dürfte  also  als  die  den  Tatsachen  am  meisten 
entsprechende  Synthese  von  Egoismus  und  Altruismus  zu  be- 
trachten sein. 

In  bezug  auf  die  Normen  des  sittlichen  Handelns  und  die 
Sanktion  derselben,  das  heißt  die  Bestimmung  derjenigen  Macht 
oder  Autorität,  die  den  Normen  ihre  bindende  Kraft  gibt,  scheiden  sich 
zwei  Richtungen  ziemlich  schroff  voneinander.  Die  starken  Persönlich- 
keiten unter  den  Ethikern,  wie  Sokrates,  die  älteren  Stoiker,  Kant  und 
besonders  Fichte,  sind  der  Überzeugung,  daß  in  unserer  eigenen  Ver- 
nunft, in  unserem  eigenen  Gewissen  der  letzte  Grund  und  die  höchste 
Sanktion  der  sittlichen  Normen  zu  suchen  sei.  Kernt  hat  diese  Denk- 
richtung als  autonome  Ethik  bezeichnet.  Findet  man  diesen 
letzten  Grund  in  der  Vernunft,  also  in  der  Erkenntnis,  so  nennen  wir 
diese  Form  der  autonomen  Ethik  Reflexionsmoral.  Nimmt  man 
dagegen,  wie  dies  Shaftesbury,  Adam  Smith  und  Schopenhauer  getan 


*)  Vgl.  über  diesen  Vortrag  Mcynerts:  Jerusalem,  „Gedanken  und  Denker", 
S.  122  ff. 


j  I  (l  Allgemeine  Ethik 

haben,  ein  Gefühl  als  Grundlage  an,  so  sprechen  wir  von  einer  G  e- 
i  11  h  1  s  in  o  r  a  1. 

Sucht  man  jedoch  diu  letzten  Grund  der  ethischen  Normen  nicht 
im  Menschen  selbst,  sondern  in  einer  außer  ihm  und  über  ihm  befind- 
lichen Macht,  so  nennt  man  die  auf  einem  fremden  Machtgebot  be- 
ruhende Sittenlehre  nicht  mehr  autonome,  sondern  heteronome 
Ethik.  Diese  äußere  Macht  hat  meistens  religiösen  Charakter.  Es  ist 
dann  die  I  iottheit  oder  die  Kirche,  die  uns  das  Sittengesetz  gibt.  Kant 
hat,  wie  wir  oben  sahen,  jede  Heteronomie  in  der  Ethik  auf  das  ent- 
schiedenste bekämpft,  wobei  er  ausschließlich  die  theologische  Hetero- 
nomie im  Auge  hatte.  Man  kann  aber  auch  die  Ansicht  vertreten,  daß 
die  sittlichen  Forderungen  an  den  Einzelnen  zuerst  in  der  Form 
sozialer  Imperative,  das  heißt  als  Gebote  der  Gesellschaft 
herantreten,  der  er  als  Mitglied  angehört.  Dann  kommen  sie  doch  ge- 
\\  issermaßen  von  außen  und  es  ist  dies  dann  auch  eine  Art  von 
I  leteronomie.  Für  diese  Annahme  sprechen  aber  sehr  gewichtige  Tat- 
eichen,  die  wir  in  unserer  eigenen  Darstellung  der  Ethik  werden 
anzuführen  haben.  Da  aber  die  Menschengruppe  selbst  nur  aus 
Menschen  besteht,  so  können  die  in  ihr  entstandenen  Forderungen  doch 
nicht  als  Fremdgebote  und  die  darauf  gegründete  Ethik  nicht  als  voll- 
ständige Heteronomie  bezeichnet  werden.  Man  wird  vielmehr  sagen 
müssen,  das  Sittengesetz  sei,  soweit  der  Einzelne  in  Betracht  kommt, 
heteronom,  insofern  aber  die  menschliche  Gesellschaft  als  seine  Schöp- 
ferin anzusehen  ist,  doch  wieder  als  autonom  zu  bezeichnen. 

Mit  der  Frage  der  Autonomie  hängt  auch  das  Verhältnis  der  Ethik 
zur  Religion  zusammen,  das  wir  bereits  oben  erörtert  haben. 

Der  Weltkrieg  hat  uns  jedoch  ein  anderes  überaus  wichtiges  Pro- 
blem wieder  nahegebracht,  das  auch  vorher  schon  die  Geister  vielfach 
beschäftigt  hatte.  Es  ist  dies  der  schroffe  Gegensatz,  der  zwischen  der 
Kriegsmoral  und  der  Friedensmoral  seit  jeher  bestanden 
hat.  im  Frieden  sind  wir  verpflichtet,  das  Leben,  die  Freiheit,  das 
Eigentum  der  Nebenmenschen  als  unverletzlich  zu  betrachten.  Im 
Kriege  werden  wir  dazu  verhalten,  möglichst  viele  von  unseren  Fein- 
den zu  töten,  zu  verwunden,  gefangenzunehmen.  Im  Frieden  gelten 
räuschung,  Betrug,  Verstellung  und  Lüge  als  unmoralisch.  Im  Kriege 
all  das  dem  Feinde  gegenüber  erlaubt,  ja  sogar  geboten.  Da  nun 
bisher  die  meisten  Staaten  sich  auch  im  Frieden  für  einen  künftigen 
Krieg  vorbereiteten,  so  bestand  dieser  Gegensatz  in  gewissem  Grade 
auch  im  Frieden.  Es  war  immer  nur  ein  notdürftiges  Kompromiß 
/wischen  Kriegsmoral  und  Friedensmoral  möglich.  Das  hat  unter  den 
neueren  1  thikern  besonders  Herbert  Spencer  lebhaft  empfunden  und 
einen  solchen  Zustand  auf  die  Dauer  als  unhaltbar  bezeichnet.  Sieht 
man  genauer  zu,  so  erweist  sich  dieser  jetzt  besonders  fühlbare  Gegen- 
satz als  Spezialfall  eines  umfassenderen  ethischen  Problems,  das  für 
die  nächste  Zukunft  von  besonders  dringender  Bedeutung  sein  wird. 

I  -  handelt  sich  um  das  schon  von  fhukydides  erörterte  Verhältnis 
/wischen  Politik  und  Moral,  das  heißt  um  die  Frage,  inwieferne 
für  die  Beziehungen  der  Staaten  untereinander  moralische  Forde- 
rungen Geltung   besitzen.   Diese  Frage  hängt  aber  in  letzter   Linie 


§  43.  Richtungen  der  Ethik  217 

wiederum  mit  der  Gestaltung  der  Beziehungen  zwischen  dem  Staate 
und  seinen  Bürgern  zusammen  und  ist  nur  durch  die  vertiefte  Einsicht 
in  die  komplizierten  Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Einzelnen 
und  der  Gesellschaft  zu  lösen. 

Diese  Wechselbeziehungen  zu  erforschen  ist  aber  die  eigentliche 
Aufgabe  der  Gesellschaftslehre  und  so  mündet  die  Ethik 
schließlich  in  die  S  o  z  i  o  1  o  g  i  e,  von  der  sie  selbst  ein  Teil  ist.  Es  wird 
sich  deshalb  empfehlen,  unsere  eigene  Darstellung  der  Ethik  in  den 
Abschnitt,  der  die  Soziologie  behandelt,  einzufügen. 

Literatur 

Friedrich  Jodl,  Geschichte  der  Ethik  als  philosophischer  Wissenschaft. 
2.  Aufl.  1906—1912.  1.  Bd.  3.  Aufl.  1920. 

Theobald  Ziegler,  Geschichte  der  christlichen  Ethik.  1886. 

Leopold  Schmidt,  Die  Ethik  der  alten  Griechen.  1882. 

Wilhelm  Wundt,  Ethik,  eine  Untersuchung  der  Tatsachen  und  Gesetze  des 
sittlichen  Lebens.  3  Bände.  4.  Aufl.  1912.  (Entwickelt  vortrefflich  den  Begriff 
des  Gesamtwillens.) 

EduardWestermarck,  Origin  and  development  of  the  moral  ideas.  2  Bände. 
1906—1908.  Deutsch  von  Leopold  Katscher  1907—1909.  (Wegen  des 
sorgfältig  gesammelten  und  geordneten,  überaus  reichen  Tatsachenmaterials 
ein  für  jeden  Forscher  unentbehrliches,  aber  auch  für  jeden  Laien  verständ- 
liches, sehr  belehrendes  Werk.) 

August  Döring,  Philosophische  Güterlehre.  (Sehr  anregende,  auf  den  Be- 
griff des  Bedürfnisses  gegründete  Erörterung.) 

Johannes  Unold,  Grundlegung  für  eine  moderne  praktisch-ethische  Lebens- 
anschauung. 1898. 

Hermann  Cohen,  Ethik  des  reinen  Willens.  1908. 

Rudolf  Goldscheid,  Ethik  des  Gesamtwillens.   1902. 

Reine  Vernunft  und  Staatsvernunft.  1918.  (Enthält  die  drei  letzten  Kapitel 

des  früheren  Werkes  mit  einer  neuen  Vorrede.) 

H.  Sidgwick,  The  methods  of  ethics.  8.  Aufl.   1901.  Deutsch   1908. 

J.  Marti  neau,  Types  of  ethical  theory.  2  Bände.  3.  Aufl.  1901. 

C h.  Renouvier,  Science  de  la  morale.  2  Bände.  1908. 

Friedrich  Paulsen,  System  der  Ethik.  2  Bände.  7.  Aufl.  1908. 

Harald  Höffding,  Ethik,  eine  Darstellung  der  ethischen  Prinzipien  und 
deren  Anwendung  auf  besondere  Lebensverhältnisse.  Deutsch  von  B  e  n- 
dixen,  2.  Aufl.  1901.  (Tiefgründiges  und  sehr  anregendes  Werk.) 

Alexander  Sutherland,  The  origin  and  growth  of  the  moral  instinct. 
2  Bände.  1898. 

Peter  Kropotkin,  Gegenseitige  Hilfe  in  der  Tier-  und  Menschcnwelt. 
Deutsch  von  Landauer.  Volksausgabe.  1910. 

Georg  Cohn,  Ethik  und  Soziologie  (von  der  Universität  Kopenhagen  mit 
der  goldenen  Medaille  ausgezeichnet).  1916. 

Friedrich  Jodl,  Allgemeine  Ethik.  Herausgegeben  von  Wilhelm  Börner. 
1918. 

Wilhelm  Jerusalem,  Moralische  Richtlinien  nach  dem  Kriege.  Ein  Beitrag 
zur  soziologischen  Ethik.  1918. 

Robert  Reininge  r,  Friedrich  Nietzsches  Kampf  um  den  Sinn  des  Lebens. 
Der  Ertrag  seiner  Philosophie  für  die  Ethik.  1921. 

R.  N.  Coudenhove,  Ethik  und  Hyperethik.  1921. 

Felix  Adler,  An  ethical  philosophv  of  life.  1919.  (Ein  erlebtes,  gedanken- 
reiches und  sehr  anregendes  Buch.) 


Siebenter  Abschnitt 

Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

§  44.  Gegenstand  der  Soziologie 

Die  Soziologie  ist  die  jüngste  der  philosophischen  Wissenschaften 
und  hat  sich  erst  in  den  letzten  Jahren  als  selbständiger  und  überaus 
wichtiger  Wissenszweig  durchgesetzt.  Ihr  Gegenstand  ist  der 
Mensch  als  soziales  Wesen  oder  richtiger  gesagt  d  i  e  z  u  r 
Einheit  zusammengeschlossene  Menschengruppe. 
Line  solche  Gruppe  ist  mehr  und  ist  etwas  anderes  als  die  Summe  der 
sie  bildenden  Individuen.  Jede  derartige  Gruppe  ist  eine  Art  von  Ge- 
meinschaft, und  zwar  eine  Gemeinschaft  des  Denkens,  des  Fühlens  und 
des  Strebens.  Als  sprachliche  und  historische  Gemeinschaft  tritt  sie  uns 
im  Volke,  in  der  Nation  entgegen,  als  Rechtsgemeinschaft  im  Staate, 
als  Interessengemeinschaft  in  den  Zünften,  Innungen  und  Vereinen,  als 
<  Haubens-  und  Gesinnungsgemeinschaft  in  der  religiösen  Gemeinde 
und  schließlich  als  Kulturgemeinschaft  in  dem  Begriff  der  Mensch- 
heit. Die  Gruppe  übt  auf  jedes  ihrer  Mitglieder  einen  mächtigen  Ein- 
fluß aus,  indem  sie  Impulse  gibt,  Hemmungen  schafft  oder  beseitigt. 
Das  Werden  und  Sein,  das  Vorstellen  und  das  Denken,  das  Fühlen 
und  das  Handeln  des  Einzelnen  wird  durch  die  Gruppe  vielfach  be- 
stimmt. Dabei  ist  die  Gruppe  immer  Schöpferin  und  Gestalterin. 
Wundts  großer  Gedanke  von  der  schöpferischen  Synthese  in  der  gei- 
stigen Entwicklung  tritt  uns  in  der  sozialen  Gruppe  lebhaft  und  greif- 
bar vor  Augen.  Durch  die  Gemeinschaft  der  Individuen  entsteht  etwas 
Neues,  Überpersönliches,  das  sich  dem  Einzelnen  gegenüberstellt  und 
das  doch  wieder  durch  die  Arbeit  der  Individuen  vermehrt  und  modi- 
fiziert wird.  Alle  sozialen  Phänomene  bieten  dem  Betrachtenden  ein 
merkwürdiges  Doppelantlitz  dar.  Sie  sind  außer  uns  und  treten 
uns  da  als  .Wacht  und  Autorität  gegenüber.  Sie  beeinflussen,  sie  be- 
schränken, sie  gebieten  und  sie  zwingen.  Das  ist  zweifellos  die  Wir- 
kung der  geltenden  Gesetze,  der  herrschenden  Sitten,  der  religiösen 
Glaubenssätze,  der  Kultgebräuche,  der  Mode  und  des  herrschenden 
Geschmackes.  Die  sozialen  Phänomene  sind  aber  nicht  bloß  außer 
und  über  uns,  sie  sind  auch  i  n  uns.  Sie  erfüllen  unsere  Seele  mit 
reichem  Inhalt,  sie  geben  uns  Anschluß  und  inneren  Halt,  den  wir,  auf 
uns  allein  gestellt,  nie  gewinnen  könnten,  sie  geben  unserem  Denken 
Stoff,  Richtung  und  Ziel.  Diese  zweifache  Funktion  des  Sozialen  haben 


§  44.  Gegenstand  der  Soziologie  219 

erst  in  jüngster  Zeit  französische  Soziologen  herausgestellt*).  Der 
Kern  dieser  Wahrheit  ist  allerdings  schon  in  dem  ebenso  tiefsinnigen 
als  schlichten  Worte  Christi  enthalten:  „Wenn  zwei  beisammen  sind 
in  meinem  Namen,  so  bin  ich  mitten  unter  ihnen."  Wo  immer  sich 
mehrere  Menschen  zu  einer  gemeinsamen  sittlichen  Aufgabe  vereinen, 
da  erhebt  sich  zwischen  ihnen  und  über  ihnen  ein  Höheres,  ein  Über- 
persönliches, das  dem  Einzelnen  als  etwas  Objektives  gegenübersteht, 
das  aber  doch  wieder  tief  in  seine  Seele  eindringt,  sein  Selbst  erweitert 
und  ihn  zu  einer  höheren  Weihe  emporhebt. 

Es  vollziehen  sich  also  zwischen  dem  sozialen  Ganzen  und  den 
einzelnen  Individuen,  die  ihm  angehören,  fortwährende  Wechsel- 
wirkungen. Die  soziale  Gruppe  wirkt  zuerst  mit  elementarer  Macht 
auf  jedes  ihrer  Mitglieder  ein.  Im  Laufe  der  Zeiten  zeigt  sich  aber 
auch  eine  intensive  Einwirkung  hervorragender  Persönlichkeiten  auf 
die  Struktur  und  auf  die  Entwicklung  der  Gruppe.  Das  unzweifelhafte 
Vorhandensein  solcher  Wechselbeziehungen  ist  der  Daseinsgrund  der 
Soziologie,  und  diese  Beziehungen  bilden  den  einheitlichen  und  doch 
überaus  mannigfaltigen  Gegenstand,  der  alle  solchen  Untersuchungen 
zu  einer  Wissenschaft  zusammenschließt  und  ihr  zugleich  den  philo- 
sophischen Charakter  aufprägt.  Die  Soziologie  ist  die  P  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e 
der  m  e.n  s  c  h  1  i  c  h  e  n  Gesellschaft.  Sie  hat  es  mit  der  Ent- 
wicklung des  menschlichen  Zusammenlebens  zu  tun  und  muß 
insbesondere  die  daraus  hervorwachsenden  Erzeugnisse  des  G  e- 
s  a  m  t  g  e  i  s  t  e  s,  wie  z.  B.  die  Sprache,  das  Recht,  die  Sitte,  die 
Religion  in  ihrem  Wesen  und  Werden  untersuchen  und  dabei  immer 
die  Einwirkung  dieser  geistigen  Gebilde  auf  die  Wechselbeziehungen 
zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesellschaft  im  Auge  behalten.  Da 
nun  alle  diese  Wechselbeziehungen  wesentlich  geistiger  Natur 
sind,  so  erweitert  sich  der  Gegenstand  der  Soziologie  immer  mehr  in 
dem  Sinne,  daß  sie  die  gesamte  geistige  Entwicklung  der  Menschheit 
in  sich  faßt.  Es  zeigt  sich  dabei  immer  deutlicher,  daß  der  Menschen- 
geist erst  im  Zusammenleben  zu  seiner  vollen  Entfaltung  kommt 
und  daß  erst  die  soziologische  Betrachtungsweise  uns  die  wahre  Be- 
deutung des  Geistigen  im  Menschen  zu  vollem  Bewußtsein  zu  bringen 
vermag.  Das  macht  die  Soziologie  zur  wahren  Geisteswissen- 
schaft, und  eben  das  prägt  ihr  auch  ihren  philosophischen 
Charakter  auf.  Die  natürlichen  Bedingungen  des  menschlichen  Da- 
seins, wie  Klima,  Bodenbeschaffenheit,  Küstenentwicklung  und  an- 
deres, sind  zweifellos  von  der  allergrößten  Bedeutung.  Es  kommt  aber 
darauf  an,  wie  der  Mensch  diese  gegebenen  Daseinsbedingungen  be- 
nützt, was  er  daraus  macht,  und  das  hängt  von  seinen  geistigen  Fähig- 
keiten ab,  die  sich  erst  im  Zusammenleben  entfalten.  Aus  diesem  Zu- 
sammenleben aber  gehen  erst,  wie  wir  später  sehen  werden,  die  selb- 
ständigen, kraftvollen  Persönlichkeiten  hervor,  die  wiederum  ihrerseits 
auf  die  soziale  Gestaltung  des  Lebens  einwirken.  Man  kann  also,  wie 

*)  Vgl.  H.  Hubert  und  H.  Mauss,  Melanges  d'histoire  des  Religions,  Paris  1900. 
S.  128  f.  Siehe  auch  Jerusalem,  „Die  Aufgabe  der  Soziologie"  in  der  Monats- 
schrift für  Soziologie  I  (1909),  S.  550  ff.,  und  ferner  /erusalem,  „Die  Aufgaben 
des  Lehrers  an  höheren  Schulen",  Wien  1912,  S.  18  f. 


220  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Comte  einmal  gesagt  hat,  niemals  die  Menschheit  aus  dem  einzelnen 
Menschen,  sondern  immer  nur  den  einzelnen  Menschen  aus  der 
Menschheit,  das  heißt  aus  dem  Zusammenleben  der  Menschen  be- 
greifen. So  erweitert  sieh  die  Soziologie  zur  Wissenschaft  von  der 
Geistigkeit  des  Menschen  und  der  Menschheit. 

§  45.  Die  Aufgaben  der  Soziologie 

ch  dem  eben  Gesagten  erscheinen  die  Aufgaben  der  Soziologie 
auf  den  ersten  Blick  so  umfassend  und  so  mannigfaltig,  daß  sie  ganz 
unübersehbar  werden.  Diesen  Eindruck  dürfte  jeder  bekommen,  der 
einen  Band  des  in  Paris  erscheinenden  Jahrbuches  für  Soziologie 
i  I  'annee  sociologique,  bisher  12  Bände)  durchblättert.  Man  muß  zu- 
geben,  daß  es  schwerlich  einen  Forscher  geben  kann,  der  alle  dort  be- 
rücksichtigten  Gebiete  beherrscht,  und  daß  es  nicht  leicht  ist,  das  ge- 
meinsame Band  zu  finden,  das  die  dort  besprochenen  Werke  miteinan- 
der verknüpft.  Trotzdem  aber  hat  sich  die  Soziologie  als  Wissenschaft 
durchgesetzt.  Das  Bedürfnis  nach  Erforschung  der  Kräfte,  die  im 
menschlichen  Zusammenleben  wirksam  sind,  ist  eben  zu  stark  gewor- 
den und  verlangt  gebieterisch  nach  Befriedigung. 

Sollen  nun  die  Aufgaben  der  Soziologie  übersehbarer  gemacht 
weiden,   so   empfiehlt   es  sich   zunächst,  dieselben   in   zwei   große 
( iruppen  zu  gliedern.  Die  erste  derselben  bilden  die  äußeren  A  u  f- 
g  aben.  Diese  bestehen  darin,  die  soziale  Struktur  der  tatsächlich  be- 
siehenden Verbände,  also  der  Familie,  des  Clans,  der  Totemgruppe, 
des  Stammes,  der  Gemeinde,  der  Nation,  des  Staates  und  schließlich 
der  ganzen  Menschheit,  darzustellen.  Aber  auch  die  innerhalb  eines 
sozialen  Ganzen  sich  bildenden  Gruppen,  wie  z.  B.  Kasten,  Männer- 
bünde,    Priesterkollegien,     politische     Parteien,    Vereine,    Genossen- 
schaften,   Zünfte    u.    dgl.,    werden    den    Gegenstand    soziologischer 
Untersuchungen     bilden,       die     hier     vornehmlich     den     Charakter 
historischer   und   statistischer   Arbeiten   tragen   werden. 
Auf  diesen  Gebieten  ist  auch  eine  weitgehende  Teilung  der  Arbeit 
möglieh  und  zum  Teil  bereits  durchgeführt.  Der  Historiker  und  der 
I  tlmologe,  der  Jurist,  der  Sprachforscher  und  der  Nationalökonom, 
aber  auch  der  Religionsforscher  und  der  Philosoph  können  hier  wert- 
volle Beiträge  liefern.  Tatsächlich  kann  man  heute  schon  auf  eine  An- 
zahl von  Werken  hinweisen,  die  solche  Einzelgebiete  zum  Gegenstand 
haben.  Wir  verweisen  z.  B.  auf  Morgans  „Urgesellschaft",  auf  Maines 
„Ancient    Law",  auf  Wester  mar  cks  „Geschichte  der  Ehe"  und  sein 
bereits  oft  genanntes  großes  Werk  über  den  Ursprung  der  moralischen 
Ideen,  auf  Sdnirtz    „Männerbünde",  auf  Franz  Kleins  „Organisa- 
tionswesen der  Gegenwart"  und  auf  Bouglis  „Sur  le  regime  des  castes". 
Wenn  aber  solche  Arbeiten  dazu  beitragen  sollen,  die  Soziologie 
allmählich  zu  einer  Entwicklungsgeschichte  des  Menschengeistes  aus- 
zugestalten, so  müssen  sie  begleitet  und  durchdrungen  sein  von  einer 
tersuchung  des  Einflusses,  den  das  Zusammenleben  auf  die  Seelen- 
kräfte des  Menschen  ausübt.  Man  muß  einsehen  lernen,  wie  durch  die 


§  45.  Die  Aufgaben  der  Soziologie  2?1 

fortwährenden  seelischen  Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Einzelnen 
und  der  Gesellschaft  die  Struktur  der  Menschenseele  sich  zu  dem 
Reichtum  und  zu  der  Vielgestaltigkeit  entwickelt  hat,  die  wir  heute 
an  ihr  beobachten  können.  Diesen  viel  schwierigeren,  aber  auch  viel 
wichtigeren  Teil  der  soziologischen  Forschungsarbeit  möchte  ich  als 
die  i  n  n  e  r  e  A  u  f  g  a  b  e  der  Soziologie  bezeichnen. 

Das  Wort  „innere"  sagt  schon,  daß  wir  es  hier  vor  allem  mit 
psychologischen  Untersuchungen  zu  tun  haben.  Durch  diese 
soll  festgestellt  werden,  inwieweit  die  wichtigsten  Funktionen  des 
menschlichen  Bewußtseins  dadurch  beeinflußt  worden  sind,  daß  der 
Mensch  von  Natur  aus  ein  soziales  Wesen  ist  und  daß  durch  das  Zu- 
sammenleben seine  psychische  Struktur  so  geworden  ist,  wie  wir  sie 
gegenwärtig  vorfinden.  Hier  läßt  sich  leicht  eine  Gliederung  finden, 
die  auch  zugleich  eine  Arbeitsteilung  bedeuten  kann.  Indem  man  näm- 
lich die  übliche  Einteilung  der  Grundfunktionen  des  Bewußtseins 
heranzieht,  kann  man  den  Einfluß  des  menschlichen  Zusammenlebens 
auf  das  Erkennen,  auf  das  Fühlen  und  auf  das  Wollen  gesondert  unter- 
suchen, so  daß  die  innere  Aufgabe  der  Soziologie  sich  ungezwungen  in 
drei  Teile  zerlegen  läßt.  Man  darf  bei  dieser  Sonderung  allerdings 
niemals  vergessen,  daß  im  wirklichen  Leben  die  drei  Grundfunktionen 
des  Erkennens,  des  Fühlens  und  des  Wollens  niemals  voneinander 
wirklich  isoliert  sind,  sondern  vielmehr  in  jedem  tatsächlich  gegebenen 
Erlebnis  immer  zusammenwirken.  Allerdings  überwiegt  meistens  die 
eine  oder  die  andere  Grundfunktion  und  nach  diesem  überwiegenden 
Teile  bezeichnen  wir  das  Erlebnis  als  eine  Erkenntnis,  als  ein  Gefühl 
oder  als  einen  Willensakt.  Unter  der  Voraussetzung  also,  daß  die 
Untersuchung  der  einzelnen  Grundfunktionen  den  innigen  Zusammen- 
hang aller  seelischen  Erlebnisse  niemals  außer  acht  lasse,  zerfiele 
dann  die  innere  Aufgabe  der  Soziologie  in  folgende  Teile: 

1.  Die  Soziologie  des  Erkennens.  Auf  die  Bedeutung 
des  sozialen  Faktors  in  der  Erkenntnisentwicklung  haben  wir  bereits 
oben  (S.  102  ff.)  hingewiesen  und  eine  eingehendere  Darstellung  in 
Aussicht  genommen.  Der  Begriff  der  sozialen  Verdichtung 
dürfte  sich  für  die  Entwicklung  des  Massenglaubens  von  grundlegen- 
der Bedeutung  erweisen  und  neues  Licht  auf  die  mächtige  und  lang 
andauernde  Wirkung  religiöser  Vorstellungen  verbreiten.  Die 
Entstehung  und  soziale  Bedeutung  der  typischen  Vorstel- 
lung wird  dabei  klar  hervortreten.  Auf  die  soziale  Funktion  der 
Sprache  wird  neues  Licht  fallen  und  so  der  große  Anteil,  den  das 
Zusammenleben  am  Zustandekommen  dauernder  und  wirksamer 
Überzeugungen  hat,  deutlich  herausgestellt  werden  können.  Weitere 
Untersuchungen,  mit  denen  der  Verfasser  dieses  Buches  seit  längerer 
Zeit  beschäftigt  ist,  dürften  zu  der  überaus  wichtigen  Einsicht  führen, 
daß  sich  zugleich  mit  der  weiter  unten  zu  besprechenden  sozialen 
Differenzierung,  die  infolge  der  Arbeitsteilung  eintritt,  eine  Intel- 
lektualisierung  der  Seele  vollzieht.  Sobald  nämlich  durch 
die  fortgesetzte  Arbeitsteilung  sich  aus  der  anfangs  ganz  homogenen 
und  sozial  gebundenen  Menschenherde  selbständige  und  eigenkräftige 
Persönlichkeiten  herauszuentwickeln  beginnen,  da  bekommt  der  Intel- 


222  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

lekl  immer  mehr  Spielraum  und  dadurch  immer  mehr  Kraft.  In  der 
ial  gebundenen  Menschengruppe  herrschen  nämlich  die  affektiven 
Grundfunktionen  des  Bewußtseins,  das  Fühlen  und  das  Wollen  vor. 
Ein  rein  theoretisches  henken  ist  auf  dieser  Stufe  noch  gar  nicht  mög- 
lich. Dazu  wird  der  Mensch  erst  fähig,  wenn  er  beginnt,  sich  aus  dem 
engen  Verbände  loszulösen  und  sich  zur  selbständigen  Persönlichkeit 
entwickeln.  Da  erst  entfaltet  sich  sein  Denken  zu  einer  für  seine 
1  ebensführung  bedeutsamen  Kraft,  da  erst  erstarkt  die  Vernunft,  gibt 
dem  Wollen  neue  Ziele  und  verfeinert  zugleich  das  Gefühlsleben.  Da 
erst  wird  der  Mensch  allmählich  dazu  erzogen,  die  Tatsachen 
rein  objektiv  zu  beobachten,  und  so  entsteht  nach  und  nach  die 
\\  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t,  die  dann  so  mächtig  in  das  Leben  eingreift.  Aber 
die  von  einzelnen  Denkern  gefundenen  Wahrheiten  werden  erst  dann 
zu  lebendigen  Kräften,  wenn  die  nunmehr  reicher  organisierte  Gruppe 
sieh  diese  Entdeckungen  aneignet  und  die  Mittel  zu  ihrer  Verwertung 
herbeischafft.  Daß  hier  ein  überaus  wichtiges  und  großes  Arbeitsfeld 
vorliegt,  das  hat  Emile  Durkheim  ausdrücklich  dadurch  anerkannt, 
daß  er  in  seinem  soziologischen  Jahrbuch  (Annee  sociologique,  Bd.  11, 
1910)  eine  eigene  Rubrik  für  „die  soziologischen  Bedingungen  der  Er- 
kenntnis" eröffnete  und  den  Wunsch  aussprach,  im  nächsten  Bande 
bereits  über  eine  größere  Anzahl  von  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  be- 
richten zu  können.  Wir  kommen,  wie  gesagt,  auf  diese  Probleme  noch- 
mals ausführlicher  zu  sprechen. 

2.  Die  Soziologie  des  Fühlen  s.  Hier  liegt  ein  ganz 
neues,  noch  sehr  wenig  bearbeitetes  Feld  der  wissenschaftlichen  For- 
schung vor  uns.  Gilt  doch  das  Fühlen  mit  Recht  als  die  subjektivste 
und  zugleich  als  die  am  meisten  individuell  gefärbte  Seelentätigkeit. 
Trotzdem  ist  die  Einwirkung  des  menschlichen  Zusammenlebens  auf 
die  Entwicklung  des  Gefühls  nicht  ganz  unbemerkt  geblieben. 

Le  Bon  hat  die  Psychologie  der  Massen  untersucht  (Psychologie 
des  foules  1895)  und  gefunden,  daß  in  den  zu  einem  bestimmten 
Zweck  vereinten  Massen  das  affektive  Moment  derart  vorherrscht,  daß 
die  durch  die  intellektuelle  Schulung  der  Einzelnen  sonst  bewirkten 
1  lemmungen  leicht  wegfallen,  wodurch  dann  die  Masse  zu  kraftvollem, 
leidenschaftlichem  und  unüberlegtem  Handeln  besonders  geneigt  und 
befähigt  wird.  Durch  das  Zusammensein  in  der  Masse  geht  eben  die 
durch  soziale  Differenzierung  entstandene  Intellektualisierung  der 
Seele  zum  Teil  wieder  verloren.  Im  primitiven  Zustande  herrschen 
<  iefühle  und  Triebe  vor,  und  in  diesen  Zustand  fällt  der  Mensch,  wo 
er  in  Massen  beisammen  ist,  leicht  zurück.  Daß  aber  im  Urzustände 
bereits  starke  Gefühle  der  Solidarität,  der  Zusammengehörigkeit  und 
das  Streben  nach  gegenseitiger  Hilfe  vorhanden  sind,  das  hat  Kropot- 
kin  in  seinem  oben  bereits  zitierten  Buch  nachgewiesen.  Ribot  hat  in 
seinem  lehrreichen  Werke  „La  psychologie  des  sentiments"  diese  Ge- 
fühle als  die  ursprünglichsten  Betätigungen  des  Seelenlebens  be- 
zeichnet und  ihren  Ursprung  bis  in  die  Tierwelt  verfolgt., 

I  lierher  gehört  auch  die  Philosophie  der  Solidarität, 
die  am  Ende  des  vorigen  und  am  Anfang  des  jetzigen  Jahrhunderts 


§  45.  Die  Aufgaben  der  Soziologie  223 

besonders  in  Frankreich  der  Gegenstand  lebhafter  Diskussionen  war*). 
Leon  Bourgeois  hat  durch  sein  kleines,  sehr  warm  geschriebenes  Buch 
„Solidarite"  (1.  Aufl.  1895,  6.  Aufl.  1907)  die  Anregung  gegeben. 
Er  will  durch  den  Gedanken  der  Solidarität,  das  ursprünglich  so  viel 
bedeutet  als  „Gesamthaftung",  die  ökonomischen  und  sozialen  Gegen- 
sätze überwinden.  Jeder  einzelne  Mensch  ist  der  Gesellschaft,  in  der  er 
lebt,  mehrfach  verschuldet.  Er  muß  nun  diese  „sozialen  Schulden" 
(dette  sociale)  durch  Leistungen  für  die  Gesamtheit  abtragen  und  ist 
dazu  sogar  rechtlich  verpflichtet.  Die  „Academie  des  sciences  poli- 
tiques  et  morales"  veranstaltete  nun  eine  ausführliche  Diskussion  dieser 
neuen  Forderung  und  des  zugrunde  liegenden  Begriffes  der  Solidarität. 
An  dieser  Diskussion  beteiligten  sich  hervorragende  Nationalöko- 
nomen, Juristen  und  Philosophen.  Prof.  Feilbogen  gibt  in  der  ge- 
nannten Arbeit  die  Hauptgedanken,  die  vorgebracht  wurden,  wieder. 
Ausführlich  sind  sie  mitgeteilt  im  Jahresbericht  der  genannten  Aka- 
demie (1903).  Für  uns  kommen  hauptsächlich  die  Äußerungen  des 
Philosophen  Boutroux  in  Betracht.  Boutroux  hat  erkannt,  daß  die 
Solidarität  im  Grund  nichts  anderes  ist  als  ein  G  e  f  ü  h  1.  „Aber  dieses 
Gefühl  kann  einen  Glauben  und  ein  Streben  begründen.  Darum  ist 
diese  Theorie  in  ihrem  Wesen  rein  modern,  denn  es  ist  modern,  die 
Intelligenz  und  die  Vernunft  nicht  mehr  als  höchste  Fähigkeit  anzu- 
erkennen, sondern  sie  den  Gefühlen,  dem  Willen,  dem  Handeln  unter- 
zuordnen. Das  Gefühl  ist  das  Leben,  das  Seiende,  der  Motor,  die  In- 
telligenz ist  nur  Erfindung  und  Gebrauch  von  Zeichen  als  Mittel  für 
die  Befriedigung  der  Gefühle.  Man  anerkennt  daher  in  unserer  Zeit 
das  Gefühl  als  Quelle  des  Rechtes  und  der  Gesetze,  nur  muß  es  hin- 
länglich stark  und  allgemein  sein,  um  den  Glauben  an  die  Rechts- 
notwendigkeit zu  erzeugen."  Daher  stellt  Boutroux  folgende  Fragen 
zur  wissenschaftlichen  Erörterung:  „Worin  besteht,  genau  analysiert, 
das  Gefühl  der  Solidarität?  Welches  ist  der  Grad  der  Allgemeinheit 
und  der  Kraft  dieses  Gefühls?  Worin  besteht  sein  Zweck  und  sein 
Werk?"**) 

Hier  wird  mit  voller  Deutlichkeit  eine  Soziologie  des  Fühlens  ver- 
langt. Ein  Gefühl,  das  die  Beziehungen  des  Einzelnen  zu  seiner 
sozialen  Gruppe  begleitet,  soll  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  ge- 
macht werden.  Die  Aufgabe  ist  gestellt,  aber  noch  keineswegs  gelöst. 
Ja,  es  sind  noch  nicht  einmal  die  Wege  bezeichnet,  die  zur  Lösung 
führen  können.  Die  Soziologie  des  Fühlens  steckt  eben  noch  ganz  in 
den  Anfängen. 

Der  Weg  ist  zu  finden,  wenn  man  sich  die  weiter  unten  darzu- 
legende Grundeinsicht  zu  eigen  macht,  daß  der  primitive  Mensch  im 
Zustande  vollständiger  sozialer  Gebundenheit  lebt  und  daß  seine  Seele 
ganz  ausgefüllt  ist  von  den  überkommenen  Vorstellungen  und  Ge- 
fühlen seines  Stammes,  seines  Clans,  kurz  von  der  zu  einer  Einheit 
zusammengeschlossenen  Gruppe,  von  der  jeder  Einzelne  nur  ein  unselb- 

*)  Eine  vortreiiliche,  klar  und  lichtvoll  geschriebene  Übersicht  über  die 
Solidaritätsphilosophie  in  Frankreich  hat  Prof.  S.  Feilbogen  gegeben  in  der  „Fest- 
schrift für  Wilhelm  Jerusalem",  Wien  1915.  S.61—  80. 

**)  Feilboten  a.  a.  O.  S.  78  f. 


224  Soziologie  und  Cieschiclitsphilosophie 

ständiger  Teil,  gleichsam  ein  (Mied  des  Gesamtkörpers  ist.  Bei  dcu 
< >pfer-  und  Zauber-Riten,  bei  den  Vorbereitungen  zur  Jagd,  bei  den 
gemeinsamen  Tänzen,  bei  den  Einweihungszeremonien  sieht  man,  wie 
die  wissenschaftlich  geschulten  Reisenden  übereinstimmend  berichten, 
die  ganze  Gruppe  von  einem  Gesamtgefühl  durchdrungen,  das  die 
Seele  jedes  Einzelnen  ganz  ausfüllt.  Erst  durch  die  soziale  Differen- 
zierung und  die  damit  sich  allmählich  vollziehende  Ausbildung  selb- 
ständiger I  inzelpersönlichkeiten  erfahren  auch  die  Gefühle  eine  Ver- 
mannigfaltigung,  eine  Bereicherung  und  erhalten  ihre  individuelle 
rbung.  Der  Einzelne  erlebt  jetzt  manches,  was  nur  ihn  allein  und 
nicht  mehr  die  ganze  Gruppe  betrifft,  und  so  ergeben  sich  vielfach  An- 
1.  5Se  zu  eigener  Freude,  zu  eigener  Trauer,  zu  eigener  Angst.  Immer 
aber  bleibt  dabei  das  Gesamtgefühl  als  erheblicher  Rest  in  seiner  Seele 
bestehen,  und  gerade  diese  Wechselbeziehungen,  die  sich  zwischen  den 
Individualgefühlen  und  dem  Gesamtgefühl  ergeben,  bilden  den  ebenso 
schwierigen  als  wichtigen  Gegenstand  der  Soziologie  des  Fühlens. 

So  bildet  sich  z.  B.  das  Ehrgefühl  und  das  Rechts- 
g  e  f  ü  h  1  nur  in  steter  Wechselwirkung  zwischen  dem  Einzelnen  und 
der  Gemeinschaft  aus  und  auch  die  sittlichen  Gefühle  setzen,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  diese  Beziehungen  voraus. 

Ein  Gebiet  aber  gibt  es,  wo  eine  künftige  Soziologie  des  Fühlens 
ein  besonders  reiches  und  fruchtbares  Feld  der  Betätigung  finden  wird. 
Das  ist  diejenige  Sphäre  des  Seelenlebens,  wo  das  Gefühl  ganz  rein, 
das  heißt  ohne  ein  Begehren  zu  erwecken,  hervortritt.  Dies  ist,  wie 
oben  (S.  151  ff.)  bereits  gezeigt  wurde,  das  große  Gebiet  des  Ästhe- 
tischen. Die  soziologische  Betrachtung  wird  uns  zeigen,  daß  auch 
der  größte  Genius,  trotzdem  er  über  seine  Zeit  hinausragt,  doch  in 
seinem  Schaffen  beeinflußt  ist  durch  die  Gesellschaft,  i  n  d  e  r  und 
für  die  er  arbeitet.  Ebenso  hängt  der  ästhetische  Geschmack  mit 
anderen  Kulturerscheinungen  der  Epoche  zusammen  und  wird  so  zu 
einem  sozialen  Phänomen.  Auf  diese  Seite  der  Kunst  haben  in  Frank- 
reich besonders  Arreat  und  Ouyau,  im  germanischen  Kulturgebiet  vor 
allen  anderen  Wilhelm  Dilthey  und  Kuno  Francke  hingewiesen.  Ganz 
besonders  klar  haben  in  neuerer  Zeit  hervorragende  Vertreter  der 
Literaturgeschichte  und  der  Kunstgeschichte  die 
vielfachen  Zusammenhänge  der  literarischen  und  der  künstlerischen 
Produktion  mit  den  geistigen  Strömungen  oder  richtiger  gesagt  mit 
der  seelischen  Struktur  des  Zeitalters  erfaßt  und  dadurch  ein  weit 
tieferes  und  besseres  Verständnis  der  einzelnen  Werke  erzielt.  Hin- 
gewiesen sei  hier  nur  auf  die  kleine,  aber  sehr  inhaltsvolle  Schrift  des 
leider  zu  früh  verstorbenen  Wiener  Kunstforschers  Max  Dvorak 
„Idealismus  und  Naturalismus  in  der  gotischen  Skulptur  und  Malerei" 
(1918).  Hier  sind  die  wertvollsten  Anregungen  für  eine  künftige 
Soziologie  des  Fühlens  gegeben,  durch  welche  namentlich 
das  große  Gebiet  der  bildenden  Künste  in  ganz  neuem  Lichte  er- 
scheinen dürfte. 

3.  Soziologie  des  Wollen  s.  Dieses  Gebiet  ist  zweifellos 
das  umfassendste  und  das  wichtigste.  Hier  ist  schon  seit  langem  der 
Begriff  des  Gesamt  willens  herausgearbeitet  worden,  der  uns 


§  45.  Die  Aufgaben  der  Soziologie  225 

bereits  in  den  mittelalterlichen  Untersuchungen  über  den  Staat  ent- 
gegentritt und  dann  in  der  neueren  Zeit  bei  den  Vertretern  der  Volks- 
souveränität und  namentlich  bei  Rousseau  eine  große  Rolle  spielt. 
Die  moderne  Völkerpsychologie  hat,  wie  besonders  Wilhelm  Wundt 
hervorhebt,  die  konkrete  Realität  des  Gesamtwillens  erwiesen.  Unter 
dem  Einfluß  des  Gesamtwillens  stehen  wir  von  früher  Jugend  an,  und 
die  meisten  und  die  wichtigsten  Einwirkungen  der  Gesellschaft  be- 
ziehen sich  auf  unser  Wollen  und  Tun.  Jede  Betätigung  des  Gesamt- 
willens, die  wir  oft  nur  an  dem  Widerstände  spüren,  den  er  unserem 
Streben,  uns  davon  zu  befreien,  entgegensetzt,  wirkt  auf  unser  Wollen 
und  Tun.  Emile  Durkheim  hat  zweifellos  richtig  erkannt,  daß  alles 
Soziale  gerade  durch  das  zwingende,  gebietende,  autoritative  Moment 
charakterisiert  ist,  und  das  heißt  doch  nichts  anders,  als  daß  hier  ein 
mächtiger,  durch  Überlieferung  und  Gewöhnung  verstärkter  G  e- 
s  a  m  t  w  i  1 1  e  auf  jeden  Einzelnen  seinen  Einfluß  ausübt. 

Der  Gesamtwille  der  Gruppe  betätigt  sich  nun  in  verschiedenen 
Formen.  Das  geltende  Recht,  die  herrschende  Sitte,  die  Mode,  die 
Formen  des  wirtschaftlichen  Verkehrs,  sie  alle  sind  verschiedene  Be- 
tätigungsweisen eines  Gesamtwillens,  werden  dadurch  zu  sozialen 
Tatsachen  und  damit  zum  Gegenstand  der  Soziologie.  Es  gehört  also 
mit  zu  ihrer  inneren  Aufgabe,  alle  diese  Dinge  in  ihrer  Entstehung, 
Entwicklung  und  sozialen  Bedeutsamkeit  zu  untersuchen. 

Der  Gesamtwille  schafft  sich  aber  im  Laufe  der  Zeiten  auch  sehr 
verschiedene  Träger.  Der  Häuptling  im  Kriege,  die  Priesterschaft 
in  späteren  Zeiten,  die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse  als  ihr 
Sprachrohr,  der  absolute  oder  der  konstitutionelle  Monarch,  die  ver- 
antwortlichen Minister,  die  Parlamente,  sie  alle  sind  in  gewissem 
Sinne  Träger  des  Gesamtwillens.  In  fast  allen  Kulturländern  aber  geht 
in  den  letzten  Jahrhunderten  die  Entwicklung  dahin,  daß  der  Staat 
immer  mehr  zum  Mandatar  der  Gesellschaft  sich  ausgestaltet.  Es 
gehört  deshalb  heute  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  der  Soziologie,  das 
Wesen  des  Staates,  seinen  Ursprung  und  seine  Entwicklung  zu  er- 
forschen und  die  stete  Vermannigfaltigung  seiner  Funktionen  sowie  die 
Bedingungen  seines  äußeren  und  inneren  Wachstums  zu  untersuchen. 
Der  Staat  als  Träger  des  Gesamtwillens  ist  somit  ein  überaus  wichtiger 
Gegenstand  der  Soziologie.  Aus  der  Beschäftigung  damit  ergeben  sich 
die  mannigfachsten  und  kompliziertesten  Probleme,  die  nicht  nur 
wissenschaftliche,  sondern  auch  praktische  Bedeutung  haben.  Die  Ent- 
wicklungsgeschichte lehrt  uns  nämlich,  daß  der  Mensch  sich  aus  der 
vollständigen  sozialen  Gebundenheit,  die  für  primitive  Zustände 
charakteristisch  ist,  immer  mehr  zu  befreien  strebt.  Die  Ausbildung 
eigenkräftiger,  selbständig  denkender  und  wollender  Persönlichkeiten 
ist  das  wichtigste  Ergebnis  sozialer  Entwicklung.  Da  erhebt  sich  nun 
die  Frage,  wie  die  für  das  Zusammenleben  unentbehrliche  Autorität 
des  Staates  mit  dem  Rechte  der  Persönlichkeit  auf  freie  Entfaltung  ihrer 
Fähigkeiten  in  Einklang  zu  bringen  sei.  Man  wird  weiter  fragen 
müssen,  wie  der  Staat  seine  Autorität  aufrechtzuerhalten  und  dabei 
doch  das  Bewußtsein  der  Verantwortlichkeit  allen  seinen  Organen  ein- 
zuflößen vermag.  Endlich  wird  das  Verhältnis  der  Staaten  untereinan- 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  »5 


226  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

der  und  damit  die  sozial  so  überaus  bedeutsamen  Tatsachen  des 
Krieges,  des  wirtschaftlichen  Konkurrenzkampfes,  die  Vermehrung  der 
Bevölkerung,  die  Auswanderung  zu  überaus  wichtigen  Problemen  der 
Soziologie. 

Der  Staat  war  anfangs  wahrscheinlich  nichts  anderes  als  ein 
Machtstaat,  in  welchem  die  herrschende  Klasse  die  Unterworfenen  für 
sich  arbeiten  ließ.  Er  hat  sich  dann  zum  Rechtsstaat  weiter- 
entwickelt und  scheint  im  Begriffe,  sich  zum  Wohlfahrtsstaat 
und  Kulturstaat  auszugestalten.  Das  heißt  nichts  anderes,  als 
daß  der  Gesamtwille  sich  immer  neue  und  wichtige  Betätigungsgebiete 
Hubert.  Im  Weltkrieg  ist  die  Macht  des  Staates  in  ganz  außerordent- 
lich hohem  Grade  verstärkt  worden,  aber  auch  das  Bewußtsein  der 
Abhängigkeit  des  Einzelnen  von  den  Geschicken  des  Staates  ist  tief  in 
die  Seelen  gedrungen.  Die  infolge  des  Krieges  eingetretenen  Umwäl- 
zungen haben  dann  eine  Reihe  ganz  neuer  soziologischer  Probleme 
geschaffen,  deren  Lösung  erst  die  Zukunft  bringen  kann.  Die  Für- 
sorgepflicht des  Staates  für  alle  Bürger  ist  viel  größer  geworden, 
während  sich  anderseits  das  Freiheitsbedürfnis  der  Bürger  wieder  viel 
stärker  zur  Geltung  bringt.  Jedenfalls  zeigen  auch  diese  neuen  Er- 
scheinungen des  Gemeinschaftslebens,  wie  dringend  nötig  es  ist,  durch 
soziologische  Untersuchungen  hier  Klarheit  zu  schaffen. 

Die  Soziologie  des  Wollens  enthält  eine  so  reiche  Fülle  von  Auf- 
gaben, daß  es  wünschenswert  erschiene,  hier  eine  weitere  Gliederung 
und  Gruppierung  vorzunehmen.  Das  ist  jedoch  bei  dem  heutigen  Zu- 
stande dieses  Wissenszweiges  noch  nicht  möglich.  Die  tatsächliche 
Forschung  hat  sich  eben  nicht  nach  der  hier  gegebenen  Einteilung  der 
Aufgaben  entwickelt,  sondern  ist  andere  Wege  gegangen  und  hat  eine 
oft  verwirrende  Mannigfaltigkeit  der  Richtungen  gezeitigt.  Heute 
können  wir  nur  soviel  sagen,  daß  die  von  uns  vorgeschlagene  Gliede- 
rung in  äußere  und  innere  Aufgaben  geeignet  erscheint,  Ordnung  und 
Übersicht  zu  schaffen  und  dadurch  die  künftige  Forschung  in  die  rich- 
tigen Bahnen  zu  leiten. 

Wir  wollen  nun  eine  kurze  Übersicht  über  die  bisherige  Entwick- 
lung und  die  verschiedenen  Richtungen  der  Soziologie  geben,  wobei 
wir  uns  auf  das  Wichtige  und  Fruchtbare  beschränken. 

§  46.  Entwicklung  der  Soziologie 

Der  Begriff  und  der  Name  „Soziologie"  ist  erst  gegen  die  Mitte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  vom  französischen  Denker  Auguste 
Comie  geschaffen  worden  *),  allein  der  Gegenstand  unserer  Wissen- 
schaft, das  heißt  das  Zusammenleben  der  Menschen  und  die  sich 
daraus  ergebenden  Konsequenzen  sind  schon  seit  den  Zeiten  der 
Griechen  ein   sehr  beliebtes  Thema  des  wissenschaftlichen   und  des 

*t  Comte  behandell  den  Gegenstand,  den  er  zunächst  als  „Physique  sociale" 
bezeichnet,  zuerst  im  4.  Bande  seines  „Cours  de  philosophie  positive".  Dieser 
Band  ist  1839  erschienen.  Dort  findet  sich  nun  S.  185  der  zweiten  von  Littre 
besorgten  Ausgabe  die  Einführung  des  neuen  Wortes  „sociologie",  was  von 
Comic    in  einer  Anmerkung  begründet  wird. 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  227 

philosophischen  Nachdenkens  gewesen.  Unter  den  verschiedenen 
Formen  des  Zusammenlebens  war  es  besonders  der  Staat,  der  die 
Aufmerksamkeit  der  Denker  auf  sich  zog.  Anlaß  dazu  gab  häufig, 
wenn  auch  nicht  immer,  eine  starke  Unzufriedenheit  mit  den 
herrschenden  sozialen  Zuständen.  Der  Wunsch  nach  besserer 
Gestaltung  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  war 
auch  hier  der  Vater  des  Gedankens. 

Dies  gilt  gleich  von  dem  ältesten  Werke,  in  welchem  das  Wesen 
und  die  Ziele  des  Staates  untersucht  und  das  Ideal  eines  den  sitt- 
lichen Forderungen  entsprechenden  Gemeinwesens  entworfen  wird, 
das  zugleich  allen  Mitgliedern  ein  „gutes  Leben"  gewährleisten  soll. 
Ich  meine  selbstverständlich  Piatons  „P  o  1  i  t  e  i  a".  Der  Schüler  des 
Sokrates  übt  darin  unbarmherzige  Kritik  an  der  in  den  meisten  der 
vorhandenen  Gemeinwesen  herrschenden  Ungleichheit  des 
Besitzes.  Dadurch  entstehen,  so  sagt  er,  in  jedem  Staate  eigent- 
lich zwei  Staaten,  der  der  Armen  und  der  der  Reichen,  und 
das  ist  eine  Quelle  fortwährender  Zwietracht.  Plato  findet  das 
„drohnenhafte"  Dasein  der  Reichen  mit  den  sittlichen  Forderungen 
unvereinbar.  Die  treibende  Idee  bei  seinem  Versuche,  einen  Musterstaat 
zu  entwerfen,  ist  die  Verwirklichung  derGerechtigkeit. 
Das  Wesen  der  Gerechtigkeit  besteht  aber  für  Plato  in  dem  har- 
monischen Zusammenwirken  der  verschiedenen  Teile  der  Seele. 
Diese  Teile  sind  nach  Piatons  Seelenlehre  die  Vernunft,  die  energische 
Tatkraft  und  das  niedere  Begehren.  Gerechtigkeit  ist  beim  einzelnen 
Menschen  dann  vorhanden,  wenn  die  Vernunft  über  die  anderen 
Seelenteile  herrscht,  ihnen  ihre  Ziele  anweist,  und  sie  zugleich  in 
Schranken  hält.  Deutlicher  nun  als  beim  Einzelmenschen,  so  führt 
Sokrates  im  zweiten  Buche  des  platonischen  Staates  aus,  kann  man 
das  Wesen  der  Gerechtigkeit  im  Staate  erkennen,  und  in  diesem 
Sinne  wird  nun  das  Musterbild  entworfen.  Jedem  der  drei  Teile  der 
Seele  entspricht  ein  eigener  Stand.  Die  Klasse  der  Hüter  hat 
die  Vernunft  im  Staate  zur  Geltung  zu  bringen  und  deshalb  alles 
zu  ordnen.  Der  Kriegerstand,  der  die  energische  Tatkraft,  das  „Mut- 
artige" (■ö-ofj.osios;)  repräsentiert,  wird  zur  Verteidigung  des  Ganzen 
bestimmt,  während  der  zahlreiche  Stand  der  Gewerbetreibenden  für 
die  materiellen  Bedürfnisse  zu  sorgen  hat.  Dabei  werden  die  Hüter 
dafür  sorgen,  daß  jeder  nur  „das  Seine  tue",  das  heißt  diejenige 
Beschäftigung  wähle,  zu  der  er  am  besten  veranlagt  ist  und  in  der  er 
sich  durch  stete  Übung  immer  mehr  vervollkommnet.  Besondere  Sorg- 
falt muß  nun  auf  die  Auswahl,  auf  die  intellektuelle  und  moralische 
Ausbildung  der  „Hüter"  verwendet  werden.  Diese  müssen  von  allen 
materiellen  Sorgen  befreit  sein,  jede  Möglichkeit  des  Gelderwerbes 
muß  ihnen  benommen  werden,  sie  müssen  eine  strenge,  vieljährige 
wissenschaftliche  Schulung  durchmachen  und  ihr  ganzes  Sinnen  und 
Trachten  ihrer  Herrschertätigkeit  zuwenden.  Durch  diese  Einrich- 
tungen wird  ein  harmonisches  Zusammenwirken  aller  Teile  ermöglicht 
und  so  die  Gerechtigkeit  verwirklicht.  Jeder  Bürger  dieses  Ideal- 
staates wird  immer  nur  das  zu  tun  haben,  was  seiner  Natur  gemäß 
ist  und  deshalb  auch  das  ihm  zukommende  Glück  oder,  wie  Plato  sagt, 

15* 


;  tgie  und  üescliichtsphilosopliie 

«.las  „gute   Leben"  infolge  des  streng  geordneten  Zusammenwirkens 
genießen  können. 

Trotz  seines  utopischen  Charakters  enthalt  der  großzügige  Ent- 
wurf Platins  eine  erstaunliche  Fülle  soziologisch  bedeutsamer  Ge- 
danken. Die  energische  Forderung  nach  intellektueller  und  mo- 
ralischer Schulung  der  zur  Leitung  Berufenen,  die  Arbeitsteilung  und 
ihre  Vorzüge,  die  Verknüpfung  mit  psychologischen  Erwägungen,  das 
hohe  ethische  Ziel,  das  alles  sind  bedeutsame  Erkenntnisse  und  Forde- 
rungen. Deshalb  haben  auch  die  Vertreter  der  modernen  sozial- 
reformatorischen  Bestrebungen  vielfach  Gedanken  und  Schlagwörter 
von  Piaion  entlehnt.  Noch  reicher  an  soziologischen  Einsichten  und 
Anregungen  ist  Piatons  Alterswerk  „Die  Gesetze".  Hier  nimmt  der 
Philosoph  auf  die  tatsächlichen  Verhältnisse  mehr  Rücksicht.  Seine 
reiche  Lebenserfahrung  hat  ihn  mit  den  menschlichen  Schwächen 
bekannt  gemacht,  und  er  hat  einsehen  gelernt,  daß  der  praktische 
Staatsmann  mit  diesen  Schwächen  rechnen  muß.  So  weiß  er  z.  B. 
\z  genau,  daß  das  im  Staate  geltende  Recht  zunächst  immer 
dem  Willen  und  den  Interessen  der  herrschenden  Klasse 
angepaßt  ist.  Fr  glaubt  nicht  mehr  so  fest,  wie  in  der  „Politeia", 
an  die  unbedingte  Wirksamkeit  philosophischer  Erkenntnis,  weil  er 
die  Kraft  der  menschlichen  Leidenschaften  besser  kennen  gelernt  hat. 
Er  untersucht  unter  anderem  die  Frage,  ob  es  für  die  neu  zu  grün- 
dende Kolonie  besser  ist,  wenn  sie  sich  aus  Bürgern  von  ganz  gleicher 
Abstammung  und  gleichem  Bildungsgrade  zusammensetzt,  oder  wenn 
sich  Elemente  verschiedener  Abkunft  zusammenfinden.  Die  Vorteile 
und  die  Nachteile  werden  für  beide  Fälle  sorgsam  gegeneinander  ab- 
gewogen (4,  3).  Dagegen  steht  der  sittliche  Zweck  des 
Staates  auch  in  den  „Gesetzen"  als  höchstes  Ziel  überall  im  Vorder- 
grund und  wird  immer  mit  aller  Entschiedenheit  betont  (z.  B.  4,  2). 
Man  findet  ferner  überaus  feinsinnige  Bemerkungen  über  Ehe  und 
Familie,  über  Erziehung,  über  Rechtspflege,  über  die  sozial-ethische 
Wirkung  von  Dichtungen,  über  die  Gefahren  der  Ungleichheit  des 
Besitzes,  des  Handels  und  des  daraus  entstehenden  Mammonismus, 
ferner  tiefgründige  Erörterungen  über  die  soziale  Bedeutung  reli- 
giöser Institutionen  und  noch  vieles  andere,  das  in  der  heutigen  Zeit 
oft  sogar  von  geradezu  aktueller  Wirksamkeit  sein  könnte.  Es  wäre 
deshalb  eine  lohnende  Arbeit,  den  soziologischen  Gehalt  der  „Gesetze" 
in  einer  besonderen  Untersuchung  herauszuarbeiten.  Viel  Wertvolles 
da/u  findet  sich  bei  Pöhlmann,  „Gesch.  d.  antiken  Kommunismus", 
I.    477  ff. 

Aristoteles  hat  in  seiner  „P  o  1  i  t  i  k"  ein  Werk  geschaffen,  das 
grundlegende  soziologische  Einsichten  enthält  und  viel- 
fach noch  heute  geeignet  ist,  in  die  Probleme  der  Gesellschaftslehre 
einzuführen.  Sein  oft"  zitierter  Ausspruch,  daß  der  Mensch  von 
Natur  aus  ein  soziales  Wesen  ist  ( s uoet  jroXreir.öv  C<pov), 
kann  erst  heute  auf  Grund  der  Ergebnisse  der  wissenschaftlichen 
Völkerkunde  in  seiner  ganzen  Tragweite  verstanden  und  gewürdigt 
werden.  Dasselbe  gilt  von  seiner  Behauptung,  daß  der  Staat  früher 
ist   als   das    Individuum.    Aristoteles   denkt    dabei    zunächst   an    ein 


§  4b.  Entwicklung  der  Soziologie  229 

logisches  Vorangehen,  weil,  wie  er  sagt,  das  G  a  n  z  e  die  logische 
Voraussetzung  seiner  Teile  bilde.  Die  wissenschaftliche  Völkerkunde 
läßt  es  jedoch  heute  als  überaus  wahrscheinlich  erscheinen,  daß  die 
sozial  eng  verbundene  Menschengruppe  sogar  zeitlich  früher  da 
war  als  der  selbständige,  seiner  Eigenart  und  seiner  Eigenberechtigung 
voll  bewußte  Einzelmensch.  Damit  hängt  die  ganz  besonders  bedeut- 
same Lehre  des  Aristoteles  zusammen,  daß  der  Mensch  nur  im  staat- 
lichen Verbände  wahrhaft  Mensch  sei,  und  daß  der  „Staatenlose" 
(atfoXts)  entweder  etwas  Minderwertiges  ('faöXo?)  oder  ein  Über- 
mensch ([j.siCwv v) v.ar' av&ptoirov i,  entweder  ein  Tier  oder  ein  Gott 
sein  müsse.  In  diesen  Worten  ist  nichts  Geringeres  enthalten  als  die 
erst  heute  sich  langsam  durchringende  Überzeugung,  daß  man  das 
wahre  Wesen  des  Menschen  und  seiner  geistigen  Entwicklung  nur 
dann  zu  erfassen  und  ganz  zu  verstehen  vermag,  wenn  man  nicht 
vom  Individuum,  sondern  von  der  Gruppe  ausgeht,  und  das 
heißt  wiederum  nichts  anderes,  als  daß  nur  die  soziologische 
Betrachtungsweise  geeignet  ist,  in  das  Wesen  und  Werden  des  Men- 
schengeistes Einblick  zu  gewähren.  Von  seinem  Lehrer  Piaton  hat 
Aristoteles  ferner  die  Überzeugung  übernommen,  daß  der  Staat  den 
Zweck  habe,  das  „gute",  das  heißt  das  sittliche  Leben  seiner 
Bürger  möglich  zu  machen  und  auf  jede  Weise  zu  fördern.  Er  gibt 
dazu  sehr  anregende  Ratschläge  und  Winke,  die  mitunter  sogar  für 
den  Wiederaufbau  unserer  heute  moralisch  so  stark  erschütterten  Zeit 
von  aktueller  Bedeutung  werden  können.  Auch  in  seiner  berühmten 
Darstellung  der  verschiedenen  Staatsverfassungen  (Buch  III — VI) 
finden  sich  viele  soziologisch  wertvolle  Gedanken.  Dies  gilt  in  noch 
höherem  Grade  von  seinen  im  7.  und  8.  Buche  enthaltenen  Erörterungen 
über  die  beste  Staatsform,  wobei  besonders  die  Bemerkungen  über  die 
Ehe,  die  Kindererzeugung  und  über  Erziehung  zu  beachten  sind. 
Man  darf  allerdings  niemals  vergessen,  daß  Aristoteles  trotz  allen 
genialen  Intuitionen  und  allgemeinen  Einsichten  immer  doch  ein  Kind 
seiner  Zeit  bleibt.  Der  Staat,  den  er  im  Auge  hat,  ist  die  „Polis", 
der  griechische  Stadtstaat  von  mäßigem  Umfang,  dessen  Be- 
stimmung es  ist,  sich  selbst  zu  genügen.  Die  Institutionen  des  Krieges 
und  der  Sklaverei  sind  für  ihn  ebenso  selbstverständlich  als  unent- 
behrlich. Ja,  er  geht  so  weit,  zu  behaupten,  daß  die  Hellenen 
von  Natur  aus  zur  Herrschaft  berufen,  die  Barbaren  dagegen 
zur  Knechtschaft  verdammt  sind.  Er  verlangt,  daß  die  freien 
Bürger  sich  nicht  mit  dem  Erwerbe  befassen  sollen,  damit  sie  Muße 
haben  zur  Besorgung  der  Staatsgeschäfte.  Dabei  weiß  er  allerdings 
über  die  kulturelle  Bedeutung  der  Muße  vieles  sehr  Tref- 
fende zu  sagen.  Auf  die  Tätigkeit  der  Bauern,  der  Handwerker  und 
besonders  der  Kaufleute  sieht  er  mit  einer  gewissen  Verachtung  herab. 
Es  fehlen  deshalb  bei  ihm  viele  Gesichtspunkte,  die  für  unsere  Zeit 
des  Weltverkehres,  der  Weltwirtschaft  und  der  so 
reichen  und  so  verwickelten  internationalen  Beziehungen  von 
maßgebender  Bedeutung  sind.  Trotzdem  bleibt  die  „Politik"  des 
Aristoteles  eine  reiche  Fundgrube  soziologisch  wertvoller  Gedanken 
und  Anregungen. 


2  30  Soziologie  und  Geschiclitsphilosophie 

In    der   sogenannten    hellenistischen    Periode    (von   300 
v.  Chr.  an)  erfährt  die  Auffassung  vom  Staate  und  von  seinem  Ver- 
hältnis   zum    Einzelmenschen   sehr   wesentliche   Veränderungen.     Es 
treten  liier  neue  und  sehr  wichtige  soziologische  Gedanken  auf, 
die  bis  in  die  Gegenwart  fortwirken.    Der  Eroberungszug  Alexander 
i/es  Großen  hatte  den  geographischen  und  den  soziologischen  Gesichts- 
kreis stark  erweitert.    Der  Unterschied  zwischen   Hellenen  und   Bar- 
barin begann  sich  zu  verwischen.    Durch  die  Entstehung  größerer 
Staatengebilde    auf    dem    Boden    Griechenlands,    Vorderasiens    und 
Ägyptens  hatte  die  „Polis"  ihre  Selbständigkeit  und  damit  ihren  ver- 
gesellschaftenden Einfluß  auf  ihre  Bürger  immer  mehr  verloren.    In 
den  Vordergrund  des  Interesses  tritt  nun  der  einzelne  Mensch, 
das  I  n  d  i  v  i  d  u  u  m,  mit  seinen  Freuden  und  Schmerzen,  mit  seinen 
persönlichen  körperlichen  und  seelischen  Bedürfnissen.  Dieser  Indi- 
vidualismus tritt  uns  in  der   Literatur,    in  der  Kunst,    in  der 
Wissenschaft  und  besonders  in  der  Philosophie  der  hellenistischen  Zeit 
überall  entgegen*).    In  den   Systemen  der  Skeptiker,  der  Epikureer 
und  besonders  in  dem  der  Stoiker  steht  der  Einzelmensch  mit  seinem 
Bedürfnis  nach  Seelenruhe,  nach  persönlicher  Glückseligkeit  und  nach 
religiöser    Erlösung    durchaus    im    Mittelpunkte    des    Denkens    und 
Strebens.    Nun  führt  aber,  wie  später  ausführlich  dargelegt  werden 
soll,  die  individualistische   Entwicklungstendenz  mit   psychologischer 
Notwendigkeit  immer  wieder  zum  Universalismus    und  zum 
Kosmopolitismus.    Dieser  wichtige,  bisher  noch  wenig  beachtete  Über- 
gang vollzieht  sich  nun  in  der  hellenistischen  Zeit  mit  ganz  besonderer 
Deutlichkeit.    Hier  wird  von  den  Geographen  der  Begriff  der  „Öku- 
mene", das  heißt  der  von   Menschen  bewohnten   Erde  geprägt  und 
zugleich  von  den  Philosophen  die  Idee  der  ganzen  Mensch- 
heit als veiner  großen  Einheit  geschaffen.    Daraus  entwickelt 
sich  dann   im  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr.  der  Gedanke  der  a  1 1- 
gemeinen  Menschlichkeit,  der  Humanität,  auf  dessen 
Pedeutung  für  die  Ethik  bereits  oben  hingewiesen  wurde.  Für  das 
soziologische    Denken    wird    dieser    kosmopolitische    Zug    im 
Hellenismus  dadurch  bedeutsam,  daß  hier  zum  erstenmal  die  Solidarität 
der   ganzen    Menschheit    deutlich    zum    Bewußtsein    gebracht   wird. 
Durch   die   Erstarkung  des   nationalen   Gedankens    wird  diese 
vom  Hellenismus  geschaffene  Idee  in  der  neueren  Zeit  zwar  vielfach 
zurückgedrängt,  tritt  aber  in  der  Gegenwart  besonders  infolge  des 
Weltkrieges    wieder    kraftvoll    hervor    und    verlangt    dringend    nach 
soziologischer  Durcharbeitung  und  Ausgestaltung.  Dem  Staate  gegen- 
über verhalten  sich  die  Philosophen  der  hellenistischen  Zeit  meist  ab- 
lehnend, indem  sie  davon  abraten,  sich  mit  politischen  Angelegenheiten 
zu  beschatten.    Epikur  empfiehlt  seinen  Anhängern  ein  stilles,  ver- 
borgenes  Leber:   im  vertrauten    Freundeskreise,  während  die  Stoiker 
den  vollendeten   „Weisen"   in   den   großen   Verband  aller   Menschen 
hineinstellen,  an  dem  auch  die  Götter  teilnehmen. 


*)  Vgl.    Jerusalem,  „Gedanken   imd   Denker",  S.  242  iL,  den  Aufsatz  „Alt- 
griechisches Kleinleben". 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  231 

Rom  hat  ein  mächtiges  Staatengebilde  geschaffen  und  durch 
seine  Sprache,  durch  sein   Recht,  durch  sein  Verwaltungstalent  auf 
viele  Jahrhunderte  hin  gestaltend  und  musterbildend  auf  das  soziale 
Leben  des  Abendlandes  gewirkt.  Die  bedeutsamste  soziale  Schöpfung 
der  Römer,  das  Recht,  beruht  im  wesentlichen  auf  individua- 
listischer Grundlage.  Was  hier  geregelt  wird,  ist  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  Einzelnen  und  ist  demnach  hauptsächlich 
Privatrecht.    Als  solches  ist  es  wegen  seiner  Klarheit  und  Be- 
stimmtheit sowie  wegen  der  darin  herrschenden  strengen  Logik  für 
die  Gestaltung  der  rechtlichen  Beziehungen  im  Verkehrsleben  Muster 
und  Schule  geblieben.    Dagegen  bietet  uns  die  römische  Literatur 
nur  sehr  wenig  neue  Gedanken  über  das  Wesen  des  Staates  und  der 
Gesellschaft.    In  den  theoretischen  Auseinandersetzungen  Ciceros  ist 
das  Wesentliche  meistens  die  Verteidigung  der  herrschenden  Klasse 
und  der   Kampf  gegen  Umsturz*).    Bei  den  Satirikern  findet  man 
Klagen  über  die  sittliche  Verwilderung,  über  die  Mißstände  in  der 
Großstadt,  aber  sonst  nirgends  tiefer  dringende  Untersuchungen  über 
die  Struktur  der  Gesellschaft,  über  das  Wesen  und  die  Aufgaben  des 
Staates.    Die  Römer  verstanden  eben  zu  erobern,  zu  organisieren,  zu 
verwalten,  aber  ihre  Sache  war  es  nicht,  zu  theoretisieren. 

Die    Weltanschauung    des    Mittelalters,    deren 
System  und  Geschichte  Heinrich  v.  Eicken  so  vortrefflich  dargestellt 
hat,  ist  für  die  Entwicklung  des  soziologischen  Denkens  von  großer 
Bedeutung.    Der  Kirchenvater  Augustin  hat  in  seinem  für  die  kirch- 
liche Anschauung  vom  Wesen  der  Gesellschaft  grundlegenden  Werke 
„Vom  Gottes  Staate"   (De  civitate   Dei)   den  irdischen   Staat, 
der  auf  Gewalt  und  Unterdrückung  beruht,  als  das  Werk  der  Sünde 
und  des  Teufels  bezeichnet  und  diesem  den  Gottesstaat  oder  die  Kirche 
Christi  entgegengestellt,  in  welchem  alle  Menschen  als  Kinder  Gottes 
untereinander  verbrüdert  in  Friede  und   Eintracht  zusammen  leben 
und  dabei  nicht  ein  Leben  im  Fleische,  sondern  ein  Leben 
im  Geiste  führen  sollen.  Den  Gottesstaat  zu  verwirklichen,  macht 
sich  die  römische  Kirche  mit  dem  Papst  an  der  Spitze  zur 
Aufgabe  und  sie  bildet  sich  im  Laufe  des  Mittelalters  zu  einer  überaus 
mächtigen,  in  sich  gefestigten  und  doch  leicht  beweglichen  Organi- 
sation aus,    die  in  der   Menschheitsgeschichte  einzig  dasteht.    Ihre 
Macht  beruht,    wie  Eicken  in  dem  obenerwähnten  Werke**)  gezeigt 
hat,    auf    der    Synthese    von    Weltverneinung    und    Welt- 
beherrschung.  Die  asketische  Grundidee,  wonach  das  irdische 
Leben  nur  eine  Vorbereitung  für  das  ewige  Leben  im  Jenseits  ist, 
bringt  die  Kirche  ganz  von  selbst  dazu,  alle  Gebiete  dieses  irdischen 
Lebens  in  die  Hand  zu  nehmen,  um  sie  ihren  höheren  Zwecken  an- 
zupassen.   Dadurch  wächst  sie  sich  immer  mehr  zur  Beherrscherin 
der  Welt  und  des  Lebens  aus  und  bildet  tatsächlich  viele  Jahrhunderte 


*)  Vgl.  Pöhlmann,  Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und  Sozialismus, 
II,  S.  486  ff. 

**)  Heinrich  v.  Eicken,  „Geschichte  und  System  der  mittelalterlichen  Welt- 
anschauung", 1887,  Neudruck  1913. 


2  3_>  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

hindurch  das  geistige  Zentrum  der  abendländischen  Menschheit.  1  »k 
Kirche  hat  zweifellos  viel  da/u  beigetragen,  die  germanischen  und 
romanischen  Völker  Europas  zur  Herrschaft  des  Geistes  über  dvn 
Körper  zu  erziehen  und  die  Kraft  des  Willens,  besonders  im  Entsagen, 
zu  stärken. 

Theoretische  Erwägungen  über  das  Wesen  des  Staates  werden 
im  Mittelalter  wiederholt  angestellt.  Die  Kirche  betrachtete  zwar  den 
irdischen  Staat  als  ein  Werk  der  Sünde,  konnte  jedoch  die  weltliche 
Wacht  zur  Durchführung  ihrer  Zwecke  nicht  entbehren.  Man  faßte 
also  den  Staat  als  ein  Heilmittel  gegen  die  Sünde  auf  und  führte  ihn 
auf  einen  zum  Schutze  gegen  verbrecherische  Gewalttat  geschlossenen 
Gesell schaf  tsvertrag  zurück  (ticken  363  ff.).  Diese  An- 
seht war  im  Mittelalter  sehr  verbreitet  und  sowohl  von  der  staatlichen 
als  auch  von  der  kirchlichen  Partei  angenommen  (Eicken  365).  Im 
Laufe  des  Mittelalters  trat  jedoch  eine  starke  Verweltlichung  der 
Kirche  ein.  Dazu  kam  ein  durch  die  Kreuzzüge  hervorgerufenes  Er- 
starken des  nationalen  Bewußtseins.  So  sehen  wir,  wie  im  H.Jahr- 
hundert die  staatliche  Gewalt  ihre  Selbständigkeit  gegenüber  der 
Kirche  immer  kräftiger  wahrt  und  behauptet.  „Die  Wissenschaft  kam 
diesen  Bestrebungen  der  Staatsgewalten  zu  Hilfe.  Während  des 
vierzehnten  Jahrhunderts  entstand  die  sogenannte  organische 
Staatstheorie,  welche  die  staatliche  Ordnung  in  Parallele  stellte 
mit  dem  beseelten  Organismus.  Die  Theorie  wollte  mit  diesem  Ver- 
gleiche die  Selbständigkeit  des  Staates  gegenüber  der  Kirche,  den 
einheitlichen  Zusammenhang  der  staatlichen  Verwaltung  und  die 
politischen  Rechte  des  Volkes  erweisen."  [Eicken  773.)  Die  Seele 
dieses  staatlichen  Organismus  ist  nicht  mehr  die  Kirche,  sondern 
der  einheitliche  Wille  der  Gesamtheit,  wie  es  Marsilius  von  Padaa  in 
seiner  Schrift:  „Der  Verteidiger  des  Friedens"  formuliert  {Eicken  774). 
Dieser  Gedanke  führt  zu  dem  Begriff  der  Volkssouveränität, 
der  in  den  neueren  Staatstheorien  eine  so  große  Rolle  spielt.  Das 
Mittelalter  hat  also  die  beiden  einander  so  lange  bekämpfenden  An- 
sichten, die  Vertragstheorie  und  die  organische  Auf- 
fassung des  Staates,  bereits  gekannt  und  so  der  neueren  Zeit  die 

Wege  gebahnt*). 

Die  Zeit  der  Renaissance  (etwa  1450—1550)  bringt  nicht 
nur  die  „Wiedergeburt"  des  klassischen  Altertums,  sondern  vor  allem 
eine  mächtige  Irstarkung  des  individuellen  oder,  richtiger  gesagt,  des 

)  Ins  Mittelalter  gehört  der  Zeit  nach  auch  der  im  14.  Jahrhundert  lebende 
arabische  Soziolog  Ibn-Chaldun.  Seine  Einleitung  in  die  Geschichtswissenschaft 
-i  unter  dem  Titel  „Prolegomenes  historiques  d' Ibn-Chaldun"  im  Jahre  1857 
ins  Französische  übersetzt  worden.  Ludwig  üumnlowicz  hat  auf  die  Bedeutung 
dieses  Forschers  in  seinen  „Soziologischen  Essays"  (1899),  S.  14Qff.,  hingewiesen 
und  zahlreiche  Proben  seines  Werkes  gegeben.  Ibn-Chaldun  hat  die  Abhängig- 
keit der  soziologischen  Struktur  menschlicher  Gesellschaften  von  der  Umgebung, 
besonders  vom  Klima  deutlich  erkannt,  die  Entstehung  des  Staates  auf  Eroberung 
und  Kampf  zurückgeführt,  die  Bedingungen  von  Blüte  und  Verfall  der  Staaten 
untersucht  und  dabei  ganz  moderne  Anschauungen  vorweggenommen.  Eine  voll- 
ständige deutsche  Übersetzung  seines  Werkes  aus  dem  in  Paris  befindlichen 
arabischen  Original  wäre  sehr  wünschenswert. 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  2i  5 

persönlichen  Bewußtseins  und  damit  ein  kräftiges  Be- 
dürfnis nach  persönlicher  Lebensgestaltung.  Damit  hängt  in  der  bereits 
oben  angedeuteten  Weise  eine  viel  intensivere  Beschäftigung  mit  der 
objektiven  Welt  der  Tatsachen  und  eine  größere  Wert- 
schätzung der  diesseitigen  Wirklichkeit  zusammen.  Diese 
Tendenzen  kommen  in  den  beiden  wichtigsten  Kulturströmungen  der 
Renaissance,  im  Humanismus  und  in  der  Reformation,  in 
Verschiedener  Weise  zum  Ausdruck. 

Der  Humanismus  ist  die  Reaktion  gegen  das  asketische  Mönchs- 
ideal des  Mittelalters.  Das  irdische  Dasein,  das  nur  eine  Vorbereitung 
für  das  wahre  Leben  im  Jenseits  sein  sollte,  gewinnt  selbständigen 
Wert.  Es  lohnt  der  Mühe,  diese  Welt  kennen  zu  lernen  und  das  Leben 
ästhetisch  auszugestalten.  Hier  findet  die  eigene  Vernunft,  hier  findet 
die  menschliche  Bildkraft  ein  reiches  Gebiet  lustvoller  Betätigung. 
Diese  Lebensstimmung  führt  in  Italien,  wo  die  Erinnerung  an  die 
große  Römerzeit  immer  lebendig  geblieben  war,  zur  Wiederbelebung 
der  klassischen  Studien,  und  diese  wirken  ihrerseits  befruchtend  auf 
den  neuen  Geist  zurück.  Einen  wichtigen  Faktor  bildet  dabei  die  durch 
Griechen  aus  Konstantinopel  vermittelte  Kenntnis  der  hellenischen 
Dichtkunst,  Geschichte  und  Philosophie.  Es  eröffnen  sich  da  neue 
Ausblicke  auf  die  Natur  und  tiefe  Einblicke  in  die  Seele  des  Menschen. 
Aus  dieser  Bewegung  entwickelt  sich  in  den  nächsten  Jahrhunderten 
die  neue  Wissenschaft,  die  neue  Kunst  und  die  neue  Philosophie. 
Hier  wurde  der  forschende  und  der  schaffende  Mensch  der  Neuzeit 
geboren. 

Die  Reformation  wendet  sich  gegen  die  Verweltlichung  und 
gegen  die  Tyrannei  der  römischen  Kirche.  Schon  im  Mittelalter  macht 
sich  das  Bedürfnis  nach  individueller,  nach  persönlicher  Frömmigkeit 
in  der  tiefgründigen  Mystik  eines  Berthold  v.  Regensburg  und  eines 
Meister  Eckkart  geltend.  Damit  verbindet  sich  nun  im  Anfang  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  der  Widerstand  gegen  Rom,  und  so  ver- 
einigen sich  religiöse  und  nationale  Strömungen  zu  der  großen  prote- 
stantischen Bewegung.  Die  passive  Entgegennahme  der  Gnadenmittel 
aus  der  Hand  der  übermächtigen  Kirche  vermag  die  kräftig  erwachte 
persönliche  Frömmigkeit  nicht  mehr  zu  befriedigen.  Luther  mW  Christum 
in  sich  selbst  lebendig  werden  lassen  und  verlangt  deshalb  Recht- 
fertigung durch  den  lebendigen  innerlichen,  persönlichen  Glauben. 
Der  Protestantismus  ist  zwar  später  ebenfalls  zur  autoritativen  Kirche 
ausgestaltet  worden,  allein  der  freien  Entfaltung  persönlicher  Über- 
zeugung wird  doch  ein  größerer  Spielraum  gelassen. 

Gleichzeitig  mit  den  Bewegungen  des  Humanismus  und  der 
Reformation  macht  sich  in  den  Kulturländern  Europas  ein  kräftiges 
Erstarken  des  Nationalbewußtseins  bemerkbar.  Unter  dem 
Einfluß  dieser  drei  Strömungen  erfahren  die  Ansichten  vom  Wesen 
des  Staates  wichtige  Veränderungen.  Der  berühmte  und  berüchtigte 
Verfasser  des  Buches  „Der  Fürst"  (II  Principe,  zum  erstenmal  1532 
gedruckt),  Machiavelli,  will  einen  einheitlichen  italienischen  Staat 
begründen,  der  von  der  Kirche  ganz  unabhängig  sein  soll.  Deswegen 
rät  er  seinem  „Fürsten",  die  Autorität  und  die  Macht  des  Staates 


234  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

vor  allem  durch  Klugheil  und  Kraft  zur  Geltung  zu  bringen  und  aus- 
zudehnen, ohne  sich  dabei  durch  moralische  Skrupel  beengen  zu  lassen. 
Machiavelli  hat  deutlich   erkannt,  daß  der  Staat  auf   Machtverhält- 
nissen beruht  und  zu  seiner  Erhaltung  die  stärksten,  mitunter  auch 
grausame    Machtmittel    nicht    entbehren    könne.    Wer    ist    nun    der 
1  räger  dieser  staatlichen  Gewalt?    Diese  Frage  wurde  im  sechzehnten 
und  im  siebzehnten  Jahrhundert  viel  erörtert.    Der   Franzose  Jean 
Bodin   tuest.    1596)   hat  sich   in  seinen   1577  erschienenen   Büchern 
„Vom  Staate"  damit  beschäftigt  und  den  Begriff  der  Souveränität 
klar    herausgearbeitet.    Es    kann    verschiedene    Regierungsgewalten 
geben,  aber  es  gibt  im  Staate  nur  eine  Souveränität.   Die  verschiedenen 
Staatsformen  entstehen  dadurch,    daß  die   Souveränität    beim 
Fürsten,  bei  den  Aristokraten  oder  bei  dem  Volke  sei.    Dagegen  be- 
hauptet '  Alth usius  (gest.  163S),  daß  die  Souveränität  immer  nur  der 
Gesamtheit,    immer    dem    Volke    gehöre.     Das    Verhältnis    des 
Herrschers    zu    den    Beherrschten    beruhe    auf    einem    widerruf- 
lichen Vertrag.   Eine  eigene  Behörde,  die   E  p  h  o  r  e  n,  müsse 
darüber  wachen,  daß  der  Herrscher  seine  Pflichten  erfülle.  Alihusius 
darf  als  der   Schöpfer  einer  Theorie  des  Gesellschaftsvertrages 
angesehen   werden    und   hat   damit   mächtig   auf   die   Folgezeit   ein- 
gewirkt*).   Ebenso  hat  sein  entschiedenes  Eintreten  für  die  „Volks- 
souveränität" diesen  Begriff  zum  unverlierbaren  Besitz  der  Staatslehre 
gemacht. 

Hugo  Orotius  hat  durch  sein  im  Jahre  1625  erschienenes  Werk 
„Vom  Rechte  des  Krieges  und  Friedens"  (De  jure  belli  ac  pacis)  die 
naturrechtliche   Auffassung  des   Staates  begründet.    Orotius 
betrachtet  den   Menschen  wie  Aristoteles  als  soziales  Wesen  und  ist 
überzeugt,  daß  Gefühl  und  Bedürfnis  zur  Vergesellschaftung  treiben. 
Die  in  der  menschlichen  Natur  selbst  liegenden  Bedingungen,  welche 
erfüllt  sein  müssen,  damit  ein  geordnetes  Zusammenleben  der  Menschen 
möglich   werde,   bilden   in   ihrer  Gesamtheit  das,  was   Orotius  das 
„N  a  t  u  r  r  e  c  h  t"  nennt.    Die  Bestimmungen  desselben  sind  unver- 
änderlich, und  nicht  einmal  Gott  könnte  sie  umstoßen.    Eine  der  wich- 
tigsten Verpflichtungen,  die  aus  dem  Naturrecht  fließen,  ist  die,  daß 
einmal  eingegangene  Verträge  gehalten  werden  müssen.    Das  gebietet 
die   allen    Menschen    gemeinsame   und   darum   natürliche   Vernunft. 
Nun  beruht  nach  Orotius  der  Staat  selbst  auf  einem  stillschweigenden 
Vertrag,  und  deswegen  verlangt  das  Naturrecht,  daß  der  Staat  er- 
halten  bleibe  und  daß   alles,  was  ihn  zerstört,  zu  unterlassen   sei. 
Orotius  betrachtet  deshalb  die  Staatsgewalt  als  eine  unbedingte,  gegen 
die  sich    aufzulehnen   dem   Naturrecht  widerspreche.    Diese   Staats- 
gewalt gehört  aber  nach  Orotius  keineswegs,  wie  Alt/iusius  meinte, 
immer  dem  Volke,  sondern  sie  steht  dem  zu,  dem  sie  durch  ausge- 
sprochenen oder  stillschweigenden  Kontrakt  übertragen  wurde. 

