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WILHELM JERUSALEM
EINLEITUNO IN DIE PHILOSOPHIE
NEUNTE U ZEHNTE AUFLAGE
Übersetzungen sind erschienen:
Ins Russische (1901), ins Polnische (1. Aufl. 1907, 2. Aufl. in
Vorbereitung), ins Englische (1910). ins Japanische (1913),
ins Finnische (1910), ins Ungarische und ins Kroatische
Phot. Schönikle-Stern, \\
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EINLEITUNG
IN DIE
PHILOSOPHIE
VON
WILHELM JERUSALEM
„Es ist umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung
solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren
Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleich-
gültig sein kann," Kant.
NEUNTE U.ZEHNTE AUFLAGE
DREIZEHNTES BIS SECHZEHNTES TAUSEND
MIT EINEM BILDE DES VERFASSERS
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
UNI VERS ITÄTS- VERLAGSBUCH HANDLUNG
GESELLSCHAFT M. B. H.
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Alle Rechte, insbesondere das übersetzungsrecht, vorbehalten
Druck von Friedrich Jasper in Wien. III., Thongasse 12
Vorwort zur 7. und 8. Auflage
Zwischen der letzten Ausgabe dieses Werkes (1913) und der
vorliegenden liegt der Weltkrieg. Mir erschien dieses erschütternde
Ereignis zunächst als ein soziologisches Phänomen von über-
wältigender Größe. Das Verhältnis des Einzelnen zum Staate, zur
Nation und zur Menschheit wurde von vielen Millionen in tiefster
Seele durchlebt. Dadurch sind die Wirkungen des menschlichen Zu-
sammenlebens, der Organisation, der Ein- und Unterordnung ebenso
in ihrer fördernden wie in ihrer hemmenden Funktion zu lebendigem
Bewußtsein gebracht worden. Die Störungen im internationalen Verkehr
und der dadurch hervorgerufene Mangel an Lebensmitteln und
Rohstoffen haben gezeigt, welche Summe von Leiden eine derartige
Katastrophe im Zeitalter des Weltverkehrs zur Folge hat. Von diesen
Gedanken erfüllt, habe ich bereits im ersten Kriegsjahre mein Buch:
„Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre" (Stuttgart 1915) ver-
öffentlicht und darin den Krieg soziologisch zu deuten versucht.
Im weiteren Verlaufe war es dann wieder der immer deutlicher
und in immer größerem Umfang zutage tretende sittliche Verfall,
der mein Denken beschäftigte. Rücksichtslose Gewaltpolitik, grau-
samer Vernichtungswille, Mißachtung aller Verträge, mit raffinierter
Geschicklichkeit in Szene gesetzte Verleumdungsmaßnahmen erschienen
den Staaten als durchaus erlaubte Kampfmittel. Innerhalb der Staaten,
wo im Anfang des Krieges große Opferwilligkeit und Hingabe ge-
herrscht hatte, sah man im weiteren Verlaufe immer deutlicher, wie
die in Friedenszeiten wirksamen moralischen Hemmungen ihre Wirk-
samkeit verloren. Schrankenloser Eigennutz im Erwerbsleben, rück-
sichtslose Ausbeutung des Staates bei Kriegslieferungen, schamloser
Lebensmittelwucher, unheimliche Vermehrung der Einbruchsdiebstähle
und Raubmorde, planmäßig betriebene Ausplünderung von Post- und
Eisenbahnsendungen, zunehmende Pflichtvergessenheit und Arbeits-
scheu, besonders aber die fortschreitende Demoralisierung der Jugend
bewiesen immer aufs neue die tiefe Wahrheit des von Kant zitierten
Ausspruches eines alten Griechen: „Der Krieg ist darin schlimm,
daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt." Um die
Wege zum sittlichen Wiederaufbau zu zeigen, veröffentlichte ich im
Jahre 1918 die kleine Schrift: „Moralische Richtlinien nach dem
Kriege", in der namentlich auf die erweiterten ethischen Aufgaben
des Staates hingewiesen und ein wirklicher Völkerbund als sittliche
Forderung hingestellt wird.
Als ich nun im Spätsommer 1918 vom Verleger die überraschende
Nachricht erhielt, daß die „Einleitung" nahezu vergriffen und eine
y| Vorwort zur 7 und 8 Auflage
neue Auflage nötig geworden sei, stellte sich die Notwendigkeit heraus,
die Abschnitte über Ethik und Soziologie umzuarbeiten und zu er-
weitern Das kostete aber nicht wenig Zeit und infolgedessen hat das
Buch fast ein ganzes fahr lang im Buchhandel gefehlt.
Die ersten Teile, in denen die Erkenntnistheorie, die Metaphysik
und die Ästhetik behandelt wird, sind bis auf kleine Verbesserungen
und Ergänzungen unverändert geblieben. Dagegen ist der Abschnitt
über „Ethik" ganz neu gearbeitet und enthält jetzt eine viel ausführ-
lichere Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Nach-
denkens über sittliche Fragen. Der S o z i o 1 o g i e ist, ihrer größeren
Bedeutung entsprechend, ein eigener Abschnitt gewidmet worden.
Hier ist ein besonders wichtiges Kapitel, „Soziologische Grund-
einsichten", eingeschaltet worden, in welchem wesentlich neue Er-
gebnisse meiner Forschungsarbeit enthalten sind. Neu geschrieben
ist ferner § 44 „Soziologische Ethik", der an die Stelle der in den
früheren Auflagen enthaltenen Darstellung der „genetischen und bio-
logischen Ethik" getreten ist.
Die vorhergehende Auflage ist währ-rd des Krieges verbraucht
worden und ich darf deshalb annehmen, daß mein Buch auch hi
dieser schweren Zeit so manchem den Weg zu einer philosophischen
Weltanschauung hat bahnen helfen. Vielleicht wird es in der neuen
Gestalt dazu beitragen, die Bedeutung des menschlichen Zusammen-
lebens für alle philosophischen Fragen klarer zum Bewußtsein zu
bringen und den sittlichen Wiederaufbau der Menschheit als die
wichtigste Aufgabe der Zukunft zu erfassen, eine Aufgabe, an der
nicht nur die Einzelnen, sondern auch die Staaten und Nationen
mitzuarbeiten berufen sind.
Wien, im Juli 1919.
Der Verfasser.
Vorwort zur 9. und 10. Auflage
Die neue Bearbeitung weist einige nicht unwichtige Erweiterungen
auf. Im Abschnitt über Erkenntnistheorie habe ich der „Phänomeno-
logie" und der „Philosophie des Als-Ob" je einen eigenen Paragraphen
gewidmet, weil diese Denkrichtungen in den letzten Jahren starke
Verbreitung gefunden haben. In dem Abschnitt über Soziologie findet
man jetzt die Geschichte dieser Wissenschaft bis zur Gegenwart fort-
geführt. Neu ist darin besonders der Hinweis auf Lorenz v. Stein,
in dem ich den Begründer der deutschen Gesellschafts-
lehre zum erstenmal erkannt und nach Verdienst gewürdigt habe.
Hinzugekommen ist ferner ein eigener Paragraph (49) über „sozio-
logische Erkenntnislehre". Es ist das nicht mehr und will auch nicht
mehr sein, als eine vorläufige Skizze, die noch sehr der Erweiterung
und der Vertiefung bedarf. Trotzdem glaube ich, daß die große
Fruchtbarkeit der soziologischen Betrachtungsweise darin deutlich
zutage tritt.
Der Druck des Buches ist diesmal erfreulicherweise viel korrekter
als in den unmittelbar vorhergehenden Auflagen. Sinnstörende Ver-
sehen dürften kaum zu finden sein. Das ist das ausschließliche Verdienst
meines jüngeren Fachgenossen und Freundes Dr. Walther Eckstein.
Er hat nicht nur die Korrekturen mit großer Sorgfalt gelesen, sondern
mich auch vielfach auf stilistische Unebenheiten aufmerksam gemacht,
oft sehr berücksichtigenswerte Vorschläge zur Ergänzung der Biblio-
graphie vorgebracht und schließlich auch das Namenregister an-
gefertigt. Diesem kenntnis- und hilfreichen jungen Forscher, der in
nicht zu ferner Zeit mit eigenen Arbeiten hervortreten dürfte, spreche
ich hier für seine ebenso wirksame als selbstlose Hilfeleistung meinen
warmen und aufrichtigen Dank aus.
Wien, im September 1922.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis
u Seite
Paragraph
Erster Abschnitt. Bedeutung und Stellung der Philosophie
1. Begriff und Aufgabe der Philosophie 1
2. Psychologischer Ursprung der Philosophie 2
3. Historischer Ursprung der Philosophie 4
4. Philosophie und Religion • • 5
5. Philosophie und Wissenschaft °
6. Einteilung der Philosophie J^
7. Geschichte der Philosophie }5
Literatur
Zweiter Abschnitt. Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
8. Gegenstand, Aufgabe und Entwicklung der Psychologie 18
9. Methoden und Richtungen der Psychologie 20
10. Psychologie und Physiologie 27
11. Psychologie und Philosophie > 2»
12. Gegenstand und Aufgabe der Logik . 29
13. Entwicklung und Richtungen der Logik 32
14. Grammatik, Logik und Psychologie 35
15. Logik und Philosophie ^
Literatur . . . . , 37
Dritter Abschnitt. Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
16. Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus 40
17. Die Erkenntnisprobleme 42
18. Entwicklung und Richtungen der Erkenntniskritik 45
19. Der erkenntniskritische Idealismus 49
20. Würdigung des erkenntniskritischen Idealismus 51
21. Der kritische Realismus 57
22. Entwicklung und Richtungen der Erkenntnistheorie 58
23. Der Sensualismus 59
24. Der Intellektualismus 61
25. Der Mystizismus und die Intuition 63
26. Die Phänomenologie 66
27. Die Philosophie des „Als-Ob" 76
28. Der Pragmatismus 81
29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 83
Literatur 101
Vierter Abschnitt. Metaphysik und Ontologie
30. Probleme und Richtungen der Metaphysik 104
31. Der Materialismus 1°9
32. Der Spiritualismus 114
33. Der Monismus der Substanz 120
\ Inhaltsverzeichnis
pfa Seite
14. Dim Monismus des Geschehens 124
l )ii Dualismus 131
16. Das kosmologisch-theologische Problem. Gott und \Velt 13/
I iteratur ^
I iinHer Abschnitt. Wege und Ziele der Ästhetik
u. Begrifl und Aufgabe der Ästhetik 144
& Entwicklung und Richtungen der Ästhetik 140
39. Genetische und biologische Ästhetik 151
I iteratur • 165
Sechster Abschnitt. Allgemeine Ethik
40. Gegenstand und Aufgabe der Ethik 167
41. Das Problem der Willensfreiheit 16"
42. Entwicklung der Ethik 173
43. Richtungen der Ethik 213
Literatur 217
Siebenter Abschnitt. Soziologie und Geschichtsphilosophie
44. Gegenstand der Soziologie 218
45. Die Aufgaben der Soziologie 220
4o. Entwicklung der Soziologie 226
47. Richtungen der Soziologie ... 255
48. Soziologische Grundeinsichten 261
49. Soziologische Erkenntnislehre .... 286
50. Soziologische Ethik 303
51. Die Philosophie der Geschichte 334
52 Pädagogik 351
Literatur 356
Schlußbetrachtung 359
Namenregister 366
Erster Abschnitt
Bedeutung und Stellung der Philosophie
§ 1. Begriff und Aufgabe der Philosophie
Philosophie ist die Denkarbeit, welche in der
Absicht unternommen wird, die tägliche Lebens-
erfahrung und die Ergebnisse der wissenschaft-
lichen Forschung zu einer einheitlichen und
widerspruchslosen Weltanschauung zu vereini-
gen, die geeignet ist, die Bedürfnisse des Verstan-
des und die Forderungen des Gemütes zu befrie-
digen. Der gemeinsame Zweck alles Philosophierens war es von
jeher, ein einheitliches Bild der Welt und des Menschenlebens zu ge-
winnen. Das ist bei aller Verschiedenheit in bezug auf Inhalt und
Methode das einigende Band aller philosophischen Systeme. In diesem
Sinne ist daher alle Philosophie Weltanschauungslehre. In
früheren Zeiten glaubte man, aus den Gebilden des eigenen Denkens
einen solchen Bau aufführen zu können, ohne sich dabei um die Er-
gebnisse der Einzelforschung viel zu kümmern. Die Philosophie galt
damals als die Königin der Wissenschaften, die von ihrem Throne
herab entscheiden durfte, was von den Ergebnissen der Natur- und
Geschichtsforschung wirklich Geltung und Bestand haben sollte. Diese
Zeiten sind wohl für immer vorüber. Eine Philosophie, die den Er-
gebnissen der wissenschaftlichen Forschung gleichgültig gegenüber-
stünde, dieselben meistern oder sich zu ihnen in Widerspruch setzen
wollte, würde heute keine Beachtung mehr finden. Die Philosophie
muß vielmehr mit der Wissenschaft in enger Fühlung bleiben und muß
die Resultate der Forschung zur Kenntnis nehmen. Auf dieser ge-
sicherten Grundlage ruhend, darf der in uns liegende philosophische
Einheitstrieb es dann wagen, mit Benützung der wissenschaftlich be-
währten Methoden und Denkmittel das Stückwerk, über das die
wissenschaftliche Erfahrung nicht hinaus kommt, zu einem einheit-
lichen, gegliederten Ganzen auszugestalten.
An dieser Arbeit ist aber keineswegs das theoretische Denken
allein beteiligt. An einer philosophischen Welt- und Lebensanschauung
arbeitet unser Fühlen und namentlich unser Wollen kräftig mit. Her-
bert Spencer, einer der nüchternsten Philosophen, hat seiner Auto-
biographie die Äußerung vorangestellt : „Bei der Entstehung eines Ge-
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 1
2 Bedeutung und Stellung der Philosophie
dankensystems spielt das Gefühlsmoment eine große Rolle, vielleicht
eine ebenso große wie das intellektuelle Moment."
Ein philosophisches System ist nicht als ein Bau anzusehen, in
den wir uns flüchten, wenn wir von der ermüdenden Alltagsarbeit
ausruhen wollen. Was für eine Philosophie man wählt, sagt Fichte,
das hangt davon ab, was für ein Mensch man ist. Die Philosophie ist
heute nicht mehr und darf nicht mehr sein die Beschäftigung der be-
schaulichen Ruhe. Unsere durch wissenschaftliche Denkarbeit er-
worbene philosophische Weltanschauung hat vielmehr die Aufgabe,
gerade unsere Alltagsarbeit in eine höhere Sphäre zu heben und
unseren Entschlüssen und Handlungen die entsprechende Richtung zu
geben. Die Philosophie soll uns lehren, die Welt und das Leben von
höheren Gesichtspunkten zu betrachten, aber nicht damit wir von der
höheren Warte tatenlos dem Treiben der Welt zusehen können. Ihre
höchste Aufgabe besteht vielmehr darin, daß sie uns von dem gewon-
nenen höheren Standpunkt aus die höheren und die ferneren Ziele
weist, denen die Menschheit zustrebt, und daß sie uns mit Kraft und
Vertrauen erfüllt, damit wir an der Erreichung dieser Ziele erfolgreich
mitarbeiten.
§ 2. Psychologischer Ursprung der Philosophie
Der Anfang aller Philosophie ist, wie schon Plato und Aristoteles
gesagt haben, das Gefühl des Staunens. Die Natur hat uns den
Trieb zur Erkenntnis zugleich mit dem Willen zum Leben in die Wiege
gelegt. Wir werden hineingeboren in eine Welt von Erscheinungen, die
mit erdrückender und verwirrender Fülle auf uns anstürmen. Wir
müssen zusehen, wie wir uns darin zurechtfinden, oder wir müssen
notwendigerweise zugrunde gehen. Die Wißbegierde wird uns auf-
genötigt von dem Triebe, unser Leben zu erhalten. Im Laufe der Ent-
wicklung wächst aber dieser Trieb weit über das praktische Bedürfnis
hinaus. Tritt uns nun eine neue Erscheinung, eine neue Tatsache mit
so machtvoller, überwältigender Realität entgegen, daß wir an ihrer
Existenz, an ihrer Wahrheit nicht zweifeln können, dann entsteht, wenn
wir nicht imstande sind, diese neue Erscheinung einzureihen in unser
bisheriges System von Erfahrungen, wenn wir dieselbe nicht in Ein-
klang zu bringen vermögen mit dem, was wir bis dahin als unsere Welt
betrachtet haben, dann entsteht, sage ich, jene „echt philosophische
Empfindung", das Staunen. Dieses Gefühl entspringt also dem aller-
dings nur dunkel empfundenen Bedürfnis nach Einheit und Harmonie
in unserem Weltbilde, und dieses Bedürfnis heißt, wenn es uns zu
klarem Bewußtsein gekommen ist, Philosophie.
Das Staunen begegnet uns in zweifacher Gestalt. Wir kennen ein
Staunen, das aufs engste mit Furcht verbunden ist, weil alles
Fremde leicht als etwas Feindliches erscheint. Dieses prak-
tische Staunen veranlaßt uns, an die neue Erscheinung gleichsam
nur die Frage zu stellen, ob sie Freund sei oder Feind. Wir sind zu-
frieden, wenn wir das Neue als unschädlich erkennen, und werden
durch Gewohnheit bald damit vertraut. Daneben aber gibt es ein
§ 2. Psychologischer Ursprung der Philosophie 3
tieferes, ein theoretisches Staunen, welches durch keine Gewohn-
heit abgestumpft, sondern einzig und allein befriedigt wird, wenn wir
das Neue in unser Weltbild einzufügen vermögen. Dieses theoretische
Staunen begleitet uns durch unser ganzes Leben. Zunächst staunen wir
über das Neue und Fremde. Aber es kommt die Zeit, wo die Welt-
anschauung, die wir gleichsam unbewußt an der Hand der Tradition
und unter dem Einflüsse sozialer und religiöser Autorität uns gebildet
haben, unser reif gewordenes Denken nicht mehr zu befriedigen ver-
mag. Jetzt staunen wir über das, was uns bisher bekannt und geläufig
war, weil es uns in neuem Lichte erscheint. Gerade dieses Staunen
über das Alltägliche, über das Bekannte und Über-
lief e r t e ist der eigentliche Anfang der Philosophie.
Unsere Seele gibt uns aber nicht bloß den Anstoß zum Philo-
sophieren, sie zeigt uns auch die Richtung, in der sich unser Denken
bewegen muß, um das philosophische Staunen zur Ruhe zu bringen.
Jeder Mensch ist eine zentralisierte Organisation und fühlt sich des-
halb als eine einheitliche und selbständige Persönlichkeit. Unser Ich
ist eine Einheit, vielleicht sogar das Urbild aller Einheit. Allein unser
Ich ist kein Element, kein Atom. Es ist vielmehr der psychische Aus-
druck unserer zentralisierten Organisation, die eine unendlich reiche
Mannigfaltigkeit von Funktionen aus sich erzeugt. Erst in dieser Viel-
heit der Funktionen wird unser Ich lebendig und wirklich. Wir ge-
hören zur Welt und die Welt gehört zu uns. Unser Ich wird durch die
Welt bereichert, die Welt durch unser Ich geformt, gegliedert und so
zur Einheit erhoben. „Der Einklang ist's, der aus dem Busen dringt
und in sein Herz die Welt zurücke schlingt." Die Doppelnatur unseres
Wesens, die Fülle formgebender Kraft, die den Stoff sucht, und die
Fülle des Stoffes, der nach Formung verlangt, diese einheitlich zu
gliedernde Mannigfaltigkeit unseres Innern, dies alles wollen wir im
Universum wiederfinden oder herstellen. William James hat in einem
eigenen Kapitel seines Buches über den Pragmatismus die Gleich-
berechtigung von Einheit und Mannigfaltigkeit lichtvoll erörtert. Noch
tiefer vielleicht hat Karl Joel in seinem Buche „Seele und Welt" diese
Wechselbeziehung erfaßt und in hinreißender Sprache dargestellt. Die
Philosophie hat in ihrer bisherigen Entwicklung das Moment der Ein-
heit oft zu ausschließlich betont, ist dadurch oft zu leeren Abstrak-
tionen gelangt und hat sich so dem Leben entfremdet. Unser innerstes
und tiefstes seelisches Bedürfnis kann aber nur durch eine Welt-
anschauung befriedigt werden, welche die stete und allseitige Durch-
dringung von Ich und Welt anerkennt und begreiflich macht.
Je reicher sich nun infolge der wissenschaftlichen Forschung und
infolge der fortwährenden Steigerung des Verkehrs unser Weltbild
gestaltet, desto mehr Anlaß finden wir zu stets erneutem Staunen. Die
alten Probleme von den Wechselbeziehungen zwischen Geist und
Materie, von der Möglichkeit, den Grenzen und den Zielen der Er-
kenntnis, die Fragen nach der sittlichen Bestimmung des Menschen,
nach dem Wesen der Kunst und ihrer Bedeutung für unsere Kultur
sind noch immer lebendig und verlangen immer neue und vertieftere
Untersuchung. Zu diesen alten Fragen sind aber in der letzten Zeit
l*
4 Bedeutung und Stellung der Philosophie
sehr wichtige neue Probleme hinzugekommen. Die Struktur des mensch-
lichen Gemeinschaftslebens, die Beziehungen zwischen dem Einzelnen
und der I iesellschaft, die Aufgaben des Staates, das Verhältnis von
Politik und Moral, die internationalen Beziehungen der Völker, die
Idee der ganzen Menschheit in ihrem Verhältnis zu Staat und Nation,
der Sinn der geschichtlichen Entwicklung, das alles regt das philo-
sophische Staunen mächtig an und fordert geradezu gebieterisch zum
Nachdenken auf. Der große Weltkrieg hat uns diese Probleme und
viele andere mit überwältigender Kraft in die Seelen hineingeschleu-
dert und verlangt von der Philosophie, daß sie klärend und richtung-
gebend ihres Amtes walte. Man darf deshalb mit Sicherheit behaupten,
daß trotz des energischen Widerspruches und trotz des herben Spottes,
denen die philosophische Spekulation von Seite der Spezialwissen-
schaften oft ausgesetzt ist, das Bedürfnis nach Philosophie sich immer
.uns neue wird fühlbar machen. Wenn auch keines der konstruierten
philosophischen Systeme auf die Dauer befriedigt, so wird nach dem
bekannten Worte Schillers die Philosophie, das heißt das Philo-
sophieren immer bestehen bleiben.
§ 3. Historischer Ursprung der Philosophie
Unabhängig voneinander haben mehrere Kulturvölker eine Philo-
sophie ausgebildet. Die gelehrte Sprachforschung des neunzehnten Jahr-
hunderts hat uns mit umfangreichen und oft sehr tiefen philosophischen
Spekulationen der Chinesen, der Ägypter, der Perser und insbesondere
der Inder bekannt gemacht. Für die Entwicklung des abendländischen
I tenkens ist aber, wenn wir von einigen wenigen Denkern des neunzehnten
Jahrhunderts absehen, nur die griechische Philosophie bedeutungs-
voll geworden. Diese hat durch das ganze Mittelalter hindurch fort-
gewirkt, die neuere Philosophie vielfach beeinflußt und befruchtet und
ist mit ihrer geschichtlichen Wirksamkeit noch immer nicht zu Ende.
Hier sind zuerst die Probleme aufgestellt worden, mit denen wir uns
noch heute beschäftigen, hier wurden zuerst die Denkmittel gefunden,
mit denen wir noch heute operieren. Das Studium der griechischen
Philosophie ist deshalb für das tiefere Verständnis der Probleme noch
heute unerläßlich und überdies für den Anfänger besonders lehrreich.
In den reichen Pflanzstädten Ioniens (an der Westküste Klein-
asiens), wo der rege Handel und Verkehr vielfache Anregungen, der
zunehmende Wohlstand hinlängliche Muße zum Nachdenken ge-
währte, waren die psychologischen Bedingungen für die Entfaltung
des philosophischen Triebes besonders günstig. Dort beginnt um
(.00 v. Chr. mit T/iales die lange Reihe der Denker, die sich um die
Lösung der Welträtsel bemühten.