*)  Girrckc  hat  in  seinem  überaus  lehrreichen  und  bedeutenden  Werke  über 
Johannes  Althusius  (2.  Aufl..  1902)  eine  Reihe  solcher  Nachwirkungen  erwiesen 
und  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  vermutet,  daß  Rousseau  die  „Politica"  des 
Althusius    benutzt  hat. 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  235 

Grotius  führt  zur  Begründung  seiner  Theorien  eine  oft  ver- 
wirrende Fülle  von  Stellen  aus  antiken  Schriftstellern,  aus  dem  Alten 
und  Neuen  Testament,  aus  den  Kirchenvätern  und  gelehrten  Werken 
an.  Er  zeigt  entschieden  die  Anfänge  geschichtlichen  Denkens,  seine 
Theorie  ruht  aber  im  ganzen  und  großen  doch  auf  individua- 
listischer Grundlage.  Die  von  Natur  aus  gleichberechtigten  und 
gleich  veranlagten  Menschen  schließen  sich  aus  freiem  Willen  zu 
einem  Gemeinwesen  zusammen,  das  auf  einem  ausgesprochenen  oder 
stillschweigenden  Vertrag  beruht.  Grotius  macht  den  herrschenden 
Meinungen  seiner  Zeit,  vielleicht  auch  manchmal  den  Herrschern, 
allerlei  Konzessionen,  allein  im  ganzen  genommen  ist  das  Naturrecht 
und  der  Vertrag  doch  eine  Schöpfung  des  Individualismus.  Dies  wird 
vollständig  klar  bei  Thomas  Hobbes,  der  die  Vertragstheorie  mit  rück- 
sichtsloser Konsequenz  ausgebildet  hat. 

Hobbes  ist  radikaler  Individualist.  Nach  seiner  Überzeugung 
ist  der  Mensch  ursprünglich  ein  durchaus  ungeselliges  Wesen. 
Das  sieht  man  deutlich,  meint  er,  wenn  man  die  Menschen  im  Verkehr 
miteinander  beobachtet.  Jeder  sucht  da  seinen  eigenen  Vorteil,  auch 
durch  die  Schädigung  der  anderen,  seine  eigene  Unterhaltung,  wobei 
er  meist  den  Nebenmenschen  verspottet,  oder  trachtet,  sich  irgendwie 
hervorzutun,  zu  welchem  Zwecke  er  gerne  andere  herabsetzt.  Alle 
Menschen  sind  von  Natur  aus  gleich,  und  die  meisten  haben  einen 
Hang,  einander  gegenseitig  zu  bekämpfen  und  zu  verletzen  {Hobbes, 
English  works,  II,  p.  3  ff.).  Von  Natur  aus  hat  jeder  ein  Recht  auf 
alles,  und  da  jeder  dieses  Recht  gegenüber  den  anderen  geltend  macht, 
so  muß  der  natürliche  Zustand  des  Menschengeschlechtes  notwendiger- 
weise zu  einem  Kampf  aller  gegen  alle,  zu  ewigem  Streit 
und  Krieg  werden.  Da  ein  solcher  Zustand  zum  Untergang  hätte 
führen  müssen,  so  zwang  der  Selbsterhaltungstrieb  die  Menschen  dazu, 
auf  einzelne  Rechte  zu  verzichten,  sich  zu  einem  Gemeinwesen  zu- 
sammenzuschließen und  die  Gewalt  an  einen  einzelnen  oder  an  eine 
Ratsversammlung  zu  übertragen.  So  beruht  der  Staat  auf  einem 
durch  die  Selbsterhaltung  gebotenen  Gesellschaftsvertrag. 
Die  Herrscher  oder  die  Ratsversammlung  sind  in  der  Ausübung  der 
Gewalt  ganz  uneingeschränkt,  da  ihnen  das  Herrscheramt  kraft  des 
Kontraktes  unbedingt  übertragen  ist.  Der  Vertrag  ist  nämlich  nach 
Hobbes  nur  zwischen  den  einzelnen  Mitgliedern  des  Gemeinwesens 
untereinander,  aber  nicht  zwischen  ihnen  und  dem  Herrscher  ge- 
schlossen. Dieser  besitzt  daher  seine  Gewalt  durch  freiwillige  Über- 
tragung und  ist  in  keiner  Weise  durch  Kontrakt  gebunden  (Leviathan, 
c.  18,  English  works,  III,  161).  Hobbes'  Staatslehre  begründet  also 
den  Absolutismus,  wie  er  sich  im  siebzehnten  und  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert in  ganz  Europa  ausbildete. 

Die  Idee  der  Volkssouveränität,  die  bei  Hobbes  und  einigen 
späteren  Theoretikern  zurücktrat,  wird  wieder  kraftvoll  betont  von 
Rousseau,  der  in  seinem  1762  erschienenen  Buch  „Vom  Gesellschafts- 
vertrag" (Du  contrat  social)  den  führenden  Männern  der  fran- 
zösischen Revolution  die  leitenden  Gesichtspunkte  gegeben  hat.  Das 
Volk  kann  sich  nach  Rousseaus  Ansicht  nicht,  wie  Grotius  meinte, 


2  Mj  Soziologie  und  Oeschichtspliilosophic 

einem    König  ganz   anheimgeben,   bevor  es  ein   Volk  geworden   ist. 
Ein  Volk  aber  wird  es  erst  dadurch,  daß  jeder  Einzelne  seine  persön- 
lichen   Rechte    durch    einen    ausgesprochenen   oder   stillschweigenden 
Vertrag  der  Gesamtheit  übergibt.    Dazu  aber  werden  die  ur- 
sprünglich   zerstreut   lebenden   Menschen  durch  die   Bedürfnisse  der 
Selbsterhaltung  gezwungen.    Ist  aber  die  Vereinigung  erfolgt,  dann 
besitzt  der  Einzelne  keine  Rechte  mehr  und  alle  Macht  geht  auf  den 
des  a  m  t  w  i  1 1  e  n  (Volonte  generale)  über.  Dieser  bleibt  der  einzige 
I  räger  der  Souveränität  und  kann  sich  ihrer  unter  keinen  Um- 
ständen   entäußern.    Die  revolutionierende   Neuerung  Rousseaus  be- 
stand dann,  daß  er  den  Gesellschaftsvertrag  als  die  einzige  rechtliche 
Grundlage   des   Staates  ansah   und   den   von   den   meisten   früheren 
Theoretikern  daneben  noch  angenommenen  Unterwerfungs-  oder  Herr- 
schaftsvertrag durchaus  nicht  gelten  ließ  (üiereke,  Althusius,  S.  1 15  f.). 
Die  naturrechtlichen    Staatstheorien    des  siebzehnten   und  acht- 
zehnten  Jahrhunderts,   die   alle   auf  der    Lehre   vom   Gesellschafts- 
vertrag    beruhen*),     tragen     einen     ausgesprochen     individua- 
listischen Charakter.     Sie  leiten  die  menschliche  Gemeinschaft 
aus  dem  freien  Willen  der  im  vorstaatlichen  Zustand  lebenden  Indi- 
viduen  ab  und  gründen  deshalb  alle   Rechte  des  Staates  auf  aus- 
gesprochene  oder   stillschweigende   Verträge.    Das    Individuum   ent- 
äußert sich   aber   im   Gesellschafts-   oder   im   Unterwerfungsvertrag 
keineswegs  aller  seiner  ihm  ursprünglich  eigenen  Rechte.  Selbst  fiobbes, 
der  radikalste  Vertreter  des  Staatsabsolutismus,  gibt  im  21.  Kapitel 
seines  „Leviathan"  zu,  daß  dem  Individuum  auch  im  Staate  gewisse 
Rechte  verbleiben,  die  ihm  der  Herrscher  nicht  nehmen  kann.    Viel 
schärfer  betont  lohn  Locke,  der  den  Staat  als  eine  Anstalt  zum  Schutz 
des  Naturrechtes  betrachtet,  die  Ansprüche  der  einzelnen  Menschen. 
Die  Grundrechte  des  Individuums  sind  unveräußerlich  und  unüber- 
tragbar.   Der  Staat  ist  dazu  da,  diese  Grundrechte,  besonders  die 
Freiheit  und  das    Eigentum   des   Einzelnen,   zu  schützen. 
(Vgl.  Oiercke,  Althusius  114.) 

Christian  v.  Wolff  hat  in  seinem  achtbändigen  Werke  über  das 
Naturrecht  (1741—1749  erschienen)  strenge  zwischen  den  „an- 
geborenen" und  den  „erworbenen"  Rechten  der  Menschen  unter- 
schieden. Diese  angeborenen  Rechte  hat  der  Mensch  aus  der  Freiheit 
und  Gleichheit  des  Naturzustandes  herübergerettet,  und  kein  staat- 
liches Gesetz  kann  ihm  dieselben  entziehen.  Auch  Rousseau,  nach 
dessen  Lehre  die  „Volonte  generale"  absolute  Macht  hat,  spricht  in 
seinem  Buche  (II,  c.  4)  von  den  Grenzen  der  souveränen  Gewalt,  und 
so  bildet  sich  der  Gedanke  von  den  „unveräußerlichen  Menschen- 
rechten" aus.  In  Nordamerika  wurden  diese  Rechte  nach  der  Un- 
abhängigkeitserklärung  vom  Jahre  1776  in  die  Verfassungen  der  ein- 
zelnen  Staaten   aufgenommen   und   nach   ihrem   Muster  wurden  die 


•)   Den    innigen    Zusammenhang   von   Naturrecht   und   Sozialkontrakt   hat 
Adolf  Menzel  nachgewiesen   in  einem  überaus  lehr-  und  inhaltsreichen   Aufsatz 
ilirrecht    und    Soziologie",    Sonderabdruek    aus    der    Festschrift    für    den 
31.  deutschen  Juristentag,  Wien  1912. 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  237 

Menschenrechte  in  der  Konstitution  der  französischen  Republik  von 
3.  September  1791  formuliert  und  erhielten  Gesetzeskraft*). 

Die  naturrechtliche  und  zugleich  individualistische  Auffassung 
des  Staates  erhält  sich  bis  tief  in  das  neunzehnte  Jahrhundert 
hinein  und  liegt  strenggenommen  dem  politischen  Liberalismus  auch 
heute  noch  zugrunde.  Wissenschaftlich  wurde  sie  durch  die  tiefer  ein- 
dringende historische  und  ethnographische  Forschung  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  überwunden  und  vermochte  sich  den  sozial- 
reformatorischen  Bestrebungen  gegenüber  nicht  mehr  zu  behaupten. 
Die  naturrechtliche  Lehre  vom  Staatsvertrag  ist  wohl  endgültig  er- 
legen. „Sie  erlag,"  sagt  Oiercke  (Althusius  122)  sehr  treffend,  „aber 
noch  heute  genießen  wir  die  unverlierbaren  Errungenschaften,  da  sie 
inmitten  unsäglicher  von  ihr  verschuldeter  Irrtümer  und  Gefahren 
den  Gedanken  der  Freiheit  und  des  Rechtes  erkämpft  hat." 

Gegen  das  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  beginnen  sich 
in  Europa  und  in  Amerika  tiefgreifende  Veränderungen  in  der 
Struktur  der  Gesellschaft  zu  vollziehen,  die  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  immer  größere  Dimensionen  annehmen  und  in 
unserer  Zeit  auch  die  Völker  des  nahen  und  des  fernen  Ostens  mächtig 
bewegt  haben  und  noch  bewegen.  Dadurch  entsteht  starke  Un- 
zufriedenheit mit  den  bestehenden  Gesellschaftsordnungen  und  das 
führt  in  den  verschiedenen  Ländern  zu  heftigen  Reformbestrebungen 
sowie  auch  zu  politischen  und  sozialen  Revolutionen.  Alles  das  regt 
nun  die  denkenden  Köpfe  und  die  warm  fühlenden  Herzen  dazu  an, 
das  Wesen  und  Werden,  die  Gesetze  und  die  möglichen  Gestaltungen 
des  menschlichen  Zusammenlebens  zum  Gegenstand  des  ernstlichen 
Nachdenkens  zu  machen.  Immer  deutlicher  und  immer  tiefer  wird  die 
Notwendigkeit  einer  eigenen  Wissenschaft  empfunden,  die  sich  die 
Erforschung  des  Wesens  und  Werdens  der  menschlichen  Gesellschaft 
zur  Aufgabe  macht,  bis  diese  dann  in  der  ersten  Hälfte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  wirklich  geschaffen  wird  und  nun  eifrige  Pflege 
findet. 

In  der  großen  französischen  Revolution  vom  Jahre  1789  wurden 
zunächst  die  Vorrechte  des  Adels  und  der  Geistlichkeit  gebrochen,  und 
der  „dritte  Stand"  (tiers  etat),  der  sich  aus  Bürgern  und  Arbeitern 
zusammensetzte,  trat  als  Vertreter  der  ganzen  Nation  auf  den  Plan. 
Nach  den  Grundsätzen  der  Freiheit,  Gleichheit  und  Brü- 
derlichkeit soll  nun  ein  neuer  Staat  und  eine  neue  Gesellschafts- 
ordnung begründet  werden.  In  der  Nacht  des  4.  August  1789  wurden 
die  allgemeinen  Menschenrechte  feierlich  verkündet  und 
in  der  Verfassung  vom  3.  September  1791  rechtlich  sichergestellt. 
Bald  aber  machte  sich  innerhalb  des  „dritten  Standes"  der  Gegensatz 
zwischen  den  Besitzenden  und  den  Besitzlosen  geltend. 
Die  Masse  der  Besitzlosen  gelangte  zur  Macht,  und  in  der  Verfassung 
vom  Jahre  1793  wurde  der  Versuch  unternommen,  das  Prinzip  der 
absoluten  Gleichheit  mit  aller  Strenge  durchzuführen.  Das 


*)  Text  abgedruckt  bei  Altmann,  „Ausgewählte  Urkunden  zur  außerdeutschen 
Verfassungsgeschichte",  2.  Aufl.,  Berlin  1913. 


_>  ig  -    ziologie  und  Ocschich t?iihil> »Sophie 

führte  bekanntlich  zur  Schreckensherrschaft  und  im  weiteren  Verlauf 
zur   Beendigung  der   Revolution  durch   Napoleon.    Allein  die   Ideen 
von  1789  wurden  dadurch  keineswegs  vernichtet.  Sie  verbreiteten  sich 
vielmehr   über  ganz    Europa   und   erzeugten   dort  den   demokra- 
tischen Gedanken,  der  allmählich  dem  Bürgertum  seinen   Anteil 
an  der  Staatsgewalt  verschaffte.  Neben  diesen  politischen  Bewegungen 
gi  winnt  nun  im  neunzehnten  Jahrhundert  der  nationale  Gedanke 
immer  mehr  an  Boden  und  an  Kraft.  Die  von  den  klassischen  deutschen 
Dichtern  und  Denkern,  von  Herder,  von  Schiller,  von  Kant,  von  Goethe 
und    Wilhelm    \\  Humboldt,   großgezogene,   mit    soviel    Begeisterung 
und  Wärme  gehegte  und  gepflegte  Idee  des  Weltbürgertums 
und  der  Humanität  verliert  allmählich  ihre  werbende  Kraft  und 
wird  von  der  Liebe  zum  eigenen  Volkstum  zurückgedrängt.  In  Deutsch- 
land, in  Italien  und  in  den  slawischen  Ländern  entstehen  auf  nationaler 
Grundlage  neue  und  kräftige  Staatengebilde.    Nationalstaaten  aber 
haben   meistens  die  Tendenz,    die  errungene   Macht  nicht  bloß   zu 
erhalten,  sondern  auch  auszudehnen.    Diesem  Zwecke  dient  die  durch 
die  Fortschritte  der  Technik  so  sehr  begünstigte  Ausgestaltung  der 
Wehrmacht  und  der  ganzen  militärischen  Organisation.    Daraus  aber 
entsteht  ein  gewaltiges  Wettrüsten  der  Großstaaten,  die  sich  nunmehr 
ständig  in  offenem  oder  in  latentem  Kriegszustand  miteinander  be- 
finden. Die  so  entstandene  Kombination  von  Nationalismus  und  Mili- 
tarismus ist  zweifellos  eine  der  Hauptursachen  des  Weltkrieges  ge- 
worden, der  vier  Jahre  lang  alle  Kontinente  und  Meere  durchzittert 
hat.   Der  Krieg  selbst  und  die  großen  politischen,  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Umwälzungen,    die  er  zur  Folge  hatte,    regen  nun  wieder 
mächtig  zum   Nachdenken  an    über  diese  so  überaus  komplizierten 
Wechselbeziehungen   zwischen  den   Einzelnen   und   der  Gesellschaft, 
über  die  sich  immer  mehr  erweiternden  Aufgaben  des  Staates,  über  das 
Verhältnis  von  Staat  und  Nation  und  ganz  besonders  über  die  so 
schwierige  Regelung  der  neuen  zwischenstaatlichen  Beziehungen.  Der 
Gedanke  von   der  Solidarität  aller   Menschen  wird  wieder  lebendig 
und  schreit  geradezu  nach  irgendeiner  Form  seiner  Verwirklichung. 
All   das   fordert   nun   gebieterisch   den    Ausbau   einer   wissenschaft- 
lichen Gesellschaftslehre.    In  diesem  Sinne  habe  ich  schon  in  meinem 
im  Jahre  1915  erschienenen  Buche  „Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesell- 
schaftslehre" gesiigt,  die  denkende  Betrachtung  des  Weltkrieges  müßte 
eine  Soziologie  schaffen,  wenn  sie  nicht  schon  da  wäre.    Sicher  ist, 
daß  der  Krieg  das  Interesse  für  diese  junge  Wissenschaft  mächtig 
angeregt   hat,  wie  wir  weiter  unten   noch   deutlicher  sehen  werden. 
Noch  wichtiger  aber  als  die  politischen  und  die  nationalen  Bewegungen 
erscheinen   für  die    Entstehung    und   für  die  Weiterentwicklung  der 
Soziologie  die  gewaltigen  Veränderungen  im  Wirtschaftsleben, 
die  sich  in  den  letzten  150  Jahren  auf  der  bewohnten  Erde  vollzogen 
haben.     Die   Erfindung  der   Dampfmaschine   (1770)   ermöglichte  es 
zunächst,  im   Bergbau,  in  der  Spinnerei  und  Weberei,  dann  auch  in 
der  Metallbearbeitung,   bei  den   Mühlen,  bei  der  Holzindustrie  und 
in  vielen  anderen   Produktionsgebieten  den  Großbetrieb  einzuführen, 
wodurch    das   kleinbürgerliche    Handwerk   sehr   viel   von    seiner    Be- 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  239 

deutung  verlor.  Die  großen  Fortschritte  der  Chemie  hatten  zur  Folge, 
daß  nunmehr  Farbwaren,  Heilmittel  und  Sprengstoffe  fabrikmäßig 
erzeugt  werden  konnten.  Die  Verwendung  der  Elektrizität  für 
Beleuchtung  und  Kraftübertragung  läßt  wieder  zahlreiche  neue  In- 
dustriezweige entstehen.  Die  Folge  von  dem  allen  ist  zunächst  eine 
ganz  ungeahnte  Vermehrung  der  Güterproduktion,  wodurch  die  Waren 
verbilligt  und  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  werden  konnten. 
Durch  die  Erfindung  der  Eisenbahnen,  der  Dampfschiffe,  des  Tele- 
graphen und  des  Telephons  sind  dann  der  Industrie  ganz  neue  und 
sehr  große  Absatzgebiete  erschlossen  und  für  den  Handel  und  für 
den  Weltverkehr  vorher  kaum  geahnte  Wege  und  Entwicklungs- 
möglichkeiten eröffnet  worden.  Eine  Weltwirtschaft  ist  ent- 
standen und  dadurch  ist  die  Zusammengehörigkeit  und  die  gegenseitige 
Abhängigkeit  der  verschiedenen  Länder  der  Erde  in  ganz  außerordent- 
lich hohem  Grade  gesteigert  und  zugleich  zum  Bewußtsein  gebracht 
worden.  Die  Störungen  dieser  Weltwirtschaft,  die  der  große  Krieg 
und  seine  Nachwirkungen  zur  Folge  hatten,  werden  jetzt  von  Siegern 
und  Besiegten  in  gleicher  Weise  gefühlt,  und  man  sieht  deutlich, 
wie  überall  das  Streben  hervortritt,  den  Weltverkehr  wiederherzustellen. 
Das  Wirtschaftsleben  hat  infolge  der  kolossalen  Ausdehnung  des 
Handelsverkehres  in  den  letzten  Jahrzehnten  einen  immer  stärkeren 
Einfluß  auf  die  Struktur  der  Gesellschaft  ausgeübt.  Ein  überaus 
kompliziertes  System  von  Banken  und  anderen  Kreditinstituten  hat  sich 
ausgebildet,  das  den  Weltverkehr  und  die  damit  verbundenen,  oft  sehr 
verwickelten  gegenseitigen  Verrechnungen  vereinheitlicht  und  damit 
wesentlich  vereinfacht.  Eine  bisher  vielleicht  nicht  genügend  beachtete 
Folge  dieser  tief  in  das  Leben  der  Menschen  eingreifenden  Wirtschafts- 
gebarung besteht  darin,  daß  die  Bedeutung  und  die  Wertschätzung 
des  Geldes  eine  geradezu  ungemessene  Steigerung  erfahren  hat. 
Das  Geld  ist  heute  weit  mehr  als  ein  allgemeines  Tauschmittel.  Es 
wächst  sich  vielmehr  immer  deutlicher  zum  absoluten  Wert- 
maßstab aus,  an  dem  und  mittels  dessen  nicht  bloß  die  Rentabilität 
eines  Unternehmens,  nicht  nur  der  Preis  einer  Ware,  sondern  auch 
der  Wert  wissenschaftlicher,  künstlerischer  und  an- 
derer g  ei  st  ig  en  Leistungen  gemessen  oder  doch  abgeschätzt  wird. 
Die  Überzeugung,  daß  man  für  Geld  alles  haben  kann,  dringt  immer 
weiter  vor,  und  das  Wort  des  Geizigen  in  tiorazens  erster  Satire: 
„Quia  tanti,  quantum  habeas,  sis",  das  heißt:  „Man  gilt  so  viel,  als 
man  hat",  ist  heute  zweifellos  wahrer  als  im  Rom  des  Augustus.  Es 
ist  deshalb  wahrer,  weil  man  heute  nicht  nur  den  Gesamtbesitz  eines 
Staates  und  aller  seiner  Bürger  als  „Nationalvermögen"  ziffermäßig 
darstellt,  sondern  in  neuerer  Zeit  sogar  darangegangen  ist,  „den 
Kostenwert  des  Menschen"  zu  berechnen.  Es  bildet  sich  eben,  wie  ich 
in  meinem  Buche  „Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre"  (37  ff.) 
gezeigt  habe,  eine  panökonomische  Lebensanschauung 
aus,  die  mir  als  ein  besonders  charakteristisches  Merkmal  der  mo- 
dernen Zivilisation  erscheint.  Nun  hat  man  schon  im  Altertum  gegen 
das  Überhandnehmen  der  Habsucht  und  der  Geldgier  geeifert,  und 
solche   Klagen  kehren  in  allen  Perioden  der  Weltgeschichte  wieder, 


2\o  Soziologie  und  üeschichtsphilosophic 

allein  erst  die  im  1  ante  des  letzten  Jahrhunderts  einsetzende  Ent- 
wicklung  der  Weltwirtschaft  hat  die  alles  beherrschende,  das  ganze 
1  eben  durchdringende  zentrale  Bedeutung  und  soziale  Macht  des 
Geldes  gezeitigt.  Nicht  nur  der  Staat  mit  seinen  sich  immer  mehr 
erweiternden  Aufgaben,  sondern  auch  alle  wissenschaftlichen,  künst- 
lerischen und  sonstigen  kulturellen  Bestrebungen  geraten  immer  mehr 
in  Abhängigkeit  vom  Gelde  und  damit  von  den  über  große  Geldmittel 
verfügenden  Personen  und  Instituten.  In  allen  Geldfragen  gibt  es  aber 
der  Natur  der  Sache  nach  nur  rein  verstandesmäßige  Be- 
rechnung,  die  auf  skrupellosem  Egoismus  aufgebaut  ist.  Die 
panökonomische  Lebensanschauung  ist  eben,  wie  ich  in  dem  oben- 
genannten  Kriegsbuche  dargelegt  habe,  als  egoistischer  In- 
tellektualismus oder  als  intellektualistischer 
I  g  o  i  s  m  u  s  zu  charakterisieren.  Georg  Simmel  hat  in  seinem  ge- 
dankenreichen Buche  „Die  Philosophie  des  Geldes",  besonders  in  dem 
Abschnitt  „Die  Not  des  Lebens"  (S.  455  ff.),  den  rein  intellektuali- 
stischen,  so  ganz  unpersönlichen  Charakter  des  Geldes  und  der  Geld- 
wirtschaft sehr  fein  herausgearbeitet.  Was  aber  noch  nicht  genügend 
durchforscht  worden  ist,  das  sind  die  tiefen  soziologischen  Wirkungen 
dieser  durch  die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft  entstandenen  Lebens- 
anschauung.  Die  Gesellschaftslehre  wird  zu  untersuchen  haben,  ob 
das  Wirtschaftsleben  wirklich  nur  unter  der  Herrschaft  des  intellek- 
tualistischen  Egoismus  gedeihen  und  sich  weiterentwickeln  kann. 
Alan  wird  fragen  müssen,  ob  das  Geld  wirklich  auch  in  Zukunft  der 
absolute  Wertmaßstab  bleiben  muß  oder  bleiben  darf.  Wenn  die 
Soziologie,  wie  Müller-Lyer  will,  zur  Kulturbeherrschung 
führen  soll,  so  wird  sie  die  panökonomische  Lebensanschauung  nicht 
als  unvermeidliches  Schicksal  hinnehmen  dürfen,  sondern  bemüht  sein, 
die  der  Menschenseele  zweifellos  innewohnenden  Kräfte  aufzusuchen 
und  zur  Entfaltung  zu  bringen,  die  den  ebenso  starken  als  tief  be- 
dauerlichen Wirkungen  dieser  immer  mehr  um  sich  greifenden  Lebens- 
anschauung entgegenzuarbeiten  geeignet  sind.  Wir  sind  heute  noch 
nicht  in  der  Lage,  die  Wege  zu  zeigen,  die  unsere  Wissenschaft  in 
dieser  Sache  einschlagen  wird,  allein  auf  das  ebenso  dringende  als 
schwierige  Problem,  das  hier  vorliegt,  glaubten  wir  doch  hinweisen 
/ti  müssen. 

Wir  wenden  uns  jetzt  den  konkreteren,  greifbareren,  leichter  er- 
sichtlichen und  deshalb  schon  wiederholt  beachteten  und  dargestellten 
Strukturveränderungen  der  Gesellschaft  zu,  die  sich  infolge  des  Auf- 
blühens der  Industrie,  des  Handels  und  des  Weltverkehres  im  Laufe 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  vollzogen  und  das  Nachdenken  über 
iologische  Fragen  mächtig  angeregt  haben.  Der  Großbetrieb  hatte 
zunächst  zur  Folge,  daß  sich  in  den  Fabriks-Orten  große  Scharen  von 
Arbeitern  ansammelten,  die  sich  selbst  und  ihre  Familien  nur  kümmer- 
lich fortbringen  konnten,  während  die  Unternehmer  immer  reicher 
wurden  und  ihren  Reichtum  vor  den  Augen  der  Arbeiter  ungestört 
genießen  durften.  Der  schrankenlose  Egoismus,  der  im  Geschäftsleben 
allgemein  als  selbstverständlicher  Grundsatz  betrachtet  wird,  hatte 
zur   I  olge,    daß  der  Arbeitslohn  von  den  Unternehmern    möglichst 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  241 

niedrig  gehalten  wurde  und  bald  kaum  ausreichte,  um  die  dringendsten 
Lebensbedürfnisse  der  Arbeiter  zu  befriedigen.  Um  den  Gewinn  noch 
mehr  zu  steigern,  zog  man  Frauen  und  Kinder  zur  Arbeit  heran,  und 
dadurch  wurde  das  Elend  der  arbeitenden  Klassen  bald  so  offen- 
sichtlich, daß  edle  Menschenfreunde  mit  warmen  und  beredten  Worten 
darauf  hinwiesen  und  Abhilfe  forderten.  Besonders  in  England,  wo 
die  Industrie  sich  am  frühesten  und  am  raschesten  entwickelt  hatte, 
traten  schon  am  Ende  des  achtzehnten  und  gleich  zu  Beginn  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  wiederholt  Männer  auf,  die  auf  die  traurigen 
Zustände  hinwiesen  und  Vorschläge  zur  Besserung  machten.  Charles 
Hall,  William  Oodwin,  Robert  Owen  und  William  Thompson  haben 
in  diesem  Sinne  gewirkt  und  die  Abhilfe  der  Übelstände  von  der  Ein- 
sicht der  Regierungen  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  erhofft.  Da 
jedoch  die  Staatsgewalt  unter  dem  Einflüsse  der  besitzenden  Klasse 
stand,  so  blieben  alle  diese  Bemühungen  erfolglos.  Die  Gesetzgebung 
stellte  sich  vielmehr  anfangs  ganz  auf  die  Seite  der  Unternehmer. 
Man  verbot  den  Arbeitern  jede  Art  von  Zusammenschluß  und  unter- 
drückte gelegentliche  Aufstände  mit  blutiger  Gewalt.  Erst  später  ent- 
wickelte sich  in  England  die  große  Gewerkschaftsbewegung 
(Trade-Unions),  durch  die  es  der  Arbeiterklasse  möglich  wurde,  auf 
friedlichem  Wege  ihre  materielle  Lage  erheblich  zu  bessern. 

In  Frankreich  ist  die  „industrielle  Gesellschaft" 
etwas  später  zur  vollen  Entfaltung  gelangt  als  in  England.  Allein 
in  diesem  Lande  der  zahlreichen  und  tiefgehenden  Staatsumwälzungen 
lagen  die  Reformgedanken  näher  als  in  dem  konservativen  England. 
Tatsächlich  haben  französische  Denker  die  Wirkungen  der  industriellen 
Entwicklung  auf  Staat  und  Gesellschaft  sehr  früh  erkannt,  und  in 
Frankreich  war  es,  wo  zuerst  sozialistische  und  kommu- 
nistische Systeme  entstanden,  die  zugunsten  der  arbeitenden  Klasse 
grundstürzende  Änderungen  der  ganzen  Gesellschaftsordnung  ver- 
langten. Noch  während  der  großen  Revolution  hat  Babeuf  eine 
kommunistische  Verschwörung  angezettelt,  die  den  Zweck  ver- 
folgte, das  Privateigentum  abzuschaffen  und  dadurch  eine  vollständige 
ökonomische  Gleichheit  aller  Staatsbürger  herzustellen. 
Babeuf  wurde  im  Jahre  1796  hingerichtet  und  seine  Verschwörung 
gewaltsam  unterdrückt.  Einer  seiner  Mitverschworenen,  namens 
Buonarotti,  veröffentlichte  viele  Jahre  später  die  Geschichte  dieser 
Verschwörung.  Dadurch  wurden  die  kommunistischen  Ideen  Babeufs 
wieder  allgemein  bekannt  und  fanden  in  den  dreißiger  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  unter  der  Regierung  Louis  Philip  pes  viele  An- 
hänger. Auf  Grund  dieser  Gedanken  hat  dann  Cabet  seine  berühmte 
„Reise  nach  Ikarien"  (1842)  verfaßt  und  hier  in  der  Form  einer  Utopie 
ein  System  des  Kommunismus  entworfen. 

Es  waren  aber  schon  vorher  in  Frankreich  Männer  erstanden, 
die  das  Wesen  der  industriellen  und  kapitalistischen  Wirtschafts- 
entwicklung tief  erfaßten,  die  dadurch  hervorgerufene  traurige  Lage 
der  arbeitenden  Klasse  als  Unrecht  empfanden,  zugleich  aber  auch 
erkannten,  daß  diesen  Übelständen  nur  durch  tiefgreifende  Änderung 
der  ganzen  Gesellschaftsordnung  abgeholfen  werden  könne.  Damit  ver- 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


242  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

banden  sie  auch  die  von  Adam  Smith  zum  erstenmal  ausgesprochene 
Überzeugung,  daß  die  menschliche  Arbeit  die  weitaus  wichtigste 
wertschaffende  Kraft  sei.  Daraus  leiteten  diese  Männer  den  Grundsatz 
ab,  daß  das  Einkommen  jedes  Menschen  nach  Maßgabe  seiner  wirklich 
geleisteten  produktiven  Arbeit  geregelt  werden  müsse,  und  daß  ein 
arbeitsloses  Einkommen  in  einem  Rechtsstaate  nicht  geduldet  werden 
solle.  Das  System  einer  solchen  auf  Grundlage  der  Arbeit  auf- 
gebauten Gesellschaftsordnung  bezeichnet  man  heute  allgemein  als 
Sozialismus,  der  sich  neben  dem  Kommunismus  zuerst  in  Frank- 
reich entwickelt  hat.  Henri  Saint-Simon  und  seine  Schüler,  besonders 
ßazard,  dann  Charles  Fourler  und  später  Pierre  Joseph  Proudhon, 
verdienen  da  vor  anderen  genannt  zu  werden. 

Durch  die  Schriften  dieser  Männer  und  die  dadurch  entstandenen 
sozialen  Bewegungen  hat  sich  zunächst  der  Arbeiterstand  zu 
einer  mächtigen  und  bedeutsamen  Gesellschaftsklasse  entwickelt,  die 
nicht  nur  ihre  materielle  Lage  zu  verbessern,  sondern  eine  vollständige 
Umgestaltung  der  Gesellschaftsordnung  herbeizuführen  bestrebt 'ist. 
Diese  Klasse  nennt  sich  schon  seit  längerer  Zeit  das  Proletariat 
und  bildet  heute  einen  überaus  wichtigen  Faktor  der  politischen,  der 
wirtschaftlichen  und  der  sozialen  Entwicklung.  Durch  die  energische 
Tätigkeit  von  Karl  Marx,  Friedrich  Engels  und  ihrer  zahlreichen 
Jünger  hat  das  Proletariat  in  den  letzten  Jahrzehnten  inter- 
nationalen Charakter  angenommen,  wodurch  die  soziologische 
Bedeutsamkeit  dieser  Gesellschaftsklasse  noch  wesentlich  erhöht  wurde. 
Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  den  Verlauf  der  durch  alle  die  bisher 
erwähnten  Momente  entstandenen  sozialen  Bewegungen  im  einzelnen 
zu  verfolgen  und  die  dadurch  hervorgerufenen  Veränderungen  in  der 
Struktur  der  Gesellschaft  darzustellen.  Wir  haben  nur  zu  zeigen,  wie 
dadurch  das  Nachdenken  über  das  Wesen  und  Werden  des  mensch- 
lichen Zusammenlebens  mächtig  angeregt  wurde,  wie  daraus  die 
Soziologie  als  dringend  notwendige  Wissenschaft  hervorging 
und  wie  sich  dieselbe  bis  zur  Gegenwart  entwickelt  hat. 

Da  finden  wir  nun,  daß  ungefähr  gleichzeitig  in  Frankreich  und 
in  Deutschland  zwei  Männer,  die  beide  mehr  denkende  Beobachter 
als  aktive  Teilnehmer  der  sozialen  Bewegungen  waren,  unabhängig 
voneinander  die  Notwendigkeit  einer  wissenschaftlichen  Durch- 
forschung des  menschlichen  Gemeinschaftslebens  klar  erkannt,  deutlich 
ausgesprochen  und  so  die  neue  Wissenschaft  von  der  Gesellschaft,  die 
Soziologie,  begründet  und  ihre  Aufgaben  bestimmt  haben. 

Der  französische  Denker  Auguste  Comte  (1798—1857)  ist  längst 
und  allgemein  als  Schöpfer  der  Soziologie  bekannt.  Comte  war 
in  seiner  Jugend  eine  Zeitlang  Sekretär  von  Saint-Simon  und  ist  von 
diesem  genialen  Denker  stark  beeinflußt.  Schon  im  Alter  von  24  Jahren 
schrieb  er  einen  Entwurf  zur  Reorganisation  der  Gesellschaft,  der 
bereits  die  wichtigsten  Grundgedanken  seines  Systems  enthält*).  Comte 

*)  Der  französische  Titel  der  Schrift  lautet:  „Plan  des  travaux  scientifiques 
necessaires  pour  reorganisier  la  societe"  (1822).  Wilhelm  Ostwald  hat  dieses 
Jugendwerk   Cumtcs  in   deutscher    Übersetzung   herausgegeben   und   in   seinem 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  243 

legt  bereits  hier  auf  die  wissenschaftliche  Durchdringung  des  Stoffes 
das  Hauptgewicht  und  verlangt  ausdrücklich  eine  „Wissenschaft  der 
Politik".  In  den  Jahren  1830—1842  arbeitet  er  dann  sein  System  der 
„positiven  Philosophie"  aus,  das  in  sechs  starken  Bänden  vorliegt. 
Comtes  Bemühung  geht  dahin,  von  der  „theologischen"  und  „meta- 
physischen" Betrachtungsweise,  die  dem  Kindesalter  der  Menschheit 
entstammt,  aber  noch  lange  nicht  ganz  überwunden  ist,  zur  einzig 
berechtigten  Methode  aufzusteigen,  die  er  die  „positive"  nennt.  Auf 
dieser  Entwicklungsstufe  muß  die  Wissenschaft  das  Forschen  nach 
letzten  Ursachen  und  ewigen  Substanzen  ganz  aufgeben  und  ihre 
Aufgabe  einzig  und  allein  darin  erblicken,  die  Tatsachen  und  Gesetze 
auf  Grund  exakter  Beobachtung  festzustellen,  damit  man  auf  diesem 
Wege  dazu  gelange,  die  Zukunft  vorherzusagen  („Voir  pour  prevoir"). 
Comte  entwirft  in  seinem  umfassenden  Werke  eine  Rangordnung,  eine 
„Hierarchie"  der  Wissenschaften,  wobei  er  von  den  einfachsten  und 
allgemeinsten  zu  den  komplizierteren  und  spezielleren  aufsteigt.  In 
den  ersten  drei  Bänden  behandelt  Comte  die  Mathematik,  die  Astro- 
nomie, die  Physik,  die  Chemie  und  die  Biologie.  Jede  spätere  Wissen- 
schaft setzt  die  vorhergehenden  alle  voraus,  die  Krönung  des  Ge- 
bäudes bildet  dann  die  letzte,  die  komplizierteste  und  zugleich  die  um- 
fassendste Wissenschaft  von  der  menschlichen  Gesellschaft.  Ihr  sind 
die  drei  letzten  Bände  des  „Cours  de  philosophie  positive"  gewidmet. 
Comte  nennt  sie  zuerst  „Physique  sociale"  und  will  damit  sagen, 
daß  er  die  Gesetze  der  sozialen  Entwicklung  nach  derselben  positiven 
Methode  zu  erforschen  beabsichtigt,  wie  sie  von  der  Naturwissenschaft 
befolgt  wird.  An  einer  Stelle  seines  Werkes  (IV,  185)  wendet  er  dann 
plötzlich  das  Wort  „sociologie"  an  und  spricht  sich  darüber  in  einer 
Anmerkung  aus.  Wir  setzen  die  Stelle  selbst  und  die  Anmerkung  her : 
„Seit  Montesquieu  verdankt  man  den  ersten  wichtigen  Schritt,  der 
inzwischen  in  der  grundlegenden  Konzeption  der  Soziologie 
gemacht  worden  ist,  dem  berühmten  und  unglücklichen  Condorcet." 
Dazu  die  Anmerkung:  „Ich  glaube,  von  jetzt  an  dieses  neue  Wort 
wagen  zu  dürfen,  das  meinem  bereits  eingeführten  Ausdruck  .soziale 
Physik'  völlig  gleichkommt,  um  mit  einem  einzigen  Namen  diesen 
Ergänzungsteil  der  Naturphilosophie  bezeichnen  zu  können,  der  sich 
auf  das  positive  Studium  der  sämtlichen  den  sozialen 
Erscheinungen  zugrunde  liegenden  Gesetze  bezieht"*). 
Comte  hat  die  Soziologie  als  philosophische  Universal- 
wissenschaft betrachtet,  die  es  allein  möglich  macht,  das  Wesen 
und  Werden  des  Menschengeistes  richtig  zu  verstehen.  Der 
einzelne  Mensch  ist  für  Comte  eine  Abstraktion.  Man  kann 
niemals,  sagt  er,  die  Menschheit  aus  dem  einzelnen  Menschen,  sondern 


Vorwort  wie  auch  in  den  Anmerkungen  auf  die  große  Bedeutung  und  besonders 
auf  die  Aktualität  dieser  Schrift  hingewiesen.  Auguste  Comte,  „Die  Organisation 
der  Gesellschaft."  Deutsch  von  Willi    Ostwald,  1914. 

*)  Die  drei  letzten  Bände  des  „Cours  de  philosophie  positive"  sind  unter 
dem  Titel  „Soziologie  von  Aucuste  Comte"  in  deutscher  Übersetzung  erschienen 
(Jena  1907,  3  Bände).  Dieser  deutschen  Ausgabe  ist  die  im  Text  gegebene 
Übersetzung  entnommen  (I,  184).  Die  Sperrungen  sind  von  mir. 

16* 


244  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

immer  nur  den  Menschen  durch  das  Studium  der  Menschheit  begreifen 
lernen.    Darin   lieg!   meiner  Überzeugung  nach   das   Hauptverdienst 
Comies.    Er  hat  ferner  den  aktivistischen  Charakter  der  So- 
ziologie sehr  energisch  betont.    Sie  hat  den  ausgesprochenen  Zweck, 
durch  tue   I  rkenntnis  der  Gesetze  der  gesellschaftlichen  Entwicklung 
die  Wege  zu  zeigen  zur  Herbeiführung  einer  befriedigenden  Gestaltung 
des  menschlichen   Zusammenlebens.     Diese  Gestaltung  hängt  seiner 
Überzeugung   nach   hauptsächlich    vom    intellektuellen    Fort- 
schritt der  Menschheit  ab.    Den  Weg  dazu  zeigt  sein  berühmt  ge- 
wordenes Gesetz   von   den   drei    Phasen,  die  die  Geistesentwicklung 
des    Menschen    notwendigerweise    durchlaufen    muß.     Die    Gesell- 
schaftslehre muß  den  theologischen  und  den  metaphysischen  Stand- 
punkt mit  aller   Entschiedenheit  aufgeben   und   sich  rückhaltlos  der 
„positiven",  das  heißt  der  rein  wissenschaftlichen  Methode  zuwenden. 
Man  muß  sowohl  die  Bedingungen  des  Gleichgewichtes  oder 
der  O  r  d  n  u  n  g  in  der  Gesellschaft  untersuchen  (s  o  z  i  a  le  Statik), 
wie  auch  die  Gesetze  des   Fortschrittes  und  der  Entwick- 
lung  (soziale  Dynamik).     Comte  hat  übrigens  auch  schon 
auf   den    Zusammenhang    zwischen    der    intellektuellen    und 
der  sozialen  Entwicklung  hingewiesen.    Der  theologischen  Welt- 
betrachtung entspricht  bei  ihm  der  militärische,  der  positiven 
der  industrielle  Typus  der  Gesellschaft,  der  sich  immer  deut- 
licher ausprägt.   Diese  Unterscheidung  hat  Herbert  Spencer  von  Comte 
übernommen.    Die  Abhängigkeit  des  Individuums  von  seiner  sozialen 
Umgebung  hat  Comte  wiederholt  betont  und  für  diese  Umgebung  den 
seither  allgemein  üblich  gewordenen  Ausdruck  „Milieu"  geprägt. 
Dagegen    hat    er    die    überaus    komplizierten    Wechselbeziehungen 
zwischen   dem    Einzelnen   und   der  Gruppe   nicht   näher  untersucht. 
Ebensowenig  findet  sich  bei  ihm  eine  gründliche  Erörterung  über  das 
Wesen  des  Staates  und  seiner  Beziehungen  zur  Gesellschaft.  Er  ver- 
langt zwar  in  seinem  späteren  Werke,  in  der  „Politique  positive",  die 
Herrschaft  der  Gelehrten    und  der  Weisen    und  will  eine   Art  von 
„Menschheitsreligion"  stiften,  in  der  die  Menschheit  als  das  „große 
Wesen"  göttlich  verehrt  werden   soll,  allein  er  fragt  nicht  danach, 
wie  die  Idee  der  ganzen   Menschheit  als  einer  großen   Einheit  ent- 
standen ist,  sondern  nimmt  diese  Einheit  als  eine  gegebene  Tatsache 
an,  die  zugleich  das  Ziel  der  Entwicklung  bildet.    Von  der  Weiter- 
entwicklung der  industriellen  Gesellschaft  und  der  damit   Hand  in 
I  land  gehenden  Verbreitung  der  positiven  Philosophie  erhofft  er  eine 
einheitliche  Organisation  der  europäischen  Gesellschaft.    Comte  hat 
also  der  soziologischen   Betrachtungsweise  die  Bahn  gebrochen,  hat 
damit  einen  neuen  Weg  gezeigt,  die  Geistesentwicklung  der  Mensch- 
heit besser  zu  erforschen,  hat  jedoch,  wie  dies  bei  einem  ersten  Versuch 
gar  nicht  anders  sein  kann,  viele  wichtige  Fragen  offen  gelassen*). 


*)  Wir  haben  uns  hier  mit  der  Hervorhebung  der  Hauptpunkte  der  Comte- 
schen  Lehre  begnügt.  Für  die  vielen  oft  sehr  interessanten  Einzelheiten,  z.  B. 
Comtes  Anschauungen  über  die  Stellung  der  Familie,  sein  Verhältnis  zur  katho- 
lischen Kirche,  seine  ethischen  Grundsätze  —  er  hat  den  Begriff  „A  1 1  r  u  i  s- 
m  u  s"  geprägt  — ,  seine  Auffassung  von  Pflicht  und  Recht  verweise  ich  auf 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  245 

Lorenz  v.  Stein  hat  in  seinem  1850  erschienenen  Werke  „Ge- 
schichte der  sozialen  Bewegung  in  Frankreich  von  1789  bis  auf 
unsere  Tage"  der  historischen  Darstellung  eine  Abhandlung  über 
den  Begriff  der  Gesellschaft  vorausgeschickt,  in  der  klar 
und  deutlich  die  Forderung  erhoben  wird,  das  WesenderGesell- 
Schaft,  ihre  Geschichte  und  ihr  Verhältnis  zum  Staate  wissen- 
schaftlich zu  durchforschen*).  In  diesem  Manne  haben  wir  also  den 
oben  erwähnten  deutschen  Denker  vor  uns,  der  ungefähr  gleich- 
zeitig mit  Auguste  Comte,  aber,  wie  es  scheint,  ganz  unabhängig  von 
ihm,  die  Soziologie  als  Wissenschaft  gefordert  und  begründet  hat. 
Stein  hatte  die  sozialen  Bewegungen  in  Frankreich  gründlich  studiert 
und  war  in  Paris  mit  einigen  ihrer  Führer  persönlich  bekannt  ge- 
worden. Er  hatte  das  Aufkommen  des  Proletariats  genau 
beobachtet  und  seine  Bedeutung  als  einer  neuen  Gesellschaftsklasse, 
die  sich  ihrer  Macht  bewußt  und  zum  Kampf  bereit  geworden  war, 
scharf  und  klar  erfaßt  (II,  S.  57  ff.).  Als  geschulter  National- 
ökonom erkennt  Stein  die  treibenden  Kräfte  in  der  neu  entstandenen 
„industriellen  Gesellschaft"  und  sieht  deutlich,  daß  sich  überall  ein 
heftiger  Kampf  der  besitzlosen  Klasse  gegen  die  herrschende  Gesell- 
schaftsschicht der  Kapitalisten  vorbereitet.  In  diesem  bevorstehenden 
Konflikt  kommt  nun  nach  Steins  Überzeugung  dem  Staate  eine 
sehr  wichtige  Aufgabe  zu.  Hier  unterscheidet  sich  Stein  wesentlich 
von  Comte.  Der  deutsche  Denker  steht  keineswegs  auf  dem  positivi- 
stischen Standpunkt,  obwohl  ihm  ein  überaus  starker  Wirklich- 
keitssinn  zu  eigen  ist.  Stein  ist  stark  von  Hegel  beeinflußt  und 
sein  Denken  bewegt  sich  im  begrifflichen  und  spekulativen  Ideenkreise. 
Im  Staate  sieht  er  mit  Hegel  die  „Wirklichkeit  der  sittlichen  Idee". 
Der  Staat  ist  für  ihn  eine  Persönlichkeit  höherer  Ordnung, 
deren  Aufgabe  und  Bestimmung  es  ist,  jedem  einzelnen  Staatsbürger 
die  Möglichkeit  der  freien  Entfaltung  seiner  Anlagen  und  des  wirt- 
schaftlichen Aufstieges  zu  gewährleisten.  An  der  Erfüllung  dieser 
seiner  Bestimmung,  die  in  seinem  Wesen,  in  seinem  Begriffe  begründet 
ist,  wird  nun  der  Staat  durch  die  herrschende  Klasse  der  Besitzenden 
gehindert.  Diese  Gesellschaftsklasse  versteht  es  nämlich,  die  Macht- 
mittel des  Staates  in  ihre  Hände  zu  bekommen  und  ist  nun  gemäß 
ihrem  Interesse  bemüht,  durch  entsprechenden  Einfluß  auf  die  Gesetz- 
gebung, die  Verwaltung  und  die  ganze  Staatsverfassung  ihre  Herr- 

Comtes  Schriften  selbst,  dann  auf  die  ausführliche  Darstellung  seiner  Lehre  bei 
Paul  Barth,  „Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie",  3.  und  4.  Aufl.,  S.  172  ff., 
bei  Höffding,  „Geschichte  der  neueren  Philosophie",  II,  353  ff.,  und  auf  das  vor- 
treffliche Buch  von  Levy-Brühl,  „Die  Philosophie  Auguste  Comtes".  Deutsche  Aus- 
gabe, 1902. 

*)  Das  Werk  Steins  ist  zuerst  im  Jahre  1842  unter  dem  Titel:  „Der  So- 
zialismus und  Kommunismus  im  heutigen  Frankreich,  ein  Beitrag  zur  Zeit- 
geschichte" erschienen  und  hat  auf  die  Ausbildung  der  sozial-  und  geschichts- 
philosophischen  Theorien  von  Karl  Marx  stark  eingewirkt.  In  der  dritten,  im 
Jahre  1850  erschienenen  Bearbeitung,  die  der  Verf.  in  der  Vorrede  als  ein  neues 
Werk  bezeichnet  hat,  erhielt  es  den  oben  angeführten  Titel.  Von  dieser  lange 
vergriffenen  Ausgabe  ist  im  Drei-Masken-Verlag  im  Jahre  1921  ein  Neudruck 
erschienen,  nach  dem  hier  zitiert  wird.  Das  Werk  umfaßt  3  Bände  und  wird 
durch  ein  sehr  instruktives  Vorwort  von  Dr.  Gottfried  Salomon  eingeleitet. 


240  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

schaft  zu  erhalten  und  zu  befestigen.  Aus  dem  so  entstehenden  Anta- 
gonismus zwischen  S  t  a  a  t  und  Gesellschaft  erwachsen  nun 
die  schwierigen  Probleme,  deren  Lösung  Stein  von  einer  in  die  Tiefe 
dringenden  Untersuchung  des  Wesens  der  Gesellschaft  erwartet.  Er 
richtet  deshalb  einen  warmen  Appell  an  die  deutsche  Gelehrtenwelt, 
sie  möge  sich  diesem  Forschungsgebiete  zuwenden  und  die  Begründung 
einer  wissenschaftlichen  Gesellschaftslehre  als  ihre  dringende  Aufgabe 
betrachten.  Seine  Worte  klingen  so  aktuell,  als  ob  sie  heute  geschrieben 
waren:  „Und  jetzt,  wo  die  großen  Wogen  der  gesellschaftlichen  Be- 
wegungen Staat  und  Volk  durchbrausen  und  mit  Allgewalt  an  dem 
Bestehenden  rütteln,  jetzt  ist  es  wahrlich  hohe  Zeit,  daß  wir  Deutsche 
uns  unserer  hohen  Mission  und  unseres  Namens  würdig  zeigen. 
Wollen  wir  aber  Großes  leisten  neben  dem  Großen,  was  die  Nachbarn 
schon  gedacht  und  getan  haben,  so  müssen  wir  nunmehr  in  den  tiefsten 
Kern  jener  menschlichen  Ordnung  hineingreifen."  „Wir  müssen  uns 
zur  Wissenschaft  der  Gesellschaft,  zur  objektiven,  an 
sich  wahren  Erkenntnis  der  gesellschaftlichen  Elemente  und  Er- 
scheinungen erheben,  denn  wahrlich,  es  gibt  keinen  zweiten  Weg, 
nicht  bloß,  um  eine  eigene  deutsche  Epoche  in  dieser  Frage  zu  be- 
ginnen, sondern  auch,  um  zu  einer  wirklichen  Lösung  jener  Fragen 
zu  gelangen."  „Hier  ist  unser,  hier  ist  das  Gebiet  der  deutschen 
Arbeit,  und  dringend  genug  ist  die  Frage,  um  die  beste  Anstrengung 
der  Besten  unter  uns  zu  fordern"  (I,  140  ff.).  Stein  hat  diese  neu 
zu  schaffende  Wissenschaft  in  vier  Teile  gegliedert.  Der  erste  soll 
die  Lehre  vom  Begriff  und  von  der  Ordnung  der  Gesellschaft 
enthalten,  der  zweite  die  Geschichte  der  Gesellschaft 
darstellen.  Im  dritten  Teil  sollen  dann  die  Grundsätze  dargelegt 
werden,  nach  denen  die  Gesellschaftsordnung  die  Staatsverfassung 
und  die  Verwaltung  beherrscht.  Der  vierte  und  letzte  Teil  soll  dann 
die  Lehre  von  der  sozialen  Reform  enthalten  und  darin  den 
Beweis  erbringen,  daß  das  eigene  Interesse  der  Gesellschaft  diese 
Reform  fordert,  um  durch  sie  der  sonst  unausbleiblichen  sozialen 
Revolution  zu  entgehen.  „Man  hat  diesen  vierten  Teil  fast  immer 
als  den  einzigen  Inhalt  dieser  Wissenschaft  betrachtet;  man  wird  ihn 
nicht  erschöpfen,  wenn  man  die  ersten  drei  Gebiete  nicht  erforscht  hat. 
Aber  um  so  viel  wichtiger  die  Zukunft  ist  als  die  Vergangenheit  und 
Gegenwart,  weil  sie  beide  in  sich  umfaßt  und  vereinigt,  um  so  viel 
bedeutsamer  ist  dieser  vierte  Teil  neben  den  drei  ersten"  (I,  138). 

Auch  für  Stein  ist  also,  ebenso  wie  für  Comte,  die  künftige 
Gestaltung  der  Gesellschaft  das  treibende  Motiv  zu 
ihrer  Erforschung.  Allein  beide  Denker  sehen  deutlich,  daß  ohne 
gründliches  theoretisches  Nachdenken  über  das  menschliche  Zu- 
sammenleben die  Richtungslinien  für  die  Zukunft  nicht  gefunden 
werden  können. 

Auguste  Comte  und  Lorenz  \>.  Stein  werden  von  nun  an  beide 
als  Schöpfer  und  Begründer  der  Gesellschaftslehre  genannt  werden 
müssen.  Comte  hat  ihr  den  Namen  gegeben,  die  positive  Forschungs- 
methode für  sie  verlangt,  aber  auch  ihre  große  Bedeutung  für  das 
wahre  und  tiefe  Verständnis  des  Menschengeistes  erkannt.    Stein  hat 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  247 

ihre  Aufgabe  schärfer  umrissen  und  deutlicher  gegliedert.  Merk- 
würdigerweise sind  aber  beide  Begründer  unserer  Wissenschaft,  der 
französische  Positivist  und  der  deutsche  Hegelianer,  in  zwei  wich- 
tigen Punkten  einer  und  derselben  Meinung.  Beide  betonen  mit 
gleichem  Nachdruck  sowohl  den  aktivistischen  als  auch 
den  philosophischen  Charakter  der  Soziologie.  Sie  hat 
einerseits  nicht  bloß  die  Erforschung,  sondern  auch  die 
künftige  Gestaltung  der  Gesellschaft  in  den  Bereich  ihrer  Auf- 
gaben einzubeziehen,  und  darin  liegt  ihr  A  k  t  i  v  i  s  m  u  s.  Sie  darf 
sich  aber  auch  nicht  mit  der  bloßen  Sammlung  und  Aufzählung  von 
Tatsachen  begnügen,  zwischen  denen  eventuell  gewisse  Regel- 
mäßigkeiten sich  konstatieren  lassen.  Die  Soziologie  muß  vielmehr 
immer  das  Ganze  der  Menschheit  im  Auge  haben,  die  seelischen 
Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesellschaft 
untersuchen  und  von  der  Überzeugung  ausgehen,  daß  das  Wesen 
und  Wirken  des  Menschengeistes  nur  im  Gemeinschaftsleben  klar 
erfaßt  werden  kann.  Möge  die  Gesellschaftslehre  diese  tiefen  Ein- 
sichten ihrer  beiden  Begründer  niemals  vergessen. 

Wir  wollen  jetzt  versuchen,  die  Entwicklung  der  nunmehr  als 
selbständige  Wissenschaft  auftretenden  Gesellschaftslehre  in  ihren 
Hauptvertretern  und  in  ihren  Hauptrichtungen  bis  zur  Gegenwart 
zu  verfolgen. 

Comic  hat  zunächst  in  England  unmittelbar  gewirkt.  John 
St.  MM  und  Herbert  Spencer  sind  von  ihm  mächtig  angeregt  und  stark 
beeinflußt  worden.  Spencers  erste  soziologische  Arbeit,  die  im  Jahre 
1850  erschienene  Schrift  „Social  Statics",  ist  ganz  in  Comtes  Geist 
abgefaßt.  Sogar  der  Ausdruck  „soziale  Statik"  ist  ursprünglich  von 
Comte  geprägt  worden.  Später  hat  Spencer  in  seinem  auf  dem  Ent- 
wicklungsgedanken aufgebauten  System  der  „synthetischen  Philo- 
sophie" die  Soziologie  ausführlich  (in  drei  starken  Bänden)  behandelt 
und  überdies  ein  vortreffliches  kleineres  Buch  über  das  Studium  der 
Soziologie  geschrieben,  das  sich  zur  Einführung  ganz  besonders  eignet. 
Auf  Spencers  wichtigsten  soziologischen  Gedanken,  auf  das  von  ihm 
zuerst  gebührend  verwertete  Gesetz  der  Differenzierung 
kommen  wir  weiter  unten  zu  sprechen.  Spencer  hat  ferner  auf  die 
Bedeutung  des  Studiums  der  primitiven  Völker  hingewiesen  und  diese 
Studien  selbst  gefördert.  Er  darf  als  Urheber  der  „organischen" 
Richtung  gelten,  von  der  später  die  Rede  sein  wird,  hat  sich  aber  vor 
ihren  Übertreibungen  gehütet.  Spencers  Schriften  fanden  in  Amerika 
besonders  starke  Verbreitung  und  haben  dort  zum  intensiven  Betrieb 
der  Soziologie  viel  beigetragen.  Im  Lauf  der  letzten  Jahrzehnte  sind 
an  den  größeren  Universitäten  Amerikas  Professuren  und  eigene 
Institute  für  Soziologie  errichtet  worden.  Lester  Ward  und  Henry 
Giddings  sind  die  führenden  Männer,  denen  viele  andere  zur  Seite 
stehen.  In  Chicago  ist  in  allerletzter  Zeit  ein  großes  Lehrbuch  der 
Soziologie  publiziert  worden,  in  welchem  die  verschiedenen  Rich- 
tungen der  Gesellschaftslehre  durch  zahlreiche  Proben  aus  den  Werken 
ihrer  Hauptvertreter  charakterisiert  werden.    Man  sieht  daraus,  wie 


248  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

eingehend   sich   die   amerikanischen    Universitäten   bereits   seit   Jahr- 
zehnten mit  Soziologie  beschäftigen. 

In  seinem  eigenen  Vaterlande,  in  Frankreich,  hat  Comte  zunächst 
Mark  aui  die  I  ieschichtschreibung  eingewirkt.  Ernest  Renan,  besonders 
aber  HippolyU  Taine  stehen  unter  seinem  Einfluß  und  legen  in  ihren 
Geschichtswerken  großes  Gewicht  darauf,  die  Einwirkung  des  „Milieu" 
auf  den  Ein/elmenschen  gebührend  zu  berücksichtigen.    In  den  letzten 
Jahrzehnten  ist  aber  auch  eine  ganze  Soziologenschule  in  Frankreich 
erstanden,  die  ganz  im  Geiste  des  Comteschen  Positivismus  das  Wesen 
und  die  Entwicklung  der  menschlichen  Gesellschaft  zu  erforschen  be- 
strebt ist  und  darin  bereits  kräftig  vorwärts  gekommen  ist.   Ihr  Führer 
war  Emile  Durkheim,  der  während  des  Weltkrieges  (1917)  gestorben 
ist.  Von  ihm  wurde  im  Jahre  1896  das  bereits  oben  erwähnte  Jahrbuch 
„Annee  sociologique"  begründet,  von  dem  bis  zum  Jahre  1913  zwölf 
Bände  erschienen  sind.    In  einer  besonderen  Schrift  hat  Durkheim  die 
von  ihm  befolgte  Methode  dargelegt  und  überdies  selbst  eine  Reihe 
größerer  Arbeiten  veröffentlicht,  in  denen  er  sich  mit  dem  Problem 
der  Teilung  der  Arbeit  und  dann  besonders  intensiv  mit  der  sozio- 
logischen  Erforschung   der   Religion  beschäftigt;    Durkheim  hat 
eine  ganze  Reihe  begabter  und  fleißiger  Jünger  gefunden,  die  nach 
seiner  Methode  und  in  seinem  Geiste  weiter  arbeiten.   Zu  nennen  sind 
darunter  besonders:   Levy-Brühl,  Bougle,  Hubert  und   Mauss.   Wir 
kommen  auf  diese  bedeutsame  Schule  weiter  unten  noch  einmal  zurück. 
Übrigens  hat  auch  die  von  Spencer  ausgehende  „organische"  Richtung 
der  Soziologie  in  Frankreich  Vertreter  gefunden.  Ihr  Führer  ist  Rene 
Worms,  der  an  der  Spitze  des  in  Paris  bestehenden  „Institut  inter- 
national de  sociologie"  steht.    Auch  in  Belgien,  in  Holland,  in  Italien 
und  in  den  nordischen  Ländern  hat  die  Soziologie  eifrige  Pflege  ge- 
funden.   Überall  sind  Professuren  und  Institute  zum  Betriebe  dieser 
Wissenschaft  errichtet  worden. 

Dagegen  hat  es  in  Deutschland  und  in  Österreich  verhältnismäßig 
lange  gedauert,  bevor  sich  die  Gesellschaftslehre  als  selbständige 
Wissenschaft  durchsetzen  konnte  und  auch  heute  noch  verfügt  sie  nur 
über  sehr  wenige  Lehrstühle  und  erst  in  den  allerletzten  Jahren  über 
einige  Institute.  Lorenz  v.  Stein  hat  durch  die  erste  Ausgabe  seines 
obenerwähnten  Werkes  zunächst  auf  Karl  Marx  stark  eingewirkt  und 
die  Ausbildung  seiner  ökonomischen  Geschichtsauffassung  jedenfalls 
mit  beeinflußt.  Auf  Grund  dieser  Geschichtsphilosophie,  die  in  dem 
berühmten  „Kommunistischen  Manifest"  vom  Jahre  1847  zum  ersten- 
mal dargelegt  ist,  haben  es  dann  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels 
unternommen,  die  Proletarier  aller  Länder  zu  einer  gemeinsamen 
internationalen  Partei  zusammenzuschließen,  die,  wie  bereits  erwähnt 
wurde,  im  Lauf  der  Jahrzehnte  ein  überaus  bedeutsamer  Faktor  der 
politischen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung  geworden  ist.  Der  von 
den  genannten  Führern  begründete,  von  ihren  Jüngern  immer  weiter 
ausgebaute  sogenannte  „wissenschaftliche  Sozialismus"  hat  das  Nach- 
denken über  soziologische  Probleme  mächtig  angeregt.  Unter  der 
Führung  Gustav  Schmollen  hat  sich  der  „Verein  für  Sozialpolitik"  ge- 
bildet, durch  dessen   Arbeiten  die  Volkswirtschaftslehre  einen 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  249 

starken  soziologischen  und  ethischen  Einschlag  erhielt. 
Als  selbständige  Wissenschaft  trat  jedoch  die  Soziologie  in  Deutsch- 
land erst  auf,  als  der  Gedanke  Darwins  von  der  natürlichen  Auslese 
und  vom  Kampf  ums  Dasein  in  weitere  Kreise  gedrungen  war.  Da 
wurde  zunächst  die  organische  Staatstheorie  wieder  aufgenommen 
und  von  A.  Schaeffle,  von  Paul  Lilienfeld  und  anderen  breit  aus- 
geführt. Die  Analogien  zwischen  den  einzelnen  Organen  und  Funk- 
tionen der  Gesellschaft  und  denen  eines  einzelnen  Lebewesens  wurden 
oft  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  ausgeführt.  So  entsprechen  z.  B. 
bei  Schaeffle  die  „technischen  Veranstaltungen"  den  Muskeln,  und  zwar 
die  zu  Machtzwecken  dienenden,  wie  Heer  und  Polizei,  den  quer- 
gestreiften oder  willkürlichen  Muskeln,  dagegen  die  zum  Zwecke  des 
Handels  und  der  Produktion  ins  Leben  gerufenen  technischen  Betriebe 
den  glatten,  unwillkürlichen  Muskeln  {Barth  I,  374). 

Viel  bedeutsamer  als  solche  stark  in  die  Irre  führende  Analogien 
ist  für  den  Ausbau  der  Soziologie  die  Idee  des  Kampfes  ums 
Dasein  geworden,  welche  von  den  Einzelwesen,  die  Darwin  allein 
betrachtet  hatte,  auf  die  sozialen  Gruppen  übertragen  wurde.  Hier  ist 
vor  allen  anderen  Ludwig  Gumplowicz  zu  nennen,  der  in  tiefgründigen 
Untersuchungen  den  Kampf  der  sozialen  Gruppen  zum  wichtigsten 
Faktor  der  Entwicklung  macht.  Der  „R  a  s  s  e  n  k  am  p  f"  zwischen 
den  Völkern  setzt  sich  innerhalb  des  Staates  fort  in  den  Klassen- 
kämpfen und  aus  diesem  fortgesetzten  erbarmungslosen  Ringen  ent- 
wickeln sich  nach  Gumplowicz  alle  sozialen  Gebilde  und  auch  die 
sozialen  Institutionen.  Der  Staat  entsteht  dadurch,  daß  eine  soziale 
Gruppe  die  andere  unterwirft  und  für  sich  arbeiten  läßt.  Aus  diesem 
Herrschaftsverhältnis  versteht  man  nach  Gumplowicz 
wiederum  erst  das  Wesen  des  Rechts  und  der  Moral.  Der  Einzel- 
mensch ist  in  jeder  Beziehung  von  der  Gruppe  beeinflußt.  Gumplowicz 
geht  darin  so  weit,  daß  er  behauptet,  es  sei  einer  der  größten  Irrtümer 
der  Individualpsychologie,  zu  sagen :  „Der  Mensch  denkt."  Was  in  ihm 
denkt,  das  ist  gar  nicht  er  selbst,  sondern  seine  soziale  Gemeinschaft 
(Grundriß  der  Soziologie,  S.  167).  Trotz  mancher  Übertreibungen 
hat  Gumplowicz  tief  in  das  Wesen  der  Gesellschaftsentwicklung  hinein- 
geleuchtet. Bemerkt  sei  hier  noch,  daß  er  im  „Grundriß  der  Soziologie" 
eine  kurze,  aber  sehr  gehaltreiche  Geschichte  der  Gesell- 
schaftslehre gegeben  hat,  in  der  er  besonders  auf  die  weniger 
bekannten  und  jedenfalls  noch  lange  nicht  ausgeschöpften  sozio- 
logischen Gedanken  des  großen  Ethnologen  Adolf  Bastian  hinweist. 
Franz  Oppenheimer  hat  in  seinem  sehr  lesenswerten  kleinen  Büchlein 
„Der  Staat"  die  Ansichten  von  Gumplowicz  sehr  lichtvoll  dargestellt 
und  weiter  entwickelt. 

Biologisch  orientiert  ist  ferner  auch  Gustav  Ratzenhof  er,  der  eine 
Anzahl  angeborener  „Interessen"  annimmt,  die  das  soziale  Geschehen 
bestimmen.  Man  vermißt  bei  diesem  Forscher  die  Klarstellung  des 
Verhältnisses  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gruppe. 

Ebenfalls  vom  Entwicklungsgedanken  ausgehend,  hat  es  dann 
Müller-Lyer  unternommen,  in  einer  ganzen  Reihe  von  Schriften  die 
Richtungslinien  der  menschlichen  Kulturenwicklung  darzustellen,  und 


250  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

zwar  mit  dem  ausgesprochenen  Zwecke,  durch  soziologische 
Betrachtung  der  einzelnen  Kulturgebiete  den  Gang  der  Kultur  zu 
deutlichem  Bewußtsein  zu  bringen  und  auf  diesem  Wege  zu  einer 
bewußten  Kulturbeherrschung  zu  gelangen,  die  der  bereits 
in  hohem  Grade  erreichten  Naturbeherrschung  an  die  Seite 
treten  soll.  Müller-Lyer  hat  sein  Werk  nicht  vollenden  können.  Er  ist 
mitten  in  der  Arbeit  vom  Tode  ereilt  worden.  Allein  schon  die  zwei 
ersten  grundlegenden  Bände  „Der  Sinn  des  Lebens"  und  „Die  Phasen 
der  Kultur"  bringen  den  leitenden  Gedanken  zu  klarem  Ausdruck. 
Der  Gedanke  der  „Kulturbeherrschung"  beruht  nach  Müller-Lyer 
auf  der  Voraussetzung,  daß  die  Kulturbewegung,  die  sich  bisher 
gleichsam  unter  der  Schwelle  des  menschlichen  Bewußtseins  vollzogen 
hat,  das  heißt  ohne  daß  die  einzelnen  Menschen  die  Kräfte  klar 
erkannt  hätten,  durch  welche  sie  sich  vom  Urzustände  zur  Zivilisation 
hinaufentwickelt  haben,  daß  diese  Kulturbewegung  in  das  helle  Be- 
wußtsein tritt.  Das  ist  nun  nach  seiner  Überzeugung  jetzt  der  Fall, 
und  zwar  ist  es  das  Verdienst  der  Geschichtsphilosophie 
und  der  Entwicklungslehre.  Aus  ihnen  entsteht  nun  die  neue 
Wissenschaft  von  der  Gesellschaft,  die  Soziologie,  die  dazu 
bestimmt  ist,  die  Kulturgesetze  zu  erforschen,  sie  zum  allgemeinen 
Bewußtsein  zu  bringen  und  auf  diesem  Wege  zur  Kultur- 
beherrschung zu  gelangen.  Müller-Lyer  verspricht  sich  von 
diesem  „Bewußtwerden"  der  Kulturentwicklung  ein  neues  Zeitalter 
für  die  Menschheit.  Jedenfalls  hat  er  der  Soziologie  eine  eigenartige 
Aufgabe  gestellt  und  in  dem  Gedanken  der  K  u  1 1  u  r  b  e  h  e  r  r- 
schung  einen  starken  Ansporn  zu  soziologischer  Forschung  gegeben. 
Es  fehlen  jedoch  auch  bei  ihm  eingehende  Untersuchungen  über  die 
psychischen  Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Einzelnen  und  der 
Gruppe,  und  deshalb  vermag  er  auch  die  einzelnen  Phasen  der  Kultur, 
die  er  darzustellen  unternommen  hat,  nicht  recht  innerlich  miteinander 
zu  verknüpfen.  Es  zeigt  sich  eben  immer  deutlicher,  daß  wir  gerade 
in  diesen  sehr  komplizierten  Wechselbeziehungen  zwischen  Gruppe  und 
Individuum  den  wichtigsten,  den  schwierigsten,  zugleich  aber  auch  den 
lohnendsten  Gegenstand  der  Soziologie  zu  suchen  haben. 

Ferdinand  Tönnies  hat  durch  seine  feinsinnige  Unterscheidung 
zwischen  „Gemeinschaft"  und  „Gesellschaft"  zum  erstenmal  auf  die 
Bedeutung  dieser  Beziehungen  für  die  Struktur  und  für  den  Charakter 
des  menschlichen  Zusammenlebens  hingewiesen.  Die  „Gemein- 
schaft" ist  nach  Tönnies  eine  Vereinigung  von  Menschen,  die  be- 
herrscht werden  vom  „Wesenswillen",  das  heißt  von  einem  or- 
ganischen Willen.  Sie  ist  ein  Gebilde  der  Natur,  ein  Organismus. 
Verwirklicht  ist  sie  in  der  Familie,  im  Dorfe,  dem  Wohnsitz  des  Clans 
oder  des  Geschlechtes,  in  dem  Stamme,  der  einen  Gau,  auch  im  Volke, 
das  ein  Land  bewohnt.  Wir  finden  sie  auch  noch  in  der  mittelalterlichen 
Stadt,  wo  die  Gilde  oder  Zunft  sowie  die  gesamte  Bürgerschaft  eine 
geschlossene,  auch  religiös  verbundene  Gemeinschaft  bildet.  Die  Ge- 
meinschaft wird  zusammengehalten  durch  die  gleiche  Abstammung 
und  durch  den  gemeinsamen  Glauben.  Die  harmonische  Einheit  der 
Wesenswillen,  ihre  Solidarität   hat  zur  Folge  den  ganz  oder  teilweise 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  251 

gemeinsamen  Besitz  an  Grund  und  Boden,  und  ein  Recht,  das 
wesentlich  Familienrecht  ist.  In  schroffem  Gegensatz  zur  organischen 
und  harmonischen  „Gemeinschaft"  steht  nach  Tönnies  die  bloß  me- 
chanische Vereinigung  selbständiger  Individuen,  die  er  „G  e  s  e  1 1- 
schaft"  nennt.  Hier  wird  jeder  Einzelne  vom  überlegten,  klar  be- 
wußten „Kürwillen"  beherrscht,  der  nur  egoistische  Zwecke  verfolgt. 
In  dieser  Vereinigung  ist,  wie  sich  Tönnies  selbst  ausdrückt,  „jeder 
für  sich  und  im  Zustande  der  Spannung  gegen  alle  übrigen".  („Ge- 
meinschaft und  Gesellschaft",  3.  Aufl.,  S.  33.)  Die  Gesellschaft  ist 
kein  Organismus,  sondern  ein  künstlicher  Mechanismus.  Zusammen- 
gehalten wird  sie  durch  ein  konventionelles  Recht,  das  formal  jedem 
den  gleichen  Anspruch  gewährleistet,  tatsächlich  aber  doch  im  Sinne 
der  besitzenden  Klasse  gehandhabt  wird.  Geschichtlich  beginnt  die 
Gesellschaft  in  Westeuropa  mit  dem  lebhaften  Warenverkehr  im  sech- 
zehnten und  siebzehnten  Jahrhundert,  der  die  Einführung  des  rö- 
mischen Rechtes  zur  Folge  hat,  und  durch  dieses  Recht  die  Einheit 
der  Familie  sowie  überhaupt  häusliche  Verbände  auflöst.  Und  sie 
dauert  fort  unter  beständiger  Desintegration  *tier  Reste  der  Gemein- 
schaft, die  sich  noch  erhalten  haben.  Das  „Naturrecht",  ein  Recht 
der  allgemeinen  Gleichheit,  wie  es  der  Warenverkehr  braucht,  liefert 
die  Begriffe  dazu.  Immer  deutlicher  zeigt  sich  der  „isolierte  Mensch, 
ein  Gespenst  in  heller,  nüchterner  Tageswahrheit".  So  geht  die  Ge- 
schichte von  der  Gemeinschaft  zur  Gesellschaft,  von  der  Kultur  des 
Volkstums  zur  Zivilisation  des  Staatstums  *). 

Die  Unterscheidung  zwischen  „Gemeinschaft"  und  „Gesellschaft", 
die  Tönnies  vornimmt,  entspricht  zweifellos  in  vieler  Beziehung  der 
Wirklichkeit.  Das  wahrhaft  Bedeutsame  daran  —  und  das  tritt  bei 
Tönnies  nicht  deutlich  genug  hervor  —  liegt  darin,  daß  in  diesen  beiden 
Formen  des  Zusammenlebens  das  Verhältnis  des  Einzelnen  zur  Ge- 
samtheit ein  wesentlich  verschiedenes  ist.  In  der  Gemeinschaft  wird 
der  Einzelne  vom  „Wesenswillen"  beherrscht,  wofür  man  ebensogut 
Gesamtwille  sagen  könnte.  Er  fühlt  sich  als  ein  Teil  seiner  Gruppe 
und  hat  sich  noch  nicht  zur  vollen  Eigenpersönlichkeit  emporgearbeitet. 
In  der  „Gesellschaft"  hingegen  treten  uns  lauter  selbständige  eigen- 
kräftige Individualitäten  entgegen,  die  nach  Tönnies  nur  egoistische 
Interessen  verfolgen  und  einander  feindlich  und  mißtrauisch  gegen- 
überstehen. In  der  Schilderung  der  „Gesellschaft"  scheint  mir  Tönnies 
stark  von  Hobbes  beeinflußt  zu  sein,  mit  dessen  Werken  er  sich  be- 
sonders eifrig  beschäftigt  hat.  Dazu  zeigt  sich  bei  ihm  auch  eine 
etwas  romantisch  gefärbte  Vorliebe  für  die  organische  Gemeinschaft 
und  eine  starke  Abneigung  gegen  die  bloß  mechanische  Gesellschaft. 
Es  geht  aber  aus  seinen  Darlegungen  nicht  hervor,  wie  der  Einzelne 
zu  der  Selbständigkeit  gelangt  ist,  die  er  dann  in  der  Gesellschaft 
so  unangenehm  betätigt.  Gerade  dieser  Übergang  aus  der  ursprüng- 
lichen sozialen  Gebundenheit    zur  allmählichen  Selbstentfaltung  der 

*)  Bei  der  Darlegung  von  Tönnies'  Lehre,  die  er  selbst  oft  in  schwer  ver- 
ständlicher Sprache  vorträgt,  haben  wir  außer  seinem  eigenen  Hauptwerk  die 
vortreffliche  Darstellung  von  Paul  Barth  (Phil.  d.  Gesch.  als  Soziologie,  3.  und 
4.  Aufl.,  I,  441  ff.)  benützt  und  oft  wörtlich  wiedergegeben. 


252  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Individualität  scheint  mir  einer  der  allerbedeutsamsten  soziologischen 
Prozesse  zu  sein,  der  in  seinem  Entstehen  und  in  seinen  Wirkungen 
erforscht  werden  muß.  Tönnies  hat  auf  dieses  Problem  hingewiesen, 
ist  aber  durch  seine  romantische  Vorliebe  für  die  organische  Gemein- 
scfaaft  von  der  intensiven   Behandlung  desselben  abgelenkt  worden. 

Man  hat  die  Bedeutsamkeit  der  so  überaus  komplizierten  seelischen 
Wechselbeziehungen  immer  deutlicher  erkannt  und  die  Notwendigkeit 
einer  psychologischen  Untersuchung  derselben  einzusehen  be- 
gonnen. Der  Franzose  Gabriel  Tarde  hat  in  der  Nachahmung 
und  in  der  Erfindung  die  ursprünglichen  Kräfte  des  sozialen 
Lebens  zu  finden  geglaubt.  Auf  ihnen  beruht  seiner  Überzeugung  nach 
die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Sprache,  der  Religion, 
aber  auch  die  allmähliche  Ausbildung  der  Technik.  Daran  ist 
/weifellos  viel  Richtiges,  allein  das  Verhältnis  des  Einzelnen  zur 
Gesamtheit  —  und  das  ist  nun  einmal  das  soziologische  Grund- 
problem —  wird  durch  diese  Kategorien  nicht  erfaßt. 

Selbst  die  tiefgründigen  Untersuchungen,  die  Georg  Simmel  in 
seiner  großen  „Soziologie"  (1908)  vorlegt,  haben  meist  nur  die  Wechsel- 
wirkungen zwischen  den  einzelnen  Individuen  zum  Gegenstand  und 
beschäftigen  sich  fast  gar  nicht  mit  den  soziologisch  viel  wichtigeren 
Beziehungen  des  Einzelnen  zur  Gruppe.  Trotzdem  hat  Simmel  die 
deutsche  Gesellschaftslehre  in  ganz  hervorragender  Weise  gefördert 
und  angeregt.  Neben  der  bereits  genannten  großen  „Soziologie" 
kommen  hier  besonders  seine  Bücher  „Soziale  Differenzierung"  und 
die  „Philosophie  des  Geldes"  in  Betracht.  Simmel  hat  übrigens  eine 
ganz  neue  Richtung  in  der  Soziologie  begründet,  die  gerade  jetzt  eifrig 
gepflegt  wird. 

Im  alten  Österreich,  und  zwar  nicht  bloß  im  deutschen  Teile 
seiner  Bevölkerung,  wurde  die  Soziologie  bereits  in  den  achtziger 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  eifrig  gepflegt.  Die  beiden  oben- 
genannten Denker,  Gumplowicz  und  Ratzenhof  er,  waren  Österreicher. 
Dazu  kommen  noch  Anton  Menger,  Julius  Ofner,  Friedrich  v.  Wieser, 
Masaryk,  Menzel,  Somlö  u.  a.  m.  Als  nun  im  Jahre  1907  Rudolf 
Goldscheid,  der  durch  seine  Arbeiten  über  Menschenökonomie 
und  Entwicklungswert  der  Volkswirtschaftslehre  neue  und 
sehr  wichtige  soziologische  Aufgaben  gestellt  hat,  in  Wien  eine 
soziologische  Gesellschaft  ins  Leben  rief,  da  wurde 
durch  die  im  Rahmen  dieser  Gesellschaft  abgehaltenen  Vorträge  und 
I  >i^kussionen  das  Interesse  für  soziologische  Probleme  in  weitere  Kreise 
getragen.  Überdies  wurden  auch  einige  jüngere  Forscher  zur  Be- 
schäftigung  mit  der  Gesellschaftslehre  angeregt.  Dazu  gehören  neben 
Rudolf  Goldscheid  selbst  noch  Max  Adler,  Eugen  Ehrlich,  Hans 
Ktlsen,  Otmar  Spann  u.  a.  Auch  der  Verfasser  dieses  Buches  darf 
sich  zu  den  österreichischen  Soziologen  dazuzählen,  weil  er  seit  mehr 
als  zehn  Jahren  in  jedem  Sommersemester  ein  Kolleg  über  Soziologie 
abhält,  das  immer  zahlreicheren  Zuspruch  findet.  In  den  letzten  Jahren 
hat  er  überdies  einige  wichtige  Entdeckungen  auf  diesem  Gebiete 
gemacht  und  hofft  bald  mit  Arbeiten  seiner  Schüler  vor  die  Öffentlich- 
keit treten  zu  können. 


§  46.  Entwicklung  der  Soziologie  253 

Der  Weltkrieg  und  die  darauffolgenden  Ereignisse  haben  in 
Deutschland  das  Interesse  für  Gesellschaftslehre  mächtig  angeregt 
und  es  herrscht  jetzt  auf  diesem  Gebiete  ein  überaus  reges  Leben. 
Johann  Plenge,  dem  wir  bereits  ein  tiefgründiges  Buch  über  Marx 
und  Hegel  und  viele  andere  sehr  anregende  Schriften  verdanken,  hat 
in  Münster  ein  Institut  für  Organisationslehre  geschaffen, 
aus  dem  schon  jetzt  wertvolle  Arbeiten  hervorgegangen  sind.  In  Köln 
ist  ein  Forschungsinstitut  für  Sozialwissenschaften  ins  Leben  gerufen 
worden,  das  eine  wissenschaftliche  Zeitschrift  für  Soziologie  herausgibt. 
Die  bisher  erschienenen,  von  Leopold  v.  Wiese  vortrefflich  redigierten 
Hefte  enthalten  eine  Fülle  von  Untersuchungen  und  Anregungen,  be- 
sonders auch  sehr  dankenswerte  Mitteilungen  über  die  jetzt  so  schwer 
zugänglichen  ausländischen  Publikationen. 

Das  rege  Interesse  für  die  junge  Wissenschaft  zeigt  sich  auch 
darin,  daß  die  soziologische  Betrachtungsweise  immer  mehr  auf  die 
einzelnen  Gebiete  des  Geisteslebens  angewendet  wird.  So 
haben  wir,  um  nur  die  allerwichtigsten  Arbeiten  zu  nennen,  in  den 
letzten  Jahren  das  große  dreibändige  Werk  von  Max  Weber  über 
Religionssoziologie  zu  verzeichnen,  worin  dieser  geniale, 
leider  zu  früh  verstorbene  Forscher  die  Wirtschaftsethik  der 
Weltreligionen  darstellt.  Man  rindet  hier  die  schon  früher  bekannte 
tiefgründige  Untersuchung:  „Die  protestantische  Ethik  und  der  Geist 
des  Kapitalismus"  wieder  abgedruckt.  Dann  werden  die  Religionen 
Chinas  und  Indiens  und  im  dritten  Bande  das  antike  Judentum  dar- 
gestellt. Die  befruchtende  Kraft  der  soziologischen  Methode  zeigt  sich 
da  Schritt  für  Schritt. 

Die  soziologische  Funktion  des  Rechtes  hat  Anton  Menger 
mit  besonderer  Schärfe  erfaßt.  In  seiner  im  Jahre  1890  erschienenen 
Schrift  „Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Klassen"  hat  er 
durch  schlagende  Beispiele  den  Beweis  erbracht,  daß  das  geltende 
Recht  den  Interessen  der  herrschenden,  das  heißt  der  besitzenden 
Klasse  angepaßt  sei,  dagegen  die  Bedürfnisse  der  Besitzlosen,  des 
Proletariats,  so  gut  wie  gar  nicht  berücksichtigt.  In  seiner  Rektorats- 
rede vom  Jahre  1895  hat  Anton  Menger  die  „soziale  Rechtsbildung" 
mit  großer  Entschiedenheit  gefordert  und  den  soziologischen  Ge- 
sichtspunkt in  der  Rechtswissenschaft  geistvoll  verteidigt.  In  zahl- 
reichen Schriften  hat  Julius  Ofner  die  rein  formale  Behandlung  in 
der  Rechtsprechung  bekämpft  und  sowohl  für  die  Schaffung  als  auch 
für  die  Handhabung  des  Rechtes  die  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse 
des  Lebens  und  auf  die  soziale  Gerechtigkeit  gefordert*).  Seither  haben 
sich  hervorragende  Rechtslehrer,  z.  B.  Josef  Kohler,  der  soziologischen 
Betrachtungsweise  zugewendet.  Eugen  Ehrlich  hat  in  seinem  Werke 
„Grundlegung  zur  Soziologie  des  Rechtes"  wertvolle  Anregungen 
gegeben.  Nach  und  nach  bildet  sich  eine  ganze  Schule  soziologisch 
orientierter  Juristen  aus,  die  nicht  nur  zum  tieferen  Verständnis, 
sondern   auch  zur  zeitgemäßen  Weiterentwicklung  des    Rechtes  viel 


*)  Vgl.  Bienenfeld,   „Ofner  und  die  Rechtswissenschaft"  in  der  Festschrift 
für  Julius  Ofner,  Wien  1915,  S.  45  ff. 


254  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

beitragen  dürfte.  Die  neue  Betrachtungsweise  ist  besonders  geeignet, 
auf  den  jetzt  wieder  viel  erörterten  Begriff  des  Naturrechtes  helleres 
Licht  zu  werfen.  Es  gibt  allerdings  noch  zahlreiche  Vertreter  der 
Rechtswissenschaft,  die  sich  für  die  alte  dialektische,  formalistische 
und  apriorisch  gerichtete  Jurisprudenz  aussprechen  und  jede  sozio- 
logische Interpretation  der  Rechtssätze,  Rechtsnormen  und  Rechts- 
institutionen schroff  ablehnen.  Allein  gerade  aus  den  dadurch  hervor- 
gerufenen Diskussionen  geht,  meiner  Überzeugung  nach,  die  große 
Fruchtbarkeit  der  soziologischen  Betrachtungsweise  mit  immer 
größerer  Deutlichkeit  schlagend  hervor. 

Die  Volkswirtschaftslehre  ist  bereits  von  ihrem  Be- 
gründer Adam  Smith  als  ein  Teil  eines  umfassenden  politischen  und 
ethischen  Systems  entworfen  worden  und  trug  somit  von  allem  Anfang 
an  soziologischen  Charakter  an  sich.  Das  hat  vor  einiger  Zeit  ein 
amerikanischer  Soziologe,  A.  W.  Small,  in  einer  interessanten  kleinen 
Schrift  „Adam  Smith  and  modern  Sociology"  (Chicago  1907)  klar 
nachgewiesen.  Von  den  Nachfolgern  des  großen  schottischen  Denkers, 
von  der  sogenannten  „klassischen"  Nationalökonomie  ist  dann  aller- 
dings der  Versuch  unternommen  worden,  das  wirtschaftliche  Leben 
künstlich  zu  isolieren  und  die  darin  waltenden  Gesetze  mit  Hilfe  der 
elementaren,  mitunter  sogar  der  „höheren"  Mathematik  in  möglichster 
Exaktheit  festzustellen.  Diese  Richtung  einer  „rechnenden"  National- 
ökonomie hat  zwar  noch  immer  bedeutende  Vertreter  und  zahlreiche 
Anhänger,  allein  es  bricht  sich  doch  immer  mehr  die  Überzeugung 
Bahn,  daß  die  Lehre  von  den  Bedingungen  der  Güterproduktion  und 
der  Güterverteilung,  von  den  Gesetzen  des  Handels  und  des  Geld- 
verkehres nur  im  Zusammenhang  mit  den  Bedingungen  des  ganzen 
Kulturlebens  der  Nationen  verstanden  werden  kann.  Die  Probleme 
des  Wirtschaftslebens  sind  für  die  Struktur  der  Gesellschaft  immer 
bedeutsamer  geworden  und  können  daher  nicht  mehr  isoliert  betrachtet 
werden.  Tatsächlich  beschäftigen  sich  unsere  hervorragenden  National- 
ökonomen immer  mehr  mit  soziologischen  Problemen,  und  nicht  wenige 
unter  ihnen  sind  ganz  und  gar  Soziologen  geworden.  Man  braucht 
dabei,  um  bloß  die  bekanntesten  zu  nennen,  nur  an  Max  Weber, 
Werner  Sombart,  Franz  Oppenheimer,  Friedrich  Wieser  und  Johann 
PI  enge  zu  erinnern. 

Die  Bedeutung  der  soziologischen  Betrachtungsweise  für  die 
E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  1  e  h  r  e,  für  die  Ethik  und  für  die  Pädagogik 
wird  weiter  unten  dargelegt  werden. 

In  der  wissenschaftlichen  Durchforschung  der  Literatur  und 
der  K  u  n  s  t  ist  die  soziologische  Betrachtungsweise  schon  längere  Zeit 
heimisch,  jedoch  ohne  daß  sich  die  Vertreter  dieser  Wissenszweige 
dessen  deutlich  bewußt  geworden  sind.  Daß  jedes  Kunstwerk  und 
jedes  literarische  Erzeugnis  kulturgeschichtlich  betrachtet  und  aus  dem 
Geiste  seiner  Zeit  heraus  interpretiert  werden  muß,  das  ist  den  meisten 
Forschern  auf  diesen  Gebieten  längst  eine  ganz  geläufige,  fast  selbst- 
verständliche Forschungsregel  geworden.  Man  sollte  sich  aber  auch 
klar  machen,  daß  es  sich  dabei  immer  um  Wechselbeziehungen  handelt, 
die  zwischen  dem  schaffenden   Künstler  oder  Schriftsteller  einerseits 


§  47.  Richtungen  der  Soziologie  255 

und  der  kleineren  oder  größeren  Gemeinschaft,  der  sie  angehören  und 
auf  die  sie  wirken  wollen,  anderseits  bestehen.  Diese  Wechsel- 
beziehungen sind  den  Schaffenden  mitunter  deutlich  bewußt,  wirken 
aber  oft  auch  im  Dunkel  des  Unbewußten  in  ihrer  Seele.  Für  die 
Erkenntnis  dieser  weitverzweigten  und  nicht  immer  leicht  erkennbaren 
Wechselbeziehungen  hat  aber  die  Soziologie  das  Auge  geschärft  und 
wird  es  im  Fortgang  der  Forschung  noch  mehr  schärfen.  Es  ist 
deshalb  wichtig,  daß  die  Literatur-  und  die  Kunsthistoriker  sich  mit 
der  soziologischen  Betrachtungsweise  vertraut  machen  und  sich  der- 
selben mit  vollem  Bewußtsein  bedienen.  Auch  da,  wo  es  sich  darum 
handelt,  den  über  alle  historische  Bedingtheit  scheinbar  hinausragenden 
„Ewigkeitswert"  eines  Kunstwerkes,  den  allgemein  mensch- 
lichen Gehalt  einer  Dichtung  herauszuarbeiten  und  darzustellen, 
selbst  da  braucht  der  Kunst-  oder  Literarhistoriker  die  soziologische 
Betrachtungsweise.  Denn  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  und  der 
Gedanke  der  allgemeinen  Menschlichkeit,  diese  beiden  großen  Er- 
rungenschaften des  Menschengeistes,  können  in  ihrem  Entstehen  und 
in  ihrer  Entwicklung  nur  mit  Hilfe  der  soziologischen  Methode  richtig 
verstanden  und  gewürdigt  werden.  Der  weiter  unten  darzulegende 
Zusammenhang  von  Individualismus  und  Universalis- 
mus ist  für  die  Gebiete  der  Kunst  und  Literatur  von  grundlegender 
Bedeutung  und  bringt  für  die  ästhetische  Beurteilung  ganz  neue 
Gesichtspunkte.  Es  wird  sich  also  auch  für  die  richtige  Würdigung 
des  allgemein  Menschlichen  in  Kunst  und  Dichtung  die  soziologische 
Betrachtungsweise  als  fruchtbar  erweisen. 

Auf  den  beiden  großen  Gebieten  der  Philologie  und  der 
Sprachwissenschaft  haben  die  Forscher  bisher  von  der 
Soziologie  noch  wenig  Notiz  genommen.  Daß  auch  hier  die  neue 
Betrachtungsweise  fruchtbar  werden  könnte,  das  habe  ich  in  einem 
kleinen  Aufsätze  nachzuweisen  versucht  *). 

Im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  haben  sich  bestimmte  Rich- 
tungen in  der  Soziologie  ausgebildet,  über  die  nun  kurz  berichtet 
werden  soll. 

§  47.  Richtungen  der  Soziologie 

Man  kann  heute  im  ganzen  und  großen  etwa  fünf  verschiedene 
Richtungen  in  der  Soziologie  unterscheiden,  wobei  es  allerdings  an 
Zwischenstufen  und  an  Kombinationen  nicht  fehlen  dürfte. 

1.  Die  induktiv-statistische  Richtung.  Schon  in 
der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  wurde  vom  Belgier 
Quetelet  und  vom  Engländer  Buckle  der  Versuch  unternommen,  durch 
statistische  Untersuchungen  gewisse  Regelmäßigkeiten  und  Zu- 
sammenhänge im  sozialen  Leben  nachzuweisen.  So  fand  z.  B.  Buckle, 
daß  mit  dem  Steigen  der  Getreidepreise  gewöhnlich  die  Zahl  der  Ehe- 
schließungen sich  vermindere,  dagegen  die  Zahl  der  Selbstmorde  zu- 


*)  „Die  alten  Sprachen  und  die  neue  Zeit"  von  Wilh.  Jerusalem,  abgedruckt 
in  den  „Mitteilungen  des  Vereines  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums 
in  Wien",  Heft  20  (1921). 


256  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

nehme.  Manche  Forscher  sind  nun  auch  heute  noch  der  Meinung, 
daß  durch  fortwährende  Verfeinerung  der  statistischen  Methoden 
immer  mehr  solcher  Regelmäßigkeiten  und  Zusammenhänge  fest- 
gestelll  werden  könnten,  und  daß  darin  die  eigentliche  Aufgabe  der 
Soziologie  bestehe,  die  nichts  anderes  sein  dürfe  als  eine  ganz  exakte 
Tatsachenwissenschaft.  Nun  ist  es  ja  zweifellos,  daß  statistische  und 
historische  Untersuchungen  der  Gesellschaftslehre  ein  überaus  wert- 
volles Material  zu  liefern  vermögen,  und  je  genauer  diese  Feststellungen 
vorgenommen  werden,  desto  wertvoller  sind  die  so  zutage  tretenden 
Regelmäßigkeiten  und  Zusammenhänge.  Zu  wirklichen  soziolo- 
gischen Erkenntnissen  werden  diese  Tatsachen  aber  erst 
dann,  wenn  es  gelingt,  die  psychischen  Wechselbeziehungen  zwischen 
Individuum  und  Gruppe  aufzufinden,  aus  denen  die  ermittelten  äußer- 
lichen Zusammenhänge  tatsächlich  hervorgehen.  Die  Soziologie  ist 
ihrem  innersten  Wesen  nach  Geisteswissenschaft,  und  nur 
wenn  man  sie  als  solche  erfaßt  und  betreibt,  kann  sie  ihrer  wahren 
\ufgabe  gerecht  werden. 

2.  Die  biologisch-organische  Richtung.  Diese 
Auffassung  dringt  schon  deshalb  mehr  in  die  Tiefe  als  die  bloß  in- 
duktive Konstatierung  von  äußerlichen  Zusammenhängen,  weil  hier 
der  Grundsatz  gilt,  daß  man  die  einzelnen  Teile  der  Gesellschaft 
immer  nur  aus  der  Struktur  des  Ganzen  verstehen  kann,  niemals 
aber  das  Ganze  aus  seinen  einzelnen  Bestandteilen.  Betrachtet  man 
aber,  wie  dies  von  den  Vertretern  dieser  Richtung  oft  geschehen  ist, 
die  Gesellschaft  oder  den  Staat  als  einen  wirklichen  einheitlichen 
Organismus  und  versucht  man  die  einzelnen  Klassen,  Stände, 
Berufszweige  und  Institutionen  der  Gesellschaft  als  Organe  eines 
einzelnen  Lebewesens  zu  deuten  und  demgemäß  ihre  rein  b  i  o- 
logischen  Funktionen  zu  bestimmen,  so  führen,  wie  wir  bereits 
oben  gesehen  haben,  diese  viel  zu  weit  getriebenen  Analogien  stark 
in  die  Irre.  Herbert  Spencer  hat  diese  Fehlerquelle  bereits  klar  er- 
kannt, indem  er  darauf  hinweist,  daß  die  Gesellschaft  ja  aus  selb- 
ständig denkenden  und  wollenden  Individuen  bestehe,  während  die 
Organe  eines  einzelnen  Lebewesens  niemals  fähig  sind,  ein  Eigen- 
dasein zu  führen.  Spencer  spricht  deshalb  lieber  von  der  über- 
organischen Struktur  der  sozialen  Gebilde. 

Trotz  dieser  Irrwege  haben  einzelne  Vertreter  der  organischen 
Richtung  doch  sehr  tiefe  Einblicke  in  das  Wesen  des  menschlichen 
Zusammenlebens  zu  tun  vermocht.  Wir  dürfen  also  sagen,  daß  die 
biologisch  -  organische  Auffassung  der  Gesellschaft  als  heu- 
ristisches Prinzip  gute  Dienste  geleistet  hat.  Sie  verleitet  aller- 
dings leicht  zu  der  irrigen  Ansicht,  daß  es  möglich  sei,  die  überaus 
komplizierten  seelischen  Wechselwirkungen,  aus  denen  sich  das 
soziale  Leben  der  Menschen  zusammensetzt,  bloß  mit  Hilfe  der  natur- 
wissenschaftlichen Methode  sachgemäß  zu  beschreiben  und  in  seiner 
Tiefe  zu  erfassen. 

3.  Die  psychologische  Richtung.  Je  tiefer  die  For- 
schung in  das  Wesen  des  Gemeinschaftslebens  eindringt,  desto  deut- 
licher  stellt    es   sich    heraus,    daß    die    seelischen    Wechsel- 


§  47.  Richtungen  der  Soziologie  257 

beziehungen  seine  eigentliche  Grundlage  bilden.  Es  liegt  also 
der  Gedanke  nahe,  durch  tief  dringende  psychologische  Analysen 
die  Entstehung  und  die  Entwicklung  der  menschlichen  Verbände  in 
helleres  Licht  zu  setzen.  Wir  haben  bereits  oben  gesehen,  wie  dies 
Gabriel  Tarde  und  Georg  Simmel  versucht  haben.  Neben  ihnen  wären 
noch  Giddings  und  aus  der  neuesten  Zeit  Mc  Dougall  und  Alsworth 
Ross  zu  nennen.  Niemand  wird  leugnen,  daß  durch  die  Unter- 
suchungen dieser  Forscher  unsere  Einsicht  in  die  psychologischen 
Grundlagen  des  Gemeinschaftslebens  gefördert  worden  ist.  Tarde  hat 
sehr  erfolgreich  auf  die  Nachahmung,  Simmel  sehr  fein  auf  die 
Gegenseitigkeit  der  Beziehungen,  Mc  Dougall  auf  das  Be- 
dürfnis nach  Unterordnung  hingewiesen.  Trotzdem  birgt  die 
rein  psychologische  Methode  Gefahren  und  Fehlerquellen  in  sich,  die 
den  Seelenforschern  meist  unbekannt  bleiben.  Der  moderne  Psychologe 
geht  zunächst  selbstverständlich  vom  Individuum  aus  und  hat  ferner 
meistens  den  hochentwickelten  Kulturmenschen  der  Gegenwart  mit 
seinem  stark  differenzierten  Bewußtsein  im  Auge.  Die  Psychologen 
lassen  sich  ferner  von  der  Voraussetzung  leiten,  daß  die  Struktur  des 
Menschengeistes,  wenigstens  soweit  die  Grundfunktionen  des  Bewußt- 
seins in  Betracht  kommen,  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Völkern  dieselbe 
war  und  sich  im  ganzen  und  großen  auch  gleichgeblieben  ist.  Nun 
lehrt  uns  aber  die  moderne  Völkerkunde,  daß  die  Geistesart  der  Primi- 
tiven in  ganz  wesentlichen  Punkten  von  der  des  modernen  Kultur- 
menschen verschieden  ist.  Das  hat  Levy-Brühl  in  den  beiden  weiter 
unten  angeführten  Werken  auf  Grund  einer  überwältigenden  Fülle 
von  unzweifelhaften  Tatsachen  nachzuweisen  vermocht.  Es  ist  des- 
halb für  den  modernen  Individualpsychologen  überaus  schwer,  sich 
in  diese  von  der  unseren  so  ganz  verschiedene  Geistesart  hinein- 
zudenken. Die  Berichte  der  Reisenden  führen  da  sehr  oft  ganz  in 
die  Irre.  Nun  ist  aber  das  Studium  der  primitiven  Gesellschafts- 
gruppen für  die  Soziologie  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit,  weil  wir 
den  Menschen  auf  dieser  Kulturstufe  noch  in  dem  Zustand  voll- 
kommener sozialer  Gebundenheit  antreffen.  Was  das 
bedeutet,  wird  weiter  unten  dargelegt  werden.  Allerdings  ist  ja  der 
Versuch,  sich  in  die  Seele  der  Primitiven  einzufühlen,  in  gewissem 
Sinne  auch  ein  Akt  psychologischer  Forschertätigkeit.  Diese  Psycho- 
logie darf  aber  nicht  vom  Individuum  ausgehen,  sondern  muß  die 
Gruppe  als  Ganzes  ins  Auge  fassen. 

Die  psychologische  Richtung  hat,  besonders  durch  die  von  Simmel 
gegebenen  Anregungen,  in  den  allerletzten  Jahren  zur  Ausbildung 
einer  neuen  soziologischen  Methode  geführt,  die  von  ihren  Anhängern 
als  besonders  wissenschaftlich  bezeichnet,  sehr  hoch  eingeschätzt  und, 
wie  es  scheint,  immer  eifriger  gepflegt  wird.  Ich  möchte  sie  als  „f  o  r- 
m  a  1  i  s  t  i  s  c  h  e"  Richtung  bezeichnen  und  gleich  hier  der  Vermutung 
Ausdruck  geben,  daß  sie  sich  unter  dem  Einfluß  der  von  Husserl  in- 
augurierten „phänomenologischen   Philosophie"  ausgebildet  hat. 

4.  Die  formalistische  Richtung.  Ihr  Begründer  ist, 
wie  gesagt,  Georg  Simmel.  Gleich  im  ersten  Kapitel  seiner  großen 
„Soziologie"    macht  er  den  Versuch,    in  den  Vorgängen  der  „Ver- 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  I' 


258  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

gesdlschaftung"  Inhalt  und  Form  voneinander  zu  unterscheiden. 
I  Hu  Inhalt  bilden  nach  ihm  die  Triebe,  die  Interessen,  die  Zwecke  und 
die  Motive,  die  als  lebendige  und  gleichsam  gegenständliche  Seelen- 
kräfte zur  Vergesellschaftung  hinführen.    Dagegen  sind  die  Arten  der 
Wechselwirkungen  der   Individuen  aufeinander,  die  sich  im 
Prozesse  der  Vergesellschaftung  gleichsam  von  selbst  einstellen,  als 
die  Formen  der  Vergesellschaftung  anzusehen.    Soll  nun,  so  argu- 
mentiert Simmel  weiter,  die  Soziologie  als  selbständige,  als  einheitliche 
Wissenschaft  gegenüber  den  einzelnen  sozialen  Disziplinen,  wie  Rechts- 
wissenschaft, Staatslehre,  Sprachwissenschaft  u.  a.,  ihr  eigenes  Dasein 
führen,  so  kann  dies  nur  dann  der  Fall  sein,  wenn  sie  die  Formen 
der  Vergesellschaftung  gedanklich  von  den  damit  verbundenen  Inhalten 
loslöst  und  diese  Formen  zum  Gegenstand  einer  gesonderten  Unter- 
suchung macht.   Simmel  weiß  ganz  genau,  daß  sich  eine  tatsächliche 
Trennung  von  Inhalt  und  Form  nicht  vollziehen  läßt.    „In  jeder  vor- 
liegenden sozialen  Erscheinung,"  sagt  er  ganz  richtig,  „bilden  Inhalt 
und   gesellschaftliche   Form   eine   einheitliche    Realität;    eine   soziale 
Form  kann  so  wenig  eine  von  jedem  Inhalt  gelöste  Existenz  gewinnen, 
wie  eine  räumliche   Form  ohne  eine   Materie  bestehen  kann,  deren 
Form  sie  ist.   Dies  vielmehr  sind  die  in  der  Wirklichkeit  untrennbaren 
Elemente  jedes  sozialen  Seins  und  Geschehens:  ein  Interesse,  Zweck, 
Motiv  und  eine  Form  oder  Art  der  Wechselwirkung  unter  den  Indi- 
viduen, durch  die  oder  in  deren  Gestalt  jener  Inhalt  gesellschaftliche 
Wirklichkeit  erlangt"  (Soziologie,  S.  6  f.).  „Was  nun  die  Gesellschaft, 
in  jedem   bisher  gültigen   Sinne  des  Wortes,  eben   zur  Gesellschaft 
macht,  das  sind  ersichtlich  die  so  angedeuteten   Arten  der  Wechsel- 
wirkung." „Soll  es  also  eine  Wissenschaft  geben,  deren  Gegenstand 
die  Gesellschaft  und  nichts  anderes  ist,  so  kann  sie  nur  diese  Wechsel- 
wirkungen, diese   Arten  und   Formen  der  Vergesellschaftung   unter- 
suchen wollen."  „Daß  dieses  beides  (Inhalt  und  Form),  in  der  Wirklich- 
keit untrennbar  Vereinte,  in  der  wissenschaftlichen   Abstraktion   ge- 
trennt werde,    daß  die  Formen  der  Wechselwirkung  oder  Vergesell- 
schaftung, in  gedanklicher   Ablösung  von   den    Inhalten,  die  durch 
sie  erst   zu  gesellschaftlichen   werden,    zusammengefaßt  und   einem 
einheitlichen  wissenschaftlichen  Gesichtspunkte  methodisch  unterstellt 
werden  —  dies  scheint  mir  die  einzige  und  die  ganze  Möglichkeit 
einer  speziellen  Wissenschaft  von  der  Gesellschaft  als  solcher  zu  be- 
gründen" (S.  7).    Das  Recht  zu  einer  solchen  Loslösung  der  Formen 
hängt  nun  nach  Simmel  von  zwei   Bedingungen  ab:    „Es  muß  sich 
einerseits  finden,  daß  die  gleiche  Form  der  Vergesellschaftung  an  ganz 
verschiedenem  Inhalt,  für  ganz  verschiedene  Zwecke  auftritt  und  um- 
gekehrt, daß  das  gleiche  inhaltliche  Interesse  sich  in  ganz  verschiedene 
Formen  der  Vergesellschaftung  als  seine  Träger  oder  Verwirklichungs- 
arten kleidet"  (S.  8).   Simmel  behauptet  nun,  daß  beides  als  Tatsache 
ganz  unleugbar  sei.    „Über-  und  Unterordnung,  Konkurrenz,  Nach- 
ahmung,   Arbeitsteilung,    Parteibildung,    Vertretung,  Gleichzeitigkeit 
des  Zusammenschlusses  nach  innen  und  des  Abschlusses  nach  außen 
und  unzähliges  Ähnliches  findet  sich  an  einer  staatlichen  Gesellschaft 
wie  an  einer  Religionsgemeinde,  an  einer  Verschwörerbande  wie  an 


§  47.  Richtungen  der  Soziologie  259 

einer  Wirtschaftsgenossenschaft,  an  einer  Kunstschule  wie  an  einer 
Familie"  (S.  8).  Man  sieht  aus  Simmeis  klaren  und  scharfen  Dar- 
legungen, was  mit  der  Loslösung  der  Formen  vom  Inhalt  gemeint  ist 
und  wie  sich  der  Verfasser  den  Betrieb  dieser  —  allerdings  recht  ab- 
strakten —  Wissenschaft  denkt.  Er  selbst  hat  in  seiner  „Soziologie" 
einige  solcher  „Formen  der  Vergesellschaftung"  untersucht,  besonders 
„Über-  und  Unterordnung"  (134—248)  und  den  „Streit"  (247—336). 
Wie  wir  bereits  hervorgehoben  haben,  berücksichtigt  Simmel  dabei 
nur  die  Beziehungen  der  einzelnen  Individuen  zueinander  und  fast 
gar  nicht  die  Wechselwirkungen  zwischen  dem  Einzelnen  und  der 
Gruppe  als  einem  Ganzen. 

Mit  großer  Energie  haben  Leopold  v.  Wiese  und  Alfred  Vierkandt 
den  Gedanken  Simmeis  aufgenommen  und  weiter  entwickelt.  In  der 
ersten  Nummer  der  von  Wiese  redigierten  „Kölner  Viertel jahrshefte 
für  Sozialwissenschaften"  haben  diese  beiden  Forscher  die  forma- 
listische Richtung  der  Soziologie  klar  dargestellt  und  ihre  Aufgaben 
näher  bestimmt.  An  Stelle  des  etwas  zu  vieldeutigen  Wortes 
„Form"  will  Wiese  hiebei  von  einer  „Beziehungslehre"  sprechen,  die 
ganz  im  Sinne  Simmeis  die  seelischen  Wechselbeziehungen  zwischen 
den  Menschen  als  Grundlage  der  Soziologie  betrachtet  und  auf  rein 
erfahrungsmäßigem  Wege  zu  erforschen  und  in  ein  System  zu  bringen 
bemüht  sein  soll.  Er  eröffnet  zu  diesem  Zwecke  in  der  genannten  Zeit- 
schrift eine  eigene  Abteilung,  die  er  als  „Archiv  für  Beziehungslehre" 
bezeichnet.  In  einem  sehr  lehrreichen  Aufsatze  entwirft  dann  Vierkandt 
das  „Programm  einer  formalen  Soziologie".  Er  bespricht  darin  nicht 
bloß  die  Beziehungen  zwischen  den  einzelnen  Individuen,  sondern  weist 
auch  auf  die  „Tatsachen  des  Kollektivlebens,  das  Gesamt- 
bewußtsein, den  Gesamtwillen"  hin.  Vierkandt  glaubt,  daß  diese 
Richtung  deshalb  bis  zu  den  letzten  Tatsachen  vorzudringen  vermag, 
„weil  sie  nicht  bloß  aus  der  Erfahrung  verallgemeinert,  sondern  auch 
eine  Reihe  von  Tatbeständen  apriorisch  feststellen  kann,  weil  sie 
nicht  nur  induktiv  vorgeht,  sondern,  und  zwar  in  höherem 
Maße,  auch  phänomenologisch"  (I,  65)*).  Auch  Wiese, 
der  sonst  den  streng  empirischen  Charakter  der  „Beziehungs- 
lehre" scharf  betont,  scheint  von  der  phänomenologischen  Betrach- 
tungsweise wichtige  Ergebnisse  zu  erwarten.  Sagt  er  doch  ausdrücklich 
in  dem  oben  angeführten  Aufsatz:  „Bei  dieser  Aufgabenbestimmung 
der  Beziehungslehre  ist  sie  als  ein  Teil  der  Lehre  vom  Sein  (nicht 
des  Wertens),  als  Systematisierung  von  Tatsächlichem  bezeichnet; 
ihre  phänomenologische  Natur  steht  fest"  (1,50. 
Die  Sperrung  von  mir).  In  diesem  Hinweis  auf  die  Phänomenologie 
scheint  mir  nun  eine  gefährliche  Fehlerquelle  dieser  formalistischen 
Richtung  der  Soziologie  zu  liegen.  Wer  sich  der  Phänomenologie  im 
Sinne  Husserls  hingibt,  dessen  Sinn  ist  von  allem  Anfang  an  auf 
„W esensschau"  gerichtet.  Er  fühlt  sich  von  vornherein  ganz 
unabhängig  von  allen  Ergebnissen  historischer  und  induktiver  For- 
schung.    Der    Phänomenologe    ignoriert    in    seinem    stolzen    Selbst- 


*)  Die  Sperrungen  sind  von  mir. 


260  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

bevvußtsein  mit  voller  Absicht  die  Tatsache,  daß  er  selbst  mit  seiner 
ganzen  Denkfähigkeit  doch  auch  nur  ein  Produkt  der  sozialen  Ent- 
wicklung, daß  er  selbst  durch  und  durch  historisch  bedingt  ist.  Auf 
Grund  des  ganz  individuellen  Erlebnisses  glauben  diese  Forscher, 
durch  „Sichtigmachung",  durch  „Intuition"  und  die  von  Husserl  an- 
gegebenen Methoden  der  „Reduktion"  und  der  „Einklammerung" 
ganz  unabhängig  von  jeder  historischen  und  induktiven  Forschung 
zu  „absoluten"  Erkenntnissen  von  „höchster  Dignität"  zu  gelangen. 
Blickt  man  auf  die  Ergebnisse,  welche  die  Anwendung  der  „phäno- 
menologischen" Methode  auf  dem  Gebiete  der  Kunstforschung,  der 
Rechtslehre  und  in  letzter  Zeit  auch  der  Religionswissenschaft  zutage 
gefördert  zu  haben  behauptet,  so  muß  man  nur  über  den  Grad  des 
dogmatischen  Vertrauens  staunen,  welches  die  Anhänger 
dieser  Richtung  den  Erkenntniskräften  ihres  rein  individuellen  be- 
schränkten kleinen  Ichs  entgegenbringen  und  sich  zugleich  über  die 
Kühnheit  wundern,  welche  dazu  gehört,  rein  subjektive  Erlebnisse  für 
absolute,  allgemeingültige  Wahrheiten  auszugeben.  Die  phänomeno- 
logische Betrachtungsweise  ist  eben  mit  wirklichem  Empirismus,  der 
auf  dem  Gebiete  der  Geisteswissenschaften  nur  als  E  v  o  1  u  t  i  o  n  i  s- 
m  u  s  auftreten  kann,  ganz  unvereinbar,  weil  sie  ja  auf  die  Kon- 
statierung des  jetzt  vorhandenen  Seins  eingestellt  ist  und  die  Frage 
nach  dem  Werden  geradezu  verbietet.  Wenn  sich  also  die  „Be- 
ziehungslehre", wie  Vicrkandt  es  zu  wollen  scheint,  ganz  und  gar 
der  Phänomenologie  verschreibt,  dann  wird  sie  gerade  zu  dem  ge- 
langen, was  Wiese  durchaus  vermeiden  will,  zu  „unerträglichen,  vor- 
eiligen und  aberwitzigen  Spekulationen"  (I,  55).  Bleibt  sie  aber  auf 
dem  Boden  der  wirklichen  Erfahrung,  dann  wird  sie  der  ethno- 
graphischen, der  historischen  und  der  biologischen  Betrachtungsweise 
nicht  entraten  können. 

Diese  von  der  Schule  Dürkheims  mit  so  viel  Erfolg  eingeschlagene 
Richtung  scheint  mir  nun  unter  all  den  bisher  genannten  Methoden 
die  fruchtbarste  zu  sein.  Da  ich  derselben  in  der  folgenden  Dar- 
stellung meiner  eigenen  Ergebnisse  wiederholt  zu  gedenken  Gelegen- 
heit haben  werde,  so  genügt  es,  wenn  ihre  Eigenart  nur  ganz  kurz 
charakterisiert  wird. 

5.  Die  ethnographisch-historische  Richtung. 
Das  wichtigste  Merkmal  dieser  Betrachtungsweise  besteht  darin,  daß 
hier  nicht  vom  Einzelmenschen,  sondern  von  der  Gruppe  ausgegangen 
wird.  Die  Völkerkunde  hat  bewiesen,  daß  der  Mensch  als  sozial  ge- 
bundenes Herdentier  begonnen  hat,  und  deshalb  sind  die  „Kollektiv- 
vorstellungen" auch  zeitlich  früher  da  als  die  individuell  differenzierten, 
persönlich  gefärbten  Erlebnisse.  Versucht  man  nun  zu  zeigen,  wie 
sich  aus  der  sozial  gebundenen  Gruppe  infolge  der  Arbeitsteilung 
langsam  und  allmählich  selbständige  und  eigenkräftige  Persönlich- 
keiten herausentwickelt  haben,  wie  dadurch  ganz  neue  Seelenkräfte 
zur  Entfaltung  gelangen,  wie  das  wiederum  auf  die  Weiterentwicklung 
und  die  immer  kompliziertere  Gestaltung  der  nunmehr  sich  bildenden 
größeren  Gemeinwesen  zurückwirkt,  dann  fällt  ein  ganz  neues  Licht 
auf  die    immer  verwickelter  werdenden   Beziehungen    zwischen  dem 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  261 

Gemeinwesen  und  jedem  einzelnen  seiner  Mitglieder.  Verfolgt  man 
dann  diese  Entwicklungstendenzen  in  ihren  geschichtlichen  Aus- 
wirkungen, so  wird  die  Fruchtbarkeit  dieser  echt  soziologischen  Be- 
trachtungsweise immer  deutlicher  zutage  treten. 

Ich  glaube  nun  mit  Hilfe  dieser  Methode  zu  einer  Reihe  von 
soziologischen  Grundeinsichten  gekommen  zu  sein,  die  nunmehr  dar- 
gelegt werden  sollen. 

§  48.  Soziologische  Grundeinsichten. 

Als  Ergebnis  der  bisher  geleisteten  Forschungsarbeit  auf  dem 
Gebiete  der  Gesellschaftslehre  darf  man  vielleicht  folgende  vier 
Tatsachen  und  Gesetze  ansehen,  die  jedoch  nicht  nur  als  Resultate, 
sondern  zugleich  als  Richtlinien  für  die  weitere  Untersuchung  zu 
betrachten  sind. 

1.  Die  zur  Einheit  zusammengeschlossene 
organisierte  Menschengruppe,  die  den  eigent- 
lichen Gegenstand  der  Soziologie  bildet,  ist 
mehr  und  ist  etwas  anderes  als  die  Summe  der 
sie   bildenden    Mitglieder. 

Diese  Überzeugung  bildet  eigentlich  die  Voraussetzung  der  So- 
ziologie. Trotzdem  ist  sie  heute  noch  teils  wenig  verstanden,  teils 
viel  umstritten.  Herbert  Spencer  findet,  daß  alles,  was  in  der  Gesell- 
schaft ist,  in  den  einzelnen  Mitgliedern  vorhanden  sein  muß,  und 
sieht  deshalb  in  der  Gruppe  nur  die  Summe  oder  die  Integration  der 
einzelnen  Seelen.  Demgegenüber  betrachtet  wiederum  Dürkheini  und 
seine  Schule  die  Gesellschaft  als  etwas  von  den  Individuen  total  Ver- 
schiedenes. Die  „kollektiven  Vorstellungen"  unterliegen  seiner  Ansicht 
nach  ganz  anderen  Gesetzen  und  können  auf  dem  Wege  der  Individual- 
psychologie  nicht  verstanden  werden.  Alles  Soziale  ist  nach  Dürkheini 
dadurch  charakterisiert,  daß  es  dem  Einzelnen  gegenüber  einen 
imperativischen  Charakter  an  sich  trägt,  ihm  als  äußerer  Zwang 
gegenübersteht.  Er  spricht  deshalb  von  den  sozialen  Gebilden  mit 
Vorliebe  so,  als  ob  sie  eine  Art  äußerer  „Ding  e"  (choses)  wären, 
die  dem  Einzelnen  ebenso  als  „Widerstände"  gegeben  sind,  wie  man 
dies  oft  von  den  Wahrnehmungen  des  Tastsinnes  gesagt  hat.  Das 
wollen  nun  individualistisch  orientierte  Denker  nicht  nur  nicht  gelten 
lassen,  sondern  überhaupt  gar  nicht  begreifen.  Dürkheims  Ausdrucks- 
weise klingt  in  der  Tat  beim  ersten  Lesen  seiner  Schriften  oft  recht 
seltsam,  und  es  ist  deshalb  nicht  zu  verwundern,  daß  viele  seine 
Aufstellungen  ablehnen.  Sieht  man  aber  etwas  genauer  zu,  so  findet 
man  bald,  daß  seine  Betrachtungsweise  doch  weit  mehr  geeignet  ist, 
Klarheit  in  die  soziologische  Struktur  der  Gesellschaft  zu  bringen  als 
die  Herbert  Spencers  und  der  meisten  anderen  Soziologen.  Dürkheini 
weiß  sehr  wohl,  daß  das  kollektive  Bewußtsein,  dessen  Wandlungen 
er  an  den  objektiv  gegebenen  Erzeugnissen  desselben,  meist  an  reli- 
giösen Kulten  und  an  Rechtsgebräuchen  studiert,  nichts  Transzendentes 
ist  und  seine  Wirklichkeit  und  Wirksamkeit  nicht  anderswo  betätigen 
kann  als  in  den  Einzelseelen.    Allein  er  versteht  es  vortrefflich,  in 


262  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

den  Einzelseelen  den  sozialen  Gehalt  von  dem  persönlichen 
zu  scheiden  und  zeigt  uns  namentlich  in  seinem  Werk  über  die  Teilung 
der  Arbeit,  wie  das  Gesamtbewußtsein  in  den  primitiven  Phasen  der 
Entwicklung  fast  die  ganze  Seele  des  Einzelnen  ausfüllte  und  wie  erst 
allmählich  die  Einzelseelen  ihre  Sonderinhalte  gewinnen. 

Durch  die  fortwährende  seelische  Wechselwirkung,  die  sich 
/wischen  den  Mitgliedern  der  Gruppe  abspielt,  wird  tatsächlich  etwas 
Neues  geschaffen,  das  der  Einzelne  aus  sich  selbst  niemals  hervor- 
bringen könnte.  So  entsteht  die  Sprache,  so  bilden  sich  religiöse 
<  ihuibensvorstellungen  und  Kultgebräuche,  so  das  Recht  und  die 
Sitte  als  Erzeugnisse  des  Gemeinschaftslebens  aus.  Diese  werden 
zum  Gemeinbesitz  des  Clans,  des  Stammes,  der  Dorfgemeinde,  des 
Volkes.  Von  frühester  Jugend  an  tritt  dieses  Gemeingut  jedem  Ein- 
zelnen als  etwas  Gegebenes,  Dauerndes,  Festes,  zugleich  aber  auch 
als  etwas  Ehrfurcht  Gebietendes  und  Zwingendes  entgegen.  Dieser 
geistige  Gemeinbesitz  der  Gruppe,  an  dessen  tatsächlichem  Vorhanden- 
sein und  an  dessen  bedeutungsvoller  Wirksamkeit  niemand  zweifeln 
kann,  der  das  Zusammenleben  der  Menschen  denkend  betrachtet,  dieser 
Gemeinbesitz  ist  es,  durch  den  die  Gruppe  mehr  und  etwas  anderes 
ist  als  die  Summe  ihrer  Mitglieder*).  Sie  bekommt  eben  durch  dieses 
geistige  Gemeingut  eine  Art  selbständiger  Existenz,  ein  eigenes  Leben. 
Dürkheim  sagt  also  ganz  richtig  in  seiner  Schrift:  „Die  Methode  der 
Soziologie"  (deutsche  Ausgabe,  S.  132):  „Die  Gesellschaft  ist  nicht 
bloß  eine  Summe  von  Individuen,  sondern  das  durch  deren  Verbindung 
gebildete  System  stellt  eine  spezifische  Realität  dar,  die  ihren  eigenen 
Charakter  hat.  Allerdings  kann  eine  soziale  Erscheinung  nicht  ent- 
stehen, ohne  daß  ein  Einzelbewußtsein  vorhanden  ist,  doch  ist  diese 
notwendige  Bedingung  allein  nicht  ausreichend.  Die  einzelnen  Seelen 
müssen  noch  verbunden,  kombiniert  und  in  einer  bestimmten  Art  kom- 
biniert sein;  es  ist  diese  Verbindungsart,  aus  der  das  soziale  Leben 
folgt.  Indem  sie  aneinandertreten,  sich  durchdringen  und  verschmelzen, 
bringen  die  individuellen  Seelen  ein  neues,  wenn  man  will,  psychisches 
Wesen  hervor,  das  eine  psychische  Individualität  von  einer  neuen  Art 
darstellt.  Die  Gruppe  denkt,  fühlt  und  handelt  ganz  anders,  als  es 
ihre  Mitglieder,  wären  sie  isoliert,  tun  würden.  Wenn  man  also  von 
den  letzteren  ausgeht,  so  wird  man  die  Vorgänge  in  der  Gruppe  niemals 
verstehen."  Dürkheim  geht  hier  in  der  Trennung  der  Soziologie  von 
der  Psychologie  entschieden  zu  weit.  Es  kommt  ihm  aber  in  diesem 
methodologischen  Buche  besonders  darauf  an,  die  Eigenart  des  So- 
zialen scharf  hervorzuheben  und  zu  zeigen,  daß  die  Gruppe  nicht  als 


•)  Während  des  Druckes  finde  ich  dieselbe  Ansicht  bei  dem  englischen 
Soziologen  William  Mc  Doügall  deutlich  ausgesprochen.  In  seinem  kürzlich 
erschienenen  Werke  „The  Group  Aliud"  (Cambridge  1021)  heißt  es  S.  12  f.: 
„Nicht  deshalb,  weil  die  Geister  (der  Einzelnen)  viel  miteinander  gemein  haben, 
spreche  ich  von  dem  Gesamtgeist  (collective  mind),  sondern  weil  die  Gruppe 
als  solche  mehr  ist  als  die  Summe  der  Individuen,  weil  sie  ihr 
eigenes  Leben  hat,  das  sich  gemäß  gewissen  Gesetzen  des  Gruppenlebens  ent- 
u  ic  kelt,  welche  nicht  die  Gesetze  des  individuellen  Lebens  sind,  weil  ihr  eigen- 
artiges Oruppenleben  auf  das  Leben  der  Individuen  einwirkt  und  dasselbe  tief- 
gehend beeinflußt."  (Die  Übersetzung  ist  von  mir.) 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  263 

bloße  Summe  von  Einzelnen  betrachtet  werden  darf.  Dürkheim  weiß 
aber  ganz  genau,  daß  der  geistige  Gemeinbesitz  der  Gruppe,  der  eben 
ihre  Eigenart  und  ihre  Selbständigkeit  ausmacht,  mit  überwältigender 
Kraft  auf  die  einzelnen  Seelen  einwirkt,  und  zwar  derart,  daß  in 
primitiven  Phasen  der  Entwicklung  das  Denken  und  Fühlen  der 
Gruppe  die  Seelen  ihrer  Mitglieder  ganz  ausfüllt.  Daß  aber  dieser 
Gemeinbesitz  nur  in  diesen  Einzelseelen  wirklich  und  wirksam  ist, 
das  würde  Dürkheim  ohne  weiteres  zugeben.  Soziologisch  wichtig  ist 
aber  vor  allem  die  unzweifelhafte  Realität  und  die  bedeutungsvolle 
Wirksamkeit  dieses  Gemeinbesitzes,  der  das  Leben  der  Individuen 
überdauert,  eine  starke  Festigkeit  zeigt  und  sich  nur  langsam  und 
allmählich  verändert.  Wie  dieses  Gemeingut  sich  in  den  Seelen  der 
Einzelnen  reflektiert,  das  wird  unsere  zweite  soziologische  Grund- 
einsicht deutlich  machen. 

2.  Alle  sozialen  Gebilde,  das  heißt  alle  Erzeug- 
nisse des  menschlichen  Gemeinschaftslebens, 
haben  eine  eigenartige  Doppelfunktion.  Sie  sind 
außer  uns  und  über  uns,  zugleich  aber  auch  in  uns. 

Auf  diese  merkwürdige  Eigenschaft  aller  sozialen  Dinge  haben 
zuerst  zwei  französische  Soziologen  aus  der  Schule  Dürkheims  hin- 
gewiesen. H.  Hubert  und  M.  Mauss  sagen  in  ihrer  gemeinsamen  Arbeit 
über  das  Opfer:  „Dieser  Charakter  der  intimen  Durchdringung  und 
Trennung,  der  Immanenz  und  der  Transzendenz  ist  im  höchsten 
Grade  bezeichnend  für  die  sozialen  Dinge.  Sie  sind,  je  nach  dem 
Standpunkt,  auf  den  man  sich  stellt,  zugleich  innerhalb  und 
außerhalb  des  Individuums."*)  Diesen  von  den  Ver- 
fassern nur  als  flüchtige  Bemerkung  hingeworfenen  Gedanken  habe 
ich  in  meinem  Buche  „Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre" 
zu  einer  soziologischen  Grundformel  ausgestaltet,  die  sich  für  das 
Verständnis  der  sozialen  Struktur  von  Staat,  Nation  und  Menschheit 
überaus  fruchtbar  erwiesen  hat.  Am  deutlichsten  läßt  sich  jedoch  diese 
Doppelfunktion  an  einem  sozialen  Gebilde  veranschaulichen,  das  jeder 
kennt,  jeder  täglich  als  soziales  Werkzeug  gebraucht  und  an  dessen 
sozialer  Provenienz  niemand  zu  zweifeln  vermag.  Ein  solches  Gebilde 
ist  die  Sprach  e. 

Daß  die  Sprache  nur  als  Produkt  des  Gemeinschaftslebens  ent- 
stehen kann,  braucht  wohl  nicht  erst  bewiesen  zu  werden.  Sie  ist 
ein  durchaus  soziales  Gebilde,  und  zwar  als  ein  Erzeugnis  der 
seelischen  Wechselwirkung  in  ihrem  Wesen  durchaus  geistiger 
Natur.  Werden  doch  die  physiologisch  erzeugten  und  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Laute  erst  dadurch  zur  Sprache,  daß  sie,  wie  Aristoteles 
sagt,  a6u.ßoXa  twv  iv  z-q  tyr/%  das  heißt  zu  Zeichen  psychischer  Vor- 
gänge gemacht  werden.    Jeder  Einzelne  wächst  nun  in  die  fertige 


*)  „Le  caractere  de  penetration  intime  et  de  Separation,  d'immanence  et  de 
transcendance  est,  au  plus  haut  degre,  distinctif  des  choses  sociales.  Elles  aussi 
existent  ä  la  fois,  selon  le  point  de  vue  auquel  on  se  place  dans  et  hors 
l'i  n  d  i  v  i  d  u."  Hubert  et  Mauss.  „Essai  sur  la  nature  et  la  fonction  du  sacrifice". 
Zuerst  erschienen  in  „L'annee  sociologique",  II,  dann  wieder  abgedruckt  in 
„Melanges  d'histoire  des  religions",  1909,  p.  128. 


264  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Sprache  seines  Volkes  hinein.  Er  muß  sich  selbstverständlich  nach 
ihrem  Lautbestand  und  nach  ihren  Gesetzen  richten.  Die  Sprache 
steht  ihm  somit  als  etwas  Objektives,  nicht  von  ihm  Geschaffenes 
gegenüber.  Sie  ist  also  über  ihm  und  außer  ihm.  Zugleich  aber 
bildet  sie  einen  integrierenden  Bestandteil  seines  psychischen  Inventars. 
Sie  steht  ihm  zur  Verfügung,  wenn  er  ausdrücken  will,  was  er  denkt, 
was  er  fühlt  und  was  er  von  seinem  Nebenmenschen  erreichen  will. 
Sie  ist  also  nicht  nur  außer  und  über  ihm,  sondern  auch  i  n  ihm 
und  diese  Doppelfunktion  gehört  zu  ihrem  Wesen.  Hat  man  sich  das 
einmal  klargemacht,  so  erkennt  man  dieselbe  Doppelnatur  leicht  auch 
an  anderen  sozialen  Gebilden.  Man  findet  sie  in  der  Religion,  im 
Recht,  in  den  sittlichen  Normen,  aber  auch  in  der  Mode  und  in  der 
öffentlichen  Meinung  wieder.  Ja,  es  zeigt  sich  bei  etwas  genauerer 
Untersuchung,  daß  eine  soziale  Institution  erst  dann  zu  ihrer  vollen 
soziologischen  Auswirkung  gelangt,  wenn  die  beiden  Momente  ihrer 
Doppelfunktion  gleich  stark  entwickelt  sind,  daß  sie  dagegen  an 
bindender  und  zusammenhaltender  Kraft  verliert,  wenn  nur  die  eine 
Seite  ihres  Wesens  deutlich  hervortritt,  die  andere  aber  noch  nicht 
zur  vollen  Entfaltung  gelangt  ist.  Wir  wollen  dies  an  einigen  sozio- 
logisch besonders  bedeutsamen  Gebilden  zu  veranschaulichen  suchen 
und  wählen  dazu  den  Staat,  die  Nation  und  die  Idee  der 
ganzen    Menschheit. 

Der  Staat  ist  in  normalen  Friedenszeiten  in  weit  höherem 
Grade  über  mir  und  außer  mir  als  i  n  mir.  Er  tritt  mir  als  Polizei- 
gewalt, als  Steuerbehörde,  als  lästiger  Regulator  gegenüber  und  er 
stellt  sich  da  meistens  als  eine  Macht  dar,  die  hemmend  und  störend 
in  meine  Aktionssphäre  eingreift.  Ich  füge  mich  seinen  Geboten, 
allein  er  erscheint  mir  als  etwas  Fremdes,  ja  mitunter  sogar  als  etwas 
Feindliches,  gegen  das  ich  mich  zur  Wehr  setzen  möchte.  Trotzdem 
fühle  ich  mich  als  einen  Teil  dieses  Ganzen,  und  es  bedarf  nur  der 
geeigneten  Gelegenheit,  um  dieses  Gefühl  in  mir  lebendig  zu  machen. 
Am  Anfange  des  Weltkrieges,  im  August  1914,  konnte  man  es  in 
Deutschland  und  Deutschösterreich  geradezu  anschaulich  beobachten, 
wie  das  Bewußtsein  der  Zugehörigkeit  zum  Staate  sich  tief  in  jede 
I  inzelseele  hineinsenkte.  In  den  großen  Volksheeren  stand  der  Staat 
für  jeden  greifbar  und  verkörpert  da.  Die  Macht  und  die  Autorität 
des  Staates  wurden  dabei  immer  größer.  Der  Staat  war  gewiß  nicht 
weniger  außer  uns  und  über  uns  als  im  Frieden,  allein  er  wuchs  jetzt 
immer  stärker  in  uns  hinein.  Jeder  fühlte  sich  als  einen  Teil  dieses 
<  tanzen,  von  dessen  Existenz  auch  sein  eigenes  Wohl  und  Wehe  ab- 
hing. Auch  in  England,  wo  das  Freiheitsgefühl  der  Persönlichkeit 
so  stark  ausgebildet  ist,  daß  jede  unbefugte  Einmischung  des  Staates 
in  die  Rechtssphäre  des  Individuums  immer  mit  der  größten  Energie 
bekämpft  wurde,  hat  der  Krieg  das  Bewußtsein  der  Zugehörigkeit 
zum  Staate  zweifellos  in  hohem  Grade  gestärkt.  Sonst  wäre  die  dem 
•  iiglischen  Nationalcharakter  so  wenig  zusagende  allgemeine  Wehr- 
pflicht nicht  so  rasch  und  nicht  so  wirksam  durchzuführen  gewesen. 
Die  soziologische  Wirksamkeit  des  Staates  ist  also  dadurch  erhöht 
worden,  daß  er  seinen  Bürgern  nicht  bloß  als  Macht  und  Autorität 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  263 

gegenüberstand,  also  nicht  bloß  außer  und  über  ihnen  stand, 
sondern  auch  einen  integrierenden  Bestandteil  jeder  Einzelseele  bildete 
und  so  zugleich  in  ihnen  wirksam  wurde. 

Es  wird  deshalb  —  das  kann  man  aus  unserer  soziologischen 
Grundformel  des  „in  mir"  und  „über  mir"  lernen  —  nach  dem  Kriege 
die  Aufgabe  aller  Staatenlenker  sein,  nicht  nur  die  Macht  und  die 
Autorität  des  Staates  zu  wahren,  sondern  vor  allem  darauf  bedacht 
zu  sein,  das  Gefühl  der  Zugehörigkeit  jedes  Einzelnen  zum  Staat 
besonders  bei  der  heranwachsenden  Jugend  zu  pflegen,  weil  der  Staat 
seine  bindende  und  zusammenhaltende  Kraft  nur  dann  zur  vollen 
Entfaltung  bringen  kann,  wenn  er  nicht  nur  als  Macht  und  Autorität 
über  dem  Einzelnen  steht,  sondern  auch  im  Bewußtsein  eines  jeden 
tief  verankert  ist. 

Die  Nation,  der  ich  angehöre,  ist  wiederum,  solange  sie  sich 
noch  nicht  zu  einem  selbständigen  Staat  ausgestaltet  hat,  mehr 
i  n  m  i  r  als  ü  b  e  r  m  i  r.  Sie  erzeugt  in  mir  ein  lebendiges  Zu- 
gehörigkeitsgefühl, eine  liebevolle  Begeisterung  für  die  heimatliche 
Sprache  und  Literatur,  ein  starkes  Interesse  für  die  Geschichte  meines 
Volkes,  ein  mächtiges  Streben,  an  der  Weiterentwicklung  desselben  mit- 
zuarbeiten, vielleicht  auch  eine  Abneigung,  ja  mitunter  sogar  einen 
Haß  gegen  andere  Nationen,  besonders  gegen  solche,  die  die  Ent- 
faltung meiner  nationalen  Eigenart  hindern  und  hemmen.  Wenn  nun 
verschiedene  Nationen  in  einem  gemeinsamen  Staatswesen  zusammen- 
leben, so  kann  man  die  Verschiedenheit  der  beiden  Zugehörigkeits- 
verhältnisse deutlich  beobachten.  Es  kann  geschehen,  daß  der  Staats- 
verband stärker  bindet  als  die  Nationalität.  Dafür  bietet  die  Schweizer 
Eidgenossenschaft  ein  besonders  lehrreiches  Beispiel.  Auf  der  Balkan- 
halbinsel hingegen  und  auch  im  alten  Österreich  haben  einzelne 
Nationen  die  Zugehörigkeit  zu  einem  anderen  Staate  drückend  emp- 
funden und  mit  allen  Kräften  nach  staatlicher  Selbständigkeit  gestrebt. 
Schon  dieses  Streben  zeigt  uns,  daß  die  nationale  Einheit  als  etwas 
noch  nicht  Vollendetes  betrachtet  und  gefühlt  wird.  Sie  bedarf  der 
Vollendung  durch  die  staatliche  Gemeinschaft,  weil  dadurch  erst  zu 
dem  „in  mir"  das  „über  mir"  hinzutritt.  Mit  der  Ausgestaltung  zum 
Staate  bekommt  die  Nation  erst  Macht  und  Autorität  und  jetzt  erst 
kann  die  vollendete  Organisation  ihre  ganze  soziologische  Wirksamkeit 
entfalten. 

Wenden  wir  nun  unsere  Grundformel  auf  die  Idee  der  ganzen 
Menschheit  als  einer  großen  Einheit  an,  so  sehen  wir  auch  hier  vieles 
klarer  und  deutlicher.  Wir  werden  weiter  unten  zu  zeigen  haben,  wie 
diese  Idee  entstanden  ist  und  mit  welchen  Entwicklungstendenzen  sie 
zusammenhängt.  Hier  aber  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  diese 
Idee  von  unseren  großen  Dichtern  und  Denkern,  von  Schiller  und 
Goethe,  von  Herder,  Kant  und  Wilhelm  v.  Humboldt,  liebevoll  gehegt, 
kraftvoll  verteidigt  und  dadurch  tief  in  unsere  Seelen  hineingepflanzt 
wurde.  Sie  ist  aber  bloß  i  n  u  n  s  und  noch  nicht  über  uns.  Die 
ganze  Menschheit  ist  noch  lange  nicht  zur  organisierten  Einheit  zu- 
sammengeschlossen. Es  läßt  sich  auch  nicht  leugnen,  daß  der  Natio- 
nalismus des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  Idee  der  ganzen  Mensch- 


»56  Soziologie  und  Geschiclitsphilosophie 

bei!    eine   Zeitlang   stark   zurückgedrängt   hat.    Weltbürgertum  galt 
vielen    und    gilt    vielleicht    heute    noch    nicht    wenigen    als   utopische 
Schwärmerei,    als  kraftlose,    ja  sogar  als  vaterlandlose  Gesinnung. 
Der  gewaltige  Weltkrieg,  der  nicht  bloß  durch  den  wirtschaftlichen 
Konkurrenzkampf  der  Staaten,  sondern  gewiß  zum  Teil  auch  durch 
den  nationalen  Chauvinismus  entfesselt  wurde,  ließ  anfangs  die  Idee 
der    ganzen    Menschheit    und    die   von    dieser    Idee   getragene    weit- 
bürgerliche  Gesinnung  noch  mehr  zurücktreten.    Jetzt  aber  bekommt 
die  alte   Idee  wieder  neue  Kraft.    Wenn  der  Völkerbund  einmal  so 
ausgestaltet  sein  wird,  daß  der  größte  Teil  der  Menschheit  sich  darin 
auf  dem   Boden  des   Rechtes    zur  organisierten   Einheit    zusammen- 
schließt, dann  wird  die  Verheißung  der  Propheten  Israels,  dann  werden 
die  Pläne  der  Weltverbrüderung,  wie  sie  einem  Dante,  einem  St.  Pierre, 
einem  Bentham  und  einem  Kant  vorschwebten,  nicht  mehr  bloße  Ideen, 
nicht  mehr  bloß  in  uns  sein.    Die  Menschheit  wird  uns  als  organi- 
sierte Macht  und  Ehrfurcht  gebietende  Autorität  gegenübertreten  und 
so  wird  sich  zu  dem  „i  n  u  n  s"  das  machtgebietende  „über  u  n  su 
gesellen.  Erst  dann  aber  wird  das  soziale  Gebilde  der  ganzen  Mensch- 
heit seine  volle  soziologische  Wirksamkeit  entfalten  können  und  die 
kommenden   Geschlechter   vor   der   Wiederkehr   einer   solchen   Welt- 
katastrophe, wie  wir  sie  erleben  mußten,  zu  bewahren  imstande  sein. 
'  Wir  sehen  also,  daß  die  Einsicht  in  die  eigenartige  Doppelfunktion 
der  sozialen  Gebilde  sehr  viel  zum  Verständnis  der  soziologischen  Be- 
deutung der  verschiedenen  Verbände  beizutragen  vermag.    Es  wird 
eine  dankbare  Aufgabe  für  künftige  Soziologen  bilden,  diese  Grund- 
formel auch  auf  kleinere  Verbände,    die  sich  innerhalb  der  großen 
politischen  Organisationen  bilden,  anzuwenden  und  ihre  aufklärende 
Kraft  dadurch  immer  wieder  aufs  neue  zu  erproben. 

Die  unter  1  und  2  formulierten  soziologischen  Grundeinsichten 
liefern  uns  den  Standpunkt,  von  dem  aus  alle  sozialen  Dinge  be- 
trachtet werden  müssen.  Sie  sind  sozusagen  eine  Art  soziologischer 
I  »rille,  die  geeignet  macht,  in  allen  diesen  Fragen  schärfer  zu  sehen. 
Die  nun  folgenden  Grundeinsichten  sind  nicht  mehr  bloß  formaler 
und  heuristischer  Natur.  Sie  vermitteln  uns  vielmehr  das  Verständnis 
für  den  geschichtlichen  Verlauf  der  sozialen  Entwicklung  und 
sollen  uns  lehren,  die  Gegenwart  und  die  Zukunft  aus  der  Vergangen- 
heit zu  verstehen. 

3.  Der  Mensch  hat  als  sozial  gebundenes 
Herdentier  begonnen  und  sich  erst  langsam  und 
allmählich  zu  einer  selbständigen  und  eigen- 
kräftigen    Persönlichkeit    h  i  n  a  u  f  e  n  t  w  i  c  k  e  1 1. 

Diese  Grundeinsicht  verdanken  wir  vor  allem  der  modernen 
Völkerkunde.  Wissenschaftlich  gebildete  Forschungsreisende  haben 
uns  in  den  letzten  Jahrzehnten  mit  den  primitiven  Völkerstämmen 
Amerikas,  Anikas  und  besonders  Australiens  und  seiner  Inselwelt 
bekannt  gemacht.  Sie  haben  die  soziale  Struktur  dieser  Menschen- 
g nippen  erforscht,  und  es  ist  ihnen  zugleich  möglich  geworden,  tiefe 
Einblicke  in  das  Seelenleben  dieser  auf  einer  primitiven  Stufe  der 
Kultur    zurückgebliebenen    Völker    zu    gewinnen.     Trotz    aller    Ver- 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  267 

schiedenheiten,  die  sich  da  vorfinden,  ergibt  sich  aus  den  Berichten  in 
einem  Punkte  völlige  Übereinstimmung.  Der  primitive  Mensch  ist  in 
seinem  Denken  oder  genauer  gesprochen  in  seiner  Deutung  der  Sinnes- 
wahrnehmungen, in  seinem  Fühlen  und  Wollen  ganz  und  gar  an  die 
Tradition  seines  Stammes  gebunden.  Levy-Brühl  hat  uns  in  seinen 
beiden  Werken  über  die  Geistesart  der  Primitiven  eine  überaus  dankens- 
werte, zusammenfassende  Darstellung  des  Denkens  und  Fühlens  der 
Naturvölker  gegeben*).  Es  ist  für  diese  Stufe  der  sozialen  Gebunden- 
heit besonders  charakteristisch,  daß  es  hier  ein  rein  theoretisches 
Denken,  ein  objektives  Beobachten  von  Tatsachen  noch  gar  nicht  gibt. 
Der  Intellekt  dieser  Gruppen  wird  nur  durch  Eindrücke  in  Bewegung 
gesetzt,  die  für  die  Erhaltung  des  Lebens  bedeutsam  sind,  also  durch 
Erscheinungen,  die  Hoffnung  oder  Furcht  erwecken  und  dadurch  zu 
biologisch  wichtigen  Maßnahmen  Anlaß  geben.  Dabei  ist  ferner  der 
Glaube  an  unsichtbare  Geister  und  Dämonen,  die  in  das  Leben  ein- 
greifen, so  allgemein  und  so  intensiv,  daß  die  ganze  Denk-  und  Lebens- 
weise der  Primitiven  durch  diese  Vorstellungen  beeinflußt  und  reguliert 
wird.  Durch  die  bei  allen  Naturvölkern  üblichen  Einweihungszeremonien, 
denen  sich  die  jungen  Leute  bei  ihrer  Aufnahme  in  die  Gemeinschaft  des 
Stammes  zu  unterziehen  haben,  wird  diese  seelische  Struktur  mit  ihren 
festgelegten  Inhalten  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortgepflanzt  und 
wurde  von  den  modernen  Reisenden  so  vorgefunden,  wie  sie  vor  vielen 
Jahrtausenden  sich  ausgebildet  und  die  ganze  Zeit  hindurch  erhalten 
hatte.  Man  sieht  deutlich,  daß  mit  der  sozialen  Gebundenheit  die 
Vorherrschaft  des  Affektiven  und  Emotionalen  über  den  noch  wenig 
entwickelten  Intellekt  Hand  in  Hand  geht.  Der  so  allgemein  ver- 
breitete, so  unerschütterlich  feste,  durch  keinerlei  konkrete  Demon- 
stration ins  Wanken  zu  bringende  Glaube  an  Geister,  an  Dämonen 
und  an  die  Kraft  der  Zauberei  ist  als  ein  Produkt  der  emotionalen 
Phantasie  entstanden  und  durch  soziale  Verdichtung  verfestigt  worden. 
Man  lese  z.  B.  die  zahlreichen  Belege  dafür,  daß  Krankheit  und  Tod 
bei  den  Primitiven  überall  auf  die  Einwirkung  von  Geistern  und 
Dämonen  zurückgeführt  werden  und  daß  zugleich  der  Glaube  all- 
gemein verbreitet  ist,  die  Krankheit  könne  nur  durch  zauberische  Ein- 
wirkung auf  den  Dämon  geheilt  werden  (Levy-Brühl,  „Das  Denken 
der  Naturvölker",  S.  232  ff.)  und  man  wird  sich  ein  Bild  von  dem 
sozial  gebundenen  Denken  dieser  Menschengruppen  machen  können. 
Man  wird  es  dann  auch  begreifen,  daß  der  Einzelne  auf  dieser  Ent- 
wicklungsstufe durchaus  nicht  die  Fähigkeit  besitzt,  sich  über  das 
Niveau  seiner  Stammesgenossen  zu  erheben  und  daß  seine  Seele  gleich- 
sam ganz  ausgefüllt  ist  von  den  Anschauungen,  Gefühlen  und  Willens- 
dispositionen der  Gruppe.  Dürkheim  hat  in  seinem  Buche  „La  division 
du  travail  social"  sehr  richtig  darauf  hingewiesen,  daß  auch  das 
Hervortreten  einzelner  Häuptlinge  im  Kriege  noch  keine  Individuali- 


*)   Das   erste  dieser  beiden   Bücher  heißt:    „Les  fonctions  mentales  dans 
les  societes  inferieures"  (1910)  und  ist  unter  dem  Titel:  „Das  Denken  der  Natur- 
völker" von  mir  in  deutscher  Übersetzung  herausgegeben  und  durch  ein  längeres 
Vorwort  eingeleitet  worden    (Wien  1921).    Das  zweite,  erst  kürzlich  erschienene 
führt  den  Titel:  „La  mentalite  primitive"  (Paris  1922). 


268  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

sierung  bedeutet.  Der  Häuptling  ist  hier  nichts  anderes  als  der  Träger 
des  Gesamtwillens,  und  weil  ihn  die  Gruppe  als  solchen  betrachtet, 
hat  er  unbeschränkte  Gewalt  und  unbedingte  Autorität.  So  zeigt  es 
sich  also,  daß  die  beiden  grundlegenden  Sätze  des  Aristoteles,  der 
Mensch  sei  von  Natur  aus  ein  soziales  Wesen,  und  der  Staat  sei 
früher  als  das  Individuum,  im  Lichte  der  modernen  Völkerkunde  eine 
ganz  neue  Bedeutung  gewinnen  und  einen  viel  tieferen  Einblick  in 
das  Wesentliche  der  menschlichen  Geistesentwicklung  tun  lassen,  als 
ihr  Urheber  ahnen  konnte.  Der  Mensch  hat  wirklich  als  gebundenes 
Herdentier  begonnen  und  seine  Seele  war  von  einem  kollektiven,  durch 
das  Gemeinschaftsleben  erzeugten  Inhalte  ganz  erfüllt,  bevor  sie  sich 
zu  einer  selbständigen,  eigenartigen  und  eigenkräftigen  Einzelseele 
hinaufentwickeln  konnte.  Es  handelt  sich  nun  darum,  den  Weg  zu 
finden,  den  der  Mensch  gehen  mußte,  um  aus  einem  sozial  gebundenen 
Herdentier  sich  zu  einer  freien,  selbständigen  Persönlichkeit  aus- 
zugestalten. 

Diesen  Weg  hat  uns  die  Entwicklungslehre  gezeigt. 
Wir  haben  aus  ihr  das  allgemeine  Gesetz  des  Geschehens  kennen 
gelernt,  daß  sich  im  ganzen  Universum  fortwährend  eine  Verwandlung 
des  Gleichartigen  in  ein  Ungleichartiges  vollzieht.  Herbert  Spencer, 
der  Philosoph  des  Evolutionismus,  hat  diese  zuerst  von  Ernst  v.  Baer 
bemerkte  Regelmäßigkeit  am  klarsten  dargestellt  und  zugleich  am 
umfassendsten  verwertet.  In  den  sechzehn  kurzen  Leitsätzen,  in  denen 
Spencer  in  der  Vorrede  zu  dem  von  Collins  hergestellten  Auszuge  aus 
seinem  System  die  Quintessenz  seiner  Lehre  zusammenfaßt,  findet  sich 
in  den  Sätzen  3—6  die  kürzeste  und  beste  Formulierung  dieses  im 
ganzen  Universum  sich  vollziehenden  Prozesses*).  Die  Sätze  lauten: 

„3.  Die  Entwicklung  ist  einfach,  wenn  der  Prozeß  der  Integration 
oder  die  Bildung  eines  zusammenhängenden  Aggregats  vor  sich  geht, 
ohne  durch  andere  Prozesse  kompliziert  zu  sein. 

4.  Die  Entwicklung  ist  zusammengesetzt,  wenn  dieser  primäre 
Übergang  von  einem  unzusammenhängenden  in  einen  zusammen- 
hängenden Zustand  von  sekundären  Veränderungen  begleitet  wird. 

5.  Diese  sekundären  Veränderungen  stellen  sich  dar  als  die 
Umwandlungen  eines  Gleichartigen  in  ein  Un- 
gleichartiges. Diese  Umwandlung  vollzieht  sich  im  Universum 
selbst  ebenso  wie  in  allen  (oder  beinahe  in  allen)  seinen  Bestandteilen. 
Man  findet  sie  im  Aggregat  der  Sterne  und  der  Sternennebel,  im 
Planetensystem,  in  der  Erde  als  einer  unorganischen  Masse,  in  jedem 
Organismus,  mag  er  nun  Tier  oder  Pflanze  sein,  im  Aggregat  der 
Organismen  durch  die  ganze  geologische  Zeit,  im  Menschen- 
g  e  i  s  t,  in  der  Gesellschaft,  in  allen  Erzeugnissen  der  sozialen 

I  .itigkeit. 

*)  Epilome  of  Ihe  synthetic  philosophy  of  Herbert  Spencer  by  F.  Howard 
Collins  with  a  preface  of  Herbert  Spencer,  fifth  edition,  1901,  p.  IX.  Eine  deutsche 
Übersetzung  der  sechzehn  Leitsätze,  die  ich  hier  teilweise  benütze,  bei  Otto 
(jinipp  „Herbert  Spencer"  (Fromanns  Klassiker  der  Philosophie,  V),  2.  Aufl., 
1900,  S.  43  f. 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  269 

6.  Der  Prozeß  der  Integration  kombiniert  sich  mit  dem  Prozeß 
der  Differenzierung  und  bewirkt  dadurch  nicht  mehr  bloß 
eine  Umwandlung  von  Gleichartigkeit  in  Ungleichartigkeit,  sondern 
auch  eine  Umwandlung  von  unbestimmter  Gleichartig- 
keit zu  bestimmter  Ungleichartigkeit.  Diese  zu- 
nehmende Bestimmtheit,  die  mit  der  zunehmenden  U  n- 
gleichartigkeit  parallel  geht,  läßt  sich  sowohl  im  Universum 
als  auch  in  seinen  einzelnen  Teilen  und  Unterabteilungen  bis  herab 
zu  den  kleinsten  überall  beobachten." 

Herbert  Spencer  legt  infolge  seines  vorwiegend  systematischen 
Interesses  —  Philosophie  ist  ja  für  ihn  „vollkommen  vereinheitlichte 
Erkenntnis"  —  das  Hauptgewicht  auf  die  Allgemeinheit  des 
Differenzierungsprozesses  und  treibt  deshalb  die  Analogie  zwischen 
der  Entstehung  des  Planetensystems  aus  gleichartigen  glühenden 
Gasnebeln  mit  der  Bildung  eines  organisierten  Staatswesens  aus  einer 
undifferenzierten  Menschenherde  entschieden  zu  weit.  Für  uns  kommt 
es  hier  ausschließlich  darauf  an,  daß  der  Prozeß  der  Differenzierung 
im  menschlichen  Bewußtsein  und  in  der  menschlichen  Gesellschaft 
eine  ganz  unbezweifelbare  Tatsache  ist,  die  sowohl  für  die  Psychologie 
als  auch  für  die  Soziologie  die  allergrößte  Bedeutung  besitzt. 

Auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  können  wir  es  geradezu  mit 
Händen  greifen,  wie  die  einzelnen  Funktionen  sich  aus  dem  un- 
differenzierten Zustand  eines  ganz  unbestimmten  allgemeinen  Lebens- 
gefühls allmählich  aussondern  und  wie  sie  durch  fortgesetzte  Differen- 
zierung immer  reicher  und  mannigfaltiger  werden.  In  einer  künftigen 
Entwicklungspsychologie,  die  ich  seit  fast  dreißig  Jahren 
fordere  und  die  kürzlich  Felix  Krueger  inauguriert  hat*),  wird  dieser 
von  den  Psychologen  bisher  vernachlässigte  Prozeß  zweifellos  eine 
große  Rolle  spielen  und  uns  viele  neue  Aufschlüsse  bringen. 

Noch  viel  deutlicher  aber  als  in  der  Seele  des  Einzelmenschen 
können  wir  den  Differenzierungsprozeß  in  der  menschlichen  Gesell- 
schaft beobachten,  weil  dieser  sich  auch  heute  noch  vor  unseren  Augen 
vollzieht.  Hier  manifestiert  sich  dieser  Vorgang  in  der  objektiv  ge- 
gebenen Tatsache  der  fortschreitenden  Arbeitsteilung  und  der 
damit  verbundenen  Berufsbildung.  Dieser  von  den  National- 
ökonomen längst  in  seiner  vollen  Bedeutung  erkannte  Prozeß  ist  es 
nun  vornehmlich,  der  den  Menschen  aus  seiner  sozialen  Gebundenheit 
herausgeführt  und  zu  einer  selbständigen,  eigenberechtigten  Persön- 
lichkeit gemacht  hat. 

Die  Arbeitsteilung  beginnt  schon  sehr  frühe,  indem  bereits  in 
der  primitiven  Familie  die  Beschäftigung  des  Mannes  eine  ganz  andere 
ist  als  die  der  Frau.  Von  soziologischer  Bedeutung  wird  jedoch  der 
Prozeß  erst  dann,  wenn  sich  größere  Gruppen  bilden,  die  aus  hetero- 
genen Elementen  bestehen.  Das  geschieht,  wenn  einzelne  Stämme 
seßhaft  werden  und  vom  Nomadenleben  zum  Ackerbau  übergehen. 
Wird  dann  dadurch,  daß  ein  kräftiger  Jäger-  oder  Hirtenstamm  eine 


*)  Felix  Krueger,  „Über  Entwicklungspsychologie",  1915. 


270  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Ackerbau  treibende  Gruppe  bezwingt  und  die  Bauern  für  sich  arbeiten 
läßt,  eine  Art  primitiven  Staates  gebildet,  so  sind  hier  durch  die 
Schichtung  der  Gesellschaft  in  Herrschende  und  Beherrschte  schon 
sehr  wichtige  Bedingungen  für  eine  weitgehende  Teilung  der  Arbeit 
gegeben.  Die  Beherrschten  müssen  intensiver  arbeiten,  weil  sie  nicht 
nur  für  ihre  eigenen  Bedürfnisse,  sondern  auch  für  die  der  herrschenden 
Klasse  aufzukommen  haben.  Da  scheidet  sich  in  den  landwirtschaft- 
lichen Arbeiten  zunächst  die  Verfertigung  von  Werkzeugen  von  der 
unmittelbaren  Bebauung  des  Bodens  ab  und  bald  auch  die  Ver- 
arbeitung der  Bodenprodukte  von  ihrer  Gewinnung.  Wenn  sich  dann 
zum  Schutze  gegen  kriegerische  Nachbarstämme  Städte  von  größerem 
Umfange  bilden,  so  entstehen  wieder  zahlreiche  neue  Bedürfnisse  und 
damit  neue  Berufe.  Neben  den  Handwerken,  die  sich  immer  mehr 
spezialisieren,  bildet  sich  infolge  des  Austausches  von  Gütern  inner- 
halb des  Gemeinwesens  und  mit  auswärtigen  Völkern  ein  eigener 
Stand  von  Krämern  und  Kaufleuten  aus.  Dadurch  aber  entstehen 
wieder  neue,  und  zwar  recht  komplizierte  Verkehrsaufgaben  und  Rechts- 
verhältnisse. Die  herrschende  Klasse  sieht  sich  genötigt,  festzustellen, 
was  das  Gemeinwesen  von  jedem  seiner  Teilnehmer  verlangt  und  was 
jedem  gewährleistet  werden  muß.  Daraus  entwickeln  sich  Rechts- 
ordnungen, die  anfangs  auf  Gewohnheit  beruhen  und  sich  durch 
Tradition  fortpflanzen.  Bald  aber  entsteht  infolge  der  immer  größeren 
Kompliziertheit  des  sozialen  Lebens  die  Notwendigkeit,  die  Rechts- 
ordnung schriftlich  zu  fixieren  und  so  entstehen  die  ersten  Gesetzbücher. 
Die  Auslegung  und  Handhabung  der  Gesetze  wird  bald  so  schwierig, 
daß  sich  wieder  neue  Berufe  bilden,  die  sich  ausschließlich  mit  diesem 
Studium  beschäftigen.  So  entsteht  der  Beruf  des  Richters  und  des 
Anwaltes.  Die  Staatsverwaltung,  die  immer  mehr  und  immer  weitere 
Gebiete  umfaßt,  zeitigt  das  Bedürfnis  nach  besonderen  Aufsichts- 
organen und  so  bildet  sich  der  Beamtenstand  aus.  Gesundheit,  Er- 
ziehung und  Unterricht  verlangen  methodische  Pflege  und  so  ent- 
stehen die  Berufe  des  Arztes  und  des  Lehrers.  Dazu  kommen  dann 
noch  durch  die  Entwicklung  des  Handels  und  der  Industrie  sehr 
zahlreiche  neue  technische  und  kommerzielle  Berufe,  die  sich  immer 
weiter  spezialisieren. 

Die  ökonomische  Bedeutung  dieses  Differenzierungsprozesses  hat 
Karl  Midier  in  seinem  Buche  „Die  Entstehung  der  Volkswirtschaft" 
eingehend  geschildert  und  dabei  vielfach  auf  die  soziologischen  und 
psychischen  Wirkungen  hingewiesen.  Für  uns  kommt  jedoch  eine 
wesentlich  andere  Seite  der  Sache  in  Betracht. 

Durch  die  Spezialisierung  gelangen  die  Menschen  von  selbst  dazu, 
ihre  Aufmerksamkeit  auf  ein  engeres  Gebiet  zu  konzentrieren.  Dadurch 
erfahren  sie  viele  ganz  neue  Dinge,  von  denen  die  „kollektiven  Vor- 
stellungen", das  heißt  die  überlieferten  Deutungsarten  ihrer  Sinnes- 
wahrnehmung nichts  enthielten.  So  lernt  z.  B.  der  Schmied  immer 
neue  Eigenschaften  der  Metalle,  der  Weber  neue  Eigentümlichkeiten 
der  Wollfäden  kennen.  Jetzt  werden  sie  eigentlich  erst  fähig, 
die  einzelnen  Tatsachen  rein  objektiv  zu  beobachten  und  für  ihren 
Spe/ialberuf  zu  verwerten.    Dadurch  aber  erfährt  der  Intellekt 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  271 

eine  wesentliche  Stärkung  gegenüber  den  im  Zustande  der  sozialen 
Gebundenheit  vorherrschenden  affektiven  und  emotionalen  Funktionen 
und  so  vollzieht  sich  zugleich  mit  der  durch  die  Arbeitsteilung  ein- 
geleiteten Verselbständigung  des  Einzelmenschen  und  mit  seiner  immer 
größeren  Unabhängigkeit  von  der  Überlieferung  auch  eine  I  n  t  e  1 1  e  k- 
tualisierung  der  Seele.  Dieser  bisher  nicht  bemerkte  Zu- 
sammenhang zwischen  der  sozialen  Differenzierung  und  der  damit 
Hand  in  Hand  gehenden  Erstarkung  des  Intellekts  wird  erst  in  einer 
künftigen  soziologischen  Kritik  der  menschlichen  Vernunft,  an  der 
der  Verfasser  dieses  Buches  seit  mehreren  Jahren  arbeitet,  in  seiner 
vollen  Bedeutung  erkannt  werden. 

Eine  weitere  Folge  der  Arbeitsteilung  und  der  damit  verbundenen 
Berufsbildung  ist  eine  starke  Differenzierung  der  Interessen 
und  als  deren  naturgemäßes  Ergebnis  eine  Differenzierung  der 
Charaktere.  Dem  Bauer  nützt  eine  andere  Gestaltung  des  Staates 
mehr  als  dem  Gewerbetreibenden.  Für  den  Kaufmann  und  Seefahrer, 
für  den  Krieger  und  für  den  Rechtskundigen  sind  wiederum  andere 
Einrichtungen  die  günstigsten.  Durch  das  Zusammenwirken  dieser 
beiden  Folgen  der  Differenzierung  und  Spezialisierung  wird  zunächst 
das  seelische  Inventar  der  Menschheit  in  geradezu  unübersehbarer 
Weise  bereichert.  Geistige  Kräfte,  die  bisher  nicht  vorhanden  waren 
oder  nicht  zur  Entfaltung  gelangen  konnten,  werden  neu  geschaffen 
oder  geweckt.  Die  Einzelseelen,  die  früher  ganz  von  den  „kollektiven 
Vorstellungen"  ausgefüllt  waren,  bekommen  jetzt  ihre  neuen,  eigen- 
artigen Inhalte  und  entwickeln  ein  ungleich  reicheres  und  mannig- 
faltigeres Leben.  Wir  dürfen  also  sagen,  daß  die  Bildung  selb- 
ständiger Individualitäten  eines  der  wertvollsten  Produkte  der  sozialen 
Entwicklung  ist. 

Es  entstehen  ferner  aus  diesem  Individualisierungsprozeß  viele 
neue  Gesichtswinkel,  unter  denen  jetzt  die  Überlieferung  be- 
trachtet wird.  Sie  erscheint  nicht  mehr  allen  in  der  gleichen  un- 
veränderlichen Gestalt  und  vermag  deshalb  ihre  starke  bindende  Kraft 
nicht  mehr  ganz  zu  behaupten.  Im  Gegenteil.  Je  stärker  sich  die 
Eigenart  der  Einzelnen  entfaltet,  desto  energischer  suchen  sie  sich 
von  der  Überlieferung  frei  zu  machen.  Die  starken  Naturen  entfalten 
immer  mehr  ihre  eigene  Vernunft,  ihr  eigenes  Gewissen,  ihr  eigenes 
Wollen  und  kämpfen  für  die  Berechtigung  ihrer  Eigenart  gegen  die 
überlieferten  Glaubenssätze,  Sitten  und  Rechtsordnungen. 

Es  ist  heute  noch  nicht  möglich,  diesen  Prozeß  von  seinem  Beginn 
an  in  seinem  ganzen  Verlauf  zu  schildern,  weil  das  Tatsachenmaterial 
in  dieser  Richtung  noch  nicht  genügend  durchforscht  ist.  Sicher  aber 
ist  es,  daß  wir  da,  wo  das  Licht  der  Geschichte  zu  dämmern  beginnt, 
im  alten  Ägypten,  in  Babylonien,  in  Persien,  in  Indien  und  im  home- 
rischen Griechenland  bereits  eine  weit  fortgeschrittene  Arbeitsteilung 
vorfinden.  Wir  sehen  auch,  wie  dort  überall  kräftige  Einzelpersönlich- 
keiten  auftreten,  die  an  der  Überlieferung  Kritik  üben.  Vom  fünften 
vorchristlichen  Jahrhundert  angefangen  können  wir  durch  die  ganze 
Weltgeschichte  hindurch  einen  großartigen  Befreiungskampf  beob- 
achten, in  welchem  der  einzelne  Mensch  um  Anerkennung  seiner  Eigen- 


J7_'  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

berechtigung  ringt.  Ich  habe  anderswo*)  diesen  Befreiungskampf  als 
die  individualistische  Entwicklungstendenz  be- 
zeichnet und  darauf  hingewiesen,  wie  wertvolle  Errungenschaften 
unserer  Kultur  aus  diesem  Befreiungskampfe  erwachsen  sind.  Wir 
kommen  auf  diese  Wirkungen  noch  einmal  zurück.  Hier  aber  handelt 
es  sich  darum,  das  Vorhandensein  und  die  Wirksamkeit  dieser  indi- 
vidualistischen Entwicklungstendenz  als  überaus  wichtige  soziologische 
Grundeinsicht  festzustellen. 

Es  ist  also  nicht  so,  wie  die  Anhänger  der  Vertragstheorie  oder 
die  Naturrechtslehrer  glaubten  und  wie  es  viele  noch  heute  nicht 
anders  begreifen  zu  können  meinen,  daß  der  Mensch  als  isoliertes 
Einzelwesen  begonnen  habe  und  sich  aus  Not  mit  seinen  Genossen 
vereinigte,  um  leben  zu  können.  Die  Sache  verhält  sich  vielmehr  gerade 
umgekehrt.  Die  primitive  Gruppe  steht  am  Anfang  und  erst  aus  ihr 
ging  in  langsamem  und  allmählichem  Entwicklungsprozeß  der  selb- 
ständige Einzelmensch  hervor.  „Das  Gemeinschaftsleben",  sagt  Dürk- 
heim  (La  division  du  travail  social,  p.  264),  „ist  nicht  aus  dem  indi- 
viduellen Leben  entstanden,  sondern  umgekehrt,  das  letztere  hat  sich 
aus  diesem  entwickelt."  Dadurch,  daß  heterogene  Stämme  sich  zu 
einem  größeren  Gemeinwesen  zusammenschlössen,  ist  die  Teilung  der 
Arbeit  in  ausgedehntem  Maße  nötig  geworden  und  diese  hat,  wie  wir 
gezeigt  haben,  infolge  der  damit  verbundenen  Differenzierung  der 
Fähigkeiten,  der  Interessen  und  der  Charaktere  zur  Entwicklung  selb- 
ständiger Einzelpersönlichkeiten  geführt,  die  sich  als  eigenberechtigt 
fühlen  und  durch  dieses  immer  stärker  werdende  Gefühl  die  Fähigkeit 
erlangen,  die  suggestive  Kraft  der  Tradition  zu  überwinden,  an  den 
überlieferten  Glaubensvorstellungen,  Sitten  und  Rechtsordnungen 
Kritik  zu  üben  und  dadurch  ein  kräftiges  Ferment  werden,  das  zur 
Höherentwicklung  der  Gesellschaft  beiträgt. 

Aus  dem  Kampfe  der  selbständig  gewordenen  Persönlichkeit 
gegen  den  sozialen  Zwang  ist  der  Gedanke  der  religiösen,  der  sitt- 
lichen und  der  politischen  Freiheit  hervorgegangen,  ein  Gedanke,  der 
so  oft  und  in  so  hohem  Grade  hervorragende  Einzelmenschen  und  auch 
ganze  Völker  begeisterte  und  zu  großen  Taten  gespornt  hat.  Man 
hat  dieses  Streben  nach  Freiheit  vielfach  als  eine  Wesenseigenschaft 
des  Menschengeistes  bezeichnet  und  auf  Grund  dieser  Überzeugung 
dem  Reiche  der  Natur  ein  Reich  der  Freiheit  gegenübergestellt.  Tat- 
sächlich ist  aber  der  Freiheitsbegriff  keineswegs  etwas  Ursprüngliches, 
a  priori  Gegebenes.  Er  ist  vielmehr  ein  Produkt  der  individualistischen 
Entwicklungstendenz  und  kann  nur  innerhalb  der  Gemeinschaft  zu 
fruchtbarer  Entfaltung  gelangen.  Faßt  man  aber  den  Freiheitsbegriff 
als  etwas  Absolutes  auf  und  entwickelt  man  daraus  dialektisch  seine 
äußersten  Konsequenzen,  so  muß  eine  solche  Theorie  zum  doktrinären 
Anarchismus  und  zum  antisozialen  Egoismus  führen.  Diese  Denk- 
richtungen müßten  aber  konsequent  zu  Ende  gedacht,  die  Vernichtung 
der  Gemeinschaft  und  damit  schließlich  auch  die  der  Individuen  zur 

*)   Vgl.    Jerusalem,   „Der   Krieg  im   Lichte   der   Gesellschaftslehre",   1915, 
S.  42  ff. 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  273 

Folge  haben.  Die  Entwicklung  der  Gesellschaft  sorgt  aber  dafür, 
daß  die  individualistischen  Bäume  nicht  in  den  Himmel  wachsen. 
Der  individualistischen  Entwicklungstendenz,  die  das  Freiheitsstreben 
zeitigt,  wirkt  nämlich  immer  und  überall  die  in  jedem  größeren  sozialen 
Gebilde  vorhandene  Kraft  der  Selbsterhaltung  des  Ganzen  entgegen. 
Man  könnte  dieses  Streben,  das  in  letzter  Linie  wieder  nur  eine 
Existenzbedingung  der  Individuen  darstellt,  vielleicht  am  passendsten 
die  autoritativ-soziale  Entwicklungstendenz  nennen.  Das 
tatsächliche  und  das  notwendige  Zusammenwirken  dieser  beiden 
antagonistischen  Kräfte  wird  durch  folgende  Erklärungen  klar 
werden : 

Die  individualistische  Entwicklungstendenz  ist  aus  der  durch  die 
Arbeitsteilung  bedingten  sozialen  Differenzierung  hervorgegangen. 
Nun  macht  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Arbeitsteilung  die  Menschen 
einseitiger  und  eigenartiger.  Sie  bringt  sie  dazu,  der  Überlieferung 
gegenüber  sich  kritisch  zu  verhalten  und  erhöht  so  die  Eigenkraft 
des  Denkens  bei  jedem  Einzelnen.  Zugleich  aber  hat  die  Arbeits- 
teilung auch  eine  ganz  andere  Wirkung.  Sie  macht  den  Einzelnen  nicht 
bloß  einseitiger  und  eigenartiger,  sie  macht  ihn  eben  dadurch  auch 
viel  abhängiger  von  seinen  Nebenmenschen  und  von  dem 
sozialen  Ganzen,  dem  er  angehört.  Wer  z.  B.  als  Schuhmacher  tätig 
ist  und  seine  ganze  Kraft  auf  die  Bearbeitung  des  Leders  und  auf 
die  Erzeugung  von  Schuhen  verwendet,  dem  bleibt  keine  Zeit,  auch  die 
anderen  Lebenserfordernisse  selbst  herzustellen.  Die  muß  er  im 
Tauschwege  von  anderen  erhalten  und  ist  eben  dadurch  auf  die  an- 
deren angewiesen.  Bald  stellt  sich  infolge  des  komplizierter  werdenden 
Tauschverkehres  die  Herstellung  eines  allgemeinen  Tauschmittels  als 
notwendig  heraus  und  dieses  bildet  wieder  ein  Bindemittel  der  Gesell- 
schaft. Aristoteles  hat  in  der  nikomachischen  Ethik  (5,  8)  die  ur- 
sprüngliche Funktion  des  Geldes  sehr  verständig  erörtert,  und  indem 
er  das  Wort  vö|ua{i.a  (Münze)  von  vöjio?  (Gesetz)  ableitet,  schon 
damals  erkannt,  daß  das  durch  soziale  Differenzierung  entstandene 
Bedürfnis  nach  einem  allgemeinen  Tauschmittel  zugleich  eine  starke 
bindende  Kraft  besitzt  und  einer  staatlichen  Regelung  unterworfen 
werden  muß.  Die  soziale  Differenzierung  bedeutet  also  keineswegs 
bloß  Trennung,  sondern  zugleich  Vereinigung  und  Organisation.  „Sie 
läßt  die  Tätigkeiten,  die  sie  differenziert,  miteinander  zusammen- 
wirken, sie  nähert  einander  diejenigen,  die  sie  trennt"  (Dürkheim, 
a.  a.  O.  S.  259).  So  trägt  also  die  fortschreitende  Teilung  der  Arbeit 
nicht  bloß  dazu  bei,  selbständige  Persönlichkeiten  zu  entwickeln, 
sondern  bringt  es  auch  mit  sich,  daß  das  Gefüge  der  Gesellschaft 
immer  komplizierter  und  immer  fester  wird.  Je  weiter  die  Interessen 
und  die  Forderungen  der  Einzelnen  auseinander  gehen,  desto  nötiger 
wird  das  stramme  Zusammenhalten  des  Ganzen,  desto  größer  und 
schwieriger  aber  auch  die  sich  immer  erweiternden  Aufgaben  des 
Staates. 