Die Namen Philosophie und Philosoph sind jedoch erst seit dem
I nde des fünften Jahrhunderts v. Chr. bezeugt. Das griechische Wort
Philosophia i>t wahrscheinlich aus dem Zeitwort philosophein abgeleitet
und dieses bedeutet soviel als: nach Erkenntnis streben, und zwar aus
reiner Wißbegierde, ohne einen praktischen Zweck dabei im Auge zu
haben. In diesem Sinne findet sich das Zeitwort bei Herodot (I, 30)
§ 4. Philosophie und Religion 5
und bei Thukydides (II, 40). Bei Piaton und bei Aristoteles bildet sich
immer deutlicher der Begriff des Philosophen und der Philosophie in
dem Sinne aus, in welchem wir diese Bezeichnungen heute gebrauchen.
Der Philosoph ist dem Wortsinne nach zunächst derjenige, der die
Weisheit liebt (philein = lieben, Sophia = Weisheit), nach ihr strebt,
sie aber noch nicht besitzt. Philosophie ist das stete Verlangen nach
Weisheit und in diesem Sinne oft gleichbedeutend mit dem, was wir
Wissenschaft nennen. Sie wird aber immer mehr zur Wissenschaft von
den letzten Dingen, von den Prinzipien des Seins, des Erkennens und
des Handelns. Man kann also sagen, daß bereits die Griechen den Be-
griff der Philosophie als Weltanschauungslehre heraus-
gearbeitet haben.
Überall aber, wo eine Philosophie entstanden ist, findet sie sich
in nahen und engen Beziehungen zur Religion und zur Wissen-
schaft. Oft wächst die Philosophie aus der Religion hervor und
wirkt wieder ihrerseits läuternd auf die Religion zurück. Es geschieht
aber auch, daß sie der Religion kämpfend entgegentritt und sich dabei
eng mit der Wissenschaft verbindet. Mit dieser gilt sie anfangs als
identisch, löst sich aber dann doch wieder von ihr los und schafft sich
ihre eigene Aufgabe. Es erweist sich deshalb schon hier, gleich im
Eingang, als unerläßlich, das Verhältnis der Philosophie zur Religion
und zur Wissenschaft kurz zu erörtern, damit die Eigenart der Philo-
sophie gleich anfangs klar erkannt werde.
§ 4. Philosophie und Religion
Philosophie und Religion stehen vielfach in engem Zusammen-
hange. Gemeinsam ist beiden das Bestreben, die Erfahrung zu einem
Gesamtbilde zu ergänzen, gemeinsam ferner, namentlich in ihren An-
fängen, das naive Vertrauen in die Kraft des Denkens und Gestaltens
und der feste Glaube an die Gebilde der eigenen Denk- und Phantasie-
tätigkeit. Plato glaubt nicht minder fest an die Wirklichkeit und Reali-
tät der Ideen als das fromme Gemüt an ein Leben nach dem Tode.
Neben diesen gemeinsamen Zügen treten uns aber schon im An-
fang der geschichtlichen Entwicklung große Verschiedenheiten ent-
gegen, die sogar zu scharfen Gegensätzen führen. Die religiöse Welt-
und Lebensanschauung entsteht meist dadurch, daß die Erfahrungen
des Alltags durch die vermenschlichende Phantasie ausgedeutet und
nach den Bedürfnissen und Wünschen des Gemütes ausgestaltet wer-
den. Der Glaube an unsichtbare geistige Mächte, die den Naturlauf
bestimmen, Regen und Sonnenschein verursachen, den Erfolg der Jagd,
der landwirtschaftlichen Arbeit bestimmen, Geburt und Tod, Krankheit
und Genesung hervorbringen, kurz, alles Geschehen mächtig beein-
flussen, ist bei allen primitiven Stämmen verbreitet und bildet einen
integrierenden Teil ihrer Welt- und Lebensanschauung, die für ihr
Tun und Lassen maßgebend ist. Die religiösen Vorstellungen und
Glaubenssätze bilden einen gemeinsamen geistigen Besitz Vieler und
dieser gemeinsame geistige Besitz bildet ein einigendes Band, das die
Glaubens- und Stammesgenossen aneinanderschließt. Die Religion be-
6 Bedeutung und Stellung der Philosophie
ruht namentlich in ihren Anlangen auf der sozialen Geltung der
i »laubenssätze. Diese gemeinsamen Vorstellungen werden dann mit der
\utontut der Tradition von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt
und später auch vielfach durch die Autorität der Staatsgewalt ge-
schützt. Die Religion ist also infolge ihrer Entstehung sozial und
autoritativ.
Demgegenüber verdankt die Philosophie ihre Entstehung dem
selbständig gewordenen E r k e n n t n i s t r i e b. Dieser entwickelt sich
aber erst dann, wenn der Mensch sich aus dem Zustande der
sozialen Gebundenheit, in der er am Anfange lebt, zu be-
freien begonnen und bereits im Begriffe ist, sich zu einer selbstän-
digen und eigenkräftigen Persönlichkeit auszu-
talten. Wir werden weiter unten sehen, wie sich zugleich mit dieser
I ndividualisierung des Einzelmenschen die Intel-
lektualisierung der Seele vollzieht. Jetzt ist es vor allem
der e i n z e 1 n e Denker, der die überlieferten Anschauungen prüft und
aus der Kraft des eigenen Denkens und Forschens sich ein Weltbild
/urecht denkt. Der Philosoph geht dabei seine eigenen Wege und tritt
den überlieferten Anschauungen seiner Zeitgenossen mitunter mit
großer Schroffheit entgegen. Im Gegensatze zu der sozialen und autori-
tativen Religion ist also die Philosophie, und zwar besonders in ihren
Anfängen, individualistisch und deshalb kritisch.
Es ist infolgedessen begreiflich, daß beim ersten Auftreten der
Philosophie sich ein Auflehnen gegen die religiösen Traditionen be-
merkbar macht. In der griechischen Philosophie tritt dieser Gegensatz
gelegentlich scharf hervor. Xenophanes wirft den homerischen Göttern
ihre Menschenähnlichkeit und ihre menschlichen Schwächen vor, Prota-
"oras weiß nicht, ob es überhaupt Götter gibt, und Epikur läßt die
Gottheiten zwar als Idealgestalten bestehen, nimmt ihnen aber jeden
Einfluß auf das Weltgetriebe. Dagegen beginnen schon in ziemlich
früher Zeit die Versuche, Religion und Philosophie zu vereinen. Piaton
und Aristoteles gelangen auf spekulativem Wege zu der Idee eines
einzigen Gottes, dessen Verhältnis zur Welt sie verschiedenartig be-
stimmen. Die Stoiker versuchen, die überlieferten Götter- und Helden-
sagen durch allegorische Umdeutung in ihr philosophisches System
einzufügen. Der Jude Philo aus Alexandria (geb. um 20 v. Chr.) sucht
durch allegorische Deutung aus der alttestamentlichen Schöpfungs-
ueschichte eine rein philosophische Kosmologie herauszulesen. Das
I hristentum bedient sich zunächst zur Begründung und Verteidigung
seiner Heilsbotschaft, dann zur Formulierung seiner Lehren vielfach
philosophischer Denkmittel, stellt aber den Glauben entschieden über
das Wissen. In der scholastischen Philosophie des Mittelalters wird
dann der energische Versuch unternommen, die Dogmen der christ-
lichen Religion philosophisch zu begründen. Bald aber zeigt es sich,
daß nicht alle Dogmen einer streng vernunftgemäßen Begründung
fähig sind, und es wird eine Scheidung vorgenommen zwischen
natürlicher und zwischen geoffenbarter Theologie (theo-
logia naturalis und theologia revelata). Was der letzteren zugehört,
das kann nicht bewiesen, sondern muß auf Grund der Offenbarung
§ 4 Philosophie und Religion 7
geglaubt werden. Es tritt also der scheinbar überwundene Gegensatz
schon innerhalb der Scholastik wieder auf.
Die neuere Philosophie wird durch die aufblühende Naturwissen-
schaft des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts befruchtet und ins-
besondere von der Mathematik stark beeinflußt. Man lernt einerseits Be-
obachtung und Versuch als die sichersten Quellen empirischer Erkennt-
nis schätzen, während anderseits die Mathematik ein System unbedingt
gültiger, von der Erfahrung scheinbar ganz unabhängiger Wahrheiten
liefert, die aus der Vernunft selbst geschöpft zu sein scheinen. Daraus
ergeben sich gelegentlich Konflikte zwischen Religion und Wissen-
schaft. Die römische Kirche wollte anfangs die kopernikanische Lehre
nicht gelten lassen, weil sie mit dem Wortlaute mancher Bibelstellen
im Widerspruch stand, gab aber später diesen Widerstand auf. Die
Philosophen bemühen sich vielfach, religiöse Anschauungen zu ge-
winnen, die mit der Wissenschaft vereinbar sind. So arbeitet Leibniz
viele Jahre daran, eine Vereinigung der christlichen Konfessionen zu-
stande zu bringen. Kant will eine „Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft" begründen und auch die späteren Träger des
deutschen Idealismus, Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher,
sind tief religiöse Naturen.
Der Materialismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhun-
derts hatte zwar jede Religion als leeres Hirngespinst betrachtet und
alle derartigen Probleme aus der Wissenschaft eliminieren wollen;
allein die historischen und namentlich die ethnographischen For-
schungen der letzten Dezennien haben aufs neue gezeigt, daß reli-
giöse Vorstellungen sich überall finden, wo Menschen zusammen-
wohnen, und daß dieselben somit zu den Elementargedanken des
Menschengeistes gehören.
Der Versuch einer Vereinigung von Philosophie und Religion ist
nicht von vornherein als aussichtslos zu verwerfen, da ja die Möglich-
keit nicht geleugnet werden kann, daß die philosophische, also vor-
urteilslose Untersuchung zu Resultaten gelangt, die mit geläuterten
religiösen Vorstellungen übereinstimmen. Sicher ist es, daß die philo-
sophische Spekulation im Altertum und in der Gegenwart sehr viel zur
Läuterung der religiösen Vorstellungen beigetragen und diese in theo-
retischer und praktischer Hinsicht der wissenschaftlichen Welt-
anschauung näher gebracht hat. Sicher ist es aber auch, daß sich in
den gebildeten und sogar in den wissenschaftlichen Kreisen ein starkes
Bedürfnis nach geläuterten und vertieften religiösen Anschauungen
geltend macht. Naturwissenschaft und Technik haben unsere Einsicht
vermehrt, unsere Macht gesteigert, aber unser Herz ist dabei leer ge-
worden. Darum wollen wir uns wieder auf uns selbst besinnen und die
in uns wirksamen Kräfte zum Bewußtsein und zur Geltung bringen.
Dadurch aber wird unser Blick geschärft für den Anteil und für die
Bedeutung des Geistigen in den Fortschritten der Kultur. Wir
kommen zur Einsicht, daß Naturwissenschaft und Technik nichts
anderes bewirken, als eine fortgesetzte Vergeistigung der
Materie. Wir beginnen einzusehen, daß die Tatsachen, mit denen
die Wissenschaft operiert, nicht das Ursprüngliche und auch
S Bedeutung und Stellung der Philosophie
nicht das Letzte sind. Wir fühlen das Bedürfnis, den Sinn der
Tatsachen zu deuten und ihren Wert zu bestimmen.
Diese Deutungsarbeit ist in gewissem Sinne die gemein-
same Aufgabe von Religion und Philosophie. Beide fragen nach dem
Woher und nach dem W o h i n, nach den Anfängen und nach
den Zielen der kosmischen und der menschheitlichen Entwicklung.
Die Antworten auf diese unser innerstes Leben tief berührenden Fragen
werden aber nur dann befriedigend ausfallen, wenn sie mit den Er-
gebnissen der objektiven Tatsachenforschung nicht im Widerspruche
stehen. I ür die Philosophie ist es heute bereits selbstverständlich, daß
sie mit wissenschaftlichen Methoden und mit wissenschaftlichen Denk-
mitteln arbeiten muß. Aber auch in der religiösen Entwicklung sehen
wir immer deutlicher das Bestreben hervortreten, die Grundlagen der
Wissenschaft anzuerkennen und das Gebäude des Glaubens auf diesen
Grundlagen zu errichten und auszugestalten.
So vereinigt sich also die Philosophie mit der Religion in dem
Bestreben, das G e i s t i g e im Menschen zur Anerkennung zu bringen
und so gleichsam von Innen heraus ein einheitliches Weltbild zu ge-
winnen, das zugleich die Kraft haben soll, dem Leben des Einzelnen
und dem Leben der Menschheit Kraft, Ziel und Richtung zu geben.
Dadurch nun, daß die Philosophie sich dieser ihrer aktivisti-
sehen und zugleich auf das Ganze gerichteten Bestimmung immer
deutlicher bewußt wird, ändert sich auch ihr Verhältnis zur Wissen-
schaft, über die sie allmählich hinauswächst, ohne jedoch die enge
Zusammengehörigkeit mit ihr zu verlieren.
§ 5. Philosophie und Wissenschaft
Die Philosophie ist zur Zeit ihres ersten Auftretens bei den
Griechen mit theoretischer Wissenschaft identisch. Jede Untersuchung,
die aus reinem Erkenntnisdrang unternommen wird, gilt als philo-
sophische Arbeit. Philosophisch und wissenschaftlich ist ein und das-
selbe. Die ionischen Naturphilosophen beschäftigen sich vielfach auch
mit geographischen, mit astronomischen, mit mathematischen und mit
naturgeschichtlichen Forschungen. Das Auftreten des Sokrates bedeutet
hier einen wichtigen Wendepunkt. Er hat, wie Cicero von ihm sagt,
„die Philosophie vom Himmel abgelenkt, sie in die Städte und in die
Häuser eingeführt und sie gezwungen, über das Leben und über die
Sitten, über Gut und Böse Untersuchungen anzustellen" (Tusc. V,
4, 10). Diese Hinlenkung auf das Praktisch-Ethische ist für die Philo-
sophie bis auf den heutigen Tag charakteristisch geblieben und unter-
scheidet sie von der rein theoretischen Wissenschaft. Auch für Plato,
den größten Schüler des Sokrates, bildet trotz seiner Forderung nach
streng wissenschaftlicher, besonders nach mathematischer Schulung
der Philosophen, dennoch die sittliche Gestaltung des Lebens,
besonders im Staate, den Mittelpunkt seines philosophischen Inter-
esses. Dagegen verkörpert sich in der Person des Aristoteles noch ein-
mal die I inheit von Philosophie und Wissenschaft. Dieser „baumeister-
liche Mann", der das gesamte Wissen seiner Zeit beherrschte und selbst
§ 5. Philosophie und Wissenschaft 9
wesentlich bereicherte, betrachtete gewiß seine ganze Forscherarbeit als
ein unausgesetztes „Philosophieren". In der sogenannten
„alexandrinischen" Zeit sehen wir einerseits, wie die Konzentration auf
das Praktisch-Ethische in den Schulen der Stoiker und der Epi-
kureer Fortschritte macht. Anderseits scheiden sich bereits einzelne
Wissenszweige von der Philosophie ab. Euklid, der die Lehrsätze der
Geometrie in ein System bringt, Archimedes und Heron, die unsere
physikalischen Kenntnisse durch Experimente bereichern, werden kaum
mehr als Philosophen bezeichnet. Noch deutlicher vielleicht hebt sich
die in A 1 e x a n d r i a, wo die literarischen Erzeugnisse der klas-
sischen Zeit gesammelt und gesichtet wurden, entstandene neue Wissen-
schaft der Philologie von der Philosophie ab.
Im Mittelalter ist die T h e o 1 o g i e die alles beherrschende Diszi-
plin. Die weltliche Wissenschaft wird nach der antiken Überlieferung
vorgetragen und nur von wenigen vereinzelten Forschern (z. B. Roger
Bacon im dreizehnten Jahrhundert) selbständig betrieben. Die
Philosophie hingegen dient hauptsächlich dazu, die religiösen Lehren
systematisch zu ordnen und logisch zu begründen. Erst nachdem in
der Renaissance der Mensch sich selbst wiedergefunden und mit er-
starkten Sinnen und mit erneuter Lebensfreude sich der Natur wieder
zugekehrt hatte, entsteht durch die bahnbrechenden Arbeiten von
Kepler und Galilei, Huyghens und Newton in der modernen Physik
das Muster einer exakten Wissenschaft. Ganz unabhängig von jeder
philosophischen Spekulation werden hier auf Grund sorgsamer Be-
obachtungen und sinnreicher Versuche mit Hilfe der inzwischen über-
aus verfeinerten Hilfsmittel der Mathematik die Gesetze der
materiellen Bewegung erforscht und endgültig festgelegt.
Die großartige Entwicklung der Mathematik und der darauf
gegründeten Mechanik im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert
wirkt nun ihrerseits auf die Philosophie zurück. Man möchte eine Welt-
anschauung finden, deren Sätze eben so einleuchten, wie die mathe-
matischen Wahrheiten. In diesem Streben werden die Geister dadurch
ermutigt, daß ihrer Überzeugung nach die mathematischen Sätze nicht
auf Erfahrung beruhen, sondern durch reines Denken aus der Ver-
nunft selbst abgeleitet wurden und doch so einwandfrei dastehen, daß
sich jede Erfahrung nach ihnen richten muß. So unternimmt Spinoza
den Versuch, die Sätze seines festgeschlossenen philosophischen
Systems nach geometrischer Methode anzuordnen und zu begründen.
Immanuel Kant aber, der von der unwiderleglichen Sicherheit der
Ne wtonschen Himmelsmechanik tief durchdrungen war, verfiel auf den
überaus tiefsinnigen Gedanken, die Grundlagen der mathematischen
Naturwissenschaft im menschlichen Geiste aufzusuchen und wurde da-
durch der Schöpfer einer neuen Methode und Richtung in der Philo-
sophie. Sein kritisches System sollte ein strenger Grenzwächter sein
und die Schranken der menschlichen Erkenntnis für alle Zeiten fest-
legen. Seine Gedankengänge enthalten jedoch, wie später deutlicher
gezeigt werden soll, dennoch die Keime zu einer Philosophie, die über
jede mögliche Erfahrung hinausgeht. Diese Keime kommen bei Fichte,
Schelling und namentlich bei Hegel zu voller Entfaltung und erzeugen
10 Bedeutung und Stellung der Philosophie
eine Zeitlang den ( iedanken, daß die Philosophie nicht nur die Wurzel,
sondern die Königin der Wissenschaften sei, die auf Grund ihrer Ein-
geht in die Struktur des Menschengeistes imstande sei, endgültig über
Wahr und Falsch zu entscheiden. Selbst in naturwissenschaftlichen
I ragen wollte mitunter die Philosophie nicht nur das letzte Wort haben,
sondern man nahm sich sogar gelegentlich heraus, genau beobachtete
und sicher erwiesene Tatsachen in Abrede zu stellen und als unmöglich
zu bezeichnen, weil sie in das philosophische System nicht paßten.
Solchen ganz unberechtigten Ansprüchen gegenüber mußte die
Naturwissenschaft ihre Selbständigkeit geltend machen und immer
wieder darauf hinweiseil, daß die durch Beobachtung und Versuch
gefundenen Tatsachen und Gesetze unabhängig von jeder philo-
sophischen Spekulation Gültigkeit haben. So gefundene Tatsachen
bilden vielmehr die Grundlage, auf welcher eine wissenschaftliche
Philosophie weiterbauen darf.
Die ungeahnten Erfolge, welche Naturwissenschaft und Technik
im neunzehnten Jahrhundert aufzuweisen hatten, ließen nun bei der
großen Mehrzahl der Forscher die Meinung aufkommen, daß nur die
exakte, auf Beobachtung und Versuch einerseits und auf Mathematik
anderseits gegründete Forschungsmethode zu einer wirklichen Erweite-
rung unserer Erkenntnis führe, daß dagegen alle philosophische Spe-
kulation nur als müßiges, ganz wertloses Spiel zu betrachten sei.
Die naturwissenschaftliche Methode wurde aber auch von den-
jenigen Wissenschaften zur Anwendung gebracht, welche sich die Er-
forschung des geistigen Lebens zur Aufgabe setzen. Die Entwicklung
der Sprache, der Religion, der Sitte und aller sozialen Einrichtungen
wurde und wird noch auf Grund der statistischen und vergleichenden
Methode erforscht, und auch hier macht sich eine Art von Kultus der
Tatsache und Verachtung der Spekulation geltend.
Wissenschaft, so behauptet Ernst Mach, ist nichts anderes als
ökonomisch geordnete Erfahrung, und ihre Aufgabe besteht darin, die
Vorgänge in der Natur und im Menschengeiste möglichst einfach zu
beschreiben. Die in dieser Definition enthaltene Forderung, alles das,
was wir von uns aus an die Tatsachen heranbringen, zu eliminieren
und die Vorgänge, so wie sie sich tatsächlich vollziehen, möglichst ge-
treu in unserem Denken nachzubilden, ist als methodische Regel für
alle wissenschaftliche Forschung von außerordentlichem Werte und
kann daher nicht oft genug eingeschärft werden.
Unser innerer Drang aber, alles Erfahrene zur Einheit zu ver-
knüpfen, das Bedürfnis, die Welt und uns selbst nicht nur kennen zu
lernen, sondern auch zu begreifen, wird durch keine methodische For-
schungsregel aus der Welt geschafft. Die Philosophie kann durch die
rein objektive, Tatsachen sammelnde und ordnende Wissenschaft nicht
ersetzt werden.
I atsachlich macht sich das Bedürfnis nach Zusammenfassung und
nach erneuter Selbstbesinnung in den letzten Jahren bei den Ver-
tretern der I inzelwissenschaften deutlich bemerkbar. Der Chemiker
Wilhelm Ostwald in Leipzig hat Vorlesungen über Naturphilosophie
herausgegeben und zugleich eine Zeitschrift: „Annalen der Natur-
§ 5. Philosophie und Wissenschaft 1 1
Philosophie" begründet, die den eingestandenen Zweck hat, allgemeine
Fragen der wissenschaftlichen Forschung zu erörtern und über die
wissenschaftlichen Methoden und ihren Erkenntniswert Unter-
suchungen anzustellen. Auch die Geschichtsforscher sind es müde, bloß
Daten zu sammeln, und fühlen das Bedürfnis, den tieferen Sinn der
geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Es kommt die von Herder
und Hegel begründete Philosophie der Geschichte wieder zu Ehren,
erhält aber infolge der namentlich durch die Einbeziehung der ganzen
bewohnten Erde wesentlich erweiterten Kenntnis der Tatsachen eine
viel konkretere und zugleich breitere Grundlage.
Es kommt also, wie es scheint, den Vertretern der Einzelwissen-
schaften immer mehr zum Bewußtsein, daß alles menschliche Wissen
gemeinsame Grundlagen und gemeinsame Ziele hat. Die Grundlagen
alles Wissens zu untersuchen, das hat die Philosophie namentlich seit
dem Auftreten Kants zu ihrer wichtigsten Aufgabe gemacht. Der von
Fichte geprägte Begriff einer Wissenschaftslehre kommt
wieder zu Ehren, und angesehene Denker der Gegenwart wollen in der
Untersuchung der Grundlagen und Voraussetzungen alles Wissens die
wichtigste, ja die einzige Aufgabe der Philosophie erblicken. Dann
wäre die Philosophie allerdings nichts anderes, als eine rein theo-
retische, nur betrachtende Wissenschaft, die nichts anderes zu tun hätte,,
als die Grundlagen des menschlichen Erkennens, und zwar des
wissenschaftlichen Erkennens systematisch zu untersuchen. Eine der-
artige Auffassung entspricht aber keineswegs der geschicht-
lichen Entwicklung der Philosophie und ist noch weit weniger
mit dem jetzt so stark und in so weiten Kreisen gefühlten Bedürfnis
nach einer das Ganze der Welt und des Lebens durchdringenden und
befruchtenden Philosophie vereinbar. Der Philosoph darf den Men-
schen nicht bloß als ein denkendes Wesen ansehen, sondern muß auch
die „irrationalen Teile" seiner Seele, das Fühlen und das Wollen,
als wichtige Seiten seines Wesens mit in Betracht ziehen.
Schiller sagt einmal von seiner Dichtung „Die Künstler", sie sei
darum nicht minder ein Gedicht, weil sie m e h r s e i als ein Ge-
dicht. In ähnlicher Weise kann man nun von der Philosophie sagen:
Sie ist darum nicht minder eine Wissenschaft, weil sie
mehr ist als Wissenschaft.
Wie das zu verstehen ist, ergibt sich aus folgenden Erwägungen :
Der wissenschaftliche Forscher geht von der meist unausgesprochenen
und nicht klar bewußten Voraussetzung aus, daß der Mensch von
Natur aus die Fähigkeit besitzt, die auf ihn wirkenden Vorgänge der
Umgebung zunächst als Tatsachen, als Erlebnisse rein objek-
tiv zu konstatieren. Man hält dies sogar für die primitivste,
für die einfachste und deshalb ganz allgemeine Form, in der wir auf
die Eindrücke der Umwelt reagieren. So lange man der Ansicht war,
daß die ursprüngliche und grundlegende Funktion des menschlichen
Bewußtseins das Denken sei, konnte man bei dieser Meinung bleiben.
Dieses intellektualistische Vorurteil ist jedoch in den letzten Jahr-
zehnten gründlich zerstört worden. Die Völkerkunde, die Kinder-
psychologie, die neueren Forschungen über Zeugenaussagen haben
1 2 Bedeutung und Stellung der Philosophie
sonnenklar bewiesen, daß das objektive Feststellen von Tatsachen eben-
so schwer wie selten ist. I ür den primitiven Menschen wie für das
Kind sind die Vorgänge in der Umgebung gewiß nicht Tatsachen,
sondern Anlässe zu Angriffs-, Abwehr- und Fluchtbewegungen. Die
( rste und ursprünglichste Reaktionsweise des Menschen auf die Vor-
gange der Umwelt ist Stellungnahme, nicht objektives Kon-
statieren. Levy-Brähl sagt in seinem sehr interessanten Werke „Das
Denken der Naturvölker"* ), daß von einer rein theoretischen Vorstellung
beim primitiven Menschen keine Rede sein kann. Wir finden aber auch
bei den < gebildeten unserer Tage, daß ihre Beobachtungen und Aus-
ii keineswegs reine Konstatierungen von Tatsachen sind. Die von
William Stern in Breslau begonnenen Forschungen über die Psycho-
logie der Aussage haben ebenso überraschende wie überzeugende Er-
gebnisse zutage gefördert. In alle unsere Urteile schleichen sich die
Vorzüge und Fehler unserer psychophysischen Organisation ein und
unsere scheinbar rein objektiven Feststellungen sind von unseren Inter-
essen, unseren Wünschen und Neigungen, von unserer unbewußt aus-
wählenden Tätigkeit immer persönlich gefärbt. Diese psychologischen
Entdeckungen lassen nun die Wissenschaft in neuem Licht er-
scheinen. Alle Wissenschaften sind, das wissen wir, aus praktischen
Bedürfnissen hervorgegangen. Die Not hat den Menschen nicht nur
beten, sondern auch beobachten und denken gelehrt. Der Intellekt ist
unsere wichtigste Waffe im Kampf ums Dasein. Die wissenschaftliche
Arbeit der Jahrhunderte hat uns darin geübt, unsere Gefühle und
Wünsche zu unterdrücken und die Tatsachen möglichst genau in Ge-
danken nachzubilden. Dadurch ist es der Wissenschaft gelungen, die
Naturkräfte in unsere Dienste zu zwingen und die Macht des Menschen
ins Riesenhafte zu steigern. Die Wissenschaft hat sich einen rein
theoretischen Wahrheitsbegriff zurecht gedacht, der für sie Selbstzweck
ist. Sie hat sich ein internationales Reich gegründet, das sich selbst
regiert und keine Bevormundung verträgt.
Trotzdem aber vermag die Wissenschaft aus sich heraus keine
Welt- und Lebensanschauung zu konstruieren, die unser Inneres be-
friedigt. Die irrationalen Funktionen der Menschenseele, unser Fühlen
und Wollen, das die Wissenschaft gewaltsam unterdrücken muß, gerade
sie bilden den tiefsten Kern unseres Wesens, die innerste Kraftquelle
des Lebens. Hier setzt nun die Philosophie ein. Sie ist längst
nicht mehr die Königin im Reiche der Wissenschaft, wofür sie lange
gegolten hat. Aber auch als einfache Bürgerin vermag sie ihre wahre
Aufgabe nicht zu erfüllen. Wer die Philosophie zu einer Einzelwissen-
schaft macht oder ihr die Aufgabe zuweist, die Grundlagen und
Voraussetzungen alles Wissens zu bestimmen, der verkennt ihr wahres
Wesen und raubt ihr ihre innere Kraft. Von ihrem alten Thron ver-
trieben, hat sie ein neues schwereres und verantwortungsvolleres
Herrscheramt erworben. Den unermeßlichen Kräften, die uns die
Wissenschaft zur Verfügung stellt, hat sie die Richtung zu geben und
*) Lcvv-Rriihl. „Das Denken der Naturvölker"; in deutscher Übersetzung
herausgegeben und eingeleilet von Wilhelm Jerusalem, Wien 1921.
§ 6. Einteilung der Philosophie 13
die Ziele zu zeigen. Wir arbeiten mit wissenschaftlichen Methoden,
denn wir müssen die Welt kennen, um sie vorwärts zu bringen. Zum
Philosophen aber gehört mehr als Wissenschaft. Er braucht den intui-
tiven, iii die Tiefe und in die Weite dringenden Seherblick und vor
allem braucht er einen kräftigen idealen Aufschwung des Wil-
lens. „Was können wir?", so fragte schon vor mehr als hundert
Jahren der französische Philosoph Maine de Blran, und das ist auch
heute noch die Hauptfrage der Philosophie. Den Sinn der Wissen-
schaft und des Lebens zu deuten, dem menschlichen Wollen neue Im-
pulse zu geben, der schöpferischen Entwicklung, die in unserem
Seelenleben sich vollzieht, die grenzenlosen Möglichkeiten zu zeigen,
und so ein neues und wirksameres Leben zu schaffen, das ist heute
die Aufgabe der Philosophie.
Vielleicht wird es später auf Grund der soziologischen Be-
trachtungsweise möglich sein, das Verhältnis der Philosophie zur
Wissenschaft noch genauer und tiefgründiger zu bestimmen. Vielleicht
zeigt es sich, daß die Wissenschaft in der Erkenntnisentwick-
lung der Menschheit eine breite Mitte darstellt, wo sie sich ein
eigenes, rein theoretisches Reich gegründet hat. Nach dem Woher
und nach dem Wohin braucht die Wissenschaft nicht zu fragen.
Gerade diese Frage bildet aber das eigentliche Problem und Gebiet der
Philosophie. Dann wäre die W i s s e n s c h a f t die M i 1 1 e, die Philo-
sophie aber der Anfang und das Ende, das A und dasO.
Auf diesen hier nur angedeuteten Gedanken kommen wir in der
Schlußbetrachtung zurück.
§ 6. Einteilung der Philosophie
Von den Griechen her ist eine Dreiteilung der Philosophie über-
liefert, welche kurz nach Aristoteles, also seit dem Anfang des dritten
Jahrhunderts v. Chr., allgemein wurde. Die drei Teile heißen
Logik, Physik und Ethik.
Unter Logik verstand man die Lehre von der Erkenntnis, von
den Gesetzen des Denkens, von den Kriterien der Wahrheit und später
auch die Lehre von der Wahrscheinlichkeit.
Die Physik umfaßte Naturwissenschaft, Naturphilosophie,
Kosmologie sowie auch die Lehre von der menschlichen Seele und ihren
Schicksalen. Später kommt der Name Metaphysik auf, worunter
man die Lehre vom Seienden, das heißt von dem versteht, was unab-
hängig von uns als das Wesen der Dinge gelten muß im Gegensatze
zu dem, als was die Dinge uns erscheinen. Der Name Metaphysik ver-
dankt seine Entstehung dem Zufalle, daß die Schrift des Aristoteles,
die sich mit diesen höchsten Fragen beschäftigt, in der ersten vollstän-
digen Ausgabe seiner Schriften nach der Physik kam und, da diese
Schrift keinen Titel hatte, als das bezeichnet wurde, was hinter der
Physik steht (ta \)<zzä ta rpootxd). Name und Begriff haben sich bis
heute erhalten, doch wäre es angemessener, diesen Teil der Philosophie
mit dem Namen O n t o 1 o g i e, das heißt Lehre vom Seienden, zu be-
zeichnen.
14 Bedeutung und Stellung der Philosophie
Unter Ethik verstand man die Lehre von der Sittlichkeit des
Menschen, allein bei dem den Alten eigenen Begriffe von Sittlichkeit
ist es mehr die Lehre vom höchsten Gut, als die von dem Wesen der
moralischen Verpflichtung. Als ein Teil der Ethik galt die Politik,
das ist die Lehre vom Staate und seinen Formen.
Die Lehre vom Schöne n und von der Kunst wird zwar
gelegentlich von Piaton, Aristoteles und namentlich von Plotin behan-
delt, bildet aber im Altertum keinen ständigen Teil der Philosophie.
Die Einteilung in Logik, Physik und Ethik blieb durch das ganze
Mittelalter maßgebend und wird noch jetzt in den Darstellungen der
< ieschichte der Philosophie zugrunde gelegt. In der neueren Zeit haben
namentlich Baco von Verulam (1561—1626) und Chr. Wolff (1679
bis 1754) andere Einteilungen gegeben, welche das Gebiet der Philo-
sophie auf psychologischer Grundlage zu gliedern versuchen. Eine viel
tiefgründigere Gliederung liegt der kritischen Arbeit Kants zugrunde.
Dieser bahnbrechende Denker hat den groß angelegten Versuch unter-
nommen, in der Struktur des menschlichen Geistes die Bedingungen
für die objektive Gültigkeit unserer logischen, moralischen und ästhe-
tischen Urteile aufzufinden. Kant will damit keineswegs bloß psycho-
logische Tatbestände konstatieren, sondern ist überzeugt, daß er die
Allgemeingültigkeit unserer Entscheidungen aus der reinen, das heißt
von der Erfahrung unabhängigen Vernunft, aus dem reinen Willen und
aus dem reinen Gefühl einwandfrei zu begründen vermocht hat. Kant
gibt uns also in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht etwa eine
Psychologie, sondern eine Philosophie des Erkennen s, in
seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und in seiner „Kritik
der praktischen Vernunft" eine Philosophie des W o 1 1 e n s und im
ersten Teil seiner „Kritik der Urteilskraft", wo er die ä s t h e t i s c h e n
Probleme behandelt, eine Philosophie des F ü h 1 e n s.
Obwohl ich nun von einem anderen Standpunkt ausgehe als Kant
und mich vielfach in prinzipiellem Gegensatze zu ihm befinde, scheint
mir doch der architektonische Aufbau seiner Kritik den passendsten
Rahmen abzugeben für eine übersichtliche und zugleich einheitliche
Vorführung der wichtigsten philosophischen Probleme. Ich schließe
mich also in der folgenden Darstellung im ganzen der von Kant vor-
genommenen Gliederung an mit einigen, durch die seitherige Entwick-
lung der Philosophie nötig gewordenen Modifikationen.
Wir beginnen also wie Kant mit der Philosophie des_Er-
kennens. Zunächst werden da die Fragen nach der Möglich-
keit und nach den Grenzen der menschlichen Erkenntnis erörtert
(I rkenntniskritik). Daran schließt sich die Untersuchung des
Ursprünge s, der Entwicklung und der Ziele der mensch-
lichen Erkenntnistätigkeit (Erkenntnistheorie). Daraufwen-
den wir uns dem ( i e g e n s t a n d der Erkenntnis zu und erörtern in
einem weiteren Abschnitt die Probleme der Metaphysik oder
Ontotogie. 1 lier wird sich auch Gelegenheit bieten, auf die grund-
legenden Fragen der Natur- und Religionsphilosophie
einzugehen.
§ 7. Geschichte der Philosophie 15
In einem weiteren Abschnitt über Wege und Ziele der Ä s t h e-
t i k soll dann gezeigt werden, daß die Lehre vom ästhetischen Ge-
nießen und von der Bedeutung der Kunst wirklich nichts anderes ist
als eine Philosophie des Fühlen s.
Die Philosophie des W o 1 1 e n s sucht die Bedingungen und die
Normen der menschlichen Handlungen festzulegen. Sie bildet als prak-
tische Philosophie oder als Ethik seit jeher einen wichtigen Teil der
philosophischen Systeme. In den letzten Jahren ist es aber immer deut-
licher geworden, daß das Wollen des Einzelnen in hohem Grade von
den Forderungen beeinflußt wird, welche die Gemeinschaft, der wir
angehören, an jeden von uns stellt. Diese Forderungen treten mit so
großer Stärke und Deutlichkeit auf, daß man in ihnen die Äußerungen
eines Gesamtwillens erkannt hat, der sich durch seine Wir-
kungen als etwas durchaus Reales und Konkretes erweist. Diese Ein-
sicht hat nebst anderen, später zu erwähnenden Tatsachen dazu ge-
führt, die Beziehungen der Gesellschaft zu dem Einzelnen eingehend
zu untersuchen, und daraus ist allmählich eine neue Wissenschaft ent-
standen, die den Namen Soziologie erhalten hat, was soviel heißt,
als Gesellschaftslehre. Schon die bisherigen Ergebnisse dieser Wissen-
schaft erweisen sich als überaus bedeutsam für unsere ganze Lebens-
anschauung. Wir widmen ihr deshalb einen eigenen Abschnitt, der
zugleich in die mit der Soziologie nahe verwandte Philosophie der Ge-
schichte einführen soll. Der innige Zusammenhang von Soziologie und
Ethik soll dabei noch besonders beleuchtet werden. Daran sollen sich
noch einige Bemerkungen über die allgemeinen Prinzipien der E r-
ziehungslehre oder Pädagogik schließen.
Der Erörterung all dieser philosophischen Probleme muß aber
eine kurze Betrachtung der Psychologie und Logik vorangehen, die
man mit Recht als vorbereitende oder propädeutische Disziplinen be-
trachtet. Die Psychologie ist zwar eine selbständige Wissenschaft
geworden, die unabhängig von jeder philosophischen Spekulation ihre
Resultate auf rein empirischem Wege zu gewinnen sucht. Sie bildet
aber die unentbehrliche Grundlage für alle Geisteswissenschaften und
behält dadurch eine innige Verbindung mit der Philosophie. Die
Logik ist als Formenlehre des Denkens für jede Wissenschaft als
Propädeutik bedeutsam, wird jedoch wegen ihres engen Zusammen-
hanges mit Problemen der Erkenntnistheorie als Vorschule der Philo-
sophie besonders wichtig.
Als ein wichtiger Teil des philosophischen Studiums gilt mit Recht
die Geschichte der Philosophie, und es hat eine Zeit gegeben, wo man
die ganze Aufgabe der Philosophie auf ihre Geschichte einschränken
wollte. Es wird sich deshalb empfehlen, einige Bemerkungen über die
Bedeutung dieses Studiums hier einzuschieben.
§ 7. Geschichte der Philosophie
Für das Studium der Philosophie ist die Kenntnis ihrer Ge-
schichte von ungleich größerer Bedeutung, als dies bei anderen
Wissenszweigen der Fall ist. Wer z. B. Mathematik oder Physik zu
lö Bedeutung und Stellung der Philosophie
seinem wissenschaftlichen Forschungsgebiet erwählt hat, der kann sich
mit den Methoden, Denkmitteln und Resultaten der Forschung vertraut
machen, ohne das allmähliche Werden und Entstehen aller dieser For-
schungsmittel historisch verfolgen zu müssen. Erst auf der Höhe des
Wissens angelangt, wird mancher vielleicht ein historisches Bedürfnis
zu höhlen beginnen und dann allerdings einsehen, wie dies Ernst Mach
von der Physik wiederholt betont hat, daß ein tiefes und volles Ver-
ständnis der Grundbegriffe ohne Kenntnis der geschichtlichen Ent-
wicklung nicht zu gewinnen ist.
Ganz anders verhält es sich in dieser Beziehung mit der Philo-
sophie. Hier ist auch nur ein annähernd richtiges Verständnis eines
Problems ohne Kenntnis seiner geschichtlichen Entwicklung fast un-
möglich. Wer z. B. die Behauptung aufstellen hört: alles, was ich
da vor mir sehe, der gestirnte Himmel über mir, die Häuser, die Felder,
die Bäume in meiner Umgebung, die sind nur meine Vorstellung, sie
existieren nur, insofern ich sie wahrnehme, und nur als meine Wahr-
nehmung, der wird diese Ansicht zunächst für verrückt halten. Durch
die Kenntnis ihres geschichtlichen Werdens wird sie aber jedem be-
greiflich, und erst dann ist es möglich, kritisch Stellung dazu zu
nehmen, wie wir das weiter unten sehen werden.
So ist denn die Bekanntschaft mit den Hauptdaten der Geschichte
der Philosophie eine unerläßliche Vorbedingung für das Verständnis
philosophischer Probleme und viele raten deshalb, das Studium der
Philosophie mit dem Studium ihrer Geschichte zu beginnen.
Die Geschichte der Philosophie ist aber ein Studium, das auch
für denjenigen höchst lohnend ist, der nicht die Absicht hat, selbständig
zu philosophieren. Man lernt hier die Entstehung und Erarbeitung
der Denkmittel kennen, mittels welcher sich der Menschengeist nach
und nach die Welt erobert hat, Errungenschaften, „denen Gewohnheit
und unangefochtener Besitz so gerne unsere Dankbarkeit rauben".
Wenn wir heute an den meisten Dingen Stoff und Form unterscheiden,
wenn uns die Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit so ganz geläufig
geworden sind, so vergessen wir nur allzu leicht darauf, daß Aristoteles
der erste war, der diese Begriffe deutlich herausgearbeitet und zum Ge-
brauche zurechtgedacht hat.
Die Kenntnis der allmählichen Entwicklung der Denkmittel ist
der größte Gewinn, den man aus dem Studium der Geschichte der
Philosophie ziehen kann, und unsere Darstellungen dieses Gebietes,
an denen ja kein Mangel ist, sollten dieses Moment deutlicher heraus-
stellen.
Die Geschichte der Philosophie ist aber nicht nur Philosophie,
sie ist auch Geschichte. Gar oft prägt sich in einem philosophischen
System der geistige Gehalt des Zeitalters, in welchem es entstand,
am deutlichsten und am tiefsten aus. So ist, wie schon oft hervor-
gehoben wurde, Kants kategorischer Imperativ ein Niederschlag des
preußischen Pflichtbewußtseins, während das Weltbürgertum der
Kyniker und Stoiker den Untergang des griechischen Nationalgefühls
deutlich bekundet.
§ 7. Geschichte der Philosophie 17
Die Geschichte der Philosophie bildet demnach einen wichtigen
Bestandteil des philosophischen Studiums. Erschwert wird dieses
Studium allerdings durch die philosophische Kunstsprache, die sich
allmählich herausgebildet hat und die man sich schlechterdings an-
eignen muß. Unsere Einführung wird deshalb auf die genaue Er-
klärung der wichtigsten Kunstausdrücke große Sorgfalt verwenden,
um auf diese Weise auch das Studium der Geschichte der Philosophie
zu erleichtern. Indem wir anderseits bei der Vorführung der einzelnen
Probleme ihr geschichtliches Werden wenigstens skizzieren, wird der
Leser mit den wichtigsten Tatsachen der historischen Entwicklung be-
kannt und damit auch in die Geschichte der Philosophie eingeführt.
Literatur.
Fr. Paulsen, Einleitung in die Philosophie. 33.-35. Au«. 1920.
O. K ü 1 p e, Einleitung in die Philosophie. 9. Aufl. 1919.
W. Wundt, System der Philosophie. 4. Aufl. 1919, S. 1—26.
W. Wundt, Einleitung in die Philosophie. 7. Aufl. 1919.
Rudolf Eisler, Kritische Einführung in die Philosophie. 1905. Umfassende
und sehr eingehende Erörterung der Probleme mit sehr reichen Literatur-
angaben.
W. Windelband, Einleitung in die Philosophie. 2. Aufl. 1920.
Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 3. Aufl. 1910.
3 Bände. Das überaus fleißig gearbeitete Werk erleichtert wesentlich die
Lektüre philosophischer Schriften und ist für wissenschaftliche Arbeiten ge-
radezu unentbehrlich.
Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie. 1913. (Kein bloßer Aus-
zug aus dem größeren Werke, sondern eine kürzere, aber durchaus selb-
ständige Bearbeitung, die neben dem größeren Werk einen eigenen Wert
besitzt und dem Anfänger ganz besonders zu empfehlen ist.)
Überweg-Heinz e, Grundriß der Geschichte der Philosophie. 4 Bände
(Band I, Das Altertum, 11. Aufl. 1920, bes. v. Praechter, Band II, Mittel-
alter, 10. Aufl. 1915, bes. v. Baumgartner, Band III, Die Neuzeit bis
zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 11. Aufl. 1914, bes. v. Frisch-
eisen-Köhler, Band IV, Die Philosophie des neunzehnten Jahrhun-
derts, 11. Aufl., bes. v. O e s t er r e i ch). Das Werk gehört zu den unent-
behrlichen Hilfsmitteln des Studiums der Philosophie. Besonders wertvoll
sind die überaus reichen, nahezu vollständigen Angaben über die ein-
schlägige Literatur. Im ersten Bande der 11. Auflage (S. 2 ff. des Anhanges)
findet der Leser eine vortreffliche Übersicht über die wichtigsten Darstel-
lungen der Geschichte der Philosophie mit charakterisierenden Bemer-
kungen.
W. Windelband, Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
2. Aufl. 1907.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
Zweiter Abschnitt
Die propädeutischen (vorbereitenden)
Disziplinen
§ 8. Gegenstand, Aufgabe und Entwicklung der Psychologie
Die Psychologie ist die Wissenschaft von den
Gesetzen des menschlichen Seelenlebens. Ihr Gegen-
stand ist demnach das menschliche Seelenleben selbst, das heißt unser
Denken, unser Fühlen und Wollen, kurz alles das, was wir als seelische
Tätigkeiten täglich und stündlich erleben, was uns als solches Er-
lebnis unmittelbar gegeben und bekannt ist. Die Psychologie hat es
demnach immer nur mit Ereignissen, immer mit einem Geschehen,
niemals mit einem ruhenden Sein zu tun. Die Frage nach einem
substantiellen, beharrenden Träger dieser von uns erlebten psychischen
Phänomene, die Frage, ob diese Tätigkeiten von einem beharrenden,
im Wechsel der Erlebnisse unveränderlichen Seelenwesen ausgehen,
gehört nicht in die Psychologie, sondern bildet einen Gegenstand der
Metaphysik oder Ontologie. Eben dahin gehört natürlich auch das
Problem von dem Sitze, der Einfachheit und der Unsterblichkeit der
Seele. Über all diese Dinge können die verschiedenen Religionssysteme
Dogmen autstellen, die kraft der religiösen Autorität bei den An-
hängern des betreffenden Religionsbekenntnisses Glauben finden. Über
all diese Dinge kann eine wissenschaftliche Philosophie auf Grund
eindringender Untersuchungen Hypothesen aufstellen. Die Psychologie
bleib! davon ganz unberührt; sie durchforscht das menschliche Seelen-
leben, das eine der unzweifelhaftesten Tatsachen ist, die wir kennen,
sucht seine Vorgänge auf die einfachsten Elemente zurückzuführen
und die darin waltenden Gesetze zu ermitteln, ganz unabhängig von
jedem theologischen Dogma und jeder metaphysischen Hypothese.