Zu  dieser  Erweiterung  der  staatlichen  Aufgaben  hat  nun  aller- 
dings die  individualistische  Entwicklungstendenz,  gleichsam  in  ihrem 
eigensten  Wirkungskreise,  sehr  viel  beigetragen.  In  einem  mehrtausend- 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  *" 


274  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

jährigen  Befreiungskämpfe  hat  sich  der  selbständig  gewordene  Mensch 
gegen  die  zu  stärkt-  Bevormundung  durch  den  Staat  aufgelehnt  und 
immer  weiteren  Spielraum  für  die  freie  Entfaltung  der  Persönlichkeit 
gefordert.  Der  Staat  wurde  dadurch  gezwungen,  den  gesteigerten 
Anforderungen  des  Individuums  in  immer  weiterem  Maße  Rechnung 
zu  tragen.  Das  beweist  die  Gesetzgebung  aller  zivilisierten  Länder. 
Die  Behandlung  des  zahlungsunfähigen  Schuldners,  den  der  Gläubiger 
bei  den  Griechen  und  Römern  als  Sklaven  verkaufen  durfte,  ist  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  immer  milder  geworden.  Die  Folter  wurde 
abgeschafft,  die  Sklaverei  für  widerrechtlich  erklärt,  weil  beides  dem 
gesteigerten  Selbstgefühl  des  Menschen  nicht  mehr  entsprach.  Der 
Staat  ist  heute  in  allen  zivilisierten  Ländern  nicht  mehr  bloß  ver- 
pflichtet, das  Leben,  die  Freiheit  und  das  Eigentum  jedes  Bürgers  zu 
schützen,  er  muß  auch  seinen  mächtigen  Arm  leihen,  um  die  verletzte 
Ehre  des  Einzelnen  wiederherzustellen.  Erinnern  wir  uns  ferner  daran, 
daß  die  Staaten  sich  überall  genötigt  sehen,  für  den  Unterricht  der 
Jugend  Vorsorge  zu  treffen  und  auch  den  weitergehenden  Kultur- 
bedürfnissen  Rechnung  zu  tragen,  indem  sie  die  Pflege  der  Wissen- 
schaft und  der  Kunst  entweder  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen  oder 
doch  kräftig  zu  fördern  sich  für  verpflichtet  halten,  so  ist  auch  dies 
als  Wirkung  der  individualistischen  Entwicklungstendenz  anzusehen. 
Die  Ansprüche  des  seelisch  und  geistig  reicher  und  reifer  gewordenen 
Menschen  machen  sich  eben  infolge  seines  energischen  Strebens  nach 
möglichst  voller  Entfaltung  seiner  Fähigkeiten  auch  in  bezug  auf  Kunst 
und  Wissenschaft  geltend  und  müssen  vom  Staate  immer  mehr  berück- 
sichtigt werden. 

So  segensreich  nun  auch  die  individualistische  Entwicklungs- 
tendenz auf  das  geistige  Leben  der  Gesellschaft  und  auf  die  Er- 
weiterung der  Aufgaben  des  Staates  zu  wirken  vermag  und  so  sehr  sie 
tatsächlich  auch  in  diesem  Sinne  gewirkt  hat,  zeitigt  sie  aber  anderseits 
Erscheinungen,  die  den  Bestand  der  Gesellschaft  und  des  Staates 
direkt  gefährden.  Auf  dem  Gebiete  des  politischen,  besonders  aber 
des  wirtschaftlichen  Lebens  hat  diese  Tendenz  vielfach  zur  Ausbildung 
eines  antisozialen  Egoismus  geführt.  Der  schrankenlose  Eigen- 
nutz, der  im  Erwerbsleben  meist  als  selbstverständliche  Maxime  an- 
gesehen wird,  ist  nach  der  Meinung  vieler  sogar  der  beste  Regulator 
für  die  Erzeugung  und  den  Verbrauch  der  Güter.  In  ihrem  unbändigen 
Freiheitsdrange  gehen  manche  Theoretiker  so  weit,  zu  behaupten,  daß 
der  Staat  als  solcher  eine  durchaus  schädliche  Einrichtung  sei,  die 
immer  nur  störend  eingreife.  Nur  aus  der  ganz  ungehemmten,  voll- 
kommen freien  Entfaltung  der  menschlichen  Anlagen  könne  die  wirklich 
vollkommene  Gesellschaftsordnung  hervorgehen.  Diese  unter  dem 
Namen  des  Anarchismus  bekannte  Theorie  hat  namhafte  Ver- 
treter gefunden  und  wird  z.  B.  von  Anton  Menger  in  seiner  „Neuen 
Staatslehre"  als  etwas  durchaus  ernst  zu  Nehmendes  gründlich  erörtert 
(S.  7— 19). 

Der  soziologisch  geschulte  Beobachter  sieht  nun  leicht,  daß  eine 
derartige  Überspannung  des  individualistischen  Prinzips  mit  der  auf 
das  Gemeinschaftsleben   angelegten    Natur  des   Menschen   in   Wider- 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  275 

Spruch  geraten  muß.  Er  findet  es  deshalb  begreiflich,  daß  die  dem 
Staate  von  allem  Anfang  an  immanente  Tendenz,  die  den  Bestand 
und  den  Zusammenhalt  der  Gesellschaft  als  die  wichtigste  Lebens- 
bedingung betrachtet,  durch  solche  Bestrebungen  eine  wesentliche 
Verstärkung  erfährt.  Die  soziologische  Betrachtungsweise  lehrt  uns 
übrigens,  daß  auch  für  den  Einzelnen  selbst  erst  das  geordnete  Gemein- 
schaftsleben im  Staate  die  Möglichkeiten  schafft,  seine  Eigenart  voll 
zu  entfalten.  Deshalb  sieht  sich  die  Gesellschaft  immer  wieder  ge- 
nötigt, das  innerlich  reich  und  reif  gewordene  Individuum  für  die 
gemeinsamen  Aufgaben  in  Anspruch  zu  nehmen  und  die  Notwendigkeit 
der  Einordnung  und  der  Unterordnung  als  unerläßliche  Bedingung 
der  Existenz  und  der  Weiterentwicklung  hinzustellen.  Wir  sehen,  wie 
diese  autoritativ-soziale  Entwicklungstendenz  im  Laufe  der  Geschichte 
immer  wieder  ihre  Kraft  entfaltet  und  der  anarchischen  Zersplitterung 
entgegenwirkt.  Die  katholische  Kirche  im  Mittelalter  und  die  absolu- 
tistischen Staaten  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  sind 
weithin  sichtbare  und  kraftvolle  Produkte  der  autoritativ-sozialen  Ent- 
wicklungstendenz, von  der  übrigens  auch  der  preußische  Beamten-  und 
Militärstaat  durchaus  erfüllt  war.  Im  Laufe  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts beginnt  nun  diese  Tendenz  die  Form  des  Sozialismus  an- 
zunehmen und  strebt  darnach,  eine  Synthese  dieser  beiden  miteinander 
im  Kampfe  liegenden  geschichtlichen  Kräfte,  der  individualistischen 
und  der  autoritativ-sozialen  Entwicklungstendenz,  herbeizuführen.  Die 
großen  Massen  der  Industriearbeiter  schließen  sich,  von  schöpferischen 
Geistern  geführt,  zur  großen  sozialdemokratischen  Parteiorganisation 
zusammen,  die  eine  neue  Gesellschaftsordnung  heraufzuführen  sich 
vorgesetzt  hat.  Es  soll  darin  jedem  Einzelnen  die  Existenz  und  die 
Befriedigung  der  wichtigsten  Lebensbedürfnisse  unbedingt  gewähr- 
leistet werden.  Dafür  wird  aber  auch  seine  Arbeit  für  das  Gemeinwesen 
gebieterisch  in  Anspruch  genommen.  Die  ganz  ungeahnte  kolossale 
Entwicklung  der  Weltwirtschaft  in  den  letzten  hundert  Jahren  hat  nun 
so  überaus  komplizierte  ökonomische  Zusammenhänge  geschaffen, 
daß  so  gewaltige  Umwälzungen,  wie  sie  der  Sozialismus  plant,  sich 
nicht  so  rasch  vollziehen  können.  Das  neunzehnte  Jahrhundert  hat 
uns  aber  zugleich  einen  gewaltigen  Aufschwung  des  nationalen  Ge- 
dankens gebracht  und  dadurch  ein  Zeitalter  des  Imperialismus  und 
des  Militarismus  erstehen  lassen,  das  nicht  auf  friedliche  Entwicklung, 
sondern  auf  gegenseitiges  Wettrüsten  und  ständige  Kriegsbereitschaft 
gerichtet  war.  Aus  dem  wirtschaftlichen  Konkurrenzkampf  der  Staaten 
und  aus  dem  nationalen  Chauvinismus  ist  dann  die  Katastrophe  des 
Weltkrieges  hervorgegangen,  an  dessen  traurigen  Folgen  die  Mensch- 
heit noch  viele  Jahrzehnte  zu  tragen  haben  wird.  Um  so  dringender 
wird  das  Bedürfnis,  die  Synthese  der  beiden  Entwicklungstendenzen 
zu  finden  und  auf  Grund  derselben  den  Wiederaufbau  der  zerstörten 
Kultur  in  Angriff  zu  nehmen.  Vielleicht  finden  wir  die  Richtung,  in 
der  sich  diese  Synthese  zu  bewegen  haben  wird,  wenn  wir  darauf  hin- 
weisen, daß  sich  aus  dem  Kampfe  zwischen  Individuum  und  Gesell- 
schaft, zwischen  Freiheit  und  Autorität  schon  vor  mehr  als  zweitausend 
Jahren  ein  neuer  Gedanke,  eine  neue  Idee,  ein  neues  soziales  Gebilde 

is- 


276  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

zu  entwickeln  begonnen  hat,  das  geeignet  erscheint,  der  sozialen  Ent- 
wicklung ihr  Ziel  zu  zeigen. 

Dieses  Neue  ist  die  Idee  der  ganzen  Menschheit 
als  einer  großen  Einheit  und  die  damit  eng  verbundene 
Forderung  der  allgemeinen  Menschlichkeit.  Den  Ur- 
sprung und  die  Entwicklung  dieses  neuen  Gebildes  vermag  nur  die 
soziologische  Betrachtungsweise  zur  Klarheit  zu  bringen.  Das  führt 
uns  zur  vierten  und  letzten  unserer  soziologischen  Grundeinsichten. 

4.  Die  individualistische  Entwicklungsten- 
denz führt  zum  Universalismus  und  Kosmopoli- 
tismus. 

Die  individualistische  Entwicklungstendenz  zeigt  sich  am 
deutlichsten  dort,  wo  eigenkräftig  gewordene  und  sich  als  eigen- 
berechtigt fühlende  Persönlichkeiten  an  der  bestehenden  Gesellschafts- 
ordnung Kritik  üben.  Diese  Kritik  tritt  uns  nun  in  zweifacher  Gestalt 
entgegen.  Der  Einzelne  wird  durch  immer  weiter  fortschreitende 
Differenzierung  immer  selbständiger  in  seinem  Denken  und  immer 
zielbewußter  in  seinem  Wollen.  Die  intellektuelle  Selb- 
ständigkeit führt  zur  Kritik  der  überlieferten  Glaubenssätze  und  will 
auf  Grund  der  eigenen  Beobachtung  und  gestützt  auf  die  eigene  Ver- 
nunft die  übersinnlichen  Urheber  des  Naturgeschehens,  an  welche 
die  Überlieferung  glaubt,  durch  natürliche  Ursachen  ersetzen.  Das 
zielbewußte  Wollen  richtet  wiederum  seine  Kritik  gegen  überkommene 
Rechtssatzungen,  gegen  unberechtigt  erscheinende  Privilegien  und 
Vorrechte.  Die  Grundlage  dieser  Kritik  bildet  aber  das  immer  stärker 
werdende  Vertrauen  in  die  eigene  Vernunft  und  die  immer 
fester  werdende  Überzeugung  von  der  souveränen  Berechtigung  des 
eigenen  Gewissens.  Nun  liegt  es  im  Wesen  der  Selbstbeob- 
achtung, im  Wesen  jedes  In-sich-selbst-Hineinschauens,  daß  den 
darauf  gegründeten  Urteilen  eine  innere  Evidenz  und  eine  voll- 
kommene Unanfechtbarkeit  zugeschrieben  wird.  Ich  kann  nun  nicht 
glauben,  daß  das,  was  mir  meine  Vernunft  oder  mein  Gewissen  mit 
so  lebendiger  Klarheit,  mit  so  unwiderleglicher  Gewißheit  in  die  Seele 
legt,  daß  diese  Gedanken,  an  deren  Wahrheit  ich  nicht  zu  zweifeln 
vermag,  nur  für  mich  allein  gelten  sollten.  Ganz  von  selbst  betrachte 
ich  meine  neu  entdeckte  eigene  Vernunft,  mein  eigenes  Gewissen  als 
Kräfte,  die  jedem  Menschen  von  der  Natur  oder  von  der  Gottheit 
verliehen  wurden,  und  bin  überzeugt,  daß  die  von  mir  so  deutlich 
erlebten  Wahrheiten  für  alle  Menschen  maßgebend  sein  müssen. 

Der  selbständig  gewordene,  seiner  Vernunft  und  seinem  Gewissen 
vertrauende  Denker  wird  sich  infolge  seiner  Kritik  des  Bestehenden 
gewiß  oft  vereinsamt  fühlen,  weil  er  sich  zu  den  Mitgliedern  seines 
engeren  Verbandes  in  Gegensatz  gebracht  hat.  Allein  gerade  diese 
Loslösung  aus  der  engeren  Gemeinschaft  bestärkt  den  einsamen  Denker 
in  seinem  Vertrauen  auf  die  Stimme  der  Vernunft,  die  er  mit  so  über- 
zeugender Deutlichkeit  in  seinem  Innern  vernimmt.  Er  findet  übrigens 
bald  im  eigenen  Gemeinwesen  oder  in  anderen  Städten  Gesinnungs- 
genossen, die  gleich  ihm  an  den  überkommenen  Glaubenssätzen  und 
Rechtsforderungen  Kritik  üben.    Jetzt  weiß  er  es  ganz  sicher,  daß  die 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  277 

Vernunft,  deren  Stimme  er  in  seinem  Innern  vernahm,  nicht  ihm  allein 
gehöre,  sondern  allen  Menschen  verliehen  sei.  Indem  er  sich  also 
über  seine  in  den  Überlieferungen  befangenen  Landsleute  erhaben 
dünkt,  fühlt  er  sich  zugleich  einem  größeren  Verbände  zugehörig 
und  schafft  so,  ohne  sich  dessen  noch  deutlich  bewußt  zu  werden,  an 
der  Idee  der  ganzen  Menschheit. 

Der  Übergang  vom  Individualismus  zum  Universalismus,  die 
Herausbildung  der  Menschheitsidee  aus  der  individualistischen  Ent- 
wicklungstendenz, der  enge  Zusammenhang  zwischen  dem  Weltbürger- 
tum und  dem  lebendigen  Gefühl  der  eigenen  Persönlichkeit,  das  alles 
ist  ein  überaus  wichtiges  soziologisches  Entwicklungsgesetz,  das  bisher 
noch  wenig  beachtet  wurde.  Wir  haben  soeben  die  psychologische 
Grundlage  für  diesen  Übergang  aufgezeigt.  Daß  sich  derselbe  aber 
auch  tatsächlich  in  der  Geschichte  der  Menschheit  vollzogen  hat,  und 
daß  der  individualistische  Ursprung  auch  heute  noch  für  die  Idee  des 
Weltbürgertums  charakteristisch  ist,  das  wollen  wir  jetzt  an  einigen 
Beispielen  darlegen. 

Heraklit  von  Ephesus  ist  ein  hervorragender  Typus  des  einsamen 
und  originellen  Denkers.  Mit  seinen  Landsleuten  ist  er  sehr  unzu- 
frieden und  macht  ihnen  heftige  Vorwürfe,  weil  sie  den  Hermodoros, 
ihren  wackersten  Mann,  aus  der  Stadt  gejagt  haben  (Fragm.  121 
Diels).  Er  bezeugt  uns  ausdrücklich,  daß  er  sich  selbst  gesucht  habe 
(101),  und  man  sieht  es  auch  an  anderen  Aussprüchen,  wie  tief  er 
in  sein  Inneres  hineingeblickt  hat.  Stammt  doch  von  ihm  das  tief- 
sinnige Wort,  daß  in  der  Seele  ein  Denken  wohnt,  das  sich  selbst 
vermehrt  (105).  Dieser  in  sich  selbst  versenkte,  mit  seiner  Vaterstadt 
zerfallene  Denker  versichert  uns  nun  an  einer  anderen  Stelle,  daß 
die  Vernunft  etwas  Gemeinsames  ist  und  daß  man  diesem  Gemeinsamen 
folgen  müsse  (2,  114).  Der  vereinsamte  Denker  also,  der  mit  seiner 
Vaterstadt  zerfallen  ist  und  sich  selbst  sucht,  findet  in  seiner  eigenen 
Seele  die  allgemeine  Vernunft. 

In  der  Zeit  der  griechischen  Aufklärung  (5.  und  4.  vorchristliches 
Jahrhundert)  wurde  an  den  überlieferten  religiösen  und  sittlichen 
Anschauungen  eindringende  Kritik  geübt.  Eine  ganze  Reihe  von 
kraftvollen,  eigenartigen  Persönlichkeiten  tritt  uns  in  den  Trägern 
dieser  geistigen  Bewegung  entgegen.  Als  eine  Folgeerscheinung  dieses 
geistigen    Kampfes  dürfen   wir  auch  die   Idee  des   Weltbürgertums 

Cicero  berichtet,  daß  schon  Sokrates  sich  einen  Weltbürger  ge- 
nannt habe,  und  auch  die  späten  Stoiker  (besonders  Epiktet)  erwähnen 
das  gelegentlich.  Das  steht  nun  allerdings  mit  dem,  was  wir  sonst 
von  Sokrates  wissen,  nicht  im  Einklang  und  deshalb  wird  die  Nach- 
richt mit  Recht  bezweifelt.  Sicher  bezeugt  ist  aber,  daß  Diogenes 
von  Sinope,  der  bekannte  Vertreter  der  kynischen  Schule,  den  Namen 
und  den  Begriff  des  Weltbürgers  geprägt  hat,  Diogenes  wird  uns 
als  radikaler  Individualist  geschildert,  der  alle  gesellschaftlichen 
Bindungen  mit  vollem  Bewußtsein  und  sogar  mit  einer  gewissen 
Ostentation  verachtete  und  von  sich  wies.  Aber  gerade  diese  ent- 
schiedene Loslösung  von  allem   Konventionellen,  die  energische  Hin- 


/ 


278  Soziologie  und  Geschiclitsphilosophie 

wendung  zur  Unabhängigkeit,  zur  Freiheit  oder,  wie  Diogenes  selbst 
sagte,  zur  Natur,  zeitigte  in  ihm  diesen  universalistischen  Gedanken. 
\ui  die  Frage,  was  er  für  ein  Landsmann  sei,  antwortete  Diogenes: 
„Ein  Bürger  der  Welt"  (xöou,oo  zokivrfi*).  In  demselben  Sinne  erklärte 
er  auch,  der  einzig  richtige  Staat  sei  der  W  e  1 1  s  t  a  a  t.  So  hat  also 
der  ausgesprochenste  Individualist,  ein  Verächter  der  Überlieferung 
und  energischer  Bekämpfer  aller  gesellschaftlichen  Konvention  den 
Namen  und  den  Begriff  des  Weltbürgers,  des  Kosmopoliten 
geschaffen. 

Das  philosophische  Erbe  der  Kyniker  übernahm  die  Schule  der 
Stoiker,  deren  Stifter  Zeno  ein  Schüler  des  Kynikers  Krates  war.  Bei 
den  Stoikern  finden  wir  die  Verbindung  zwischen  Individualismus 
und  Kosmopolitismus  besonders  deutlich  ausgeprägt.  Das  Ideal  des 
Weisen,  das  in  dem  System  der  Stoiker  eine  so  große  Rolle  spielt, 
ist  durchaus  individualistisch.  Der  Weise  ist  frei  von  Irrtum,  un- 
abhängig vom  Schicksal,  keiner  Veränderung  unterworfen,  dem  Übel 
nicht  ausgesetzt.  Er  allein  ist  sich  selbst  genug,  er  ist  der  wahre 
Flerrscher  und  König.  Zugleich  aber  lebt  er  in  der  großen  Gemein- 
schaft nicht  nur  aller  Menschen,  sondern  auch  der  Götter,  deren 
gemeinsames  Vaterland  eben  die  Welt  ist.  Die  Stoiker  betonen  ihr 
Weltbürgertum  wiederholt  mit  besonderem  Nachdruck.  So  sagt  z.  B. 
der  Kaiser  Mark  Aurel,  der  Stoiker  auf  dem  Throne,  einmal  von  sich : 
„Mein  Staat  und  mein  Vaterland  ist,  insofern  ich  Antoninus  heiße, 
Rom,  insofern  ich  ein  Mensch  bin,  die  Welt"  (V  1,  44).  Auch 
bei  Epiktet  finden  sich  ähnliche  Äußerungen.  Daß  aus  dem  Gedanken 
des  Weltbürgertums  und  der  darin  liegenden  Idee  der  ganzen  Mensch- 
heit von  den  Stoikern  auch  die  Pflicht  der  allgemeinen  Menschlich- 
keit abgeleitet  wurde  und  der  Begriff  der  Humanität  gebilder 
wurde,  haben  wir  bereits  oben  dargelegt. 

Für  das  Urchristentum  ist  die  Verbindung  von  Individualismus 
und  Weltbürgertum  ebenfalls  charakteristisch,  was  der  feinsinnige 
und  tiefblickende  Kirchenhistoriker  Adolf  v.  Harnack  ausdrücklich 
hervorgehoben  hat**).  Als  der  Apostel  Paulus  sich  vornahm,  die 
Botschaft  vom  gekreuzigten  und  auferstandenen  Erlöser  nicht  nur 
den  Juden,  sondern  auch  den  Heiden  zu  predigen,  da  war  ihm  jede 
einzelne  Mcnschenseele,  die  er  für  das  ewige  Heil  gewann,  lieb  und 
wert.  Gerade  dadurch,  daß  jeder  glauben  durfte  und  glauben  sollte, 
Christus  sei  für  ihn  gestorben,  kamen  besonders  die  Armen,  die  Be- 
drückten und  die  Beladenen  zum  tröstlichen  Bewußtsein  ihres  Eigen- 
wertes. Indem  aber  alle,  die  an  Christum  glaubten,  Kinder  Gottes 
wurden,  erweiterte  sich  dieses  Einzelbewußtsein  sofort  in  das  be- 
seligende Gefühl  der  innigen  Zusammengehörigkeit  und  erzeugte  so 
wieder  bei  jedem  Einzelnen  aus  seinem  Ich  die  Menschheit. 

Sowie  aber  die  Zahl  der  Bekenner  immer  mehr  zunahm  und  die 
kleine  Gemeinde  im  Laufe  von  wenigen  Jahrhunderten  zur  großen 
Weltkirche  geworden  war,  da  stellte  sich  immer  dringender  die  Not- 

*)  Diogenes  Laertius,  6.  65. 

**)  Harnack.  „Die  Mission  und  Verbreitung  des  Christentums  in  den  ersten 
drei  Jahrhunderten",  3.  Aufl.,  I.  II*». 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  279 

wendigkeit  heraus,    den   Lehrgehalt  der  neuen   Religion  dogmatisch 
festzulegen,  stramme  Disziplin  einzuführen  und  eine  feste  Organisation 
zu  schaffen.     Daß  dies  der  katholischen   Kirche    in  bewunderungs- 
würdiger Weise  gelungen   ist,    haben  wir   schon   wiederholt  hervor- 
gehoben. Damit  war  nun  allerdings  in  der  Christenwelt  das  autoritative 
Prinzip  zur  Herrschaft  gelangt.   Gegenüber  dieser  neuen  Macht,  die 
keinen  Widerspruch  duldete  und  keine  Sondermeinung  zuließ,  machte 
sich  nun  wieder  die    individualistische  Entwicklungstendenz    geltend. 
Das  Bedürfnis  nach  innerlicher,  persönlicher  Frömmigkeit  kommt  in 
der  mittelalterlichen  Mystik  zum  Ausdruck  und  aus  dieser  geht  dann 
die  große  Reformation  hervor,  die  entschieden  als  individualistische 
Bewegung  anzusprechen  ist.  Zu  gleicher  Zeit  aber  brach  sich  in  Italien 
unter  besonders  günstigen  Umständen  die  Freude  am  Menschen  Bahn 
und  zeitigte,  von  der  wiedererwachten  Antike  mächtig  gefördert,  die 
Periode  der   Wiedergeburt   und   des   Humanismus.    Hier 
sehen  wir  nun  wieder,  wie  die  Freude  des  Menschen  an  sich  selbst 
und  an  den  Schönheiten  der  Welt  ihn  dazu  führt,  die  Bande  der 
engeren  Gemeinschaft  zu  sprengen  und  sich  als  Weltbürger  zu  fühlen. 
Jakob  Burckhardt,  gewiß  einer  der  besten  Kenner  dieser  Epoche,  sagt 
in   seinem   grundlegenden   Werke   „Die   Kultur  der    Renaissance  in 
Italien"  (I,  147  f.):  „Der  Kosmopolitismus,  welcher  sich  in  den  geist- 
vollen Verbannten  entwickelt,  ist  eine  höchste  Stufe  des  Individualismus." 
Dante  findet  eine  neue  Heimat  in  der  Sprache  und  Bildung  Italiens, 
geht  aber  doch  auch  darüber  hinaus  mit  den  Worten:  „Meine  Heimat 
ist  die  ganze  Welt."  Übrigens  ist  der  Kosmopolitismus  ein  Zeichen 
jeder  Bildungsepoche,  da  man  neue  Welten  entdeckt  und  sich  in  der 
alten  nicht  mehr  heimisch  fühlt. 

Wir  haben  oben  (S.  221  f.)  darauf  hingewiesen,  daß  sich  mit  der 
Verselbständigung  des  Einzelmenschen  und  mit  seiner  zunehmenden 
Unabhängigkeit  von  den  „kollektiven  Vorstellungen"  zugleich  eine 
Intellektualisierung  der  Seele  vollzieht.  Der  eigen- 
kräftig gewordene  Mensch  bekommt  immer  mehr  Vertrauen  zur  Kraft 
seines  Denkens.  Die  Vernunft  gewinnt  allmählich  die  Herrschaft  über 
die  Affekte  und  Triebe  und  lernt  zugleich,  dem  Wollen  immer  weitere 
Ziele  zu  setzen.  Je  mehr  aber  das  Denken  erstarkt,  desto  fester  ist 
der  Einzelne  davon  überzeugt,  daß  er  in  den  Operationen  seines 
eigenen  Verstandes  den  Gesetzen  einer  allgemeinen  menschlichen  Ver- 
nunft folgt.  Nun  hat  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Mensch  erst 
infolge  seiner  Individualisierung  gelernt,  die  einzelnen  Tatsachen  rein 
objektiv  zu  beobachten  und  in  ihrer  individuellen  Wirklichkeit  zu  er- 
fassen. Aus  dieser  Verbindung  des  Wirklichkeitssinnes  mit  der  Über- 
zeugung von  der  Allgemeinheit  der  menschlichen  Vernunft,  also  wieder 
aus  dem  Übergang  vom  Individualismus  zum  Universalismus,  der  mit 
der  Intellektualisierung  der  Seele  parallel  geht,  entwickelt  sich  nach 
und  nach  die  exakte  Wissenschaft,  durch  deren  Fortschritte 
der  Mensch  sich  immer  mehr  zum  Herrn  der  Natur  emporringt. 

Dieser  Prozeß,  der  schon  sehr  früh  beginnt,  läßt  sich  vom  Beginn 
der  Neuzeit  an  mit  besonderer  Deutlichkeit  beobachten.  Dilthey  hat 
in  einer  Reihe  von  überaus  lehrreichen  und  gehaltvollen    Aufsätzen, 


280  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

die  jetzt  im  zweiten  Bande  seiner  gesammelten  Schriften  vereinigt  sind, 
den  Nachweis  erbracht,  daß  aus  der  humanistischen  und  aus  der 
religiös-reformatorischen  Bewegung  des  fünfzehnten  und  sechzehnten 
Jahrhunderts  sowohl  die  mathematische  Naturwissenschaft  als  auch 
die  rationalistische  Philosophie  mit  ihrer  Lehre  von  einer  natürlichen 
Religion,  vom  Naturrecht  und  von  einem  allgemeinen  Sittengesetz  sich 
herausentwickelt  haben.  Wir  finden  in  seinen  Darlegungen  überall 
unsere  soziologische  Grundeinsicht  vom  Übergang  des  Individualismus 
zum  Universalismus  bestätigt,  und  diese  Bestätigung  ist  deshalb  für 
uns  sehr  wichtig,  weil  Dilthey  selbst  diesen  durch  die  soziologische 
Betrachtungsweise  neu  erschlossenen  Zusammenhang  noch  gar  nicht 
bemerkt  hatte.  Indem  ich  nachdrücklich  auf  die  jetzt  leicht  zugäng- 
lichen Arbeiten  Diltheys  verweise,  hebe  ich  mit  dankbarer  Benutzung 
des  von  ihm  so  reichlich  herbeigeschafften  Materials  die  Hauptpunkte 
kurz  hervor. 

Der  lebensfrohe  Individualismus  der  Renaissancezeit  hatte  zu- 
nächst zur  Folge,  daß  man  sich  der  irdischen  Wirklichkeit  mit  erhöhtem 
Interesse  zuwendete  und  es  sich  angelegen  sein  ließ,  diese  reale  Welt 
in  ihrer  Tatsächlichkeit  genauer  zu  erforschen.  Man  bekam  wieder 
Vertrauen  in  die  Kraft  des  eigenen  Beobachtens  und  Denkens  und 
wollte  die  überlieferten  Lehren,  besonders  die  des  Aristoteles,  der  für 
das  Mittelalter  die  unbestrittene  Autorität  in  weltlichen  Dingen  ge- 
bildet hatte,  nicht  mehr  ungeprüft  gelten  lassen.  Man  war  überzeugt, 
daß  dem  Menschen  ein  „natürliches  Licht"  (lumen  naturale)  inne- 
wohne, das  ihn  befähigt,  sich  selbständig  ein  Urteil  zu  bilden.  Melanch- 
thon,  der  die  Lehre  vom  natürlichen  Licht  zur  Grundlage  seiner 
Philosophie  gemacht  hat,  spricht  von  dem  Bewußtsein  der  Evidenz, 
welches  alles  richtige  Rechnen  und  Schließen  begleitet  {Dilthey  II, 
178).  Nun  ist  aber  dieses  Bewußtsein  der  Evidenz  ein  durchaus  indi- 
viduelles Erlebnis.  Erst  dadurch,  daß  dieses  Erlebnis  verallgemeinert 
wird,  ergibt  sich  daraus  die  Lehre  vom  natürlichen  Licht  der  Vernunft. 
Der  Übergang  vom  Individualismus  zum  Universalismus  tritt  also 
auch  in  dieser  für  die  Renaissancezeit  charakteristischen  Lehre  deutlich 
zutage. 

Zu  der  Freude  am  Beobachten  der  Natur  gesellt  sich  also  die 
mit  dem  Gefühl  der  Evidenz  verbundene  mathematische  Be- 
arbeitung. Aus  der  Kombination  von  Beobachtung,  Experiment  und 
Rechnung  entsteht  nun  durch  die  Arbeiten  von  Kopernikus,  Galilei, 
Kepler,  Huyghens  und  Newton  die  mathematische  Naturwissenschaft, 
welche  die  Bewegungsgesetze  der  leblosen  Materie  dauernd  festgelegt 
und  damit  die  Grundlage  geschaffen  hat  für  die  Beherrschung  der 
Natur  durch  die  moderne  Technik.  So  ist  also  aus  dem  Individualismus 
des  Renaissancemenschen  die  universelle  und  allgemeingültige  Wissen- 
schaft hervorgegangen. 

Wichtiger  noch  ist  die  Einsicht  in  den  Übergang  vom  Indivi- 
dualismus zum  Universalismus  und  zum  Weltbürgertum  für  das  Ver- 
ständnis der  Auffassungen  von  Staat  und  Gesellschaft,  die  sich  in 
der  Neuzeit  herausbilden.  Dilthey  hat  in  seinen  Aufsätzen  über  das 
natürliche    System   der   Geisteswissenschaften    im    siebzehnten    Jahr- 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  281 

hundert  (II,  90  ff.)  und  in  anderen  daranschließenden  Arbeiten  die 
geschichtliche  Entwicklung  des  modernen  Denkens  über  Religion, 
Recht,  Sittlichkeit  und  Staat  mit  Heranziehung  eines  reichen  und  oft 
schwer  zugänglichen  Materials  dargestellt.  Man  ersieht  daraus,  daß 
aus  dem  gesteigerten  Selbstgefühl  des  Renaisancemenschen  sich  immer 
deutlicher  und  immer  schärfer  die  Überzeugung  herausentwickelt, 
daß  es  Ideen  und  Gefühle  gibt,  die  allen  Menschen  gemeinsam  sind 
und  die  geeignet  erscheinen,  ein  einigendes  Band  zwischen  den  Völkern 
zu  bilden. 

So  finden  wir  schon  bei  Erasmus,  bei  Zwingli  und  bei  Melanchthon 
die  Idee  eines  universalen  Theismus,  einer  natürlichen  Religion,  die 
einerseits  auf  das  natürliche  Licht  der  Vernunft,  anderseits  auf  die 
Übereinstimmung  unter  den  Völkern  sich  gründet.  Daraus  entwickelt 
sich  der  Deismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  das  heißt  die  Forde- 
rung einer  allgemeinen  Vernunftreligion,  die  keines  Dogmas  und  keiner 
Offenbarung  bedarf.  Dieser  Gedanke  einer  Universalreligion  ist  nun 
letzten  Endes  aus  dem  im  Protestantismus  zutage  tretenden  Bedürfnis 
nach  persönlicher  Frömmigkeit  hervorgegangen. 

In  ähnlicher  Weise  erzeugt  das  gesteigerte  Selbstgefühl  des 
Einzelmenschen  den  Gedanken  eines  allgemeinen  Rechtes,  das 
von  der  Natur  gegeben  und  von  der  Vernunft  gefordert  wird.  Dieses 
Recht,  das  mit  uns  geboren  ist,  muß  für  alle  Menschen  immer  und 
überall  gelten.  Viele  Rechtslehrer  des  siebzehnten  und  achtzehnten 
Jahrhunderts  sprechen  klar  und  bestimmt  die  Überzeugung  aus,  daß 
das  Naturrecht  allgemeine  und  unbedingte  Geltung  habe,  ja,  sie 
sagen,  daß  Gott  selbst  nicht  die  Macht  habe,  die  Bestimmungen  des 
Naturrechtes  zu  ändern  oder  ungültig  zu  machen.  Diesem  individua- 
listisch-universalistischen Rechtsgedanken  stellt  sich  der  absolutistische 
Staat  entgegen,  wie  er  sich  in  derselben  Periode  namentlich  in 
Frankreich  ausbildet.  Hier  ist  der  Staat  selbst  die  Quelle  des 
Rechtes  (Hobbes)  und  der  Wille  des  Herrschers  das  oberste  Gesetz. 
Die  Idee  des  Naturrechtes  gewann  jedoch  die  Oberhand  über  den 
Staatsabsolutismus.  Die  allgemeinen  Menschenrechte 
wurden  zuerst  in  die  Verfassungen  der  amerikanischen  Republiken 
aufgenommen,  die  sich  von  England  losgelöst  und  die  Föderation  der 
„Vereinigten  Staaten  von  Amerika"  gebildet  hatten.  So  heißt  es  z.  B. 
in  der  Verfassung  des  Staates  Pennsylvania  vom  28.  März  1776  im 
Artikel  I :  „Alle  Menschen  sind  in  gleicher  Weise  frei  und  unabhängig 
geboren  und  haben  bestimmte,  natürliche,  an  sich  geltende  (inherent) 
und  unabänderliche  Rechte."  Dazu  gehört  unter  anderem  das  Recht, 
das  Leben  und  die  Freiheit  zu  genießen  und  zu  verteidigen,  Eigentum 
zu  erwerben,  zu  besitzen  und  zu  wahren,  Glück  und  Sicherheit  zu 
erstreben  und  zu  behaupten.  Artikel  II:  „Alle  Menschen  haben  ein 
natürliches  und  unabänderliches  Recht,  den  allmächtigen  Gott  nach 
den  Forderungen  ihres  eigenen  Wissens  und  Gewissens  zu  verehren." 
Es  wird  weiter  bestimmt,  daß  niemand  wegen  seiner  Konfession  in 
seinen  bürgerlichen  Rechten  beeinträchtigt  werden  darf,  daß  alle  Macht 
beim  Volke  selbst  ruht,  daß  keine  stehenden  Heere  gehalten  werden 
sollen  weil  diese  der  Freiheit  gefährlich  sind,  und  daß  die  militärische 


2s2  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Macht  der  bürgerlichen  untergeordnet  sein  müsse*).  Ähnlich  lauten 
die  Verfassungen  von  Massachusetts,  von  Virginia  und  den  anderen 
Staaten.  In  Frankreich  wurden  die  Menschenrechte  gleich  im  Anfang 
der  Revolution  schon  am  4.  August  1 789  in  der  Nationalversammlung 
verkündet  und  dann  in  die  Verfassungsurkunde  vom  3.  September  17  M 
aufgenommen.  Die  Urkunde  beginnt  mit  einem  Abschnitt,  der  die 
Überschritt  trägt:  Deklaration  des  droits  de  l'homme  et  du  citoyen 
(Verkündung  der  Menschen-  und  Bürgerrechte).  Die  Bestimmungen 
sind  denen  der  amerikanischen  Verfassungen  ähnlich.  Art.  1  und  2 
lauten:  „Die  Menschen  werden  frei  geboren  und  bleiben  frei  und  gleich 
in  ihren  Rechten.  Der  Zweck  jeder  politischen  Vereinigung  ist  die 
Wahrung  der  natürlichen  und  unveräußerlichen  Menschenrechte. 
Diese  Rechte  sind:  die  Freiheit,  das  Eigentum,  die  Sicherheit  und 
der  Widerstand  gegen  Unterdrückung"  (Altmann,  S.  55). 

Wir  haben  die  einzelnen  Bestimmungen  der  amerikanischen  und 
der  französischen  Verfassungsurkunden  deshalb  teilweise  im  Wortlaut 
mitgeteilt,  weil  sich  oft  gerade  in  der  Textierung  die  Verbindung  von 
Individualismus  und  Universalismus  deutlich  kundgibt.  Kant  und 
Fichte,  die  den  Freiheitsgedanken  der  französischen  Revolution  mit 
solcher  Begeisterung  aufnahmen,  sahen  hauptsächlich  das  allgemein 
Menschliche  darin  und  fanden  sich  in  ihrer  Auffassung,  daß  Freiheit 
das  Wesentliche  des  Geistes  sei,  dadurch  bestärkt.  Der  aus  dem  Frei- 
heitsgedanken hervorgegangene  politische  und  wirtschaftliche  Libe- 
ralismus des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  wiederum  das  indi- 
vidualistische Moment,  das  in  diesem  Gedanken  zur  Geltung  gelangte, 
in  schroffer  Einseitigkeit  zum  schrankenlosen  Eigennutz  und  zum 
Anarchismus  weiter  entwickelt.  Wir  werden  gleich  sehen,  welche 
Gegenströmung  dadurch  im  neunzehnten  Jahrhundert  hervorgerufen 
wurde.  Vorher  aber  müssen  wir  unsere  soziologische  Grundeinsicht 
vom  innigen  Zusammenhang  zwischen  der  individualistischen  Ent- 
wicklungstendenz und  dem  Weltbürgertum  noch  an  einem  anderen 
besonders  lehrreichen  Beispiel  erläutern. 

Der  deutsche  Neuhumanismus,  der  sich  am  Ende  des  acht- 
zehnten und  zu  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  in  Deutschland 
ausgebildet  hat,  ist  ein  für  die  ganze  Kulturentwicklung  besonders 
bedeutsamer  Beweis  für  die  Richtigkeit  und  für  die  Tragweite  dieser 
unserer  soziologischen  Grundeinsicht.  In  der  Sturm-  und  Drangzeit 
unserer  Literatur,  aus  der  der  Neuhumanismus  hervorging,  bildet  sich 
ein  eigenartiger  Universalismus  des  Gefühles  aus,  in 
welchem  unser  soziologisches  Grundgesetz  wiederum  in  einer  ganz 
neuen  Weise  zur  Geltung  kommt.  Als  Ausgangs-  und  zugleich  als 
Mittelpunkt  der  ganzen  Bewegung  dürfen  wir  die  Persönlichkeit 
Johann  Gottfried  Herders  ansehen.  Herder  hat  durch  seine  „Frag- 
mente" und  durch  die  „kritischen  Wälder"  den  Sturm  und  Drang  in- 
auguriert. Seine  Gescliichtsphilosophie  mit  dem  Zcntralbegriff  der 
„Humanität"  darf  als  die  philosophische  und   als  die  pädagogische 


*)  Vgl.    Altmann.    „Ausgewählte     Urkunden     zur     außerdeutschen     Ver- 

fassungsgeschiclitc",  2.  Aufl.,   1913,  S.  -1  ff. 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  283 

Grundlegung  des  Neuhumanismus  angesehen  werden.  Herder  ist  als 
tiefgründiger  Psychologe  davon  überzeugt,  daß  die  Eigenart  des 
Menschen  sich  am  deutlichsten  und  tiefsten  in  seinem  Fühlen  offen- 
bare. „Die  Innigkeit,  Tiefe  und  Ausbreitung,  mit  der  wir  Leidenschaft 
empfinden,  verarbeiten  und  fortpflanzen,  macht  uns  zu  den  flachen 
oder  tiefen  Gefäßen,  die  wir  sind.  Oft  liegen  unter  dem  Zwerchfell 
Ursachen,  die  wir  sehr  unrichtig  und  mühsam  im  Kopfe  suchen.  Der 
Gedanke  kann  daher  nicht  kommen,  wenn  nicht  die  Empfindung  vorher 
an  ihrem  Orte  war.  Wiefern  wir  an  dem,  was  uns  umgibt,  teilnehmen, 
wie  tief  Liebe  und  Haß,  Ekel  und  Abscheu,  Verdruß  und  Wollust  ihre 
Wurzeln  in  uns  schlagen,  das  stimmt  das  Saitenspiel  unserer  Gedanken, 
das  macht  uns  zu  denen  Menschen,  die  wir  sind*)."  Das  Gefühl  ist 
für  Herder  auch  die  Grundquelle  aller  Poesie.  Er  findet  sie  in  ihrer 
ursprünglichsten  und  reinsten  Form  bei  Homer,  in  der  Bibel  und  im 
Volkslied.  Die  „Muttersprache  des  Menschengeschlechtes"  ist  zugleich 
der  reinste  Ausdruck  des  echt  menschlichen  Gefühles,  der  innigen  und 
lebendigen  Teilnahme  für  die  Natur  außer  uns  und  für  die  Natur 
in  uns.  Die  Keime  dazu  sind  in  jedem  Menschenherzen  zu  finden 
und  müssen  nur  durch  geeignete  Erziehung  und  Bildung  von  innen 
heraus  zur  Entfaltung  gebracht  werden.  Die  ganze  Weltgeschichte 
ist  als  eine  solche  Erziehung  im  großen  anzusehen,  als  eine  Erziehung 
zum  Gefühl  für  das  echt  Menschliche  im  Menschen,  als  eine  Erziehung 
zur  Humanität.  Mit  diesen  Gedanken  wirkt  Herder  auf  die  jungen 
„Originalgenies"  und  besonders  mächtig  auf  den  jungen  Goethe  in 
Straßburg.  Die  Freude  an  jedem  kräftig  erlebten  Gefühl  führt  zu- 
nächst zur  Verachtung  jeder  bloß  konventionellen  Form  in  der  Kunst, 
zeitigt  aber  zugleich  die  Überzeugung  von  der  tiefen  Berechtigung 
jeder  natürlichen  Regung  im  Menschen  und  trägt  besonders  dazu  bei, 
daß  man  die  eigenen  Gefühle  liebevoll  betrachtet,  sich  darin  gefällt 
und  sich  daran  sonnt.  Eine  unendliche  Bereicherung  des  Innenlebens 
ist  die  Folge  und  diese  kommt  in  den  Jugendwerken  Goethes  und 
Schillers  so  wie  der  anderen  Stürmer  und  Dränger  zu  kraftvollem 
Ausdruck.  Das  ist  es,  was  Schiller  meint,  wenn  er  im  Eingang  seines 
Gedichtes  „Die  Künstler"  sagt,  der  Mensch  sei  „reich  durch  Schätze, 
die  lange  Zeit  sein  Busen  ihm  verschwieg".  Wie  im  fünfzehnten  und 
im  sechzehnten  Jahrhundert  wirkt  auch  jetzt  die  Antike  kräftig  mit. 
Sie  beschleunigt  den  durch  die  allgemeine  Geistesentwicklung  in 
Deutschland  eingeleiteten  seelischen  Prozeß  und  gibt  ihm  zugleich  die 
Richtung  auf  das  Ideal-Menschliche.  Waren  es  in  der  Renaissance 
Cicero  und  Seneca,  die  den  Gedanken  eines  universalen  Theismus 
formen  halfen,  so  sind  es  jetzt  Homer,  Sophokles  und  Plato,  die  das 
überströmende  Gefühl  läutern  und  die  Freude  am  rein  Menschlichen 
zu  einem  dauernden  Gedanken  befestigen.  So  entstand  der  Neu- 
humanismus, der  das  Bildungs-  und  Erziehungswesen  Deutsch- 
lands so  lange  und  so  tief  durchdrungen  und  gestaltet  hat.  Er  bildet 
die   letzte   und    größte  Verbindung   von    Individualismus   und    Uni- 

*)  Herder,  „Vom  Erkennen  und  Empfinden",  Sämtliche  Werke  1852  (Cotta), 
Bd.  31,  S.  16.  Vgl.  dazu  auch  Jerusalem,  „Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren 
Schulen",  Wien  1912,  S.  45  ff. 


284  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

versalismus,  die  uns  die  Geschichte  bisher  gebracht  hat.  Aus  dem 
lebendigsten  Gefühl  der  eigenen  Persönlichkeit,  die  Goethe  als  das 
höchste  Glück  der  Erdenkinder  bezeichnet,  entspringt  hier  die  tiefe 
Überzeugung  von  einer  allen  Menschen  in  gleicher  Weise  verliehenen 
Vernunft  und  von  einem  in  allen  Menschen  wohnenden  Menschlich- 
keitsgefühl, das  immer  reiner  und  reicher  auszugestalten  als  die  hohe 
Aufgabe  der  edelsten  Geister  erkannt  wird.  Schiller  spricht  von  dem 
„weltbürgerlichen  Band",  das  jetzt  „alle  denkenden  Köpfe  verknüpft", 
Kant  entwirft  in  seiner  Schrift  „Zum  ewigen  Frieden"  das  Ideal  einer 
„weltbürgerlichen  Verfassung"  und  Goethe  bemüht  sich  eifrig,  eine 
„Weltliteratur*4  hervorzurufen,  in  der  vor  allem  das  allgemein  Mensch- 
liche als  das  allen  Nationen  Gemeinsame  zur  Darstellung  gelangen 
soll.  Der  prägnanteste  Typus  dieser  Verbindung  von  Weltbürgertum 
und  Persönlichkeitskultur  ist  vielleicht  Wilhelm  v.  Humboldt,  der  aus 
dem  Staatsdienste  scheidet,  weil  er  nur  sich  selbst  ausbilden  will,  und 
der  eben  in  sich  selbst  das  allgemein  Menschliche  findet,  das  er,  wie 
Spranger  gezeigt  hat,  an  der  Hand  der  Griechen  zu  einer  Philosophie 
der  Humanität  auszugestalten  unternimmt. 

Das  neunzehnte  Jahrhundert  hat  den  Aufschwung  des  Natio- 
nalismus gebracht  und  infolgedessen  das  Humanitätsideal  unserer 
Klassiker  eine  Zeitlang  zurücktreten  lassen.  Für  Deutschland  hat 
Friedrich  Meinecke  in  seinem  Werke  „Weltbürgertum  und  National- 
staat" den  Übergang  vom  Kosmopolitismus  zum  nationalen  Gedanken 
eingehend  und  lichtvoll  dargestellt.  Der  Nationalismus  hat  sich  jedoch 
über  ganz  Europa  verbreitet  und  die  politische  Geschichte  der  letzten 
hundert  Jahre  mächtig  beeinflußt.  Deutschland  und  Italien  haben  sich 
nach  einer  jahrhundertelangen  Zersplitterung  zu  großen  National- 
staaten zusammengeschlossen.  Viele  andere  größere  und  kleinere 
Nationen  haben  ihre  staatliche  Selbständigkeit  angestrebt  und  zum 
Teil  auch  erreicht.  Der  Kosmopolitismus  und  der  Humanitätsgedanke 
wurden  vielfach  als  ideale  Schwärmerei,  als  wirklichkeitsfremde  Utopie, 
ja  mitunter  sogar  als  vaterlandslose  Gesinnung  bezeichnet.  Die  Nation 
und  der  Staat  forderten  das  reif  und  reich  gewordene  Individuum  für 
sich  zurück  und  verlangten,  daß  jeder  seine  Kräfte  ausschließlich 
in  den  Dienst  seines  eigenen  Vaterlandes  stelle. 

Der  Nationalismus  hat  sich  aber  nicht  nur  auf  dem  politischen  Ge- 
biete geltend  gemacht,  sondern  hat  auch  auf  das  wirtschaftliche  Leben 
übergegriffen.  Die  von  Adam  Smith  begründete  Nationalökonomie 
war  individualistisch  und  kosmopolitisch  zugleich.  Sie  ruhte  auf  der 
Überzeugung,  daß  der  uneingeschränkte  Wettbewerb  innerhalb  des 
Staates  und  der  Freihandel  im  internationalen  Verkehr  die  besten 
Bedingungen  für  den  Volkswohlstand  bilden.  Nun  war  aber  die  zu 
Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  sich  erst  entwickelnde  Industrie 
Deutschlands,  die  in  der  Friedenszeit  nach  1815  einen  kräftigen  Auf- 
schwung nahm,  durch  die  viel  ältere  und  leistungsfähigere  englische 
Manufaktur  in  ihrer  Fxistenz  bedroht.  Nachdem  durch  den  preußisch- 
deutschen Zollverein  (1834)  der  Binnenverkehr  zur  Zufriedenheit 
geregelt  war,  da  wurde  das  Bedürfnis  eines  Schutzes  gegen  aus- 
ländische   Konkurrenz    immer    stärker.     Im    Jahre   1841     trat    nun 


§  48.  Soziologische  Grundeinsichten  285 

Friedrich  List  in  seinem  Werke  „Das  nationale  System  der  politischen 
Ökonomie"  für  energischen  Schutzzoll  ein  und  von  dieser  Zeit  an 
durchdringt  der  Nationalismus  immer  mehr  auch  das  wirtschaftliche 
Leben*).  Die  großen  Nationalstaaten  stehen  untereinander  immer  mehr 
in  einem  scharfen  politischen  und  wirtschaftlichen  Konkurrenzkampf. 
Nach  dem  deutsch-französischen  Kriege  von  1870/71  entwickelt  sich 
die  deutsche  Industrie  und  der  deutsche  Handel  in  einem  so  großen 
Maßstabe  und  mit  solcher  Schnelligkeit,  daß  England  hier  einen  sehr 
gefährlichen  Rivalen  erkennt.  Zu  dem  nationalen  Gegensatz,  in  dem 
sich  Deutschland  sowohl  in  bezug  auf  Frankreich  als  auch  gegenüber 
dem  slawischen  Osten  befand,  kam  jetzt  noch  die  wirtschaftliche 
Gegnerschaft  Englands  dazu.  Die  Folge  war  eine  gewaltige  Macht- 
politik, die  überall  einsetzte.  Aus  dem  dadurch  veranlaßten  un- 
geheuren Wettrüsten  ist  dann  der  Weltkrieg  hervorgegangen.  Der 
Nationalismus,  der  in  sich  die  Expansionstendenz  enthält,  treibt  eben 
immer  und  überall  zum  extremsten  staatlichen  Egoismus,  und  solange 
diese  Tendenz  herrscht,  werden  solche  Katastrophen  von  Zeit  zu  Zeit 
immer  wiederkehren. 

Inzwischen  aber  waren  im  wirtschaftlichen  Leben  durch  die  Ent- 
wicklung der  Großbetriebe  neue  Wandlungen  eingetreten.  Die  Prole- 
tarier aller  Länder  hatten  sich  gegen  den  ausbeuterischen  Kapitalismus 
zur  großen  internationalen  Sozialdemokratie  vereinigt,  deren  Streben 
darauf  gerichtet  war  und  noch  ist,  die  Produktionsmittel  in  den  Besitz 
des  Staates  überzuführen  und  dadurch  die  Ausbeutung  der  Arbeiter 
durch  die  Unternehmer  unmöglich  zu  machen.  Der  Sozialismus  strebt 
als  letztes  Ziel  eine  Synthese  der  beiden  großen  Entwicklungstendenzen 
an.  Jeder  Staatsbürger  hat  in  gewissem  Sinne  das  Recht  auf  Existenz 
und  es  soll  ihm  die  Befriedigung  der  wichtigsten  Lebensbedürfnisse 
durch  die  Staatsverfassung  gewährleistet  werden.  Zugleich  ist  aber 
jeder  Einzelne  verpflichtet,  für  die  Gesamtheit  nach  Maßgabe  seiner 
Kräfte  und  Fähigkeiten  zu  arbeiten  und  muß  sich  dem  Ganzen  ein- 
ordnen und  unterordnen. 

Das  individualistische  Moment  in  diesen  Bestrebungen  bringt  nun 
wieder  den  alten  Menschheitsgedanken  und  das  Humanitätsideal  zu 
Ehren.  Dieses  Ideal  kann  jedoch  nicht  mehr  durch  ein  „weltbürger- 
liches Band"  verwirklicht  werden,  das  die  denkenden  Geister  verknüpft. 
Die  Verbindung  muß  vielmehr  zwischen  den  Staaten  und  Völkern 
hergestellt  werden.  So  gestaltet  sich  der  Kosmopolitismus  infolge  der 
nationalen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung  jetzt  aus  zur  Forderung 
des  Internationalismus,  zu  dem  vor  dem  Kriege  bereits 
wichtige  Ansätze  vorhanden  waren.  Es  sei  nur  auf  den  Weltpost- 
verein, auf  die  vielen  internationalen  wissenschaftlichen  Vereinigungen 
und  auf  das  Haager  Schiedsgericht  hingewiesen. 

Nun  hat  der  Weltkrieg  zweifellos  zur  Stärkung  des  nationalen 
Gedankens  beigetragen.  Eine  Anzahl  neuer  Nationalstaaten  ist  aus 
ihm  hervorgegangen,  die  vom  Streben  nach  Erweiterung  ihrer  Macht 


*)  Gide  und  Rist,  „Geschichte  der  volkswirtschaftlichen  Lehrmeinungen",  in 
:her   Übersetzung  herausgegeben  von  Franz  üppenheimer,   1913,  S.   291  ff. 


286  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

erfüllt  sind.  Um  so  dringender  erscheint  deshalb  die  Forderung  nach 
einer  alle  Völker  und  Staaten  unifassenden  Organisation,  welche  die 
Wiederkehr  einer  so  furchtbaren  Weltkatastrophe  unmöglich  machen 
müßte. 

Wie  sich  diese  Dinge  in  der  Zukunft  gestalten  werden,  vermag 
natürlich  niemand  vorauszusagen.  Unsere  soziologischen  Grund- 
einsichten  haben  uns  aber  dennoch  die  Richtungen  und  die  Tendenzen 
kennen  gelehrt,  die  für  die  bisherige  Entwicklung  maßgebend  waren. 
Wir  gewinnen  dadurch  ein  tieferes  und  besseres  Verständnis  für  eine 
Reihe  von  Zusammenhängen,  und  es  wird  nunmehr  die  Aufgabe  der 
Soziologie  sein,  diese  Grundeinsichten  auf  die  Erforschung  der  ver- 
schiedenen Gebiete  des  menschlichen  Zusammenwirkens  anzuwenden. 

Wir  wollen  nun  auf  Grund  der  gewonnenen  Einblicke  zwei  wich- 
tige Gebiete  der  menschlichen  Geistesentwicklung,  und  zwar  zuerst 
die  Erkenntnislehre  und  dann  die  Sittenlehre,  vom  sozio- 
logischen Gesichtspunkt  aus  betrachten,  und  hoffen  dabei  zeigen  zu 
können,  daß  unsere  neuen  Einsichten  und  unsere  neue  Methode  sich 
fruchtbar  erweisen  wird.  Wir  lösen  damit  zugleich  die  beiden  Ver- 
sprechen ein,  die  wir  oben  (S.  100  und  217)  gegeben  haben. 

§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre. 

Das  Erkenntnisproblem  ist  bisher  von  zwei  verschiedenen  Stand- 
punkten aus  in  Angriff  genommen  worden.  Man  hat  zunächst  die 
Geltung  unserer  Erkenntnisse  zu  rechtfertigen  und  ihre  Grenzen 
zu  bestimmen  versucht.  Diese  Aufgabe  stellt  sich  die  Erkenntnis- 
kritik. Die  transzendentale  Analyse  Kants  hat  bekanntlich 
die  beiden  Formen  des  kritischen  Idealismus  hervorgebracht, 
die  wir  oben  als  Phänomen  alismus  und  als  Apriorismus 
bezeichnet  haben.  Den  Phänomenalismus  fanden  wir  damit  widerlegt, 
daß  er,  zu  Ende  gedacht,  zum  Solipsismus  führt  (§§  IQ  und  20). 
Der  Apriorismus  enthält,  wie  wir  gezeigt  haben,  eine  latente, 
uneingestandene  Metaphysik.  Zwingt  man  diese  ans  Tageslicht, 
dann  verliert  der  Apriorismus  ganz  und  gar  seinen  kritischen 
Charakter,  wird  zu  Behauptungen  gedrängt,  die  über  jede  mögliche 
Erfahrung  hinausgehen,  und  verfällt  wieder  in  den  alten,  spekulativen 
Dogmatismus  zurück,  von  dem  uns  Kant  für  immer  befreien  wollte. 
Diese  Denkrichtung  führt  aber  auch  aus  ganz  anderen  Gründen  zu 
sehr  bedenklichen  Konsequenzen.  Indem  sich  die  aprioristische  Er- 
kenntnistheorie ganz  ausdrücklich  auf  die  Untersuchung  der  Gel- 
tung unserer  Erkenntnisse  beschränkt  und  die  Frage  nach  ihrem 
Ursprung  und  nach  ihrer  Entwicklung  schroff  ablehnt,  ver- 
deckt sie  die  allerwichtigsten  Probleme  und  versperrt  sich  geradezu 
den  Weg  /ur  Aufklärung  des  wahren  Wesens  und  Werdens  mensch- 
licher Erkenntnis.  I  )ie  Erkenntniskritik  hat  also  zu  keiner  befriedigenden 
Lösung  geführt.  Wir  versuchten  es  dann,  mit  Hilfe  der  genetischen 
und  der  biologischen  Betrachtungsweise  das  menschliche  Erkennen 
als  eine  Funktion  des  menschlichen  Lebens  in  seiner  Grundform 
zu  erfassen  und  seine  Weiterentwicklung  zu  untersuchen.  Wir  glaubten. 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  287 

diese  Grundform  in  der  fundamentalen  Apperzeption 
zu  finden,  vermöge  deren  wir  jeden  wahrgenommenen  Vorgang  der 
Umgebung  nach  Analogie  unserer  eigenen  Willensimpulse  als  Kraft- 
äußerung eines  Kraftzentrums  auffassen  und  ihn  so 
gleichsam  aus  der  Sprache  des  Universums  ins  Menschliche  über- 
setzen. Der  wahrgenommene  Vorgang  wird  durch  diesen  Prozeß 
gleichzeitig  gegliedert  und  objektiviert.  Im  einfachen 
Urteilssatz  erfährt  die  fundamentale  Apperzeption  ihre  klare 
Ausprägung.  Das  Subjekt  ist  das  K  r  af  t  z  en  t  r  u  m,  das 
Prädikat  die  Kraftäußerung.  Wir  konnten  nun  zeigen, 
wie  aus  dieser  Grundform  die  verschiedenen  Arten  der  Begriffe 
hervorgehen,  mittels  deren  wir  die  Erfahrung  immer  ökonomischer 
ordnen.  Auch  die  wichtigsten  der  von  Kant  aufgestellten  Stamm- 
begriffe oder  Kategorien  vermochten  wir  auf  empirischem  Wege  in 
ihrer  Entstehung  und  Entwicklung  zu  verfolgen  (§  29). 

Die  Ergebnisse  dieser  evolutionistischen  und  psychologischen  Be- 
arbeitung des  Erkenntnisprozesses  behalten  nun,  meiner  Überzeugung 
nach,  ihren  dauernden  Wert,  bedürfen  jedoch  einer  wichtigen  Er- 
gänzung. Es  gibt  nämlich  eine  Frage,  die  bisher  weder  der  Aphoris- 
mus noch  der  Evolutionismus  auch  nur  aufgeworfen  haben.  Beide 
Methoden  setzen  nämlich  als  etwas  ganz  Selbstverständliches  voraus, 
daß  der  Mensch  von  Natur  aus  und  somit  von  allem  Anfang  die 
Fähigkeit  besitzt,  rein  theoretisch  zu  denken.  Daß  diese 
Voraussetzung  nachweislich  falsch  ist,  das  habe  ich  schon  in  meinem 
im  Jahre  1905  erschienenen  Buch  „Der  kritische  Idealismus  und  die 
reine  Logik"  (S.  143  ff.)  klar  und  deutlich  ausgesprochen.  Zu  dieser 
Überzeugung  war  ich  damals  hauptsächlich  durch  die  biologische 
Betrachtung  des  Erkenntnisprozesses  gelangt,  stützte  mich  aber  auch 
auf  Münsterbergs  an  Fichte  orientierte  geistvolle  Theorie  von  der 
ursprünglich  nur  „Stellung  nehmenden"  Funktion  des  Bewußtseins. 
Den  wahren  und  tiefen  Sinn  der  ganzen  Fragestellung  habe  ich  erst 
durch  die  soziologische  Betrachtungsweise  verstehen  gelernt. 
Diese  läßt  uns  nämlich  nicht  bloß  das  Problem  mit  viel  größerer 
Deutlichkeit  sehen,  sondern  gibt  uns  auch  die  Mittel  zur  klaren  und 
einwandfreien  Lösung  an  die  Hand.  Die  oben  dargelegten  sozio- 
logischen Grundeinsichten  sollen  uns  den  Weg  zeigen.  Sie  dürften 
sich  als  geeignet  erweisen,  die  menschliche  Erkenntnisentwicklung  von 
einer  neuen  Seite  her  zu  beleuchten.  Wir  müssen  zu  diesem  Zweck 
allerdings  manches  bereits  Gesagte  kurz  wiederholen. 

Aus  der  modernen  Völkerkunde  wissen  wir,  daß  der  primitive 
Mensch  uns  überall  auf  der  Erde  als  ein  sozial  gebundenes 
Herdentier  entgegentritt.  Die  Seele  des  Einzelnen  ist  ganz  ausgefüllt 
von  dem,  was  die  französischen  Soziologen  aus  der  Schule  Dürkheims 
„Kollektivvorstellungen"  nennen.  Das  sind  seelische 
Gebilde,  in  denen  die  emotionellen  und  die  motorischen  Elemente,  das 
heißt  die  subjektiven  Gefühle  und  Triebe,  die  durch  die  Wahrnehmung 
der  Vorgänge  ausgelöst  werden,  fast  allein  dominieren,  während  das 
was  wir  heute  als  die  objektiven  Bestandteile  der  Wahrnehmungen 
betrachten,  fast  ganz  bedeutungslos  bleibt.   Charakteristisch  für  diese 


2^s  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

sozial  gebundene  Oeistesart  der  Primitiven  ist  ferner  der  unerschütter- 
liche (Haube  an  die  Allgegenwart  von  Geistern  und  Dämonen,  die 
überall  im  Spiele  sind,  wo  sich  in  der  Natur  oder  im  Menschenleben 
irgend  etwas  ereignet,  das  vom  ganz  Alltäglichen  abweicht.  Beispiele 
dafür  sind  oben  angeführt  worden.  Der  Einzelne  fühlt  sich  nur  als 
ein  Teil,  als  ein  Glied  seines  Stammes  und  hält  an  der  überkommenen 
Art,  die  Sinneswahrnehmungen  zu  deuten,  mit  einer  geradezu  un- 
glaublichen Zähigkeit  fest.  Für  das,  was  wir  in  unserem  heutigen 
Sinne  des  Wortes  „Erfahrung"  nennen,  ist  der  Primitive  nach  den 
übereinstimmenden  Berichten  der  Forschungsreisenden  und  der  gut 
beobachtenden  Missionäre  ganz  unzugänglich.  Auf  dieser  Entwick- 
lungsstufe ist  der  Mensch  noch  ganz  unfähig,  rein  theoretisch  zu 
denken  und  vermag  noch  keineswegs  gegebene  Tatsachen  rein  objektiv 
zu  konstatieren. 

Diese  Fähigkeit  erlangt  der  Mensch  nur  langsam  und  allmählich, 
und  zwar  in  dem  Maße,  als  er  sich  selbst  aus  dem  Zustande  der 
sozialen  Gebundenheit  herausarbeitet  und  sich  zu  einer  selbständigen, 
eigenkräftigen  Persönlichkeit  hinaufentwickelt.  Wir  haben  gesehen, 
daß  zu  dieser  Befreiung  die  soziale  Differenzierung  hin- 
führt, die  zum  großen  Teil  eine  Wirkung  der  früh  einsetzenden  und 
dann  immer  weiter  fortschreitenden  Arbeitsteilung  ist.  Der 
Übergang  vom  Nomadenleben  zum  Ackerbau  und  zur  Seßhaftigkeit, 
sowie  die  damit  verbundene  Bildung  größerer  Gemeinwesen  ist  für 
diesen  Differenzierungsprozeß  und  dessen  Einwirkungen  auf  die  Er- 
kenntnisentwicklung von  maßgebender  Bedeutung.  Die  verschiedenen 
Handwerke,  die  in  der  größeren  und  komplizierteren  Gemeinschaft 
entstehen,  bringen  es  von  selbst  mit  sich,  daß  jeder,  der  sich  einer 
spezialisierten  Arbeit  widmet,  genötigt  ist,  seine  Aufmerksamkeit  auf  ein 
engeres  Gebiet  zu  konzentrieren.  Dadurch  aber  schafft  sich  der  Einzelne, 
ohne  es  direkt  zu  beabsichtigen,  ganz  von  selbst  seinen  eigenen  engeren 
Erfahrungskreis,  in  den  die  Kollektivvorstellungen  gleichsam  gar  nicht 
hineinreichen.  Da  jeder  solche  Beobachtungen  bei  der  Arbeit  selbst 
macht  und  sofort  gewahr  wird,  daß  er  dadurch  in  seiner  Arbeit  ge- 
fördert wird,  so  tritt  der  Gedanke  an  Geister  und  Dämonen  zurück 
und  der  Mensch  lernt  auf  diesem  Wege  zum  erstenmal  die  Tatsachen 
selbst  rein  objektiv  beobachten,  um  diese  Beobachtungen  sofort  für 
seine  Arbeit  zu  verwerten.  Dadurch  erfährt  nun  gleichzeitig  der 
Intellekt  eine  wesentliche  Stärkung  gegenüber  den  im  Zustande  der 
sozialen  Gebundenheit  vorherrschenden  affektiven,  emotionalen  und 
triebartigen  Elementen,  und  es  vollzieht  sich  zugleich  mit  der 
durch  die  Arbeitsteilung  eingeleiteten  Verselbständigung  des  Einzel- 
menschen  auch  eine  Intellektualisierung  der  Seele. 
Dieser  merkwürdige  Zusammenhang  zwischen  Erkenn  tnis- 
e  n  t  w  i  c  k  1  u  n  g  und  Gesellschaftsentwicklung  muß 
nun  genauer  untersucht  werden.  Jedenfalls  wird  durch  diese  sozio- 
logische Entdeckung  der  Glaube  an  eine  zeitlose,  unveränderliche 
logische  Struktur  der  menschlichen  Vernunft,  die  jeder  Erfahrung  und 
jeder  Erkenntnis  gleichsam  ihren  Stempel  aufdrückt,  oder  gar,  wie 
die  Aprioriker  meinen,  Erfahrung  erst  möglich  macht,  stark  erschüttert. 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  289 

Hat  uns  doch  Levy-Brühl  in  seinen  beiden  Büchern  gezeigt,  daß  die 
Geistesart  der  Primitiven  nicht  bloß  mystisch  (Glaube  an  Geister), 
sondern  auch  p  r  ä  1  o  g  i  s  c  h,  das  heißt  für  das  Gesetz  des  Wider- 
spruches ganz  unempfindlich  ist.  Der  Mensch  hat  erst  durch  seine 
Befreiung  von  der  sozialen  Gebundenheit  theoretisch  denken  gelernt 
und  infolge  dieser  Erstarkung  des  Intellekts  ist  die  Wissen- 
schaft überhaupt  erst  möglich  und  dann   wirklich  geworden. 

Damit  sind  nun  wichtige  und  wesentlich  neue  Gesichtspunkte 
gegeben,  von  denen  aus  sich  ein  vertieftes  Verständnis  für  die  Ent- 
wicklung und  auch  für  die  Geltung  der  menschlichen  Erkenntnis  ge- 
winnen läßt.  Wenn  es  auch  heute  noch  nicht  möglich  ist,  den  ganzen 
Verlauf  dieses  Prozesses  im  einzelnen  zu  verfolgen,  so  geben  uns  doch 
die  oben  dargelegten  soziologischen  Grundeinsichten  die  Mittel  an 
die  Hand,  bestimmte  und  deutliche  Richtlinien  zu  ziehen.  Um  diese 
zu  finden,  müssen  wir  zunächst  die  Kollektivvorstellungen, 
in  denen  wir  die  ursprüngliche  Reaktion  des  menschlichen  Bewußtseins 
auf  die  Vorgänge  der  Umgebung  vor  uns  haben,  einer  psychologischen 
Zergliederung  unterziehen. 

Da  wäre  denn  zunächst  zu  sagen,  daß  die  Kollektivvorstellungen 
der  Primitiven  nicht  als  Vorstellungen  in  dem  Sinne  betrachtet 
werden  dürfen,  in  welchem  die  moderne  Psychologie  das  Wort  ge- 
braucht. „Man  muß,"  sagt  Levy-Brühl,  „unter  dieser  Form  der  gei- 
stigen Betätigung  der  Primitiven  nicht  ein  bloßes  Verstandesphänomen 
oder  eine  bloße  Erkenntnis  verstehen,  sondern  ein  komplizierteres 
Phänomen,  in  welchem  das,  was  für  uns  eigentlich  Vorstellung  ist, 
noch  mit  anderen  Elementen  von  emotionellem  oder  motorischem 
Charakter  vermischt,  gefärbt,  durchdrungen  ist,  und  welches  infolge- 
dessen ein  anderes  Verhalten  hinsichtlich  der  vorgestellten  Gegenstände 
mit  sich  bringt"  *). 

Versuchen  wir  nun,  von  den  gefühls-  und  triebartigen  Elementen 
der  Kollektiworstellungen  einmal  abzusehen  und  den  darin  jedenfalls 
mitenthaltenen  intellektuellen  Prozeß  isoliert  zu  betrachten.  Da  finden 
wir  zunächst,  daß  die  Kollektiworstellungen  als  Deutungen  von 
Vorgängen  zweifellos  Urteile  sind.  In  diesen  Urteilen  sehen  wir 
überall  die  fundamentale  Apperzeption  in  Tätigkeit.  Es  vollzieht  sich 
allenthalben  die  uns  bekannte  Gliederung  in  Kraftzentrum  und  Kraft- 
äußerung. Daß  als  Kraftzentren  so  gut  wie  immer  unsichtbare  Mächte, 
Geister  und  Dämonen  betrachtet  werden,  hat  gewiß  in  der  seelischen 
und  in  der  sozialen  Struktur  der  Primitiven  seine  Ursachen,  die  wir 
allerdings  heute  noch  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen  vermögen.  Mit 
dieser  Frage  wollen  wir  uns  auch  jetzt  nicht  befassen. 

Für  unser  Erkenntnisproblem  ist  es  viel  wichtiger,  auf  die 
Zähigkeit  und  Festigkeit  zu  achten,  mit  der  die  in  den 
Kollektivvorstellungen  enthaltenen  Urteile  von  allen  Stammesgenossen 
für  wahr  gehalten  werden.  Wir  haben  die  deutlichsten  Beweise  dafür, 
daß  sich  dieselben  Deutungsarten,  derselbe  Glaube  an  die  fort- 
währenden Einwirkungen  von  Geistern,  Dämonen  oder  Zauberern  in 


*)  Levy-Brühl,  „Das  Denken  der  Naturvölker".  Deutsche  Ausgabe  (ll>21). 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


290  Soziologie  und  Gesch-chtsphilosophie 

den  verschiedensten  Teilen  der  Erde  durch  lauge  Zeitperioden  hindurch 
unverändert  erhalten  haben.  Die  Forschungsreisenden  und  besonders 
die  Missionäre  berichten  übereinstimmend,  wie  vergeblich  ihre  Be- 
mühungen waren,  die  I. ingeborenen  von  ihrem  „Aberglauben'4  ab- 
zubringen und  sie  zu  veranlassen,  an  natürliche  Ursachen  der  Vor- 
gänge zu  glauben.  So  sind  die  Primitiven,  um  nur  ein  Beispiel  zu 
zitieren,  jedesmal,  wenn  eine  Frau  beim  Baden  oder  beim  Wasserholen 
von  einem  Krokodil  verschlungen  wird,  fest  davon  überzeugt,  daß 
das  Krokodil  von  einem  Zauberer  zu  dieser  Tat  bestellt  war,  oder 
daß  sich  der  Zauberer  selbst  in  das  Krokodil  verwandelt  habe,  um 
seinen  böswilligen  Anschlag  auszuführen.  Levy-Brühl  hat  in  seinem 
kürzlich  erschienenen  zweiten  Werk  über  die  Oeistesart  der  Primitiven 
eine  ganze  Reihe  von  Belegen  dafür  zusammengestellt  („La  mentalite 
primitive",  S.  37  ff.  Paris  1922). 

Dieser  unerschütterliche  Glaube  an  die  Existenz  und  an  die 
Wirksamkeit  von  Wesen,  die  doch  ursprünglich  nur  Geschöpfe  der 
Phantasie  gewesen  sein  können,  ist  gewiß  auf  verschiedene  Ursachen 
zurückzuführen,  die  in  ihrer  Gesamtheit  jedenfalls  sehr  schwer  fest- 
zustellen sein  dürften.  Wir  wollen  deshalb  hier  nur  auf  eine  dieser 
Ursachen  hinweisen,  die  in  einem  Vorgange  besteht,  den  wir  heute 
noch  vielfach  beobachten  können. 

Sicher  ist,  daß  sich  die  Stammesgenossen  in  dem  Glauben  an  die 
Allgegenwart  der  Geister  und  Dämonen  gegenseitig  bestärken.  Schon 
dadurch  allein  erhalten  aber  diese  Schöpfungen  der  Phantasie  Realität 
und  Festigkeit.  Diesen  Prozeß  der  gegenseitigen  Bestärkung  sehen  wir 
nicht  bloß  bei  den  Primitiven,  sondern  auch  auf  höheren  Stufen  der 
Kulturentwicklung  und  sogar  heute  noch  in  unserem  täglichen  Leben 
in  voller  Wirksamkeit.  In  einem  Aufsatz:  „Die  Soziologie  des  Er- 
Icennens",  den  ich  im  Jahre  1909  in  der  Zeitschrift  „Die  Zukunft" 
veröffentlichte,  habe  ich  für  diese  durch  gegenseitige  Bestätigung  und 
Bestärkung  entstandenen  und  befestigten  Glaubensgebilde  den  Aus- 
druck „soziale  Verdichtung"  vorgeschlagen.  Die  Bedeutung 
und  Wirksamkeit  solcher  „Verdichtungen"  läßt  sich  nun  auf  ver- 
schiedenen Lebensgebieten  verfolgen.  Man  sieht  dabei  ganz  deutlich, 
wie  stark  der  Erkenntnisprozeß  durch  das  menschliche  Zusammenleben 
beeinflußt  wird. 

Am  deutlichsten  zeigt  sich  die  Bedeutung  der  sozialen  Ver- 
dichtungen auf  dem  Gebiete  der  religiösen  Glaubens- 
vorstellungen. Stellen  wir  uns  vor,  daß  unter  den  Griechen 
zuerst  ein  Einzelner  die  Phantasievorstellung  sich  bildete,  die  Sonne 
sei  ein  Wagen  mit  zwei  Pferden,  den  der  Sonnengott  lenkt.  Wenn 
dieser  Einzelne  sein  Phantasiebild  für  sich  behält,  so  ist  es  nicht  mehr 
als  eine  Seifenblase,  die  bald  spurlos  vergeht.  Erst  wenn  er  seiner  Idee 
Worte  leiht,  wenn  andere  Ähnliches  sich  vorgestellt  haben  und  ihm 
infolgedessen  zustimmen,  dann  bekommt  die  Vorstellung  von  Helios 
und  seinem  Wagen  eine  gewisse  Festigkeit,  die  ihre  Erhaltung  und 
Fortpflanzung  ermöglicht.  Alle  Göttergestalten,  die  von  Indern, 
Persern,  Ägyptern,  von  Babyloniern  und  Griechen,  von  Römern, 
Germanen,  Kelten  und  Slawen  jemals  angebetet  wurden,  sind  soziale 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  291 

Verdichtungen  von  Phantasieerlebnissen,  die  eben  durch  den  Prozeß 
der  Verdichtung  Festigkeit  und  Dauer  erlangt  haben.  Noch  deutlicher 
als  bei  der  Entstehung  der  Göttergestalten  tritt  die  Bedeutung  der 
sozialen  Verdichtung  beim  Seelen-  und  Ahnenkult  zutage. 
Der  Glaube  an  das  Fortleben  der  Seelen  nach  dem  Tode  wird  durch 
keine  unmittelbare  sinnliche  Wahrnehmung  gestützt.  Man  hat  deshalb 
den  Ursprung  dieses  Glaubens  in  den  Traumerlebnissen 
gesucht.  Nun  wissen  wir,  daß  Kinder  oft  das,  was  sie  im  Traume 
sehen,  als  etwas  tatsächlich  Erlebtes  empfinden  und  die  im  Traume 
wahrgenommenen  Dinge  für  durchaus  real  und  wirklich  halten.  Wir 
dürfen  deshalb  auch  bei  Primitiven  dieselbe  Deutung  der  Träume 
erwarten.  Stellen  wir  uns  nun  vor,  daß  etwa  der  Häuptling  eines 
Stammes  im  Kampfe  gefallen  sei.  Wahrscheinlich  wird  mancher 
Stammesgenosse  in  der  nächsten  Nacht  von  diesem  bedeutsamen 
Ereignis  träumen.  Jeder  Einzelne  betrachtet  diesen  Traum  als  ein 
wirkliches  Erlebnis  und  glaubt,  der  Verstorbene  sei  ihm  im  Traume 
leibhaft  erschienen.  Würde  er  nun  von  diesem  Ereignis  nicht  weiter 
sprechen,  so  hätte  er  es  bald  vergessen,  und  das  Traumerlebnis  hätte 
dann  keine  weiteren  Folgen.  Der  starke  Gefühlseindruck,  den  solche 
Träume  in  der  Regel  mit  sich  bringen,  wird  aber  zweifellos  die  Ein- 
zelnen veranlassen,  einander  ihre  Träume  mitzuteilen.  Dadurch  be- 
kommt nun  die  Erscheinung  des  Häuptlings  eine  weit  stärkere  Realität 
und  Festigkeit.  Die  gegenseitigen  Bestätigungen  bestärken  die  Stammes- 
genossen in  dem  Glauben,  daß  der  Tote  in  ihrer  Nähe  weilt,  und 
daß  er  an  ihren  Geschicken  teilnimmt.  Der  Hingeschiedene  ist  noch 
da,  er  kann  nützen  und  schaden,  und  so  empfiehlt  es  sich,  ihm 
Dienste  zu  erweisen.  Der  so  entstandene  Seelen-  und  Ahnen- 
kult, den  wir  meist  bei  Völkerstämmen  finden,  die  bereits  die  ganz 
primitive  Entwicklungsphase  überwunden  haben,  und  der  heute  noch 
in  den  verschiedensten  Formen  sich  auch  bei  Kulturvölkern  erhalten 
hat,  beruht  also  in  letzter  Linie  auf  sozialen  Verdichtungen.  Ohne 
die  gegenseitigen  Bestätigungen  und  Bestärkungen  könnten  weder  die 
Göttergestalten  noch  die  Seelen  der  Verstorbenen  die  Festigkeit  und 
die  Wirksamkeit  erlangen,  die  sie  tatsächlich  im  Glauben  der  Menschen 
so  lange  Zeit  hindurch  besessen  haben  und  zum  Teil  noch  besitzen. 
Dasselbe  aber,  was  wir  hier  für  die  Naturreligionen  konstatiert  haben, 
vollzieht  sich  auch  bei  den  Religionssystemen,  die  von  einzelnen  hervor- 
ragenden Persönlichkeiten  gestiftet  wurden.  Buddhas  und  Moham- 
meds Visionen  werden  zu  wirkenden  Kräften  erst  dadurch,  daß  ihre 
Anhänger  und  Jünger  diese  Visionen  zu  sozialen  Verdichtungen  aus- 
gestaltet und  verfestigt  haben. 

Die  soziale  Verdichtung  vermag  also  seelischen  Gebilden,  die 
der  Phantasie,  dem  Traumleben,  der  Vision  ihren  Ursprung  verdanken, 
einen  hohen  Grad  von  Festigkeit  und  wirksame  Dauer  zu  verleihen. 
Die  Urteile,  zu  denen  solche  Vorstellungen  Anlaß  geben,  werden  von 
großen  Menschengruppen  vieler  Generationen  für  wahr  gehalten  und 
zur  Richtschnur  ihres  Handelns  genommen. 

Man  könnte  aus  den  bisherigen  Darlegungen  leicht  den  Eindruck 
gewinnen,  daß  die  sozialen  Verdichtungen  hauptsächlich  die  Wirkung 

I"- 


292  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

haben,  daß  sie  den  Glauben  an  Geister  und  Dämonen  und  an  sonstige 
Gebilde  der  Phantasie  befestigen  und  dauernd  machen.  Sie  wären 
dann  mehr  ein  Hindernis,  ein  Hemmschuh  der  objektiven  Tatsachen- 
erkenntnis und  eine  Stütze  des  Irrtums  und  Aberglaubens.  Wir  werden 
aber  gleich  sehen,  daß  das  durchaus  nicht  der  Fall  ist.  Die  sozialen 
Verdichtungen  nehmen  vielmehr  auch  in  den  ganz  konkreten  Er- 
fahrungen des  täglichen  Lebens  und  in  den  darauf  gegründeten  Ur- 
teilen, sowie  in  den  daraus  sich  ergebenden  Maßnahmen  einen  sehr 
breiten  Raum  ein.  Sie  sind  vielfach  eine  Vorbereitung  der  streng 
objektiven  Erkenntnis  und  dienen  ebenso  zur  Verfestigung  von  Wahr- 
heiten wie  zu  der  Aufrechterhaltung  von  Irrtümern.  Sie  beweisen  aller- 
dings auch  den  ursprünglich  aktivistischen  und  biologisch  bedeutsamen 
Charakter  der  Denkvorgänge.    Das  soll  sofort  klar  werden. 

Wir  denken  in  „Begriffen",  und  das  charakteristische  Merk- 
mal des  Begriffes  ist  seine  Allgemeinheit,  sein  repräsentativer 
Charakter.  Der  Begriff  „Mensch"  repräsentiert  in  unserem  Denken 
alle  Menschen,  weil  darin  die  Merkmale,  die  allen  Menschen  gemein- 
sam sind,  in  einer  idealen  Einheit  zusammengefaßt  werden.  Man 
hat  oft  gefragt,  auf  welchem  Wege  wir  die  Fähigkeit  erlangt  haben, 
so  viele  Einzeldinge  in  einem  einzigen  Denkakt  zusammenzufassen. 
Die  Antwort  auf  diese  Frage  habe  ich  in  der  dritten  (ganz  neu  be- 
arbeiteten) Auflage  meines  Lehrbuches  der  Psychologie  (1902)  zum 
erstenmal  gegeben.  Die  dort  vorgetragene  Theorie  der  „typischen 
Vorstell  unge  n",  die  in  den  folgenden  Auflagen  des  Lehrbuches 
(7.  Aufl.,  1921)  unverändert  wiederholt  wurde,  gibt  die  Lösung  des 
von  Psychologen  und  Logikern  vielfach  erörterten  Problems  der 
Allgemeinheit. 

Wegweisend  war  für  mich  dabei  die  biologische  Be- 
trachtungsweise des  menschlichen  Seelenlebens,  die  sich  als  heu- 
ristisches Prinzip  oft  so  glänzend  bewährt.  Für  den  Primi- 
tiven sind  wie  für  das  ganz  kleine  Kind  die  Dinge  der  Umwelt  noch 
nicht  selbständige,  in  ihren  Einzelheiten  interessierende  Gegenstände; 
sie  sind  vielmehr  bloß  Anlässe  zu  Angriffs-  und  Abwehrbewegungen. 
Was  keine  solche  Reaktion  hervorruft,  ist  auf  dieser  Entwicklungsstufe 
für  das  Bewußtsein  einfach  nicht  vorhanden.  Wenn  wir  diese  Tatsache 
vom  Standpunkt  unseres  voll  entwickelten  Bewußtseins  klar  formulieren 
wollen,  so  können  wir  sagen :  Dem  primitiven  Menschen  kommen  nur 
die  biologisch  bedeutsamen  Merkmale  der  Dinge  zum  Bewußtsein. 
Das  heißt:  Im  Urzustand  bemerkt  der  Mensch  nur  das,  was  unmittel- 
bar in, t  -einer  Lebenserhaltung  zusammenhängt.  Auf  diese  Merkmale 
muß  er  jedoch  infolge  seines  Selbsterhaltungstriebes  seine  Aufmerksam- 
keit konzentrieren,  und  eben  dadurch  werden  alle  Dinge,  die  die- 
selben biologisch  bedeutsamen  Merkmale  aufweisen,  zu  einer  Einheit 
zusammengefaßt.  Den  Inbegriff  der  biologisch  bedeut- 
samen Merkmale  eines  Dinges  oder  einer  Gruppe  von  Dingen 
nenne  ich  nun  die  typische  Vorstellung  dieses  Dinges  oder 
dieser  Gruppe.  Die  typischen  Vorstellungen  sind  anschaulich  lebendig 
und  haben  zugleich  repräsentativen  Charakter.  Alle  Dinge 
nämlich,  die  die  gleichen  biologisch  bedeutsamen   Merkmale  an  sich 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  293 

haben,  veranlassen  mich  zu  den  gleichen  Reaktionen.  „Worauf  in 
gleicher  Weise  reagiert  wird,  das  gehört  unter  einen  Begriff",  sagt 
sehr  richtig  Ernst  Mach  (Prinzipien  der  Wärmelehre,  2.  Aufl.  S.  416). 
Wie  ich  jetzt  sehe,  haben  die  so  entstandenen  typischen  Vorstellungen 
auch  eine  sehr  wichtige  soziale  Funktion.  Sie  stellen  mit  ihren 
eingeübten  Reaktionstendenzen  die  Höhe  der  Anpassung  an  die  Durch- 
schnittsumgebung dar,  zu  der  es  die  Gruppe  bis  dahin  gebracht  hat. 
Sie  sind  soziale  Verdichtungen,  durch  die  das  in  ihnen  enthaltene 
Biologisch-Allgemeine  verfestigt  wird. 