Die Psychologie lehnt sich damit keineswegs gegen irgend ein
gma oder irgend eine metaphysische Hypothese auf. Ihre Erfor-
schung des Seelenlebens bleibt vielmehr für jedes metaphysische und
theologische Dogma gültig. Die Psychologie kann über das Wesen der
Seele ebensowenig Aufschluß geben wie die Mechanik über das Wesen
der Kraft. Da und dort wird nur das Gesetz des Geschehens gesucht.
Die Psychologie nähert sich also in bezug auf ihren rein erfahrungs-
tnäßigen I Charakter sowie in ihren Methoden sehr den Naturwissen-
schaften, bleibt aber in bezug auf ihren Gegenstand von diesen ge-
§ 8. Gegenstand, Aufgabe und Entwicklung der Psychologie 19
schieden. Die hier vorgetragene Auffassung der Psychologie sowie
ihre Unabhängigkeit von jeder Metaphysik ist eine Errungenschaft der
letzten Dezennien.
Der Glaube an ein vom Körper verschiedenes Seelenwesen, das
den Leib nach dem Tode verläßt und dann ein selbständiges Dasein
führt, ist tief in der Menschennatur begründet und findet sich tat-
sächlich schon bei den primitivsten, auf der niedrigsten Kulturstufe
zurückgebliebenen Völkern. Fast sämtliche Religionssysteme der Erde
haben diesen Glauben zum Dogma erhoben und er ist als selbstver-
ständliche Voraussetzung in viele philosophische Systeme über-
gegangen. Demgemäß bildet die Psychologie als die Lehre von der
Seele in den Systemen des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit
einen Teil der Metaphysik oder Ontologie. Daneben finden wir jedoch
schon verhältnismäßig früh die Beobachtung des tatsächlichen Seelen-
lebens am Werke. Piaton und Aristoteles haben dazu ungemein wert-
volle Beiträge geliefert, ebenso der Arzt Hippokrates und seine Schule,
wie nicht minder die späteren Philosophenschulen des Altertums, die
Stoiker, Epikureer (besonders der Dichterphilosoph Lukrez) und die
Neuplatoniker (besonders Plotiti). Selbst die scholastische Philosophie
des Mittelalters war darin, wie Siebeck nachgewiesen hat, nicht ganz
unfruchtbar. Zu Beginn der neueren Zeit wird diese Aufgabe immer
energischer in die Hand genommen. Schon im sechzehnten und sieb-
zehnten Jahrhundert machte sich das Interesse an der erfahrungs-
mäßigen Beobachtung und Beschreibung des wirklichen Seelenlebens
bemerkbar (vgl. Dilthey, Ges. Sehr. II, 416 ff.). Der Spanier Ludwig
Vives (1492 — 1540) gibt in seinem Werke über die Seele ausführliche
und lebendige Beschreibungen der menschlichen Affekte, die später
von Descartes und Spinoza weitergeführt wurden. Die englischen
Denker des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, besonders
Locke, Shaftesbury, Berkeley, Hume, Smith u. a. fördern die Kenntnis
des Seelenlebens durch eingehende Zergliederung. So entstehen mehr-
fach Darstellungen der Psychologie, die sich von Metaphysik ganz
fernhalten. Unter diesen verdient das Werk von James Mill (Vater des
Logikers und Nationalökonomen John Stuart Mill) „Analysis of the
Phenomena of the human Mind" (1829) besonders hervorgehoben zu
werden.
Zur Wissenschaft wurde die empirische Psychologie durch Her-
bart erhoben, der die Gesetze des Vorstellungsverlaufes festzustellen
und sogar mit der Hilfe mathematischer Formeln zu begründen
unternahm.
Herbarts großer Schüler, H. Lotze, hat dann in seiner 1852 er-
schienenen medizinischen Psychologie das Seelenleben im Zusammen-
hange mit seinen physiologischen Begleiterscheinungen dargestellt.
Bald darauf haben Fechner und Wundt diesen Zusammenhang ge-
nauer im einzelnen untersucht und es zugleich unternommen, die Er-
scheinungen des Seelenlebens dem Experiment zu unterwerfen. Die
beiden letztgenannten Denker verdienen die Begründer der modernen
Psychologie genannt zu werden. Wilhelm Wundt hat einerseits durch
sein grundlegendes Werk „Grundzüge der physiologischen Psycho-
20 Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
logie" (zuerst 1874, jetzt in 6. Aufl. 1908 — 1912), anderseits durch
die 1879 erfolgte Begründung des ersten Instituts für experimentelle
Psychologie in Leipzig einen mächtigen Anstoß zu weiteren Arbeiten
gegeben, welche er selbst aufs wirksamste gefördert hat. Nach dem
Muster der Leipziger Anstalt wurden in Deutschland, Frankreich,
I Unland, Italien und osterreich, namentlich aber in Amerika zahl-
reiche Institute hervorgerufen, in denen emsig an der experimentellen
1 rforschung des Seelenlebens gearbeitet wird.
Auf diese Weise ist die Psychologie zu einer selbständigen, von
aller philosophischen Spekulation unabhängigen Erfahrungswissen-
schafi ueworden, die dazu bestimmt ist, allen jenen Wissenschaften,
die sich mit dem geistigen Leben beschäftigen, und die man in neuerer
Zeit unter dem Namen Geisteswissenschaften zusammen-
zufassen pflegt, als Grundlage zu dienen. Dabei haben sich bestimmte
Methoden und Richtungen herausgebildet, mit denen wir den Leser
jetzt bekannt machen wollen.
§ 9. Methoden und Richtungen der Psychologie
Wie allen Erfahrungswissenschaften ist es der Psychologie zu-
nächst um eine möglichst reiche Sammlung von Tatsachen zu tun. Das
nächstliegende Mittel dazu ist die Beobachtung der sich vollziehenden
Ereignisse. Diese Beobachtung ist jedoch in der Psychologie eine
wesentlich andere als bei den Naturwissenschaften. Die psychischen
Phänomene können nicht wie die Naturereignisse mit unseren Sinnen
wahrgenommen, sie können nur auf eine jedem von uns bekannte, aber
nicht näher zu beschreibende Art unmittelbar erlebt werden. Ich kenne
aus Erfahrung nur jene psychischen Vorgänge, die ich selbst in meinem
Bewußtsein erlebe. Um Tatsachen zu sammeln, muß ich also das, was
ich selbst innerlich erlebe, beobachten und dem Urteil unterwerfen. Die
wichtigste und grundlegendste Quelle der Belehrung für den Psycho-
logen ist demnach die Beobachtung seiner eigenen psychischen Erleb-
nisse oder die Selbstbeobachtung. Die Methode der Selbst-
beobachtung, die man nach dem englischen Worte für Selbstbeobach-
tung (introspection = Hineinschauen) die introspektive nennt,
ist demnach die erste und wichtigste.
Die introspektive Methode enthält aber in sich mannig-
fache Schwierigkeiten und Widersprüche. Die Beobachtung meiner
psychischen Erlebnisse ist ja selbst eine Seelentätigkeit und muß daher
bei dem innigen Zusammenhang unserer Seelentätigkeiten unter-
einander modifizierend in den Verlauf des zu beobachtenden Phäno-
mens eingreifen und diesen Verlauf verändern oder unterbrechen. Wollte
ich mich mitten in einem Zornesausbruche beobachten, so wäre wohl
in demselben Augenblicke der Zorn verraucht. Viele halten deshalb die
Selbstbeobachtung für unmöglich und die introspektive Methode dem-
gemäß für unbrauchbar. Diese Ansicht ist jedoch nicht richtig. Ele-
mentare Erlebnisse, wie Sinneswahrnehmungen, einfache sinnliche und
ästhetische Gefühle lassen sich bei einiger Übung unmittelbar beob-
achten, ohne daß sie durch diese Beobachtung wesentlich verändert
§ 9. Methoden und Richtungen der Psychologie 21
werden. Komplizierte Vorgänge können wiederum in der Erinnerung
rekonstruiert und so gleichsam nachträglich beobachtet werden. Hier
fällt der störende Einfluß der Beobachtung so gut wie ganz weg, weil
die Introspektion mit der Erinnerung in eins zusammenfällt.
Die beobachteten Tatsachen müssen dann einer Zergliederung
oder Analyse unterworfen werden, und in dieser Analyse besteht der-
zeit die Haupttätigkeit des Psychologen. Alle Vorgänge, die wir wirk-
lich erleben, erweisen sich nämlich bei näherer Prüfung als zusammen-
gesetzt, und es gilt nun, die Elementarvorgänge ausfindig zu machen,
aus denen die beobachteten Vorgänge bestehen und e n t stehen. Zur
introspektiven Methode gehört also als wesentlicher Bestandteil die
Zergliederung oder Analyse.
Die auf Grund der introspektiven Methode unternommene Zer-
gliederung gelangt verhältnismäßig bald zu ihrer Grenze. Die Wahr-
nehmung eines Gegenstandes durch das Auge erscheint z. B. der
Selbstbeobachtung als ein einfacher, nicht weiter zu zerlegender Vor-
gang. Hier greift nun mit großem Erfolge das Experiment ein
und hilft uns die Analyse über die Grenzen der Selbstbeobachtung
hinaus fortsetzen.
Die experimentelle Methode in der Psychologie besteht
ebenso wie in den Naturwissenschaften darin, daß die Bedingungen
für das Entstehen psychischer Vorgänge absichtsvoll und planmäßig
hergestellt, und zwar so hergestellt werden, daß man sie willkürlich
in quantitativer wie in qualitativer Beziehung variieren kann. Zu einem
psychologischen Experiment gehören in der Regel zwei Personen, der
Experimentator und der Beobachter. Der Experimentator stellt die Be-
dingungen her und variiert sie, ohne daß der Beobachter von der
Variation Kenntnis hat. Der Beobachter gibt dann seine Eindrücke
teils durch Worte, teils durch verabredete Zeichen zu Protokoll. Natür-
lich ist beim Beobachter wieder nur die Selbstbeobachtung wirksam
und es gelingt tatsächlich erst nach einiger Übung, Fehlerquellen aus-
zuschalten und sichere Resultate zu erzielen. Charakteristisch für alle
psychologischen Experimente ist es, daß nur eine große Zahl von Ver-
suchen, mit mehreren Beobachtern vorgenommen, brauchbare Ergeb-
nisse liefert. Hier bedarf es also besonders großer Ausdauer und ganz
besonderer Genauigkeit. Jahrelang werden deshalb über dasselbe Ge-
biet Versuche fortgesetzt und unter veränderten Bedingungen wieder-
holt. Wichtig ist es ferner, daß hier auch die mißlungenen Versuche,
das heißt solche, die nicht das erwartete Resultat ergaben, sorgfältig
verzeichnet werden.
Die experimentelle Methode hat sich in den letzten Dezennien
sehr vervollkommnet und zahlreiche, recht komplizierte Apparate her-
gestellt, welche die Versuche erleichtern und ihre Resultate exakter
machen. Insbesondere hat diese Methode in der Analyse der Sinnes-
wahrnehmungen große Erfolge aufzuweisen. Wir wissen jetzt, daß
beim Zustandekommen einer Gesichtswahrnehmung neben den Netz-
hautempfindungen die Bewegungen des Auges und die dabei entstan-
denen Muskelempfindungen eine große Rolle spielen. Dasselbe ist auch
bei Tastwahrnehmungen der Fall. Überhaupt ist durch die experimen-
Die propädeutischen vorbereitendem Disziplinen
teile Methode die große Bedeutung der Muskelempfindungen erkannt
worden und dadurch ha! unsere Vorstellung von der Natur unseres
Seelenlebens die tiefgreifendsten Veränderungen erfahren. Durch die
experimentelle Methode sind ferner der zeitliche Verlauf der Vorstel-
lung.li. die I iesetze der Assoziation, die Leistungen des Gedächtnisses,
die 1 ehre von den Gefühlen im allgemeinen, insbesondere in bezug auf
die dadurch veranlaßten Änderungen der Pulsbewegungen, und be-
sonders auch die elementaren ästhetischen Gefühle vielfach aufgehellt
worden, und es ist zu hoffen, daß der gemeinsamen Arbeit auf diesem
Gebiete noch manche Entdeckung gelingen wird.
Neben der introspektiven und der experimentellen Methode ist
noch die Beobachtung anderer eine nicht unwichtige Quelle
der Belehrung. Man kann hier natürlich nie den psychischen Vorgang
direkt beobachten, sondern nur seinen körperlichen Ausdruck in Be-
wegung, Miene und Sprache. Der Vorgang selbst muß erschlossen
werden, und bei diesen Schlüssen bilden wieder die eigenen Erlebnisse
des Beobachters die Grundlage. Besonders lehrreich werden solche Be-
obachtungen an Kindern und an solchen Individuen, denen ein grau-
se unes Experiment der Natur irgend eine Erkenntnisquelle verschlossen
hat. Blindgeborene, Taubstumme und die nicht allzu seltenen Taub-
stumm-Blinden bieten da reiche Belehrung, und wir verdanken der
sorgsamen Beobachtung solcher Personen nicht unerhebliche Auf-
schlüsse. Insbesondere sei hier auf die überaus lehrreiche Erziehung
der taubstumm-blinden Laura Bridgman*), Helen Keller**) und
Marie Hcurtin ***) hingewiesen, wo sich in geradezu staunenswerter
Weise zeigt, welcher Leistungen der Tastsinn allein fähig ist, und
welche Bedeutung der Wortsprache für die Entwicklung des Denkens
zukommt.
Mit der introspektiven Methode, so wurde bereits gesagt, ist auf
das engste die Analyse verbunden, welche die beobachteten Vorgänge
in ihre Elemente zerlegt. Vermöge der ereignisartigen Natur der
psychischen Vorgänge, welche immer nur ein Geschehen, niemals
ein beharrendes Sein darstellen, geht die analytische Betrachtung
von selbst in die g e n e t i s c h e über, welche das Seelenleben als eine
Entwicklungsreihe auffaßt und fragt, welcher Vorgang der erste, der
ursprünglichste ist. Die Frage, woraus ein Vorgang besteht, führt un-
abweislich zu der Frage, wie und woraus er e n t steht.
Die g e n e t i s c h e Betrachtungsweise führt aber von selbst über
das Einzelwesen hinaus und zwingt uns, die Gesellschaft, in der der
Mensch lebt, als wichtigen Faktor seiner seelischen Entwicklung mit
zu berücksichtigen. Soweit wir nämlich den Menschen zurück ver-
folgen können, überall und immer finden wir ihn als geselliges Wesen,
als Herdentier. Das Wort des Aristoteles, daß der Mensch von Natur
*) VffL Jerusalem, Laura Bridgman, Erziehung einer Taubstumm-Blinden.
I im- |>-\rhologische Studie. Wien, Pichler, 1891.
| Helen Keller, Geschichte meines Lebens. Deutsche Übersetzung. Stutt-
gart 1005.
•**) Marie Hcurtin, Erziehung einer taub und blind Geborenen, von
W. Jerusalem (österreichische Rundschau. 1905, Nr. 33 und 36).
§ 9. Methoden und Richtungen der Psychologie 23
aus ein soziales Wesen sei, wird durch die moderne Völkerkunde im
vollsten Umfange bestätigt. Nicht nur die den Menschen umgebende
Natur, auch die mit ihm zusammenlebenden Mitmenschen geben der
Entwicklung seines Seelenlebens Richtung und Inhalt. So erweitert sich
die Individualpsychologie zur Sozial- oder Völkerpsycho-
logie. Diese von Lazarus und Steinthal begründete Wissenschaft
hat in den letzten Dezennien große Fortschritte gemacht. Das groß
angelegte Werk über Völkerpsychologie von Wilhelm Wandt, der
namentlich die Sprache, die Mythenbildung und die Sitte völker-
psychologisch zu behandeln unternommen hat, eröffnet neue und sehr
bedeutsame Gesichtspunkte. Uns scheint es deshalb eine unabweisliche
Forderung für jeden Psychologen, sich mit den Resultaten der mo-
dernen Völkerkunde vertraut zu machen und den sozialen Faktor in
der Entwicklung des menschlichen Erkennens, Fühlens und Wollens
weit mehr, als dies bisher geschehen, zu berücksichtigen.
Wenn wir nach dem Ursprung und nach der Entwicklung der
seelischen Vorgänge fragen, so kommen wir fast von selbst auf den
innigen Zusammenhang dieser Vorgänge mit der E r h a 1 1 u n g d e s
Lebens. Ein großer Teil unseres Nachdenkens und Überlegens dient
doch, das weiß jeder, sogenannten praktischen Zwecken, das heißt
er ist darauf gerichtet, das Leben des Einzelnen, seiner Familie oder
des Gemeinwesens, dem er angehört, zu erhalten, dieses Leben an-
genehmer, inhaltsreicher und dauernder zu machen. Betrachtet man
nun das Seelenleben von diesem Standpunkt aus, so fällt oft ein über-
raschendes Licht auf seelische Vorgänge, die sich bisher dem vollen
Verständnis nicht erschließen wollten. So wird z. B. das Phänomen
der Aufmerksamkeit, die Entstehung der Begriffe, besonders aber das
ganze Gefühlsleben durch Anwendung dieser biologischen Me-
thode in eine ganz neue Beleuchtung gerückt. Diese Methode ist
deshalb für den Psychologen ein überaus wertvolles heuri-
stisches Prinzip, das heißt ein Mittel, um Neues zu finden,
das ohne diese Betrachtungsweise nicht entdeckt werden kann. Der
englische Philosoph Herbert Spencer hat zum ersten Male die bio-
logische Betrachtungsweise auf die Psychologie angewendet. Er hat
aber darin geirrt, daß er das gesamte Seelenleben nur als Anpassung
der inneren Vorgänge an die äußere Umgebung ansah. Dadurch ist
er der Eigenart des Psychischen, der schöpferischen Tätigkeit des
Geistes nicht gerecht geworden. Ich selbst habe, durch Spencer ange-
regt, die biologische Methode in meinem bereits in siebenter Auflage
(1921 ) vorliegenden Lehrbuch der Psychologie konsequent durch-
geführt, bin mir dabei aber immer bewußt geblieben, daß diese Me-
thode nicht mehr sein darf als eben ein heuristisches Prinzip. Das
Seelische in uns ist nicht bloß Anpassung an die Umgebung. Unser
Geist hat eine schöpferische Kraft in sich, die fähig ist, die von außen
kommenden Eindrücke nicht nur mit geeigneten Maßnahmen zur Er-
haltung des Lebens zu beantworten, sondern innerlich zu verarbeiten
und aus sich heraus neue Gebilde zu schaffen, die ein eigenes
Leben führen. Dabei spielt allerdings das Zusammenleben der Men-
schen eine überaus wichtige Rolle. Vor kurzem hat Felix Kraeger in
24 Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
seiner Schrift „Über Entwicklungspsychologie" (1915) ebenfalls die
Anwendung der biologischen und sozialen Betrachtungsweise auf das
Seelenleben verlangt und weitere Arbeiten in diesem Sinne in Aussicht
gestellt.
Die introspektive und die experimentelle Methode suchen beide
mit Hilfe eindringender Analyse den psychischen Tatbestand so genau
als möglich festzustellen, während die genetische Betrachtungsweise
im Verein mit der biologischen den Ursprung, die Entwicklung und die
Bedeutung des Seelenlebens zu erforschen suchen.
Was nun die verschiedenen Richtungen betrifft, die sich
gegenwärtig in der Psychologie herausgebildet haben, so entsprechen
dieselben teils der bevorzugten Anwendung gewisser Methoden, teils
grundlegenden Ansichten über die größere oder geringere Bedeutung
bestimmter Grundklassen von seelischen Vorgängen.
Die früher übliche Unterscheidung zwischen rationaler oder
spekulativer und empirischer Psychologie ist jetzt gegenstands-
los geworden. Was man rationale Psychologie nannte, gilt jetzt all-
gemein als ein Teil der Metaphysik und wird von der Psychologie aus-
geschlossen. Eben deswegen ist das Beiwort „empirisch", das heißt er-
fahrungsgemäß, jetzt selbstverständlich und damit überflüssig ge-
worden.
Dagegen unterscheidet man den betreffenden Methoden ent-
sprechend zwischen introspektiver und experimenteller
Psychologie. Beide Richtungen bekämpfen einander gelegentlich
scharf. Die introspektiven Psychologen werfen den experimentellen
vor, daß die Resultate ihrer langwierigen Untersuchungen oft un-
bedeutend sind, und daß dieselben zudem mehr der Physiologie als der
Psychologie zugute kommen. Dagegen spotten die „Experimentellen"
gelegentlich über die „Lehnstuhlpsychologen" und meinen, nur im
Laboratorium könne in exakter Weise Psychologie getrieben werden.
In den letzten Jahren ist eine Art Kombination beider Methoden
versucht worden, die besonders an dem Würzburger Institut für ex-
perimentelle Psychologie durch seinen früheren Leiter Oswald Külpe
zur Anwendung gebracht wurde und jetzt auch in anderen Labora-
torien gepflegt wird. Es ist dies eine Art von Selbstbeobachtung unter
genau bestimmten Bedingungen. Auf diese Weise sind die Vorgänge
beim Urteilen und namentlich komplizierte Denkprozesse genauer
untersucht worden.
Nach unseren obigen Darlegungen sind beide Richtungen berech-
tigt und nur durch das Zusammenwirken von Experiment und Selbst-
beobachtung wie durch eindringende Analyse können Fortschritte er-
zielt werden.
In be/.ug auf die genetische Entwicklung der psychi-
schen Vorgänge selbst war man früher meist der Ansicht, daß das
Wahrnehmen und Vorstellen primäre, das Fühlen und Wollen da-
gegen abgeleitete Zustände seien. Diese Auffassung wird besonders
tntschieden von Herbart vertreten, nach dessen Lehre die Seele nur
e 1 n e ( irundfunktion besitzt, nämlich das Vorstellen. Alle Gefühle und
Strebungen sind nach ihm nichts anderes als gegenseitige Hern-
§ 9. Methoden und Richtungen der Psychologie 25
mungen und Förderungen des Vorstellens. Man kann diese Richtung,
die noch immer zahlreiche Anhänger zählt, die intellektuali-
s t i s c h e nennen.
Demgegenüber betonen neuere Forscher, daß nicht das Vor-
stellen, sondern das Fühlen und das mit ihm aufs engste verbundene
Wollen die ursprünglichen Zustände seien, aus denen sich das
Empfinden, Wahrnehmen und Vorstellen erst entwickelt habe. Diese
der gesamten Entwicklungsgeschichte des Lebens viel mehr ent-
sprechende Ansicht nennt man die voluntaristische Psycho-
logie. Diese Richtung bricht sich immer mehr Bahn und gewinnt immer
mehr Anhänger.
In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Psychologie ihr
Arbeitsgebiet stark erweitert und ist dadurch mit dem konkreten Leben
der Gegenwart in engere Verbindung getreten. Die experimentelle
Psychologie war in den ersten Dezennien hauptsächlich Labora-
toriumsarbeit und ist es zum größten Teile noch heute. „Die For-
schungen galten den letzten Elementen, aus denen sich alles psychische
Leben aufbaut" {William Stern, Differentielle Psychologie, S. 1). Man
richtet die Aufmerksamkeit nur auf das, was allen Menschen gemein-
sam ist und beschäftigt sich hauptsächlich mit den Elementarvor-
gängen, die meist nicht direkt erlebt, sondern erst künstlich isoliert
und erschlossen werden müssen. Diese allgemeine oder generelle
Psychologie wird zwar dadurch exakter und wissenschaftlicher, allein
sie bleibt dem wirklichen Seelenleben fremd und fern. Alles reale
psychische Leben vollzieht sich nämlich einerseits nicht in elementaren,
sondern in sehr komplizierten Vorgängen und weist anderseits infolge
der Jahrtausende dauernden Differenzierung sehr erhebliche indi-
viduelle Unterschiede auf. Diese Einsicht hat nun eine Anzahl jüngere
Forscher veranlaßt, der bisher fast allein betriebenen generellen Psy-
chologie eine neue Disziplin anzugliedern, für welche William Stern
den sehr treffenden Ausdruck „Differentielle Psychologie" geprägt hat.
Derselbe Forscher hat uns jüngst in seinem Buche „Differentielle Psy-
chologie in ihren methodischen Grundlagen" mit den Ergebnissen und
Aufgaben dieser neuen Wissenschaft bekannt gemacht.
Wir sehen aus dem Buche, daß hier schon Erhebliches geleistet
wurde. Zahlreiche Untersuchungen deutscher und amerikanischer
Schulkinder haben auf die Verschiedenheiten in der Merkfähigkeit, in
den herrschenden Assoziationen, in der allgemeinen Intelligenz und
Begabung hingewiesen und immer feinere Feststellungsmethoden her-
ausgearbeitet. Die Forschungen über Zeugenaussagen haben auf die
Unterschiede in der Beobachtungsfähigkeit aufmerksam gemacht und
zugleich tief hineingeleuchtet in die unbewußten Beeinflussungen durch
persönliches Interesse, Berufsangehörigkeit und Bildungsgrad. Man
hat Schemata herausgearbeitet zu einer psychologisch exakten Beschrei-
bung hervorragender Persönlichkeiten, sowie auch zur Untersuchung
von Völkern primitiver Kultur. William Stern gibt mit sorgsamer Ge-
wissenhaftigkeit Rechenschaft über das Geleistete und versteht es
meisterhaft, die Probleme herauszustellen und ihre Lösung vorzu-
bereiten.
26 Die propädeutischen i vorbereitenden) Disziplinen
Die Psychologie ist auch in anderer Hinsieht dem wirklichen
1 eben naher gekommen. .Man hat die Unterrichtsmethoden psycho-
logisch untersucht und daraus ist eine neue Zweigwissenschaft, die
experimentelle I 'adagogik hervorgegangen. Sogar mit dem
Wirtschaftsleben hat die Psychologie eine Verbindung hergestellt, in-
dem die 1 ignung von Personen für bestimmte Berufe experimentell
geprüft w urde. I daraus hat sich allmählich eine Psychotechnik
entwickelt, deren Grundzüge und Aufgaben Hugo Münsterberg in
einem großen Werke dargestellt hat.
Auf diesem Gebiete können und müssen die Vertreter der ver-
schiedensten Berufe zusammenarbeiten. Lehrer, Ärzte und Unter-
suchungsrichter, aber auch Historiker und Philologen finden hier ein
Feld interessanter und fruchtbringender Betätigung. Es ist dringend
zu wünschen, daß die Hochschulen und die Behörden sich für diese
Arbeiten interessieren, und daß weite Kreise daran teilnehmen. Auf
dem hier eingeschlagenen Wege wird uns die Psychologie zu vertiefter
Menschenkenntnis führen und vielleicht auch Fingerzeige geben für
eine richtige Menschenbehandlung.
Aber auch in bezug auf die theoretische Auffassung und
Deutung des ganzen Seelenlebens haben sich in den letzten Jahren
neue Richtungen herausgebildet. Richard Avenarius hat durch seinen
Begriff der „ V i t a 1 r e i h e" die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß
im tatsächlichen Verlauf des psychischen Geschehens ganze Erleb-
n i s r e i h e n die Hauptrolle spielen, in denen die verschiedenen
Grundfunktionen des Bewußtseins intim zusammenwirken, so daß das
einheitliche und zugleich das treibende Moment des ganzen Prozesses
deutlicher hervorgehoben wird. Indem man sich nun bemüht, durch
„F i n f ü h 1 u n g", durch ein nacherlebendes „Verstehe n", durch
eine tief bohrende „I n t u i t i o n" das Erlebnis als ein einheitliches
Ganze zu erfassen, gelangt man zu einer lebendigeren Erfassung des
wirklichen Geschehens, als dies durch die allzusehr zersplitternde Ana-
lyse möglich ist. Wilhelm Dilthey, Theodor Lipps und Eduard
Spranger haben in dieser Richtung tiefgründige Untersuchungen an-
gestellt. Auch der französische Philosoph Henri Bergson, dessen
„Intuitionismus" wir weiter unten besprechen, gehört hieher. Er hat
tatsächlich durch den Hinweis auf die Möglichkeit eines tiefgründigen
Sich-selbst-Belauschens, das er als Intuition bezeichnet, auf eine neue
Quelle psychologischer Erkenntnis aufmerksam gemacht.
Die wichtigste Neuerung auf dem Gebiete der Seelenforschung ist
die von Sigmund Freud inaugurierte und weiterentwickelte „Psycho-
■\ ii a 1 v s e". Auf Grund von ärztlichen Erfahrungen, die zeigten,
daß verhaltene Affekte, die nicht zur Entladung gelangen konnten, oft
starke Störungen im Nerven- und im Seelenleben zur Folge haben, ist
von Freud — besonders durch ein tief eindringendes Studium des
Traumlebens — der Beweis erbracht worden, daß unser Vor-
stellen und unser Denken viel öfter und viel stärker, als man bis dahin
zuzugeben geneigt war, von unterbewußten Gefühlen, Affekten,
Wünschen und Trieben beeinflußt und gelenkt wird. Auf diesem Wege
hat Freud im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die p s y c h o - a n a-
§ 10. Psychologie und Physiologie 27
lytische Methode ausgebildet, die sich zur Aufgabe macht, die
unterbewußten Vorgänge in ihrem Wesen, ihrem Verlauf und nament-
lich in ihren Wirkungen zu erforschen. Eine besonders wichtige Rolle
spielen dabei die mit dem sexuellen (geschlechtlichen) Leben zu-
sammenhängenden Gefühle, Triebe und Vorstellungen, die nach der
Überzeugung der Psycho-Analytiker oft schon in früher Kindheit sich
geltend machen. Die Zahl der Anhänger Freuds hat unter Ärzten und
Psychologen in den letzten Jahren sehr stark zugenommen, was sich
schon in den rasch aufeinanderfolgenden Neuauflagen seiner Schriften
kundgibt.
Man hat beim Studium dieser Arbeiten allerdings nicht selten
den Eindruck, daß hier mitunter vorschnelle Verallgemeinerungen voll-
zogen werden, und daß gelegentliche Vorkommnisse zu rasch als all-
gemein geltende Gesetze des Seelenlebens hingestellt werden. Auch
die Deutungen der Träume, eines zufälligen Lapsus linguae
(wenn man sich einmal verspricht), eines auffälligen Vergessens,
woraus die Psycho-Analytiker oft weitgehende Schlüsse ziehen, er-
scheinen dem wissenschaftlich geschulten Psychologen nicht immer
ganz einwandfrei. Trotzdem aber muß jeder unbefangene Beurteiler
zugeben, daß durch die Psycho-Analyse tief in Regionen des Seelen-
lebens hineingeleuchtet wrurde, die bis dahin ganz dunkel geblieben
waren, und daß hier zweifellos eine neue und sehr ergiebige Quelle
psychologischer Erkenntnis erschlossen wurde.
Ich muß bei diesen erfolgreichen Versuchen, neue Gebiete des
Seelenlebens der Forschung zugänglich zu machen, immer wieder an
den tiefsinnigen Ausspruch Heraklits denken, der schon vor mehr als
zweitausend Jahren gesagt hat: „Der Seele Grenzen kannst du nicht
ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat
si£" (Fragment 45, Diels).
§ 10. Psychologie und Physiologie
Der enge Zusammenhang zwischen psychischen und physiolo-
gischen Vorgängen oder, wie man sich kürzer und populärer aus-
zudrücken pflegt, zwischen Leib und Seele ist längst erkannt worden
und hat die hervorragendsten Denker viel und lange beschäftigt. Auf
die philosophischen Probleme, die sich aus dem Nachdenken über
diesen Zusammenhang ergeben, sowie auf die wichtigsten Lösungs-
versuche kommen wir weiter unten zurück.
Für die moderne Psychologie gilt es als ausgemacht, daß der
überwiegenden Mehrzahl der psychischen Vorgänge physiologische
Prozesse als Begleiterscheinungen zur Seite stehen. Es ist ferner voll-
kommen sicher, daß die letzte unmittelbare Bedingung für einen psychi-
schen Vorgang immer ein Nervenprozeß sein muß, und zwar immer
ein solcher, an welchem in letzter Linie das menschliche Gehirn be-
teiligt ist. Die Ansicht, daß jedem psychischen Vorgang ausnahmslos
ein Gehirnprozeß entspreche, ist nur insofern eine allgemein aner-
kannte, als jeder ernst zu nehmende Forscher überzeugt ist, daß ohne
Gehirn keine Bewußtseinserscheinung zustande kommt. Dagegen be-
23 Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
steht noch immer eine Meinungsverschiedenheit in bezug auf die Frage,
ob jeder durch psychologische Analyse bloßgelegte Teilvorgang eines
Phänomens auch wiederum einen physiologischen Teilvorgang des
physiologischen Prozesses voraussetzen müsse. So glaubt z. B. Wundt,
daß jede Wahrnehmung eines bestimmten Dinges nur dadurch zu-
stande komme, „daß der Komplex der durch das Objekt hervor-
gerufenen Empfindungen durch einen Akt assoziativer Synthese' zu-
sammengefaßt werde". Dieser Akt der Synthese, glaubt nun der be-
rühmte Forscher, sei rein psychischer Natur und es gebe dazu keinen
physiologischen Parallelvorgang.
Die weitgehende Abhängigkeit psychischer Vorgänge von Gehirn-
prozessen hat nun viele Forscher zu der Auffassung gebracht, daß die
Psychologie nur die Aufgabe habe, unsere Kenntnis der Gehirnfunk-
tionen zu bereichern, und daß sie somit nur ein Teil der Physiologie sei.
Dem gegenüber muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß die
psychischen Vorgänge durchaus eigenartiger Natur und mit den
physischen Phänomenen unvergleichbar sind. Alle Vorgänge in der
Natur, wozu natürlich die Prozesse im menschlichen Körper mit-
gehören, sind der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich oder können
ihr durch Mikroskope und andere Verstärkungen unserer Wahrneh-
mungsfähigkeit zugänglich gemacht werden. Selbst wo dies bis jetzt
nicht möglich war, kann es jeden Augenblick durch Vervollkommnung
der Instrumente gelingen, und es gibt keinen Naturprozeß, bei dem es
undenkbar wäre, daß er der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich
werde. Die psychischen Vorgänge können jedoch nie mit den Sinnen
wahrgenommen werden, sondern nur in der eigenartigen, jedem be-
kannten, aber nicht näher zu beschreibenden Art unmittelbar erlebt
werden. Eben deshalb muß ihre Erforschung der Gegenstand einer be-
sonderen Wissenschaft bleiben.
Die Psychologie wird von der Physiologie wertvolle Anregungen
zu erneuter psychologischer Analyse erhalten, wie sie ihrerseits
wiederum der Physiologie Probleme bezeichnen und Wege weisen kann.
Niemals aber kaiin die Psychologie aufhören, eine selbständige Wissen-
schaft zu sein. Ihr Gegenstand bleibt immer ein von dem jeder Natur-
wissenschaft verschiedener.
§ 11. Psychologie und Philosophie
Die moderne Psychologie hat sich, wie wir gesehen, von jeder
philosophischen Spekulation, namentlich von jedem philosophischen
System unabhängig gemacht und sich zur selbständigen Erfahrungs-
v.issenschaft entwickelt. Trotzdem aber ist der enge Zusammenhang
zwischen Psychologie und Philosophie bestehen geblieben. Freilich hat
sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Wissenszweigen ein wenig
umgekehrt. Der Psychologe könnte, strenge genommen, auf jede meta-
physische Hypothese verzichten, allein der Philosoph ist heute mehr
denn je aui eindringende psychologische Analyse angewiesen.
Wenn die Philosophie zu ihrem Ziele, das ist einer einheitlichen
Weltanschauung gelangen will, so muß sie nicht nur die Gesetze des
§ 12. Gegenstand und Aufgabe der Logik 29
physischen Geschehens, wie sie die Naturwissenschaft bietet, berück-
sichtigen, sondern in noch höherem Grade die Gesetze des psychischen
Geschehens, wie sie die Psychologie zu erforschen unternimmt. Nur auf
psychologischer Grundlage kann heute der Philosoph die Grenzen des
menschlichen Erkennens abstecken, nur mit Hilfe der Psychologie die
Formen finden und verstehen lernen, in die sich unsere Erkenntnisse
notwendig kleiden müssen. Nur eine psychologische Analyse unserer
Gefühle kann ihn lehren, unter welchen Bedingungen wir etwas für
schön halten, und nur aus der Kenntnis dieser Bedingungen können
sich gültige Normen für den Künstler ergeben. Erst ein eingehendes
und genaues Studium dessen, was in uns vorgeht, wenn wir Hand-
lungen anderer billigen, wenn wir mit uns selbst zufrieden oder un-
zufrieden sind, kann ihn auf den Weg führen, von dem aus man dazu
gelangt, sittliche Normen für das menschliche Handeln aufzustellen.
Es bildet demgemäß die Psychologie die wichtigste Grundlage für
eine wahrhaft wissenschaftliche Philosophie, und wer das vergißt oder
sich in kühnem, aber recht unzeitgemäßem Vertrauen auf die Kraft
der Spekulation über die psychologische Grundlegung glaubt hinweg-
setzen zu können, „dem haften nirgends die sicheren Sohlen und mit
ihm spielen Wolken und Winde".
Aber auch die Psychologie führt fast von selbst zu philosophi-
schen Problemen, wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß sie dieselben
von sich abweisen kann und darf.
Schon die Lehre von den Sinneswahrnehmungen bringt uns auf
die merkwürdige Tatsache des ungleich höheren Vertrauens, das wir
den Daten des Tastsinnes im Vergleich zu Gesicht und Gehör ent-
gegenbringen. Der Psychologe hat gewiß das Recht, sich mit der Ver-
zeichnung der Tatsache zu begnügen, allein die Versuchung ist sehr
groß, eine Erklärung zu suchen. Dies führt aber schon tief in die Er-
kenntnistheorie hinein.
Noch mehr reizt die Lehre von den sittlichen und religiösen Ge-
fühlen und von den Willensphänomenen dazu, den Fragen nach der
Begründung der Sittengesetze, dem Problem der Willensfreiheit näher-
zutreten. Hier tut es zunächst not, den psychologischen Tatbestand
genau und ohne jede Rücksicht auf eine philosophische Anschauung
zu konstatieren. Aber eben diese Konstatierung enthält oft schon die
Lösung des Problems in sich, und es ist nicht einzusehen, warum der
Psychologe nicht den Mut haben sollte, einige Schritte über die Kon-
statierung der Tatsachen hinauszugehen.
Die Psychologie ist also ihrem gegenwärtigen Stande nach eine
selbständige Wissenschaft, sie bildet aber die unentbehrliche Grund-
lage für alle philosophischen Untersuchungen.
§ 12. Gegenstand und Aufgabe der Logik
Die Logik ist die Lehre von den Formen des
richtigen Denkens. Als richtig gilt uns das Denken dann,
wenn es zu objektiv gewissen Urteilen führt. Objektiv
gewiß sind solche Urteile, die jeder, der sie hört und dem zu ihnen
30 Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
führenden Gedankengang mit Verständnis folgt, als wahr anzuer-
kennen nicht umhin kann. Als ein zweites Kriterium für die objektive
Gewißheit eines Urteiles betrachten wir ferner das Eintreffen der auf
das betreffende Urteil gegründeten Voraussagen.
Der objektiven Gewißheit steht die subjektive gegenüber, welche
meist nicht auf einen anderen übertragen werden kann. Subjektive
Gewißheit haben wir /. B. davon, daß unser Freund, den wir viele
Jahre kennen, in einem bestimmten Falle so und nicht anders han-
deln wird. Objektive Gewißheit dagegen haben wir z. B. davon, daß
das Steigen des Barometers eine Vermehrung des Luftdruckes bedeutet.
Die Formen des richtigen Denkens, das heißt des Denkens, das zu
objektiv gewissen Urteilen führt, sind nun nichts anderes als die all-
gemeinen Bedingungen dieser objektiven Gewißheit. Berücksichtigt man
noch den Umstand, daß man in der wissenschaftlichen Forschung nicht
immer zu objektiv gewissen, sondern sehr häufig nur zu mehr oder
minder wahrscheinlichen Urteilen gelangt, so kann man die Logik
auch definieren als die Lehre von den allgemeinen Bedin-
gungen der objektiven Gewißheit und Wahr-
scheinlichkeit.
Um die Formen des richtigen Denkens zu finden, müssen zunächst
die Formen des Denkens überhaupt untersucht werden, das heißt es
muß nach dem geforscht werden, was alle Denkakte gemeinsam haben.
Hier drängt sich nun vor allem die U r t e i 1 s f o r m auf, welche allem
Denken zugrunde liegt. Die einfachsten Wahrnehmungen sowie die
Resultate der verwickeltsten Überlegungen, sie alle kommen in der
Form des Urteils zum Ausdrucke. Diese Denkform hat in der
Sprache die Form des Behauptungssatzes angenommen und so bilden
denn Satz und Urteil oder, wie wir auch sagen können, der U r t e i 1 s-
s a t z den Mittelpunkt aller logischen Untersuchungen. Wann ist ein
Urteil richtig? Unter welchen Bedingungen läßt sich aus einem oder
aus mehreren richtigen Urteilen ein neues richtiges ableiten? Das sind
die Fragen, welche den Hauptgegenstand der Logik bilden. Man
konnte demnach die Logik auch bestimmen als die Lehre von den all-
gemeinen Bedingungen des richtigen Urteilen s.
Aber nicht an allen Urteilen sind solche allgemeine Bedingungen
ihrer Richtigkeit festzustellen. Eine große Zahl von Urteilen dient da-
zu, individuelle Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen zu for-
mulieren und auszudrücken. Alle solche Urteile, ich nenne sie Urteile
der Anschauung, haben ihrer Natur nach nur subjektive Gewißheit
und geben datier zu logischer Prüfung keinen Anlaß. Eine solche
Prüfung kann nur an Urteilen vorgenommen werden, welche all-
gemeine Behauptungen aufstellen, das heißt genauer gesprochen,
welche n-cht individuell bestimmte und individuell gefärbte Tatsachen
bezeichnen, sondern vielmehr ein Ausdruck sind für Gesetze des
Geschehens. Solche Urteile nennen wir Begriffsurteile
und nur diese können ' Gegenstand logischer Prüfung werden.
I ine solche Prüfung gelingt, wie eine mehr als zweitausend Jahre
alte Tradition lehrt, am besten dadurch, daß die Begriffsurteile künst-
lich in ihre Elemente zerschlagen werden. Diese Elemente sind hier
§ 12. Gegenstand und Aufgabe der Logik 31
Begriffe, eine Denkform, die zwar erst im Urteil zu lebendiger
Wirkung kommt, trotzdem aber auch zu logischen Zwecken einer selb-
ständigen Betrachtung unterzogen werden muß.
Jeder Begriff hat das Merkmal der Allgemeinheit. Er ent-
steht als Niederschlag vieler Anschauungsurteile und ist der einheit-
liche Träger von Eigenschaften und Zuständen, die einer Anzahl von
Vorstellungen gemeinsam sind. Der Begriff wird durch ein sym-
bolisches Zeichen, meist durch ein Wort, im Bewußtsein festgehalten.
Die genau präzisierte Bedeutung des Wortes, das heißt die Eigen-
schaften und Zustände, deren Träger der Begriff ist, bilden seinen
Inhalt, die Objekte, an denen sich die betreffenden Eigenschaften
und Zustände finden, den Umfang des Begriffes. Die traditionelle
Logik hat nun die Prüfung der Urteile in der Weise in Angriff ge-
nommen, daß sie dieselben als Aussagen über Begriffs-
verhältnisse betrachten lehrte. Dabei erwies sich die Betrach-
tung der Umfangsverhältnisse als viel geeigneter, weil diese anschau-
lich dargestellt werden können, und weil sich auf diese auch mit Vor-
teil mathematische Formeln anwenden lassen. Dagegen sind die In-
haltsbeziehungen viel innerlicher, viel komplizierter, und sind deshalb
in ihrem Wesen viel schwerer zu erfassen.
Die traditionelle Logik ist also meist eine Umfangslogik ge-
blieben. Sie untersucht die möglichen Begriffsverhältnisse an sich, fragt
dann, welche von denselben in den Urteilen zum Ausdrucke gelangen,
und sucht zu ermitteln, wie sich aus gegebenen Begriffsverhältnissen
neue ableiten lassen. Diese Ableitung nennt man Schließen, und
so zerfällt die traditionelle Logik in die Lehre vom Begriff, vom
Urteil, vom Schluß.
Die Auffassung des Urteils als einer Aussage über ein Begriffs-
verhältnis hat lange über die wahre psychologische Natur des Ur-
teilsaktes getäuscht. Indem man immer von zwei Bestandteilen des
Urteils sprach, hat man vergessen, daß der dem Urteil zugrunde
liegende und durch dasselbe geformte Vorgang beide Bestandteile un-
gesondert enthält. Über die psychologische und namentlich erkenntnis-
theoretische Bedeutung der Urteilsfunktion werden wir weiter unten zu
sprechen haben. Hier muß jedoch hervorgehoben werden, daß die
Logik in ihrem vollen Rechte ist, wenn sie das Urteil in Begriffe auf-
löst, insoferne diese Auflösung ihren Zwecken dient. Nur darf eine zu
bestimmten wissenschaftlichen Zwecken vollzogene künstliche Umfor-
mung nicht den Anspruch erheben, für die ursprüngliche und wesent-
liche Natur des psychischen Aktes maßgebend sein zu wollen.
Mit der Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß ist jedoch die Auf-
gabe der Logik nicht erschöpft. Sie soll auch zeigen, wie diese Formen
im wissenschaftlichen Denken Anwendung finden und demgemäß die
Methoden der Forschung untersuchen. Dabei wird man mit Wundt
am besten die Methoden der Darstellung eines bereits bekannten In-
haltes von den Methoden der Untersuchung sondern. Die Methoden
der Darstellung sind vor allem die D e f i n i t i o n und Einteilung
der Begriffe sowie die verschiedenen Arten der Beweise. Bei
den Methoden der Untersuchung werden dann Induktion und
32 Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
Deduktion, Analyse und Synthese, Hypothese und
Fiktion*) sowie speziellere Methoden zur Darstellung gelangen.
Die Methodenlehre wird aber erst dann fruchtbringend, wenn sie zu
den einzelnen Wissenschatten herabsteigt und die ihnen eigenen Me-
thoden zur Anschauung bringt. Wir unterscheiden demnach eine all-
gemeine und eine spezielle Methodenlehre, welch letztere die Logik der
einzelnen Wissenschaften darstellt. Wundt hat in seinem dreibändigen
Werk über Logik diese Riesenarbeit geleistet und damit die Aufgabe
der Logik ungemein erweitert.
§ 13. Entwicklung und Richtungen der Logik
Das Bedürfnis nach einer präzisen Formulierung der allgemeinen
Denkgesetze machte sich gegen das Ende des vierten Jahrhunderts
v. Chr. fühlbar, als die der sogenannten megarischen Schule an-
gehörigen Denker einerseits an der Möglichkeit wahrer Urteile Zweifel
erhoben, anderseits durch sophistische Fangschlüsse den Gegner zu
verwirren suchten. Nachdem Sokrates die Forderung nach begriff-
licher Erkenntnis erhoben und Piaton über die Definition und Ein-
teilung der Begriffe Untersuchungen angestellt hatte, unternahm es
Aristoteles, die Regeln des Schließens und Beweisens genau und aus-
führlich zu erforschen und darzulegen, und wurde dadurch der Be-
gründer der Logik.