Einen  wichtigen  Schritt  in  der  Weiterentwicklung  des  begriff- 
lichen Denkens  bedeutet  die  Entstehung  der  Sprache.  Dadurch, 
daß  gleiche  oder  doch  ähnliche  Dinge  mit  demselben  Namen  bezeichnet 
werden,  erhalten  die  gemeinsamen  Merkmale  dieser  Dinge  eine  viel 
konzentriertere  Zusammenfassung.  Das  Wort  gibt  diesen  Gemeinsam- 
keiten gleichsam  einen  Körper,  einen  Kristallisations- 
punkt. Es  wird  dadurch  möglich,  die  Erfahrungen,  die  man  an 
den  Dingen  macht,  im  Wort  ökonomisch  aufzuzeichnen  und  zur  Ver- 
wertung bereitzuhalten.  Die  so  entstandenen  Wortbegriffe  ent- 
halten nun  wieder  einen  sehr  bedeutsamen  sozialen  Faktor  in  sich. 
Alle  Sprachgenossen  verstehen  das  Wort  und  gebrauchen  es  in  ähn- 
licher Weise.  Die  im  Wort  verdichteten  Erfahrungen  sind  also  ein 
Gemeingut  der  Sprachgenossen,  und  jeder  Einzelne  hat  Anteil  daran. 
Auch  die  Wortbegriffe  sind  soziale  Verdichtungen  und  das  verleiht 
ihnen  ihre  Festigkeit,  ihre  Dauer  und  ihre  Wirksamkeit. 

Die  soziologische  Betrachtung  des  Erkenntnisprozesses  hat  also 
bisher  folgendes  ergeben.  Die  gewöhnliche  Auffassung  der  Psycho- 
logen, wonach  wir  von  konkreten  und  individuellen  Wahrnehmungen 
zu  vagen  Allgemeinvorstellungen  und  von  da  zu  streng  logischen 
Begriffen  aufsteigen,  entspricht  keineswegs  dem  wirklichen  Gang  der 
Entwicklung.  Die  Erkenntnis  der  Dinge  in  unserer  Umgebung 
beginnt  vielmehr  mit  sozialen  Verdichtungen,  wie  sie  in  den  typischen 
Vorstellungen  und  dann  in  den  Wortbegriffen  sich  ausprägen  Zur 
präziseren  Erfassung  der  einzelnen  Dinge  und  Vorgänge  gelangt 
der  Mensch  erst  dann,  wenn  er  sich  von  der  sozialen  Gebundenheit 
loszulösen  und  sich  zu  einer  selbständigen  und  eigenkräftigen  Per- 
sönlichkeit auszugestalten  begonnen  hat.  Zur  Erkenntnis  dessen,  was 
wir  im  strengen  Sinne  des  Wortes  „Tatsache"  nennen,  das  heißt  eines 
individuell  bestimmten  und  individuell  gefärbten  Einzelvorganges, 
gelangt  der  Mensch  erst  durch  den  Prozeß  der  Individualisierung, 
der  Loslösung  von  der  Gruppe,  der  Verselbständigung. 

Dieser  Prozeß  der  Individualisierung  vollzieht  sich  selbstver- 
ständlich nicht  auf  einmal,  sondern  langsam  und  allmählich  in  vielen 
Zwischenstufen.  Wir  sind  heute  noch  nicht  in  der  Lage,  die  einzelnen 
Phasen  dieser  Loslösung  und  die  damit  verbundenen  seelischen  Wir- 
kungen lückenlos  darzustellen.  So  viel  aber  können  wir  jetzt  schon 
sagen,  daß  die  individualistische  Entwicklungsten- 
denz und  der  von  ihr  ausgelöste  Befreiungskampf  der 
Persönlichkeit,  dessen  starke  Einwirkungen  auf  die  Gesetz- 
gebung aller  Staaten  wir  oben  kennen  gelernt  haben,  auch   für  die 


_>u  i  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Entfaltung  unseres  Erkenntnisvermögens  und  für  die 
I  iestaltung  unseres  Weltbildes  von  einer  bisher  kaum  geahnten 
Bedeutung  geworden  ist.  Der  selbständig  gewordene  Einzel- 
mensch  lehnt  sich  nicht  nur  gegen  die  überlieferten  Glaubenssätze 
und  gegen  veraltete  Rechtsbestimmungen  auf.  Er  will  sich  auch  in 
der  Erkenntnis-  und  Erfahrungswelt  von  den  Banden  der  sozialen 
Verdichtungen  befreien.  Er  will  nicht  mehr  die  überlieferten  Mei- 
nungen über  die  Dinge,  sondern  die  Dinge  selbst  kennen  lernen. 
Wahr  ist  jetzt  für  das  eigenkräftig  gewordene  Individuum  nicht  mehr 
das,  was  alle  glauben,  sondern  das,  was  durch  Beobachtung  und 
Messung  an  den  Dingen  selbst  festgestellt  ist.  Daß  hier  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  sozialer  und  intellektueller  Ent- 
wicklung vorliegt,  zeigt  sich  schon  darin,  daß  in  den  Geschichts- 
perioden, in  denen  die  individualistische  Entwicklungstendenz  be- 
sonders deutlich  zutage  trat,  daß  da  auch  die  exakte  Tatsachen- 
forschung am  meisten  geblüht  hat.  In  der  hellenistischen  Zeit,  wo 
Stoiker,  Epikureer  und  Skeptiker  den  Individualismus  pflegen,  finden 
wir  den  Physiker  Archimedes,  die  Geographen  Eratosthenes  und 
h'ipparch  und  ebenso  die  exakten  Philologen  Aristarch  und  Zenodot 
an  der  Arbeit.  Aus  der  Renaissanceperiode,  der  klassischen  Epoche 
des  Individualismus,  gehen  die  großen  Tatsachenforscher  Galilei, 
Kepler,  Huyg/iens,  Stevin,  Boyle,  Harvey  und  Newton  hervor.  Ebenso 
fallen  in  die  Zeit  der  individualistischen  Aufklärungsphilosophie  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  die  Entdeckungen  Lavoisiers,  üalvanis, 
Voltas  und   anderer.    Das  kann  kein  Zufall  sein. 

Allein  selbst  abgesehen  von  diesem  historischen  Zusammentreffen 
haben  wir  auch  von  innen  her  den  Zusammenhang  von  Tatsache 
und  Individuum  auf  der  einen  und  den  zwischen  sozial  und 
allgemein  auf  der  anderen  Seite  kennen  gelernt.  Wir  müssen 
aber  gleich  hinzufügen,  daß  diese  überaus  komplizierten  Beziehungen 
zwischen  Erkenntnisentwicklung  und  Gesellschaftsentwicklung  zweifel- 
los vorhanden  sind,  aber  noch  weit  genauer  untersucht  werden  müssen, 
als  dies  heute  schon  möglich  ist.  Einiges  läßt  sich  allerdings  darüber 
auch  jetzt  schon  sagen. 

Durch  die  Arbeitsteilung  und  die  damit  verbundene  soziale 
Differenzierung  wird  der  einzelne  Mensch  zwar  selbständiger  und 
denkfähiger,  er  wird  aber  auch  einseitiger  und  infolgedessen 
wiederum  abhängiger  von  dem  Gemeinwesen,  in  welchem  und  für 
welches  er  tätig  ist.  Er  kann  von  seiner  spezialisierten  Arbeit  nur 
dadurch  leben,  daß  er  die  Produkte  seiner  Tätigkeit  gegen  das,  was 
er  zur  Befriedigung  seiner  Lebensbedürfnisse  benötigt,  einzutauschen 
vermag.  Das  ist  aber  nur  in  einem  organisierten  Gemeinwesen  möglich 
und  deshalb  hat  auch  der  sozial  differenzierte  und  innerlich  selb- 
ständig gewordene  I  inzelmensch  ein  Interesse  an  der  Erhaltung 
der  staatlichen  Gemeinschaft,  die  ihm  die  Befriedigung  seiner  wich- 
tigsten Lebensbedürfnisse  möglich  macht.  Infolgedessen  bleibt  neben 
der  individualistischen  Entwicklungstendenz  die  in  der  primitiven 
Menschengruppe  allein  herrschende  sozial-autoritative 
Tendenz  auch  in  den  komplizierter  gewordenen  Organisationen  weiter 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  2Q5 

bestehen.  Der  Staat  fordert  das  innerlich  reicher  und  reifer  gewordene 
Individuum  immer  wieder  in  seine  Dienste  zurück.  Dieses  Zusammen- 
wirken der  beiden  antagonistischen  Entwicklungstendenzen  macht  sich 
nun  nicht  bloß  im  politischen  und  im  wirtschaftlichen  Leben,  sondern 
auch  beim  Fortschreiten  der  Erkenntnis  deutlich  bemerkbar. 

Die  mit  der  Individualisierung  Hand  in  Hand  gehende  Erstarkung 
des  Intellekts  geht  doch  niemals  so  weit,  daß  das  Denken  die 
Alleinherrschaft  in  der  Seele  gewinnen  könnte.  Gefühle 
und  Triebe  behalten  auch  beim  hochentwickelten  und  wissenschaftlich 
geschulten  Kulturmenschen  der  Gegenwart  ihre  bewegende  Kraft. 
Sie  bilden  trotz  aller  Intellektualisierung  immer  noch  den  seelischen 
Unterbau  und  geben  -  oft  unbewußt  —  dem  Denken  Richtung 
und  Ziel.  Sehr  treffend  sagt  Levy-Briihl  am  Schlüsse  seines  Buches 
über  das  Denken  der  Naturvölker,  daß  die  logische  Geistesart  niemals 
die  Universalerbin  der  prälogischen  Geistesart  werden  kann.  (Deutsche 
Ausgabe,  S.  343.)  Ebenso  bleibt  auch  der  scheinbar  ganz  unabhängig 
gewordene  Denker  doch  immer  noch  im  Banne  von  sozialen  Verdich- 
tungen, von  deren  Einfluß  er  sich  niemals  ganz  zu  befreien  vermag. 
Wir  entscheiden  uns  im  Leben  fast  immer  auf  Grund  von  größerer 
und  geringerer  Wahrscheinlichkeit  und  können  so  gut  wie  niemals 
das  Eintreten  voller  mathematischer  Gewißheit  abwarten.  Dabei  ist 
aber  der  Umstand,  daß  auch  andere  so  denken  und  handeln,  von  der 
allergrößten  Bedeutung,  und  darin  zeigt  sich  die  Wirkung  der  sozialen 
Verdichtungen,  unter  deren  Einfluß  wir  heute  noch  stehen.  Unsere 
Urteile  über  die  Nützlichkeit  oder  Schädlichkeit  des  Genusses  von 
Alkohol,  des  Rauchens,  der  verschiedenen  Arten  von  Sport  sind  nur 
selten  das  Ergebnis  selbständiger  Überlegungen,  sondern  beruhen 
meistens  auf  sozialen  Verdichtungen,  die  in  solchen  Dingen  unser 
Meinen  und  unser  Tun  bestimmen.  Selbst  wissenschaftliche  Theorien 
sind  zum  nicht  geringen  Teile  durch  Tradition  fortgepflanzte  soziale 
Verdichtungen,  die  neuen  Anschauungen  gegenüber  sich  oft  als  schwer 
zu  besiegender  Widerstand  geltend  machen.  Das  Phlogiston,  die 
Fernwirkung,  der  Horror  vacui  sind  bekannte  Beispiele  dafür. 

Dazu  kommt  noch  ein  anderes  Moment.  Auch  das  rein  theo- 
retische Denken  behält  die  allem  Seelischen  gemeinsame,  ursprünglich 
aktivistische  Tendenz  bei,  das  heißt,  daß  unser  Intellekt  in 
erster  und  in  letzter  Linie  dazu  bestimmt  ist,  Richtlinien  für  unser 
Handeln  zu  ziehen.  Alle  Wissenschaften  sind  aus  praktischen  Be- 
dürfnissen hervorgegangen  und  das  letzte  Ziel  aller  Wissenschaft 
wird  es  immer  sein  und  bleiben  müssen,  das  Leben  der  Menschheit 
inhaltsvoller  und  glücklicher  zu  gestalten.  Wenn  nun  der  einzelne 
Denker  eine  neue  Wahrheit  ganz  allein  gefunden  zu  haben  glaubt 
und  ihre  objektive  Gültigkeit  nicht  durch  Berufung  auf  die  Zustimmung 
anderer,  sondern  durch  das  Eintreffen  der  Voraussagen  ganz  un- 
widerleglich bewiesen  hat,  so  mag  er  getrost  diese  Entdeckung 
seinem  Scharfsinn,  seinem  Fleiß,  kurz,  nur  sich  selbst  zuschreiben. 
Zur  wirksamen  Macht  kann  aber  die  neue  Wahrheit  doch  nur  dadurch 
werden,  daß  sie  von  der  Gesamtheit  anerkannt  und  in  die  Tat  um- 
gesetzt  wird.     Auch   ganz   individuell   entdeckte,   streng  objektiv  be- 


29o  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

gründete  Wahrheiten  müssen  also  zu  sozialen  Verdichtungen  werden, 
wenn  sie  Festigkeit  und  Wirksamkeit  erlangen  sollen. 

Je  genauer  wir  nun  dieses  Zusammenwirken  der  beiden  Entwick- 
lungstendenzen zu  verfolgen  versuchen,  desto  komplizierter  erscheint 
der  Erkenntnisprozeß.  Es  wird  aber  auch  immer  deutlicher,  daß  nur 
die  soziologische  Betrachtungsweise  die  gewünschte  Klarheit  und 
Einsicht  zu  bringen  vermag.  Hier  ist  ein  großes,  neues  Feld  für 
fruchtbare  Untersuchungen  eröffnet.  Auf  einige,  allerdings  nur 
ganz  allgemein  gefaßte  Beziehungen  zwischen  den  beiden  sozialen 
Strömungen  und  der  Erkenntnisentwicklung  konnten  und  können  wir 
heute  schon  hinweisen,  müssen  aber  immer  wieder  betonen,  daß  das 
meiste  auf  diesem  Gebiete  der  künftigen  Forschung  vorbehalten  bleibt. 

Die  kollektiven  Vorstellungen  oder,  wie  wir  statt  dessen  jetzt  auch 
sagen  können,  die  sozialen  Verdichtungen  zeitigen  und  festigen  den 
Glauben  an  unsichtbare  Geister  und  Dämonen,  die  den  Naturlauf 
und  das  Menschenschicksal  bestimmen.  Der  durch  die  soziale  Differen- 
zierung erstarkte  Intellekt  der  selbständig  gewordenen  Individuen, 
welche  die  Fähigkeit  erlangt  haben,  durch  eigene  Beobachtung  Tat- 
sachen objektiv  zu  konstatieren,  ist  mit  steigendem  Erfolge  bemüht, 
diese  Gebilde  der  primitiven  Phantasie  aus  unserem  Weltbilde  zu 
eliminieren  und  natürliche  Ursachen  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Voll- 
ständig ist  es  allerdings  der  durch  die  individualistische  Entwicklungs- 
tendenz möglich  und  wirklich  gewordenen  Wissenschaft  noch  keines- 
wegs gelungen,  den  Glauben  an  übersinnliche  geistige  Mächte  in 
unseren  Seelen  zum  Erlöschen  zu  bringen,  und  es  ist  sehr  die  Frage, 
ob  ihr  das  jemals  gelingen  kann.  Die  fundamentale  Apperzeption 
stützt  diesen  Glauben,  und  vielleicht  kann  eine  auf  diesem  Gedanken 
aufgebaute  Metaphysik  zu  einer  geläuterten  Religion  führen,  die  in 
uns  die  Überzeugung  festigt,  daß  der  Glaube  der  Primitiven  die  un- 
entwickelten Keime  einer  großen  objektiven  Wahrheit  in  sich  enthält. 
Für  unsere  praktische  Lebensanschauung  und  in  bezug  auf  die 
Deutung  der  Vorkommnisse  des  täglichen  Lebens  sind  wir  über  diese 
gefühls-  und  phantasiemäßige  Auffassung  der  Naturvorgänge  doch 
hinausgekommen  und  der  intellektuell  erstarkte  Einzelmensch  hat 
dieses  in  den  sozialen  Verdichtungen  der  Urzeit  entstandene  Hemmnis 
des   Naturerkennens  allmählich   überwunden. 

Die  sozialen  Verdichtungen  wirken  aber  keineswegs  bloß  hemmend. 
In  den  typischen  Vorstellungen  und  in  den  Wortbegriffen  haben  die 
Primitiven  schon  vor  der  sozialen  Differenzierung,  jedenfalls  aber 
noch  vor  dem  Auftreten  selbständiger  Persönlichkeiten  bereits  einen 
Rahmen  geschaffen,  durch  welchen  in  das  Chaos  der  auf  den 
Menschen  einstürmenden  Eindrücke  bereits  eine  gewisse  Ordnung 
hineingebracht  wurde.  Die  durch  das  Hervortreten  selbständig 
denkender  Einzelmenschen  geschaffene  Wissenschaft  behält  diesen 
Rahmen  zunächst  bei  und  sucht  ihn  nur  ökonomischer  auszu- 
gestalten, so  daß  er  den  genauer  erforschten  Tatsachen  und  Gesetzen 
immer  besser  entspricht.  Man  kann  das  an  den  Klassifikationen  der 
Tiere,  der  Pflanzen,  der  Seelenvermögen,  der  Künste  und  der  Wissen- 
schaften von  Piaton  bis  zur  Gegenwart  verfolgen  und  muß  oft  darüber 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  297 

staunen,  wie  lange  es  bisweilen  dauert,  bevor  der  ganz  entsprechende 
Rahmen  gefunden  und  konstruiert  ist.  Es  wäre  sehr  reizvoll,  dieses 
Zusammenwirken  der  sozialen  Verdichtungen  mit  der  fortschreitenden 
Tatsachenerkenntnis,  die  durch  die  Einzelforschung  gewonnen  wird, 
auf  den  verschiedenen  Wissensgebieten  durch  die  Jahrhunderte  hin- 
durch zu  verfolgen.  Dazu  reichen  allerdings  die  bisher  gesammelten 
Daten  noch  nicht  aus. 

Die  individualistische  Entwicklungstendenz  hat  ferner  —  und 
das  ist  bisher  fast  gar  nicht  beachtet  worden  —  dem  Denken  und 
Forschen  ein  ganz  neues  Gebiet  erschlossen,  das  im  Zustande  der 
sozialen  Gebundenheit  überhaupt  noch  nicht  zum  Gegenstand  der 
Reflexion  gemacht  werden  konnte.  Das  ist  das  eigene  Seelen- 
leben des  Menschen,  in  das  sich  zu  versenken  erst  die  zur 
vollen  Selbständigkeit  erstarkte  Persönlichkeit  die  Fähigkeit  und  das 
Bedürfnis  bekommen  konnte. 

Wir  haben  bereits  oben  darauf  hingewiesen,  daß  durch  die  soziale 
Differenzierung  und  die  daraus  hervorgehende  Ausbildung  eigen- 
kräftiger Persönlichkeiten  das  seelische  Inventar  der  Menschheit  in 
geradezu  unabsehbarer  Weise  bereichert  worden  ist.  Wie  wahr  das  ist, 
sehen  wir  erst  jetzt.  Der  zur  Selbständigkeit  erstarkte  Einzelmensch 
hat  durch  seine  Loslösung  vom  engen  Verbände  seiner  Gruppe  nicht 
nur  die  Fähigkeit  erlangt,  Tatsachen  rein  objektiv  zu  beobachten  und 
überhaupt  theoretisch  zu  denken,  er  hat  auch  zuerst  die  eigene 
Seele  entdeckt,  und  wurde  dadurch,  wie  es  Schüler  so  schön 
ausdrückt,  „reich  durch  Schätze,  die  lange  Zeit  sein  Busen  ihm 
verschwieg". 

Von  dem  großen  Befreiungskampf,  den  das  selbständig  gewordene 
Individuum  gegen  jede  Art  von  Bevormundung  durch  den  Staat, 
gegen  jede  ungerechte  Hemmung  der  freien  Entfaltung  seiner  Fähig- 
keiten, gegen  jede  Art  von  Vergewaltigung  und  schließlich  auch 
gegen  jede  Verletzung  der  Menschenwürde  durch  Jahrtausende  hin- 
durch geführt  hat  und  heute  noch  weiter  führt,  haben  wir  oben  bereits 
gesprochen.  Diese  im  Wesen  der  individualistischen  Entwicklungs- 
tendenz begründete  Kritik  der  Überlieferung  führt  nun 
ganz  von  selbst  zum  tiefen  Hineinschauen  in  die  eigene  Seele.  Man 
bekämpft  die  überkommenen  Glaubensvorstellungen,  weil  sie  der  er- 
starkten eigenen  Vernunft  widersprechen,  man  lehnt  sich  gegen  die 
herrschende  Rechtsordnung  auf,  weil  sie  mit  dem  verfeinerten  Gewissen 
im  Widerspruch  steht.  Dabei  wird  man  sich  seines  eigenen  Denkens 
und  Fühlens  immer  deutlicher  bewußt  und  entdeckt  in  seinem  Innern 
eine  neue  Welt, 

Zwei  Gestalten  der  älteren  griechischen  Philosophie  sind  besonders 
geeignet,  diesen  bisher  fast  gar  nicht  beachteten  Zusammenhang 
zwischen  Individualismus  und  Psychologie  zu  illu- 
strieren. Heraklit  aus  Ephesus,  der  „dunkle"  Philosoph,  war  mit  seiner 
Vaterstadt  zerfallen  und  hat  sich  nach  alter  Überlieferung  ganz  in 
die  Einsamkeit  des  Waldgebirges  zurückgezogen.  Dieser  von  seiner 
Vaterstadt  losgelöste  Denker,  der  seine  Mitbürger  heftig  schilt,  also 
ein  durchaus  individualistisch  gerichteter  Kopf,  sagt  uns  nun  ganz 


20s  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

ausdrücklich:  „Ich  habe  mich  selbst  erforscht"  (Eragm.  10,  Diels). 
Bei  dieser  tiefen  Selbstschau  hat  er  nun  Blicke  in  die  eigene  Seele 
getan,  die  uns  heute  noch  wegen  ihrer  packenden  Wahrheit  in  Er- 
staunen versetzen.  „Der  Seele  Grenzen",  sagt  er  uns,  „kannst  du  nicht 
ausfinden,  und  wenn  du  jegliche  Straße  abschreitest,  so  tiefen  Grund 
hat  sie"  (45).  f  r  weiß  ferner,  daß  „in  der  Seele  eine  Vernunft  wohnt, 
die  sich  selbst  vermehrt"  (115).  Sokrates  war  ein  Zeitgenosse 
und  in  gewissem  Sinne  auch  ein  Vertreter  der  griechischen  „Auf- 
klärung4', also  eines  Zeitalters,  in  welchem  die  individualistische 
Entwicklungstendenz  deutlich  zutage  trat.  Er  selbst  ist  in  vielen 
Beziehungen  das,  was  wir  heute  einen  „Eigenbrötler"  nennen.  Er 
übt  an  manchen  politischen  Institutionen  Athens,  z.  B.  an  der  Wahl 
der  Beamten  durch  das  Los,  entschiedene  Kritik,  und  verlangt,  daß 
man  sich  nicht  nach  der  Meinung  der  „Vielen"  richte.  Von  den  natur- 
philosophischen Spekulationen  hat  er  sich  abgewendet  und  für  sich 
den  Beruf  erwählt,  seine  Mitbürger  zur  sittlichen  Selbstbesinnung  an- 
zuregen. Dazu  aber  hält  er  eine  tiefe  Selbstschau  für  unerläßlich 
und  so  wählt  er  das  delphische  Gebot:  „Erkenne  dich  selbst"  ( fvftft» 
seaoteJv)  zum  Kennwort  seines  Lebens.  Er  ist  mit  aller  Kraft  bemüht, 
sich  Klarheit  über  sich  selbst,  über  sein  Wissen  und  besonders  über 
sein  Nichtwissen  zu  verschaffen. 

Aus  dieser  Wendung  nach  inne  n,  die  durch  die  individua- 
listische Entwicklungstendenz  möglich  gemacht  und  hervorgerufen, 
aber  auch  durch  die  immer  größer  werdende  Kompliziertheit  der 
politischen  und  wirtschaftlichen  Organisation  des  menschlichen  Zu- 
sammenlebens nahegelegt  wurde,  entstand  nun  jener  Übergang  vom 
Individualismus  zum  Universalismus  und  zum  Kosmo- 
politismus, dessen  soziologische  Wirkungen  wir  oben  dargestellt 
haben.  Die  ganz  ungewöhnlich  große  Bedeutung  dieses  von  mir 
gefundenen  soziologischen  Gesetzes  für  die  Entwicklung,  für  die 
Bewertung  und  für  die  Geltung  der  menschlichen  Erkenntnis  läßt  sich 
heute  noch  nicht  erschöpfend  darstellen.  Dazu  bedarf  es  noch  ein- 
gehender und  umfassender  Forschungen.  Indessen  scheint  es  doch 
jetzt  schon  möglich,  auf  einige  der  allerwichtigsten  Ergebnisse  hin- 
zuweisen. 

Zunächst  sieht  man,  daß  die  Idee  der  ganzen  Menschheit 
als  einer  großen  Einheit  und  der  damit  eng  zusammenhängende 
Gedanke  der  allgemeinen  Menschlichkeit  oder  H  u  m  a- 
n  i  t  ä  t  ein  Produkt  der  sozialen  Entwicklung  sind  und  eben  diesem 
Übergang  vom  Individualismus  zum  Universalismus  ihr  Entstehen 
verdanken.  Man  darf  also  keineswegs  mehr  behaupten  oder  still- 
schweigend voraussetzen,  daß  diese  Ideen  zum  Urbesitz  des  Menschen- 
geistes gehören.  Sie  sind  durchaus  nicht  das,  was  Adolf  Bastian 
„Elementargedanke  n"  genannt  hat,  sondern  zeitlich  ent- 
standene E  n  t  w  i  c  k  1  u  n  g  s  p  r  o  d  u  k  t  e.  Wir  sind  sogar  in  der 
Lage,  die  Zeit  chronologisch  zu  bestimmen,  in  welcher  diese  Ideen 
im  Abendland  zuerst  auftreten.  Anklänge  dazu  finden  sich  schon 
bei  den  älteren  Sophisten.  Spricht  doch  Hippias  aus  Elis  in  Piatons 
Dialog  „Protagoras"  (c.  24)  davon,  daß  alle   Menschen  von   Natur 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  299 

miteinander  verwandt  und  verbrüdert  sind.  Eine  alte  Überlieferung 
will  wissen,  daß  schon  Sokrates  sich  selbst  als  Weltbürger  bezeichnet 
habe.  Sicher  jedoch  ist,  daß  der  Kyniker  Diogenes  aus  Sinope  das 
Wort  und  den  Begriff  des  Weltbürgertums  geprägt  hat,  und  daß 
dieser  Gedanke  von  den  Stoikern  in  ihre  Lehre  aufgenommen  und 
dort  weiterentwickelt  wurde.  Hier  erhält  diese  Idee  einen  starken 
religiösen  Einschlag,  der  ihr  auch  in  der  Folgezeit  oft  das 
Gepräge  gibt.  Lebt  doch  der  „Weise"  nach  der  Lehre  der  Stoiker  in 
der  großen  Gemeinschaft  der  Götter  und  Menschen.  In  der  mittleren 
Stoa  ist  dann,  wie  oben  bereits  gesagt  wurde  (S.  184  f.),  der  Gedanke 
der  allgemeinen  Menschlichkeit  geschaffen  worden,  für 
welchen  im  gebildeten  Kreise  des  jüngeren  Scipio  zu  Rom  das  schöne 
Wort  „Humanitas"  geprägt  wurde.  Das  Christentum  bildet 
dann  den  Gedanken  der  Menschenverbrüderung  weiter  und  unternimmt 
es,  in  der  bewundernswerten  Organisation  der  katholischen  Kirche 
diese  Einheit  zu  verwirklichen.  Auf  die  germanischen  Völker  hat  die 
Kirche  zweifellos  in  hohem  Grade  erziehlich  gewirkt  und  mehrere 
Jahrhunderte  hindurch  tatsächlich  einem  nicht  geringe«  Teile  der 
Menschheit  eine  einheitliche  Welt-  und  Lebensanschauung  gegeben. 
Allerdings  ist  in  der  strammen  Organisation  der  Kirche  die  sozial- 
autoritative Entwicklungstendenz  zu  kraftvollem  Ausdruck  ge- 
kommen, die  jede  individuelle  Abweichung  von  den  festgelegten 
Glaubenssätzen  mit  unnachsichtlicher  Strenge  bekämpfte  und  in  diesem 
Kampfe  selbst  vor  grausamer  Gewalt  nicht  zurückscheute.  Dadurch 
ist  dann  wieder  die  individualistische  Gegenströmung  erzeugt  worden, 
die  sich  in  den  beiden  Geistesbewegungen,  der  Renaissance  und  der 
Reformation,  zur  Geltung  brachte.  Vom  sechzehnten  Jahrhundert  an- 
gefangen gelangt  nun  die  Verbindung  von  Individualismus  und  Uni- 
versalismus zu  immer  deutlicherer  und  immer  lebendigerer  Auswirkung. 

Auf  dem  Gebiete  des  Rechts-  und  Staatslebens,  in  der  Entwicklung 
des  religiösen  und  des  sittlichen  Bewußtseins  treten  die  Folgen  dieses 
Überganges  deutlich  zutage.  Manches  davon  wurde  bereits  oben 
erwähnt,  auf  vieles  andere  wird  im  nächsten  Abschnitt  über  sozio- 
logische Ethik  hingewiesen  werden.  Dagegen  liegen  die  Einwirkungen 
auf  die  Erkenntnistheorie  nicht  so  klar  zutage  und  erschließen  sich 
erst  dem  soziologisch  geschulten  Blick. 

Im  sechzehnten  Jahrhundert  bildet  sich  schon  bei  den  großen 
Reformatoren,  besonders  bei  Melanchthon,  die  Lehre  vom  natür- 
lichen Licht  der  Vernunft  (lumen  naturale)  aus.  Im  Be- 
wußtsein der  Evidenz,  welche  jedes  richtige  Rechnen  und  Schließen 
begleitet,  erweist  sich  dieses  natürliche  Licht  als  wirksam*).  Auch  der 
Gottesglaube  wird  von  den  Reformatoren  auf  das  „lumen  naturale" 
zurückgeführt,  erfährt  jedoch  eine  kraftvolle  Bestätigung  durch  den 
schon  im  Altertum,  besonders  von  Cicero,  hervorgehobenen  „con- 
sensus  gentium",  auf  den  sich  die  Reformatoren  immer  wieder  berufen. 
Sie  verstehen  darunter  die  bei  allen  Völkern  der  Erde  festzustellende 


*)  Vgl.  Dilthey,  Ges.  Schriften,  2.  Bd.,  S.  172  ff.,  bes.  S.  178. 


300  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Übereinstimmung   in  dem  Glauben   an   höhere  Wesen,  die  die  Welt 
regieren  und  das  Schicksal  der  Menschen  bestimmen. 

Diese  Lehre  vom  „lumen  naturale"  und  dem  damit  in  Verbindung 
gebrachten  consensus  gentium  enthält  in  sich  den  Grundgedanken  der 
neueren  Erkenntnistheorie.  Ganz  deutlich  tritt  darin  die  Verbindung 
von  Individualismus  und  Universalismus  zutage.  Die  Berufung  auf  das 
Gefühl  der  Evidenz,  das  alles  richtige  Rechnen  und  Schließen  begleitet, 
ist  rein  individualistisch  gedacht,  weil  ja  dieses  Gefühl  nur  von  jedem 
Einzelnen  in  der  Tiefe  seines  eigensten  Bewußtseins  erlebt  werden  kann. 
Der  Hinweis  auf  den  consensus  gentium  enthält  wieder  den  uni- 
versalistischen Grundzug  in  voller  Deutlichkeit  ausgeprägt.  Der 
religiöse  Einschlag,  den  die  Verbindung  des  individualistischen 
Denkens  mit  dem  universalistischen  bei  den  Reformatoren  unverkennbar 
an  sich  trägt,  findet  sich  bei  Descartes,  bei  Kant  und  seinen  Nach- 
folgern wieder.  Dabei  tritt  jedoch  der  universalistische  Charakter 
der  ganzen  Denkweise  so  stark  in  den  Vordergrund,  daß  es  nur  dem 
soziologisch  geschulten  Betrachter  gelingt,  den  individualistischen 
Ursprung  und  Einschlag  herauszufinden. 

Wenn  Descartes  auf  Grund  seines  methodischen  Zweifels  zu  der 
festen  Überzeugung  gelangt,  daß  er  in  der  Tiefe  seines  eigenen  Bewußt- 
seins die  Quelle  ganz  unbezweifelbarer  Gewißheit  und  zugleich  die 
Gewähr  seiner  eigenen  realen  Existenz  gefunden  hat,  so  trägt  dieser 
ganze  Gedankengang  einen  durchaus  individualistischen 
Charakter  an  sich.  Descartes  zweifelt  aber  keinen  Augenblick  daran, 
daß  diese  innere  Selbstgewißheit  bei  jedem  Menschen  sich  geltend 
machen  müsse  und  so  geht  der  individualistische  Zug  seines  Denkens 
ganz  unmittelbar  zu  universalistischen,  das  heißt  allgemein  geltenden 
Behauptungen  über.  Erst  dadurch  aber  wird  dieser  Ausgang  vom 
eigenen  Bewußtsein  zur  Grundlage  der  neuen  Erkenntnistheorie. 

Aus  Kants  kritischer  Denkarbeit  ist,  wie  wir  bereits  sagten, 
einerseits  der  Phänomenalismus,  anderseits  der  A  p  r  i  o  r  i  s- 
m  u  s  hervorgegangen.  Beide  rücken  durch  die  soziologische  Be- 
trachtungsweise in  eine  ganz  neue  Beleuchtung.  Daß  der  Phäno- 
menalismus auf  individualistischer  Grundlage  aufgebaut  ist,  das 
geht  mit  geradezu  verblüffender  Deutlichkeit  daraus  hervor,  daß  er, 
konsequent  zu  Ende  gedacht,  mit  unerbittlicher  Denknotwendigkeit 
zum  Solipsismus,  das  heißt  zur  vollständigen  Isolierung 
des  einzelnen  Denkers  führt.  Durch  den  bloßen  Hinweis 
auf  diese  soziologische  Unmöglichkeit  ist  meiner  Überzeugung  nach 
die  weitverbreitete  philosophische  Fabel  von  der  Unwiderleglichkeit 
des  Solipsismus  endgültig  als  solche  erwiesen.  Damit  ist  aber  zugleich 
die  Unhaltbarkeit  des  Phänomenalismus  dargetan. 

Auch  der  Apriorismus  ist  seinem  Ursprünge  nach  indi- 
vidualistisch, weil  er  auf  tiefgründiger  Selbstschau  beruht.  Auf 
diesem  Wege  hat  Kant  die  logische  Struktur  der  Vernunft  in  sich 
entdeckt,  zweifelt  aber  keinen  Augenblick  daran,  daß  sie  jedem  mensch- 
lichen Bewußtsein,  ja  sogar  jedem  „Bewußtsein  überhaupt"  zu  eigen 
sei.  Es  liegt  also  im  Apriorismus  eine  vollständige  Durchdringung 
von  Individualismus  und  Universalismus  vor,  und  das  macht  es  vielen 


§  49.  Soziologische  Erkenntnislehre  301 

so  schwer,  den  individualistischen  Ursprung  des  Apriorismus  heraus- 
zufinden und  anzuerkennen.  Tatsächlich  liegt  aber  in  dieser  indi- 
vidualistischen Herkunft  der  wahre  Grund  für  die  Unmöglichkeit,  auf 
dem  Wege  des  Apriorismus  zu  einer  befriedigenden  Erkenntnistheorie 
zu  gelangen. 

Der  Glaube  an  eine  ganz  ursprüngliche  und  ewig  unveränderliche 
logische  Struktur  der  menschlichen  Vernunft  verführt  leicht  zu  der 
Annahme,  daß  sich  aus  dieser  uns  einmal  verliehenen  Kraft  des 
Menschengeistes,  aus  diesem  „lumen  naturale'*  durch  reine  Spekulation 
ganz  unabhängig  von  aller  Erfahrung  Einsichten  in  die  letzten  Dinge 
und  Wahrheiten  von  absoluter  Geltung  gewinnen  lassen.  Aus  der  in 
unserer  Seele  liegenden  Vernunft,  die  sich,  wie  das  oben  zitierte  tief- 
sinnige Wort  Heraklits  besagt,  „selbst  vermehrt",  glaubt  man  Er- 
kenntnisse herausspinnen  zu  können,  die  über  das  wahre  Wesen  der 
Welt  den  höchsten  und  den  tiefsten  Aufschluß  geben.  Kant  selbst  hat 
allerdings  gegen  diese  spekulativen  Anmaßungen  mit  aller  Ent- 
schiedenheit Verwahrung  eingelegt,  indem  er  immer  wieder  betont, 
daß  die  Stammbegriffe  des  Verstandes,  die  Kategorien,  nur  auf  Gegen- 
stände möglicher  Sinneswahrnehmungen  dürfen  angewendet  werden. 
Seine  Nachfolger  haben  jedoch  mit  kühnem  Wagemut  diese  von  Kant 
der  Spekulation  gesetzten  Grenzen  überschritten,  und  bei  Hegel  ist  aus 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine  Metaphysik  des  absoluten  Geistes 
geworden,  die  ganz  unabhängig  von  jeder  Erfahrung  die  tiefsten  Auf- 
schlüsse über  das  Wesen  der  Welt,  über  Göttliches  und  Menschliches 
geben  zu  können  vermeint.  Gegen  diese  Vergewaltigung  der  Erfahrung 
hat  dann  allerdings  die  aufblühende  Naturwissenschaft  Protest  er- 
hoben und  das  hat  eine  Zeitlang  zur  Verachtung  aller  Spekulation 
geführt.  Als  nun  die  philosophische  Selbstbesinnung  wiederkehrte 
und  der  Ruf  „Zurück  zu  Kant\"  ertönte,  da  zeigte  es  sich  wieder, 
daß  die  im  Apriorismus  enthaltene  latente  Metaphysik  mit  einer  Art 
von  innerer  Notwendigkeit,  gleichsam  von  selbst  zutage  trat.  Die 
Vernunft,  die  bei  Kant  nur  eine  formende  Funktion  ausübt,  wird 
auf  einmal  schöpferisch.  Das  Denken  erzeugt  die  Dinge, 
und  ein  jüngerer  Vertreter  des  Neukantianismus  hat  in  der  letzten 
Zeit  von  einer  „Metaphysik  der  Vernunft"  gesprochen,  die  aus  dem 
kritischen  Idealismus  hervorgehen  soll.  Und  die  neueste  Denkrichtung, 
die  auf  den  Bahnen  des  Idealismus  wandelt,  die  „Phänomenologie", 
die  den  Psychologismus,  den  Evolutionismus  und  jede  Art  von 
Empirismus  mit  großer  Entschiedenheit  bekämpft,  will  wieder 
durch  tiefe  Selbstschau  zu  einer  „Wesensschau"  gelangen 
und  auf  rein  spekulativem  Wege  absolute  Erkenntnisse  von  höchster 
Dignität  zutage  fördern.  Der  Begründer  dieser  Denkrichtung  hat 
sogar  die  Berechtigung  des  Überganges  von  individueller  Selbstschau 
zu  allgemeingültigen  Behauptungen  dogmatisch  behauptet.  „Man 
kann  aber  einsehen,"  sagt  er  einmal,  „daß,  was  für  ein  Bewußtsein 
klar  ist,  prinzipiell  für  jedes  erkennbar  sein  muß." 

Die  soziologische  Betrachtungsweise  lehrt  uns  aber,  daß  in  diesem 
unmittelbaren  Übergang  vom  Individualismus  zum  Universalismus 
der  so  überaus  bedeutsame  soziale  Faktor  in  der  Erkenntnisentwicklung 


3o2  Soziologie  und  Ocschichtspliilosophie 

entweder  ganz  übersehen  oder  mit  Bewußtsein  ignoriert  wird.  Bleibende 
und  wirksame  Erkenntnisse  sind  immer  nur  das  Ergebnis  steter 
Wechselwirkungen  /wischen  den  Geistern  und  erlangen  erst  durch 
den  oben  beschriebenen  Prozeß  der  sozialen  Verdichtung  die  nötige 
Festigkeit  und  damit  zugleich  ihre  praktische  Verwertbarkeit.  Nicht 
das  subjektive  Gefühl  der  Evidenz,  nicht  die  innere  Denknotwendigkeit 
sind  die  wirklichen  Kriterien  der  Wahrheit.  Diese  beruht  vielmehr 
immer  nur  auf  allgemeiner  und  bewährter  Erfahrung, 
die  es  uns  gestattet,  die  Zukunft  vorherzusehen  und  vorauszusagen. 
Evidenz  und  Denknotwendigkeit  sind  immer  nur  die  Wirkungen 
allgemeiner  und  bewährter  Erfahrungen,  wenn  wir  uns  dessen  auch 
nicht  immer  bewußt  sind.  Das  gilt  sogar,  wie  ich  anderswo  gezeigt 
habe,  auch  für  die  formale  Logik*).  Allgemeine  und  bewährte  Er- 
fahrung ist  aber  immer  nur  das  Ergebnis  gemeinsamer  Arbeit 
menschlicher  Geister. 

Die  soziologische  Erkenntnislehre  sagt  uns  also,  daß  von  einer 
zeitlosen  logischen  Struktur  des  Menschengeistes,  die  sich  immer  gleich 
bleibt,  keine  Rede  sein  kann.  Wir  wissen  jetzt,  daß  das  theoretische 
Denken,  das  objektive  Konstatieren  von  Tatsachen  erst  möglich  wurde, 
als  sich  der  Mensch  infolge  der  sozialen  Differenzierung  von  der  ur- 
sprünglichen Gebundenheit  befreit  und  sich  zu  einer  eigenkräftigen 
Persönlichkeit  entwickelt  hatte.  Da  erst  vollzog  sich  die  schon  wieder- 
holt erwähnte  Intellektualisierung  der  Seele.  Durch  diesen  Prozeß, 
der  sich  immer  weiter  fortsetzt,  wird  dann  die  mystische  und  prä- 
logische Geistesart,  die  wir  bei  allen  Primitiven  vorfinden,  allmählich 
umgestaltet.  An  die  Stelle  der  zahllosen  Geister  und  Dämonen  treten 
die  objektiv  beobachteten  Tatsachen,  deren  regelmäßige  Aufeinander- 
folge von  der  sich  immer  kräftiger  entfaltenden  Wissenschaft  genau 
festgestellt  und  sorgfältig  beachtet  wird.  Während  der  Primitive  alles 
für  möglich  hält,  weil  er  überall  allmächtige,  unbeschränkte  Geister 
am  Werke  sieht,  legen  wir  unseren  Erwartungen  unter  der  Leitung  der 
Erfahrung  immer  mehr  Einschränkungen  auf,  und  diese  Ein- 
schränkungen sind,  wie  Ernst  Mach  zuerst  gesehen  hat,  das  Wesen 
dessen,  was  wir  Naturgesetze  nennen. 

Da  die  Lebensbedingungen  des  Menschen  immer  komplizierter 
werden,  ist  der  Menschengeist  genötigt,  sich  immer  entferntere  Ziele 
zu  setzen.  Dadurch  werden  die  Gedankenreihen  länger  und  es  erweist 
sich  zugleich  als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Wissenschaft, 
vorauszusehen  und  vorauszusagen.  Diese  Denkarbeit  wird  nun  von 
dem  intellektuell  erstarkten  Einzelmenschen  in  Angriff  genommen, 
kann  aber  nur  in  steter  Wechselwirkung  mit  den  Sprach-  und  Denk- 
genossen  vorwärtsgebracht  werden.  Glaubt  aber  der  scheinbar  ganz 
selbständig  gewordene  Denker  durch  tiefgründige  Selbstschau  in  den 
Besitz  ewiger  Wahrheiten  gelangen  zu  können,  die  unabhängig  von 
jeder  Erfahrung  gelten  und  der  Bestätigung  durch  die  Denkgenossen 
nicht  bedürfen,  so  muß  die  soziologische  Betrachtungsweise  solche  Be- 

')  Vgl.  Jerusalem,  „Der  kritische  Idealismus  und  die  reine  Logik"  (1905), 
S.  173  ff. 


§  50.  Soziologische  Ethik  303 

hauptungen  als  gefährliche  individualistische  Selbsttäuschun- 
gen bezeichnen  und  auf  das  allerentschiedenste  bekämpfen. 

Die  soziologische  Betrachtungsweise  lehrt  uns  ferner,  daß  Geist 
und  Gesellschaft  Begriffe  sind,  die  eng  zusammengehören. 
Nur  im  Gemeinschaftsleben  vermag  der  Geist  sich  zu  entfalten  und 
schöpferisch  zu  werden.  Durch  diese  Einsicht  gewinnen  wir  aber  in 
der  Soziologie  eine  der  stärksten  Waffen  im  Kampfe  gegen  jede  Art 
von  Materialismus.  Auf  rein  empirischem  Wege  können  wir 
seelische  Wechselwirkungen  beobachten,  aus  denen  geistige  Gebilde 
von  großer  schöpferischer  Kraft  hervorgehen.  Ohne  einen  Schritt  ins 
Transzendente  tun  zu  müssen,  konstatieren  wir  die  Wirkungen  rein 
geistiger  Kräfte.  So  wird  die  Soziologie  geeignet,  den  Glauben 
an  die  schöpferischen  Fähigkeiten  des  Menschengeistes  zu  stärken,  und 
zeigt  uns  so  den  Weg  zu  einer  Art  von  empirischem  Idealis- 
mus, der,  vom  festen  Boden  der  Erfahrung  ausgehend,  der  Mensch- 
heit die  höchsten  geistigen  Ziele  zu  setzen  vermag. 

Das  wird  noch  deutlicher  werden,  wenn  wir  die  soziologische 
Betrachtungsweise  auf  die  Probleme  der  Ethik  anwenden. 

§  50.  Soziologische  Ethik 

„Die  Gesellschaft  ist  die  Geburtsstätte  des  sittlichen  Bewußtseins. 
Die  ersten  moralischen  Urteile  brachten  nicht  persönliche  Gefühle 
isolierter  Einzelmenschen  zum  Ausdruck,  sondern  Gefühle,  die  von 
der  ganzen  Gesellschaftsgruppe  empfunden  wurden.  Stammessitte 
war  die  erste  Regel  der  Pflicht."  Diese  Behauptung  hat  Eduard 
Westermarck  nicht  nur  aufgestellt,  sondern  durch  ein  induktives  Tat- 
sachenmaterial von  überwältigender  Fülle  unwiderleglich  bewiesen*). 
Daraus  folgt  aber  die  überaus  wichtige  Erkenntnis,  daß  eine  der 
Wirklichkeit  entsprechende  Orientierung  über  das  Wesen  der  sittlichen 
Verpflichtung  und  über  die  sittlichen  Aufgaben  des  Menschen  nur 
auf  Grund  der  Gesellschaftslehre  mittels  der  soziologischen  Methode 
möglich  ist.  Nicht  durch  die  Annahme  einer  ursprünglichen  zeitlosen 
und  ewigen  ethischen  Struktur  des  menschlichen  Willens,  sondern 
durch  mühevolle  psychologische  und  historische  Untersuchung  des 
Verhältnisses  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesellschaft  können 
wir  hoffen,  der  Ethik  eine  tatsächliche  Grundlage  zu  geben  und  über 
unsere  sittlichen  Aufgaben  zur  Klarheit  zu  gelangen.  Wie  wir  es  für 
die  Erkenntnistheorie  dargelegt  haben,  so  können  wir  es  jetzt  für 
die  Ethik  festlegen:  Nicht  spekulativer  Apriorismus,  sondern  em- 
pirischer Evolutionismus  mit  Hilfe  der  soziolo- 
gischen Methode  ist  geeignet,  lebendige  Überzeugungen  zu 
schaffen,  die  dazu  beitragen  können,  die  in  der  Zeit  nach  dem  Welt- 
kriege besonders  dringenden  sittlichen  Aufgaben  des  öffentlichen  und 
des  privaten  Lebens  einer  Lösung  näherzubringen. 

Unsere  oben  dargelegten  soziologischen  Grundeinsichten  geben 
uns  die  Mittel  an  die  Hand,  die  sittliche  Entwicklung  der  Menschheit 


*)  Westermarck,  The  origin  and  development  of  the  moral  ideas.  I.  117. 


304  Soziologie  und  Gescliichtsphilosophie 

in  ihren  Hauptrichtungen  zu  erkennen  und  so  das  Wesen  und  das 
Werden  der  sittlichen  Verpflichtung  bei  dem  Einzelmenschen  wie  auch 
für  die  Staateil  in  ihrem  Kern  und  in  ihren  wichtigsten  Gliederungen 
zu  erfassen. 

Der  primitive  Mensch  lebt,  wie  wir  oben  dargelegt  haben,  als 
ein  sozial  gebundenes  Herdentier.  Seine  Seele  ist  ganz  erfüllt  von 
dem,  was  Dürkheim  „kollektive  Vorstellungen"  nennt.  Der  Glaube 
an  unsichtbare  Dämonen  und  Geister,  die  fortwährend  in  das  Leben 
eingreifen,  und  die  darnach  orientierten  Sitten  und  Bräuche  seines 
Stammes  bestimmen  sein  Denken  und  sein  Tun  vollständig.  Er  vermag 
weder  eine  sinnliche  Wahrnehmung  anders  zu  deuten,  als  es  die 
Überlieferung  mit  sich  bringt,  noch  auch  sich  gegen  eine  Vorschrift 
der  herrschenden  Sitte  aufzulehnen.  Der  Australreisende  Howitt 
erzählt,  er  habe  mit  einem  eingeborenen  jungen  Australier  über  die 
Speiseverbote  während  der  Einweihungszeremonien  gesprochen  und 
zu  ihm  gesagt:  „Wenn  du  aber  Hunger  hättest  und  fingest  zufällig 
ein  weibliches  Opossum,  so  könntest  du  es  doch  vielleicht  essen,  wenn 
die  alten  Leute  nicht  zugegen  wären?"  Der  junge  Mann  antwortete: 
„Ich  könnte  das  nicht  tun,  es  wäre  nicht  recht."  Er  konnte  keinen 
anderen  Grund  angeben  als  den,  daß  es  unrecht  wäre,  die  Bräuche 
seines  Volkes  zu  mißachten!*) 

Der  primitive,  sozial  gebundene  Mensch  steht  also  ganz  unter 
der  Herrschaft  des  Gesamtwillens  seiner  Gruppe  und  besitzt 
noch  nicht  die  Kraft,  sich  dagegen  aufzulehnen.  Jede  Verletzung 
einer  Sitte  oder  eines  Brauches  erregt  bei  der  Gruppe  lebhafte  Miß- 
billigung und  kann  für  den  Missetäter  auch  Sühne  und  Strafe  nach 
sich  ziehen.  Diese  Mißbilligung  dürfte  die  ursprünglichste  Form  sein, 
in  der  das  sittliche  Bewußtsein  zur  Betätigung  gelangt.  Die  moralische 
Beurteilung  ist  auf  dieser  Entwicklungsstufe  noch  nichts  anderes  als 
die  Wertschätzung  einer  sozial  bedeutsamen  Leistung.  Das  heißt: 
Nur  solche  Handlungen,  welche  das  Gesamtinteresse  der  Gruppe 
irgendwie  berühren,  erfahren  Billigung  oder  Mißbilligung.  Dabei 
kommt  jedoch  die  Mißbilligung  viel  deutlicher  und  viel  öfter  zum 
Bewußtsein.  Die  Gruppe  mißbilligt  und  bestraft  jedes  Tun,  das 
geeignet  ist,  den  Stamm  als  solchen  zu  schädigen.  Wir  müssen  diese 
primitive  Betätigungsweise  des  sittlichen  Bewußtseins  noch  etwas 
genauer  ins  Auge  fassen. 

Wir  wollen  die  Summe  aller  Gebote  und  Verbote,  die  in  den 
Sitten  und  Bräuchen  eines  Stammes  enthalten  sind,  als  soziale 
Imperative  bezeichnen.  Wir  können  dann  sagen :  Das  moralische 
Bewußtsein  beginnt  mit  dem  Gefühl  der  Entrüstung  über  die  Ver- 
letzung eines  sozialen  Imperativs.  Schon  dieser  Anfang  zeigt  charak- 
teristische Züge,  die  für  die  Weiterentwicklung  bedeutsam  sind. 

Bei  primitiven  Völkern  hängen  die  sozialen  Imperative  in  der 
Regel  mit  religiösen  oder  mit  magischen  Vorstellungen  zusammen. 
Wer  einem  Verbot  zuwiderhandelt,  der  verletzt   in  der   Regel  damit 


*)    Westcrmarck.  a.  a.  O.  I,  118. 


§  50.  Soziologische  Ethik  305 

irgendeinen  Dämon  und  ruft  dessen  Zorn  herab,  der  dann  den 
ganzen  Stamm  zu  schädigen  droht.  Daraus  ergibt  sich  nun  die 
wichtige  Tatsache,  daß  moralische  Gefühle  schon  in  ihrer  ursprüng- 
lichsten Form  sich  meist  nahe  mit  religiösen  Vorstellungen  berühren. 
Der  innige  Zusammenhang  zwischen  Moral  und  Religion,  die  ja  beide 
Erzeugnisse  des  Zusammenlebens  sind,  die  auf  seelischer  Wechsel- 
wirkung beruhen,  ist  also  von  Anfang  an  da  und  braucht  nicht  erst 
künstlich  hergestellt  zu  werden.  Daß  beide  im  Laufe  der  Entwicklung 
ihre  Selbständigkeit  gewinnen  und  mitunter  sogar  in  Gegensatz  zu- 
einander geraten,  haben  wir  oben  in  der  Darstellung  der  Entwicklung 
der  Ethik  gezeigt. 

Wichtiger  jedoch  ist  ein  anderes  Merkmal  dieses  primitiven 
moralischen  Gefühles  und  der  daraus  entspringenden  moralischen 
Beurteilung.  Gegenstand  derselben  ist  nämlich  auf  dieser  Entwicklungs- 
stufe immer  nur  die  objektive  Tat  und  niemals  die  Gesinnung 
des  Täters.  Wer  einen  geheiligten  Brauch  verletzt,  der  erregt  dadurch 
in  der  Regel  den  Unwillen  einer  Gottheit  oder  eines  Dämons.  Eine 
derartige  Verletzung  wird  nun  als  eine  objektiv  vorhandene  Be- 
f  1  e  c  k  u  n  g  aufgefaßt,  die  Sühne  verlangt,  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  der  Täter  absichtlich  oder  unabsichtlich  gehandelt  hat.  Die  Gruppe 
fühlt  sich  durch  die  Verletzung  des  Brauches  geschädigt  oder  doch 
bedroht,  und  das  genügt,  um  lebhafte  moralische  Mißbilligung  aus- 
zulösen. Es  gibt  also,  wenn  man  sich  so  ausdrücken  darf,  am  Anfang 
der  moralischen  Entwicklung  nur  eine  Erfolgsethik.  Die  heute 
als  allein  berechtigt  erkannte  Gesinnungsethik  ist,  wie  wir 
gleich  sehen  werden,  erst  das  Produkt  einer  viel  späteren  Entwicklung. 

Dieser  primitive  Standpunkt  der  moralischen  Beurteilung,  wo 
die  Tat  allein  maßgebend  ist,  erhält  sich  recht  lange,  und  wir  finden 
ihn  in  den  Sagen  der  Kulturvölker  noch  vielfach  wirksam.  Agamemnon 
hat  eine  Hirschkuh,  die  der  Artemis  heilig  war,  getötet  und  muß 
zur  Sühne  dafür  seine  Tochter  opfern.  Niemand  fragt,  ob  er  das 
der  Göttin  geheiligte  Tier  absichtlich  oder  nur  zufällig  getötet  hat. 
Oedipus  hat  auf  seiner  Wanderung  einen  Mann  erschlagen,  der  ihm 
den  Weg  versperren  wollte,  und  wußte  nicht,  daß  dieser  Mann  sein 
Vater  war.  Er  löst  dann  das  Rätsel  der  Sphinx,  befreit  Theben  von 
dem  Ungeheuer  und  führt  zum  Lohne  dafür  die  kürzlich  verwitwete 
Königin  heim,  ohne  auch  nur  die  leiseste  Ahnung  zu  haben,  daß  das 
seine  Mutter  sei.  Als  es  sich  nun  herausstellt,  daß  er  seinen  Vater 
getötet  hat  und  mit  seiner  eigenen  Mutter  in  Blutschande  lebt,  nimmt 
Oedipus  die  schwere  Schuld  auf  sich  und  es  kommt  ihm  auch  in  der 
Tragödie  des  Sophokles  gar  nicht  der  Gedanke,  daß  er  ja  ganz  ohne 
jede  schlimme  Absicht  gehandelt  hat.  Seine  objektiven  Taten  sind 
derart  schwere  Verletzungen  heiliger  Gebote,  daß  sie  gesühnt  werden 
müssen,  ohne  daß  man  nach  der  Absicht  des  Täters  fragt. 

Will  man  dieses  ursprünglich  naive  Bewußtsein  der  objektiven 
Schuld  beim  Oedipus  der  antiken  Sage  und  der  alten  Tragödie  ganz 
verstehen  und  sich  den  Gegensatz  zum  modernen  Empfinden  klar 
machen,  so  vergleiche  man  Oedipus  mit  Jaromir  in  Grill  parzers 
„Ahnfrau".  Jaromir  hat  den  Grafen  Borotin  im  Kampfe  getötet  und 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


306  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

erfährt  erst  dann,  daß  der  Graf  sein  Vater  war.    Er  fühlt  ganz  die 
Schwere  seiner  Tat.    Vatermord   ist  die  furchtbarste  aller   Sünden. 

ia,  ich  hör  mit  blut'gem  Beben 
Vie  der  ew'ge  Richter  spricht: 
Allen  Sündern  wird  vergeben 
Nur  dem  Vatermörder  nicht. 

In  seiner  Seele  keimt  aber  sofort  der  Gedanke  auf,  der  dem 
Oedipus  fremd  blieb,  der  Gedanke,  daß  der  Mensch  wohl  für  seine 
Absicht,  nicht  aber  für  den  Erfolg  die  Verantwortung  zu  tragen  hat. 

Meinen  Wurf  will  ich  vertreten, 
Aber  das  nicht,  was  er  traf. 

Und  so  weist  er  dann  die  Schuld  des  Vatermordes  von  sich  ab 
und  überantwortet  sie  dem  Schicksal: 

Dunkle  Macht  und  du  kannst's  wagen, 
Rufst  mir  Vatermörder  zu? 
Ich  schlug  den,  der  mich  geschlagen, 
Meinen  Vater  schlugest  d  u! 

Solche  Unterscheidungen  liegen  dem  sozial  gebundenen  Menschen 
im  primitiven  Zustande  vollkommen  ferne.  Er  kennt  nur  soziale 
Imperative,  vor  deren  Verletzung  er  zurückscheut,  weil  er  fühlt,  daß 
sie  allgemeine  Mißbilligung  und  Strafe  nach  sich  zieht.  Diese  aus- 
schließliche Berücksichtigung  des  Erfolges  in  der  moralischen 
Beurteilung  der  primitiven  menschlichen  Verbände  ist  ein  neuer  Beweis 
für  den  sozialen  Ursprung  des  sittlichen  Bewußtseins.  Wir  werden 
nämlich  gleich  sehen,  daß  der  Übergang  von  der  Erfolgsethik  zur 
Gesinnungsethik  ein  Produkt  der  individualistischen  Ent- 
wicklungstendenz ist.  Wenn  aber  auch  heute  noch  trotz  der  gegen- 
teiligen Meinung  der  aphoristisch  denkenden  Philosophen  der  Erfolg 
bei  der  moralischen  Beurteilung  fremder  Handlungen  eine  große  Rolle 
spielt,  so  kann  man  daraus  ersehen,  daß  der  soziale  Charakter  des 
sittlichen  Bewußtseins  sich  trotz  aller  Wandlungen  in  hohem  Grade 
bis  zur  Gegenwart  erhalten  hat. 

Alles  das  also,  was  wir  heute  als  sittliche  Gefühle  oder  als 
moralische  Urteile  bezeichnen,  hat  seinen  Ursprung  im  Zusammenleben 
der  Menschen  und  kommt  erst  durch  das  Zusammenleben  zustande. 
Was  wir  eine  sittliche  Norm  nennen,  das  war  ursprünglich  nur 
ein  sozialer  Imperativ,  dem  die  sozial  gebundenen  Primitiven  mehr 
instinktiv  als  bewußt  nachlebten.  Deshalb  kommt  das,  was  wir  heute 
als  das  Wesentliche  des  Moralischen  ansehen,  das  Gefühl  der 
inneren  Verpflichtung  noch  nicht  deutlich  zum  Bewußtsein, 
solange  der  Mensch  in  vollständiger  sozialer  Gebundenheit  dahinlebt. 
Die  sozialen  Imperative  sind  Forderungen  der  Gruppe,  die  jedem 
I  mzelnen  mit  überwältigender  Macht  und  Autorität  entgegentreten, 
so  daß  der  Gedanke  an  einen  Widerstand  nur  selten  aufkommt. 

Erst  wenn  infolge  der  sozialen  Differenzierung  in  der  von  uns 
bereits  geschilderten  Weise  sich  selbständige  und  eigenkräftige  Per- 


§  50.  Soziologische  Ethik  307 

sönlichkeiten  herausgebildet  haben,  die  an  den  überlieferten  Glaubens- 
sätzen und  Rechtsordnungen  Kritik  zu  üben  beginnen,  erst  wenn 
durch  die  Wirksamkeit  der  individualistischen  Entwicklungstendenz 
der  Intellekt  des  einzelnen  Menschen  so  weit  erstarkt  ist,  daß  er  über 
die  sozialen  Imperative  nachzudenken  vermag  und  diese  Imperative 
eben  durch  sein  Nachdenken  in  sein  Bewußtsein  aufnimmt  und  zu 
deutlich  erlebten  Inhalten  seiner  Seele  macht,  erst  dann  darf  man 
im  eigentlichen  Sinne  von  sittlichen  Gefühlen,  von  moralischen 
Urteilen  und  von  ethischen  Forderungen  sprechen.  Wir  haben  oben 
bereits  darauf  hingewiesen,  daß  die  meisten  Staaten  dadurch  ent- 
standen sind,  daß  ein  kräftiges  Jäger-  oder  Hirtenvolk  über  einen 
ackerbauenden  Stamm  herfiel  und  die  Bauern  zwang,  für  die  Eroberer 
zu  arbeiten.  In  einem  so  entstandenen  Gemeinwesen  findet  sich  bereits 
die  für  den  Staat,  wie  er  bis  auf  die  neueste  Zeit  eingerichtet  war, 
so  sehr  charakteristische  Schichtung  der  Gesellschaft  in  Herrscher 
und  in  Beherrschte.  Der  Wille  der  herrschenden  Klasse  ist  jetzt  die 
Quelle  der  sozialen  Imperative.  Wächst  nun  ein  solcher  Staat  in  die 
Breite  und  in  die  Tiefe,  so  sieht  sich  die  herrschende  Klasse  immer  mehr 
genötigt,  die  sozialen  Imperative  klar  und  bestimmt  zu  formulieren. 
Es  muß  deutlich  gesagt  werden,  was  die  Gesellschaft  von  jedem  ihrer 
Mitglieder  fordert,  und  was  sie  jedem  gewährleistet.  So  entstehen  die 
ersten  Rechtsordnungen,  die  sich  zunächst  durch  Tradition  fortpflanzen, 
bald  aber  schriftlich  fixiert  werden. 

Diese  Rechtsordnung  lebt  sich  nun  allmählich  ein.  Die  Einzelnen 
erkennen  an,  daß  zum  geordneten  Zusammenleben  soziale  Imperative 
unerläßlich  sind.  Dadurch  nehmen  sie  diese  Forderungen  der  Gesamt- 
heit in  ihr  eigenes  Bewußtsein  auf  und  erst  jetzt  kann  von  einer 
sittlichen  Verpflichtung  im  eigentlichen  Sinne  die  Rede  sein.  Die 
sozialen  Imperative  werden  eben  durch  die  innere  Anerkennung,  die 
ihnen  von  Seiten  der  Einzelnen  zuteil  wird,  zu  Pflichten  ge- 
stempelt. Zugleich  aber  mit  dieser  für  die  sittliche  Entwicklung  so 
überaus  wichtigen  Grundidee  der  Pflicht  entwickelt  sich  auch  ein 
anderes  seelisches  Gebilde,  das  ebenfalls  zu  den  sittlichen  Grund- 
begriffen gehört.  Ich  meine  die  innere  Stimme,  die  uns  warnt,  wenn 
wir  im  Begriffe  sind,  etwas  zu  tun,  wovon  wir  wissen,  daß  es  all- 
gemeine Mißbilligung,  eventuell  Strafe  nach  sich  ziehen  müßte.  Diese 
innere  Stimme,  die  wir  das  Gewissen  nennen,  ist  keineswegs 
etwas  Ursprüngliches,  mit  dem  Wesen  der  Menschenseele  von  selbst 
Gegebenes,  sondern  ein  Ergebnis  der  durch  soziale  Differenzierung 
entstandenen  individualistischen  Entwicklungstendenz.  Pflicht  und 
Gewissen  entwickeln  sich  miteinander  und  aneinander. 

Wir  haben  somit  die  Entstehung  der  beiden  wichtigsten  ethischen 
Grundbegriffe  mit  Hilfe  der  soziologischen  Methode  verständlich 
machen  können.  Daß  Pflicht  und  Gewissen  wirklich  nichts  anderes 
sind  als  Erzeugnisse  des  menschlichen  Zusammenlebens,  daß  wir  in 
diesen  seelischen  Entwicklungsprodukten  keineswegs  ewige  und  zeit- 
lose, das  heißt  ungewordene  Eigenschaften  sehen  dürfen,  die  der  prak- 
tischen Vernunft  anhaften  und  eine  a  priori  erkennbare,  nicht  weiter 
abzuleitende    ethische    Struktur    des    menschlichen     Willens 

20* 


308  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

bilden,  das  wird  sich  am  deutlichsten  zeigen  lassen,  wenn  wir  unsere 
Auffassung  vom  Wesen  der  Pflicht  mit  der  Immanuel  Kants  ver- 
gleichen. 

Wir  haben  oben  die  große  Bedeutung  Kants  für  die  Entwicklung 
der  Ethik  voll  gewürdigt.  Hier  handelt  es  sich  darum,  die  Un- 
zulänglichkeit des  Apriorismus  in  der  Ethik  an  dem  tiefgründigsten 
Vertreter  dieser   Richtung  darzutun. 

In  der  oft  zitierten  ergreifenden  Apostrophierung  der  Pflicht  in 
der  Kritik  der  praktischen  Vernunft*)  kommt  Kants  ganze  sittliche 
Glut,  die  unerschütterliche  Festigkeit  seines  ethischen  Glaubens,  aber 
auch  die  vollkommene  Unzulänglichkeit  seiner  Moralbegründung  zu 
lebendigem  Ausdruck. 

„Pflicht!  Du  erhabener  großer  Name,  die  du  nichts  Beliebtes, 
was  Einschmeichelung  bei  sich  führt,  in  dir  fassest,  sondern  Unter- 
werfung verlangst,  doch  auch  nichts  drohest,  was  natürliche  Ab- 
neigung im  Gemüte  erregte  und  schreckte,  um  den  Willen  zu  bewegen, 
sondern  bloß  ein  Gesetz  aufstellst,  welches  von  selbst  im  Gemüte 
Eingang  findet,  und  doch  sich  selbst  wider  Willen  Verehrung  (wenn- 
gleich nicht  immer  Befolgung)  erwirbt,  vor  dem  alle  Neigungen  ver- 
stummen, wenn  sie  gleich  ingeheim  ihm  entgegen  wirken:  welches  ist 
der  deiner  würdige  Ursprung  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner 
edeln  Abkunft,  welche  alle  Verwandtschaft  mit  Neigungen  stolz  aus- 
schlägt, und  von  welcher  Wurzel  abzustammen  die  unnachlaßliche 
Bedingung  desjenigen  Wertes  ist,  den  sich  Menschen  allein  selbst 
geben  können?"  Kant  antwortet  auf  diese  tiefgründige  Frage:  „Es 
kann  nichts  Minderes  sein,  als  was  den  Menschen  über  sich  selbst 
(als  einen  Teil  der  Sinnenwelt)  erhebt,  was  ihn  an  eine  Ordnung  der 
Dinge  knüpft,  die  nur  der  Verstand  denken  kann  und  die  zugleich 
die  ganze  Sinnenwelt,  mit  ihr  das  empirisch  bestimmbare  Dasein  des 
Menschen  in  der  Zeit  und  das  Ganze  aller  Zwecke  . . .  unter  sich  hat. 
Es  ist  nichts  anderes  als  die  P  e  r  s  ö  n  1  i  c  h  k  e  i  t,  das  ist  die  Freiheit 
und  Unabhängigkeit  von  dem  Mechanism  der  ganzen  Natur,  doch 
zugleich  als  ein  Vermögen  eines  Wesens  betrachtet,  welches  eigen- 
tümlichen, nämlich  von  seiner  eigenen  Vernunft  gegebenen  reinen 
praktischen  Gesetzen,  die  Person  also,  als  zur  Sinnenwelt  gehörig, 
ihrer  eigenen  Persönlichkeit  unterworfen  ist,  sofern  sie  zugleich  zur 
intelligibeln  Welt  gehört;  da  es  denn  nicht  zu  verwundern  ist,  wenn 
der  Mensch,  als  zu  beiden  Welten  gehörig,  sein  eigenes  Wesen,  in 
Beziehung  auf  seine  zweite  und  höchste  Bestimmung  nicht  anders 
als  mit  Verehrung  und  die  Gesetze  derselben  mit  der  höchsten  Achtung 
betrachten  muß." 

Wir  fragen,  ebenso  wie  Kant,  nach  dem  Ursprung  der  Pflicht. 
Wir  sind  mit  dem  großen  Sittenlehrer  auch  darin  einig,  daß  die 
Pflichterfüllung  ein  Wert  ist,  den  sich  der  Mensch  selbst  erschuf  und 
täglich  neu  erschafft.  Deswegen  können  wir  uns  auch  den  ersten  Teil 
seiner  Antwort  zu  eigen  machen,  wenn  wir  seine  Worte  in  unserem 
Sinne  interpretieren.  Auch  wir  sind  der  Meinung,  daß  der  Ursprung 


')    I.Teil,   I.  Buch,   III.  Hauptstück,   V,  Ol,  der  Hartenstcinschen   Ausgabe. 


§  50.  Soziologische  Ethik  309 

der  Pflicht  in  dem  liegt,  „was  den  Menschen  über  sich  selbst  als 
einen  Teil  der  Sinnenwelt  erhebt".  Denn  unsere  soziologischen  Grund- 
einsichten haben  uns  gelehrt,  daß  durch  das  Zusammenwirken  der 
Menschen  etwas  Überpersönliches  entsteht,  und  wir  wissen  auch,  daß 
dieses  Überindividuelle  durch  seelische  Wechselwirkung  hervor- 
gebracht wurde,  und  daß  es  deshalb  von  rein  geistiger  Natur  ist.  Es 
ist  also  in  der  Tat  „eine  Ordnung  der  Dinge,  die  nur  der  Verstand 
denken  kann",  und  die  doch  zugleich  „die  ganze  Sinnenwelt  unter 
sich  hat".  Wenn  aber  Kant  fortfährt:  „Es  ist  nichts  anderes  als  die 
Persönlichkeit,  das  ist  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  von 
dem  Mechanismus  der  ganzen  Natur",  so  können  wir  uns  mit  dieser 
metaphysischen  Konstruktion  nicht  zufrieden  geben.  Wir  glauben  nicht 
daran,  daß  eine  zeitlose,  a  priori  erkennbare,  für  alle  Zeiten  fest- 
stehende ethische  Struktur  der  praktischen  Vernunft  besteht,  und  noch 
weniger  sind  wir  davon  überzeugt,  daß  sich  daraus  ein  für  alle  Zeiten 
gültiger  kategorischer  Imperativ  ableiten  läßt. 

Wir  können  auch  nicht  finden,  daß  die  „Persönlichkeit"  im 
Menschen  dadurch  richtig  charakterisiert  ist,  daß  man  sie  als  „Freiheit 
und  Unabhängigkeit  vom  Mechanismus  der  ganzen  Natur"  bezeichnet. 
Es  ist  zunächst  sehr  fraglich,  ob  eine  derartige  Unabhängigkeit  jemals 
wirklich  vorhanden  ist.  Die  konzentrierte  Geistigkeit  des  Menschen 
—  und  das  versteht  Kant  eigentlich  unter  „Persönlichkeit"  —  kann 
ihn  dazu  fähig  machen,  die  Begierden  zu  meistern,  die  Leidenschaften 
zu  bekämpfen,  vielleicht  auch  Hunger,  Durst  und  Ermüdung  länger 
zu  ertragen,  aber  ganz  unabhängig  von  der  Natur  wird  auch  der 
stärkste  Geist  nie.  Wir  verstehen  deshalb  unter  Persönlichkeit  etwas 
ganz  anderes.  Wir  wissen,  daß  infolge  der  sozialen  Differenzierung 
allmählich  selbständige  und  eigenkräftige  Einzelmenschen  sich  heraus- 
entwickeln, die  nach  und  nach  die  Fähigkeit  erlangen,  sich  vom 
Einfluß  der  „kollektiven  Vorstellungen"  freizumachen,  und  die  dadurch 
imstande  sind,  den  überlieferten  Glaubenssätzen,  den  überkommenen 
Rechtsordnungen,  Sitten  und  Bräuchen  kritisch  gegenüberzutreten. 
Soziologisch  betrachtet,  ist  also  die  Persönlichkeit  die  relative 
Freiheit  und  Unabhängigkeit  von  den  autoritativ  wirkenden  Einflüssen 
der  Gesellschaft.  Wir  sagen  „relative"  Freiheit,  weil  wir  wissen, 
daß  auch  der  Stärkste  sich  von  dem  Verbände,  dem  er  angehört,  nie 
vollständig  loszulösen  vermag,  und  daß  die  sozialen  Bindungen  auch 
bei  den  scheinbar  ganz  selbständigen  Individuen  niemals  ihre  Wirkung 
verlieren.  Trotzdem  aber  wird  auch  diese  relative  Selbständigkeit 
der  stark  gewordenen  Einzelpersönlichkeit,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  zur  Quelle  einer  neuen  sittlichen  Forderung,  die  aber  ihrem 
Wesen  nach  von  dem,  was  wir  Pflicht  nennen,  deutlich  unterschieden 
werden  muß. 

Pflichten  aber  sind  für  den  soziologisch  orientierten  Forscher 
nichts  anderes  als  soziale  Imperative,  die  in  das  Be- 
wußtsein der  Einzelnen  tief  eingedrungen  sind. 
Es  sind  Forderungen,  welche  die  soziale  Organisation  an  ihre  Mit- 
glieder stellt,  und  zwar  Forderungen,  deren  Erfüllung  die  Gesellschaft 
kraft  ihrer  Macht  und  Autorität  auch  zu  erzwingen  fähig  und  bereit  ist. 


310  Soziologie  und  Gescliichtsphilosophie 

Mit  dem  Begriff  der  Pflicht  ist  deshalb  immer  die  Vorstellung 
verbunden,  daß  die  Verletzung  derselben  Mißbilligung  oder 
auch  St ra  f  e  nach  sich  ziehen  muß.  Da  nun  die  Existenzbedingungen 
der  menschlichen  Gesellschaftsorganisationen  nicht  immer  dieselben 
bleiben,  sondern  steten  Wandlungen  unterworfen  sind,  so  können  auch 
die  sozialen  Imperative  nichts  Zeitloses  und  Ewiges  sein.  Die  For- 
derungen der  Gesellschaft  variieren  sowohl  in  bezug  auf  ihren  Inhalt 
als  auch  hinsichtlich  ihrer  Strenge  und  Intensität.  Die  Pflichten  sind 
also  nichts  Ständiges,  was  sich  immer  gleich  bleibt.  Sie  entwickeln 
sich  vielmehr  weiter  gemäß  den  Veränderungen,  die  die  Struktur  des 
I  Gemeinwesens  erfährt.  Zugleich  mit  dem  Gefühl  der  Pflicht  entsteht 
auch,  wie  wir  bereits  gesagt  haben,  die  warnende  Stimme  in  unserem 
Innern,  die  wir  das  Gewissen  nennen.  Auch  das  Gewissen  ist  nichts 
Ursprüngliches  und  Zeitloses.  Je  komplizierter  die  Gesellschaft  wird, 
desto  mannigfaltiger  werden  ihre  sozialen  Imperative,  desto  größer 
wird  der  Kreis  der  Pflichten  und  desto  mehr  bereichert  und  verfeinert 
sich  das  Gewissen. 

Es  findet  aber  im  Laufe  der  Entwicklung  keineswegs  bloß  eine 
stetige  Vermehrung  der  sozialen  Imperative  statt.  Sie  erfahren  vielmehr 
im  Laufe  der  Zeiten  auch  die  mannigfachsten  Änderungen  ihres  In- 
haltes. Viele  Forderungen  erweisen  sich  unter  geänderten  Verhältnissen 
als  undurchführbar,  manche  aber  auch  als  unnütz,  ja  sogar  als  ver- 
derblich. Der  griechische  Stadtstaat  konnte  von  seinen  Bürgern  vieles 
fordern,  was  im  modernen  Großstaat  unmöglich  ist,  während  dieser 
wiederum  eine  ganze  Fülle  neuer,  vorher  kaum  geahnter  sozialer 
Imperative  gezeitigt  hat. 

Wenn  Goethe  einmal  die  Pflicht  als  „die  Forderung  des  Tages" 
bezeichnet,  so  hat  er  die  Wandlungsfähigkeit  der  sozialen  Imperative 
viel  besser  verstanden  als  Kant  mit  seinem  Glauben  an  die  unveränder- 
liche ethische  Struktur  der  praktischen  Vernunft. 

Line  künftige  soziologische  Ethik  wird  nun  die  Aufgabe  haben, 
die  sozialen  Imperative  möglichst  vollständig  aufzuzählen,  zu  ordnen 
und  namentlich  ihre  Wandlungen  darzustellen.  Hier  kommt  es  haupt- 
sächlich darauf  an,  die  Überzeugung  festzulegen,  daß  die  Gesellschaft 
die  Geburtsstätte  aller  sittlichen  Forderung  ist  und  daß  auch  die  im 
scheinbar  ganz  selbständig  gewordenen  Bewußtsein  hochstehender 
I  inzelmenschen  sich  bildenden  sittlichen  Aufgaben  immer  nur  als  ein 
Produkt  der  sozialen  Entwicklung  verstanden  werden  können. 

Die  oben  dargelegten  soziologischen  Grundeinsichten  haben 
uns  gezeigt,  daß  wir  in  der  Menschheitsgeschichte  zwei  an- 
scheinend entgegengesetzte  Tendenzen  am  Werke  sehen.  Die  indi- 
vidualistische Entwicklungstendenz  betätigt  sich  in  einem  fortwähren- 
den Befreiungskampf  der  erstarkten  und  selbständig  gewordenen 
Persönlichkeit  gegen  gesellschaftliche  und  insbesondere  gegen  staat- 
liche Bevormundung.  Die  autoritative  Tendenz,  die  von  der  Gesell- 
schaftsgruppe und  vom  Staate  ausgeht,  gelangt  in  dem  Streben  zum 
Ausdruck,  die  Kräfte  der  Einzelnen  in  den  Dienst  des  Ganzen  zu 
stellen  und  dadurch  den  Individuen  nicht  nur  ihre  Existenz  und  ihre 
Sicherheit,    sondern  auch  die  kräftigsten    und  größten   Entfaltungs- 


§  50.  Soziologische  Ethik  311 

möglichkeiten  zu  sichern.  In  der  sittlichen  Entwicklung  wirken  nun, 
wie  wir  bereits  jetzt  sehen  können,  beide  Entwicklungstendenzen  zu- 
sammen. Die  sozialen  Imperative,  die  den  Einzelnen  machtvoll  binden, 
werden  erst  dann  zu  sittlichen  Pflichten,  wenn  das  individuelle  Bewußt- 
sein genügend  erstarkt  ist,  um  diese  Forderungen  in  sich  aufzunehmen 
und  zu  Richtlinien  für  das  eigene  Tun  zu  gestalten.  Das  soziale 
Phänomen  der  Pflicht  entsteht  gleichzeitig  mit  der  seelischen  Dis- 
position, die  wir  das  Gewissen  nennen.  Die  warnende  Stimme  in  un- 
serem Innern,  die  zweifellos  ein  individualistisches  Phänomen  ist,  muß 
vernehmbar  sein,  wenn  von  einem  Pflichtbewußtsein  die  Rede  sein  soll. 
Pflicht  und  Gewissen  entwickeln  sich,  wie  wir  bereits  sagten,  mit- 
einander und  aneinander.  Beide  enthalten  strenge  Forderungen  von 
starker  Verbindlichkeit.  Diese  Forderungen  zeigen  aber  keineswegs 
jene  Starre  und  Unveränderlichkeit,  von  der  apriorisch  gerichtete 
Ethiker  oft  sprechen.  Der  Pflichtenkreis  ist  niemals  fertig,  sondern 
erfährt  immer  neue  Erweiterungen.  Ebenso  bezieht  unser  Gewissen 
immer  neue  Momente  in  seinen  Wirkungskreis  ein  und  verfeinert  sich 
im  Laufe  der  Zeit  infolge  der  individualistischen  Entwicklungstendenz 
wie  auch  durch  neu  erstehende  soziale  Pflichten.  Diese  Wechsel- 
beziehungen können  aber  nur  mittels  der  soziologischen  Methode 
erkannt  werden  und  deshalb  müssen  wir  die  Gesellschaftslehre  immer 
entschiedener  zur  Grundlage  der  Ethik  machen. 

Die  soziologische  Betrachtungsweise  lehrt  uns  auch  eine  überaus 
wichtige  Tatsache  des  sittlichen  Lebens  verstehen,  eine  Tatsache,  die 
in  der  neueren  Ethik  als  etwas  Selbstverständliches  hingestellt  und 
zugleich  als  etwas  ganz  Ursprüngliches  betrachtet  wird.  Ich  meine 
die  allgemein  herrschende  Ansicht,  daß  es  bei  der  moralischen  Be- 
urteilung einzig  und  allein  auf  die  Gesinnung  des  Täters 
und  gar  nicht  auf  den  Erfolg  der  Tat  ankommt.  Wir  haben  bereits 
oben  nachgewiesen,  daß  es  in  primitiven  Zeiten  ganz  anders  war. 
Für  die  Beurteilung  war  ausschließlich  der  Erfolg  maßgebend.  Die 
Absicht  des  Täters  kam  gar  nicht  in  Betracht.  Wir  haben  aber  durch 
die  Vergleichung  von  Sophokles1  König  Oedipus  mit  Grillparzers 
„Ahnfrau"  gezeigt,  daß  sich  hier  tatsächlich  eine  Wandlung  vollzogen 
und  eine  Änderung  des  Gesichtspunktes  stattgefunden  hat.  Wodurch 
ist  nun  diese  Neuorientierung  in  der  moralischen  Beurteilung  bewirkt 
worden?  Ist  es  ferner  auch  wirklich  wahr,  daß  bei  der  Beurteilung 
fremder  Handlungen  heute  der  Erfolg  gar  keine  Rolle  mehr  spielt? 
Die  Soziologie  gibt  Antwort  auf  diese  Fragen. 

Wir  haben  wiederholt  darauf  hingewiesen,  daß  die  größere  Kom- 
pliziertheit der  staatlichen  Organisationen  die  Arbeitsteilung  und  die 
damit  verbundene  soziale  Differenzierung  zur  Folge  habe.  Dadurch 
aber  tritt  die  individualistische  Entwicklungstendenz  in  Kraft  und  es 
bilden  sich  eigenkräftige  Persönlichkeiten  aus,  die  den  überkommenen 
Einrichtungen,  der  Religion,  der  Sitte  und  dem  geltenden  Recht  kritisch 
gegenüberstehen.  Zugleich  hat  aber  der  Mensch  auf  dieser  Kulturstufe 
gelernt,  nicht  mehr  von  der  Hand  in  den  Mund  zu  leben,  sondern 
seinem  Willen  entferntere  Ziele  zu  setzen,  deren  Erreichung  nicht 
<durch  eine  einzelne  Tat,  sondern  erst  durch  eine  zusammenhängende 


312  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Kette  von  Handlungen  möglich  wird.  Dadurch  verliert  die  einzelne 
Tat  viel  von  ihrem  Wert  für  die  moralische  Beurteilung  des  Täters. 
Sie  ist  jetzt  bloß  ein  Glied  in  einer  längeren  Reihe,  und  ich  kann 
sie  nur  dann  ganz  verstehen,  wenn  mir  das  Endglied  der  Reihe  bekannt 
ist.  Dieses  Endglied  ist  aber  nichts  anderes  als  der  Zweck,  die  Absicht, 
die  dem  Täter  vorschwebt. 

Da  überdies  infolge  der  Differenzierung  der  Interessen  es  sich 
nicht  mehr  von  selbst  versteht,  daß  jeder  einzelne  Bürger  das  Wohl 
des  Ganzen  zu  fördern  bestrebt  ist,  so  kann  ich  über  seine  soziale 
Nützlichkeit  oder  Schädlichkeit  nicht  mehr  auf  Grund  einer  einzelnen 
Tat  entscheiden.  Ich  muß  vielmehr,  um  über  seine  Stellung  zur  Gesell- 
schaft orientiert  zu  sein,  den  wahren  Endzweck  seiner  Handlung 
oder,  was  dasselbe  ist,  die  ihr  zugrunde  liegende  Absicht  oder 
Gesinnung  kennen.  Wenn  z.  B.  vom  Athener  Kinwn  erzählt  wird, 
er  habe  seine  großen  Gärten  dem  Volke  zur  Benutzung  überlassen, 
so  ist  diese  Tat  gewiß  an  sich  sozial  nützlich  und  deshalb  zu  billigen. 
Tat  er  dies  aber  knapp  vor  der  Wahl  der  höheren  Beamten,  so  kann 
diese  volksfreundliche  Handlung  auch  eine  Maßregel  sein,  um  Stimmen 
zu  bekommen,  und  durch  diese  jetzt  erkannte  Absicht  verliert  sie  ganz 
und  gar  ihren  moralischen  Charakter.  Ähnliche  Beispiele  liefert  uns 
das  öffentliche  Leben  unserer  Zeit  fast  täglich.  Derartige  Erfahrungen 
haben  nun  zur  Folge  gehabt,  daß  der  sittliche  Wert  des  Menschen 
immer  mehr  in  sein  Inneres  verlegt  wird.  Gegenstand  der  mora- 
lischen Beurteilung  wird  so  immer  ausschließlicher  die  Willens- 
richtung, die  Gesinnung  des  Menschen.  Kant  ist  von  dieser 
Ausschließlichkeit  ganz  durchdrungen  und  stellt  es  geradezu  als 
ein  ethisches  Axiom  hin,  daß  „überall  nichts  in  der  Welt,  ja  über- 
haupt auch  außer  derselben  zu  denken  möglich  sei,  was  ohne  Ein- 
schränkung für  gut  könnte  gehalten  werden  als  allein  ein  guter  Wille". 
Tatsächlich  ist  aber  diese  Wertschätzung  der  Gesinnung,  die  Kant 
geradezu  als  logische  Denknotwendigkeit  hinstellt,  anfangs  gar  nicht 
vorhanden  und  hat  sich  erst  infolge  der  komplizierter  gewordenen 
Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesellschaft 
herausentwickelt.  Dies  wird  noch  klarer,  wenn  wir  uns  darauf  be- 
sinnen, daß  auch  heute  noch,  wo  jeder  theoretisch  zugibt,  daß  nur 
die  Gesinnung  moralischen  Wert  besitzt,  trotzdem  der  wirkliche  Erfolg 
einer  Handlung,  das  heißt  hier  der  tatsächlich  durch  die  Tat  hervor- 
gebrachte soziale  Nutzen,  bei  der  moralischen  Beurteilung  eine  große 
Rolle  spielt.  Wird  z.  B.,  wie  wir  das  hier  in  Wien  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten wiederholt  erlebt  haben,  die  Errichtung  von  Volksbildungs- 
häusern  angeregt  und  zu  diesem  Zwecke  eine  Geldsammlung  ver- 
anstaltet, so  werden  wir,  wenn  wir  hören,  daß  eine  arme  Arbeiterfrau 
ihre  mühsam  ersparten  Pfennige  diesem  edlen  Zwecke  gewidmet  hat, 
gewiß  die  in  dieser  opferwilligen  Handlung  zutage  tretende  sittliche 
Gesinnung  bereitwillig  von  ganzem  Herzen  anerkennen  und  bewundern. 
Wenn  aber  durch  die  Millionenspende  eines  Reichen  die  sofortige 
Errichtung  eines  solchen  Institutes  ermöglicht  wird,  so  findet  diese  Tat 
wegen  des  großen,  in  die  Augen  springenden  sozialen  Nutzens,  der 
dadurch  gestiftet  wurde,  viel  lautere  und  viel  dauerndere  Anerkennung 


§  50.  Soziologische  Ethik  3  |  3 

und  Bewunderung.  Der  soziale  Ursprung  der  moralischen  Beurteilung 
macht  sich,  wie  wir  sehen,  auch  in  unserer  stark  individualisierten 
Kultur  noch  immer  geltend. 