Aristoteles war sich vollkommen darüber klar, daß es dabei nicht
auf die Entdeckung neuer Wahrheiten, sondern auf die Prüfung der
Resultate des natürlichen Denkens ankomme. Er sagt ausdrücklich,
die Logik habe die Aufgabe, die tatsächlich vollzogenen Schlüsse auf
bestimmte Formen zurückzuführen, um dadurch ihre Richtigkeit zu
prüfen. Auch das wußte Aristoteles, daß man zu diesem Zwecke die
wirklich vollzogenen Schlüsse in die zugrunde liegenden Urteile und
die Urteile in ihre begrifflichen Elemente auflösen müsse. Der Name,
den er seiner Wissenschaft gab, lautete demgemäß ganz richtig Ana-
lytik, das heißt Zergliederungskunst.
Die logischen Schriften des Aristoteles (von den Kategorien oder
< irundbegriffcn, vom Urteilssatze, von der Schluß- und Beweislehre,
die Lehre vom Wahrscheinlichkeitsbeweis und von der Definition, ent-
halten in den acht Büchern der Topik) wurden vom späteren Alter-
tum und im Mittelalter unter dem Namen „Organon", das ist Werk-
zeug (des Denkens), zusammengefaßt. Eine vom Neuplatoniker Por-
phyrius (drittes Jahrhundert n. Chr.) verfaßte und von Boethius
(sechstes Jahrhundert) ins Lateinische übertragene Einführung in
diese Schriften, worin die fünf wichtigsten Grundbegriffe (Gattung,
*) Unter einer Fiktion verstehen wir eine bewußt falsche, in sich wider-
spruchsvolle Annahme, die wir zu machen uns veranlaßt sehen, um eine be-
stimmte wissenschaftliche Aulgabe zu lösen. Die überaus große und sehr inter-
essante Rolle, die dieser Kunstgriff des menschlichen Geistes in der Entwicklung
der Wissenschaften spielt, besonders in der Mathematik, Physik, Jurisprudenz und
Nationalökonomie, findet man jetzt lichtvoll dargestellt in dem auch anderweitig
sehr bedeutsamen Buche „Die Philosophie des ,Als ob'" von Hans Vaihinger 1911.
§ 13. Entwicklung und Richtungen der Logik 33
Art, Artunterschied, besonderes Merkmal [Proprium] und zufälliges
Merkmal) behandelt sind, war unter dem Namen „Quinque voces" als
Lehrbuch in den Schulen des Mittelalters allgemein eingeführt. Durch
die Schüler des Aristoteles, Theophrast und Eudemos, durch die
Stoiker und vielfach auch durch die scholastischen Philosophen des
Mittelalters wurden die Formen der Schlüsse noch feiner ausgearbeitet
und eine Menge neuer Kunstausdrücke geschaffen, mit denen der ge-
schulte Dialektiker rasch und sicher operieren mußte.
Im sechzehnten Jahrhundert hat Petrus Ramus, ein heftiger
Gegner des Aristoteles und der Scholastik, im Anschluß an Cicero und
Quintilian ein Lehrbuch der Logik verfaßt, in dem der Stoff so an-
geordnet war, wie heute noch in den meisten Lehrbüchern der Logik *).
Der Engländer Bacon hat in seinem „Novum Organon" die Wert-
losigkeit der Aristotelischen Logik darzutun gesucht und energisch auf
die Induktion hingewiesen, wo man vom einzelnen zum allgemeinen
aufsteigt. Trotzdem erhielt sich die Aristotelisch-scholastische Logik
in ihren Hauptlehren auch weiterhin noch als Gegenstand des Schul-
unterrichtes und ist es zum großen Teile bis heute geblieben.
Eine neue Richtung und ein neuer Inhalt wurde der Logik durch
Kant gegeben. Neben der alten, rein formalen Logik, die er gelten läßt,
schuf er eine neue Art logischer Betrachtung, die er selbst trans-
zendentale Logik nannte. In den Formen des Urteils glaubte
er die Grundfunktionen des menschlichen Verstandes zu finden, ver-
möge deren dieser die von außen einströmenden Eindrücke formt und
gestaltet. Kant betrachtet diese Grundfunktionen als eine Art Urbesitz
unseres Geistes, der durch die Betätigung dieser Funktionen die Ge-
setzmäßigkeit des Naturgeschehens gleichsam selbst schafft. Dadurch
aber erhalten die logischen Formen eine erzeugende, fast schöpferische
Kraft. In einseitiger Weiterentwicklung dieses Gedankens hat dann
Hegel eine metaphysische Logik ersonnen, in welcher die
logische Selbstentwicklung der Begriffe mit dem wirklichen Geschehen,
mit dem Sein der Dinge in eins zusammenfällt. Die Logik Hegels,
deren dialektische Methode tiefgreifende Wirkungen ausgeübt hat,
schien in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vollständig
überwunden, lebt aber jetzt in anderer Form wieder auf. Ebenso findet
die Logik der Scholastiker des Mittelalters wieder energische Ver-
teidiger. Diesen Strömungen gegenüber sucht sich wiederum eine ganz
andere Auffassung zur Geltung zu bringen, welche den streng er-
fahrungsmäßigen Charakter der logischen Gesetze betont. In der Logik
der Gegenwart lassen sich etwa folgende Richtungen unterscheiden:
1 . Die psychologische Logik untersucht eingehend die
psychologischen Grundlagen der Denkgesetze. Indem man hier das
tatsächliche Denken zum Ausgangspunkte nahm, hat man sehr viel
*) Petrus Ramus' „Logica", die er auch „Ars disserendi" nennt, bestand
aus zwei Teilen. Der erste, „de inventione" handelt vom Begriff, von seiner
Definition und Einteilung, der zweite, „de iudicio" vom Urteil und vom Schluß.
Dieses Lehrbuch war so allgemein gebraucht, daß man z. B. für Urteilskraft den
Ausdruck „Secunda Petri" (der zweite Teil von Petras Ramus' Logik) ge-
brauchte, der sich in diesem Sinne noch bei Kant und Schopenhauer findet.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. ->
3-} Ine propädeutischen (Vorbereitenden) Disziplinen
zur ISuhologie des Denkens beigetragen und die Natur des Denk-
prozesses, wie er sich tatsächlich vollzieht, aufgehellt. Die ent-
schiedensten Vertreter dieser Richtung, zu denen sich auch der Ver-
fasser dieses Buches zählt, fassen die logischen Gesetze auf als den
Niederschlag der allgemeinen und bewährten Erfahrung. Die Aufgabe
der Logik besteht dann lediglich darin, zu untersuchen, wieviel all-
gemeine und bewahrte Erfahrung in jeder einzelnen Erfahrung ent-
halten ist
2. Die erkenntnistheoretische Logik sucht nicht nur
die Geltung der Denkgesetze im Bereich des Erkennbaren festzustellen,
sondern auch die Grenzen des Erkennens zu bestimmen. Damit geht
sie über den Rahmen des spezifisch Logischen hinaus und kommt tief
m die Probleme der Erkenntniskritik und Metaphysik hinein. Die be-
treffenden Untersuchungen sind vielfach sehr bedeutend, allein sie er-
reichen den speziellen Zweck der Logik, nämlich die Erkenntnis der
allgemeinen Bedingungen objektiver Gewißheit, weniger, weil sie zu
tief graben und den Glauben an jede objektive Gewißheit erschüt-
tern'*).
3. Die mathematische Logik sucht für die Urteils- und
^hlußformen eine möglichst genaue mathematische Formulierung zu
gewinnen. Die betreffenden Untersuchungen legen sämtlich die Um-
fangsverhältnisse der Begriffe zugrunde und haben in der Tat oft
überraschende Resultate erzielt. Die alten Schulregeln werden dadurch
ofl sehr vereinfacht und erhalten eine viel exaktere Fassung. Die ein-
facheren der so gewonnenen Formeln könnten mit großem Nutzen für
den Schulunterricht verwertet werden, die komplizierten dagegen sind
oft auch für den Fachmann schwer verständlich. Jedenfalls ist hier
ein Feld fruchtbringender Tätigkeit erschlossen.
4. Die methodologische Logik ist eine überaus frucht-
bringende Erweiterung der logischen Forschung. John Stuart Mills
*) In den letzten Jahren hat die erkenntnistheoretische Logik eine neue Be-
trachtungsweise eingeführt und Untersuchungen angestellt, die sich in Deutsch-
land eines großen Ansehens erfreuen. Man versucht die Logik zu einer Wissen-
schaftslehre zu erweitern, indem man eine Verbindung der alten von Aristo'clcs
und den Scholastikern ausgebauten formalen Logik mit der sogenannten
transzendentalen Logik Kants herzustellen unternimmt. Es soll gezeigt
werden, daß der Fortschritt im Denken und die unerschütterlich feste Überzeu-
gung \(ui der Richtigkeit seiner Ergebnisse nicht im steten Anwachsen der Er-
fahrung und in dem psychologisch sich immer mehr verfeinernden Denkapparat
Menschen begründet sei. Die Grundlagen aller wissenschaftlichen Gewißheit
»Hen vielmehr diu < harakter des Überindividuellen, Übergeschichtlichen, oft so-
des Übermenschlichen tragen. Man konstruiert ein Reich der Gegen-
n d e, deren objektiv bestehende Beziehungen allmählich aufgedeckt werden.
Diese „< u <,'enstände'' sind aber keineswegs die in der Erfahrung gegebenen Dinge
und Vorgänge. Der Gegenstand wird vielmehr erst durch die begriffliche Be-
arbeitung erzeugt, soll aber doch objektive Geltung besitzen. Das beliebteste Bei-
spiel solcher Gegenstände sind die mathematischen Gebilde, die Zahlen und die
metrischen Figuren. Sie scheinen in der Tat nicht der Erfahrung entnommen.
indern m .NUnschengeist konstruiert zu sein und doch für jede Erfahrung zu
Hier wird schon das auch in der Mathematik vorhandene empirische
Fundament verkannt. Windelband, der die Prinzipien dieser neuen Logik be-
mdera lichtvoll dargestellt hat, behauptet ausdrücklich, daß auch in den empiri-
§ 14. Grammatik, Logik und Psychologie 35
System der induktiven Logik und Wilhelm Wundts oben erwähntes,
groß angelegtes Werk haben bereits Bedeutendes geleistet. Hieher ge-
hören auch die von amerikanischen Denkern ausgehenden, sehr be-
achtenswerten Versuche, die Logik auf empirisch-praktischer Grund-
lage aufzubauen, Versuche, die auf Grund des weiter unten (§ 28) zu
besprechenden pragmatischen Prinzipes unternommen wurden.
Es sind dies hauptsächlich die Arbeiten John Deweys, Mark Baldwins
und C. F. S. Schillers. Hier ließe sich noch tiefer dringen, wenn man
die Logik schlechtweg als Methodenlehre des Denkens zu betrachten
sich entschlöße und den von Ernst Mach eingeführten Begriff der
Denkökonomie darauf anwenden wollte. Logik wäre dann nichts
anderes als allgemeine Ökonomikdes Denkens, und ihre Auf-
gabe bestünde darin, herauszufinden, wie sich die Denkmittel immer
ökonomischer gestaltet haben und weiter gestalten lassen.
Kants bekannter Ausspruch, daß die Logik seit Aristoteles keinen
Schritt vorwärts habe tun können, aber auch keinen Schritt nach rück-
wärts habe tun müssen, war kaum zu der Zeit, wo er getan wurde,
berechtigt und ist es heute noch viel weniger. Manche der grundlegen-
den Gedanken des Aristoteles werden erst jetzt richtig verstanden und
gewürdigt. Allein in der Problemstellung und in der Formulierung
ist man vielfach von Aristoteles ab- und über ihn hinausgekommen.
§ 14. Grammatik, Logik und Psychologie
Die Logik ist gleich bei ihrem Ursprünge sowie im Laufe ihrer
Entwicklung in die engsten Beziehungen zur Grammatik getreten. Die
Unterscheidung von Subjekt und Prädikat, von Substantiv, Adjektiv
und Verbum ist ein Resultat mehr logischer als grammatischer Er-
wägung. Die Denkgesetze konnten nur durch Zergliederung des
sprachlichen Ausdruckes gefunden werden. Im Laufe der weiteren
Entwicklung hat jedoch die Verquickung logischer und grammatischer
sehen Wissenschaften die „Gegenstände" vom Denken erzeugt werden (Enzykl.
d. Philos., her. v. Rune. I., S. 42). Hierher gehört die von Meinong und seiner
Schule ausgebildete „Gegenstandstheorie". In derselben Richtung bewegen sich
aber auch die Untersuchungen Wi.idelbands, Rickerts und ihrer Schüler, und
in gewissem Sinne auch die Arbeiten Hermann Cohens und Paul Natorps _ und
der von diesen Denkern hervorgerufenen Marburger Schule. Husserls „Logische
Untersuchungen" bezwecken etwas Ähnliches. Ich erkenne gerne an, daß zur Be-
gründung dieser neuen Logik, die man ihrem Hauptbegriffe nach die gegen-
ständliche Logik nennen kann, ein großer Aufwand von starker Denkkraft
und viel Scharfsinn verwendet wurde, muß aber unumwunden erklären, daß mir
diese ganze Arbeit unfruchtbar scheint. Man kann die Quelle menschlicher Ge-
wißheit entweder in der Erfahrung suchen und dann sind Psychologie und
Geschichte die Wege zu ihrer Aufhellung. Oder man behauptet eine vor
aller Erfahrung vorhandene festgegebene Struktur des Menschengeistes, und dann
geht man nicht vom erkenntnistheoretischen, sondern vom metaphysischen
Standpunkt aus, wenn man sich dies auch nicht eingestehen will. Ein drittes
Reich, das zwischen Psychologie und Geschichte auf der einen und Metaphysik
auf der anderen Seite in der Mitte schwebt, kann es nicht geben, wie ich in
meinem Buche, „Der kritische Idealismus und die reine Logik" gezeigt zu haben
glaube. Im Abschnitt über Erkenntnistheorie kommen wir auf diese Bestrebungen
noch einmal zurück. In den Literaturangaben sind die wichtigsten Werke dieser
Richtung unter der Rubrik „gegenständliche Logik" angeführt.
3*
3o Die propädeutischen (vorbereitenden) Disziplinen
Untersuchungen vielfach zu Irrtümern Anlaß gegeben. Indem man die
Bedeutung eines Wortes mit dem Inhalt des Begriffes, den Satz mit
dem Urteil identifizierte, glaubte man, daß jede grammatische Be-
ziehung zugleich eine logische sei und daß umgekehrt die Sprache sich
nach logischen Gesetzen entwickle oder entwickeln solle.
Die Grammatik ist die Lehre von den Gesetzen des menschlichen
Sprachbaues. Diese Gesetze entwickeln sich nach physiologischen und
psychologischen Gesichtspunkten, und deshalb muß Physiologie und
Psychologie, nicht aber die Logik die Grundlage der Grammatik bil-
den. Die Sprache ist Ausdruck der Vorstellungen, Gedanken, Gefühle
und Willensrichtungen. Wenn ich genau sage, was ich meine, wenn ich
genau verstehe, was der andere zu mir sagt, dann hat die Sprache
ihren Zweck erfüllt. Die Frage, ob meine Behauptungen sachlich rich-
tig sind, kommt hier entweder gar nicht oder jedenfalls erst in zweiter
Linie in Betracht. Die Grammatik muß also ganz von der logischen
Grundlage losgelöst und auf Psychologie begründet werden.
Dagegen wird die Logik die in der Sprache geleistete Denkarbeit
immer benützen und sich in ihren Bestimmungen an den herrschenden
Sprachgebrauch halten müssen. Es wird der logischen Schulung gewiß
immer ein wesentlicher Einfluß auf die Korrektheit des Ausdruckes
zukommen, aber nie darf es der Logik einfallen, die Sprache meistern
zu wollen. Die Logik hat es mit den Formen des Denkens zu tun, und
nur die daraus hervorgehenden Beziehungen sind ihr Gegenstand.
Vielfach wird sie die Sprache mit Vorteil als Wegweiser benützen, aber
nirgends darf sie sich von derselben irreleiten lassen.
Das Verhältnis der Logik zur Psychologie ergibt sich eigentlich
schon aus dem oben Bemerkten. Die Psychologie muß das menschliche
Denken in seinem tatsächlichen Verlauf ebenso zu erforschen suchen
wie die anderen Seelentätigkeiten. Auch der Logiker tut gut, sich die
darauf bezüglichen Resultate der Psychologie zu eigen zu machen.
Allein es steht der Logik vollkommen frei, ja es ist ihre eigentliche Auf-
gabe, die natürlichen Denkformen künstlich so umzugestalten, daß die
Prüfung der allgemeinen Bedingungen objektiver Gewißheit dabei mög-
lich werde.
Für den Psychologen sind die Umstände, unter denen ein Urteil
gefällt wird, die Personen, die es fällen, die Nebengedanken und die
Zwecke, die dabei im Spiele sind, von der allergrößten Bedeutung. Der
Logiker sieht nur das Urteil, beziehungsweise das Begriffsverhältnis.
Er muß den Gedanken von allen Assoziationen, von allen Gefühls-
momenten, von allen Zwecken des Denkenden, ja womöglich von der
Person des Denkers loslösen, um ihn auf seine formale Richtigkeit zu
prüfen. Je genauer, je vollständiger der Logiker diese Abstraktion von
allen Nebenumständen vollzieht, desto besser gelingt seine logische
Vufgabe. Nur darf er dabei nicht in den Irrtum verfallen, als sei sein
künstliches Präparat das wahre, ursprüngliche, lebendige Denken
elbst.
Die reinliche Abgrenzung der logischen Aufgabe ist mitunter
eine recht schwierige. Eben diese Schwierigkeiten nötigen oft dazu, über
§ 15. Logik und Philosophie 37
das spezifisch Logische zu höheren Problemen aufzusteigen. Dadurch
entstehen die Beziehungen der Logik zur Philosophie, zu deren Be-
sprechung wir jetzt übergehen.
§ 15. Logik und Philosophie
Die Logik gilt als unentbehrliche Vorschule zur Philosophie und
wird als philosophische Propädeutik vielfach an höheren Schulen ge-
lehrt. Die Logik ist auch tatsächlich eine unentbehrliche Vorschule,
aber nicht nur für die Philosophie, sondern für jede Wissenschaft. Der
Geist wird dadurch nicht, wie Mephisto scherzt, in spanische Stiefel
eingeschnürt, sondern nur zur Besonnenheit erzogen, vor raschen und
voreiligen Verallgemeinerungen bewahrt und daran gewöhnt, das
Sichere von dem bloß Wahrscheinlichen zu unterscheiden. Die Logik
bringt die instinktiv gebrauchten Denkgesetze zum Bewußtsein und
heißt uns das Gedachte vorsichtig prüfen. Eine solche Schulung ist für
jede wissenschaftliche Arbeit unerläßlich. Die intensive Beschäftigung
mit den logischen Problemen führt jedoch fast notgedrungen über das
rein Logische hinaus und nötigt zu streng philosophischen Unter-
suchungen. Wer in der Lehre vom Begriff über das Verhältnis des Be-
griffes zu seinen Merkmalen ins klare kommen will, wer den Geltungs-
bereich unserer Urteile und Schlüsse zu prüfen unternimmt, der kann
an der Frage nicht vorübergehen, inwiefern unser Verstand überhaupt
fähig ist, das Wirkliche zu erkennen.
Die Frage nach der Möglichkeit und nach dem Ursprung mensch-
licher Erkenntnis taucht auf, und damit sind wir mitten in einer der
wichtigsten philosophischen Disziplinen, in der Erkenntnistheorie. Mit
dem Probleme der Erkenntnis hängt aber aufs innigste die Frage nach
dem Gegenstande unserer Kenntnis, das heißt nach dem wirklich Be-
stehenden zusammen, und so führt uns die Logik schließlich auch zur
Lehre vom Sein, zur Ontologie, zur Metaphysik.
Literatur
Psychologie
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Werk mit überaus reicher Bibliographie.)
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1908. (Grundlegendes Werk.)
— — Vorlesungen über Menschen- und Tierseele. 6. Aufl. 1919. (Zur Einführung
in die experimentellen Methoden sehr geeignet.)
Grundriß der Psychologie. 14. Aufl. 1920.
- Psychologie in Windelbands oben (S. 17) zitiertem Sammelwerk.
T h. Elsenhans, Lehrbuch der Psychologie. 1912.
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- Phantasie und Weltanschauung in dem Sammelwerke „Weltanschauung".
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Sigmund Freud, Traumdeutung, 0. Aufl. 1921.
- Zur Psychopathologie des Alltagslebens. 8. Aufl. 1922.
- Vorlesungen über Psycho-Analyse. 6. Aufl. 1922. (Diese in Amerika im
Jahre K»08 gehaltenen Vorträge geben eine vortreffliche Übersicht.)
Vorlesungen zur Einführung in die Psycho-Analyse. 3. Aufl. 1920. (Für
Arzte bestimmt, aber doch allgemein verständlich.)
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H. Lotze, Logik. 2. Aufl. 1881. Neudruck 1912.
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C. Prantl, Geschichte der Logik. 4 Bände (bis zum 16. Jahrhundert), 1855
bis 1870.
T h. Ziehen, Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage. 1920. (Sehr
reichhaltiges und gründliches Werk mit besonders wertvollen Beiträgen zur
Geschichte der Logik.)
Cohen, Die Logik der reinen Erkenntnis. 1902.
H u s s e r 1, Logische Untersuchungen. 2 Bände. 1900
bis 1901.
— Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie im „Jahrbuch für Philo-
sophie und phänomenologische Forschung" (1. Band,
S. 1—323). 1913.
A. M e i n o n g, Über Annahmen. 2. Aufl. 1910.
Die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens. 1906.
Die Stellung der Gegenstandstheorien im System
der Wissenschaft.
\V. W i n d e 1 b a n d, Prinzipien der Logik in Arnold
Ruges Enzyklopädie der philosophischen Wissen-
schaften. 1912, S. 1—60.
H.
E.
Gegenständliche
Logik.
Dritter Abschnitt
Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
§ 16. Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus
Im bezug auf das Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des Men-
schen ist die Philosophie zuerst dogmatisch, dann skeptisch
und zuletzt kritisch, wobei jedoch Rückfälle in eine frühere Phase
gelegentlich vorkommen.
Dogmatisch nennt man jene Denkrichtung, welche den
Resultaten des Wahrnehmens oder des Denkens volles Vertrauen ent-
gegenbringt und überzeugt ist, die Welt sei wirklich so, wie wir sie
wahrnehmen oder wie wir sie denkend konstruieren. Dogmatisch ist
der nicht philosophierende, naive Mensch in seinem Denken und Han-
deln, indem es ihm gar nicht einfällt, an der Richtigkeit seiner Er-
kenntnisse oder gar an der Möglichkeit der Erkenntnis zu zweifeln.
Dogmatisch ist auch die Religion, indem sie an die Wahrheit ihrer
Lehren mit Festigkeit glaubt, auch dann oder besonders dann, wenn
diese das Übersinnliche, das jenseits aller möglichen Erfahrung
Liegende zum Gegenstande haben. Dogmatisch ist aber auch die
Philosophie durch eine lange Zeit ihrer Entwicklung. Piaton, der den
Sinnenschein nicht gelten läßt und das Wesen der Dinge in un-
materiellen Ideen oder Urbildern zu finden glaubt, ist nicht minder
dogmatisch als Leukipp und Demokrit (450 v. Chr.), welche nur den
materiellen Atomen und dem leeren Raum Wirklichkeit zuerkennen.
Descartes (1506—1650), der mit dem Zweifel beginnt, dann aber im
eigenen Bewußtsein eine sichere, unbestreitbare Tatsache erblickt, ist
mein minder dogmatisch als die Materialisten des achtzehnten und des
neunzehnten Jahrhunderts, wie Lamettrie, Holbach, Karl Vogt und
Bächner, welche nur den Stoff und seine Eigenschaften und Kräfte
als wirklich gelten lassen.