Die  soziologische  Betrachtungsweise  hat  es  uns  möglich  gemacht, 
den  Ursprung  der  sittlichen  Verpflichtung  und  die  Entstehung  des 
Gewissens  begreiflich  zu  machen,  ohne  daß  wir  zu  der  unbewiesenen 
Annahme  einer  ursprünglichen  und  zugleich  zeitlosen,  ewigen  ethischen 
Struktur  der  praktischen  Vernunft  unsere  Zuflucht  nehmen  mußten. 
Was  nun  die  Weiterentwicklung  des  sittlichen  Bewußtseins  betrifft, 
so  werden  auch  hier  die  oben  dargelegten  soziologischen  Grund- 
einsichten uns  den  richtigen  Weg  finden  lehren. 

Wir  haben  gesehen,  daß  der  selbständig  gewordene  Mensch  einen 
mehrtausendjährigen  Befreiungskampf  um  die  Anerkennung  seines 
Eigenwertes  führen  mußte.  Dieser  Befreiungskampf  ist  für  die  sittliche 
Entwicklung  der  Menschheit  von  einer  bisher  kaum  geahnten  Be- 
deutung. Auf  diesem  Wege  wurden  dem  Staat  immer  mehr  Rück- 
sichten auf  die  gesteigerten  Ansprüche  und  Bedürfnisse  des  innerlich 
reif  und  reich  gewordenen  Menschen  abgezwungen,  die  wir  in  den 
Gesetzgebungen  aller  europäischen  Staaten  bemerken  können.  Dieser 
Befreiungskampf,  der  vom  sechzehnten  Jahrhundert  an  ein  rascheres 
Tempo  annimmt  und  an  der  Wende  des  achtzehnten  und  neunzehnten 
Jahrhunderts  seinen  Höhepunkt  erreicht,  hat  die  Milderung  der 
Gesetze  gegen  den  zahlungsunfähigen  Schuldner,  hat  die  Abschaffung 
der  Folter,  die  mildere  Behandlung  der  Sträflinge,  den  Schutz  der 
persönlichen  Ehre  und  schließlich  die  Wohlfahrtseinrichtungen  der 
neuen  Zeit  zur  Folge  gehabt.  Die  Erklärung  der  Menschenrechte  in 
Amerika  und  in  Frankreich  ist  das  beredteste  und  das  augenfälligste 
Ergebnis  dieses  Befreiungskampfes,  ein  Ergebnis,  das  vielfach  die 
Grundlage  aller  neueren  Gesetzgebungen  bildet. 

Neben  diesen  objektiv  konstatierbaren,  in  konkreten  Einrichtungen 
gleichsam  verdichteten  Wirkungen  vollziehen  sich  jedoch  infolge  der 
individualistischen  Entwicklungstendenz  auch  sehr  wichtige  innere 
Wandlungen  und  Veränderungen  des  sittlichen  Bewußtseins,  die  sich 
erst  dem  tiefer  dringenden  soziologisch  geschulten  Blicke  erschließen. 

Das  Hervortreten  eigenkräftiger  Persönlichkeiten  hat  zunächst  die 
überaus  wichtige  Wirkung,  daß  man  beginnt,  über  sittliche  Fragen 
nachzudenken.  In  allen  geschichtlichen  Perioden,  wo  der  Be- 
freiungskampf des  Individuums  besonders  deutlich  zutage  tritt,  findet 
eine  lebhafte  Erörterung  der  sittlichen  Grundfragen  statt.  Dies  tritt 
uns  besonders  deutlich  und  lebensvoll  in  der  griechischen  Aufklärungs- 
zeit entgegen.  Wir  sehen  da,  wie  an  aller  Überlieferung  individua- 
listische Kritik  geübt  wird.  Die  geltenden  Gesetze,  die  religiösen 
Glaubensvorstellungen,  die  alten  Mythen  werden  kritisch  geprüft,  und 
zwar  hauptsächlich  nach  ethischen  Gesichtspunkten.  Den  homerischen 
Göttern  werden  ihre  Laster  vorgehalten,  Pindar  will  an  die  Wahrheit 
eines  Mythus  nicht  glauben,  in  welchem  eine  Gottheit  als  ein  Lecker- 
maul hingestellt  wird.  Euripides  versteigt  sich  sogar  zu  der  Be- 
hauptung: „Wenn  Götter  Böses  tun,  so  sind  sie  keine  Götter",  und 
Protagoras  geht  so  weit,  daß  er  die  Existenz  der  Götter  in  Frage 


314  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

stellt.  Aus  dieser  Zeit  geht  nun  der  Mann  hervor,  der  durch  seine 
Lehre,  durch  sein  Leben  und  vor  allem  durch  seinen  Tod  der  Ethik 
die  erste  und  zugleich  die  dauernde  wissenschaftliche  Begründung 
gegeben  hat.  Sokrates  ist  ein  Kind  der  Aufklärungszeit  und  hat  von 
ihr  den  Glauben  an  die  Kraft  der  menschlichen  Vernunft  übernommen. 
Das  Nachdenken  über  sittliche  Fragen  wird  ihm  zur  heiligen  Pflicht 
und  er  bleibt  bis  zum  Tode  davon  durchdrungen,  daß  man  durch 
m reim  logische  Erwägungen  mit  absoluter  Sicherheit  ermitteln  kann, 
was  in  jedem  einzelnen  Fall  zu  tun  oder  zu  lassen  sei.  Im  Gespräch 
„Kriton"  läßt  ihn  Piaton  ausdrücklich  sagen,  daß  man  in  sittlichen 
I  ragen  immer  nur  der  Vernunft  und  niemals  der  Meinung  der  Vielen 
zu  folgen  habe.  Dieser  von  Sokrates  in  die  Ethik  eingeführte  Intellek- 
tualismus ist  ihr  bleibendes  Besitztum  und  kann  nie  mehr  aus  ihr 
verschwinden.  Nur  die  klar  bewußte  Einsicht  in  das  Wesen  unserer 
Verpflichtungen  kann  uns  zur  wirksamen  Richtlinie  werden. 

Dieses  Nachdenken  hatte  nun  zunächst  die  Wirkung,  daß  man 
als  Ziel  und  Zweck  des  Menschenlebens  die  eigene  Glückseligkeit 
ansah.  Das  ist  eine  sehr  begreifliche  Folge  der  individualistischen 
Entwicklungstendenz.  Wenn  der  Einzelne  seiner  eigenen  Vernunft 
mehr  vertraut  als  der  Überlieferung,  so  ist  es  ganz  natürlich,  daß 
er  sich  in  seiner  Zielsetzung  zunächst  auf  sich  selbst  beschränkt  und 
seine  eigene  Glückseligkeit  als  den  selbstverständlichen  Zweck  des 
Daseins  ansieht.  Der  eudaimonistische  Gedanke  ist  mitunter  so  stark 
geworden,  daß  er  aus  der  individualistischen  Entwicklungstendenz  die 
äußersten  Konsequenzen  gezogen  und  so  zur  Leugnung  jeder  sittlichen 
Verpflichtung  geführt  hat.  Wir  haben  in  unserer  Darstellung  der 
Entwicklung  der  Ethik  radikale  Denker  kennen  gelernt,  die  kühn  genug 
waren,  den  Egoismus  als  allein  maßgebend  hinzustellen  und  keinerlei 
sittliche  Verpflichtung  gegen  die  Gesamtheit  anzuerkennen. 

Daß  solche  Gedankenreihen,  denen  heute  noch  viele  im  stillen 
zustimmen,  nicht  allgemeine  Geltung  erlangen  können,  dafür  liegt 
der  Grund  zunächst  in  dem  kollektiven  Ursprung  des  sitt- 
lichen Bewußtseins  und  in  der  fortdauernden  Abhängigkeit  des  Ein- 
zelnen von  der  sozialen  Organisation,  der  er  angehört.  Der  selb- 
ständig gewordene  Mensch  mag  im  Bewußtsein  der  Selbstherrlichkeit 
meiner  Vernunft  und  seines  Gewissens  in  seiner  Studierstube  ganz 
davon  durchdrungen  sein,  daß  er  unabhängig  von  der  Meinung  der 
Vielen  souverän  für  sich  entscheiden  könne  und  dürfe,  was  er  soll 
und  was  er  nicht  soll,  er  mag  sich  noch  so  sehr  in  seine  eigene 
Gedankenwelt  einspinnen  und  sich  für  absolut  frei  und  unabhängig 
halten  und  erklären.  Sobald  er  ins  Leben  hinaustritt,  umschließen  ihn 
die  sozialen  Imperative  seines  Staates  und  er  findet  es  ganz  selbst- 
verständlieh,  daß  er  sich  in  seinem  Tun  nach  ihnen  richtet.  So  wie 
er  sich  ohne  Bedenken  der  Einrichtungen  bedient,  die  nur  durch  die 
(  Organisation  des  Gemeinwesens  entstehen  und  funktionieren  können, 
so  fügt  er  sich  auch  den  sozialen  Bindungen,  die  ihn  von  allen  Seiten 
umgeben,  und  wird  so  —  vielleicht  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen  — 
doch  wieder  ein  Glied  der  großen  Gemeinschaft,  von  der  er  sich  un- 
abhängig wähnte.    Die  kollektiven  Vorstellungen  und  Gefühle  bilden 


§  50.  Soziologische  Ethik  31  5 

auch  bei  dem  scheinbar  ganz  selbständig  gewordenen  Einzelmenschen 
einen  sehr  erheblichen  und  sehr  wichtigen  Bestandteil  seines  Bewußt- 
seins und  wirken  den  Auswüchsen  des  antisozialen  Egoismus  entgegen. 

Die  individualistische  Entwicklungstendenz  führt  aber  keineswegs 
bloß  zur  Isolierung  des  Einzelmenschen  und  zu  seiner  Loslösung  vom 
staatlichen  Verbände.  Sie  hat,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  auch 
noch  eine  ganz  anders  geartete  Wirkung,  die  für  die  sittliche  Höher- 
entwicklung von  einer  bis  jetzt  weniger  beachteten,  ganz  besonders 
großen  Bedeutung  geworden  ist.  Die  individualistische  Entwicklungs- 
tendenz bringt  ja,  wie  wir  in  unserer  Darlegung  der  soziologischen 
Grundeinsichten  gezeigt  haben,  mit  psychologischer  Notwendigkeit 
aus  sich  den  Universalismus  und  den  Kosmopolitismus 
hervor  und  schafft  dadurch  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer 
großen  Einheit.  Daraus  aber  entwickelt  sich  schon  im  Altertum  bei 
den  Vertretern  der  mittleren  Stoa  (besonders  Panätius)  die  Forderung 
der  allgemeinen  Menschlichkeit,  für  die  in  den  gebildeten 
Kreisen  Roms  die  seither  allgemein  gewordene  Bezeichnung  „H  u  m  a- 
n  i  t  ä  t"  geprägt  wird.  Dadurch  erfährt  nun  das  sittliche  Bewußtsein 
eine  überaus  bedeutsame  Erweiterung  und  es  entwickelt  sich  daraus 
ein  ganz  neuer  sittlicher  Gedanke,  dessen  Bedeutung  für  die  ethische 
Höherentwicklung  der  Menschheit  nur  die  soziologische  Betrachtungs- 
weise in  das  rechte  Licht  zu  setzen  vermag. 

Um  das  klar  zu  machen,  müssen  wir  daran  erinnern,  daß  wir 
in  den  dargelegten  soziologischen  Grundeinsichten  eine  Art  von 
Grundformel  für  die  Beurteilung  der  sozialen  Gebilde  gefunden  haben. 
Sie  beruht  auf  der  Doppelfunktion  der  Erzeugnisse  des  Zusammen- 
lebens, die  sowohl  über  uns  als  auch  i  n  u  n  s  sind.  Wir  haben 
diese  Doppelfunktion  am  Beispiel  der  Sprache  erläutert  und  auch 
auf  andere  Gebilde  angewendet.  Wir  haben  gesehen,  daß  die  sozio- 
logische Wirkung  nur  dann  ganz  zutage  tritt,  wenn  beide  Seiten  der 
Doppelfunktion  voll  entwickelt  sind.  Was  nun  die  Idee  der  ganzen 
Menschheit  betrifft,  so  müssen  wir  sagen,  daß  sie  bis  jetzt  weit  mehr 
in  uns  als  über  uns  ist.  Die  ganze  Menschheit  als  Einheit  ist 
noch  keine  festgegliederte  Organisation.  Sie  ist  bis  jetzt  bloß  For- 
derung, Hoffnung,  Wunsch,  Streben.  Jeder  Einzelne  soll  gewiß  alles 
daransetzen,  um  diese  Idee  der  soziologischen  Verwirklichung  entgegen- 
zubringen. Aber  bisher  ist  die  ganze  Menschheit  noch  nicht  als  Einheit 
organisiert  und  besitzt  deshalb  noch  keine  Macht  und  nicht  genügende 
Autorität. 

Dasselbe  gilt  nun  von  der  sittlichen  Forderung,  die  mit  der  Idee 
der  ganzen  Menschheit  unzertrennlich  verbunden  und  zugleich  ein 
bleibender  Beweis  für  den  individualistischen  Ursprung  dieser  Idee  ist. 
Wer  die  Menschheit  als  große  Einheit  fordert,  der  muß  zugleich  von 
dem  Eigenwert  jedes  einzelnen  menschlichen  Individuums  tief  durch- 
drungen sein.  Er  muß  in  jedem  Menschen  das  allgemein  Menschliche 
achten  und  verehren.  Jeder  einzelne  Mensch  muß  mir  als  Träger  des 
Menschlichen  gelten,  das  in  uns  allen  wohnt,  seinem  Wesen  nach 
geistiger  Natur  ist  und  von  frommen  Seelen  als  das  Göttliche  in  uns 
empfunden  wird.  Jeder  einzelne  Mensch  muß  deshalb  als  Selbstzweck 


3lo  Soziologie  und  Geschichtsphilosophic 

angesehen  werden,  und  man  darf  ihn,  wie  es  Kant  ausdrückt,  niemals 
bloß  als  Mittel  brauchen. 

Nun  ist  auch  diese  Forderung,  den  Eigenwert  eines  jeden 
Menschen  anzuerkennen,  bisher  nur  in  uns  und  noch  nicht  über  uns. 
Zwar  hat  die  Gesetzgebung  der  letzten  hundert  Jahre  dieser  Forderung 
teilv/eise  Rechnung  zu  tragen  begonnen,  allein  es  fehlt  noch  viel  dazu, 
daß  sie  zum  sozialen  Imperativ  wäre  erhoben  worden.  Somit  sind 
beide  Gedanken,  der  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit 
und  der  vom  Eigenwert  jedes  einzelnen  Menschen,  bisher  nur  Ideen, 
nur  1  loffnungen,  nur  Wünsche,  nur  innerlich  vorhandene  sittliche 
Motive.  Sie  sind  von  der  Machtorganisation  des  Staates  noch  nicht 
zu  sozialen  Imperativen  ausgestaltet  worden  und  auch  die  öffentliche 
Meinung  hat  diese  Forderungen  noch  nicht  in  klarer  und  un- 
mißverständlicher Weise  als  allgemein  verpflichtend  hingestellt.  Des- 
halb wäre  es  irreführend,  diese  beiden  miteinander  eng  verbundenen 
sittlichen  Ideale  mit  dem  Namen  der  Pflicht  zu  bezeichnen. 

Wir  müssen  vielmehr  nach  einem  Ausdruck  suchen,  der  den  rein 
innerlichen  Charakter  dieser  Forderungen  deutlich  zur  Darstellung 
bringt  und  zugleich  die  Vereinigung  des  individualistischen  und  uni- 
versalistischen Momentes  klarmachen  kann.  Mit  Anlehnung  an  Kant, 
dessen  Ethik  einen  Höhepunkt  dieser  Synthese  von  Individualismus 
und  Universalismus  darstellt,  wollen  wir  diesen  neuen  Hebel  der 
sittlichen  Entwicklung  die  Menschenwürde  nennen. 

Die  Menschenwürde  unterscheidet  sich  von  der  Menschen pflicht 
durch  zwei  wichtige  Momente.  Die  Pflicht  ist  ein  sozialer  Imperativ 
und  setzt  deshalb  eine  geschlossene,  organisierte  Gesellschaft  voraus, 
die  dem  Einzelnen  als  Macht  und  Autorität  gegenübersteht  und  im 
Notfall  auch  imstande  ist,  ihre  Forderungen  zu  erzwingen.  Die  sozialen 
Imperative  haben  ferner  den  ihnen  immanenten  Zweck,  das  Gefüge 
der  Gesellschaft  zu  erhalten  und  vor  gewaltsamen  Eingriffen  zu 
schützen.  Ihr  Prinzip  ist  das  Prinzip  der  Ordnung  als  eines 
unentbehrlichen  Mittels  zur  Erhaltung  des  Bestehenden.  In  beiden 
Punkten  beruht  nun  die  Menschenwürde  auf  wesentlich  anderen 
'  irundsätzen.  Zunächst  fällt  hier  das  äußere  Machtmoment  ganz  weg. 
Das  Gefühl  der  Menschenwürde  zeitigt  nur  solche  Forderungen,  die 
der  sittlich  höherstehende  Mensch  im  Bewußtsein  seines  Eigenwertes 
an  sich  selbst  stellt.  Haben  wir  uns  einmal  zum  lebendigen 
Bewußtsein  der  Menschenwürde  emporgearbeitet,  so  genügt  es  uns 
nicht  mehr,  die  sozialen  Imperative  zu  befolgen,  das  heißt  bloß  den 
Forderungen  zu  entsprechen,  die  von  der  Gesellschaft  an  uns  gestellt 
werden.  Wir  suchen  uns  vielmehr  selbst  Arbeiten,  zu  denen  wir  uns 
für  befähigt  erachten,  wir  verlangen  von  uns,  daß  wir  alle  unsere 
Kräfte  entfalten  und  in  den  Dienst  des  Ganzen  stellen,  und  sind 
erst  dann  mit  uns  zufrieden,  wenn  wir  unser  Bestes  getan  haben. 
Wir  erkennen  die  sozialen  Imperative  als  unsere  Pflichten  an,  gehen 
aber  in  unserem  Betätigungsdrang,  im  Bewußtsein  der  eigenen  Kräfte 
weit  darüber  hinaus.  Wir  betrachten  ferner  —  und  das  ist  das  zweite 
Moment,  wodurch  sich  die  Menschenwürde  von  der  bloßen  Pflicht 
unterscheidet  —  die  soziale  Organisation,  in  der  wir  leben,  nicht  als 


§  50.  Soziologische  Ethik  317 

etwas  Fertiges,  Unveränderliches.  Unser  verfeinertes  Gewissen  gebietet 
uns  vielmehr,  auf  vorhandene  Mängel  des  staatlichen  Gefüges  zu  achten 
und  hinzuweisen.  Wir  stellen  nicht  nur  an  uns  selbst,  sondern  auch 
an  den  Staat,  in  dem  wir  leben,  höhere  Forderungen  und  bemühen 
uns  nach  Kräften,  an  der  Verwirklichung  dieser  Forderungen  zu 
arbeiten,  indem  wir  auch  andere  Gleichgesinnte  dafür  zu  gewinnen 
suchen.  Das  Prinzip  der  Menschenwürde  und  ihrer  Gebote  ist  also 
nicht  bloß  Erhaltung  und  Ordnung,  sondern  Fortschritt  und 
Höherentwicklung.  Sokrates  ist  auch  hier  leuchtendes  Vorbild 
und  verdeutlichendes  Beispiel.  In  seiner  Verteidigungsrede  vor  den 
athenischen  Richtern  hat  er  die  denkwürdigen  Worte  gesprochen: 
„Wo  einer  sich  selbst  hingestellt  hat,  weil  er  es  für  das  Beste  hielt, 
und  wo  er  vom  Vorgesetzten  hingestellt  wurde,  dort  muß  er  ausharren 
auch  in  der  Gefahr"  (Plato,  Apologie,  c.  16).  Sokrates  hat  alle 
Pflichten  eines  Bürgers  immer  gewissenhaft  erfüllt.  Daneben  aber 
hat  er  sich  die  Aufgabe  gestellt  und  es  für  seinen  Beruf  erachtet, 
die  Menschen  zur  sittlichen  Selbstbesinnung  anzuregen.  In  der  Aus- 
übung dieses  Berufes  hat  er  sich  oft  genötigt  gesehen,  an  bestehenden 
staatlichen  Einrichtungen  Kritik  zu  üben  und  hat  sich  dadurch  viele 
Feindschaften  zugezogen.  Er  hat  aber  an  seinen  Überzeugungen  un- 
erschütterlich festgehalten  und  ist  für  dieselben  mutig  und  standhaft 
in  den  Tod  gegangen.  An  ihm  kann  man  also  lernen,  was  Menschen- 
pflicht ist,  und  was  darüber  hinaus  die  Menschenwürde  dem  sittlich 
Hochstehenden  gebietet. 

Den  Forderungen  der  Menschenwürde  fehlt  also  vollständig  das 
mit  der  Pflicht  immer  verbundene  Gefühl  des  sozialen  Zwanges.  Die 
Menschenwürde  bedeutet  die  ausschließlich  in  uns  selbst  gelegene 
Verbindlichkeit,  die  aus  dem  Bewußtsein  des  persönlichen  Eigenwertes 
hervorgeht.  Die  Gesellschaft,  deren  Mandatar  in  immer  weiterem 
Umfange  der  Staat  geworden  ist,  verlangt  von  jedem  Bürger  die 
Erfüllung  seiner  Pflichten.  Sie  kann  aber  heute  noch  nicht  so  weit 
gehen,  auch  die  Forderungen  der  Menschenwürde  in  den  Pflichtenkreis 
einzubeziehen,  und  zwar  schon  deshalb  nicht,  weil  die  bisher  erreichte 
Organisation  des  Staates  es  sogar  oft  unmöglich  macht,  den  For- 
derungen der  Menschenwürde  nachzuleben. 

Die  Menschenwürde  bedeutet  sittliche  Autonomie  und 
innere  Souveränität.  Sie  ist  die  schönste  Frucht  der  indi- 
vidualistischen Entwicklungstendenz  und  ruht  auf  dem  im  Laufe  der 
Zeiten  allmählich  errungenen  Bewußtsein  vom  Eigenwert  jeder  mensch- 
lichen Persönlichkeit.  Dieses  Bewußtsein  geht  aber  doch  wieder  aus 
einem  Solidaritätsgefühl  hervor.  Der  Gedanke  vom  Menschen 
als  Selbstzweck,  von  dem  unverlierbaren  Wert  jedes  einzelnen 
Menschendaseins  hätte  sich  nämlich  gar  nicht  ausbilden  können,  wenn 
nicht  aus  der  individualistischen  Entwicklungstendenz  die  Idee  der 
ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit  hervorgegangen  wäre. 
Beide  Gedanken  hängen  aufs  engste  zusammen,  bedingen  und  starken 
einander.  Je  mehr  sich  der  Blick  des  Einzelnen  über  Staaten  und 
Nationen  hinaus  erweitert,  je  klarer  das,  was  allen  Menschen  gemein- 
sam ist,  sich  von  dem  abhebt,  was  sie  voneinander  trennt,  je  fester 


31  S  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

und  je  allgemeiner  die  Überzeugung  wird,  daß  die  Menschheit,  die 
auf  der  Erde  wohnt,  dazu  bestimmt  ist,  eine  große  Einheit  zu  bilden, 
desto  tiefer  muß  die  Einsicht  in  die  Seelen  dringen,  daß  wir  in  jedem 
Menschen  den  Träger  der  Menschheitsidee  erblicken  müssen  und  ihn 
demgemäß  als  Selbstzweck,  als  Eigenwert  zu  betrachten  und  zu  be- 
handeln verpflichtet  sind.  Umgekehrt  trägt  wiederum  das  zunehmende 
Interesse,  das  wir  jedem  einzelnen  Menschenschicksal  entgegenbringen, 
der  innige  Anteil,  den  wir  nicht  nur  an  unseren  Staats-  und  Volks- 
genossen,  sondern  auch  an  jedem  Angehörigen  einer  fremden  Nation,. 
bei  dem  wir  die  allgemein  menschlichen  Werte  vorfinden,  zu  nehmen 
gelernt  haben,  dazu  bei,  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer 
großen   Einheit  fester  in  unseren  Seelen  zu  verankern. 

Wir  dürfen  also  sagen,  daß  auch  der  Gedanke  der  Menschenwürde 
nicht  metaphysisch  und  nicht  apriorisch,  sondern  soziologisch  und 
empirisch  fundiert  ist.  Das  Bewußtsein  einer  höheren  Verpflichtung 
ist  auch  hier  die  Folge  einer  Zugehörigkeit,  aber  einer  Zu- 
gehörigkeit zu  einem  größeren  Ganzen,  das  die  kleineren  sozialen 
( iebilde,  die  Staaten  und  die  Nationen  in  sich  schließt. 

Menschenpflicht  und  Menschenwürde  sind  keines- 
wegs Gegensätze.  Wir  haben  in  ihnen  die  Ergebnisse  der  zwei  Ent- 
wicklungstendenzen vor  uns,  die  wir  im  Zusammenleben  der  Menschen 
als  wirksam  erkannt  haben.  Die  Pflicht  ist  aus  dem  autoritativ  sozialen, 
die  Menschenwürde  aus  dem  freiheitlich  individualistischen  Prinzip 
hervorgegangen.  Beide  sind  als  Hebel  der  sittlichen  Entwicklung  zu 
betrachten  und  beide  haben  Anteil  an  der  Festigung  und  am  Fort- 
schritt des  sittlichen  Bewußtseins.  Die  Menschenwürde  hat  den  Kreis 
der  sozialen  Imperative  erweitert  und  den  Staat  gezwungen,  nicht 
nur  im  Verbrecher  noch  den  Menschen  zu  achten,  sondern  auch  dem 
gesteigerten  Bewußtsein  vom  Eigenwert  jedes  Menschen  in  der  Gesetz- 
gebung Rechnung  zu  tragen.  Trotzdem  kann  es  vorkommen  und 
kommt  sogar  tatsächlich  nicht  selten  vor,  daß  die  sozialen  Imperative 
sich  den  Forderungen  der  Menschenwürde  entgegenstellen.  So  verlangt 
/.  B.  die  Menschenwürde  von  uns  die  unbedingte  Wahrhaftig- 
keit in  allen  Dingen.  Jede  Lüge  ist  eine  Herabsetzung  der  Persönlich- 
keit und  deshalb  eine  Verletzung  der  Menschenwürde.  Kant,  der  den 
Begriff  der  Menschenwürde  in  seiner  ganzen  Tiefe  erfaßt  und  nur 
den  soziologischen  Ursprung  verkannt  hat,  stellt  die  Lüge  deshalb 
als  etwas  unbedingt  Verwerfliches  hin  und  gestattet  nicht  einmal, 
aus  Menschenfreundlichkeit  zu  lügen.  Es  ist  nun  kein  Zweifel,  daß 
die  Struktur  der  Gesellschaft  und  die  Organisation  des  Staates  in 
ihrer  heutigen  Beschaffenheit  nicht  nur  gar  sehr  zur  Lüge  verleitet, 
sondern  nicht  selten  sogar  das  Opfer  der  Lüge  geradezu  verlangt*). 
In  der  Regel  erweisen  sich  bei  solchen  Konflikten  die  sozialen  Im- 
perative, hinter  denen  die  Macht  und  die  Autorität  des  Staates  steht, 
als  stärker  und  die  Forderungen  der  Menschenwürde  müssen  einst- 

*)  Vgl.  dazu  Jerusalem,  „Wahrheit  und  Lüge",  zuerst  veröffentlicht  in  der 
„Deutschen  Rundschau",  November  1898,  dann  wieder  abgedruckt  in  „Gedanken 
und  Denker",  Wien  1905,  S.  26-58. 


§  50.  Soziologische  Ethik  3 19 

weilen  zurücktreten.  Sie  hören  aber  deswegen  nicht  auf,  sittliche 
Forderungen  zu  sein.  Sie  wirken  im  Stillen  weiter  und  werden  im  Laufe 
der  Entwicklung  oft  stark  genug,  um  die  sozialen  Imperative 
nicht  etwa  zu  überwinden,  sondern  auszugestalten  und  umzugestalten. 
Jedenfalls  entstehen  aus  solchen  Konflikten,  zu  denen  keineswegs  bloß 
die  Forderung  der  Wahrhaftigkeit  Anlaß  gibt,  neue  ethische  Probleme, 
die  zur  sittlichen  Weiter-  und  Höherentwicklung  beitragen.  Eine 
künftige  soziologische  Ethik  wird  die  Aufgabe  haben,  gerade  solche 
Konflikte  besonders  eingehend  zu  untersuchen.  Man  wird  den  Wider- 
streit zwischen  den  sozialen  Imperativen  und  den  Forderungen  der 
Menschenwürde  historisch  verfolgen  und  dabei  auch  die  Darstellungen 
genialer  Dichter,  die  für  solche  Seelenkämpfe  einen  besonderen  Blick 
haben,  mit  großem  Gewinn  zur  Verdeutlichung  der  Probleme  heran- 
ziehen. Wir  müssen  uns  jedoch  hier  in  unserer  Einführung  darauf 
beschränken,  auf  die  allerwichtigsten  Konsequenzen  hinzuweisen,  die 
sich  aus  solchen  Konflikten  für  die  Weiterentwicklung  der  ethischen 
Probleme  ergeben. 

Das  weitaus  wichtigste  dieser  Probleme,  das  überdies  infolge 
des  Weltkrieges  und  seiner  so  traurigen  Folgen  ein  starkes  aktuelles 
Interesse  gewinnt,  ist  die  Frage  nach  der  ethischen  Aufgabe 
des  Staates  oder,  was  dasselbe  besagt,  nach  den  Beziehungen 
zwischen  Politik  und  Moral.  Man  hat  diese  Fragen  seit  den 
Tagen  Piatos  vielfach  erörtert  und  sich  auch  während  des  Weltkrieges 
viel  mit  ihnen  beschäftigt.  Man  konnte  aber  zu  keiner  befriedigenden 
Lösung  gelangen,  weil  man  noch  nicht  gelernt  hatte,  die  soziologische 
Betrachtungsweise  auf  diese  Dinge  anzuwenden.  Im  Lichte  unserer 
soziologischen  Grundeinsichten  bekommen  diese  alten  Probleme  ein 
ganz  neues  Ansehen  und  es  lassen  sich  wenigstens  die  Richtlinien 
deutlich  erkennen,  in  denen  sich  die  Lösung  bewegen  muß.  Der  Staat 
ist  als  Machtorganisation  entstanden  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  Machtorganisation  geblieben.  Er  muß,  um  sich  gegenüber  anderen 
Staaten  selbständig  zu  erhalten,  aber  auch  um  in  seinem  Innern  Ruhe 
und  Ordnung  wahren  zu  können,  über  eine  Macht  verfügen,  die  ihn 
fähig  macht,  seinen  Willen  gegenüber  solchen  Elementen,  die  seinen 
Bestand  zu  untergraben  oder  zu  gefährden  suchen,  durchzusetzen 
und  seine  Bürger  vor  solchen  Umtrieben  zu  schützen.  Als  wichtigstes 
Organ  der  Staatsmacht  fungierte  von  den  ältesten  Zeiten  an  bis  zur 
Gegenwart  die  Wehrmacht,  über  die  der  Staat  verfügte.  Herbert 
Spencer  bezeichnet  den  auf  die  Wehrmacht  gegründeten  Staat  als 
den  militärischen  Typus  der  Gesellschaft  und  stellt  ihm  den 
industriellen  Typus  gegenüber,  dem  seiner  Ansicht  nach 
die  Entwicklung  zustrebt.  Die  Geschichte  kennt  bisher  nur  solche 
Staaten,  die  dem  entsprechen,  was  Spencer  den  militärischen  Typus 
nennt.  Wenn  also  Hegel  in  einer  seiner  politischen  Jugendschriften 
den  Satz  ausspricht:  „Daß  eine  Menge  einen  Staat  bilde,  dazu  ist 
notwendig,  daß  sie  eine  gemeinsame  Wehre  und  eine  Staats- 
gewalt bilde",  so  hat  dieser  allgemein  als  rein  spekulativer  Kopf  ver- 
schrieene Denker  damit  seinen  starken  Wirklichkeitssinn  erwiesen,  von 
dem  man  auch  sonst  in  seinen  Werken,  besonders  dort,  wo  es  sich 


320  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

um  geschichtliche  Dinge  handelt,  überraschende  Proben  finden  kann*). 
Solange  auf  der  Erde  mehrere  Staaten  nebeneinander  bestehen  werden, 
solange  wird  jeder  einzelne  Staat  Machtorganisation  bleiben  müssen 
und  die  Wehrmacht  nicht  entbehren  können.  Aber  auch  dann,  wenn 
der  jetzt  bestehende  Völkerbund  entsprechend  ausgestaltet  werden  sollte, 
oder  wenn  gar  die  ganze  bewohnte  Erde  sich  zu  einem  einzigen  Staats- 
wesen zusammenschlösse,  würde  doch  aller  Voraussicht  nach  auch  dann 
noch  eine  Machtorganisation  da  sein  müssen,  um  dieses  große  Ganze 
zusammenzuhalten.  Die  rein  machtpolitische  Auffassung  des  Staates 
hat  seit  den  Tagen  Machiavellis  immer  mehr  Anhänger  gefunden. 
Der  Staat,  so  wird  behauptet,  hat  vor  allem  die  Aufgabe,  sich  selbst, 
das  heißt  seine  Macht,  zu  behaupten  und  womöglich  zu  erweitern. 
Die  Politik  ist  die  Kunst,  die  geeigneten  Mittel  dazu  zu  finden. 
Sittliche  Forderungen  kommen  dabei  nicht  in  Betracht.  Politik  hat 
mit  Moral  nichts  zu  schaffen.  Ethische  Forderungen  beziehen  sich 
auf  die  Verpflichtungen  der  Menschen  gegeneinander,  der  Einzelnen 
gegen  den  Staat  oder  gegen  die  ganze  Menschheit.  Der  Staat  selbst 
aber  ist  vollkommen  souverän,  er  ist  sich  Selbstzweck  und  hat  das 
selbstverständliche  Recht,  zur  Erhaltung  und  zur  Erweiterung  seiner 
Macht  alle  dazu  geeigneten  Mittel  anzuwenden. 

Durch  die  Bildung  absolutistischer  Staaten  im  sechzehnten, 
siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert  hat  sich  diese  Auffassung 
in  den  Köpfen  der  Regierenden  immer  mehr  befestigt.  Es  hat  zwar 
niemals  an  Stimmen  gefehlt,  die  es  laut  aussprachen,  daß  der  Staat 
auch  andere  Aufgaben  habe,  allein  sie  sind  meist  ungehört  verhallt. 
Auch  der  Parlamentarismus,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  in  den  früher  absolut  regierten  Staatswesen  Eingang 
fand,  hat  an  der  machtpolitischen  Auffassung  wenig  geändert.  Das 
mächtig  sich  entfaltende  Nationalgefühl  und  der  daraus  hervorgehende 
Chauvinismus  haben  vielmehr  den  Machtgedanken  und  die  Expansions- 
tendenz gesteigert.  Die  sogenannten  „Realpolitiker",  die  für  die  tat- 
sächliche Leitung  des  Staates  maßgebend  waren,  wollten  von  sittlichen 
oder  kulturellen  Aufgaben  des  Staates  nichts  hören  und  betrachteten 
alle  politischen  Probleme  ausschließlich  als  Machtfragen.  Im  Weltkrieg 
haben  diese  rein  machtpolitischen  Auffassungen  ihren  erschreckenden 
Ausdruck  gefunden.  Vielleicht  wird  man  jetzt,  wo  die  ganze  Welt 
unter  den  Folgen  dieser  Katastrophe  zu  leiden  hat,  eher  geneigt  sein, 
anders  gerichteten  Erwägungen  Gehör  zu  schenken.  Wir  glauben 
zeigen  zu  können,  daß  die  Organisation  des  Staates  für  die  sittliche 
Entwicklung  der  Menschheit  von  der  allergrößten  Bedeutung  war, 
und  daß  eine  soziologisch  orientierte  Politik  ihm  in  Zukunft  eine 
noch  viel  wichtigere  Rolle  auf  diesem  Gebiete  zuweisen  wird. 

Der  Staat  hat  als  Machtorganisation  begonnen  und  wird  in 
gewissem  Sinne  immer  Machtorganisation  bleiben  müssen.  Die 
Entwicklung  geht  aber  dahin,  daß  die  Macht  immer  weniger  Selbst- 


*)  Hegels  Schriften  zur  Politik  und  Rechtsphilosophie,  herausgegeben  von 
Georg  Lasson,  1913  (Philosophische  Bibliothek,  Bd.  144),  S.  18. 


§  50.  Soziologische  Ethik  321 

zweck  und  immer  mehr  bloßes  Mittel  wird,  das  dazu  verwendet  werden 
muß,  um  anderen,  höheren  Zwecken  zu  dienen. 

Das  zeigt  sich  zunächst  darin,  daß  die  Organisation  der  Macht 
von  selbst  dazu  führt,  den  Staat  zur  Rechtsordnung  aus- 
zugestalten. Die  geltenden  Rechtsnormen,  die  anfangs  auf  Herkommen 
und  Gewohnheit  beruhen,  später  jedoch  in  der  Form  von  Gesetzen 
schriftlich  festgesetzt  werden,  sind  zunächst  der  Ausdruck  des 
Willens  der  herrschenden  Klasse.  Dadurch  aber,  daß 
in  den  Gesetzen  deutlich  gesagt  wird,  was  der  Staat  von  jedem  Bürger 
fordert,  und  auch,  was  er  jedem  gewährleistet,  lebt  sich  die  Rechts- 
ordnung allmählich  ein.  Die  geltenden  Gesetze  dringen  als  soziale 
Imperative  in  die  Seelen  ein  und  werden,  wie  wir  oben  gezeigt  haben, 
dadurch  zu  sittlichen  Pflichten.  Der  Staat  wächst  nicht  nur 
in  die  Breite,  sondern,  wie  Ruedorffer  sehr  schön  gezeigt  hat, 
auch  in  die  Tiefe.  Das  Gefüge  der  Gesellschaft,  deren  Mandatar 
der  Staat  wird,  gestaltet  sich  immer  komplizierter  und  dabei  gelangen 
die  von  uns  oft  hervorgehobenen  zwei  Entwicklungstendenzen  immer 
deutlicher  zur  Auswirkung. 

Infolge  der  individualistischen  Entwicklungstendenz  wird  der 
Staat  immer  mehr  gezwungen,  den  gesteigerten  Rechtsansprüchen 
der  innerlich  reicher  und  reifer  gewordenen  Einzelpersönlichkeiten 
Rechnung  zu  tragen.  Er  sieht  sich  genötigt,  nicht  nur  die  Freiheit, 
das  Eigentum,  die  persönliche  Sicherheit  und  die  Ehre  jedes  Einzelnen 
Bürgers  zu  schützen.  Er  muß  auch  die  Gesundheitspflege  in  die  Hand 
nehmen,  um  sein  Gebiet  vor  verheerenden  Seuchen  zu  bewahren  und 
überdies  auch  die  Arbeiter  gegen  Krankheit  und  Unfälle  sowie  auch 
für  die  Zeit  der  Invalidität  versichern.  So  gestaltet  sich  der  Macht- 
und  Rechtsstaat  immer  mehr  zum  Wohlfahrtsstaat  aus  und 
in  dieser  Richtung  werden  die  Staaten  in  Zukunft  noch  viel  weiter 
gehen  müssen.  Damit  sind  aber  seine  Aufgaben  noch  lange  nicht 
erschöpft.  Er  sieht  sich  genötigt,  die  Erziehung  in  seine  Hand 
zu  nehmen,  damit  die  heranwachsende  Generation  immer  mehr  be- 
fähigt werde,  den  gesteigerten  Anforderungen  zu  entsprechen.  Er 
bedarf  ferner  in  immer  höherem  Grade  der  Wissenschaft,  weil 
diese  in  ihrer  Weiterentwicklung  ihm  die  Mittel  an  die  Hand  gibt, 
seinen  Wohlfahrtsaufgaben  gerecht  zu  werden.  Auch  die  Kunst 
muß  er  pflegen,  weil  die  gesteigerte  Kultur  das  Bedürfnis  darnach  in 
immer  weitere  Kreise  getragen  hat.  Dadurch  aber  wächst  sich  der 
Staat  immer  mehr  zu  einer  Kulturorganisation  aus  und 
durch  diese  stete  Vermehrung  seiner  Aufgaben  hat  sich  allmählich 
sein  Wesen  stark  verändert. 

Die  individualistische  Entwicklungstendenz  hat,  wie  wir  gesehen 
haben,  zum  Universalismus  und  zum  Kosmopolitismus  geführt.  Die 
Verselbständigung  und  die  damit  Hand  in  Hand  gehende  innere 
Bereicherung  der  menschlichen  Einzelpersönlichkeit  hat  aus  sich 
die  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit  ent- 
wickelt und  daraus  ist  wiederum  die  Forderung  der  allgemeinen 
Menschlichkeit,  der  Gedanke  der  Humanität  hervorgegangen.  Auf 
diesem  Wege  hat  sich  dann,  wie  wir  gezeigt  haben,  der  Gedanke  der 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl.  ^' 


322  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Menschenwürde  herausgebildet  und  damit  ist  ein  überaus 
bedeutsames  Moment  für  die  sittliche  Höherentwicklung  gegeben. 
Unser  verfeinertes  und  bereichertes  Gewissen  unterwirft  jetzt  auch  die 
t  landlungen  des  Staates  der  moralischen  Beurteilung  und  will  nicht 
mehr  dulden,  daß  die  sozialen  Imperative  mit  den  Forderungen  der 
Menschenwürde  in  Widerspruch  geraten.  Der  Staat  kann  sich  diesen 
gesteigerten  sittlichen  Forderungen  nicht  auf  die  Dauer  entziehen, 
er  wird  sich  vielmehr  selbst  zum  Organ  derselben  machen  müssen 
und  seine  Aufgabe  darin  erblicken,  im  Verhältnis  zu  seinen  Bürgern 
und  in  den  Beziehungen  zu  anderen  Staaten  für  die  Wahrung  der 
Menschenwürde  einzutreten. 

Für  diese  neue  ethische  Aufgabe  des  Staates  habe  ich  in  meinem 
Buche  „Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre"  den  Begriff  und 
das  Wort  der  Sta?tenwürde  geprägt  und  darzutun  versucht, 
daß  diese  Forderung  mit  geschichtlicher  Notwendigkeit  aus  der  Idee 
der  Menschenwürde  hervorgeht*).  Dadurch,  daß  die  Bürger  in  immer 
weiterem  Umfang  an  der  Leitung  und  Verwaltung  teilnehmen  und 
sich  infolgedessen  für  die  Handlungen  ihres  Staates  mitverantwortlich 
fühlen,  wächst  der  Staat  in  die  Tiefe  und  bildet  sich  allmählich  zu 
einer  Art  von  Persönlichkeit  höherer  Ordnung  aus.  Mit  dem 
Begriffe  der  Persönlichkeit  ist  aber,  wie  uns  Kant  gezeigt  hat,  das 
Bewußtsein  der  eigenen  Würde  und  der  daraus  sich  ergebenden  sitt- 
lichen Forderungen  unzertrennlich  verknüpft.  Nun  ist  das  Bewußt- 
sein der  Menschenwürde  aus  der  individualistischen  Entwicklungs- 
tendenz dadurch  hervorgegangen,  daß  diese  zum  Universalismus 
geführt  und  so  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen 
linheit  gezeitigt  hat.  Wenn  nun  der  Staat  so  weit  in  die  Tiefe  ge- 
wachsen ist,  daß  er  sich  zu  einer  innerlich  geschlossenen  einheitlichen 
Persönlichkeit  ausgestaltet  hat,  die  sich  nicht  bloß  ihrer  Macht, 
sondern  vor  allem  ihrer  eigenen  Würde  bewußt  geworden  ist, 
so  tritt  er  dadurch  in  neue,  vorher  nicht  deutlich  genug  vorgestellte 
Beziehungen  zur  Idee  der  ganzen  Menschheit  und  der  daraus  sich 
ergebenden  sittlichen  Verbindlichkeiten.  In  diese  Beziehungen  zwischen 
Staat  und  Nation  auf  der  einen  und  der  ganzen  Menschheit  auf  der 
-mderen  Seite  vermag  die  soziologische  Betrachtungsweise  tief  hinein- 
zuleuchten. Erst  aus  der  deutlichen  Erkenntnis  dieser  Beziehungen 
ergibt  sich  die  volle  Klarheit  über  die  ethischen  Aufgaben 
des  Staates  und  über  das  Wesen  der  Staatenwürde. 

Der  Staat  ist  für  jeden  einzelnen  seiner  Bürger  Lebensbedingung 
und  sollte  deshalb  auch  von  jedem  als  Lebensbedürfnis  erkannt  werden. 
Der  staatlose  Mensch  ist,  wie  Aristoteles  gesagt  hat,  ein  Tier  oder  ein 
Gott.  Da  wir  nun  weder  zu  Tieren  herabsinken  wollen,  noch  auch 
imstande  sind,  Götter  aus  uns  zu  machen,  so  können  wir  die  staatliche 
Gemeinschaft  nicht  entbehren.  „Der  Mensch",  sagt  Schiller,  „bedarf 
des  Menschen  sehr  zu  seinem  großen  Ziele."  Nur  im  Staate  kann  der 

*)  Vgl.  Jerusalem.  „Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre",  1915, 
S.  14  f.  und  S.  85  ff.  Dazu  auch  meine  Schrift:  „Moralische  Richtlinien  nach 
dem  Kriege",  1918,  S.  45  und  55. 


§  50.  Soziologische  Ethik  323 

Einzelne  seine  geistigen  Gaben   entfalten    und   dazu  gelangen,    wie 
Nietzsche  es  ausdrückt,  etwas  über  sich  hinaus  zu  schaffen. 

Der  Staat  muß  nun,  um  seinen  Bestand  zu  sichern,  an  seine 
Bürger  eine  Anzahl  von  Forderungen  stellen,  die  als  soziale 
Imperative  gelten  und  für  jeden  verbindlich  sind.  Je  mehr  nun  der 
Staat  in  die  Tiefe  wächst,  desto  stärker  dringen  die  sozialen  Imperative 
ein  in  das  Bewußtsein  jedes  einzelnen  Bürgers  und  werden  dadurch, 
wie  wir  bereits  wiederholt  gezeigt  haben,  zu  sittlichen  Pflichten.  Der 
Staat  ist  somit  schon  an  der  Entstehung  des  für  die  Ethik  so  grund- 
legenden Pflichtbegriffes  beteiligt  und  erscheint  damit  —  entgegen 
der  allgemeinen  Auffassung  —  von  allem  Anfang  an  als  Faktor 
der  sittlichen  Entwicklung.  Piaton  und  Aristoteles  haben  das  bereits 
gewußt  und  deshalb  steht  bei  ihnen  Politik  und  Ethik  in  so  innigem 
Zusammenhang.  Wenn  in  der  neueren  Zeit  die  Staatsmänner  und  die 
politischen  Theoretiker  von  einer  sittlichen  Aufgabe  des  Staates  nichts 
wissen  wollen,  so  verkennen  sie  sowohl  den  sozialen  Ursprung  aller 
sittlichen  Verpflichtung  als  auch  die  Rolle  des  Staates  im  Zusammen- 
leben der  Menschen.  Tatsächlich  hat  sich  der  Staat  in  den  meisten 
Kulturländern  zum  wichtigsten  Mandatar  der  Gesellschaft  entwickelt, 
und  wir  gehen  gewiß  nicht  fehl,  wenn  wir  die  sozialen  Imperative, 
denen  die  Menschen  heute  unterworfen  sind,  kurz  als  Staats- 
gebote bezeichnen.  Diese  Staatsgebote  werden  nun  im  Bewußtsein 
der  Bürger  zu  sittlichen  Pflichten  und  erhalten  dadurch  ganz  zweifellos 
ein  moralisches  Gepräge.  Man  hat  das  in  neuerer  Zeit  wiederholt  ge- 
leugnet. Indem  man  zwischen  Legalität  und  M  o  r  a  1  i  t  ä  t  einen 
tiefgreifenden  Unterschied  machte,  wollte  man  sagen,  daß  der  bloße 
Gehorsam  gegen  die  Staatsgesetze  noch  kein  Beweis  moralischer 
Gesinnung  sei.  Das  mag  ja  in  einzelnen  Fällen  richtig  sein,  aber 
trotzdem  darf  man  der  treuen  Erfüllung  der  Bürgerpflichten  nicht 
ihren  hohen  moralischen  Wert  absprechen.  Wer  die  sittliche  Ver- 
wilderung betrachtet,  die  wir  als  eine  der  traurigsten  Folgen  des 
Weltkrieges  immer  mehr  um  sich  greifen  sehen,  der  wird  bald  zur 
Einsicht  gelangen,  daß  die  freiwillige  Unterwerfung  unter  die  Staats- 
gebote eine  moralisch  hohe,  bedeutsame  Tat  sei. 

Mit  der  Erfüllung  der  Bürgerpflichten  ist  nun  allerdings  die 
sittliche  Aufgabe  des  Menschen  keineswegs  erschöpft  und  vollendet. 
Wir  wissen  bereits,  daß  das  allmählich  erstarkende  Bewußtsein  der 
Menschenwürde  nicht  nur  neue  und  höhere  Forderungen  zeitigt, 
sondern  auch  dazu  führt,  die  Staatsgebote  selbst  einer  erneuten  Prüfung 
zu  unterziehen  und  daraufhin  zu  untersuchen,  ob  sie  mit  den  neu  ent- 
standenen Forderungen  in   Einklang  gebracht  werden  können. 

Wir  müssen  nun  hier  eine  Frage  aufwerfen,  die  wir  bisher 
noch  nicht  gestellt  haben.  In  wessen  Namen  werden  die  Forderungen 
der  Menschenwürde  erhoben?  Wer  verlangt  von  uns,  daß  wir  un- 
bedingte Wahrhaftigkeit  üben  und  jede  Lüge  als  Beeinträchtigung 
und  Herabsetzung  empfinden?  Wer  gebietet  uns,  jeden  einzelnen 
Menschen  als  Selbstzweck  anzusehen  und  ihn  niemals  bloß  als  Mittel 
zu  brauchen?  Wir  haben  oben  gesagt,  das  seien  Forderungen,  die  dei 
sittlich  gereifte  Mensch,  der  sich  zum  Bewußtsein  der  Menschenwürde 

21* 


324  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

emporgearbeitet  hat,  an  sich  selbst  stellt.  Wir  bezeichneten  deshalb 
die  Menschenwürde  als  sittliche  Autonomie  und  innere  Souveränität. 
Bei  dieser  Antwort  beruhigen  sich  die  apriorisch  gerichteten  Denker. 
Sie  halten  diese  Auffassung  für  die  endgültige  Lösung,  weil  sie  an 
eine  zeitlose,  an  eine  ewige,  von  allem  Anfang  an  vorhandene  ethische 
Struktur  der  menschlichen  Vernunft  und  des  menschlichen  Willens 
giaubeu.  Solche  Annahmen  vermag  aber  der  soziologisch  orientierte 
Denker  nicht  gelten  zu  lassen,  weil  er  die  darin  liegende  latente  Meta- 
physik klar  erkennt.  Er  betrachtet  also  die  sittliche  Autonomie,  die 
das  Bewußtsein  der  Menschenwürde  mit  sich  bringt,  als  etwas  Ge- 
wordenes, als  ein  Entwicklungsprodukt,  und  fragt  sich,  worin  das 
verfeinerte  Gewissen  die  Gewähr  für  seine  innere  Souveränität  zu 
linden  vermag.  Die  Antwort  ist  in  unseren  soziologischen  Grund- 
einsichten  bereits  gegeben. 

Das  Bewußtsein  der  Menschenwürde  ist  aus  der  Idee  der  ganzen 
Menschheit  als  einer  großen  Einheit  hervorgegangen  und  wird  von 
dieser  Idee  getragen.  Aus  der  Menschheitsidee  hat  sich  aber  wiederum 
der  Gedanke  der  allgemeinen  Menschlichkeit,  der  Gedanke  der  H  u- 
m  a  n  i  t  ä  t  herausentwickelt,  der  uns  gebietet,  in  jedem  Menschen 
das  echt  Menschliche  als  vorhanden  vorauszusetzen  und  ihn  als  Träger 
der  Menschheitsidee  zu  achten  und  zu  lieben.  Die  Forderungen  der 
Humanität  werden  also  immer  im  Namen  der  ganzen 
Menschheit  erhoben,  und  erst  das  gibt  ihnen  die  innere  Weihe 
und  die  bindende  Kraft.  Wir  dürfen  also  die  sittlichen  Forderungen, 
die  sich  aus  dem  erstarkten  Bewußtsein  der  Menschenwürde  ergeben, 
als  Menschheitsgebote  bezeichnen  und  haben  nun  zu  fragen, 
wie  diese  neuen  Imperative  mit  den  Staatsgeboten  in  Wechselwirkung 
treten. 

Es  liegt  im  Wesen  dieser  beiden  Arten  von  sittlichen  Forderungen 
und  es  wird  auch  von  der  Geschichte  bestätigt,  daß  Konflikte  zwischen 
Staatsgeboten  und  Menschheitsgeboten  entstehen.  Große  Dichter  haben 
uns  wiederholt  solche  Konflikte  geschildert  und  das  tägliche  Leben 
bringt  sie  weit  öfter,  als  wir  uns  dessen  bewußt  werden,  an  uns  heran. 
Sophokles  führt  uns  in  der  „Antigone"  in  klassischer  Durchsichtigkeit 
und  Klarheit,  aber  auch  mit  durchschlagender  Kraft  die  Auflehnung 
der  liebevollen  Schwester  gegen  das  grausame,  aber  vom  Standpunkt 
«ies  Staates  doch  auch  berechtigte  Verbot  des  Herrschers,  ihren  Bruder 
zu  bestatten,  vor.  In  ewig  denkwürdigen  Versen  beruft  sich  Antigone 
auf  das  ungeschriebene,  ewige,  von  den  Göttern  geheiligte  Gesetz, 
das  kein  Sterblicher  verletzen  darf.  Sie  muß  für  ihre  Tat  den  Tod 
erleiden,  aber  ihr  Grundsatz  bleibt  doch  siegreich.  Das  Menschheits- 
gebot ist  hier,  wie  so  oft,  mit  religiösen  Vorstellungen  verknüpft  und 
erscheint  dadurch  in  eine  höhere  Sphäre  gehoben.  Zugleich  aber  ist 
Antigone  die  selbständige,  die  starke,  die  eigenkräftige  Persönlichkeit, 
die  sich  zur  Trägerin  des  allgemein  menschlichen  Grundsatzes  macht: 
„Nicht  mitzuhassen,  mitzulieben   hat  mich   Natur  bestimmt." 

Mit  vollendeter  Meisterschaft  hat  uns  Shakespeare  im  „Kaufmann 
von  Venedig"  den  Widerstreit  des  menschlichen  Gefühles  gegen  ein 
grausames  Gesetz  des  Staates  vorgeführt.  Das  geltende  Recht  Venedigs 


§  50.  Soziologische  Ethik  325 

gibt  Shylock  die  Befugnis,  auf  seinem  Schein  zu  bestehen.  Die  Richter, 
die  an  das  geltende  positive  Recht  gebunden  sind,  müßten  ihm  ge- 
statten, ein  Pfund  Fleisch  aus  Antonios  Körper  herauszuschneiden. 
Porzias  Einwendungen  sind,  juristisch  betrachtet,  nichts  anderes  als 
Spitzfindigkeiten  und  Sophistereien.  Da  aber  das  formelle  Unrecht, 
für  das  sie  plädiert,  in  unseren  Augen  das  wahre,  von  der  Menschlich- 
keit geforderte  Recht  ist,  so  freuen  wir  uns  über  ihren  Erfolg  und 
sind  dabei  zugleich  Zeugen  eines  historischen  Prozesses,  durch 
den  ein  Gesetz,  das  dem  höher  entwickelten  Rechtsgefühl  nicht  mehr 
entspricht,  außer  Kraft  gesetzt  wird. 

Solche  Konflikte  zwischen  Staatsgeboten  und  Menschheitsgeboten 
bringt,  wie  gesagt,  das  Leben  fast  täglich  an  uns  heran.  In  der  Regei 
erweisen  sich  nun  freilich  die  Staatsgebote  als  die  ursprüng- 
licheren und  auch  als  die  stärkeren,  weil  die  Macht  und  Autorität 
des  Staates  hinter  ihnen  steht.  Das  kommt  uns  mit  besonderer 
Deutlichkeit  im  Kriege  zum  Bewußtsein  und  so  ist  dieser  Widerstreit 
während  der  großen  Weltkatastrophe  von  vielen  Millionen  Menschen 
mit  erschütternder  Wirklichkeit  durchlebt  worden.  Die  Menschheits- 
gebote verbieten  uns,  das  Leben,  das  Eigentum,  die  Freiheit  und  die 
Ehre  unseres  Nebenmenschen  zu  verletzen,  und  in  Friedenszeiten 
machen  alle  Staaten  diese  Forderungen  zu  sozialen  Imperativen,  deren 
Befolgung  sie  auch  fähig  und  bereit  sind,  zu  erzwingen.  Im  Kriege 
hingegen  gebietet  mir  der  Staat  in  bezug  auf  die  Feinde  das  gerade 
Gegenteil.  Ich  muß  alle  meine  physischen  und  geistigen  Kräfte  ein- 
setzen, um  die  Feinde  zu  töten,  sie  ihrer  Freiheit  zu  berauben,  sie  zu 
schädigen  und  zu  überlisten. 

Die  geschichtliche  Entwicklung  hat  bisher  nicht  vermocht,  den 
schreienden  Widerstreit  von  Kriegsmoral  und  Friedens- 
moral aus  der  Welt  zu  schaffen.  Die  letzten  Jahrzehnte  haben  uns 
sogar  eine  starke  Steigerung  der  kriegerischen  Bestrebungen  gebracht. 
Das  gewaltige  Wettrüsten  hat  einen  gefährlichen  Zündstoff  angehäuft. 
Die  Auffassung  des  Staates  als  bloßer  Machtorganisation  ist  auch 
von  Männern  der  Wissenschaft  energisch  verfochten  worden.  Der 
kriegerische  Geist,  ein  Erbe  aus  den  Urzeiten  des  Menschengeschlechtes, 
ist  vielfach  mit  vollem  Bewußtsein  gepflegt  worden,  indem  man  die 
Bewunderung  für  die  Heldentaten  in  den  Kriegen  schon  den  Kindern 
tief  in  die  Seelen  pflanzte.  Der  nationale  Chauvinismus,  der  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  immer  weitere  Kreise  ergriff,  hat  den  Antagonis- 
mus zwischen  den  Staaten  und  Völkern  zweifellos  stark  verschärft. 
Dazu  kamen  noch  sehr  wirksame  wirtschaftliche  Motive.  Für  eine 
ganze  Reihe  von  Industrieunternehmungen  ist  die  stete  Kriegsbereit- 
schaft mit  ihren  immer  wachsenden  Anforderungen  eine  Quelle  großer 
Reichtümer  geworden.  Die  Inhaber  dieser  Betriebe  gewannen  durch 
ihre  große  Kapitalskraft  Einfluß  auf  die  Leitung  der  Staaten  und  so 
wurde  dadurch  die  Einstellung  auf  den  Krieg  verstärkt. 

Durch  das  Zusammenwirken  aller  dieser  Umstände  ist  die  furcht- 
bare Weltkatastrophe  über  uns  hereingebrochen,  unter  deren  Folgen 
Sieger  und  Besiegte  jahrzehntelang  zu  leiden  haben  werden.  Der  Welt- 
krieg hat  aber  nicht  nur  Millionen  von  Menschen  das  Leben  oder  die 


326  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Gesundheit  zerstört,  er  hat  nicht  nur  ungeheure  wirtschaftliche  und 
künstlerische  Werte  vernichtet,  sondern  er  hat  auch  in  moralischer 
Hinsicht  geradezu  verheerend  gewirkt.  Kant  zitiert  in  seiner  Schrift 
„Zum  ewigen  Frieden"  das  Wort  eines  alten  Griechen:  „Der  Krieg 
ist  darin  schlimm,  daß  er  mehr  böse  Leute  macht,  als  er  deren  weg- 
nimmt." (VI,  432,  Hartensteinsche  Ausgabe.)  Die  traurige  Wahrheit 
dieses  Ausspruches  kommt  uns  immer  deutlicher  zum  Bewußtsein, 
wenn  wir  die  sittliche  Verwilderung  sehen,  die  der  Weltkrieg  hervor- 
gerufen hat.  Da  müssen  denn  alle  diejenigen,  denen  die  sittliche 
Höherentwicklung  der  Menschheit  am  Herzen  liegt,  nicht  nur  hoffen 
und  wünschen,  sondern  mit  allen  Kräften  daran  arbeiten,  daß  neben 
dem  wirtschaftlichen,  politischen  und  sozialen  auch  der  sittliche  Wieder- 
aufbau möglichst  rasch  und  mit  möglichst  großer  Energie  in  die  Wege 
geleitet  werde. 

Die  soziologische  Ethik  vermag  die  Richtlinien  zu  ziehen,  in 
denen  sich  diese  wiederaufbauende  Arbeit  wird  bewegen  müssen.  Die 
Staaten  und  Völker  dürfen  die  Entscheidung  über  ihre  wichtigsten 
Existenzfragen  nicht  mehr  einzelnen  Machthabern  überlassen,  sondern 
müssen  in  fortschreitender  Demokratisierung  ihre  Geschicke  selbst 
in  die  Hand  nehmen.  Nicht  bloß  durch  die  gewählten  Vertreter, 
sondern  bei  besonders  wichtigen  Anlässen  auch  durch  Volksabstim- 
mungen müssen  die  Bürger  den  Gesamtwillen  des  Staates  und  Volkes 
klar  und  deutlich  zum  Ausdruck  bringen.  Durch  eine  solche  Demo- 
kratisierung, mit  der  vielfach  auch  eine  Sozialisierung  des  Wirtschafts- 
lebens Hand  in  Hand  gehen  wird,  muß  das  Verantwortungsgefühl 
besonders  der  zur  Leitung  Berufenen  sich  vertiefen.  Daraus  aber  muß 
sich  allmählich  das  Bewußtsein  der  Staatenwürde  und  aer 
V  ö  1  k  e  r  w  ü  r  d  e  entwickeln,  und  die  aus  dieser  sich  ergebenden 
sittlichen  Forderungen  werden  dann  allgemeine  Anerkennung  finden. 
Dadurch  werden  zunächst  die  Beziehungen  der  Staaten  untereinander 
auf  eine  ganz  neue  Grundlage  gestellt.  Interessenkonflikte  können  sich 
ja  auch  zwischen  demokratisch  regierten  Staaten  ergeben,  aber  kein 
Staatsmann  wird  es  dann  so  leicht  wagen,  mit  Krieg  zu  drohen  und 
an  die  Waffen  zu  appellieren.  Die  Völker  werden  sich  nicht  selbst 
/ur  Schlachtbank  drängen,  sondern  den  Rechtsweg  betreten,  der  ja 
durch  das  Schiedsgericht  im  Haag  und  die  zahlreichen  Schiedsgerichts- 
verträge bereits  hinreichend  gebahnt  ist. 

Aber  auch  die  Beziehungen  des  Staates  zu  seinen  Bürgern  und 
der  Bürger  zum  Staate  müssen  durch  Erstarkung  des  Bewußtseins 
der  S  t  a  a  t  e  n  w  ü  r  d  e  bedeutsame  Wandlungen  erfahren.  Die  Lenker 
des  Gemeinwesens  müssen  zwar  die  Beachtung  der  sozialen  Imperative 
fordern  und  auf  die  Einhaltung  der  Staatsgebote  mit  aller  Strenge 
dringen,  aber  sie  müssen  zugleich  immer  darauf  bedacht  sein,  daß 
die  sozialen  Imperative  nichts  enthalten,  was  die  Menschenwürde 
verletzt,  und  daß  die  Staatsgebote  mit  den  Menschheits- 
geboten in  keinen  zu  argen  Konflikt  kommen.  In  der  Steuergesetz- 
gebung, in  der  Rechtspflege  und  in  der  ganzen  Verwaltung  müssen 
diese  Grundsätze  maßgebend  sein.  Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit 
ist  es  jedoch,  daß  in  diesem  Sinne  die  Erziehung  der  jugend 


§  50.  Soziologische  Ethik  327 

geleitet  werde.  Der  heranwachsenden  Generation  müssen  neue  Ideale 
in  die  Seele  gepflanzt  werden.  Das  Gefühl  der  Zugehörigkeit  zum 
Staat,  der  Opferwilligkeit  für  den  Staat  und  der  daraus  sich  ergebenden 
Pflichten  der  Einordnung  und  Unterordnung  muß  sorgfältig  gepflegt 
und  nach  den  besten  Methoden  kräftig  entwickelt  werden.  Zugleich 
aber  muß  schon  bei  der  Jugend  das  Bewußtsein  der  Menschen- 
würde geweckt  und  das  Verständnis  für  die  daraus  sich  ergebenden 
höheren  sittlichen  Forderungen  allmählich  entfaltet  werden*).  Der 
heranwachsenden  Generation  soll  nicht  nur  die  Überzeugung  bei- 
gebracht werden,  daß  jeder  sich  dem  Staate  einordnen  muß,  sondern 
auch  die  Verpflichtung,  an  den  Einrichtungen  des  Staates  selbst  mit- 
zuarbeiten und  sich  für  seinen  Staat  mitverantwortlich  zu  fühlen. 

Der  künftige  Staat  wird  sich  somit  als  ein  Organ  der  sittlichen 
Höherentwicklung  betrachten  müssen  und  keineswegs  das  Recht  haben, 
wie  es  die  Machtpolitiker  behaupten,  das  Moralische  aus  seinem 
Wirkungskreise  auszuschalten.  Er  wird  für  seine  Bürger  die  Macht 
und  die  Autorität  bleiben,  von  der  die  sozialen  Imperative  ausgehen, 
und  er  wird  dafür  sorgen,  daß  diese  Imperative  tief  in  die  Seelen  ein- 
dringen und  so  zu  sittlichen  Pflichten  werden.  Der  demokratische  Staat 
der  Zukunft  wird  aber  auch  jedem  einzelnen  seiner  Bürger  die  freieste 
Entfaltung  und  Betätigung  seiner  Anlagen  und  Fähigkeiten  gewähr- 
leisten und  es  so  möglich  machen,  daß  das  Bewußtsein  der  M  e  n- 
schenwürde  sich  recht  befestige  und  vertiefe. 

In  diesem  Bewußtsein  ruht  aber  der  eigentliche  moralische  Wert 
jedes  Menschen  und  darin  liegt  zugleich  der  Antrieb  zur  steten 
Höherentwicklung.  Die  Menschenwürde  verlangt  von  jedem  Einzelnen 
unbedingte  Wahrhaftigkeit,  weil  jede  Lüge  eine  Verleugnung  unseres 
besseren  Selbst  ist.  Wenn  es  trotzdem  soziale  Imperative  gibt,  die  das 
Opfer  der  Lüge  verlangen,  so  bewirkt  das  Bewußtsein  der  Menschen- 
würde, daß  wir  jede  Lüge  als  ein  Opfer  empfinden,  und  erfüllt  uns 
mit  dem  Streben,  solche  Einrichtungen,  die  zur  Lüge  verleiten,  nach 
Kräften  umzugestalten  und  überflüssig  zu  machen.  Die  Menschen- 
würde verlangt  Gerechtigkeit  nicht  nur  innerhalb  des  Staates,  sondern 
auch  zwischen  den  Staaten  und  Völkern.  Die  Menschenwürde  gebietet 
Duldsamkeit,  denn  es  liegt  in  ihrem  Wesen,  die  Eigenart  eines  jeden 
und  seine  tiefgegründeten  Überzeugungen  zu  achten.  Die  Menschen- 
würde ist  schließlich  auch  die  Quelle,  aus  der  die  wahre  und  wirksame 
Menschenliebe  fließt.  Ich  meine  damit  nicht  die  schwärmerische 
Liebe,  die  die  Millionen  umschlingen  will,  sondern  die  verständnis- 
innige, auf  tiefer  Einsicht  in  die  Seele  des  Mitmenschen  ruhende,  nicht 
leidenschaftliche,  aber  eben  darum  dauernde  Menschenliebe,  die  die 
Menschen  wirklich  einander  näher  bringt. 

Das  Bewußtsein  der  Menschenwürde  ist  ein  Produkt  der 
individualistischen  Entwicklungstendenz,  die  zum  Universalismus 
geführt  und  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit 
geschaffen  hat.    Aus  dieser  Idee  ist  wiederum  die  Forderung  der  all- 


*)  Vgl.  dazu  Jerusalem,   „Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren  Schulen", 
1912,  S.  290  ff. 


J28  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

gemeinen  Menschlichkeit,  der  Gedanke  der  Humanität  hervorgegangen. 
den  die  vornehmsten  üeister  aller  Zeiten  als  allgemein  verbindliche 
sittliche  Forderung  hingestellt  und  uns  in  die  Seele  gepflanzt  haben. 
Diesen  Zusammenhang  zwischen  Mensch  und  Menschheit,  zwischen 
dem  Bewußtsein  vom  Eigenwert  jedes  einzelnen  Menschen  und  der 
ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit,  kurz  den  Zusammenhang 
zwischen  Individualismus  und  Universalismus  darf  man  keinen  Augen- 
blick außer  acht  lassen,  wenn  man  die  sittliche  Entwicklung  der 
Menschheit  verstehen  und  ihre  Ziele  erfassen  will. 

Der  individualistische  Ursprung  des  Humanitätsgedankens  hat 
nicht  selten  eine  Auflehnung  einzelner  von  den  Forderungen  der  all- 
gemeinen Menschlichkeit  tief  durchdrungener  Persönlichkeiten  gegen 
eleu  Staat  zur  Folge  gehabt,  gegen  den  Staat,  der  sich  lediglich  als 
Machtorganisation  betrachtet  und  die  Freiheit  der  Bürger  einschränkt. 
So  hat  Wilhelm  v.  Humboldt,  in  dessen  Person  uns  die  Synthese  von 
Individualismus  und  Universalismus  vielleicht  am  lebendigsten  ent- 
gegentritt, seine  schriftstellerische  Tätigkeit  mit  einem  Versuche  be- 
gonnen, die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staates  zu  bestimmen.  Er 
ist  im  Alter  von  25  Jahren  aus  dem  Staatsdienst  getreten  und  dieser 
Austritt  war,  wie  Spranger  treffend  bemerkt,  sein  erstes  Bekenntnis 
zur  Humanität.  Sein  innerstes  Streben  ist  auf  Selbstbildung  gerichtet. 
„Den  Weg  zu  suchen,  der  mich,  nur  mich  zum  höchsten  Ziele  führte, 
schien  mir  meine  Bestimmung."    Schillers  bekanntes  Distichon : 

Zur  Nation  euch  zu  bilden,  ihr  sucht  es,  Deutsche,  vergebens. 
Bildet,  ihr  könnt  es,  dafür  freier  zu  Menschen  euch  aus, 

ist  von  einer  ähnlichen  Tendenz  getragen.  Herbert  Spencer  hat  in 
seiner  Schrift  „Man  versus  state"  (Das  Individuum  gegen  den  Staat) 
gegen  jede  Einmischung  des  Staates  in  die  wirtschaftliche  und  in  die 
kulturelle  Freiheit  des  Einzelnen  Protest  erhoben.  Schon  lange  vor  ihm 
hatte  John  Stuart  Mill  in  seiner  Schrift  „On  liberty"  (Über  Freiheit) 
sich  in  ähnlicher  Weise  ausgesprochen  und  hatte  darin  auch  den 
Einfluß  der  öffentlichen  Meinung  und  der  Tradition  als  freiheits- 
feindlich bezeichnet. 

Alle  diese  Bestrebungen  selbständiger  und  vornehmer  Geister 
nach  unbedingter  „Freiheit  vom  Staate"  erweisen  sich  aber  nicht  nur 
als  ganz  undurchführbar,  sondern  führen  auch,  konsequent  zu  Ende 
gedacht,  zu  sehr  bedenklichen  Folgen.  Tatsächlich  kann  der  Mensch 
nur  in  der  staatlichen  Gemeinschaft  wirklich  leben  und  nur  da  seine 
Anlagen  entfalten.  Die  egoistischen  Triebe  sind  aber  bei  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  so  stark,  daß  eine  staatliche  Bindung  noch 
auf  lange  Zeit  hinaus  nicht  wird  entbehrt  werden  können,  wenn  das 
/u>ammenleben  nicht  ernstlich  gefährdet  werden  soll.  Wir  brauchen 
also  den  Staat  mit  seinen  sozialen  Imperativen  und  müssen  auch 
weiter  dahin  wirken,  daß  diese  sozialen  Imperative  im  Bewußtsein 
der  Staatsbürger  zu  sittlichen   Pflichten  werden. 

Die  geschichtliche  Entwicklung  hat  es  aber  mit  sich  gebracht, 
daß  das  allmählich  erstarkende  Bewußtsein  der  Menschenwürde 


§  50.  Soziologische  Ethik  32Q 

auf  die  Gesetzgebung  der  Staaten  Einfluß  gewonnen  und  dadurch 
zugleich  den  Wirkungskreis  des  Staates  im  Sinne  der  Humanität 
wesentlich  erweitert  hat.  Wir  dürfen  deshalb  mit  Bestimmtheit  er- 
warten, daß  die  Entwicklung  sich  in  derselben  Richtung  weiter 
bewegen  wird.  Die  Staaten  werden  sich  darauf  einrichten  müssen, 
daß  sie  auch  den  gesteigerten  ethischen  Bedürfnissen  ihrer  Bürger 
Rechnung  tragen  und  bei  der  Formulierung  ihrer  sozialen  Imperative 
streng  darauf  achten,  daß  die  Staatsgebote  mit  den  Mensch- 
heitsgeboten nicht  in  Widerspruch  geraten.  Schließlich  muß  es 
dazu  kommen,  daß  die  Staaten  die  Menschheitsgebote  selbst  in  ihre 
sozialen  Imperative  aufnehmen  und  ihnen  dadurch  eine  stärkere  Ver- 
bindlichkeit verschaffen.  Dazu  können  aber  die  Staaten  nur  dadurch 
gelangen,  daß  sie  sich  selbst  mit  dem  Bewußtsein  der  Menschenwürde 
durchdringen  oder,  was  dasselbe  sagen  will,  in  sich  und  besonders 
in  ihren  Lenkern  das  Bewußtsein  der  Staaten-  und  Völker- 
würde entwickeln  und  die  daraus  sich  ergebenden  sittlichen  For- 
derungen voll  anerkennen.  Dann  dürfen  sie  sich  aber  nicht  mehr  als 
absolut  souveräne  Machtorganisationen  betrachten,  die  sich  selbst 
Zweck  sind.  Sie  müssen  sich  vielmehr  als  Träger  der  Mensch- 
heit s  i  d  e  e  ansehen  lernen,  zu  deren  Verwirklichung  beizutragen 
ihre  höchste  Bestimmung  ist.  Indem  also  die  Staaten  die  individua- 
listische Entwicklungstendenz  und  die  Menschenwürde  als  berechtigte 
Forderung  anerkennen,  kommen  sie  aus  ihrem  Staatsegoismus  und 
Staatsindividualismus  heraus  und  gelangen  selbst  zu  einem  neuen 
Universalismus,  der  jetzt  aber  nicht  mehr  bloß  zum  Welt- 
bürgertum, sondern  darüber  hinaus  zur  Organisation 
der    Menschheit   führt. 

Dieses  hohe  Ziel  der  sittlichen  Entwicklung  kann  nur  durch  die 
Staaten  und  Völker,  die  sich  zu  einer  Art  von  Persönlichkeiten  höherer 
Ordnung  ausgestalten,  der  Verwirklichung  nähergebracht  werden. 
Piaton  und  Aristoteles  haben  den  Staat  als  eine  „moralische  Anstalt" 
betrachtet  und  ihm  die  Verwirklichung  der  Gerechtigkeit  als  Ziel 
gesetzt.  Zu  dieser  hohen  Auffassung  müssen  wir  uns  wieder  auf- 
schwingen, und  jeder  Einzelne  kann  dazu  beitragen,  wenn  er  in 
seiner  politischen  Betätigung  immer  darauf  hinarbeitet,  daß  nur 
solche  Männer  mit  der  Leitung  des  Gemeinwesens  betraut  werden, 
die  von  den  ethischen  Aufgaben  des  Staates  tief  durchdrungen  sind. 
Gelingt  es  auf  diesem  Wege,  das  Bewußtsein  der  Staaten-  und  Völker- 
würde in  der  Seele  der  Staatenlenker  zu  stärken,  zu  vertiefen  und 
allgemein  zu  machen,  dann  werden  sich  alle  Nationen  der  Erde 
wirklich  zu  einem  Staaten-  und  Völkerbund  vereinen,  der 
den  Krieg  und  die  Kriegsbereitschaft  aus  dem  Völkerleben  ganz  aus- 
schaltet und  der  sittlichen  Halbheit  ein  Ende  macht,  die  durch  den 
tatsächlich  bestehenden  Kompromiß  zwischen  Kriegsmoral  und 
Friedensmoral  einen  ständigen  Widerstreit  und  eine  bisher  unlösbare 
Antinomie  des  sittlichen  Bewußtseins  geschaffen  hat.  Die  Zeit  muß 
kommen,  die  von  den  Propheten  des  Alten  Bundes  verkündet  wurde, 
die  Zeit',  „wo  kein  Volk  gegen  das  andere  das  Schwert  erhebt,  und 
wo  man' den  Krieg  nicht  mehr  lernt"  (Jes.  2,  4,  Micha  4,  4). 


330  Soziologie  und  üeschichtsphilosophie 

Der  Weltkrieg  scheint  den  Gedanken  einer  friedlichen  Vereinigung 
aller  Staaten  und  Völker  der  Verwirklichung  nähergebracht  zu  haben. 
Wenn  auch  der  Völkerbund  bisher  noch  allzu  deutlich  die  Spuren  der 
Machtpolitik  an  sich  trägt,  so  ist  doch  gegründete  Hoffnung  vor- 
handen, daß  die  fortschreitende  Demokratisierung  auch  die  siegreichen 
Staaten  zur  Selbstbesinnung  veranlassen  und  ihnen  die  sittlichen 
Forderungen,  die  sich  aus  der  erschütternden  Weltkatastrophe  ergeben, 
immer  deutlicher  zum  Bewußtsein  bringen  wird.  Je  mehr  sich  die 
Staaten  als  Glieder  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit 
betrachten  lernen,  desto  klarer  werden  sie  einsehen,  daß  sie  durch 
Verwirklichung,  das  heißt  durch  Organisation  dieser  Einheit  ihre 
eigenen  Interessen  am  besten  zu  wahren  vermögen,  und  daß  sie  sich 
im  Rahmen  dieser  großen  Organisation  um  so  ungestörter  ihren 
eigenen    Kulturaufgaben  widmen  können. 

So  ist  denn  unsere  soziologische  Ethik  geeignet,  Vertrauen  zu 
den  Menschen  und  zur  Menschheit  in  unsere  Seele  zu  pflanzen. 
Wir  haben  gesehen,  wie  der  Mensch,  der  als  sozial  gebundenes 
Herdentier  begann,  sich  zur  Persönlichkeit  entwickelte  und  die  sozialen 
Imperative  zu  sittlichen  Pflichten  auszugestalten  vermochte.  Er  hat 
gelernt,  sich  dem  größeren  Ganzen,  das  ihn  stützt  und  erhält,  ein- 
zuordnen und  unterzuordnen  und  eben  dadurch  seine  Gaben  immer 
reicher  zu  entfalten.  Er  hat  sich  aber  auch  vom  Zwange  der  Staats- 
gewalt zu  befreien  verstanden  und  sich  als  einen  Teil  der  ganzen 
Menschheit  fühlen  gelernt.  Durch  den  inneren  Reichtum,  den  er  auf 
diesem  Wege  erworben,  durch  die  Selbständigkeit,  die  er  errungen, 
hat  er  sich  zum  Bewußtsein  der  Menschenwürde  erhoben  und 
verlangt  nun  von  dem  äußerlich  und  innerlich  größer  gewordenen 
Staat,  daß  er  ihm  dazu  helfe,  die  Forderungen  der  Menschenwürde, 
die  Menschheitsgebote,  für  alle  Menschen  und  für  alle 
Staaten  verbindlich  zu  machen  und  so  die  Idee  einer  einheitlichen, 
innerlich  verbundenen  großen  Menschheit  der  Verwirklichung  näher- 
zubringen. 

Auf  Grund  unserer  Darlegungen  wird  es  uns  nicht  schwer,  zu 
den  oben  angegebenen  Problemen  der  wissenschaftlichen  Ethik  Stellung 
/u  nehmen. 

In  bezug  auf  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  sittlichen  Bewußt- 
seins bekennen  wir  uns  mit  voller  Entschiedenheit  zum  sozio- 
logischen Evolution  ismus  und  lehnen  den  Apriorismus  ab. 
Unsere  Darstellung  hat  gezeigt,  daß  die  Frage  nach  der  Geltung 
der  ethischen  Normen  von  ihrer  tatsächlichen  Entstehung  und  Ent- 
wicklung keineswegs  losgelöst  werden  kann.  Wir  können  vielmehr 
den  Umfang  und  die  Stärke  ihrer  bindenden  Kraft  nur  mittels  der 
genetischen  und  soziologischen  Betrachtungsweise  erkennen  und 
würdigen.  Die  I  rhabenheit  und  die  Idealität  der  sittlichen  Forderungen 
wird  dadurch  keineswegs  herabgemindert,  sondern  im  Gegenteil 
gesteigert  und  erhöht.  Auf  Grund  der  aphoristischen  Annahme  einer 
ewigen,  zeitlosen  ethischen  Struktur  der  praktischen  Vernunft  erscheint 
der  Gegensatz  zwischen  dem,  was  die  Menschen  wirklich  tun,  und  dem, 
was  sie  nach  den   Forderungen  des  für  ewig  und  unbedingt  gültig 


§  50.  Soziologische  Ethik  33  \ 

erklärten  Sittengesetzes  tun  sollten,  ebenso  erschreckend  als  un- 
begreiflich. Auf  dem  Standpunkte  des  Evolutionismus  hingegen 
müssen  wir  der  Kraft  und  der  Leistung  des  Menschen,  der  sich  vom 
sozial  gebundenen  Herdentier,  das  blind  seinen  Instinkten  und  Trieben 
folgte,  zum  Bewußtsein  der  Menschenwürde  emporgearbeitet  hat,  die 
Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit  geschaffen  und 
daraus  die  Forderung  der  allgemeinen  Menschlichkeit,  den  Gedanken 
der  Humanität  herausentwickelt  hat,  die  höchste  Bewunderung  zollen. 

Als  Zweck  und  Ziel  der  sittlichen  Forderungen  betrachten 
die  antiken  Ethiker  und  mit  ihnen  viele  neuere  Denker  die  individuelle 
Glückseligkeit  und  bekennen  sich  demgemäß  zum  E  u  d  a  i- 
monismus.  Wir  haben  oben  (S.  2131)  auf  die  verschiedenen 
Formen  des  Eudaimonismus  hingewiesen  und  können  jetzt  sagen,  daß 
die  soziologische  Ethik  sich  bei  dieser  Zielsetzung  nicht  beruhigen  kann. 
Die  tatsächliche  Entwicklung  zeigt  uns  vielmehr,  daß  der  Mensch 
und  die  Menschheit  sich  immer  weitere  und  immer  höhere  Ziele  setzen. 
Das  allmählich  erstarkende  und  sich  vertiefende  Bewußtsein  der 
Menschenwürde  stellt  nicht  nur  dem  einzelnen  Menschen  immer  neue 
Aufgaben,  sondern  hat  auch  den  ethischen  Wirkungskreis  des  Staates 
wesentlich  erweitert.  Dieses  stete  Vorwärtsstreben,  das  mit  dem  Er- 
reichten nie  zufrieden  ist,  darf  man  wohl  als  ethischen  Idealismus 
im  eigentlichsten  Sinne  bezeichnen.  Gehört  es  doch  zum  Wesen  des 
Ideals,  daß  es  in  uns  den  Wunsch  weckt  und  den  Willen  anregt, 
ihm  immer  näher  und  näher  zu  kommen.  Die  soziologische  Ethik, 
die  den  Apriorismus  Kants  sich  nicht  anzueignen  vermag,  ist  mit 
dem  großen  Sittenlehrer  darin  einig,  daß  es  nicht  die  Bestimmung 
des  Menschen  sein  kann,  sich  beruhigt  auf  ein  Faulbett  zu  legen, 
sondern  auf  ein  höheres  Ziel  hinzuarbeiten  als  auf  wunschlose  Glück- 
seligkeit. Das  Bewußtsein  der  Menschenwürde,  das  von  der  Idee  der 
ganzen  Menschheit  als  einer  großen  Einheit  getragen  wird,  fordert 
von  uns,  daß  wir  nicht  ruhen,  bis  wir  diese  Einheit  zur  realen  Wirklich- 
keit, zu  einer  machtvollen  Organisation  ausgestaltet  und  die  daraus 
fließende  Forderung  der  Humanität  zur  allgemeinen  Anerkennung 
gebracht  haben. 

Was  nun  die  Motive  des  moralischen  Handelns  betrifft,  so 
haben  wir  bereits  oben  (S.  214  f.)  gezeigt,  daß  weder  der  Egoismus 
noch  der  Altruismus  den  objektiven  Tatsachen  gerecht  zu  werden 
vermag.  Als  wirkliches  und  wirksames  Motiv  haben  wir  die  fort- 
schreitende Gegenseitigkeit  bezeichnet,  für  die  wir  die  von 
Meynert  gefundene  Benennung  Mutualismus  vorschlugen.  Die 
soziologische  Ethik  lehrt  nun,  daß  dieser  Mutualismus  sich  sowohl 
zwischen  den  einzelnen  Menschen  untereinander  als  auch  in  dem 
Verhältnis  von  Staat  und  Individuum  und  schließlich  zwischen  den 
Staaten  herausbildet,  und  daß  in  der  Weiterentwicklung  und  Ver- 
tiefung dieser  mannigfachen  Gegenseitigkeiten  der  sittliche 
Fortschritt  besteht.  Wir  werden  also  sagen  dürfen,  daß  der  individuelle, 
der  soziale  und  schließlich  der  internationale  Mutualismus  als 
die  eigentlichen  Motive  des  moralischen  Handelns  anzusehen  sind, 
und  können  noch  hinzufügen,  daß  es  jetzt  nach  dem  Weltkriege  von 


312  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

besonderer  Wichtigkeit  ist,  den  internationalen  Mutualismus  mit  allen 
Kräften  zu  fördern. 