Unter Skeptizismus versteht man den absoluten Zweifel an
der Möglichkeit der Erkenntnis und die als Konsequenz daraus ge-
zogene Zurückhaltung von jeder positiven Aussage. Diese Denkrich-
tung ist im dritten Jahrhundert v. Chr. wohl infolge der einander wider-
Sprechenden Ansichten der verschiedenen Philosophenschulen zuerst
von Pyrrhon ausgebildet worden und hat bis in die spätrömische Zeit
viele Anhänger gefunden. Das psychologische Motiv für den syste-
matischen Zweifel ist das Streben nach Gemütsruhe. Um nicht in den
§ 16. Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus 41
leidenschaftlichen Streit der Philosophenschulen hineingezogen zu wer-
den, ziehen es die Denker vor, gar nichts zu behaupten, und geben
sich alle erdenkliche Mühe, zu beweisen, daß dies das einzig Ver-
nünftige sei. Wir sind über die von diesen Denkern geltend gemachten
Argumente ziemlich vollständig unterrichtet *), man kann aber nicht
sagen, daß die menschliche Denkfähigkeit dadurch wesentlich gefördert
worden wäre. Höchstens kann man von ihnen lernen, so lange mit
seinem Urteile zu warten, bis die Voraussetzungen für eine Entschei-
dung gegeben sind. Die absolute Skepsis läßt sich aber gar nicht kon-
sequent durchführen. Der philosophische Skeptiker muß sich im täg-
lichen Leben doch genau so benehmen, als ob er Dogmatiker wäre.
Im sechzehnten Jahrhundert haben Montaigne und Charron, im
siebzehnten Jahrhundert Pierre Bayle den antiken Skeptizismus wieder
aufgenommen und namentlich die logische Unbeweisbarkeit der reli-
giösen Dogmen energisch verfochten. Pierre Bayle hat durch sein be-
kanntes enzyklopädisches Wörterbuch, das ganz von seinem Skeptizis-
mus erfüllt ist, stark auf das achtzehnte Jahrhundert eingewirkt und
einerseits die Aufklärung und den Materialismus, anderseits den philo-
sophischen Kritizismus vorbereitet. Zu den Skeptikern pflegt man auch
den großen englischen Denker David Htime (1711 — 1776) zu zählen,
allein seine weiter unten zu besprechenden, wahrhaft bahnbrechenden
Untersuchungen über die Grundbegriffe des Denkens, namentlich über
Substanz und Kausalität sind nicht mehr skeptisch, sondern gehören
bereits der dritten Entwicklungsstufe, dem Kritizismus, an.
Kritisch ist die Philosophie in gewissem Sinne schon in ihren
Anfängen. Indem sie es unternimmt, durch die Kraft des eigenen Den-
kens unabhängig von der Überlieferung zu einer Weltanschauung zu
gelangen, gehört der Kritizismus zu ihrem Wesen. Kritizismus im
engeren Sinne nennt man jedoch erst diejenige Denkrichtung, welche
nicht nur die Überlieferung, sondern auch die eigene Erkenntnisfähig-
keit einer Prüfung unterzieht. Der Kritizismus in diesem Sinne läßt
gar nichts ohne vorherige Prüfung gelten. Er fragt nach der Möglich-
keit und nach den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, er unter-
sucht den Ursprung und die Entwicklung unserer Erkenntnisse, fragt,
was unser eigenes Beibringen sei zum Zustandekommen der Erfah-
rung, und sucht die Grenzen abzustecken, innerhalb welcher die
menschliche Forschung mit Aussicht auf Erfolg ihre Tätigkeit ent-
falten könne.
Anfänge des Kritizismus lassen sich schon in der antiken Philo-
sophie konstatieren. Die Lehre der Eleaten, welche den Sinnen die Er-
kenntnisfähigkeit absprach, die Behauptung Demokrits, daß Süß und
Bitter, Warm und Kalt, daß die Farben nicht wirkliche Eigenschaften
der Dinge, sondern nur subjektive Empfindungen seien, sie alle atmen
deutlich kritischen Geist. Viel entschiedener und umfassender macht
sich dann das Bedürfnis nach einer Prüfung unseres Erkenntnis-
organes in der neueren Zeit bei John Locke, George Berkeley und
*) Durch die uns erhaltenen Schriften des römischen Arztes Sextus
Empiricus (um 200 nach Chr.).
\2 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
David ///////<■ geltend. Die Untersuchungen des letzteren haben inten-
>i\ auf Immanuel Kant eingewirkt, und dieser ist es, der den philo-
sophischen Kritizismus geschaffen und ausgestaltet hat.
Nach Kant ist es nicht mehr möglich, beim Dogmatismus stehen
zu bleiben. Man braucht Kant durchaus nicht überall und in jeder Be-
ziehung zuzustimmen, aber man muß unbedingt Stellung zu ihm
nehmen. Man muß die von ihm aufgeworfenen Fragen erledigen, ehe
man zu positiven Aufstellungen schreitet. So wie man nach Savigny
wissenschaftliche Rechtsstudien nicht mehr anders als historisch be-
treiben, wie man nach Darwin Organformen nicht mehr anders als
entwicklungsgeschichtlich und biologisch betrachten darf, so ist es nach
Kant nicht mehr erlaubt, anders als kritisch Philosophie zu treiben.
Der Kritizismus stellt das Erkenntnisproblem an die Spitze der
Philosophie, weil dieses das grundlegendste und bestimmendste ist.
Deshalb beginnen auch wir unsere Darstellung der im engeren Sinne
philosophischen Probleme mit diesem.
§ 17. Die Erkenntnisprobleme
Was verstehen wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Er-
kennen? Ich erkenne in einem Vorübergehenden einen Freund, einen
Bekannten, heißt so viel als: ich weiß den Namen des dort heran-
kommenden Mannes anzugeben, ich kenne viele Beziehungen, in denen
er steht, weiß, was seine Beschäftigung, sein Beruf ist, und erinnere
mich vielleicht auch, dieses oder jenes mit ihm gemeinsam erlebt zu
haben. Ich erkenne eine Pflanze, will sagen: ich bin imstande, die
Pflanze botanisch zu bestimmen, ihren Namen anzugeben, und kenne
den Platz, den ihr die wissenschaftliche Forschung im System der
Pflanzen angewiesen hat.
Jedes Erkennen gilt also als ein denkendes Erfassen eines Inhaltes,
der vom Erkennen selbst verschieden ist. Jede Erkenntnis vollzieht sich
ferner in der Form eines Urteils, und wer dieses Urteil fällt, in der
ten Überzeugung, eine Erkenntnis gewonnen zu haben, der ist da-
mit zugleich überzeugt, daß der erkannte Gegenstand oder das er-
kannte Ereignis wirklich besteht und wirklich so geartet ist, unab-
hängig davon, ob er es erkennt oder nicht. Das Erkennen setzt also,
wenigstens nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, einen Gegenstand
voraus, der selbständig besteht und vom Erkennenden verschieden ist.
Von diesem gewöhnlichen Sprachgebrauch weicht die wissen-
schaftliche Bedeutung des Erkennens nicht wesentlich ab. Es wird da
nur deutlicher zum Bewußtsein gebracht, daß die Erkenntnis nicht
allein auf der sinnlichen Wahrnehmung beruht, sondern daß eine
denkende Bearbeitung dieser dazu unerläßlich ist. Allein das unab-
hängige Bestehen des Erkannten gilt auch für die wissenschaftliche
Forschung als selbstverständliche Voraussetzung.
Die tiefer eindringende Psychologie der Sinneswahrnehmung und
des Urteilsaktes zeigt nun, daß die Beziehung zwischen dem Erkennt-
nisakt und dem erkannten Gegenstand oder Vorgang durchaus nicht
§ 17. Die Erkenntnisprobleme 43
so einfach ist. Für den nicht philosophierenden Verstand gelten unsere
Vorstellungen und Urteile einfach als Abbilder der vorgestellten
und beurteilten Vorgänge. Für unsere sinnlichen Wahrnehmungen und
für die anschaulichen Erinnerungsbilder, die besonders der Gesichts-
sinn in unserem Kopfe zurückläßt, trifft diese Auffassung ja ungefähr
zu. Ich habe z. B. von dem Hause, in dem ich geboren bin, trotz jahr-
zehntelanger Abwesenheit von meinem Heimatsorte dennoch ein leb-
haftes anschauliches Bild in meinem Bewußtsein und könnte jeden
Augenblick eine Skizze der betreffenden Räumlichkeiten entwerfen. In
solchen Fällen sind unsere Vorstellungen tatsächlich Abbilder. Unsere
Denkarbeit bleibt aber bei solchen einzelnen Erinnerungen nicht stehen,
weil aus solchen nur ein beschränktes Erkennen der Welt hervorgehen
würde. Wir achten vielmehr auf die Gleichförmigkeiten der
Dinge und Vorgänge, die wir wahrnehmen. Wir bilden Begriffe
von Dingen, Eigenschaften und Zuständen, wir fällen Urteile, die nicht
einzelne Vorgänge, sondern Regelmäßigkeiten des Geschehens zum
Gegenstande haben. Solchen Ergebnissen der Denkarbeit entsprechen
keine anschaulichen Bilder wirklicher, sinnlich wahrnehmbarer Vor-
gänge. Zwar pflegen sich beim Aussprechen von Wörtern, wie Tier,
Pflanze, Tisch, Fenster, unbestimmte und fließende Vorstellungen ein-
zustellen, allein diese entsprechen nicht dem Inhalt des durch die be-
treffenden Begriffe Gedachten ; auch gibt es viele Begriffe und Urteile,
die gar keine anschaulichen Bilder hervorrufen. Wenn wir vom Staat,
von Recht und Sitte, von Verfassung und Vertrag sprechen, so stellen
wir dabei gar nichts Konkretes vor. Man hat deshalb versucht, die
Welt der Vorstellungen und Gedanken, da sie sehr oft durchaus nicht
als Abbilder angesehen werden können, als ein System von Zeichen
aufzufassen, die auf eine unabhängig von uns bestehende Wirklichkeit
hinweisen. Für manche Vorstellungen und Urteile trifft das ja sicher
zu. Urteile, wie: es regnet, es schneit, es brennt, sind gewiß Zeichen
von wirklichen Vorgängen. Wir erzeugen aber auch Vorstellungen und
Gedanken, die ganz und gar Produkte unserer Eigentätigkeit sind und
auf kein Objekt in der Außenwelt hinweisen. Wovon sollten z. B. Be-
griffe wie Vergleich, Gegensatz, Wissenschaft, Zeichen sein. Viel
näher kommt man dem Verhältnis zwischen dem Denken und der von
uns unabhängigen Wirklichkeit, wenn man die Vorstellungswelt als
ein Mittel betrachtet, dessen wir uns bedienen, um uns in der Welt
zu orientieren und um das Handeln darin möglich zu machen. Diese
praktische Auffassung des menschlichen Denkens wird uns noch weiter
unten beschäftigen. Jedenfalls zeigt die tiefer dringende Analyse des
Erkenntnisprozesses, daß unser Vorstellen und Denken keineswegs aus-
schließlich durch die außer uns befindliche Wirklichkeit bestimmt
wird. Unsere eigene physische und psychische Organisation arbeitet
hier selbsttätig mit und geht dabei gar oft über das Gegebene hinaus.
Im Fieber sehen wir Gestalten, denen in der Wirklichkeit nichts ent-
spricht, und im Traume erleben wir Vorgänge, die wir beim Erwachen
als nicht real erkennen. Auch im Fortspinnen unserer Gedanken er-
zeugen wir oft Gebilde, die weder Abbilder noch Zeichen, sondern
unsere eigenen Schöpfungen sind. Wer sagt uns nun in jedem ein-
44 l rkenntniskritiV und Erkenntnistheorie
zeinen Falle, ob unsere Wahrnehmungen nicht Halluzinationen oder
Traumbilder sind, wer entscheidet darüber, wie viel oder wie wenig
Phantasieelemente sich in unsere Erinnerungsbilder eingeschlichen
haben? Ja vielleicht sind alle unsere sogenannten Erkenntnisse nur
unsere eigenen Erlebnisse und wir dürfen auf Grund derselben zwar
von Veränderungen unserer Bewußtseinszustände und Bewußtseins-
inhalte sprechen, haben aber gar kein Recht dazu, über Vorgänge etwas
auszusagen, die sich unabhängig von uns abspielen. Aus diesen
Fragen, die sich auf die Dauer nicht abweisen lassen, entstehen die
philosophischen 1 xkenntnisprobleme.
D.is radikalste und zugleich das grundlegende dieser Probleme be-
stellt in der Frage, ob der Mensch die Fähigkeit besitzt, eine von ihm
unabhängige Wirklichkeit zu erkennen und ob er das Recht hat, über
die Existenz und die Beschaffenheit dieser Wirklichkeit objektive und
allgemein gültige Aussagen zu machen. Die kritische Philosophie wirft
0 hier die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis auf.
Der Sinn dieser Fragestellung ist folgender: Die aufblühende Mathe-
matik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hatte eine Fülle
von Erkenntnissen gewonnen, von denen man überzeugt war, daß sie
unabhängig von aller Erfahrung (das heißt a priori), bloß durch
die Kraft der reinen Vernunft gefunden wurden und dennoch
für jede mögliche Erfahrung Geltung haben. Kant glaubte nun auch
in der mathematischen Naturwissenschaft Erkenntnis-
elemente zu finden, die nicht aus der Erfahrung entspringen, sondern
als I rzeugnis der reinen Vernunft angesehen werden und somit von
vorneherein (a priori) gegeben sind. Dieser Gedanke regte ihn zu
seiner „Kritik der reinen Vernunft" an, in der der Ver-
such unternommen wird, die a priori gegebenen Erkenntnisbedingungen
in ein System zu bringen. Das Ergebnis dieser bahnbrechenden Unter-
suchung ist dieses: Alle Objekte und Vorgänge, die wir als Gegen-
tand der Erfahrung antreffen, sind durch die in uns liegenden An-
schauungsformen des Raumes und der Zeit so wie
durch eine bestimmte Zahl von Urfunktioncn des Verstandes (Kate-
gorien) geformt und objektiviert. Wir erkennen also die Welt nicht
wie sie an sich ist, sondern nur so wie sie unserer Sinnlichkeit und
unserem Verstände erscheint. Schopenhauer formuliert dieses
Grundergebnis der kritischen Untersuchung in dem kurzen Satze: „Die
Welt ist meine Vorstellung." Dieser philosophische Standpunkt heißt :
kritischer Idealismus. Da sich die dazu führenden Erwä-
gungen auf die Überzeugung stützen, daß es Erkenntnisse gibt, die
a priori gegeben sind, so nennt man diese Richtung in neuerer Zeit
auch A p r i o r i s m u s.
Mit der Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis, die von der
kritischen Philosophie in dem eben dargelegten Sinne aufgeworfen
wurde, verbindet sich naturgemäß die Absteckung der Grenzen
des menschlichen Erkennens. Kant war hier besonders streng und be-
tont immer wieder, daß die theoretische Vernunft ihre a priori ge-
gebenen Funktionen nur auf das Gebiet der möglichen Sinneswahr-
nehmung anwenden dürfe und daß sie nicht befähigt sei, über Dinge,
§ 18. Entwicklung und Richtungen der Erkenntniskritik 45
die jenseits aller möglichen Erfahrung liegen, Erkenntnisse zu ge-
winnen.
Die Beschäftigung mit den Fragen nach der Möglichkeit und nach
den Grenzen des Erkennens nennen wir Erkenntniskritik, und
diese bildet einen der schwierigsten und zugleich wichtigsten Teile der
Philosophie.
Die von Kant und seinen Anhängern gegebene Lösung ist nicht
ohne Widerspruch geblieben. Es gibt wieder viele Denker, die in
Übereinstimmung mit dem nicht philosophierenden Verstände der Mei-
nung sind, daß die Welt nicht bloß meine Vorstellung ist, sondern un-
abhängig von mir existiert und in ihrer wahren Beschaffenheit von mir
erkennbar ist. Dieser Standpunkt heißt im allgemeinen Realismus,
weil die Welt als r e a 1, als wirklich, nicht bloß als i d e a 1, das heißt
in der Vorstellung existierend angesehen wird. Der Realismus erkennt
keine a priori gegebenen Erkenntnisse an, sondern stützt sich auf die
E r f a h r u n g, die er als einzige Erkenntnisquelle betrachtet. Er stellt
sich daher dem Apriorismus entgegen als Empirismus
(vom griechischen „empeiria" — Erfahrung). Einen wesentlichen Teil
dieser Erfahrung bilden die durch eindringende Selbstbeobachtung er-
mittelten psychologischen Tatsachen des Erkenntnisvorganges und im
Hinblick auf die Bedeutung, die der Realismus der Psychologie des Er-
kennens beilegt, nennt man diese Art der Bearbeitung des Erkenntnis-
problems auch Psychologismus.
Aus dieser Betrachtungsweise entspringen neue Probleme. Der
Idealismus und Apriorismus fragt nicht, woher die Erkenntnisse der
reinen Vernunft stammen, sondern konstatiert ihr Dasein, betont ihre
objektive Geltung und zieht daraus die logischen Konsequenzen.
Der Realismus hingegen will wissen, aus welchen psychischen Quellen
der Erkenntnistrieb hervorgeht, er will die Entwicklung des
menschlichen Erkennens im einzelnen Menschen und in der ganzen
Menschheit durch psychologische, durch historische und
namentlich durch soziologische Forschung verfolgen und fragt
schließlich auch nach den letzten Zielen des Strebens nach Wissen
und Erkenntnis. Die Arbeit an diesen Problemen ist nicht mehr Kritik,
sondern der Versuch, die tatsächliche Entwicklung des Erkenntnispro-
zesses psychologisch, historisch und soziologisch zu begreifen und in
die großen Zusammenhänge des Menschenlebens einzuordnen. Wir be-
zeichnen diese Fragen nach dem Ursprung, nach der Ent-
wicklung und nach den Zielen des menschlichen Erkennens als
den Gegenstand der Erkenntnistheorie.
§ 18. Entwicklung und Richtungen der Erkenntniskritik
Für den nicht philosophierenden Menschen war es von Anbeginn
unzweifelhaft und ist es zum größten Teile noch heute, daß die Dinge
seiner Umgebung unabhängig von ihm existieren, und daß sie so sind,
wie sie ihm erscheinen. Dieser nicht nur vor philosophische,
sondern auch vorwissenschaftliche Standpunkt, diese vor
jeder Reflexion über unser Erkenntnisorgan vorhandene und die großen
4(j Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
Massen noch Immer beherrschende Denkrichtung nennt man den
11 a i v e n R eal i s m u s. Es ist Realismus, weil man auf dieser Denk-
stufe die wahrgenommene und vorgestellte Außenwelt für selbständig
existierend, für real hält, und es ist naiver Realismus, weil diese An-
schauung nicht mit kritischer Erwägung herausgebildet, sondern weil
sie als selbstverständliche Voraussetzung dem Denken und Handeln
zugrunde gelegt wird. Man weiß es einfach nicht anders.
Der Standpunkt des naiven Realismus kann jedoch bei beginnen-
der'Reflexion nicht lange festgehalten werden. Schon die gewöhnlichen,
alltäglichen Sinnestäuschungen erschüttern den Glauben an die
unbedingte Richtigkeit unserer Wahrnehmungsurteile. Die Erfahrung,
daß ein schief ins Wasser getauchter Stab nicht wirklich gebrochen
i^t. sondern nur gebrochen scheint, daß die in der Entfernung ge-
sehenen Gegenstände in der Tat größer sind, als sie uns erscheinen,
läßt nicht lange auf sich warten. Dadurch wird aber das Vertrauen
in die Glaubwürdigkeit unserer Sinne erschüttert und die philo-
sophische Reflexion sieht sich nach anderen, sichereren Quellen der Er-
kenntnis um. Es ist begreiflich, daß man hier leicht in das andere
Extrem verfiel und den Sinnen allzu wenig, dem Denken allzu viel
! ikenntnisfähigkeit zuschrieb. Jedenfalls aber war das Eine sicher:
Zum Zustandekommen unseres Weltbildes tragen zwei wesentlich ver-
schiedene Faktoren bei. Der eine ist außer uns, selbständig, unabhängig
und in gewissem Sinne beharrend, das ist der objektive Faktor.
Der andere sind wir selbst, unsere Sinne, unser Denken, unser Fühlen.
Dieser ist flüchtiger, veränderlicher Natur, es ist der subjektive
Faktor. Der naive Realismus betrachtet die wahrgenommene und die
erschlossene Welt als durchaus objektiv. Für ihn ist der subjektive
Faktor noch nicht vorhanden. Mit der Konstatierung
dieses subjektiven Faktors beginnt die Erkennt-
niskritik.
Ihre Entwicklung vollzieht sich nun in der Weise, daß zunächst
gewisse Sinneseindrücke, wie Geschmack, Temperatur und Farbe, als
bloß subjektiv erkannt werden. Dagegen behalten die Data des Tast-
sinnes noch lange ihre objektive Geltung, und erst in der neuesten Zeit
hat man sich gesagt, daß Hart und Weich, Rund und Spitzig doch
iau ebenso Sinnesdata sind wie Gerüche, Töne und Farben und daß
hc demgemäß erkenntniskritisch dieselbe Behandlung erfahren müssen.
Viel später wurde auch an den Resultaten des abstrakten Denkens
subjektive Faktor konstatiert, nachdem lange alles, was der speku-
lativ Geis! erdacht, für objektive Wahrheit gegolten hatte. Hier war
vor allem Kant, welcher die Formen des Verstandes aufsuchte, ver-
möge welcher erst Erfahrung möglich werde. Daß wir Komplexe von
I mpfindungen als selbständige, beharrende Dinge auffassen, daß wir
regeln aufeinanderfolgende Ereignisse ursächlich verknüpft
denken, das alles und noch manches andere, meint Kant, beruht auf
ursprünglichen, nicht weiter ableitbaren Grundfunktionen unseres Ver-
standes. Mittels dieser Stammformen oder Kategorien formen
wir den im- von außen gegebenen, an sich chaotischen Inhalt und erst
dadurch wird Erfahrung möglich. In unserem Weltbild ist also alles
$ IS. Entwicklung und Richtungen der Erkenntniskritik 47
unserer Erkenntnis Zugängliche zunächst durch die angeborenen
Formen der Sinnlichkeit, durch Raum und Zeit, dann
aber durch die Kategorien des Verstandes bestimmt. Erkennbar
und erfahrbar ist also nur der subjektive Faktor. Was von der Er-
fahrung übrig bleibt, wenn wir den subjektiven Faktor eliminieren,
das ist das für uns vollständig unerkennbare „Ding an sie h".
Daß dieses „Ding an sich" selbständig und unabhängig von uns
existiere, das ist für Kant allerdings ganz sicher, aber auch nur das.
Der objektive Faktor existiert also, ist aber für uns ganz unerkenn-
bar.
Diese von Kant noch zugegebene Existenzdes Dinges an
sich wird jedoch von neueren Denkern ebenfalls als ganz unbeweis-
bar, ja als undenkbar hingestellt. Auch die Existenz, sagen diese,
ist nur eine Kategorie des Verstandes, und so ist jetzt ganz
im Gegensatze zum naiven Realismus das Weltbild seines objektiven
Faktors vollständig entkleidet.
Was wir von der Welt wahrnehmen und erschließen, was uns
die wissenschaftliche Forschung darüber lehrt, das gilt nur von unseren
Bewußtseinsinhalten. Wenn wir das menschliche Bewußt-
sein wegdenken, so schwindet mit ihm alles, was seinen Inhalt bildet,
und das ist die ganze Welt. Himmel und Erde, Wasser und Land,
Berg und Tal sind nur unsere Vorstellungen, und wer behauptet, daß
es eine von unserem Bewußtsein unabhängige Außenwelt gebe, der
behauptet etwas Unbeweisbares, Widerspruchsvolles.
Diese dem naiven Realismus ganz entgegengesetzte Denkrichtung
führt im allgemeinen den Namen Idealismus. Die Welt ist da-
nach nur Bewußtseinsinhalt oder wenigstens nur insofern erkennbar,
als sie Bewußtseinsinhalt ist. Innerhalb dieser Richtung unterscheidet
man mehrere Schattierungen, von denen die wichtigsten hier angeführt
seien. Zuvor müssen wir uns jedoch mit der hier üblichen Terminologie
vertraut machen.