In  bezug  auf  die  Sanktion  der  ethischen  Normen,  das  heißt 
in  bezug  auf  die  Bestimmung  derjenigen  Macht  und  Autorität,  die 
diesen  Normen  ihre  bindende  Kraft  verleiht,  scheiden  sich  die  Ethiker 
in  Anhänger  der  Autonomie  und  in  Vertreter  der  H  e  t  e  r  o- 
n  o  m  i  e  (S.  215  f.).  Die  soziologische  Ethik  zeigt  uns  nun,  daß  keine 
der  beiden  Auffassungen  in  ih^er  starren  Einseitigkeit  dem  wahren 
Tatbestand  gerecht  zu  werden  vermag.  In  primitiven  Zeiten  treten 
die  sozialen  Imperative  der  Gruppe  zweifellos  dem  Einzelnen  als 
etwas  von  außen  Aufgezwungenes,  als  überpersönliche  Macht  und 
Autorität  gegenüber.  Wir  haben  aber  gesehen,  daß  diese  Imperative 
zu  sittlichen  Pflichten  erst  dann  sich  ausgestalten,  wenn  sie  tief  in 
die  Seelen  eingedrungen  sind  und  von  dem  Einzelnen  innerlich  an- 
erkannt werden.  Es  muß  also  zu  der  Fremdgesetzgebung,  die  von 
oben  und  von  außen  kommt  (Heteronomie),  die  von  innen  stammende 
Eigengesetzgebung  (Autonomie)  hinzutreten,  damit  die  Forderung 
sittlichen  Charakter  und  ethisch  bindende  Kraft  erhalte.  Solange  also 
die  Pflicht  als  das  einzige  Sittengebot  erscheint,  solange  müssen 
wir  zweifellos  immer  ein  Zusammenwirken  von  Autonomie  und  Hetero- 
nomie als  Bedingung  einer  wirksamen  Sanktion  konstatieren.  Das 
Bewußtsein  der  Menschenwürde  scheint  nun  allerdings  For- 
derungen zu  zeitigen,  deren  Quelle  und  bindende  Kraft  ausschließlich 
in  unserem  eigenen  Gewissen  zu  suchen  ist.  Man  könnte  demnach 
vielleicht  sagen,  daß  der  Mensch  sich  erst  langsam  und  allmählich 
zur  sittlichen  Eigengesetzgebung,  zur  ethischen  Autonomie  hinauf- 
entwickelt  habe.  Da  wir  jedoch  wissen,  daß  die  Forderungen  der 
Menschenwürde  von  der  Idee  der  ganzen  Menschheit  als  einer  großen 
Einheit  getragen  werden,  weshalb  wir  diese  Forderungen  auch  als 
Menschheitsgebote  bezeichnet  haben,  so  müssen  wir  wohl 
zugeben,  daß  bei  der  Sanktion  dieser  Forderungen  nicht  nur  unser 
eigenes  Gewissen,  sondern  auch  die  Idee  der  ganzen  Menschheit  eine 
wichtige  Rolle  spielt.  Unser  Gewissen  erhebt  diese  Forderungen  gewiß 
im  Gefühl  seiner  inneren  Souveränität.  Wir  verlangen  aber  auch  vom 
Staate,  daß  er  die  Menschheitsgebote  zu  sozialen  Imperativen  mache 
und  dadurch  ihre  Befolgung  gewährleiste.  Wir  streben  ferner  dar- 
nach, daß  die  Staaten  in  ihren  Beziehungen  zueinander  die 
Forderungen  der  Menschenwürde,  das  heißt  die  Menschheitsgebote, 
für  sich  als  bindend  betrachten,  und  •sehen  es  als  unser  großes  Ziel 
an,  eine  (  Mganisation  der  ganzen  Menschheit  zu  schaffen,  die  berufen 
wäre,  die  Menschheitsgebote  zu  allgemeinen  Imperativen  zu  erheben 
und  durch  ihre  Macht  und  Autorität  zugleich  die  Möglichkeit  besäße, 
i.kn  Forderungen  der  Menschenwürde  die  wirksamste  Sanktion  zu 
verleihen.  So  wird  auch  bei  den  Forderungen  der  Menschenwürde 
die  Eigengesetzgebung  des  Gewissens  gestützt  und  getragen  von  der 
Idee  der  ganzen  Menschheit  und  der  darin  liegenden  Macht  und 
Autorität. 

Bei  diesem  Zusammenwirken  von  Autonomie  und  Heteronomie 
spielt   nun   auch  die   Religion   eine  sehr  bedeutsame    Rolle.     Die 


§  50.  Soziologische  Ethik  3jj 

soziologische  Ethik  zeigt  uns  auch  hier  eine  fortwährende  Wechsel- 
wirkung von  Religion  und  Sittlichkeit.  Religiöse  Vorstellungen  und 
Gefühle  vermögen  den  sittlichen  Forderungen  eine  innere  Weihe  und 
tröstliche  Wärme  zu  verleihen,  die  sie  auf  anderem  Wege  kaum  jemals 
gewinnen  können.  Anderseits  aber  erfahren  die  Religionen  infolge 
der  durch  das  Zusammenleben  der  Menschen  sich  herausbildenden 
ethischen  Imperative  eine  fortwährende  Verinnerlichung  und  Läuterung. 
Am  deutlichsten  können  wir  diesen  Einfluß  der  sittlichen  Forderungen 
auf  die  Auffassung  der  Götter  bei  den  alten  Griechen  in  der  Zeit  von 
Homer  bis  Sophokles  (etwa  900—400  v.  Chr.)  beobachten.  Wir  sehen 
es  hier  geradezu  anschaulich,  wie  die  Götter,  die  bei  Hotner  teils 
personifizierte  Naturkräfte,  teils  menschliche  Wesen  sind,  die  mit 
allen  menschlichen  Schwächen  behaftet  erscheinen,  sich  allmählich 
zu  Wächtern  einer  sittlichen  Weltordnung  ausgestalten,  die  das  Gute 
belohnen,  das  Böse  bestrafen  und  als  Urheber  der  ewigen,  un- 
geschriebenen Gesetze  gelten,  die  eine  weit  stärkere  bindende  Kraft 
haben,  als  sie  Menschensatzung  je  erlangen  kann.  Es  liegt  ganz 
in  der  Richtung  dieser  Entwicklung,  wenn  wir  bei  Plato  bereits  einen 
deutlich  ausgesprochenen  ethischen  Monotheismus  finden.  Etwas 
Ähnliches  finden  wir  in  der  altisraelitischen  Religion.  Der  Stammesgott 
Jahweh  führt  sein  erwähltes  Volk  aus  Ägypten,  hilft  ihm  die  Völker 
Kanaans  unterwerfen  und  gibt  ihm  dieses  Land  zu  eigen.  Er 
wird  deshalb  als  „Herr  der  Heerscharen'*  und  als  „Kriegsmann" 
gepriesen.  Er  verlangt  von  seinem  Volke  strengen  Gehorsam  und 
bedroht  es  mit  furchtbaren  Strafen,  wenn  es  von  ihm  abfällt.  Er 
verlangt  Opfer  und  Feste  zu  seiner  Ehre.  Bald  aber  treten  innerlich 
starke  Naturen,  die  von  der  hohen  Bedeutung  der  sittlichen  For- 
derungen tief  durchdrungen  sind,  auf  und  gestalten  diese  Gottes- 
vorstellung gründlich  um.  Die  Propheten  Israels  predigen  dem  Volke 
mit  eindringlicher  Kraft,  daß  Opfer  und  Fasten  keineswegs  etwas  Gott 
Wohlgefälliges  sei.  Gott  fordere  vielmehr  vom  Menschen  gar  nichts 
anderes  als  vollständige  Wahrhaftigkeit,  unbedingte  Gerechtigkeit 
und  vor  allem  werktätige  Menschenliebe  (vgl.  Jes.  1,17,  Micha  6,  8 
und  besonders  Jes.  58  und  den  fünfzehnten  Psalm). 

Das  Christentum  nimmt  die  Ethik  der  Propheten  in  sich  auf 
und  verkündet  gerade  in  seinen  Anfängen  sittliche  Lehren  von  der 
größten  Erhabenheit.  Die  germanischen  Völker  werden  durch  die 
religiöse  Macht  der  katholischen  Kirche  zu  innerer  Zucht  und  zur 
Opferfähigkeit  erzogen.  Als  aber  diese  Kirche  im  späteren  Mittel- 
alter verweltlichte,  wurde  sie  durch  das  erstarkte  sittliche  Bewußtsein 
vielfach  ihrer  alten  Bestimmung  wieder  zugeführt.  Da  macht  sich 
zunächst  das  Bedürfnis  nach  persönlicher  Frömmigkeit  bei  den  Bettel- 
orden und  in  der  religiösen  Mystik  geltend.  Dann  aber  ertönt  der  Ruf 
nach  Reformen  immer  lauter.  Der  Protestantismus  will  das  ur- 
sprüngliche Christentum  wiederherstellen  und  nennt  sich  deshalb  die 
evangelische  Kirche.  Die  sittliche  Läuterung  der  Religion 
erfolgt  hier  durch  Wiederherstellung  des  Ursprünglichen.  Auch  die 
katholische  Kirche  leitet  in  der  Gegenreformation  eine  sittliche  Er- 
neuerung ein  und  so  sehen  wir  die  stete  Wechselwirkung  zwischen 


}34  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Religion  und  Sittlichkeit  auch  innerhalb  des  Christentums  sich  voll- 
ziehen. Man  darf  deshalb  auch  für  die  Zukunft  eine  Fortdauer  dieser 
Wechselbeziehungen  erwarten  und  sich  davon  eine  kulturelle  Höher- 
entwicklung der   Menschheit  versprechen. 

Die  soziologische  Ethik,  von  der  wir  hier  nur  die  Grundzüge 
entwerfen  konnten,  hat  uns  dennoch  auch  in  dieser  kurzen  Skizze 
die  Fruchtbarkeit  der  soziologischen  Methode  erkennen  lassen.  Viel- 
umstrittene Probleme  haben  durch  diese  Methode,  wenn  auch  nicht 
immer  ihre  endgültige  Lösung,  so  doch  jedenfalls  wesentliche  Klärung 
gefunden.  Unsere  Darlegungen  haben  uns  dabei  einen  Blick  tun 
lassen  in  die  Entwicklung  der  ganzen  Menschheit  und  uns  damit 
die  Frage  nach  dem  Sinn  der  Geschichte  und  nach  den  darin 
wirksamen  Kräften  nahegelegt.  Mit  diesen  Problemen  beschäftigt  sich 
aber  ein  eigener  Teil  der  Philosophie,  den  wir  jetzt  als  notwendige 
Ergänzung  der  Ethik  und  Soziologie  betrachten  dürfen.  Beide  führen 
uns  hin  zu  den  Fragen,  die  den  Gegenstand  der  Geschichts- 
philosophie   bilden. 

§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte 

Mit  der  Soziologie  nahe  verwandt,  aber  doch  nicht  ganz  mit  ihr 
identisch  ist  die  Philosophie  der  Geschichte*).  Wir  ver- 
stehen darunter  zunächst  das  Nachdenken  über  etwaige  Gesetze, 
über  den  Sinn  und  über  das  Ziel  der  geschichtlichen  Entwicklung 
der  Menschheit.  Die  nahe  Verwandtschaft  der  Geschichtsphilosophie 
mit  der  Soziologie  beruht  darauf,  daß  der  Gegenstand  der  Geschichts- 
forschung, wie  Bernlie'un  (S.  9)  sehr  richtig  sagt,  der  Mensch  als 
sozialesWesen  ist.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  Disziplinen 
liegt  darin,  daß  die  Soziologie  es  mit  den  Gruppen  selbst  und  mit 
den  darin  sich  entwickelnden  Beziehungen  zwischen  dem  Ganzen  und 
den  einzelnen  Individuen  zu  tun  hat,  während  die  Philosophie  der 
Geschichte  die  Ergebnisse  dieser  Beziehungen  in  dem  bisher  gegebenen 
geschichtlichen  Verlauf  mit  Zugrundelegung  einer  allgemeinen  Welt- 
und  Lebensanschauung  betrachtet  und  auf  diese  Weise  die  historischen 
Kräfte  in  ihrer  Stärke  und  Richtung  kennen  lernen  will.  Die  Philo- 
sophie der  Geschichte  setzt  also  streng  genommen  die  Soziologie 
voraus  und  wird  durch  den  Fortschritt  dieser  Wissenschaft  zu  immer 
neuen  Fragestellungen  und  zu  neuen  Lösungen  angeregt. 

Geschichtsphilosophische  Gedanken  treten  uns  zuerst  bei  den 
Propheten  Israels  in  der  Form  von  Verheißungen  entgegen.  Gott  wird 
alle  Völker  der  Erde  vereinen,  „sie  werden  ihre  Schwerter  zu  Pflug- 


*)  Den  Ausdruck  „philosophie  de  l'histoire"  scheint  zuerst  Voltaire  ge- 
braucht zu  haben.  I.r  betitelte  so  eine  Abhandlung,  die  er  im  Jahre  1765  heraus- 
gab und  176°.  unter  der  Bezeichnung  „Introduction"  seinem  „Essay  sur  les  inoeurs 
et  l'esprit  des  nations"  voransetzte.  Bernneim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode 
und  der  Geschichtsphilosophie,  5.  und  6.  Aufl.,  1908,  S.  OSO.  In  diesem  rühmlichst 
bekannten,  überaus  gediegenen  Werke  findet  man  S.  685  -747  eine  sehr  inhalts- 
und  gedankenreiche  Übersicht  über  die  Entwicklung  und  die  Aufgaben  der  Ge- 
schichtsphilosophie, die  hier  trotz  mancher  Abweichungen  dankbar  benützt  wurde. 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  335 

scharen  umschmieden  und  ihre  Spieße  zu  Winzermessern.  Kein  Volk 
wird  gegen  das  andere  das  Schwert  erheben  und  sie  werden  nicht  mehr 
den  Krieg  lernen"  {Jesaia  2,  4).  Ähnliche  Verheißungen  des  ewigen 
Friedens  und  der  Völkervereinigung  finden  sich  öfter  (z.  B.  Jes.  11 
und  56,  Micha  4,  4).  Der  Gedanke  einer  göttlichen  Leitung  der 
Menschheitsgeschichte  ist  hier  zum  erstenmal  ausgesprochen. 

Bei  den  Griechen  hatten  zwar,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  die 
Kyniker  und  die  Stoiker  die  Gleichheit  und  die  Verbindung  aller 
Menschen  betont,  vom  Schicksal  und  von  der  Vorsehung  gesprochen, 
aber  von  einer  einheitlichen  Betrachtung  der  Geschichte  und  von  einem 
bestimmten  Ziele  derselben  ist  nirgends  die   Rede. 

Die  Römer  betrachten  sich  als  die  Herren  der  Erde  und 
Augustus  sah  es  gerne,  als  Vergü  das  Kommen  der  Römerherrschaft 
als  Beschluß  Jupiters  darstellte,  schrieben  aber  diesen  Verlauf  doch 
hauptsächlich  der  Kraft  und  der  Geschicklichkeit  ihrer  Staatsmänner 
und  Feldherren  zu.  Es  war  ihre  Sache  nicht,  über  solche  Dinge  zu 
grübeln. 

Erst  im  Christentum  kommt  die  Idee  einer  göttlichen  Leitung 
der  Weltgeschichte  zu  klarer  Formulierung.  Alle  Menschen  sind 
Kinder  Gottes  und  darum  Brüder.  Alle  sind  durch  Christus  der  Er- 
,  lösung  teilhaftig  geworden  und  somit  ist  jedem  der  Weg  zum  inneren 
Frieden  und  zur  ewigen  Seligkeit  gezeigt  und  gebahnt.  Es  liegt  nun 
der  Gedanke  nahe,  hier  einen  göttlichen  Plan  zu  finden,  der  die 
Geschicke  der  Menschheit  in  einem  bestimmten  Sinne  leitet  und  einem 
gemeinsamen  Ziele  zuführt.  Diesen  Gedanken  hat  der  Kirchenvater 
Augustinus  in  seiner  vollen  Tiefe  erfaßt  und  uns  in  seinem  Werke 
„Über  den  Gottesstaat"  die  erste  geschichtsphilosophische  Betrachtung 
großen  Stiles  gegeben. 

Die  geschichtliche  Entwicklung  des  Menschengeschlechtes  beruht 
nach  Augustin  auf  einer  planmäßigen  Leitung  durch  die  göttliche 
Vorsehung.  „Von  Gott,  der  nicht  nur  dem  Himmel  und  der  Erde, 
nicht  nur  dem  Menschen  und  dem  Engel,  sondern  auch  den  Ein- 
geweiden des  kleinsten  und  verächtlichsten  Lebewesens,  der  Feder  des 
Vogels,  der  Blüte  der  Pflanze,  dem  Blatte  des  Baumes  harmonische 
Einheit  seiner  Teile  und  eine  Art  von  innerem  Frieden  verliehen  hat, 
von  diesem  Gott  kann  und  darf  man  nicht  glauben,  daß  er  die  Reiche 
der  Menschen,  ihre  Herrschaft  und  ihre  Knechtschaft  von  den  Gesetzen 
seiner  Vorsehung  ausgeschlossen  sehen  wollte"  ( Buch  V,  Kap.  1 1 
des  „Gottesstaates").  Das  Menschengeschlecht  bildet  eine  Einheit 
weil  alle  Kinder  Gottes  sind.  Diese  Einheit  wurde  jedoch  durch  die 
Sünde  Adams  gebrochen.  Seitdem  gibt  es  in  der  Welt  zweierlei  Bürger 
und  zweierlei  Staaten.  Der  eine  ist  der  menschliche,  irdische,  dem 
Fleische  zugekehrte,  der  andere  der  göttliche,  himmlische  Staat,  der  im 
Geiste  lebt.  Der  irdische  entsteht  aus  der  Liebe  des  Menschen  zu  sich 
selbst,  die  bis  zur  Verachtung  Gottes  führt,  der  andere  aus  der  Liebe  zu 
Gott,  die  bis  zur  Selbstverachtung  führt  (XIV,  28).  Augustin  teilt  die 
Geschichte  bald  in  zwei,  bald  in  drei  und  einmal  auch  in  sechs  Epochen 
ein.  Die  letzte  ist  immer  diejenige,  die  mit  dem  Erscheinen  Christi 
auf  Erden  beginnt.    Christus  hat  den  Gottesstaat  errichtet,  der  aus 


33ö  Soziologie  und  Geschiclitsphilosophie 

der  Vereinigung  aller  wahrhaft  Frommen  und  Gläubigen  besteht. 
Dieser  Gottesstaat  wird  alle  irdischen  Staaten  überdauern  und  der 
ganzen  Menschheit  ewiges  Leben  und  inneren  Frieden  bringen. 

Der  Gottesstaat  Augustinus  ist  die  römische  Kirche  und  diese 
hat  sich  seither  immer  als  die  Trägerin  dieser  Idee  gefühlt.  Das  Ziel 
aller  Geschichte  ist  somit  nach  Augustin  die  allgemeine  Herrschaft 
der  christlichen  Kirche.  Diese  Auffassung  bleibt  durch  das  ganze 
Mittelalter  bestehen  und  wirkt  heute  noch  fort.  Aber  auch  abgesehen 
von  der  Kirche  bleibt  Augustins  Gedanke  von  der  göttlichen  Leitung 
des  Menschengeschlechtes  für  die  Auffassung  der  Geschichte  wirksam. 
Bossuet  sucht  in  seinem  1681  erschienenen  „Discours  sur  l'histoire 
universelle"  zu  beweisen,  daß  eine  göttliche  Hand  die  Menschheit  führt. 
Lessing  spricht  von  einer  „Erziehung  des  Menschengeschlechtes",  und 
noch  im  neunzehnten,  ja  sogar  auch  im  zwanzigsten  Jahrhundert 
erscheinen  groß  angelegte  Geschichtsphilosophien,  die  denselben  Ge- 
danken zum  Ausdruck  bringen*). 

Die  theologische  Auffassung  der  Geschichte,  die  im  Alten 
Testament  gelegentlich  angedeutet,  von  Augustin  ausgestaltet  wurde 
und  durch  seinen  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Einfluß  bis  auf  unsere 
Tage  sich  erhalten  hat,  konnte  jedoch  das  erwachte  wissenschaft- 
liche Bewußtsein  nicht  auf  die  Dauer  befriedigen.  Wir  finden  daher 
seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert  immer  wieder  erneute  Versuche, 
die  geschichtliche  Entwicklung  der  Menschheit  aus  den  natür- 
lichen Bedingungen  heraus  zu  verstehen,  den  Einfluß  von  Klima 
und  Bodenbeschaffenheit  herauszustellen,  die  ursprünglichen  Anlagen 
und  Neigungen  der  Menschen  zu  untersuchen  und,  wenn  irgend 
möglich,  die  in  diesen  Momenten  enthaltenen  Richtungen  und  Ziele 
zu  bestimmen. 

Die  oben  genannten  Arbeiten  von  Bodin,  Althusius,  Hobbes, 
Locke,  Montesquieu  und  Rousseau  sind  auch  für  die  Geschichts- 
philosophie von  Bedeutung.  Allein  wir  finden  außer  den  genannten 
noch  einige,  die  sich  ganz  direkt  mit  der  philosophischen  Betrachtung 
des  geschichtlichen  Werdens  beschäftigen  und  so  eine  wirkliche  Philo- 
sophie der  Geschichte  begründen. 

Hier  ist  zunächst  der  italienische  Denker  Giovanni  Battista  Vico 
(1668—1744)  zu  nennen,  dessen  Bedeutung  für  die  Geschichts- 
philosophie  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  richtig  erkannt  wurde. 
Sein  Werk:  „Prinzipien  einer  neuen  Wissenschaft  über  das  Wesen 
der  Nationen",  darf  als  die  erste  Geschichtsphilosophie  auf  wissen- 
schaftlicher, besonders  auf  psychologischer  Grundlage  bezeichnet 
werden").    Vico  hat  die   überaus   wichtige  Wahrheit  ausgesprochen, 

*)  VgL  Bernheim,  S.  687 —691,  und  bes.  Robert  Flint.  „The  Philosophy  of 
History  in  France  and  Germanv",  1874,  wo  viele  dieser  Werke,  z.  B.  die  von 
Bossuet,  Bonald.  Laurent,  Krause,  Friedrich  Schlegel,  Bunsen  u.  a.,  ausführlich 
besprochen   werden. 

")  Der  italienische  Titel  lautet:  Principi  di  una  scienza  nuova  d'intorno  alla 
commune  natura  delle  nazioni,  zuerst  1725,  dann  in  erweiterter  Form  1730  erschienen. 
I  ine  dritte,  wenig  veränderte  Ausgabe  erschien  1744,  kurz  nach  dem  Tode  des 
Wrfassers.  Der  französische  Philosoph  Michelct  hat  eine  Auswahl  aus  Vicos 
WVrken    in    zwei    Bänden    veröffentlicht,   die  alles   Wesentliche   enthält:   Oeuvres 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  337 

daß  „diese  bürgerliche  Welt  von  den  Menschen  selbst  gemacht  worden 
ist*'  (Michelet  I,  412).  Daraus  ergibt  sich  die  Forderung,  die  Welt 
der  Geschichte  nach  den  der  Menschennatur  eigentümlichen  Anlagen 
und  Fähigkeiten  zu  durchforschen.  Vico  weiß  ferner,  daß  „die  Natur 
der  Dinge  nichts  anderes  ist,  als  ihr  Entstehen  zu  bestimmter  Zeit 
und  auf  bestimmte  Weise"  (14)  und  hat  damit  das  überaus  wichtige 
Prinzip  der  genetischen  Betrachtungsweise  nach- 
drücklich betont  und  durchgeführt.  Ferner  hat  Vico  auf  die  Bedeutung 
der  Sprache  hingewiesen,  aus  deren  Entwicklung  sich  sehr  viel  für 
die  Wandlung  der  Anschauungen  und  der  Sitten  eines  Volkes  lernen 
läßt  (18).  Vico  will  in  seiner  neuen  Wissenschaft  eine  Entwick- 
lungsphilosophie des  Geistes  geben  und  grenzt  dieses 
Gebiet  einerseits  gegen  die  theologische  Metaphysik,  anderseits  gegen 
die  Naturwissenschaft  ab.  Neben  dem  „Wahren",  das  die  Philosophie 
und  Mathematik  allein  anstrebt,  spielt  in  der  Menschen-  und  Völker- 
welt auch  das  „Gewisse"  (certo),  das  bloß  Wahrscheinliche,  die  auf 
allgemeiner  Zustimmung  und  auf  geschichtlicher  Überlieferung  be- 
ruhende Überzeugung,  die  das  Handeln  bestimmt,  eine  große  Rolle 
(9,  10).  Mit  geradezu  erstaunlichem  Tief  blick  hat  Vico  das  indi- 
vidualistische Element  in  der  von  Descartes  befürworteten 
geometrischen  Methode  erkannt  und  betont  entschieden,  daß  in  der 
Wissenschaft  vom  Menschen  neben  der  Vernunft  auch  das  soziale 
Moment  der  Autorität,  das  heißt  der  geschichtlichen  Überlieferung, 
von  der  allergrößten  Bedeutung  sei.  Deswegen  betrachtet  er  auch 
den  „senso  commune",  den  gesunden  Menschenverstand,  die  allgemein 
geltenden  Meinungen  als  eine  sehr  wichtige  Erkenntnisquelle  (11). 
Vico  ist  Jurist  und  Philologe.  Das  gibt  seinen  Ausführungen 
den  echt  historischen  Charakter  und  ein  wahrhaft  soziales  Gepräge. 
Dabei  bleibt  er  allerdings  ein  Kind  seiner  Zeit.  In  theologischer 
Denkweise  aufgewachsen,  sucht  er  überall  die  Pläne  der  Vorsehung. 
Seine  historischen  Kenntnisse  beschränken  sich  zum  großen  Teil  auf 
die  Bibel  und  die  klassischen  Autoren.  Daher  haben  seine  Epochen- 
einteilungen einen  etwas  veralteten  Charakter.  Die  römische  Geschichte 
ist  für  ihn  der  Typus  der  Staatengeschichte.  Trotzdem  aber  ist  seine 
genetische  Methode,  sein  Bedürfnis  nach  psychologischer  Erklärung, 
seine  Abgrenzung  der  Geschichte  gegenüber  der  Naturwissenschaft, 
sein  historischer  und  sein  sozialer  Sinn  in  hohem  Grade  geeignet, 
anregend  auf  die  moderne  Geschichtsphilosophie  zu  wirken  und  es 
wäre  deshalb  sehr  zu  wünschen,  daß  eine  Auswahl  seiner  Werke 
in  deutscher  Übersetzung  allgemein  zugänglich  gemacht  würde. 

Als  eigentlicher  Begründer  der  Geschichtsphilosophie  wird  all- 
gemein Herder  angesehen.  Er  hat  tatsächlich  die  ganze  Entwicklung 

choisies  de  Vico.  Paris  1855.  Nach  dieser  Auswahl  ist  hier  zitiert.  Im  zweiten 
Kapitel  des  ersten  Buches  der  „Scienza  Nuova"  stellt  Vico  die  Grundprinzipien 
der  neu  zu  gründenden  Wissenschaft  in  114  „Axiomen"  zusammen.  Diese  finden 
sich  bei  Michelet  I,  335 — 391,  übersetzt.  Ich  füge  also  den  hier  mitgeteilten 
Sätzen  in  der  Klammer  nur  die  Nummer  bei,  unter  der  das  Axiom  zu  linden  ist. 
Vgl.  dazu  auch  das  schöne  Buch  von  Robert  Flint  über  Vico  in  dem  Sammelwerke 
Philosophical  Classics,  worin  eine  sehr  lichtvolle  Darstellung  der  philosophischen 
Entwicklung  Vicos  gegeben  wird. 

Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.  10.  Aufl. 


338  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

der  Menschheit  unter  einem  einheitlichen  Gesichts- 
punkt betrachtet,  und  das  ist  ja  charakteristisch  für  die  philo- 
sophische Methode.  Seine  „Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte 
der  Menschheit",  die  1784 — 1787  erschienen,  sind  ein  mit  vollem 
Bewußtsein  unternommener  Versuch,  das  treibende  Moment  in  der 
Entwicklung  der  Menschheit  zu  finden.  Herder  sagt  selbst  in  der 
Vorrede  zu  seinem  Werk,  es  sei  ihm  oft  der  Gedanke  gekommen,  „ob 
denn,  da  alles  in  der  Welt  seine  Philosophie  und  Wissenschaft  habe, 
nicht  auch  das,  was  uns  am  nächsten  angeht,  die  Geschichte  der 
Menschheit  im  ganzen  und  großen,  eine  Philosophie  und  Wissenschaft 
haben  sollte".  Vieles  sprach  dafür,  manches  dagegen.  Deshalb  sagt 
er:  „Ich  suchte  nach  einer  Philosophie  der  Ge- 
schichte, wo  ich  suchen  könnt  e."  Diese  deutliche  Frage- 
stellung und  dazu  der  einheitliche  Lösungsversuch,  den  Herder  gibt, 
sind  echt  philosophisch,  und  eben  deshalb  verdient  Herder  wirklich, 
der  Begründer  der  Geschichtsphilosophie  genannt  zu  werden. 

Herders  Grundgedanke  hängt  aufs  innigste  mit  dem  neuen 
Bildungsideal  zusammen,  das  zu  seiner  Zeit  entstand,  und 
das  er  selbst  so  wirksam  zu  fördern  bemüht  war*).  Bildung  ist  jetzt 
nicht  mehr  bloßes  Wissen,  sondern  besteht  in  der  Entfaltung  der 
seelischen  Kräfte  von  innen  heraus.  Alles  Menschliche  im  Menschen 
soll  durch  Erziehung  und  Bildung  zu  lebendiger  Entwicklung  und 
womöglich  zur  Alleinherrschaft  gebracht  werden.  Das  Ergebnis 
einer  derartigen  Entfaltung  des  Menschlichen  bezeichnet  Herder  als 
Humanität,  und  diese  ist  auch  für  ihn  das  Ziel  aller  geschicht- 
lichen Entwicklung.  Eine  gütige  Vorsehung  hat  dem  Menschen  die 
Anlage  gegeben,  die  Tierheit  in  sich  zu  überwinden  und  Güte, 
Menschenliebe,  Freude  am  Schönen  und  sittliche  Freiheit  in  sich  zu 
entwickeln.  Der  Gang  der  Geschichte  zeigt  nun  nach  Herders  Meinung 
einen  langsamen,  aber  stetigen  Fortschritt  zur  Humanität.  Herder 
führt  uns  auf  diesem  Wege  und  wir  durchwandern  mit  ihm  die  Ent- 
wicklung der  Erde,  der  Pflanzen  und  Tiere  bis  hinauf  zum  Menschen 
und  durchleben  seine  bisherige  Geschichte.  Das  Werk  ist  nicht  ganz 
vollendet  und  der  historische  Überblick  ist  in  manchen  Teilen  recht 
flüchtig.  Überall  aber  leuchtet  sein  Grundgedanke  durch  und  so 
gewinnt  man  ein  Bild,  das  zwar  nicht  immer  richtig  und  nicht  immer 
gesättigt  genug,  aber  doch  immer  einheitlich  ist. 

Herder  ist  durch  und  durch  Psychologe  und  bleibt  es  auch  in 
seiner  Geschichtsphilosophie.  Der  innige  Zusammenhang  von  Natur 
und  Geist,  von  Leib  und  Seele  bildet  für  ihn  überall  den  Ausgangs- 
punkt und  den  Grundstock  seiner  Welt-  und  Lebensauffassung.  Hierin 
steht  er  Goethe  besonders  nahe,  mit  dem  er  ja  auch  die  Begeisterung 
für  den  strengen  Monismus  Spinozas  teilt.  Deshalb  weiß  er  auch 
die  Bedeutung  von  Klima  und  Bodenbeschaffenheit  für  die  geschicht- 
liche Entwicklung  der  Nationen  so  trefflich  zu  würdigen.  Sein  Grund- 
gedanke aber,    die  Humanität,    ist  psychologisch  gedacht  als   Ent- 


')  Vgl.  darüber  Jerusalem,  „Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren  Schulen", 
1912,  S.  45  ff.,  wo  Herders  Anteil  am  Neuhumanismus  ausführlich  dargelegt  wird. 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  339 

faltung  der  wertvollsten  seelischen  Kräfte  des  Menschen.  Dadurch 
bekommt  seine  Geschichtsphilosophie  einen  bisher  weniger  beachteten 
Zug  ins  Individualistische.  Herder  betont  zwar  wiederholt, 
daß  der  Mensch  in  der  Entwicklung  seiner  Fähigkeiten  von  anderen 
abhängt,  er  verkennt  keineswegs  die  Bedeutung  von  Tradition  und 
Erziehung  und  spricht  auch  von  der  geselligen  Natur  des  Menschen. 
(„Ideen",  9.  Buch,  Kap.  1  und  2.)  Allein  das  soziale  Moment  ist 
für  ihn  nur  Mittel  zur  Ausbildung  des  Individuums,  nicht  ein 
integrierender  Bestandteil  der  Menschenseele.  Das  Ziel  der  Geschichte 
geht  doch  dahin,  einzelne  Menschen  zu  entwickeln,  die  durch  Ent- 
faltung ihrer  menschlichen  Anlagen  zu  innerer  Harmonie  und  Zu- 
friedenheit gelangen.  „Es  gibt  also  eine  Erziehung  des  Menschen- 
geschlechtes, eben  weil  jeder  Mensch  nur  durch  Erziehung  ein  Mensch 
wird  und  das  ganze  Geschlecht  nicht  anders  als  in  dieser  Kette  von 
Individuen  lebt.  Freilich,  wenn  jemand  sagte,  daß  nicht  der  einzelne 
Mensch,  sondern  das  Geschlecht  erzogen  werde,  so  spräche  er  für 
mich  unverständlich,  da  Geschlecht  und  Gattung  nur  allgemeine 
Begriffe  sind,  außer  insofern  sie  in  einzelnen  Wesen  existieren." 
(Q.Buch,  Kap.  1.)  Herder  bemerkt  zwar  gleich  im  folgenden,  daß 
kein  einzelner  durch  sich  allein  zum  Menschen  geworden  ist,  und 
daß  das  ganze  Gebilde  der  Humanität  in  jedem  Einzelnen  durch  die 
Tradition  und  Erziehung  bedingt  sei.  Er  erkennt  die  Abhängigkeit 
des  Individuums  vom  Ganzen  an,  aber  er  untersucht  sie  nicht  näher. 
Herder  ist  Psycholog  und  Geschichtsphilosoph,  er  ist  auch  Meta- 
physiker  und  Theologe.  Was  er  aber  noch  wenig  oder  gar  nicht  kennt, 
das  ist  der  soziologische  Gesichtspunkt.  Deshalb  bedarf  seine 
Geschichtsphilosophie  einer  Ergänzung*). 

Einen  wichtigen  Beitrag  dazu  gibt  Kant  in  seiner  kleinen,  aber 
sehr  inhaltreichen  Schrift:  „Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in 
weltbürgerlicher  Absicht",  die  im  Jahre  1784  erschien  (4,  141  ff., 
Hartenstelnsche  Ausgabe).  Kant  findet,  daß  das  Treiben  der  Menschen 
auf  den  denkenden  Beobachter  zunächst  einen  traurigen  Eindruck 
mache.  „Man  kann  sich  eines  gewissen  Unwillens  nicht  erwehren, 
wenn  man  ihr  Tun  und  Lassen  auf  der  großen  Weltbühne  aufgestellt 
sieht,  und  bei  hin  und  wieder  anscheinender  Weisheit  im  einzelnen 
doch  endlich  alles  im  großen  aus  Torheit,  kindischer  Eitelkeit,  oft  auch 
aus  kindischer  Bosheit  und  Zerstörungssucht  zusammengewebt  findet." 
„Es  ist  hier  keine  Auskunft  für  den  Philosophen,  als  daß,  da  er  bei 
Menschen  und  ihrem  Spiele  im  großen  gar  keine  vernünftige 
eigene  Absicht  voraussetzen  kann,  er  versuche,  ob  er  nicht 
eine  Naturabsicht  in  diesem  widersinnigen  Gange  mensch- 
licher Dinge  entdecken  könne,  aus  welcher  von  Geschöpfen, 
die  ohne    eigenen   Plan  verfahren,    dennoch   eine  Geschichte    nach 

*)  Herders  Gedanke,  daß  Humanität  der  Endzweck  der  Geschichte  sei, 
ist  auf  breiterer  Grundlage  in  neuerer  Zeit  wieder  aufgenommen  worden  von 
Lotze  in  seinem  „Mikrokosmos"  und  von  Wundt  in  seinem  Werke:  „Die  Elemente 
der  Völkerpsychologie,  Grundlinien  einer  psychologischen  Entwicklungs- 
geschichte der  Menschheit"  (1912).  Wundt  sucht  auf  Grund  der  Völkerpsycho- 
logie eine  tatsächliche  Entwicklung  zur  Humanität  nachzuweisen. 


340  Soziologie  und  Geschichtsphilosophic 

einem  bestimmten  Plane  der  Natur  möglich  sei"  (4,  144).  Kant 
will  einen  Leitfaden  für  eine  Geschichte  in  diesem  Sinne  suchen 
und  gibt  einen  solchen  in  neun  inhaltsvollen  Sätzen,  die  er  kurz 
erläutert.  Koni  findet,  daß  alle  Naturanlagen  eines  Geschöpfes  dazu 
bestimmt  sind,  sich  vollständig  und  zweckmäßig  auszugestalten,  daß 
aber  beim  Menschen  diejenigen  Anlagen,  die  „auf  den  Gebrauch 
seiner  Vernunft  abgezielt  sind",  sich  nicht  in  jedem  einzelnen  Indi- 
viduum, sondern  nur  in  der  Gattung  vollständig  entwickeln.  Die 
Natur  hat  ferner  den  Menschen  so  geschaffen,  daß  er  „alles,  was 
über  die  mechanische  Anordnung  seines  tierischen  Daseins  geht, 
gänzlich  aus  sich  selbst  herausbringe".  Nun  folgt  der  weitaus  be- 
deutendste, soziologische  und  geschichtsphilosophische  Gedanke,  den 
Kant  im  vierten  seiner  Leitsätze  folgendermaßen  formuliert:  „Das 
Mittel,  dessen  sich  die  Natur  bedient,  die  Entwicklung  aller  ihrer 
Anlagen  zustande  zu  bringen,  ist  der  Antagonismus  derselben  in  der 
Gesellschaft,  sofern  dieser  doch  am  Ende  die  Ursache  einer  gesetz- 
mäßigen Ordnung  derselben  wird.  Ich  verstehe  hier  unter  dem  Anta- 
gonismus die  ungesellige  Geselligkeit  der  Menschen, 
das  ist  den  Hang  derselben,  in  Gesellschaft  zu  treten,  der  doch  mit 
einem  durchgängigen  Widerstand,  welcher  diese  Gesellschaft  beständig 
zu  trennen  droht,  verbunden  ist." 

Kant  hat  hier  meiner  Ansicht  nach  die  Kernfrage  der  menschheit- 
lichen Entwicklung  berührt  und  das  tiefste  Problem  der  Geschichts- 
philosophie mit  genialem  Blicke  erfaßt.    Die  wechselnden  Beziehungen 
zwischen  Gesellschaft  und  Individuum  bilden  den  wesentlichen  Inhalt 
der  Geschichte.     Eine  allseits  befriedigende  Gestaltung    dieser   Be- 
ziehungen, das  heißt  eine  vollständige  Synthese  von  Individualismus 
und  Sozialismus  kann  als  die  höchste  Aufgabe  und  als  das  Ziel  der 
Geschichte  bezeichnet  werden.    Kant  legt  sehr  anschaulich  dar,  wie 
dieser   Kampf    alle  Kräfte  der  Menschen  anspannt    und  zu  immer 
festeren   Organisationen    der  Gesellschaft   führt.    Verfehlt  ist  darin 
meiner  Überzeugung  nach  nur  das  eine,  daß  Kant  die  „ungesellige 
Geselligkeit"  als  einen  von  allem  Anfang  an  in  der  menschlichen  Natur 
herrschenden  Zwiespalt  ansieht,  eine  Annahme,  die  mit  seiner  Vorliebe 
für  das  Apriori  zusammenhängt.  Dieser  Zwiespalt  ist  aber  tatsächlich 
ein  Produkt  der  Entwicklung  und  erfährt  im  Laufe  der  Zeit  die  mannig- 
fachsten Variationen.    Solchen  Wandlungen   auf  allen  Gebieten  des 
Kulturlebens  nachzugehen,  ist  heute  die  wichtigste  Aufgabe  der  Ge- 
schichtsphilosophie und  der  Soziologie*).   Kant  zeigt  in  den  folgenden 
Leitsätzen,    wie  sich   aus  dieser  ungeselligen  Geselligkeit    die  Not- 
wendigkeit ergibt,  eine  allgemeine,  das  Recht  verwaltende  bürger- 
liche Gesellschaft  zu  bilden.    Dieses  Problem  ist  nach  Kant 
das  schwerste  und  wird  deshalb  erst  spät  in  Angriff  genommen.    Die 
Aufgabe  des  Staates  kann  nicht  gelöst  werden,  wenn  nicht  zugleich 
das  Verhältnis  der  Staaten  untereinander  geregelt  wird.    „Man  kann 
also  die  Geschichte  der   Menschengattung  im   großen   als  die  Voll- 

*)  Kuno  Franckr  hat  in  seinem  lehrreichen  Buche:  „Die  Kulturwerte  der 
deutschen  Literatur"  (I.  Bd.,  1910)  diesen  Gesichtspunkt  auf  die  Literaturgeschichte 
angewendet  und  geistvoll  verwertet. 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  34 1 

Ziehung  eines  verborgenen  Planes  der  Natur  ansehen,  um  eine  innerlich 
und  zu  diesem  Zwecke  auch  äußerlich  vollkommene  Staatsverfassung 
zustande  zu  bringen,  als  den  einzigen  Zustand,  in  welchem  sie  alle 
ihre  Anlagen  in  der  Menschheit  völlig  entwickeln  kann."  (4,  153.) 
„Ein  philosophischer  Versuch,  die  allgemeine  Weltgeschichte  nach 
einem  Plane  der  Natur,  der  auf  die  vollkommene  bürgerliche  Ver- 
einigung in  der  Menschengattung  abziele,  zu  bearbeiten,  muß  als 
möglich  und  selbst  für  diese  Naturabsicht  beförderlich  angesehen 
werden." 

Kant  sagt  uns  also,  daß  der  Sinn  und  Zweck  der  Geschichte  die 
Errichtung  einer  möglichst  vollkommenen  Staatsverfassung  ist  und 
daß  dieser  Zweck  durch  das  fortgesetzte  Nachdenken  über  die  geschicht- 
liche Entwicklung  direkt  gefördert  werden  kann.  In  seiner  1795 
erschienenen  Schrift  „Zum  ewigen  Frieden"  setzt  Kant  sehr  lichtvoll 
und  schön  die  Möglichkeit  eines  dauernden  Friedens  auseinander  und 
sucht  zu  zeigen,  daß  die  Natur  den  Menschen  dazu  geschaffen  und 
verpflichtet  hat. 

Wir  finden  also  bei  Kant  geschichtsphilosophische  Tiefblicke  und 
Anregungen,  die  erst  heute  Verständnis  und  Verwertung  finden  können. 

Auf  Herder  und  Kant  fußend,  hat  uns  Schiller  in  seiner 
akademischen  Antrittsvorlesung  (1789)  und  in  seiner  Schrift  „Die 
ästhetische  Erziehung  des  Menschen"  (1795)  eine  Reihe  wertvoller 
geschichtsphilosophischer  Gedanken  gegeben.  Das  Ziel  der  Geschichte 
erblickt  er  mit  Herder  in  der  Entwicklung  zur  Humanität,  aber  er  sieht 
ein,  daß  der  Mensch  nur  im  Staate  zum  Menschen  wird.  Der  Staat 
ist  nun  allerdings  ein  Produkt  der  Not,  muß  aber  zum  Organ  der 
Vernunft  und  Sittlichkeit  entwickelt  werden.  In  dieser  Erziehung 
des  Menschen  durch  Natur  und  Vernunft  spielt  nun  —  und  das  ist 
Schillers  eigenster  und  tiefster  Gedanke  —  die  Kunst  und  das 
Schöne  eine  überaus  wichtige  Rolle.  Im  ästhetischen  Genießen 
wird  der  Mensch  erst  ganz  zum  Menschen.  Hier  vollzieht  sich  eine 
Synthese  seiner  beiden  Betätigungsweisen.  Sinnlichkeit  und  Verstand, 
Anschauen  und  Denken,  Stofftrieb  und  Formtrieb,  sie  alle  werden 
im  ästhetischen  Verhalten  kräftig  in  Anspruch  genommen  und  zugleich 
harmonisch  geeinigt.  Daher  ist  die  Kunst  für  die  Entwicklung  zur 
Sittlichkeit  von  der  allergrößten  Bedeutung,  sie  spielt  in  der  Mensch- 
heitsgeschichte eine  überaus  wichtige  Rolle  und  ihre  richtige  Wert- 
schätzung kann  die  Grundlage  abgeben  für  eine  künftige  Kultur- 
philosophie. Schiller  hat  diesen  Gedanken  in  seinem  Gedicht 
„Die  Künstler",  in  der  Rezension  von  Bürgers  Gedichten  und  auch 
sonst  wiederholt  Ausdruck  gegeben.  Der  Gedanke  einer  ästhetischen 
Erziehung  ist  seither  nicht  mehr  verloren  gegangen.  Wir  übergehen 
die  einzelnen  geschichtsphilosophischen  Ideen,  die  sich  bei  Fichte, 
Schelling  und  seinen  Schülern  finden  und  wenden  uns  zur  bedeutendsten 
Leistung  der  spekulativen  Geschichtsphilosophie,  die  wir  Heget  ver- 
danken. 

Hegels  Philosophie  ist  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  strenger 
Intellektualismus  und,  vom  ontologischen  Gesichts- 
punkte aus  betrachtet,  kraftvoller  Spiritualismus.   Das   D  e  n- 


34J  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

k  e  n,  und  zwar  das  abstrakte,  spekulative  Denken,  ist  die  den 
Menschen  vor  den  Tieren  auszeichnende  Tätigkeit  und  deshalb  die 
einzig  sichere  Quelle  der  Erkenntnis.  Im  Denken  ist  für  Hegel  nicht 
nur  die  \V  a  h  r  h  e  i  t,  sondern  auch  die  Sittlichkeit,  die  Frömmigkeit 
und  die  Schönheit  begründet.  Das  Denken  aber  ist  die  Tätigkeit  des 
Geistes,  und  nur  dem  Geiste  kommt  volle  und  wahre  Wirklichkeit 
zu.  Im  philosophischen  Denken  entfaltet  sich  daher  die  volle  und 
ganze  Wirklichkeit  als  lebendiger  Prozeß  in  Natur  und  Geschichte. 
Die  Philosophie  muß,  wie  Hegel  sagt,  darüber  verständigt  sein,  „daß 
ihr  Inhalt  kein  anderer  ist,  als  der  im  Gebiete  des  lebendigen  Geistes 
ursprünglich  hervorgebrachte  und  sich  hervorbringende,  zur  Welt, 
äußeren  und  inneren  Welt  des  Bewußtseins  gemachte  Gehalt  — 
daß  ihr  fnhalt  Wirklichkeit  ist"  (Enzyklopädie,  §  6.) 
Sieht  man  also  von  der  oft  gewaltsamen  und  willkürlichen  dialektischen 
Methode  ab,  die  sich  Hegel  in  seiner  Logik  zurechtgelegt  hat,  so  rindet 
man  in  der  Tat  bei  Hegel  einen  sehr  stark  entwickelten  Wirklich- 
k  e  i  t  s  s  i  n  n  und  staunt  oft  über  die  Tiefblicke,  die  er  in  das  geistige 
Leben  der  Menschheit  zu  tun  vermag.  Seine  „Philosophie  des  Geistes", 
die  er  in  der  „Phänomenologie",  in  der  „Rechtsphilosophie"  und  be- 
sonders in  der  „Enzyklopädie"  selbst  publiziert  hat,  und  die  nach 
seinem  Tode  durch  die  Veröffentlichung  der  Vorlesungen  über  Ästhetik, 
Religionsphilosophie,  Philosophie  der  Geschichte  und  Geschichte  der 
Philosophie  noch  ausführlicher  bekannt  wurde,  enthält  tatsächlich 
eine  Fülle  fruchtbarer  Gedanken,  die  auch  demjenigen  Einsichten  er- 
schließen und  Anregungen  geben  können,  der  weder  den  Intellek- 
tualismus noch  den  Spiritualismus  Hegels  sich  anzueignen  vermag. 
Vielleicht  der  bedeutendste  Gedanke,  den  Hegel  geschaffen  hat, 
ist  sein  Begriff  des  „objektiven  Geiste  s".  Er  versteht  darunter 
diejenigen  Ergebnisse  der  geistigen  Tätigkeit,  die  sich  zu  objektiv 
vorhandenen  Institutionen  verdichten  und  das  Denken  und  Handeln 
des  Einzelnen  bestimmen.  Hegel  bezeichnet  als  Produkte  oder  als 
Formen  des  objektiven  Geistes  das  Recht,  die  M  o  r  a  1  i  t  ä  t  und 
die  Sittlichkeit.  In  allen  diesen  Gebilden  gelangt  das  ureigenste 
Wesen  des  Geistes  zu  immer  deutlicherer  Bewußtheit  und  Gestaltung. 
Dieses  Wesen  des  Geistes  besteht  —  zum  Unterschied  von  der  Materie, 
die  dem  Gesetz  der  Schwere  unterworfen  ist  —  in  der  Freiheit. 
Je  klarer  und  bestimmter  der  Geist  dieses  sein  Wesen  herausarbeitet, 
je  mehr  er,  um  mit  Hegel  zu  sprechen,  „bei  sich  selbst"  ist,  desto  näher 
kommt  er  seiner  wahren  Bestimmung,  seiner  konkreten  Wirklichkeit. 
Die  höchste  dieser  drei  Stufen  ist  die  Sittlichkeit,  in  der  die 
bloß  subjektive  Moralität  sich  in  den  objektiven  Institutionen  der 
Familie  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  des 
Staates  verkörpert.  Am  meisten  interessiert  sich  Hegel  für  die 
höchste  Entwicklungsstufe  der  Sittlichkeit,  für  den  Staat.  „Der  Staat 
ist  die  selbstbewußte  sittliche  Substanz,  die  Vereinigung  des  Prinzips 
der  Familie  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft"  (Enzyklopädie,  §  535). 
Das  heißt  aber  nichts  anderes,  als  daß  im  Staate  die  wichtigste  Be- 
stimmung des  Menschengeistes,  nämlich  die,  zum  Bewußtsein  seiner 
Freiheit  zu  gelangen,  in  der  wirksamsten  Weise  erfüllt   ist.    Hegel 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  343 

wird  nicht  müde,  diese  seine  Überzeugung  zu  erläutern  und  gegen 
oberflächliche  Anschauungen  vom  Wesen  der  Freiheit  zu  verteidigen. 

„Der  Staat  ist  zunächst  seine  innere  Gestaltung",  das  heißt  seine 
Verfassung.  Er  ist  ferner  „besonderes  Individuum  und  steht  insoferne 
in  Beziehung  zu  anderen  Staaten".  Aber  diese  besonderen  Geister 
sind  nur  Momente  in  der  Entwicklung  der  allgemeinen  Idee  des  Geistes 
in  seiner  Wirklichkeit  und  diese  Entwicklung  ist  die  Weltgeschichte 
(Enzyklopädie,  §  536). 

Über  den  Sinn,  den  Zweck  und  den  allgemeinen  Gang  der  Welt- 
geschichte hat  sich  Hegel  in  der  Enzyklopädie  und  in  der  Rechts- 
philosophie kurz  ausgesprochen.  Ausführlicher  und  viel  lebendiger 
ist  die  Darstellung  in  den  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der 
Geschichte,  die  nach  seinem  Tode  herausgegeben  wurden*). 

Hegel  unterscheidet  drei  Arten  der  Geschichtschreibung,  die  ur- 
sprüngliche, wo  man  selbsterlebte  Begebenheiten  erzählt,  die  reflektierte, 
wo  der  Schriftsteller  seinen  eigenen  Geist  in  den  Verlauf  der  Begeben- 
heiten hineinlegt,  und  dann  die  philosophische,  welche  hier 
gegeben  werden  soll.  Sie  ist  im  allgemeinen  nichts  anderes  als  die 
denkende  Betrachtung  der  Geschichte.  „Der  einzige  Gedanke,  den 
die  Philosophie  mitbringt,  ist  aber  der  einfache  Gedanke  der  Vernunft, 
daß  die  Vernunft  die  Welt  beherrsche,  daß  es  also  auch  in  der  Welt- 
geschichte vernünftig  zugegangen  sei"  (42).  Vernunft  aber  ist  Geist. 
Da  nun  die  Weltgeschichte  „auf  dem  geistigen  Boden  vorgeht",  da 
der  Geist  „auf  dem  Theater,  auf  dem  wir  ihn  betrachten,  in  der 
Weltgeschichte,  in  seiner  konkretesten  Wirklichkeit  ist"  (50),  so  müssen 
über  die  Natur  des  Geistes  einige  Betrachtungen  vorausgeschickt 
werden.  Nun  ist,  wie  wir  bereits  oben  sagten,  nach  Hegel  die  wesent- 
lichste Eigenschaft  des  Geistes  die  Freiheit.  „Es  ist  dies  eine  Er- 
kenntnis der  Philosophie,  daß  die  Freiheit  das  einzige  Wahrhafte  des 
Geistes  sei"  (51).  Die  Freiheit  besteht  aber  nur,  wenn  wir  wissen, 
daß  wir  frei  sind.  „Nach  dieser  abstrakten  Bestimmung  kann 
von  der  Weltgeschichte  gesagt  werden,  daß  sie  die  Darstellung  des 
Geistes  sei,  wie  er  sich  das  Wissen  dessen,  was  er  an  sich  ist,  er- 
arbeitet" (52). 

„Die  Orientalen  wissen  es  noch  nicht,  daß  der  Geist  oder  der 
Mensch  als  solcher  an  sich  frei  ist;  weil  sie  es  nicht  wissen, 
sind  sie  es  nicht ;  sie  wissen  nur,  daß  einer  frei  ist,  aber  eben  darum 
ist  solche  Freiheit  nur  Willkür."  „Dieser  Eine  ist  darum  nur  ein 
Despot,  nicht  ein  freier  Mann."  „In  den  Griechen  ist  erst  das  Bewußt- 
sein der  Freiheit  aufgegangen,  und  darum  sind  sie  frei  gewesen. 
Aber  sie  wie  auch  die  Römer  wußten  nur,  daß  einige  frei  sind,  nicht 
der  Mensch  als  solcher"  (52).  „Erst  die  germanischen  Nationen  sind 
im  Christentum  zum   Bewußtsein  gekommen,    daß  der    Mensch   als 


*)  Ich  zitiere  diese  nach  der  leicht  zugänglichen  Ausgabe  in  Reclaius 
Universalbibliothek.  Sorgfältiger  und  vollständiger  ist  die  unlängst  von  Georg 
Lasson  veranstaltete  Neuausgabe  in  zwei  Bänden,  bei  Felix  Meiner  in  Leipzig 
erschienen,  1919  und  1920.  Der  erste  Band  enthält  eine  sehr  grundliche  Ein- 
leitung des  Herausgebers:  „Hegel  als  Geschichtsphilosoph." 


344  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Mensch  frei,  die  Freiheit  des  Geistes  seine  eigenste  Natur  ausmacht. 
Dies  Bewußtsein  ist  zuerst  in  der  Religion,  in  der  innersten  Region 
des  Geistes  aufgegangen,  aber  dieses  Prinzip  auch  in  das  weltliche 
Wesen  einzubilden,  das  war  eine  weitere  Aufgabe,  welche  zu  lösen 
und  auszuführen  eine  schwere,  lange  Arbeit  der  Bildung  erfordert. 
Diese  Anwendung  des  Prinzips  auf  die  Weltlichkeit,  die  Durchbildung 
und  Durchdringung  des  weltlichen  Zustandes  durch  dasselbe  ist  der 
lange  Verlauf,  welcher  die  Geschichte  selbst  ausmacht."  „Die  Welt- 
geschichte ist  der  Fortschritt  im  Bewußtsein  der 
Freiheit,  ein  Fortschritt,  den  wir  in  seiner  Notwendigkeit  zu  er- 
kennen haben"  (53).  Die  Freiheit  „ist  sich  der  Zweck,  den  sie  ausführt, 
und  der  einzige  Zweck  des  Geistes.  Dieser  Endzweck  ist  das,  worauf 
in  der  Weltgeschichte  hingearbeitet  worden,  dem  alle  Opfer  auf  dem 
weiten  Altar  der  Erde  und  in  dem  Verlauf  der  langen  Zeit  gebracht 
worden.  Dieser  ist  es  allein,  der  sich  durchführt  und  vollbringt,  das 
allein  Ständige  in  dem  Wechsel  aller  Begebenheiten  und  Zustände, 
sowie  das  wahrhaft  Wirksame  in  ihnen.  Dieser  Endzweck  ist  das, 
was  Gott  mit  der  Welt  will"  (54). 

Als  Mittel  zu  diesem  Endzweck  verwendet  der  Weltgeist  die 
Interessen,  die  Bedürfnisse  und  die  Leidenschaften  der  Menschen.  Der 
Mensch  hat  ein  natürliches  Bedürfnis  nach  Tätigkeit,  will  aber  auch 
durch  dieselbe  befriedigt  sein.  „Ein  Zweck,  für  welchen  ich  tätig  sein 
soll,  muß  auf  irgendeine  Weise  auch  mein  Zweck  sein"  (57).  „Dies 
ist  das  unendliche  Recht  des  Subjekts,  daß  es  sich  selbst  in  seiner 
Tätigkeit  und  Arbeit  befriedigt  findet"  (58).  Die  Leidenschaften 
werden  zwar  oft  als  etwas  angesehen,  das  nicht  recht  ist,  allein  man 
muß  trotzdem  sagen,  „daß  nichts  Großes  in  der  Welt  ohne  Leiden- 
schaft vollbracht  worden  ist"  (59).  „Das  ist  die  List  der  Ver- 
nunft zu  nennen,  daß  sie  die  Leidenschaften  für  sich  wirken  läßt" 
(70).  Indem  also  die  Menschen  ihren  Trieben  und  Leidenschaften 
folgen,  befördern  sie,  ohne  es  zu  wissen,  den  Endzweck  der  Welt- 
geschichte. 

Ein  ferneres  Mittel  sind  die  „welthistorischen  Individuen",  die 
großen  Männer,  die  ihrer  Zeit  voraus  sind.  „Dies  sind  die  großen 
Menschen  in  der  Geschichte,  deren  eigene  partikulare  Zwecke  das 
Substantielle  enthalten,  welches  Wille  des  Weltgeistes  ist"  (66).  „Ihre 
Sache  war  es,  dies  Allgemeine,  die  notwendige,  nächste  Stufe  ihrer 
Welt  zu  wissen,  diese  sich  zum  Zwecke  zu  machen  und  ihre  Energie 
in  dieselbe  zu  legen"  (67). 

Die  Gestalt  aber,  in  der  sich  das  Bewußtsein  der  Freiheit  allein 
entfalten  kann,  das  ist  der  Staat.  Der  Staat  ist  „die  Wirklichkeit, 
worin  das  Individuum  seine  Freiheit  hat  und  genießt"  (76).  Deshalb 
kann  „in  der  Weltgeschichte  nur  von  Völkern  die  Rede  sein,  welche 
einen  Staat  bilden"  (77).  Das  sind  die  welthistorischen  Völker, 
deren  Geschichte  Hegel  in  dem  Sinne  vorführt,  daß  der  stete  Fortschritt 
offenbar  wird.  Er  betrachtet  in  dieser  Weise  die  orientalische,  die 
griechische,  römische  und  schließlich  die  germanisch-christliche  Welt. 
Erst  in  der  letzteren  hat  der  Staat  die  Form  bekommen,  in  der  das 
Bewußtsein  der  Freiheit  des  Menschen  ein  allgemeines  geworden  ist. 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  345 

m 

Hegel  hat  eine  groß  angelegte  Synthese  von  Kant  und  Herder 
vollzogen.  Mit  Kant  findet  er  im  Staate  das  Ziel  der  Geschichte, 
aber  er  zeigt  auch  mit  Herder,  daß  erst  im  Staate  das  Beste  im 
Menschen  zur  bewußten  Entfaltung  gelangt.  Seine  Geschichtsphilo- 
sophie ist  eine  in  ihrer  Art  großartige  Konzeption.  Die  tiefgründige 
Einfachheit  des  Grundgedankens  und  die  kraftvolle  Zuversicht  in  die 
unendliche  Kraft  des  Menschengeistes  haben  etwas  Imponierendes  an 
sich.  Man  muß  sagen,  daß  man  aus  seiner  Geschichtsbetrachtung 
heute  noch  wertvolle  Anregungen  und  Einsichten  gewinnen  kann. 

Hegels  spekulative  Denkweise  geriet  bald  nach  seinem  Tode  stark 
in  Mißkredit.  Die  induktive  Methode  der  Naturwissenschaft  fand 
auch  in  die  Geisteswissenschaften  Eingang  und  so  begegnen  wir, 
ähnlich,  wie  dies  oben  von  der  Soziologie  gesagt  wurde,  einer  Reihe 
von  Versuchen,  die  Geschichte  naturwissenschaftlich  zu  betrachten  und 
Gesetze  der  geschichtlichen  Entwicklung  zu  finden.  Als  Vorläufer 
dieser  Richtung  bezeichnet  Bernheim  (699)  mit  vollem  Recht  Condorcet, 
der  seine  Skizze  einer  historischen  Darstellung  des  menschlichen  Fort- 
schrittes als  verurteilter  Girondist  im  Gefängnis  verfaßte  (erschienen 
nach  seinem  Tode  im  Jahre  1795).  Condorcet  dringt  auf  größere 
Berücksichtigung  der  Massen  in  der  Geschichte  und  glaubt,  daß  hier 
die  naturwissenschaftliche  Methode  neue  Aufschlüsse  bringen  werde. 
Den  großartigen  Versuch  Auguste  Comtes,  die  Geschichte  nach  posi- 
tivistischen Grundsätzen  zu  behandeln,  haben  wir  bereits  oben  ge- 
würdigt. Bernheim  weist  (712  ff.)  den  großen  Einfluß  Comtes  auf 
die  Folgezeit  nach  und  zeigt  besonders  deutlich,  wieviel  Lamprecht 
aus  Comte  geschöpft  hat.  Hieher  gehören  auch  die  bereits 
genannten  Versuche  Quetelets  und  Buckles,  durch  statistische 
Untersuchungen  Gesetzmäßigkeiten  im  sozialen  Geschehen  nach- 
zuweisen. Die  vollständige  Unzulänglichkeit  der  Statistik,  einem  Ver- 
ständnis der  Geschichte  zu  dienen,  hat  Bernheim  (119  ff.)  geradezu 
schlagend  nachgewiesen. 

Ungleich  bedeutsamer  als  dieses  Suchen  nach  empirischen 
Gesetzen  ist  die  von  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  vertretene 
ökonomische  Geschichtsauffassung,  die  man  häufig 
weniger  passend  als  die  materialistische  bezeichnet*).  Marx 
hat  von  Hegel  den  Drang  nach  einheitlicher  Auffassung  der  Geschichte 
und  zum  Teil  auch  die  dialektische  Methode  übernommen.  Inhaltlich 
steht  er  jedoch  zu  seinem  Meister  in  scharfem  Gegensatze.  Nicht 
der  Weltgeist,  sondern  die  ökonomische  Struktur  der  Gesellschaft, 
die  Art,  wie  die  wichtigsten  Güter  erzeugt  und  verteilt  werden,  be- 
stimmt den  Lauf  der  Geschichte.  „Meine  Untersuchung,"  sagt  Marx 
in  seiner  1851  erschienenen  Schrift  „Zur  Kritik  der  politischen 
Ökonomie",  „mündete  in  dem  Ergebnis,  daß  Rechtsverhältnisse  wie 
Staatsformen  weder  aus  sich  selbst  zu  begreifen  sind  noch  aus  der 
allgemeinen  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes,  sondern  vielmehr 
in   den   materiellen    Lebensverhältnissen   wurzeln,   deren   Gesamtheit 


*)  Eine  kurze    aber  inhaltsvolle  Darstellung  findet  man  bei   Mtidclc,    „Die 
Geschichte  der  sozialistischen  Ideen  im  19.  Jahrhundert"  (1909). 


346  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

Hegel  unter  dem  Namen  der  bürgerlichen  Gesellschaft'  zusammen- 
faßt, daß  aber  die  Anatomie  der  bürgerlichen  Gesellschaft  in  der 
politischen  Ökonomie  zu  suchen  sei.  In  der  gesellschaftlichen  Pro- 
duktion ihres  Lebens  gehen  die  Menschen  bestimmte,  notwendige,  von 
ihrem  Willen  unabhängige  Verhältnisse  ein,  Produktionsverhältnisse, 
die  einer  bestimmten  Entwicklungsstufe  ihrer  Produktionskräfte  ent- 
sprechen. Die  Gesamtheit  dieser  Produktionsverhältnisse  bildet  die 
ökonomische  Struktur  der  Gesellschaft,  die  reale  Basis,  worauf  sich 
ein  juristischer  und  politischer  Überbau  erhebt,  und  welcher  bestimmte 
gesellschaftliche  Bewußtseinsformen  entsprechen.  Die  Produktionsweise 
des  materiellen  Lebens  bedingt  den  sozialen,  politischen  und  geistigen 
Lebensprozeß  überhaupt.  Es  ist  nicht  das  Bewußtsein  der  Menschen, 
das  ihr  Sein,  sondern  umgekehrt  ihr  gesellschaftliches  Sein,  das  ihr 
Bewußtsein  bestimmt."  Alle  großen  Bewegungen  in  der  Geschichte 
sind  demnach  als  Klassenkämpfe  zu  fassen,  die  zwischen  der  wirt- 
schaftlich mächtigeren  und  der  durch  sie  ausgebeuteten  Schichte  der 
Gesellschaft  geführt  werden.  Die  Völkerwanderung,  die  Kreuzzüge, 
die  Reformation  und  die  verschiedenen  politischen  Revolutionen,  sie 
haben  alle  ihren  Grund  in  ökonomischen  Interessen.  Die  politischen, 
moralischen  und  religiösen  Motive,  die  dabei  im  Vordergrund  des 
Bewußtseins  zu  sein  scheinen,  sind  nichts  anderes  als  ein  täuschender 
ideologischer  Überbau,  der  die  wahren  Motive  verhüllt.  Diese  Klassen- 
kämpfe werden  jetzt  in  erneuter  Stärke  beginnen  und  zur  Beseitigung 
der  kapitalistischen  Gesellschaftsordnung  führen,  wodurch  dann  die 
Produktionsverhältnisse  sich  so  gestalten  werden,  daß  sie  nicht  mehr 
dem  Interesse  einer  bevorrechteten  Klasse,  sondern  den  Bedürfnissen 
der  ganzen  Menschheit  angepaßt  sein  werden. 

Die  ökonomische  Geschichtsauffassung  hat  zweifellos  tief  in  die 
Werkstatt  des  geschichtlichen  Lebens  hineingeleuchtet.  Unser  Blick 
für  die  Bedeutung  der  wirtschaftlichen  Interessen  ist  dadurch  geschärft 
und  zahlreiche  wirtschaftsgeschichtliche  Untersuchungen  sind  dadurch 
hervorgerufen  worden.  Wir  begreifen  entschieden  viele  historische 
Bewegungen  besser,  seitdem  wir  gelernt  haben,  auf  die  ökonomische 
Struktur  der  Gesellschaft  zu  achten.  Die  ökonomische  Geschichts- 
auffassung ist  deshalb  als  heuristisches  Prinzip  von  der 
allergrößten  Bedeutung.  Dadurch,  daß  wir  nach  den  ökonomischen 
Motiven  zu  fragen  gelernt  haben,  gewinnen  wir  wichtige  neue  Auf- 
schlüsse. Allein  zur  Deutung  des  gesamten  historischen  Prozesses 
reicht  dieser  einseitige  Gesichtpunkt  doch  keineswegs  aus.  Politische, 
geistige,  sittliche,  ästhetische  und  religiöse  Motive  haben  den  Gang 
der*  Geschichte,  ganz  unabhängig  von  ökonomischen  Interessen, 
mächtig  beeinflußt  und  ihrerseits  stark  auf  das  wirtschaftliche  Leben 
gewirkt.  Dieses  selbst  darf  daher,  wie  Bernheim  (729)  sehr  richtig 
sagt,  nicht  einseitig  überschätzt  werden. 

Eine  Zeitlang  wollten  die  Geschichtsforscher  von  philosophischen 
Betrachtungen  nichts  wissen  und  sahen  in  der  gewissenhaften  Durch- 
forschung der  Quellen  die  einzige  Aufgabe  des  Historikers.  In  der  Tat 
wurde  dann  auch  im  neunzehnten  Jahrhundert  auf  diesem  Gebiete 
eine  Riesenarbeit  geleistet.  Die  Anforderungen  wurden  immer  strenger, 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  347 

die  Methoden  immer  exakter.  Auf  die  historischen  Hilfswissenschaften, 
besonders  auf  die  Inschriften-  und  Papyruskunde  sowie  auf  die  Ur- 
kundenlehre wurde  großer  Fleiß  verwendet  und  wichtige  Organisationen 
zu  diesem  Zwecke  ins  Leben  gerufen.  Auch  heute  noch  ist  diese  genaue 
Tatsachenforschung  in  vollem  Gange  und  wird  immer  unentbehrlich 
bleiben.  Daneben  aber  macht  sich  das  Bedürfnis  nach  einheitlicher 
Zusammenfassung  auch  bei  den  Fachhistorikern  immer  mehr  geltend. 
Karl  Lamprecht  hat  seine  vielumstrittene  Theorie  von  den  Kultur- 
zeitaltern aufgestellt  und  in  seiner  „Deutschen  Geschichte"  durch- 
geführt. Theodor  Lindner  leitet  seine  groß  angelegte  „Weltgeschichte 
seit  der  Völkerwanderung"  durch  eine  „Geschichtsphilosophie"  ein, 
die  ein  besonders  anregendes  Kapitel  über  die  Entstehung  von  „Ideen" 
aus  allgemeinen  Bedürfnissen  enthält.  Eduard  Meyer  eröffnet  die 
neue  Auflage  seiner  berühmten  Geschichte  des  Altertums  mit  „Ele- 
menten der  Anthropologie",  in  denen  er  die  hervorragende  Bedeutung 
des  Staates  und  der  politischen  Entwicklung  gegen  die  zu  starke 
Betonung  des  ökonomischen  Moments  wirksam  verteidigt.  Der  ru- 
mänische Historiker  Xenopol  hat  eine  „Theorie  de  l'histoire"  ge- 
schrieben, worin  er  ebenfalls  den  Staat  und  das  politische  Leben  als 
den  wichtigsten  Gegenstand  der  Geschichte  hinstellt.  Neben  den 
Historikern  sind  auch  Philosophen  den  geschichtsphilosophischen 
Problemen  nähergetreten.  Diithey,  Sitnmel,  Wundt,  Lücken  sind  hier 
besonders  zu  nennen.  Großes  Aufsehen  hat  in  den  letzten  Jahren  das 
Werk  Oswald  Spenglers  gemacht,  das  unter  dem  Titel  „Der  Untergang 
des  Abendlandes"  eine  „Morphologie  der  Geschichte"  von  ganz  neuen 
Gesichtspunkten  aus  zu  geben  unternimmt  (I.  Bd.  1918,  2.  Bd.  1922). 
Eine  einheitliche  Entwicklung  der  Menschheit  gibt  es  nach  Spengler 
überhaupt  nicht :  „Die  Weltgeschichte  ist  die  Geschichte  der 
großen  Kulturen"  (II,  203).  Eine  jede  dieser  Kulturen  entsteht 
aus  unbekannten  Ursachen  zu  einer  bestimmten  Zeit  in  einer  bestimmten 
Landschaft.  Sie  sind  alle  etwas  durchaus  Organisches,  Pflanzenhaftes. 
Jede  Kultur  hat  gleichsam  ihre  eigene  Seele,  so  daß  die  Teilnehmer 
verschiedener  Kulturen  einander  nie  ganz  verstehen  können.  Die 
einzelnen  Kulturen  wachsen  ganz  wie  Organismen,  entfalten  und 
verbreiten  sich,  bis  sie  ihren  Höhepunkt  erreicht  haben.  Dann  ver- 
wandeln sie  sich  in  mechanische  „Z  i  v  i  1  i  s  a  t  i  0  n  e  n",  die  eine 
Zeitlang  weiter  bestehen,  dann  aber  aus  Mangel  an  innerer  organischer 
Kraft  dem  Untergang  geweiht  sind.  Der  Unterschied  von  Kultur 
und  Zivilisation  ist  der  grundlegende  Gedanke  von  Spenglers 
Geschichtsphilosophie.  „Jede  Kultur",  sagt  er,  „hat  ihre  eigene 
Zivilisation.  Zum  erstenmal  werden  hier  die  beiden  Worte,  die  bisher 
einen  vagen,  ethischen  Unterschied  persönlicher  Art  zu  bezeichnen 
hatten,  in  periodischem  Sinne  als  Ausdrücke  für  ein  strenges  und 
notwendiges  organisches  Nacheinander  gefaßt* ) .  Die 
Zivilisation  ist  das  unausweichliche  Schicksal  einer  Kultur.  Hier 


*)  Es  sei  hier  nur  kurz  darauf  hingewiesen,  daß  Ferdinand  Tönnies  diese 
Regelmäßigkeit  der  Aufeinanderfolge  lange  vor  Spengler  ganz  deutlich  und  klar 
erkannt  und  ausgesprochen  hat. 


348  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

ist  der  Gipfel  erreicht,  von  dem  aus  die  letzten  und  schwersten  Fragen 
der  historischen  Morphologie  lösbar  werden.  Zivilisationen  sind  die 
äußersten  und  künstlichsten  Zustände,  deren  eine  höhere 
Art  Mensch  fähig  ist.  Sie  sind  ein  Abschluß;  sie  folgen  dem  Werden 
als  das  Gewordene,  dem  Leben  als  der  Tod,  der  Entwicklung  als  die 
Starrheit,  dem  Lande  und  der  seelischen  Kindheit,  wie  sie  Dorik  und 
Gotik  zeigen,  als  das  geistige  Greisentum  und  die  steinerne,  ver- 
steinernde Weltstadt.  Sie  sind  ein  Ende,  unwiderruflich,  aber  sie 
sind  mit  innerster  Notwendigkeit  immer  wieder  erreicht  worden"  (I,  44). 
Spengler  kennt  ungefähr  acht  solcher  großen  Kulturen,  deren  Ent- 
wicklungsphasen einander  vielfach  entsprechen.  Die  wichtigsten  dar- 
unter sind:  die  antike  oder  die  „apollinische",  die  christlich- 
arabische  oder  die  „magische"  und  schließlich  die  abendländische 
oder  die  „faustisch  e".  In  der  Aufdeckung  der  Zusammenhänge 
zwischen  den  religiösen,  den  politischen,  den  künstlerischen  und  den 
wissenschaftlichen  Gebilden  innerhalb  jeder  einzelnen  Kultur  ist 
Spengler  durchaus  originell  und  anregend.  Was  er  gibt,  läßt  sich 
vielleicht  am  besten  als  eine  Metaphysik  der  Kultur  be- 
zeichnen. Sie  ist,  wie  jede  Metaphysik,  subjektiv  gefärbt,  aber  sehr  reich 
an  genialen  Tiefblicken  und  Ausblicken.  Trotz  der  nicht  seltenen 
Verstöße  gegen  die  geschichtliche  Wirklichkeit  und  trotz  der  ebenfalls 
vorkommenden  verkehrten  Auffassungen  bleibt  sein  Werk  ein  großer 
Wurf,  der  der  historischen  Forschung  auch  wichtige  neue  Probleme 
und  Aufgaben  erschlossen  hat.  Geschichtsphilosophisch  bedeutet  es 
deshalb  weniger,  weil  der  Verfasser  durchaus  irrationalistisch  orientiert 
ist,  und  vor  allem  deshalb,  weil  ihm  die  soziologische  Betrachtungs- 
weise ganz  fremd  geblieben  ist. 

Nun  sollen  noch  gewisse  methodologische  Untersuchungen, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  über  die  Stellung  der  Geschichte  im 
System  der  Wissenschaften  angestellt  wurden,  eine  kurze  Besprechung 
erfahren. 

Windelband  und  Rickert  haben  dazu  den  Anstoß  gegeben.  Die 
Geschichte  soll  nach  der  Anschauung  dieser  Denker  sich  von  den 
Naturwissenschaften  nicht  dadurch  unterscheiden,  daß  sie  es  vor- 
wiegend mit  geistigen  Vorgängen  zu  tun  habe.  Der  Unterschied 
muß  vielmehr  ganz  wo  anders  gesucht  werden.  Die  Naturwissen- 
schaften, besonders  die  Physik  und  Chemie,  suchen  nicht  den  individuell 
bestimmten  Vorgang  zu  erforschen,  sondern  das  Gesetz  zu  finden, 
das  die  Vorgänge  beherrscht.  Die  Geschichte  hingegen  hat  es  mit 
dem  Einmaligen,  dem  Individuellen  zu  tun,  das  sich 
nicht  wiederholt.  Es  gibt  also  zwei  verschiedene  Methoden,  welche 
die  Wissenschaft  bei  der  Erforschung  der  Wirklichkeit  verwendet. 
Die  eine  ist  die  g  e  n  e  r  a  1  i  s  i  e  r  e  n  d  e,  und  diese  sucht  der  Wirklich- 
keit durch  allgemeine  Begriffe  beizukommen  und  Gesetze  des  Ge- 
schehens zu  finden.  Der  einzelne  Vorgang,  das  einzelne  Ding,  sind 
hier  nur  „Exemplare".  Man  achtet  nur  auf  die  Merkmale,  die  sie 
mit  anderen  gemeinsam  haben.  Diese  Methode  herrscht  ebenso  in 
der  Physik  wie  in  der  Psychologie.  Die  generalisierende  Methode 
wird   also   auf   Physisches   und    Psychisches   in   gleicher   Weise  an- 


§  51.  Die  Philosophie  der  Geschichte  34g 

gewendet.  Daneben  aber  gibt  es  noch  eine  ganz  andere  Forschungs- 
methode. Diese  betrachtet  die  einzelnen  Vorgänge  und  die  einzelnen 
Menschen  in  ihrer  nur  einmal  gegebenen  Individualität  und  heißt 
deshalb  die  individualisierende  Methode.  Das  ist  die  Be- 
trachtungsweise aller  historischen  Wissenschaften. 

Da  nun  nicht  alle  einzelnen  Vorgänge  und  auch  nicht  alle  ein- 
zelnen Menschen  Gegenstand  der  Geschichte  sind,  so  muß  auch  die 
individualisierende  Methode  eine  Auswahl  treffen.  Bestimmend 
für  diese  Auswahl  ist  die  Beziehung  auf  Kultur  werte.  Wir 
erhalten  demnach  neben  dem  formalen  Gegensatz  der  Methode  auch 
einen  inhaltlichen  Unterschied  in  bezug  auf  den  Gegen- 
stand der  beiden  Wissenschaftsgruppen.  Rickert  setzt  also  an  die 
Stelle  der  früheren  Einteilung  in  Natur-  und  Geisteswissen- 
schaften eine  neue  Klassifikation.  Wir  haben  auf  der  einen  Seite 
die  Naturwissenschaften,  die  sich  einerseits  der  generali- 
sierenden Methode  bedienen,  anderseits  ihre  Objekte  in  ihrer  reinen 
Tatsächlichkeit  ohne  jede  Beziehung  auf  menschliche  Werte  betrachten. 
Die  andere  Gruppe  bilden  die  Kulturwissenschaften, 
welche  sich  der  individualisierenden  Methode  bedienen  und  zugleich 
die  „Wertbeziehungen"  berücksichtigen.  Die  neue  Einteilung  macht 
zweifellos  auf  einen  tatsächlich  bestehenden  Unterschied  aufmerksam 
und  hat  deshalb  viel  Beifall  gefunden.  Überdies  haben  manche 
Historiker  und  Philologen  diese  methodologische  Untersuchung  mit 
Freude  begrüßt,  weil  sie  dadurch  ein  für  allemal  des  lästigen  Suchens 
nach  allgemeinen  Gesetzen  der  Geschichte  enthoben  sind  und  sich  mit 
beruhigtem  logischen  Gewissen  liebevoll  in  die  Einzelforschung  ver- 
senken dürfen. 

Wir  haben  hier  den  logischen  Wert  dieser  Klassifikation  nicht 
zu  untersuchen.  Uns  interessiert  an  dieser  Stelle  nur  die  Frage,  ob 
diese  Auffassung  der  Geschichte  als  individualisierender  Kultur- 
wissenschaft zum  Verständnis  der  historischen  Entwicklung  beitragen 
und  uns  etwas  über  den  Sinn  der  Geschichte  lehren  kann.  Diese  Frage 
müssen  wir  nun  von  unserem  Standpunkte  entschieden  verneinen. 
Wenn  ich  mir  es  recht  oft  und  recht  deutlich  zum  Bewußtsein  bringe, 
daß  es  nur  einen  Alexander  den  Großen,  nur  eine  französische 
Revolution,  nur  einen  Deutsch-Französischen  Krieg  von  1870  ge- 
geben hat,  so  gewinne  ich  damit  für  das  Verständnis  dieser  Dinge 
gar  nichts,  werde  zu  keinerlei  neuen  Fragestellungen  angeregt  und 
somit  bleibt  dieser  individualisierende  Gesichtspunkt  unfruchtbar. 
Die  Beziehung  auf  Kulturwerte  ist  wiederum  so  selbstverständlich 
und  dabei  so  allgemein,  daß  ich  daraus  allein  nichts  lernen  kann. 
Wenn  nun  Rickert  in  seiner  Abhandlung  über  Geschichtsphilosophie*) 
zum  Ergebnis  gelangt,  daß  „die  Grundlagen  der  Geschichtsphilosophie 
mit  den  Grundlagen  einer  Philosophie  als  Wertwissenschaft"  zu- 
sammenfallen (394),  so  meint  er  damit  eine  Philosophie  der  Werte, 
die  auf  apriorischen  Konstruktionen  aufgebaut  und  metaphysisch  be- 


*)  In  dem  Sammelwerke:  „Die  Philosophie  im  Beginne  des  20.  Jahrhundert-", 
herausgegeben  von  Windelband,  2.  Aufl.,  1907,  S.  321—422. 


35U  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

gründet  werden  müßte.  Tatsächlich  hat  ja  Rickert  in  seinem  Begriff 
des  „transzendenten  Sollens"  ein  metaphysisches  Fundament  zu  finden 
geglaubt.  Von  unserem  Standpunkt  könnte  allerdings  eine  derartige 
Begründung  nur  wenig  befriedigen.  Überdies  hat  Rickert  manche  auch 
von  seinem  Standpunkte  aus  wichtige  Fragen  gar  nicht  berührt.  So  hat 
er  es  z.  B.  unterlassen,  das  Wesen  der  historischen  Wahr- 
scheinlichkeit zu  untersuchen  und  den  Unterschied  gegenüber 
der  naturwissenschaftlichen  Wahrscheinlichkeit  klarzustellen,  eine 
Frage,  die  mir  methodologisch  zu  den  allerwichtigsten  zu  gehören 
scheint.  Ferner  vermißt  man  bei  Rickert  so  ganz  und  gar  den  sozio- 
logischen Gesichtspunkt.  Wer  mit  dem  Wertbegriff  operiert,  der  müßte 
sich  doch  heute  schon  sagen,  daß  in  der  Erfahrung  alle  Kulturwerte 
nur  dadurch  bestehen,  daß  viele  Menschen  dieselben  für  Güter  halten. 
Der  Wertbegriff  ist  seiner  Entstehung  und  Geltung  nach  zweifellos 
eine  soziologische  Kategorie.  Endlich  wirkt  Rickert  durch  seine  geradezu 
feindselige  Stellung  gegenüber  der  Psychologie  darauf  hin,  das  wich- 
tigste Mittel  zum  Verständnis  geschichtlicher  Vorgänge,  nämlich  die 
tief  eindringende  psychologische  Zergliederung,  als  überflüssig  und 
wertlos  erscheinen  zu  lassen.  Wir  können  also  sagen,  daß  die 
Windelband-Rickertsche  Auffassung  der  Geschichte  als  Wissenschaft 
für  die  Logik  und  Methodologie  eine  gewisse  Bedeutung  besitzt,  daß 
sie  aber  für  das  Verständnis  der  historischen  Entwicklung  wenig  leistet 
und  hier  zum  Teil  sogar  hemmend  zu  wirken  geeignet  ist. 

Wichtiger  als  derartige  methodologische  Erörterungen  wäre  es 
für  die  Geschichtsphilosophie,  einen  allgemeinen  Gesichtspunkt  zu 
finden,  der  geeignet  wäre,  das  Wesen  der  geschichtlichen  Entwicklung 
heller  zu  durchleuchten,  als  die  bisher  aufgestellten  Richtungen 
und  Ziele.  Im  Anschluß  an  das,  was  oben  über  Kants  Geschichts- 
philosophie gesagt  wurde,  möchte  ich  nun  die  Beziehungen 
zwischen  Gesellschaft  und  Individuum  als  den 
Kernpunkt  alles  historischen  Geschehens  betrachten  und  der  Meinung 
Ausdruck  geben,  daß  durch  psychologische,  geschichtliche  und  sozio- 
logische Untersuchung  dieses  Verhältnisses  der  Sinn  und  das  Ziel 
der  Geschichte  genauer  und  konkreter,  als  dies  bisher  geschehen  ist, 
bestimmt  werden  könnte.  Die  Völkerkunde  sagt  uns,  daß  der  primitive 
Mensch  in  einer  vollständigen  Gebundenheit  an  Glaube,  Brauch 
und  Sitte  seines  Stammes  dahinlebt,  und  daß  seine  Erkenntnisse  haupt- 
sächlich aus  sozialen  Verdichtungen  bestehen.  Die  Geschichte  hätte 
nun  zu  zeigen,  wie  sich  das  Individuum  allmählich  von  der  Tradition 
losringt  und  durch  seine  innere  Erstarkung  selbst  auf  die  Entwicklung 
des  geschichtlichen  Lebens  Einfluß  gewinnt.  Wir  würden  dann  sehen, 
wie  sehr  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  Welt,  die  künstlerische 
Gestaltung  des  Lebens  sowie  die  Verinnerlichung  und  Vertiefung  des 
religiösen  Gefühls  mit  diesem  Befreiungskampf  des  Individuums  zu- 
sammenhängt. Vor  allem  aber  würde  die  politische  und  die  wirtschaft- 
liche Entwicklung  des  Menschengeschlechtes  durch  diese  Betrachtungs- 
weise in  eine  neue  Beleuchtung  gerückt.  Kants  Begriff  der  „un- 
geselligen Geselligkeit"  würde  sich  als  fruchtbar  erweisen  und  zugleich 
eine  wesentliche  Erweiterung  und  Klärung  erfahren.   Alle  die  Kämpfe, 


§  52.  Pädagogik  35 1 

die  sich  seit  dem  fünften  Jahrhundert  vor  Christus  in  Griechenland, 
in  Rom,  im  christlichen  Mittelalter,  in  der  Reformation  und  im 
Humanismus  abgespielt  haben,  ließen  sich  von  diesem  Standpunkt 
aus  neu  beleuchten.  In  der  neueren  Zeit  tritt  es  immer  deutlicher 
zutage,  daß  es  sich  wirklich  um  eine  Regelung  der  Beziehungen 
zwischen  Gesellschaft  und  Individuum  handelt.  Die  Erklärung  der 
Menschenrechte  und  die  sozialistische  Bewegung  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  würden  dann  als  vorläufige  Endglieder  einer  langen 
Entwicklungsreihe  erscheinen. 

Als  Ziel  dieser  Entwicklung  könnte  dann  eine  Synthese 
von  Individualismus  und  Sozialismus  angesehen 
werden,  in  der  die  berechtigten  Interessen  des  Einzelnen  und 
der  Gesellschaft  durch  sozialpolitische  Organisationen  innerhalb 
des  Staates  sowie  durch  internationale  Institutionen  in  bezug 
auf  die  Staaten  untereinander  in  vollkommen  harmonischer  Weise 
gewahrt  und  befriedigt  werden  könnten.  Herders  „Humanität" 
und  Hegels  „Fortschritt  im  Bewußtsein  der  Freiheit"  würden 
dann  erst  ihren  konkreten  Inhalt  bekommen  und  tatsächlich 
als  erstrebenswerte  Ziele  der  Geschichte  erkannt  werden.  Die 
von  mir  aufgestellte,  oben  erläuterte  Forderung  der  Staaten- 
würde würde  sich  dann  als  Zielpunkt  der  Entwicklung  ergeben, 
die  in  einem  zur  Einheit  zusammengeschlossenen  Bunde  der  Staaten 
und  Völker  ihren  zur  Dauer  bestimmten  Abschluß  fände.  Vielleicht 
würde  sich  dabei  auch  der  Gedanke  Kants  verwirklichen,  daß  eine 
derartige  Geschichtsbetrachtung  selbst  mit  dazu  beitragen  könnte, 
das  deutlich  erkannte  Ziel  der  Menschheitsentwicklung  schneller  und 
sicherer  zu  erreichen. 

§  52.  Pädagogik 

In  engem  Zusammenhange  mit  den  Problemen  der  Ethik  und 
Soziologie  steht  die  Erziehungslehre  oder  Pädagogik. 
Wenn  wir  dem  Ideal  des  sittlich  vollkommenen  Menschen  allmählich 
näherkommen  wollen,  wenn  wir  unser  ganzes  Streben  darauf  richten, 
einen  Zustand  der  menschlichen  Gesellschaft  herbeizuführen,  in 
welchem  die  oben  geforderte  Synthese  von  Individualismus  und  So- 
zialismus immer  allgemeiner  als  Notwendigkeit  erkannt  und  gefühlt 
wird,  dann  müssen  wir  auf  die  heranwachsende  Generation  derart 
einzuwirken  bemüht  sein,  daß  sie  fähig  und  geneigt  werde,  die  Mensch- 
heit diesem  ersehnten  Ziele  einen  Schritt  näher  zu  bringen,  daß  sie  in 
diesem  Sinne  weiter  arbeite  und  mehr  leiste,  als  wir  selbst  vermochten. 
Deshalb  brauchen  wir  eine  Philosophie  der  Erziehung,  die  auf  Grund 
umfassender  Erfahrung  durch  eindringende  psychologische,  ethische 
und  vor  allem  soziologische  Untersuchungen  das  Wesen 
und  das  Ziel  der  Erziehung  feststellt  und  uns  die  Wege 
zeigt,  auf  denen  wir  uns  diesem  Ziele  zu  nähern  vermögen. 

Es  kann  hier,  wo  es  lediglich  auf  den  philosophischen  Gehalt 
der  Erziehungslehre  ankommt  und  nicht  auf  praktische  Anweisungen 
für  Eltern  und  Lehrer,    keineswegs  unsere  Aufgabe  sein,    die  jähr- 


352  Soziologie  und  Gesclilchtsphilosophie 

tausendelange  Entwicklung  der  Pädagogik  und  Drdaktik  (Unterrichts- 
lehre) auch  nur  zu  skizzieren.  Ebenso  müssen  wir  darauf  verzichten, 
die  pädagogischen  Richtungen  und  Strömungen  der  Gegenwart  zu 
charakterisieren  und  Stellung  dazu  zu  nehmen.  Wir  beschränken  uns 
daher  auf  einige  ganz  allgemeine  Bemerkungen,  die  sich  aus  unseren 
bisherigen  Betrachtungen  ergeben. 

Unsere  soziologische  Ethik  hat  uns  gelehrt,  daß  sich  die  sitt- 
lichen Forderungen  am  besten  in  die  zwei  Kategorien  der  M  e  n  s  c  h  e  n- 
pf  licht  und  Menschenwürde  zusammenfassen  lassen.  Der 
Begriff  der  Pflicht  enthält  das  konservative  und  das  s  o  z  i  a  1  e 
Moment,  während  die  Menschenwürde  das  fortschrittliche 
und  das  individualistische  Element  der  sittlichen  Entwick- 
lung darstellt.  In  unseren  Darlegungen  über  die  gegenwärtige  Auf- 
gabe der  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie  wurde  die  Synthese 
von  Individualismus  und  Sozialismus  als  das  Ziel  bezeichnet,  auf 
welches  die  Entwicklung  der  Menschheit  gerichtet  ist  und  gerichtet 
sein  soll.  Halten  wir  diese  zweifache  Entwicklungstendenz  der  Menschen 
und  der  Menschheit  fest,  so  ergibt  sich  daraus  eine  doppelte  Aufgabe 
der  Erziehung. 

1.   Jedes   Kind  kommt  mit  einer  individuell  bestimmten  körper- 
lichen Struktur  und  mit  eigenartigen  seelischen  und  geistigen  Anlagen 
auf  die  Welt.    Es  ist  nun  Sache  der  Erziehung,  durch  Pflege,  Zucht 
und  Unterricht  dafür  zu  sorgen,  daß  das  Kind  sich  zu  einem  gesunden, 
kräftigen   Menschen   entwickle,    der  sich  von  seiner  Umgebung    mit 
Verständnis  Rechenschaft  zu  geben  vermag.    Zu  diesem  Zweck  muß 
er  auch  mit  den  nötigen   Kenntnissen  ausgestattet  sein,  die  ihn  be- 
fähigen, sich  das  Feld  seiner  Tätigkeit  zu  wählen,  seinen  Platz  in 
der  menschlichen  Gesellschaft  auszufüllen.    Seine  besonderen  Anlagen 
und     Fähigkeiten    müssen    Gelegenheit    finden,    sich    zu    entfalten, 
damit   die   größte    individuelle    Leistungsfähigkeit   und   zugleich    die 
größte  Glücksmöglichkeit  erreicht  werde.    Das   Recht  auf  eine  der- 
artige  Erziehung  bringt  jedes  neugborene   Kind  mit  auf  die  Welt, 
und  dieses  Recht  des  Kindes  ist  zugleich  die  Pflicht 
seiner  Erzieher.  Die  Erzieher  sind  aber  heute  keineswegs  bloß 
die  Eltern  und  Lehrer.    Der  wichtigste  und  zugleich  der  mächtigste 
Erzieher  ist  der  Staat,  der  sich  in  der  zivilisierten  Menschheit  immer 
mehr  zum  ausschlaggebenden   Mandatar  der  Gesellschaft  entwickelt 
hat.    Es  gehört  deshalb  zu  den  höchsten  und  heiligsten  Pflichten  des 
Staates,  für  die  Erziehungsmöglichkeiten  jedes  Kindes  zu  sorgen  und 
die  Pflichten  der  Erziehung  den  Eltern  und  Lehrern  auf  jede  Weise, 
im  Notfalle  auch  durch  Zwangsmittel,  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 
Es  hat  Zeiten  gegeben,  wo  die  Eltern  ihr  Kind  zu  ihren  eigenen 
Zwecken  erzogen  und  ausgebildet  haben.    Der  Bauer  zieht  sich  in 
seinen  Söhnen  und  Töchtern  verläßliche  und  brauchbare  Knechte  und 
Mägde  heran,  die  ihm  bei  der  Arbeit  helfen.    Kinderreichtum  ist  für 
ihn  ein  Segen,  weil  er  dadurch  einen  größeren  Grundbesitz  bewirt- 
schaften und  so  seinen  Wohlstand  mehren  kann.    Der  Handwerker 
bildet  seine  Söhne  zu  Gehilfen  aus,  die  ihn  in  seinem  Gewerbe  unter- 
stützen.   Nun  bleibt  ja  hoffentlich  noch  für  lange  Zeit  die  Familie 


§  52.  Pädagogik  353 

die  Grundlage  des  Staates.  Da  wird  es  nun  immer  so  sein  daß  die 
Kinder  für  die  Erhaltung  des  Ganzen  mitsorgen,  daß  sie  im  Haushalt 
mithelfen  und  im  Notfall  mitverdienen.  Allein  die  patriarchalische 
Anschauung,  wonach  der  Vater  der  absolute  Herrscher  ist  der  seine 
Kinder  als  sein  Eigentum  betrachtet,  mit  dem  er  nach  Belieben  schalten 
und  walten  darf,  diese  Anschauung  hat  wohl  für  immer  ihre  Geltung 
vollständig  verloren.  Die  E  n  t  w  i  c  k  1  u  n  g  s  1  e  h  r  e  hat  die  Richtung 
und  das  Ziel  der  Erziehung  ganz  gewaltig  verändert  Die  Kinder 
sind  heute  für  die  Eltern  längst  nicht  mehr  Mittel,  sie  sind  vielmehr 
zum  höchsten   und  heiligsten   Selbstzweck  geworden. 

Diese  Auffassung  ist  ja  keineswegs  erst  von  gestern.  Lesen  wir 
doch  schon  bei  Homer  (II.  VI,  476),  wie  Hektor  den  Wunsch  aus- 
spricht, man  möge  dereinst  von  seinem  Sohne  sagen,  er  sei  viel  besser 
als  sein  Vater.  Die  Pflicht  der  Erziehung  hat  vielleicht  niemals  einen 
kürzeren  und  zugleich  inhaltsvolleren  Ausdruck  gefunden  als  in  den 
Worten,  die  Kriton  in  dem  gleichnamigen  Dialoge  Piatons  zu  Sokrates 
spricht:  „Man  darf  entweder  keine  Kinder  in  die  Welt  setzen,  oder 
man  muß  sich  mit  ihnen  bis  zu  Ende  plagen  (aov8tataX«wca>peiv), 
indem  man  sie  ernährt  und  erzieht."  {Kriton,  c.  5,  p.  45  d.)  Allein  durch 
den  Entwicklungsgedanken  hat  diese  Pflicht  eine  naturwissenschaft- 
liche oder,  vielleicht  richtiger  gesagt,  eine  organische  Begründung 
gefunden,  die  ihre  innere  Notwendigkeit  und  ihre  Allgemeingültigkeit 
gewährleistet.  Auch  ist  das  Verhältnis  der  Eltern  zu  den  Kindern  durch 
diesen  Gedanken  in  eine  wesentlich  andere  Beleuchtung  gerückt  worden. 

Wer  von  dieser  großen  Idee  ganz  durchdrungen  ist,  der  sieht 
in  seinem  eigenen  und  in  jedem  fremden  Kinde  den  Träger  einer  neuen 
Generation  und  einer  neuen  Zeit.  Nicht  zu  meinen  Zwecken  darf 
ich  mein  Kind  erziehen,  daß  es  mir  bei  meiner  Arbeit  helfe.  Ich  muß 
vielmehr  das  Kind  so  sorgfältig  als  möglich  beobachten,  um  seine 
besonderen  Anlagen  und  Fähigkeiten  kennen  zu  lernen.  Ich  muß  alles 
aufbieten,  damit  sich  diese  Anlagen  kräftig  entfalten  können,  muß  ihm, 
so  gut  ich  kann,  die  Hindernisse  aus  dem  Wege  räumen,  dabei  jedoch 
seine  Kräfte  nicht  nur  entwickeln,  sondern  auch  schulen.  Mein  heißes 
Bemühen  muß  darauf  gerichtet  sein,  das  Kind  zu  einem  selbständigen, 
eigenkräftigen  und  urteilsfähigen  Menschen  zu  machen,  der  seinen  Weg 
im  Leben  selbst  zu  suchen  und  zu  finden  vermag.  Wenn  das  Kind 
dann  zu  anderen  Anschauungen  gelangt,  die  nicht  ganz  die  meinen 
sind,  so  muß  ich  mich  darein  fügen,  daß  es  mit  der  Zeit  über  mich 
hinauswächst  und  anderen  Idealen  nachstrebt.  Das  Kind  hat  ein  Recht 
auf  meine  Fürsorge,  auf  meine  Hilfe,  auf  meinen  Rat.  Ich  habe  aber 
kein  Recht  auf  seine  Zukunft,  auf  seine  Übereinstimmung  mit  meiner 
Weltanschauung,  auf  seinen  dauernden  Gehorsam.  Ich  darf  mich  an 
seinem  Glücke  freuen,  aber  ich  darf  nicht  verlangen  und  erwarten, 
daß  es  das  Glück  dort  sucht,  wo  ich  es  gesucht  habe.  Wir  haben 
bereits  oben  das  beherzigenswerte  Wort  Hegels  zitiert:  „Das  ist  das 
unendliche  Recht  des  Subjektes,  daß  es  sich  selbst  in  seiner  Tätigkeit 
und  Arbeit  befriedigt  findet."  Dieser  Grundsatz  muß  für  die  Aufgabe 
der  Erziehung  maßgebend  sein.  Dem  Kinde  zu  einer  seinen  Anlagen 
und   Fähigkeiten  entsprechenden  Tätigkeit  zu  helfen,  seine   Kräfte  so 

Jerusalem,  Einleitung  In  die  Philosophie.  9.  11.   10.  Aufl.  23 


354  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 

zu  entfalten,  daß  es  „vollendet  in  sich"  werde,  das  ist  gegenwärtig 
das  allerwichtigste  Ziel  aller  Erziehung.  Wir  können  demnach  sagen, 
daß  die  Pflicht  aller  Erzieher,  soweit  das  Kind  als  einzelnes  Indi- 
viduum in  Betracht  kommt,  nichts  anderes  ist  als  ausgiebige, 
allseitige  und  verständnisvolle  Entwicklung  s- 
h  i  1  f  e. 

Diese  Forderung  bezieht  sich  auf  das  ganze  Leben  des  Kindes, 
auf  sein  körperliches  und  auf  sein  geistiges  Sein.  Entwicklungshilfe 
ist  Pflege  und  Zucht,  sie  schließt  aber  auch  den  Unterricht  in  sich. 
Die  Gegenwart  stellt  ungewöhnlich  hohe  Anforderungen  an  die 
Leistungsfähigkeit  des  Menschen  und  deshalb  müssen  wir  dem 
werdenden  Menschen  dazu  helfen,  daß  er  tüchtige  Waffen  bekomme 
zum  schweren  Kampf  ums  Dasein.  Das  menschliche  Individuum 
besitzt  Eigenwert  und  darum  ein  Recht  auf  Existenz*) 
und  auf  Erziehung. 

Die  Entwicklungshilfe  wird  immer  allseitiger  und  immer  wirk- 
samer werden  können,  weil  die  biologischen  und  namentlich 
die  psychologischen  Forschungen  der  Gegenwart  immer  tiefer 
in  das  Leben  und  in  die  Seele  hineinleuchten.  Die  verfeinerten 
Methoden  der  experimentellen  Psychologie  und  der 
daraus  entstandenen  experimentellen  Pädagogik  haben 
uns  bereits  in  bedeutendem  Umfang  die  Möglichkeit  gegeben,  In- 
telligenz und  Begabung  der  Schulkinder  exakter  zu  prüfen,  und  aus 
der  Vervollkommnung  dieser  Methoden  dürften  sich  wichtige  Maß- 
nahmen für  die  Berufswahl  ergeben.  Neben  diesen  wissenschaftlichen 
Methoden  wird  allerdings  immer  noch  ein  weiter  Spielraum  übrig- 
bleiben für  die  liebevolle  Beobachtung  der  Kinder  seitens  der  Eltern 
und  Lehrer,  die  nach  wie  vor  berufen  sein  werden,  sich  über  die 
Eigenart  jedes  Kindes  ein  Urteil  zu  bilden. 

In  derselben  Richtung  bewegen  sich  die  Forderungen  nach  einer 
Arbeitsschule  statt  der  alten  Lernschule,  damit  der  natürliche 
Beschäftigungstrieb  der  Kinder  ein  geeignetes  Betätigungsgebiet  finde. 
Ebenso  wollen  die  Bestrebungen  nach  möglichster  Individualisierung 
im  Unterricht,  nach  freierer  Fächerwahl  in  den  höheren  Klassen  der 
individuellen  Entfaltung  der  Schülerpersönlichkeit  dienen.  Denselben 
Zweck  verfolgen  auch  die  immer  zahlreicher  werdenden  Land- 
erziehungsheime. Wir  sehen  also,  daß  das  Prinzip  der  Entwicklungs- 
hilfe sich  allmählich  durchzusetzen  beginnt. 

2.  Neben  dem  Rechte  des  Individuums  nach  allseitiger  Entfaltung 
machen  sich  die  Forderungen  der  Gesellschaft  in 
gebieterischer  Weise  geltend  und  verlangen  Berücksichtigung  in  der 
Erziehung    der    heranwachsenden    Generation.     Dieses   soziologische 

•  ')  Josef  Poppcr-Lynkeus  hat  in  seinem  Buche:  „Das  Individuum  und  die 
Bewertung  menschlicher  Existenzen",  1910,  dieses  Recht  mit  großer  Wärme 
verteidigt  und  in  seinem  letzten  großen  Werke:  „Die  allgemeine  Nährpflicht 
als  Lösung  der  sozialen  Frage"  (1912)  gezeigt,  daß  der  Staat  die  Pflicht  hat, 
jedem  seiner  Bürger  das  Lebensnotwendige  zu  gewährleisten.  Durch  zahlreiche 
statistische  Belege  hat  der  Verfasser  die  praktische  Durchführbarkeit  dieser 
„Nährpflicht"   nachzuweisen   versucht. 


§  52.  Pädagogik  355 

Moment  formuliert  Paul  Barth*)  kurz  und  treffend   in  dem   Satze- 
„Erziehung  ist   die   Fortpflanzung  der  Gesellschaft."     Der   Mensch 
kann  sich,  das  weiß  man  lange,  nur  in  der  Gesellschaft  zum  Menschen 
entwickeln.    Heute  aber  betont  man  immer  stärker,  daß  er  nicht  nur 
durch  die  Gesellschaft,  sondern  auch  für  die  Gesellschaft  leben 
muß.    Deswegen  kann  man  gar  nicht  frühe  genug  damit  anfangen 
die  Kinder  mit  sozialem  Geiste  zu  erfüllen,    das  heißt 
man  muß  es  den  Zöglingen  zum  Bewußtsein  bringen,  daß  jeder  Mensch 
eben  dadurch,  daß  er  die   Einrichtungen  der  Gesellschaft  zu  seiner 
Ausbildung,  zu   seinem   Erwerb   und  zu   seinem  Vergnügen   benutzt, 
auch  schon   die  Verpflichtung   übernimmt,    zur   Erhaltung   und   zur 
Weiterentwicklung  der  menschlichen  Gesellschaft  nach   Kräften    bei- 
zutragen.   Laut  und  eindringlich  ertönt  überall  der  Ruf  nach   einer 
Sozialpädagogik,  damit  die  Jugend  für  ihren  künftigen  sozialen 
Beruf  besser  vorbereitet  werde.    In   Amerika,    wo  man  alles  gleich 
praktisch  anfängt,   ist  die   Idee  einer  sozialen   Erziehung  bereits  in 
zahlreichen  Einrichtungen  verwirklicht.   Man  hat  dort  „Schulstädte", 
ja  sogar  „Schulstaaten"  errichtet,  in  denen  die  Schüler  Gelegenheit 
haben,  sich  im  Zusammenleben  selbst  zu  betätigen  und  sich  so  praktisch 
für  das   Leben  im  Staate  vorzubereiten.    Die  Schüler  nehmen  werk- 
tätigen Anteil  an  der  Aufrechterhaltung  der  Ordnung,  beratschlagen 
in  Versammlungen  über  neue  zweckmäßige  Maßnahmen,  wählen  ihre 
Vertreter,  sitzen  über  ihre  Kameraden  zu  Gericht  und  lernen  so  sich 
im   öffentlichen    Leben    bewegen.     Sie  verlieren   bald   die   Scheu,   vor 
einer  Versammlung   zu   sprechen,   lernen,   sich   den    Beschlüssen   der 
Mehrheit    unterzuordnen    und    bekommen    ein    viel    stärkeres    Ver- 
antwortungsgefühl.    In   der  Schweiz,    in    Deutschland  und 
auch  in  Österreich  sind  in  letzter  Zeit  mehrfach  Versuche  mit  der 
„Selbstregierung"   gemacht  worden,   die   zum   großen    Teil   sehr   be- 
friedigende Resultate  ergeben  haben. 

Diese  Bestrebungen  werden  jetzt  nach  dem  Kriege  energisch  fort- 
gesetzt und  man  darf  hoffen,  daß  die  neu  zu  schaffenden  Einrichtungen 
in  nicht  zu  ferner  Zeit  bereits  deutlich  sichtbare  Wirkungen  zeitigen 
werden. 

Es  gibt  noch  andere  Mittel,  den  sozialen  Geist  in  der  Erziehung 
zu  pflegen.  Indem  man  die  Kinder  schon  in  der  Familie  zu  kleinen 
Arbeiten  heranzieht,  die  für  den  Haushalt  wichtig  sind,  indem  man 
in  allen  Unterrichtsfächern  auf  die  Notwendigkeit  der  menschlichen 
Gemeinschaft  und  auf  die  Ergebnisse  des  Zusammenarbeitens  hinweist, 
und  besonders  im  Sprachunterricht  das  soziologische  Moment  der 
Sprache  deutlich  zum  Bewußtsein  bringt,  wirkt  man  ebenfalls  mit 
zur  sozialen  Erziehung  der  Jugend**).  Schon  dadurch,  daß  wir 
unsere  Zöglinge  an  regelmäßige  Arbeit  gewöhnen,  tragen  wir  viel 
zu  ihrer  sozialen  Ausbildung  bei.    Sicher  ist,  daß  wir  alles  daran- 

*)  In  dem  sehr  inhaltsvollen  und  lehrreichen  Buche:  „Die  Geschichte  der 
Erziehung  in  soziologischer  und  geistesgeschichtlicher  Beleuchtung",  1011, 
S.  5  und  öfter. 

**>  Vg"1-  Jerusalem,  „Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren  Schulen".  1912, 
S.  290  ff. 

23" 


350  Soziologie  und  Geschichtsphilnsophie 

setzen  müssen,  um  unsere  Kinder  nicht  nur  zu  eigenkräftigen  Per- 
sönlichkeiten, sondern  auch  zu  Mitgliedern  der  menschlichen  Gesell- 
schaft zu  erziehen  und  ihnen  ein  starkes  soziales  Verantwortungsgefühl 
einzuflößen. 

Erziehung  ist  also,  insofern  der  Mensch  als  Einzelwesen  in 
Betracht  kommt,  Entwicklungshilfe,  und  da  er  zugleich  ein 
soziales  Wesen  ist,  Fortpflanzung  der  Gesellschaft. 
Diese  beiden  Aufgaben  sind  jedoch  keineswegs  entgegengesetzte  Ent- 
wicklungsrichtungen. Die  Gesellschaft  hat  das  stärkste  Interesse  daran, 
daß  ihre  Mitglieder  möglichst  starke  und  selbständige  Persönlichkeiten 
werden,  denn  auf  diesen  beruht  ihr  Reichtum  und  ihre  Kraft.  Jeder 
einzelne  Mensch  wird  aber  immer  deutlicher  einsehen,  daß  es  für  ihn 
keine  energischere  und  keine  beglückendere  Betätigung  seiner  Kräfte 
geben  kann,  als  das  Wirken  fürs  Ganze. 

Die  Philosophie  der  Erziehung  oder  die  Pädagogik  wird  nun 
die  Aufgabe  haben,  dieses  doppelte  Ziel  fest  im  Auge  zu  behalten, 
die  psychologischen,  die  ethischen  und  die  soziologischen  Bedingungen 
zur  Erreichung  desselben  immer  gründlicher,  genauer  und  umfassender 
zu  erforschen  und  dadurch  richtunggebend  zu  werden  für  alle  Maß- 
nahmen der  Erziehung  seitens  der  Eltern,  der  Lehrer  und  des  Staates. 


Literatur 

Soziologie 

Albert  Schäffle,  Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers.  4  Bände.  1875  bis 
1S78.  2.  Aufl.   2  Bände.   18%. 

Ludwig  Gumplowicz,   Grundriß  der  Soziologie.   2.  Aufl.    1905. 

Franz  Oppenheimer,  Der  Staat.  1918.  (Bd.  14  und  15  des  Sammelwerkes 
„Die  Gesellschaft".) 

Anton  Menger,  Neue  Staatslehre.   1903. 

Paul  v.  Lilienfeld,  Gedanken  über  die  Sozialwissensehaft  der  Zukunft. 
5  Bände.   1873—1881. 

Natur  und  Staat.  Beiträge  zur  naturwissenschaftlichen  Gesellschaftslehre.  Eine 
Sammlung  von  Preisschriften.  Herausgegeben  von  H.  E.  Z  i  e  g  1  e  r,  Con- 
rad und  Ha  ecke  1.  1903,  1904. 

G.  T  a  r  d  e,  Les  lois  d'imitation.  2.  Aufl.   1895. 
Logique  sociale.  1894. 

E.  Durkheim,  La  division  du  travail  social.  2.  Aufl.   1901. 

Les  regles  de  la  methode  sociologique.  1905.  Deutsch   1908. 
Les   formes  elementaires  de  la  vie  religieuse.   1912. 

Lewis  H.  Morgan,  Die  Urgesellschaft.  Deutsche  Übersetzung.  4.  Aufl.  1921. 

Georg  Jellinek,  Allgemeine  Staatslehre.  3.  Aufl.  1914.  (Umfassendes,  grund- 
legendes und  überaus  anregendes  Werk.) 

Bosanquet,  The  philosophical  theory  of  the  State.  2.  Aufl.   ll>10. 

Levy- Brühl,  Les  fonctions  mentales  dans  les  societes  inferieures.  1910. 
Deutsch  unter  dem  Titel:  „Das  Denken  der  Naturvölker",  herausgegeben 
und   eingeleitet   von   Wilhelm  Jerusalem.    1921. 

La  mentalite  primitive.  1922. 

W  i  1  li  e  I  m  W  u  n  d  t,   Völkerpsychologie.  7.   und  8.  Bd.   Die  Gesellschaft.   1917. 

Franz  Klein,  Das  Organisationswesen  der  Gegenwart.   1913. 

Paul  Weisengrün.  Die  Erlösung  von  Individualismus  und  Sozialismus. 
10U. 


Literatur  357 

Max  Adler,  Marx  als  Denker.  1908. 

Marxistische   Probleme,    Beiträge   zur   Theorie   der    materialistischen    Ge- 
schichtsauffassung und  Dialektik. 

Johann  Plenge,  1789  und  1914,  die  symbolischen  Jahre  des  politischen 
Geistes.  1916. 

Marx  und  Hegel.  1911. 

K.   Pfibram,  Die  Entstehung  der  individualistischen  Sozialphilosophie.   1912. 

A.  Vierkandt,  Die  Stetigkeit  im  Kulturwandel.  1908. 

—  Staat  und  Gesellschaft  in  der  Gegenwart.  2.  Aufl.  1921. 

W.  Jerusalem,  Der  Krieg  im  Lichte  der  Gesellschaftslehre.   1915. 

Ludwig   Stein,    An    der    Wende   des    Jahrhunderts.    Versuch    einer    Kultur- 
philosophie. 1900. 
Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  2.  Aufl.  1903. 

Der  soziale  Optimismus.  1905. 

Einführung  in  die  Soziologie.  1921. 

Lorenz  v.  Stein,  Geschichte  der  sozialen  Bewegung  in  Frankreich  von 
1789  bis  auf  unsere  Tage.  3  Bände.  1850.  Neudruck  1921.  (Der  erste  Band 
enthält  als  Einleitung  eine  grundlegende  Abhandlung  über  den  Begriff  der 
Gesellschaft.) 

Ernst  G  r  ü  n  f  e  1  d,  Lorenz  v.  Stein  und  die  Gesellschaftslehre.   1910. 

Ferdinand  T  ö  n  n  i  e  s,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft.  3.  Aufl.  1921. 
Kritik  der  öffentlichen  Meinung.  1922. 

F.  Müller-Lyer,  Die  Phasen  der  Kultur.   1920. 

Der  Sinn  des  Lebens.  1921. 
Theodor  Litt,  Individuum  und  Gemeinschaft.   1919. 
Georges   Chatterton -Hill,   Individuum   und  Staat.   1913. 
Othmar  Spann,   Kurzgefaßtes  System  der  Gesellschaftslehre.   1914. 

—  Der  wahre  Staat.  1921. 

Hans  Kelsen,   Soziologischer   und   juristischer   Staatsbegriff.    1922. 

Paul  Barth,  Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie.  3.   und  4.   Aufl. 

1922. 
Herbert  Spencer,  Einleitung  in  das  Studium  der  Soziologie.  1873.  Deutsch 

von  Marquardsen.  2.  Ausg.  1896. 
Prinzipien  der  Soziologie.   1876 — 1896. 

G.  Sirnmel,  Über  soziale  Differenzierung.  1891. 

—  Probleme  der  Geschichtsphilosophie.  2.  Aufl.  1905. 
Soziologie.   1908. 

—  Die  Philosophie  des  Geldes.  1900. 

Rud.  E  i  s  1  e  r,  Soziologie.  1903.  (Klare  und  übersichtliche  Darstellung  der  Tat- 
sachen und  Probleme  auf  der  Grundlage  einer  voluntaristischen  Psycho- 
logie.) 

F.  H.  Giddings,  The  principles  of  sociology.  1896.  Deutsch  1911. 

R.    Goldscheid,    Höherentwicklung    und    Menschenökonomie,    Grundlegung 
der  Sozialbiologie.  1911. 
Darwin  als   Lebenselement  unserer  modernen   Kultur.   1909. 

E.  j.  Urwick,  A  Philosophy  of  social  progress.  1911. 

fo'sef  Popper-Lynkeus,  Das  Recht  zu  leben  und  die  Pflicht  zu  sterben. 
3.  Aufl.  1903. 

Das  Individuum  und  die  Bewertung  menschlicher  Existenzen.   1910. 
Allgemeine  Nährpflicht  als  Lösung  der  sozialen   Frage.   1912. 
Lester  Ward,  Pure  Sociology.  1903.  Deutsch  1907. 
Die  Soziologie  von  heute.   1904.  (Sehr  gute  Übersicht.) 

F.  Squillace,  Le  dottrine  sociologiche.   Deutsch  unter  dem  Titel:  Die  sozio- 

logischen Theorien.  1911. 
William  Mc  Dougall,  Introduction  into  Social  Psychology.  17.  Aufl.   1919. 
The   Group    Mind    1921.     (Sehr   gründliche    Untersuchung  der    seelischen 
Wechselwirkungen.) 
Max  Weber,  Wirtschaft  und  Gesellschaft.  (In:  Grundriß  der  Sozialökonouuk 
III.)  1921. 

Gesammelte  Aufsätze  zur  Wissenschaftslehre.   1922. 

Religionssoziologie.  3  Bde.  1921. 


J5S  Literatur 

Philosophie  der   Geschichte 

E.  Bern  hei  m,   Lehrbuch   der   historischen   Methode  und   der  Geschichtsphilo- 

sophie.  5.   und  b.  Aufl.    \(K)S.  (Höchst  lehrreiches,  inhaltsvolles  und  grund- 
legendes Werk.) 

R.    F I  i  n  t,   The    philosophy    of    history    in    France   and    Germany.    1874.    (Sehr 

übersichtlich   und  gründlich.) 
\    D.  X  e  ti  o  p  o  1,  Theorie  de  l'histoire.   1908. 

T  h.   L  i  n  d  n  e  r,  Geschichtsphilosophie.  2.  Aufl.   1904. 

Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Altertums.  3.  Aufl.  Einleitungsband:   Elemente  der 
Anthropologie.   1910. 

K.   La  mp  recht,   Moderne  Geschichtsauffassung.  2.  Aufl.   1909. 

H.   Rickert,   Kulturwissenschaft   und   Naturwissenschaft.  2.  Aufl.    1910. 

Oswald  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes.  I.  Band.  1918.  IL  Band. 
1922. 

Theodor  Lessing,  Geschichte  als  Sinngebung  des  Sinnlosen.  3.  Aufl.  1921. 

W  i  I  h  e  1  m  W  u  n  d  t,  Elemente  der  Völkerpsychologie.  Grundlinien  einer  psycho- 
logischen  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit.   1912. 

Pädagogik 

Otto  Willmann,  Didaktik  als  Bildungslehre.  4.  Aufl.   1909. 

A.  Döring,  System  der  Pädagogik  im  Umriß.   1894. 

W.  R  e  i  n,  Enzyklopädisches  Handbuch  der  Pädagogik.    1895  ff. 

Pädagogik.  (Sammlung  Göschen.) 
Karl  v.  Raumer,  Geschichte  der  Pädagogik.  5.  Aufl.   1878     1880. 
Paul  N  a  t  o  r  p,  Sozialpädagogik.  2.  Aufl.   1904. 
Abhandlungen  zur  Sozialpädagogik.  1907. 
Jules  Payot,  Die  Erziehung  des  Willens.   Deutsch   von  Voelkel.  2.  Aufl. 

1903. 
Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  pädagogischen  Psychologie 

und   Physiologie.    Herausgegeben   von   T  h.   Ziehen,   H.   Schiller   und 

Th.   Ziegler.   8 Bände.    1897—1905. 

F.  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichtes.  2.  Aufl.  1895. 

-  Pädagogik.   1911. 

E.  Meumann,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik. 
2.  Aufl.  LT.  1911. 

P.   Barth,   Elemente  der   Erziehungs-  und  Unterrichtslehre.  3.  Aufl.   1911. 

Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  und  geistesgeschichtlicher 
Beleuchtung.  1911.  (Sehr  inhaltsreich  und  für  den  Zusammenhang  von  Er- 
ziehung und  Gesellschaft  sehr  belehrend.) 

P.  Bergemann,  Soziale  Pädagogik.  1900. 

Fr.  W.  Foerster,  Jugendlehre.   1907. 

-  Schule  und  Charakter.  2.  Aufl.  1912.  (Ein  tief  dringender  Versuch,  in  der 
Schule  den  Charakter  zu  bilden.  In  theoretischer  und  in  praktischer  Hin- 
sicht von  der  allergrößten  Bedeutung.) 

G.  Kerschensteiner,   Grundfragen  der  Schulorganisation.   2.  Aufl.    1910. 

Staatsbürgerliche   Erziehung.   4.  Aufl.    1909. 
J.  D  e  w  e  y,  School  and  Societv.  Deutsch  unter  dem  Titel:  Schule  und  öffentliches 

Leben.  1905. 
C.  A.  Scott,  Social  education.  1909. 
R.  Lehmann,  Erziehung  und  Unterricht.   1912. 

W.  Jerusalem,  Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren  Schulen.   1912. 
J.   Kawerau,  Soziologische  Pädagogik.   1921. 
P.    B  I  o  n  s  k  i  j,    Die    Arbeitsschule.    Deutsch    von    R  u  o  f  f.    herausgegeben    von 

M.  H.  Baege.  1921. 


Schlußbetrachtung 

Bei  der  Besprechung  der  einzelnen  philosophischen  Probleme 
wurden  im  voranstehenden  wiederholt  die  Gedankenwege  bezeichnet, 
die  meinen  eigenen  wissenschaftlichen,  philosophischen  und  religiösen 
Überzeugungen  am  meisten  entsprechen.  Der  aufmerksame  Leser  wird 
gewiß  schon  selbst  bemerkt  haben,  daß  allen  diesen  Lösungsversuchen 
bestimmte  prinzipielle  Anschauungen  zugrunde  liegen.  Ich  fühle  nun- 
mehr das  Bedürfnis,  das  Gemeinsame  kurz  zusammenzufassen  und 
klar  und  deutlich  zu  sagen,  worin  ich  heute  das  Wesen  und  die 
Aufgabe  der  Philosophie  erblicke.  Einiges  davon  steht  in  meiner 
„Selbstdarstellung",  die  im  dritten  Bande  des  bekannten  Sammel- 
werkes vor  kurzem  erschienen  ist*). 

Philosophie  ist  für  mich  kein  fertiges,  in  sich  geschlossenes 
System,  sondern,  wie  ich  gleich  im  Eingang  gesagt  habe,  rastlose, 
immer  weiter  fortgesetzte,  nie  aufhörende  Denkarbeit,  die  auf 
das  Ganze  der  Welt  und  vor  allem  auf  das  Ganze  des 
Menschenlebens  gerichtet  ist.  Mit  dem  Leben  des  Einzelnen 
sowohl,  als  besonders  mit  dem  Leben  der  großen  sozialen  Or- 
ganisationen, also  vor  allem  der  Staaten,  der  Völker, 
und  schließlich  mit  dem  Gesamtleben  der  zur  Einheit  zusammen- 
geschlossenen ganzen  Menschheit  soll  die  Philosophie  stets 
in  engster  Fühlung  zu  bleiben  suchen.  Sie  soll  dem  Leben  neue  Kräfte 
zuführen  und  möglichst  deutliche  Richtlinien  ziehen  für  die  W  i  1 1  e  n  s- 
ziele  der  Einzelnen  und  der  Staaten.  Auf  diesen  aktivistischen 
Charakter  der  Philosophie  habe  ich  gleich  im  Eingang  des  Buches 
deutlich  hingewiesen. 

Das  Bedürfnis,  die  Philosophie  enger  mit  dem  Leben  zu  ver- 
binden und  auch  den  irrationalen  Teilen  der  Seele,  dem,  was  Aristoteles 
xb  7.X070V  (jipoc  TTj?  ^u/jic  genannt  hat,  gerecht  zu  werden,  haben  in 
den  letzten  Jahrzehnten  mehrere  hervorragende  Denker  empfunden.  t 
In  Deutschland  gehören  dazu  Friedrich  Nietzsche,  Rudolf  Eucken, 
Georg  Simmel  und  in  gewissem  Sinne  auch  Hans  Vaihinger,  dessen 
„Philosophie  des  Als-Ob"  ja  ebenfalls  im  Lebenstrieb  die  letzte  Quelle 
des  Denkens  erkannt  hat.  In  Frankreich  ist  diese  Richtung  durch  Henri 
ßergson,  in  Amerika  durch  William  James  und  den  von  ihm  so  warm 
verteidigten  „Pragmatismus"  vertreten.  Demgegenüber  hat  sich 
nun  allerdings  in  Deutschland  auch  eine  ganz  andere  Denkrichtung 
herausgebildet,  die  mit  großem  Scharfsinn  die  Meinung  verficht,  daß 
die   Philosophie   reine    Theorie   bleiben,   daß    sie   ganz    Wisse  11- 

*)  „Philosophie  der  Gegenwart  in  Selbstdarstellungen."  Herausgegeben  von 
Dr  Raymund  Schmidt  bei  Felix  Meiner  in  Leipzig.  Bd.  I  und  II,  1(>'2I;  Bd.  III,  1922, 


3t>0  Sclilußbctrachtunn 

S  c  h  a  t  t  und  nur  Wissens  c  li  a  f  t  sein  müsse.  Meiner  Über- 
zeugung nach  sind  nun  diese  Versuche  einer  restlosen  und  voll- 
ständigen [ntellektualisierung  der  Weg,  auf  dem  die  Philo- 
sophie dazu   gelangen   muß,   sieh   selbst   zu   zerstören. 

Zu  dieser  Überzeugung  hat  mich  die  durch  Jahrzehnte  hindurch 
geübte  genetische,  biologische  und  ganz  besonders  die 
soziologische  Betrachtung  des  menschlichen  Seelen- 
lebens geführt.  In  der  Psychologie,  in  der  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s- 
t  h  e  o  r  i  e,  in  der  Ästhetik  und  Ethik  hat  sich  diese  Methode 
als  fruchtbar  erwiesen  und,  wie  die  betreffenden  Abschnitte  des  Buches 
zeigen,  überall  wichtige,  neue  Erkenntnisse  zutage  gefördert.  Die 
intensive  Beschäftigung  mit  der  O  e  s  e  1 1  s  c  h  a  f  t  s  1  e  h  r  e  hat  mir 
dann  in  den  letzten  Jahren  tiefere  Einblicke  in  den  Entwicklungsgang 
des  Menschengeistes  erschlossen,  die  es  möglich  machen,  das  Wesen 
der  Wissenschaft  klarer  und  richtiger  zu  erfassen,  sowie  auch 
die  Aufgabe  der  Philosophie  deutlicher  und  genauer  zu 
umgrenzen. 

Wir  haben  an  der  Hand  der  modernen  Völkerkunde  dargelegt, 
daß  der  primitive  Mensch,  der  uns  überall  als  ein  sozial  gebun- 
denes Herdentier  entgegentritt,  noch  gar  nicht  die  Fähigkeit  besitzt, 
theoretisch  zu  denken  und  rein  objektiv  die  gegebenen  Tat- 
sachen einfach  zu  konstatieren.  Diese  Fähigkeit  erlangt  der  Mensch 
dann  und  nur  insoweit,  als  er  sich  allmählich  aus  dem  Zustande 
der  sozialen  Gebundenheit  befreit  und  sich  zu  einer  immer  selb- 
ständigeren und  eigenkräftigeren  Persönlichkeit  ausgestaltet.  Wir 
haben  diesen  für  die  Kulturentwicklung  so  überaus  wichtigen  Prozeß 
der  Individualisierung  in  seinem  Ursprung  und  Verlaufe 
verfolgt,  seinen  Zusammenhang  mit  der  Arbeitsteilung  und 
der  dadurch  bedingten  sozialen  Differenzierung  dargelegt  und  zu- 
gleich festgestellt,  daß  sich  mit  der  Verselbständigung  des  Einzel- 
menschen, mit  seiner  Loslösung  aus  dem  engeren  Verbände  zugleich 
eine   I  ntellektualisierung  der  Seele  vollzieht. 

Durch  diese  neuen  und  wichtigen  Einsichten  wird  zunächst  der 
Glaube  an  eine  logische  Struktur  der  menschlichen 
Vernunft,  die  zeitlos  und  unveränderlich  sich  immer  selbst  gleich- 
bleibt, ein  Glaube,  auf  dem  jeder  philosophische  Apriorismus 
beruht,  nicht  nur  stark  erschüttert,  sondern  geradezu  als  durchaus 
•  irrig  erwiesen. 

Daraus  folgt  aber,  daß  auch  die  Philosophie  überall  von  der 
Erfahrung  ausgehen  muß,  wenn  sie  der  lebendigen  Wirklichkeit 
gerecht  werden  will.  Ich  fühle  mich  deshalb  in  dem  strengen  Em- 
pirismus, der  bei  der  Betrachtung  des  Organischen  und  des 
Geistigen  die  Form  des  Evolution  ismus  annimmt,  immer  mehr 
bestärkt.  Daraus  erklärt  sich  auch  mein  Bestreben,  die  Philosophie 
dem  näherzubringen,  was  man  den  gesunden  Menschen- 
verstand nennt.  Damit  ist  nun  allerdings  nicht  dasjenige  gemeint, 
wogegen  Kant  in  der  bekannten  Stelle  der  „Prolegomena"  (Band  IV, 
Seite  7,  der  Hartensteinschu\  Ausgabe)  mit  vollem  Recht  seine  Stimme 
erhebt.    Unter  Annäherung  an  den  gesunden   Menschenverstand  ver- 


Schlußbetrachtung  3()] 

stehe  ich  keineswegs  „die  Berufung  auf  das  Urteil  der  Menge,  ein 
Zuklatschen,  über  das  der  Philosoph  errötet,  der  populäre  Witzling 
aber  triumphiert  und  trotzig  tut".  Die  in  dem  Buche  gegebene 
Darstellung  der  Probleme  muß  jeden,  der  zu  urteilen  fähig  und 
unbefangen  zu  prüfen  bereit  ist,  davon  überzeugen,  daß  hier  die 
Vertiefung  nicht  gemieden,  sondern  vielmehr  mit  aller  Kraft  gesucht 
wird.  Ich  freue  mich  aber,  daß  es  mir,  eben  durch  dieses  Streben 
nach  Vertiefung,  gelungen  ist,  den  Zweifel  und  die  zu  weit  getriebene 
Kritik  zu  überwinden,  so  daß  man  zur  Erkenntnisfähigkeit  unserer 
Sinne  und  unseres  Verstandes  wieder  Vertrauen  haben  darf.  Allerdings 
erhoffe  ich  von  der  gereiften  Rückkehr  zum  gesunden  Menschen- 
verstände für  die  Philosophie  größere  Verständlichkeit  und  damit  eine 
stärkere  Wirksamkeit. 

Spekulative  Denker,  die  aus  ihrer  eigenen  Vernunft  absolute 
Wahrheiten  und  absolute  Werte  herausspinnen  zu  können  vermeinen, 
blicken  oft  auf  den  Erfahrungsphilosophen  mit  einer  gewissen  vor- 
nehmen Verachtung  herab.  Der  Empirismus,  der  Evolutionismus, 
ganz  besonders  aber  der  Psychologismus  werden  von  ihnen  als  philo- 
sophische Minderwertigkeiten  betrachtet  und  oft  auch  in  scharfen 
Worten  gebrandmarkt.  Die  apriorisch  gerichteten  Denker  sind  offenbar 
der  Meinung,  sie  seien  im  Besitze  eines  ganz  eigenen  philosophischen 
Organs,  welches  den  am  Staube  kriechenden  Erfahrungsmenschen 
vollständig  abgeht.  Sie  stellen  sich  damit  auf  den  Standpunkt  des 
Baccalaureus  im  zweiten  Teil  von  Goethes  „Faust"  und  sagen  mit  ihm: 

„Erfahrungswesen!  Schaum   und  Dust! 
Und  mit  dem  Geist  nicht  ebenbürtig." 

Solange  diese  Männer,  die  sich  mit  hohem  Selbstbewußtsein  als  die 
berufenen  Träger  und  Fortpflanzer  des  deutschen  „Idealismus" 
betrachten,  nur  auf  intellektuelle  Schwächen  des  Empirismus 
hinweisen  und  unsere  Denkfähigkeit  herabsetzen,  solange 
können  wir  die  oft  sehr  heftigen  Ausfälle  der  „Idealisten"  mit  voller 
Gemütsruhe  über  uns  ergehen  lassen.  Sind  wir  doch  felsenfest 
davon  überzeugt,  daß  nur  durch  unausgesetzte  psychologische,  histo- 
rische, philologische  und  soziologische  Forschungsarbeit  neue  und 
tiefere  Einblicke  in  das  Wesen  des  Menschengeistes  gewonnen  werden 
können.  Insbesondere  tritt  die  ganz  außerordentliche  Fruchtbarkeit 
der  soziologischen  Betrachtungsweise  täglich  deutlicher  hervor, 
und  wir  dürfen  deshalb  überzeugt  sein,  daß  die  Zukunft  der  Er- 
fahrungsphilpsophie  und  nicht  der  dialektischen  Spekulation  gehört. 
Die  deutschen  Idealisten  begnügen  sich  aber  nicht  damit,  uns  Em- 
pirikern das  philosophische  Organ  abzusprechen  und  die  intellek- 
tuelle Minderwertigkeit  unseres  Standpunktes  immer  wieder  zu 
betonen.  Sie  gehen  nicht  selten  noch  einen  bedenklichen  Schritt  weiter. 
Unsere  Versuche,  die  geistige  und  die  sittliche  Entwicklung  des 
Menschen  und  ihre  letzten  Ziele  durch  biologische,  historische  und 
soziologische  Untersuchungen  in  ein  helleres  Licht  zu  setzen,  werden 
oft  als  viel  zu  banausisch  bezeichnet.  Erkenntnis  und  Sittlich- 
keit, so  wirft  man   uns  vor,  sollen   nach   unseren  Grundsätzen   nur 


362  Schlußbetrachtung 

dem  praktischen  Nutzen  des  Einzelnen  oder  der  Gesamtheit 
dienen  und  darum  fehle  dem  Empirismus  und  dem  Evolutionismus 
das  wahre  sittliche  Ideal.  Die  Vertreter  des  „Idealismus" 
tun  also  das,  wogegen  Schiller  und  Schopenhauer  bereits  so  energisch 
protestiert  haben.  Sie  schieben  uns  unsere  wissenschaftliche  und  philo- 
sophische Überzeugung  „ins  Gewissen  hinein".  Solchen  Anwürfen 
gegenüber  muß  ich  hier  mit  allem  Nachdruck  erklären,  daß  der 
strengste  Empirismus  und  die  unbedingte  Anhängerschaft  an  den 
Entwicklungsgedanken  mit  dem  höchsten  ethischen  Ideali  s- 
m  u  s  nicht  nur  vereinbar  sind,  sondern  auch  bei  hervorragenden 
Denkern  aller  Zeiten  tatsächlich  aufs  engste  verbunden  waren.  Unter 
den  Denkern  der  neuesten  Zeit  will  ich  nur  auf  William  James  und 
auf  Ernst  Mach  hinweisen.  Beide  waren  von  der  Überzeugung 
durchdrungen,  daß  die  Erfahrung  die  einzige  und  die  letzte  Quelle 
der  Erkenntnis  sei,  und  lehnten  jedes  Apriori  mit  aller  Entschiedenheit 
ab.  William  James  bezeichnete  seine  Philosophie  sogar  als  „radikalen 
Empirismus",  und  trotzdem  sind  beide  mit  der  ganzen  Kraft  ihrer 
starken  Persönlichkeit  für  die  höchsten  sittlichen  Ideale  der  Menschheit 
eingetreten.  Ich  gehe  aber  noch  einen  Schritt  weiter  und  behaupte, 
daß  nur  derjenige,  der  der  Wirklichkeit  voll  ins  Auge  schaut  und 
die  tatsächlich  wirksamen  lebendigen  Kräfte  in  der  Menschenseele 
zu  erkennen  vermag,  daß  nur  der  ehrliche  und  tiefgründige  Er- 
fahrungsphilosoph die  Wege  zur  sittlichen  Vervollkommnung  der 
Menschheit  zu  sehen,  zu  zeigen  und  bahnen  zu  helfen  imstande  ist. 

Mein  strenger  Empirismus  zwingt  mich  auch  dazu,  am  Dualis- 
m  u  s  von  Physischem  und  Psychischem,  von  Natur  und  Geist,  von 
Leib  und  Seele  festzuhalten.  Während  ich  in  jeder  Form  des  Monis- 
mus eine  Vergewaltigung  einer  großen  Gruppe  von  ganz  unbezweifel- 
baren  Tatsachen  erblicke,  vermag  ich  in  der  täglich  und  stündlich  er- 
lebten Wechselwirkung  zwischen  physischen  und  psychischen 
Vorgängen  keineswegs  jenes  schwierige  Problem  zu  sehen,  um  dessen 
Lösung  sich  die  Metaphysiker  und  Psychologen  der  neueren  Zeit  mit 
dem  Aufwand  von  so  viel  Scharfsinn  und  Dialektik  bemüht  haben. 
Ich  finde  darin  vielmehr  eine  Urtatsache,  die  nach  meiner  Lehre 
von  der  fundamentalen  Apperzeption  zur  Quelle  alles  menschlichen 
Urteilens  und  Begreifens  geworden  ist. 

Die  soziologische  Betrachtungsweise  hat  mich  im  Laufe 
der  Jahre  im  Festhalten  am  Dualismus  immer  mehr  bestärkt.  Auf 
diesem  Wege  gelangt  man  nämlich  dazu,  die  Wirksamkeit  rein 
geistiger  Gebilde  deutlich  zu  sehen.  Sprache,  Religion,  Recht 
und  Sitte  sind  nur  als  Erzeugnisse  seelischer  Wechselwirkungen 
zu  verstehen.  Der  Gesamtwille,  der  sich  in  den  Geboten  des 
Staates,  in  den  sittlichen  Forderungen,  in  den  Kundgebungen  der 
öffentlichen  Meinung  als  wirksam  erweist,  ist  ein  rein  psychisches 
Gebilde.  Das  zeigt  sich  besonders  deutlich,  Wenn  man  den  Versuch 
macht,  seine  Wirkungen  in  der  Sprache  der  Physiologie  zu  beschreiben. 
Ein  Gesamthirn  ist  ein  Unding,  ein  Unbegriff.  Der  Gesamt- 
wille hingegen  erweist  seine  Realität  mit  voller  Deutlichkeit  durch 
öcu  Widerstand,  den  wir  in  uns  fühlen,  wenn  wir  uns  seinen   Forde- 


Schlußbetrachtung  353 

rungen  entgegenstemmen.  Aus  diesen  Gründen  betrachte  ich  die 
Gesellschaftslehre  ihrem  Wesen  nach  als  die  einzige  wahre  Grundlage 
jeder   Geisteswissenschaft. 

Je  strenger  wir  nun  am  Empirismus  festhalten,  desto  deutlicher 
sehen  wir  ein,  daß  wir  auf  dem  Wege  der  Erfahrung  niemals  bis  zu 
den  letzten  Gründen  alles  Seins  und  Geschehens  vorzudringen  ver- 
mögen. Die  Soziologie  ist  zwar  geeignet,  die  Metaphysik  ein  gutes 
Stück  zurückzuschieben,  weil  wir  mit  ihrer  Hilfe  die  Selbständigkeit 
rein  geistiger  Gebilde  zu  erkennen  vermögen,  ohne  den  Boden  der 
Erfahrung  zu  verlassen.  Über  die  letzten  Quellen  des  Geistigen  im 
Menschen,  über  die  Ursprünge  und  über  die  Ziele  vermag  auch  sie 
keinen  Aufschluß  zu  geben,  das  ist  und  bleibt  für  immer  die  niemals 
abzuweisende  Aufgabe  der  Philosophie.  Deshalb  ist  die  Philosophie 
mehr  als  Wissenschaft,  und  zeigt,  je  tiefer  man  schürft,  immer  deut- 
licher ihre  innere  Verwandtschaft  mit  Religion  und  Kunst. 
Den  Weg  nun,  den  wir  einzuschlagen  haben,  um  zu  der  von  uns 
ersehnten  Welt-  und  Lebensanschauung  zu  gelangen,  vermag  die 
Soziologie  wenigstens  einigermaßen  zu  erhellen. 

Wir  wissen  heute,  daß  der  Erkenntnistrieb  sich  aus  dem  Lebens- 
trieb entwickelt  hat,  dann  aber  selbständig  geworden  ist  und  sich 
zu  einem  starken  Funktionsbedürfnis  des  Menschengeistes  hinauf- 
entwickelt hat.  Wir  wissen  ferner,  daß  alle  Wissenschaften  praktischen 
Bedürfnissen  ihre  Entstehung  verdanken,  und  glauben  auch  sagen 
zu  können,  daß  Bereicherung  und  Vervollkommnung  des  Lebens  ihr 
letztes  und  höchstes  Ziel  sein  muß.  Es  ist  uns  aber  auch  klar  ge- 
worden, daß  die  Wissenschaft  ein  Produkt  der  individuali- 
stischen Entwicklungstendenz  ist  und  erst  dann  möglich 
und  wirklich  geworden  ist,  als  sich  der  Mensch  aus  dem  ursprünglichen 
Zustande  der  sozialen  Gebundenheit  zu  einer  selbständigen  und  eigen- 
kräftigen  Persönlichkeit  auszugestalten  begann.  Wir  sahen  aber  auch, 
daß  die  Wissenschaft  nur  durch  gemeinsame  Arbeit  fortschreiten 
kann,  daß  die  vom  einzelnen  Forscher  gefundenen  Wahrheiten  z  u 
sozialen  Verdichtungen  werden  müssen,  wenn  sie  für  das 
Leben   bedeutungsvoll  werden  sollen. 

Wir  sahen  ferner,  daß  sich  die  Wissenschaft  als  breite  Mitte 
zwischen  Deutung  und  Verwertung  einschaltet  und  sich  hier 
ein  eigenes  Reich  schafft,  in  welchem  die  reine  Erkenntnis  Selbstzweck 
ist.  In  dieser  breiten  Mitte  bleibt  nun  die  Wissenschaft  stehen  und 
braucht  von  ihrem  Standpunkte  aus  nach  Ursprung  und  Ziel  nicht 
zu  fragen.  Gerade  diese  Frage  aber  stellt  sich  die  Philosophie. 
Darum  sagten  wir  oben  (S.  13):  „Die  Wissenschaft  ist  die  breite 
Mitte,  die  Philosophie  der  Anfang  und  das  Ende,  das  A  und  das  O." 
Diesen  dort  bloß  angedeuteten  Gedanken  wollen  wir  nun  ein  wenig 
verdeutlichen. 

Schon  die  alten  ionischen  Naturphilosophen  suchten  nach  einem 
U  r  s  t  o  f  f,  nach  einem  Anfang,  nach  einer  xpyij.  Zugleich  aber 
glaubten  sie,  daß  dieser  Urstoff  auch  der  Endzustand  sei,  in  den  alles 
wieder  zurückkehre.  Vielleicht  ist  in  diesem  tiefen  Grundgedanken 
das  Wesen  und  die  Aufgabe  aller  Philosophie  von  den  griechischen 


364  Sclilußbetrachtiuiü 

Denkern  ahnungsvoll  erkannt  worden.  Aus  dem  Anfang,  aus  der  c.v/v, 
i>t  das  „Prinzip"  geworden,  und  als  die  „Wissenschaft  der 
Prinzipien"  hat  man  die  Philosophie  oft  definiert.  Die  sozio- 
logische Betrachtungsweise  lehrt  uns  nun,  daß  der  richtig  er- 
kannte Anfang  zugleich  das  Prinzip  in  sich  enthält,  das  durch  die 
I  ntwicklung  hindurchgeht  und  sich  am  Ziele  wieder  zum  Anfang 
zurückwendet.  Goethe  hat  einmal  gesagt:  „Der  ist  der  glücklichste 
Mensch,  der  das  Ende  seines  Lebens  mit  dem  Anfang  in  Verbindung 
setzen  kann."  Vielleicht  ist  auch  die  Philosophie  dann  am  glücklichsten, 
wenn  es  ihr  gelingt,  das  Ende  der  Entwicklung  mit  dem  Anfang  in 
Verbindung  zu  setzen.  Wir  wollen  versuchen,  dies  auf  einzelnen 
Gebieten  zu  veranschaulichen*). 

Die  fundamentale  Apperzeption,  die  in  unserer 
zentralisierten  Organisation  tief  begründet  ist,  nötigt  uns,  jeden 
Vorgang  in  unserer  Umgebung  als  Kraftäußerung  eines  Kraft- 
zentrums  oder,  richtiger  gesagt,  als  Ausfluß  eines  Willens  zu  deuten. 
Die  so  vollzogene  Gliederung  und  Objektivierung  ist 
zugleich  eine  Vermenschlich  ung  der  Vorgänge  der  Welt. 
Das  Universum  erscheint  auf  dieser  Entwicklungsstufe  als  eine  Summe 
von  Wirkungen  unsichtbarer  geistiger  Mächte.  Die  erstarkte  Wissen- 
schaft hat  sich  im  Laufe  der  Jahrtausende  bemüht,  diesen  Anthropo- 
morphismus  gründlich  zu  eliminieren.  Zuerst  führte  sie  an  die  Stelle 
der  Geister  und  Dämonen  unpersönliche  Kräfte  ein,  deren  gesetzmäßig 
ablaufende  Wirkungen  sie  festzulegen  bemüht  war.  Dann  aber  schien 
der  Kraftbegriff  selbst  noch  einen  unerträglichen  Rest  von  Ver- 
menschlichung  zu  enthalten.  Man  löste  daher  den  Kraftbegriff 
in  energetische  Vorgänge  auf,  zwischen  denen  funktionale  Beziehungen 
obwalten.  In  ihrem  „Monismus  des  Geschehens"  haben  Richard 
Avenarius  und  Ernst  Mach  diese  vollkommen  entpersönlichte  Auf- 
fassung der  Weltvorgänge  am  konsequentesten  durchgeführt.  (Vgl. 
§  34.)  Als  methodische  Forschungsregel  mag  diese  Elimination  des 
Ich-Bewußtseins  ihren  Wert  haben.  Als  Weltanschauung  ist  sie  un- 
vollziehbar. Das  gewaltsam  hinausgestoßene  Ich  kehrt  in  jedem 
wirklich  erlebten  Denkakt,  in  jedem  selbstgebildeten  Urteil  wieder  und 
betätigt  die  ihm  innewohnende  gestaltende  Kraft.  Überdies  vermag 
der  Philosoph,  der  tief  in  sich  selbst  hineinschaut  und  das  Ganze 
verstehen  will,  diese  unvollendete  Weltanschauung  auf  die  Dauer 
nicht  zu  ertragen.  Da  liegt  es  nun  nahe,  die  fundamentale  Apperzeption 
auf  das  Weltganze  anzuwenden  und  zu  dem  Impersonale  des  Uni- 
versums Gott  als  Subjekt,  als  Kraftzentrum,  als  Schöpfer- 
willen hinzuzudenken.  Erst  dadurch  erhält  mein  Weltbild  den  so  heiß 
ersehnten  Abschluß.  Die  fundamentale  Apperzeption 
wird  so  zum  Ursprung,  zum  Anfang,  zur  vy/;in  zum  Prinzip,  zu 
welchem  sich  das  Denken  nach  langer  und  folgenreicher  Entwicklung 
wieder  zurückwendet.  Die  Philosophie  des  Erkennens  kommt  dadurch 
zu  einem  befriedigenden  Abschluß,  daß  sich  der  Anfang  und  das  Ende 
in  eins  zusammenschließen. 

)  Vgl.  zu  dem  Folgenden  meine  „Selbstdarstellung". 


Schlußbetrachtung 

Etwas  ganz  Ähnliches  finden  wir  in  der  sozialen  und  sitt- 
lichen Entwicklung.  Aus  der  dumpfen  Gebundenheit  im  Ursprung 
gelangt  die  Menschheit  durch  Erstarkung  und  Befreiung  des  Einzel- 
menschen wieder  zurück  zur  freiwilligen,  zur  bewußten  und  selbst- 
gewollten  Bindung  an  die  große  Gemeinschaft,  in  der  auch  dem  Indi- 
viduum die  denkbar  größten  Entfaltungsmöglichkeiten  geboten  sind. 
Derselbe  Kreislauf  vollzieht  sich  in  der  Entfaltung  des  sittlichen 
Bewußtseins.  Die  sozialen  Imperative  oder  die  Staatsgebote 
werden  dadurch  zu  sittlichen  Pflichten,  daß  das  selbständig 
gewordene  Individuum  dieselben  innerlich  anerkennt.  Aus  der  indi- 
vidualistischen Entwicklungstendenz  entsteht  aber  die  Idee  der  ganzen 
Menschheit  und  der  Gedanke  der  allgemeinen  Menschlichkeit 
oder  Humanität.  Daraus  nun  entwickelt  sich,  wie  wir  gesehen 
haben,  das  Bewußtsein  der  Menschenwürde.  Die  Ethik  wird 
autonom,  und  es  hat  den  Anschein,  daß  die  höchsten  sittlichen 
Forderungen  die  sind,  die  wir  an  uns  selbst  stellen.  Die  Soziologie 
lehrt  uns  aber,  daß  die  Forderungen  der  Menschenwürde  nichts 
anderes  sind  als  Menschheits  geböte,  die  von  der  großen 
Gemeinschaft  im  Namen  der  Humanität  an  jeden  Einzelnen  gerichtet 
werden.  Wenn  nun  auch  die  Staaten  und  Völker  in  sich  das  Bewußt- 
sein der  Staatenwürde  und  der  V  ö  1  k  e  r  w  ü  r  d  e  zu  voller 
Klarheit  und  zur  wirksamen  Kraft  entwickeln  und  sich  selbst  zu 
Trägern  der  sittlichen  Forderungen  machen,  dann  müssen  die  bisher 
so  häufigen  und  so  blutigen  Konflikte  zwischen  Staatsgeboten  und 
Menschheitsgeboten  endlich  aufhören  und  auch  hier  wendet  sich  das 
Ende  zum  Anfang  zurück.  Aus  der  Gemeinschaft  des  primitiven 
Stammes  ist  das  sittliche  Bewußtsein  in  der  Form  von  sozialen 
Imperativen  hervorgegangen,  hat  sich  zur  scheinbaren  Autonomie 
des  Individuums  entfaltet,  um  dann  schließlich  zur  freiwilligen  Bin- 
dung an  die  große  Gemeinschaft  zu  werden,  in  der  jeder 
Einzelne  seine  sittliche  Bestimmung  erst  vollkommen  zu  erfassen  und 
zu  erfüllen  vermag.  Mit  religiösen  Vorstellungen  waren  die  sozialen 
Imperative  von  Anfang  an  verknüpft,  und  schließlich  müssen  wir 
die  großen  Menschheitsgebote  wieder  als  den  Ausfluß  des  göttlichen 
Willens  ansehen,  denn  „Er  hat  dir  gesagt,  o  Mensch,  was  gut  ist" 
(Micha  6,  8). 

Ich  bin  überzeugt,  daß  diese  Koinzidenz  von  Anfang  und  Ende 
sich  auch  auf  anderen  Gebieten  wird  nachweisen  lassen,  und  betrachte 
deshalb  diese  meine  Auffassung  der  Philosophie  nicht  als  ein  System, 
sondern  als. eine  Arbeitshypothese,  die  zu  fruchtbaren  Unter- 
suchungen anzuregen  geeignet  ist. 

Der  kritische  Realismus,  zu  dem  ich  mich  bekenne, 
ist  für  mich  die  Grundlage  geworden  zu  einem  sozialen,  ethischen, 
ästhetischen,  metaphysischen  und  religiösen  Idealismus,  der  den 
Blick  aufs  Ganze  gerichtet  hält  und  die  Wege  zur  Höherentwicklung 
der  Menschheit  zu  zeigen  und  zu  bahnen  bemüht  ist. 


Adler,  Felix  217. 

Adler.  Max  252,  357. 

Alexander  d.  Gr.  230. 

Alkibiades  175. 

Althusius.    Johannes    234. 
336. 

Altmann  237,  282. 

Arnos  189. 

Anaxagoras  106.  110.  139. 

Anaximenes  106. 

Anquetil    du    Perron    159. 

Antisthenes  176. 

Anzengruber,  Ludwig  129. 

Apelt,  Otto  180. 

Archimedes  9,  294. 

Aristarch  294. 

Aristipp  177.  181,  214. 

Aristophanes  174. 

Aristoteles  2,  5,  6.  8,  13. 
14,  16.  19,  32,  33,  34  f., 
58.  63.  90.  106,  116, 
117.  132  f.  136,  139, 
146  f.  164.  166.  180  f., 
185,  188.  195.  202,  214, 
228  f.,  234,  263,  268, 
273.  280.  322  f.,  329.  359. 

Arnim,   Hans   v.   133.  182, 

185. 
Arreat  224. 
Arrian  185. 
Augustinus    61,     71.     107, 

193,  231.  335  i. 
Augustus  239,  335. 
Avenarius.      Richard     26. 
126  ff..  142,  364. 

Babeuf.  Cirachus  241. 

Bacon.  Roger  9. 

Bacon  von  Verulam.  Fran- 
cis 14,  33. 

Baer,  Ernst  v.  268. 

Bae^e.  M    H.  358 

Bain,  Alexander  38. 

Baldwin.  Mark  35.  38 

Barth.  Paul  245.  249  ff. 
355.  357,  358. 

Bastian.  Adolf  249.  298. 

Baumgarten.  Abr.  Qottl 
146. 


Namenregister 

Baumgartner  17. 
Bayle,  Pierre  41. 
Bazard,  Saint  Amand  242. 
Beneke.  Eduard  208. 
Bentham,     Jeremias     206, 

209  i,  214.  266. 
Bergemann,  P.  358. 
Berger,  Alfred  v.  166. 
Bergson.    Henri    26,    65  f.. 

102.  103.    114.  117,  143, 

170.  359. 
Berkelev,    George    19,  41,  j 

51,  59,  71,  107. 
Bernhard     von    Clairvaux 

192. 
Bernheim, E.  334. 336, 345  f., 

358. 
Berthold  von   Regensburg 

233. 
Bienenfeld.  Rudolf  253. 
Blonskij.  P.  358. 
Bodin,  Jean  234,  336 
Boethius  32. 
Bolzano,  Bernard  72. 
Bonald  336 
Börner,  Wilhelm  166. 
Bosanquet.    Bernard    356 
Bossuet  336. 
Bougle.  C.  220,  248. 
Bourgeois,  Leon  223. 
Boutroux.  Emil  223. 
Boyle,  R.  294 
Brentano,  Franz  71,  73. 
Breuer,  Josef  38. 
Bridgman.  Laura  22. 
Bruno,  Giordano  121.  125. 

141. 
Bücher,  Karl  270. 
Büchner,  Ludwig  40.   110. 
Buckle.      Henry     Thomas 

255.  345. 
Buddha  291. 
Bühler.  Heinrich  37. 
Bunsen   336. 
Buonarotti  241. 
Burckhardt,  Jakob  279. 
Burckhard.  Max  166. 
Bürger,  G.  A.  341. 
Burke.  Edmund  147. 


Busch,  Otto  166. 

Busse,    Ludwig    101.    143. 

Cabet,  Etienne  241. 
Carriere,  Moriz  148. 
Carus,  J.V.  101. 
Cassirer.  Ernst  49,  102. 
Charron,  Pierre  41.  196- 
Chatterton-Hill.     Georges 

357. 
Cherbury.  Herbert  v.  141, 

196. 
Chrysippos  183. 
Cicero  8.    33,    173,    184  f. 

231,  277,  283,  299. 
Cohen,    Hermann  35,   39, 

48,  54  ff..    73,    101.    166. 

217. 
Cohn,  Georg  208,  217. 
Cohn,  Jonas  102,  166. 
Collins.  Antony  141. 
Collins,    F.    Howard    2o8. 
Comte,  Auguste   48,    104. 

210,214.220.  226,  242  ff.. 

345. 
Condillac.  Etienne  Bonard 

60. 
Condorcet  345. 
Conrad  356. 
Coudenhove,  R.  N.  217. 
Croce,  Benedetto  166. 
Cyrus  189. 

Dante  266.  279. 

Darwin.    Charles    42,  126. 

140.  207.  215.  249. 
Demokrit  40,    41.   78.  110, 

138.  181. 
Descartes,    Rene    19,     40. 

61.  70  f..    107,    109.  116, 

121  f..    133  f..    177.     184, 

300.  337. 
Dessoir.  Max  38,  148,166. 
Deutero-Jesaia  139. 
Dewey,  John.  35,  39,  102. 

358. 
Diels.    Hermann    27.    120. 

125.  277.  298. 


Namenregister 


367 


Dilthey.    Wilhelm    19,    26, 

38,  166,  224,  279  f.,  299, 

347. 
Diogenes  Laertius  278. 
Diogenes  vonSinope  176  f., 

277  f.,  299. 
Döring.  August   217,   358. 
Drobisch,    Mor.    Wilhelm 

39. 
Dubos,  Jean-Baptiste  147. 
Duns  Scotus  141. 
Durkheim,  Emile  222,  225, 

248,     260,     261  ff.,     267. 

272  f.,  287,  304,  356. 
Dürr.  E.  102. 

Eachran,  J.  M.  103. 
Ebbinghaus,  H.  37. 
Eckhart     (Mystiker)     193, 

233. 
Ehrlich,  Eugen  252  f. 
Eicken,    Heinrich  v.    192, 

231  f. 
Eisler,  Rudolf  17,101.357. 
Eleaten,   Die  58,  61,    116. 

120. 
Elsenhans,  Theodor  37. 
Empedokles  106.  110,  138. 
Engels,  Friedrich  242,248, 

345 
Epiktet,  177,  277. 
Epikur  6,  110,   178,    181  f., 

184,  195.    202,  206,  214, 

230. 
Epikuräer  9,  19. 
Erasmus  v.  Rotterdam  281. 
Eratosthenes  294. 
Erdmann,  Benno  38. 
Esra  190. 
Eucken,   Rudolf    118,  143, 

347,  359. 
Eudemos  33. 
Euklid  9. 

Euripides  174,  313. 
Ezechiel  189. 

Fechner,  G.  Theodor  19, 
118  f.,  142,  148,  165. 

Federn,  Carl  166. 

Feilbogen,  S.  223. 

Feuerbach,  Ludwig  208. 

Fichte,  Joh.  Oottlieb  2,  7, 
9,  11,  60,  79,  104,  110, 
173,  212,  213  f,  215,  282, 
287,  341. 

Flint,  Robert  336,337,358. 

Foerster,  Fr.  W.  358. 

Forberg,  Fr.  79. 

Fourier,  Charles  242. 

Francke,    Kuno    224,    340. 

Freud,  Sigmund   26  f,  38. 


Freytag,  M.  102. 
Frischeisen-Köhler,  M.  17, 
143. 

Galilei    9,    194,    280,    294. 

Galvani  294. 

Gassendi,  Pierre  110. 

Gaupp,  Otto  268 

Geisse  38. 

Germain,  Sophie  155. 

Geulincx,  Arnold  134. 

Geyse,  J.  102. 

Giddings,  Henry  247,  257. 

357 
Gide,  Charles  285. 
Giercke,  Otto  v.  234,  236  ff 
Göbel  177. 

Godwin,  William  241. 
Goethe  115,  122,  126,  141, 

154,  178,  197,    198,  238, 

265,  283  f.,  310,338,364, 
Goldscheid,     Rudolf    217, 

252,  357. 
Gomperz,     Heinrich     80, 

102,  127. 
Gomperz,  Theodor  38,  60, 

166. 
Gorgias  172. 
Green  204. 
Grillparzerl54f„160,305f., 

311. 
Groos,  Karl  151,  166. 
Grose  204. 
Grotius,  Hugo  243  ff. 
Grünfeld,  Ernst  357. 
Gumplowicz.  Ludwig  232, 

249,  252,  356. 
Guyau,  M   224. 

Häckel.  Ernst  131,  356. 
Hall,  Charles  241. 
Harnack,  Adolf  v.  278. 
Hartmann,  Ed.  v.  101,  142, 

213. 
Harvey  294. 
Hegel  7.  9,  11,  33,  60,  62, 

66,    104.    110,    116,  122, 

123  ff.,    145,    147  f.,  163, 

212,  245,253,301,  319  f.. 

341  ff.,  351,  353. 
Heinze,  Max  17. 
Helmholtz,    H.    51,    125  f., 

136. 
Helvetius,  C.  A.,  181.  206, 

209,  214. 
Helvia  185 
Herakles  177. 
Heraklit  27,  106,  108,  124  f., 

277,  297,  301. 
Herbart,  J.  F.  19,  24,  104. 

118,  146,  148,  208. 


Herder  11,    147,    185,  238, 

265,282f..337f.,341,345, 

351. 
!  Herford,  Travers  191. 
Hermodor  277. 
:  Herodot  4. 
|  Heron  9. 
I  Hesiod  120. 
;  Hettner,  Hermann  166. 
;  Heurtin,  Marie  22. 
Heymans,  G.  101,  142. 
Hildebrand,  A    166 
Hillel  190. 
Hipparch  294. 
Hippias  173,  298. 
Hippokrates  19. 
Hobbes,  Thomas  110,202. 

208  ff,    211,   214,   235  f.. 

251,  281,  336. 
Höffding,    Harald  38,   177, 

217,  245. 
Holbach.    P.  H.   D.  v.   40, 

110,  214. 
Home,  Henry  147. 
Homer  60,    120,    132,  155. 

162,  353. 
Horaz  147,    178.    182,  239. 
Horwicz,  A.  38. 
Howitt  304. 

Hubert,  H.,  219,  248,  263. 
Humboldt,     Wilhelm    von 

185.  238,   265,   284,  328. 
Hume,  David  19,  41  f.,  51, 

59,  85  f.,  127,  203  f. 
Husserl,   Edmund    35,  39, 

66  ff.,  102,  257,  259  f. 
Hutcheson,  Fr.    202,    213 
Huyghens,  Chr.  9, 194,  280. 

294. 

Ibn  Chaldun  232. 
Innozenz  III.  192 
Isidor  (Bischof)  192. 

Jacoby,  Günther  102. 

Jamblichos  64. 

James,  William  3,    38,  80, 

102,  109,    137.  170,  359. 

362. 
Jellinek,  Carl  143. 
Jellinek,  Georg  356 
Jeremia  189. 

Jesaia  189,    329,   333.  323. 
Jesus  191. 
Jevons,  Stanley  39. 
Jodl,     Friedrich     37.     102. 

135.166,  195  f.,  206.  212. 

217. 
JocI.  Karl  3,    66,    80.    130. 

143,  170. 
Joule  136. 


ins 


Namenregister 


Kant,  I.    7,  0.    11.     14.   34. 
42.  44«.,  51  it.,  58  f .  62, 
7g.  84.  85,  86  ff..  93.  94. 
104.   110.  115,  116  f..  118. 
125,  141.  146  f..  151.  153,  i 
157,  167,    175.    177.  184, 
188.     193,     196.     197  ff.., 
204,  212.  213  f.  238.265. 
266.  282.  286,  287,  300  f., 
308  ff..     312.     318.     322,' 
326.     330  ff..     345,    350. 
351.  360. 

Kassowitz,  Max  38. 

Katharina    von  Siena    192 

Katscher.  Leopold  168.217 

Kawerau,  J.  358. 

Keller,  Helen  22. 

Kelsen.  Hans  252,  357. 

Kepler  9.  194.  280.  294. 

Kerschensteiner,  G.  358. 

Kimon  312. 

Kirchhoff  60. 

Kleanthes  183. 

Klein.  Franz  220,  356 

Kleinpeter,  H.  39,  101. 

Klemm.  O.  38. 

Klimke,  Friedrich  143. 

Kohler,  Josef  253. 

Kopernikus,  Nile.  98.  120  f. 
127.  194.  280. 

Krates  (der  Kyniker)    117, 
278. 

Krause.    K.    Chr.  Fr.    336. 

Kreibig,  J.  Kl.  101. 

Kropotkin,   Peter  215.  217, 
222. 

Krueger,  Felix  23,  269. 

Külpe.  Oswald  17.  24,  102. 
148. 

Laas.  Ernst  48.  76.   101. 
Lamarck  126.  140. 
Lamettrie  40.  110.  206. 
Lamprecht,  Karl  345.  358. 
Lange. Fr.Alb..76.109f.,  142. 
Lange.    Konrad   79,  148  f., 

166 
Laplace  125. 
Lassalle.  Ferdinand  125. 
Lasson,    Georg   320.    343. 
LaUwitz,  Kurt  118. 
Laurent  336. 
Lavoisier  99.  294. 
Lazarus  23.  151. 
Le  Bon  222. 
Leclair.  A    v.  48.  101. 
Lehmann.  R.  358. 
Leibniz    7,    72,    116,    117. 

134,  205. 
Lessing,  G.   E     147.    196, 

198.  336. 


Lessing.  Theodor  3ix 
Leukipp  40.   78.    110.  138. 
Lcvy-Brühl    12.    245,    248. 

257.  267.  289  f.,  295.  356. 
Liebmann.  O.  101. 
Lilienfeld,  Paul    249,    356. 
Lindner.  Theodor  347,  358. 
Lionardo  da  Vinci  164. 
Lipps,    Theodor     26.     38, 

148,  166. 
List,  Friedrich  285. 
Litt.  Theodor  357. 
Locke.  John  19,  41,  59,60. 

201  f.,  236,  336. 
Lotze.    Hermann    19,    38, 

142,  165,  339 
Louis  Philippe  241. 
Lukrez  19,  110,  181  f. 
Luther.  Martin  233. 

Mc  Dougall,  William  257, 

262,  357. 
Mach.    Ernst    10.    35,    38, 

51,60,77,83,101,  126  ff., 

135,  136,    142,  293.  302, 

362.  364. 
Machiavelli    Nicolo   233  f.. 

320. 
Maine,  H.  Summer  220. 
Maine  de  Biran  13. 
Malebranche,  Nie.  134,212. 
Mandeville.     Bernard     de 

210  ff. 
Mark  Aurel  185.  278. 
Marquardsen  357. 
Marsilus  von  Padua  232. 
Martineau,  J.  217. 
Marx.  Karl    242,  245,  248, 

253,  345. 
Masaryk,  Thomas  G.  252. 
Matthäus  191. 
Mauss,    M.  219.  248,  263. 
Mauthner,  Fritz  39. 
Mayer,  Robert  136 
Meinecke,    Friedrich    284. 
Meinong.     Alexius    v.    35. 

39. 
Meianchthon. Philipp  280f., 

299. 
Menger.  Anton  252  f.,  274, 

356. 
Menzel.  Adolf  236.  252. 
Messer,  A.  101. 
Meumann,  F.  166,  358. 
Meyer,    Eduard   347,    358. 
Meyer,  J.  Bona  38. 
Meyer,  Th.  A.  166. 
Mevnert  51,  215,  331. 
Micha  189,    329,  333,  335, 

365. 
Michelangelo  164. 


Michelet  336  f. 

Mill.  James  19. 

Mill.    John  Stuart    19.  34. 

38,  48,  97,211.  247.328. 
Mohammed  291. 
Moleschott  110 
Molesworth  208. 
Montaigne  41. 
Montesquieu  243.  336. 
Morgan.  Lewis  H.  210,  356. 
Moses  190. 

Muckle,  Friedrich  345. 
Müller,  Eugen  30. 
Müller,  Johannes  51. 
Müller-f-reienfels.   N.  166. 
Müller-Lyer.  F.  240.  249  f.. 

357. 
Münsterberg.  Hugo  26.  38, 

49,  287. 
Murray.  D.  L.  103. 

Natorp.  Paul    35,  48.  101, 

163,  358. 
Nero  185. 

Newton  9,    194,   280.  294 
Nietzsche,  Friedrich  206  ff . 

322,  359. 

Oesterreich.  Konst.  17. 
Ofner.  Julius  252.  253. 
Oppenheimer,   Franz    249. 

254,  285,  356. 
Ostwald,    Wilh.     10,    131, 

136,  143,  252  f. 
Owen,  Robert  241. 

Panaetius  184  f.,  315. 
Parmenides  108.  120. 
Paulsen,  Friedrich  17.118, 

217,  358. 
Paulus  (Apostel)  133,  278. 
Payot,  Jules  358. 
Peirce,  Charles  81. 
Perikles  173. 
Perles.  Felix  190. 
Petzoldt.    Joseph    48.  142. 
Pfänder.  A.  38. 
Pflaum,  Chr.  D.  38. 
Phidias  164. 
Philo.  Judäus  6.  186  ff. 
Pindar  313. 
Piaton    2.  5,  6.    8.  14,  19. 

32.    40.    49.    61.    63,  67. 

71,    90.    93.    106.    115  f.. 

118,  120,  132.  139.  145  f., 

163,  174,  175.  176,  178  ff.. 

186  f.  188  f..  195,  227  f. 

296.  298.  314.   317.  319, 

322.  326,  333,  353 
Plenge.  Johann  253  f..  357 


Namenregister 


369 


Plotin    14,    19,    63  f.,    106, 

118,  145,  147,  187  f. 
Pöhlmann,      Robert     228, 

231 
Polybius  188. 
Popper,    Josef    154,     166, 

354,  357. 
Porphyrius  32,  63,  187. 
Posidonius  185. 
Praechter,  Karl  17. 
Prantl,  C.  39. 
Du  Prel  64. 
Pfibram,  K-  357. 
Proklus  64. 

Protagoras  6,  60,  173,313. 
Proudhon,    Pierre  Joseph 

242. 
Pyrrhon  40 

Quetelet,    L.    A.    J.    255, 

345. 
Quintilian  33. 

Raifael  162. 
Ramus,  Petrus  33. 
Ratzenhofer,    Gustav    249. 

252. 
Raumer,  Karl  v.  358. 
Rehmke  48. 
Rein,  W.  358 
Reinach,  A.  102. 
Reininger,  Robert  102,217. 
Reitzenstein  184. 
Renan,  Ernest  248. 
Renouvier,  Ch.  217. 
Rey,  Abel  102. 
Ribot,  Theodore  135,  222. 
Rickert,    Heinrich    35,    49, 

102,  348  ff.,  358. 
Rieh],  Alois  101. 
Rist  285. 
Robertson  202. 
Ross,  Alsworth  257. 
Rousseau,     Jean     Jacques 

211,  225,  235  f.,  336. 
Royce,  Josiah  118,  143. 
Ruedorffer  321. 
Rüge,  Arnold  35,  39. 
Ruoff  358. 

Saint     Hilaire,      Geoffroy 

126. 
Saint-Simon,  Henri  242. 
Salomon,  Gottfried  245. 
Saviyny,  Friedrich  Carl  v. 

42 
Schäffle,    Albert  249,    356. 
Scheler.  Max  75,  102. 
Scheling  7,  9,60,  104,  110, 

122  ff,    145     147  f.,  213. 
Scherer,  Wilhelm  166. 


Schiller,    C.  F.  S.   35,   38, 

83,  102. 
Schiller,  Fr.  4,  11,  99,  147, 

151,  154,    156,   163,  178. 

238,  265,  283  f.,  297,  322, 

328,  341,  362. 
Schiller,  H.  358. 
Schlegel,  Friedrich  336 
Schleiermacher  7,  213. 
Schlick,  Moriz  102. 
Schmekel  185. 
Schmidt,  Leopold  217. 
Schmidt,  Raymund  76,  102, 

359. 
Schmied-Kowarzik,  Walter 

102. 
Schmoller,  Gustav  24S. 
Schopenhauer,  A.    33,  44, 

51,  104,    115,    117,    145, 

147 f.,  159,  205f.,215,362. 
Schroeder,  Ernst  39. 
Schubert-Soldern  48. 
Schultz,  Josef  102. 
Schuppe,  E.  48,  101 
Schurtz  220. 
Schwarzkopf,  P.  102. 
Scipio  d.  J    184,  299 
Scott,  C.  A.  358. 
Semon,  Richard  37. 
Seneca  184  f..  283. 
Sextus  Empiricus  41. 
Shafiesbury  19,  147,  202  f, 

211,  215. 
Shakespeare  162,  164,  324. 
Sidgwick,  Henry  217. 
Siebeck,  Herrn.  19.  38. 
Siegel,  C.  102,  143. 
Sigwart,  Christoph  38,  65. 
Simmel,    Georg  240,    252, 

257  ff.,  347,  357,  359. 
Small.  A.  W.  254. 
Smith,  Adam  19,  78.  204  f, 

215,  242,  254,  284. 
Sokrates  8,  32. -173  ff.,  180, 

183,  185,  188,  195,  196, 
215,  227,  277,  298  f.,  314, 
317 

Sombart,  Werner  254. 

Somlö  252. 

Sophokles    158.    283,  305, 

311,  324,  333. 
Spann,    Othmar   252.  357. 
Spencer,     Herbert    1,    23, 

101,  126.  140.  151,207f , 

215  i,    244,   242  f..    256. 

261,  268  f,  319,  357. 
Spengler,    Oswald    347  f., 

358. 
Spinoza    9,     19,    65     108, 

121  f..  126,  141,  177,  17S. 

184,  212,  338. 


Jerusalem,  Einleitung  in  die  Philosophie.  9.  u.   10.  Aufl. 


Spitzer,  Hugo  148. 
Spranger.  Eduard    26,    3is 

284,  328. 
Squillace,  F.  357. 
St.  Pierre  266. 
Stein,     Heinrich     v.     145. 

166. 
Stein,     Lorenz    v.     245  ff.. 

248,  357. 
Stein,  Ludwig 81, 103,  357. 
Steinthal  23. 

Stern,  William   12,  25,  38. 
Stevin  294. 

Stirner,  Max  206,  214. 
Stoiker  9,  16,  19,  277. 
Suso  193. 

Sutherland,  Alexander  217. 
Swedenborg  64. 

Taine,  Hippolyte  248. 
Tarde,  Gabriel    252,    257. 

356. 
Tauler,  Johannes  193 
Terenz  184. 
Thaies  4,  106. 
Theophrast  33. 
Thomas  von  Aquino  133. 
Thompson,    William    241. 
Thukydides    5,    161,    174. 

216. 
Titchener,  E.  B   37. 
Toland,  John  141. 
Tönnies,  Ferdinand  250  ff.. 

252,  347,  357. 

Überweg,  Fr.   17,  38,  133. 
Unold,  Johannes  217. 
Urwick,  E.  J.  357. 
Utitz,  E.  166 

Vaihinger.  Hans  74,  76  ff . 

102,  359. 
Vergil  335. 

Verworn,  M.  143,  166 
Vico,     Giovanni     Battista 

336  f. 
Vierkandt,    Alfred    259  f . 

357. 
Villa,  G.  38. 

Vischer,  Friedrich  148.  165. 
Vives,  Ludovico  19. 
Voelkel  358 
Vogt,  Karl  40.  110. 
Volkelt,  Johannes  101,  14fv 

165. 
Voltaire  334. 

Wagner,  Richard  157. 
Ward,  Lester  F.    247.  357 
Weber.  Max  253  f..  357. 
Weisengrüii,  Paul  356 
24 


370 


Namenregister 


Westermarck.  Eduard  168, 

217.  220.   303  f. 
Wiese.     Leopold     v.    253. 

259  f. 
Wieser,    Friedrich   v.    252. 

254 
Willmann,  Otto  358 
Winckelmann   147. 
Windelband.    Wilhelm   17, 

34  f .     39.    49,    55,     103, 

348  f. 


Wolff,    Christian    14.    146. 

205,  2  3(> 
Worms,  Rene  248. 
W  nndt,    Wilhelm    17,    19. 

23.  28,  35,  38,    75.  101. 

113,  114.   117.    136.   142. 

166,   185.  217,   225,  339, 

347,  356.  358. 

Xenophanes    6,    120,    141. 
Xenopol  347,  358. 


Zenodot  294. 

Zenon    von     Citium    177, 

278 
Zenon  von  Elea  120. 
Ziegler,  H.  E.  356. 
Ziegler,  Theob.   217.    358. 
Ziehen.  Th.  38.  39,75,102, 

358. 
Zimmermann.  Robert  148, 

165. 
Zwingli  281. 


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