Was als Bewußtseinsinhalt gegeben ist oder nur als solcher be-
trachtet wird, das heißt immanent. Was über das Bewußtsein
hinausgeht und unabhängig davon besteht, das ist transzendent
oder auch extramental. Der strenge Idealist glaubt also nur an
eine immanente Welt, gibt hingegen eine transzendente oder extramen-
tale keineswegs zu.
Wesentlich verschieden von dem Transzendenten ist jedoch das
Transzendentale, womit Kant besonders gerne operiert. Kant
nennt „alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit
Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen,
soferne diese a priori möglich sein soll, beschäftigt" (Krit. d. r. Ver-
nunft, Einleitung zur 2. Aufl.), III, 49 (Hartenstein). Der trans-
zendentale Idealismus Kants behauptet also, daß es gewisse
Stammformen der Sinnlichkeit und des Verstandes gibt, welche nicht
durch Erfahrung entstehen, sondern vor aller Erfahrung da sind und
durch die Gestaltung des auf sie wirkenden Dinges an sich erst Er-
fahrung möglich machen. Diese Anschauung ist also insoferne noch
Realismus, als sie die unabhängige, extramentale oder transzen-
48 1 rkenntniskritik und Erkenntnistheorie
dente 1 xistenz des Dinges an sich zugibt. Erkennbar jedoch ist für
uns nur die I rscheinung oder das Phänomenon, weshalb diese An-
schauung «nah Phänomenalismus genannt wird.
1 dagegen behauptet der immanente I d e a 1 i s m u s, der sich
in letzter Zeit auch immanente Philosophie nennt, daß die
i xistenz der Außenwelt sich darin erschöpfe, daß dieselbe Inhalt des
menschlichen Bewußtseins sei. Hier wird gar nichts Transzendentes,
gar nichts I xtramentales zugegeben. Wer eine vom Bewußtsein unab-
hängige Welt behauptet, der verdoppelt, so argumentieren die
Idealisten, in ganz unberechtigter Weise die Welt. Insoferne diese
\\ cltanschauung dazu führt, daß jeder Denker nur sich und seinen Be-
wußtseinsinhalt als gegeben anerkennt, pflegt man diese Anschauung
auch Solipsismus (solus = allein, ipse = selbst) zu nennen.
Vertreter dieser strengen Auffassung sind die sogenannten Neu-
kantianer Schuppe, Rehmke, v. Ledair, Schubert-Soldern u. a.
Mit dem Phänomenalismus verwandt ist auch der sogenannte
Positivismus. Die Wissenschaft soll ohne Rücksicht auf die
letzten Gründe alles Seins, welche unerkennbar bleiben müssen, das
Gesetzliche der Erscheinung erforschen, um die Ereignisse beherrschen
zu lernen. Schöpfer dieser Richtung ist Auguste Comte (1798—1857)
in Frankreich, Anhänger in gewissem Sinne John St. MM in England
und Ernst Laas in Deutschland *).
In den letzten Jahrzehnten sind noch andere Richtungen des kriti-
schen Idealismus zutage getreten, die weniger die Idealität der Außen-
welt, sondern mehr den apriorischen, das heißt nicht der Erfahrung
entstammenden Charakter aller sicheren Erkenntnis betonen und sich
besonders entschieden gegen den Psychologismus (s. oben S. 45) wen-
den. Herrmann Cohen und Paul Natorp (Begründer der Marburger
Schule) suchen auf der Grundlage Kants und des im Kantschcn Sinne
umgedeuteten Piatonismus ein auf reines Denken gegründetes System
/u gewinnen. Cohen hat dieses System durch gründliche Bearbeitung
des Kantianismus vorbereitet und dann in drei selbständigen Werken
(„Logik der reinen Erkenntnis", „Ethik des reinen Willens",
.. \>thetik des reinen Gefühls") vorgelegt. In bezug auf die Erkenntnis-
lehre, die uns hier allein angeht, verwirft Cohen die sinnliche Wahr-
nehmung als Erkenntnisquelle und schreibt dafür dem reinen
Denken die Fähigkeit zu, das Sein zu erzeugen. Cohen gründet
seine Theorie auf die Tatsache der mathematischen Naturwissenschaft,
die nur durch unanschauliches Denken zur Feststellung der wahren
Realität gelangt. Kraftvolle und energische Denkarbeit, die überall
an der konkreten Wissenschaft orientiert ist, zeichnen seine Arbeiten
aus, von denen auch derjenige viel lernen kann, der auf einem anderen
Sl and punkte steht. Natorp versucht diese Grundsätze auf die Grund-
*) In der allerjüngstcn Zeit hat sieh in Deutschland eine Gesellschaft für
ütivistiache Philosophie gebildet, die es sich zur Aufgabe macht, auf dem
Boden der Erfahrung eine Weltanschauung aufzubauen, die den Ergebnissen und
Methoden der Wissenschaft gerecht wird und doch das Einheitsbedürfnis der
menschlichen Natur befriedigt. Angeregt wurde die Gründung durch Joseph
Petzoldt.
§ 19. Der erkenntniskritische Idealismus 49
legung der Psychologie und Pädagogik anzuwenden und hat sich be-
sonders eifrig um die kantianisierende Auslegung Piatons bemüht. Der
Marburger Schule gehört eine Anzahl jüngerer Forscher an, von denen
besonders Ernst Cassirer zu nennen ist, dessen philosophiegeschicht-
liche Arbeiten sehr bedeutend sind. Wilhelm Windelband und Heinrich
Rickert haben mit Anlehnung an Fichte einen „teleologischen Kritizis-
mus" begründet, der eine a priorische Wertlehre herauszu-
arbeiten sucht. Das Wahre, das Gute und das Schöne sollen als a priori
gegebene Werte aufgefaßt werden, deren objektive und absolute Gel-
tung die Philosophie darzutun und herauszuarbeiten hat. Dieser Rich-
tung steht auch Hugo Münsterberg nahe. Gemeinsam ist allen diesen
Denkern die Überzeugung, daß in der reinen Vernunft a priori Grund-
sätze gegeben sind, die es ermöglichen, zu objektiven, überindividuellen
Aufstellungen zu gelangen, die über allen psychologischen Konsta-
tierungen stehen und durch psychologische Untersuchungen weder be-
stätigt noch widerlegt werden können.
Gegenüber diesen idealistischen Richtungen erhebt nun wieder
der Realismus sein Haupt. Gewiß, das muß jeder wissenschaftlich
Denkende zugeben, darf man nicht bei dem naiven Realismus stehen
bleiben. Aber wenn man dem subjektiven Faktor in unserem Weltbild
auch völlig gerecht wird, so bleibt doch noch ein erheblicher objektiver
Rest, und die Existenz einer von uns unabhängigen, aber auf uns wirken-
den Außenwelt läßt sich trotz alledem beweisen oder bleibt wenigstens
die Annahme, die nicht nur den gesunden Menschenverstand, sondern
auch das philosophische Denken am meisten befriedigt. Diese erkennt-
niskritische Denkrichtung nennt man den kritischen Realis-
mus.
Mit den verschiedenen Richtungen des kritischen Realismus wer-
den wir uns weiter unten bei der Erörterung des Problems vom
Ursprung der Erkenntnis zu beschäftigen haben. Jetzt gilt es, die Argu-
mente des Idealismus kennen zu lernen und zu prüfen.
§ 19. Der erkenntniskritische Idealismus
Die Ansicht, daß die mich umgebende Welt nur meine Vorstellung
ist, daß alles, was ich durch Wahrnehmen oder durch Denken von der
Welt zu erkennen glaube, ihr nicht an sich zukommt, sondern nur a 1 s
mein Bewußtseinsinhalt gelten darf, hat etwas für den nicht
philosophierenden Verstand ungemein Befremdliches. Unsere ganze
praktische Weltanschauung beruht ja auf der Annahme oder vielmehr
auf der selbstverständlichen Voraussetzung, daß das, was ich sehe und
greife, wirklich besteht und auch dann besteht, wenn ich es nicht wahr-
nehme.
Die historische Entwicklung macht die Ansicht von der Idealität
der Außenwelt allerdings etwas begreiflicher. Man sieht leicht ein,
daß unser physischer und psychischer Organismus sich beim Zu-
standekommen des Weltbildes nicht bloß aufnehmend oder rezeptiv
verhält. Vielmehr sind es gerade seine Reaktionen auf die äußeren
Reize, seine eigenen Tätigkeiten, durch welche überhaupt ein Weltbild
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 4
Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
zustande kommt. Infolgedessen wird es klar, daß wi> selbst, das heiß'.
unsere leibliche und seelische ( Organisation viel beibringen zum Zu-
standekommen der Erfahrung. Noch begreiflicher und im einzelnen
ständlicher wird dies, wenn wir uns ein wenig in der psychologische!
Analyse üben.
Betrachte ich /.. B. den Tisch, an dem ich jetzt arbeite, so ist der-
selbe für den naiven Realismus eine viereckige, gelb angestrichene
Hol/platte, die auf vier Füßen ruht. Gehe ich jedoch etwas genauer
auf die ! inzelheiten dieser Wahrnehmung ein, so sehe ich, daß zu-
iist die Farbe nur als meine Empfindung existiert. Die Gestalt des
I isches kommt mir durch einen Komplex von Netzhaut- und Muskel-
empfindungen des Auges zum Bewußtsein, und die Härte sowie die
I Hätte sind doch, genau besehen, nur Tastqualitäten. Es ist demnach
der anfangs ganz objektive Tisch zu einem Komplex subjektiver Emp-
tindungsqualitäten geworden. Jetzt fragt es sich noch, inwiefern dieser
Komplex mir als eine Einheit, als ein Ding erscheint, dessen Eigen-
schaften eben jene Empfindungsqualitäten sind. Frage ich, was übrig-
bleibt, wenn ich Farbe, Gestalt, Härte, Glätte dem Tisch wegnehme,
so wird man jedenfalls in Verlegenheit sein und schwerlich etwas an-
geben können. Wenn es sich nun zeigt, daß auch diese Zusammen-
hing von Empfindungskomplexen zu einheitlichen Dingen in der
psychischen Organisation des Menschen begründet ist, dann wird, so
scheint es, der ganze Tisch tatsächlich zur bloßen Erscheinung, zum
Bewußtseinsinhalt, von dem man durchaus nicht behaupten kann, daß
er unabhängig von meinem Bewußtsein existiere.
In derselben Weise kann ich von jedem Dinge meiner Umgebung
beweisen, daß es ein Empfindungskomplex ist, der durch eine be-
stimmte Organisation meiner Natur zu einer Einheit zusammen-
gefaßt wird.
Wollte man nun die Entdeckungen der Physik dazu benützen, um
das Subjektive vom Objektiven zu scheiden, so würde das gegenüber
einem Idealisten strenger Observanz nichts helfen. Was wir als Licht
empfinden, könnte man einwenden, das sind ja in Wirklichkeit Schwin-
gungen des Äthers, und die Töne sind Schwingungen der Luft. Farben
und Töne sind nur subjektiv vorhanden, aber unabhängig von jedem
Auge und Ohr bestehen jene Vibrationen, welche die Physik als objek-
tive Ursache jener Empfindungen erkannt hat. Darauf würde der
Idealist antworten: Die Schwingungen der Luft und des Äthers bleiben
b auch immer nur gedachte Schwingungen, die unter günstigen
Umständen sinnlich wahrnehmbar gemacht werden können. Auch hier
isl also der subjektive Faktor keineswegs eliminiert und auch diese
„objektiven" Ursachen unserer Empfindungen bleiben Bewußtseins-
inhalte.
I s scheint also wirklich ganz unmöglich, in unseren Erkenntnissen
einen wirklich objektiven, vom wahrnehmenden und denkenden Subjekt
ganz unabhängigen Faktor nachzuweisen. Wo sich eine Scheidung von
objektiver Ursache und subjektiver Wirkung zu ergeben scheint, da
zeigt es sich immer, daß auch die „objektive" Ursache nur als Bewußt-
seinsinhalt gegeben ist.
§ 20. Würdigung des erkenntniskritischen Idealismus 51
Eine kräftige Unterstützung erhielt der strenge Idealismus noch
durch die moderne Sinnesphysiologie. Johannes Müller hat in seinem
bekannten Gesetze von den spezifischen Sinnesenergien
die Tatsache formuliert, daß unsere Sinnesnerven, wie immer man sie
reizt, immer nur in einer und derselben Weise reagieren.
Reizt man z. B. den Gesichtsnerv (Nervus opticus) durch Druck
oder durch einen elektrischen Strom, so entstehen ebenso Farbenempfin-
dungen, wie wenn er durch Licht gereizt wird. Wenn wir also eine
Sinnesempfindung haben, so ist es auf Grund dieses Gesetzes nicht
einmal sicher, ob ein objektiv vorhandener Gegenstand oder ob irgend
ein anderweitig im Sinnesnerven hervorgerufener Vorgang die Ursache
dieser Empfindung ist.
Solange ich als einzelner Mensch der Welt gegenüberstehe, so-
lange scheint es ganz unwiderleglich, daß die Welt nur als mein Be-
wußtseinsinhalt gegeben sei. Das Sein oder Esse der von mir wahr-
genommenen Dinge besteht lediglich in ihrem Wahrgenommenwerden
(pereipi). So formuliert O. Berkeley kurz und präzise den Stand-
punkt des Idealismus. Die Annahme einer transzendenten, extramen-
talen Welt ist, so scheint es, etwas durchaus Willkürliches, Überflüs-
siges, Unbeweisbares. Hervorragende Naturforscher, wie Helmholtz
und Meynert und in gewissem Sinne auch Mach, haben es aus-
gesprochen, daß die Wissenschaft sich mit der Erforschung des Ge-
setzlichen in der Erscheinung begnügen müsse und die objektive Natur
der Vorgänge nicht beweisen könne. Meynert hat es sogar als Probe
der Denkfähigkeit bezeichnet, die Idealität der Welt denken zu können.
Wir wollen nun daran gehen, die Stichhältigkeit dieser Argumente
zu prüfen.
§ 20. Würdigung des erkenntniskritischen Idealismus
Die im Laufe von mehr als zwei Jahrtausenden geleistete Denk-
arbeit, welche zu der Ansicht führt: das Sein der wahrnehmbaren
Dinge besteht in ihrem Wahrgenommenwerden (esse = pereipi,
Berkeley), oder die Welt ist meine Vorstellung (Schopenhauer), hat
tief hineingeleuchtet in die Natur des menschlichen Erkennens und
hat seinen Geltungsbereich abgegrenzt. Die Tatsache der Sinnes-
täuschungen hat schon im Altertum den Glauben an die Vertrauens-
würdigkeit der Sinne erschüttert. Dagegen wurde lange Zeit hindurch
dem abstrakten Denken die Fähigkeit zugesprochen, das
wahre, das objektive Wesen aller Wirklichkeit zu erfassen,
und man hat an die Ergebnisse dieser spekulativen Denkarbeit Jahr-
hunderte lang fest geglaubt. Durch Berkeley, Hume und Kant ist dann
auch die subjektive Natur unserer Denkformen erkannt und auf Grund
dessen nur die Erscheinung als erkennbar, das hinter der Er-
scheinung liegende Ding an sich als unerkennbar bezeichnet
worden.
Bis zu diesem Punkte muß das Resultat der Erkenntniskritik
rückhaltlos anerkannt werden. Nur muß man, um sich vor groben Miß-
52 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
Verständnissen zu bewahren, die bei so abstrakten und in vieler Be-
ziehung fremdartigen Gedankenreihen nur zu leicht unterlaufen, genau
unterscheiden zwischen S c h e i n und Erscheinung.
Unter Schein verstehen wir einen Anlaß zu Vorstellungen,
welche zu unrichtigen Urteilen führen. Der Sinnenschein, von dem
hier hauptsächlich che Rede ist, besteht also in dem äußeren Eindrucke,
den die Dinge auf unsere Sinne machen, insofern dieser Eindruck zu
unrichtigen Urteilen führt. Als unrichtig gelten uns die Urteile dann,
wenn sie durch nachträgliche Wahrnehmungen oder Überlegungen be-
richtigt werden, wenn die Voraussagen sich nicht erfüllen, welche auf
die durch den Schein veranlaßten Urteile gegründet wurden. Ein Bei-
spiel mag dies erläutern.
Der schief ins Wasser getauchte Stab scheint unserem Auge ge-
brochen, das heißt er veranlaßt uns zu dem Urteile: der Stab ist ge-
brochen. Ziehen wir den Stab nun heraus, so hat er seine Geradlinig-
keit behalten, und wir urteilen, er sei jetzt nicht gebrochen. Es bleibt
aber noch die Möglichkeit vorhanden, daß das Wasser den Stab breche.
Da überzeugen wir uns durch Betasten des eingetauchten Stabes, daß
auch im Wasser der Bruch des Stabes durch unseren Tastsinn nicht
konstatiert werden kann. Die höhere Glaubwürdigkeit, die wir dem
Tasturteil entgegenbringen, veranlaßt uns nun zu urteilen : der S t a b
ist nicht gebrochen, er scheint nur so. Wenn wir dann die
Brechungsgesetze des Lichtes kennen lernen, so finden wir auch diesen
Schein des Gebrochenseins begründet, und die Sache ist erledigt. Wir
haben ein nächstesmal denselben Sinneseindruck des gebrochenen
Stabes, lassen unser Urteil aber nicht mehr dadurch täuschen.
Etwas wesentlich anderes verstehen wir aber unter Erschei-
nung. Die Erscheinung ist die Welt, wie sie sich unseren Sinnen dar-
bietet, und im weiteren Sinne auch, wie sie von uns gedacht wird. Unter
Erscheinung verstehen wir nicht bloß den ersten, flüchtigen, äußeren
Eindruck, nicht nur das Blendwerk, das sich an unsere Sinne drängt,
sondern die unserer Erkenntnis zugängliche Seite der Welt. Insofern
die Welt für uns erkennbar ist, insofern ist sie Erscheinung. Die Er-
scheinung trügt nicht wie der Schein, der Ausdruck erinnert nur daran,
daß die Erscheinung vielleicht auf etwas hinweist, das hinter ihr steht
und ihr wahres Wesen ausmacht.
Die einschneidende Frage der Erkenntniskritik ist nun die, ob wir
berechtigt sind, aus der uns allein zugänglichen Erscheinung
auf eine ihr zugrunde liegende Wesenheit zu schließen, die ^ un-
abhängig von uns besteht, mag sie nun erkennbar sein oder nicht.
Kant, der ikn hier entwickelten Begriff der Erscheinung zum ersten-
mal in seiner vollen Tiefe erfaßt hat, Kant, der in unser Erkenntnis-
organ die Sonde der Analyse so tief eingeführt hat, wie keiner vor ihm,
hat diese Frage entschieden bejaht. Trotz mancher Stellen, in denen
er das 1 Mag an sich zu einem bloßen Gedanken herabsetzt, ist es seine
endgültige Oberzeugung, daß aller Erscheinung ein Reales, ein unab-
hängig vom erkennenden Subjekte Bestehendes zugrunde liege. Mit
haut wird diese Frage auch bejaht von unserem innersten und tiefsten
Gefühl, das sich mit aller Kraft gegen ihre Verneinung sträubt. Wenn
§ 20. Würdigung des erkenntniskritischen Idealismus 53
wir einen Gegenstand mit unseren Sinnen wahrnehmen, so stehen wir
unter einem Zwange, den wir als äußeren Zwang zu bezeichnen
nicht umhin können. Wir sehen, wie derselbe Zwang von unseren Mit-
menschen empfunden wird, und können niemals glauben, daß die
wahrgenommenen Dinge verschwinden, wenn kein Mensch sie wahr-
nimmt.
Trotzdem aber besitzt, wie wir oben sahen, die Argumentation
des strengen Idealismus der Neukantianer eine große logische Kraft.
Solange ich und meine Umgebung einander allein gegenüberstehen,
solange läßt sich gegen den Beweis der Idealisten, daß die Welt mein
Bewußtseinsinhalt sei, nichts Stichhältiges einwenden. Hier entsteht
nun in dem Bewußtsein des ernstlich um eine widerspruchslose Welt-
anschauung bemühten Denkers ein auf die Dauer unerträglicher Zu-
stand. Die unerbittliche Logik weist jeden Schritt ins Extramentale als
unerlaubt zurück. Unser innerstes Lebensgefühl aber kann und will
sich bei der Vorstellung von der Idealität der Außenwelt nicht be-
ruhigen. Dieser Widerspruch des Fühlens darf jedoch dem Philosophen
nicht genügen. Was er als unwahr empfindet, das muß er auch als
unwahr erweisen können.
Dieser Beweis läßt sich am leichtesten und verständlichsten so
führen, daß man die These des strengen Idealismus „Die Welt ist
mein Bewußtseinsinhalt" konsequent zu Ende denkt. Es ergibt sich
nämlich dann die unerbittliche Folgerung, daß ich, der idealistische
Denker, ganz allein als wirklich existierend übrig bleibe, während die
ganze Welt nur dadurch und nur darin besteht, daß sie mein Bewußt-
seinsinhalt ist. Mein Leib nicht nur, sondern auch alle meine Mit-
menschen haben ihre selbständige Existenz verloren und sind zu
meinem Bewußtseinsinhalt geworden. Wir haben diesen Standpunkt
oben als Solipsismus bezeichnet und können nun sagen, der
erkenntniskritische Idealismus führt, soweit er
die Phänomenalität der Welt zu seinem Lehr-
inhalt hat, unbedingt zum Solipsismus. Diese An-
sicht, daß ich allein auf der Welt wirklich existiere, ist nun nicht allein
praktisch undurchführbar, sondern bedeutet auch, rein theoretisch ge-
nommen, eine derartige Ungeheuerlichkeit und Absurdität, daß die
meisten Vertreter des Idealismus davor zurückscheuen, diese Konse-
quenz auf sich zu nehmen und mit Hilfe von dialektischen oder meta-
physischen Konstruktionen darüber hinwegzukommen suchen. Beson-
dere Schwierigkeiten macht für den Solipsisten das sogenannte „Du-
P r 0 b 1 e m". Dieses besteht darin, daß der Solipsist seinem Mit-
menschen kein Bewußtsein beilegen darf, weil dieser Mitmensch da-
durch ein selbständiges Wesen wird, dessen Existenz sich dann nicht
mehr darin erschöpfen würde, daß er Bewußtseinsinhalt eines anderen
ist. Der Mitmensch, der Bewußtsein hat, bekommt dadurch auch
selbst Bewußtseinsinhalt und wird so zu einem von mir unabhängigen
Bewußtseinszentrum. Anderseits will doch kein Philosoph sich ernst-
lich zu der absurden Annahme versteigen, daß er selbst ein vorstellen-
des und denkendes Wesen sei, während alle anderen Menschen nur
mechanische Automaten sein sollen. Die Vertreter des Idealismus
54 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
suchen deshalb die verschiedensten Auswege aus diesem Dilemma. Nur
ganz vereinzelte Denker haben den Mut gehabt, mit dem Solipsismus
' rast zu machen. Ich habe in meinem Buche „Der kritische Idealis-
mus und die reine Logik", S. 21 — 67, diese Darstellungen und Argu-
mente s,,\\iL- auch die Auswege und Ausflüchte der Idealisten aus-
führlich besprochen und als unhaltbar zu erweisen versucht. Indem
ich den 1 eser auf diese Ausführungen verweise, glaube ich hier sagen
zu können, daß der erkenntniskritische Idealismus, insofern er die bloße
Phänomenalitat der Außenwelt behauptet, dadurch als widerlegt gelten
kann, daß er unbedingt zum Solipsismus führt.
I Mes haben denn auch die meisten Vertreter des Idealismus still-
schweigend dadurch zugegeben, daß sie ihre Denkarbeit nicht mehr
auf den Nachweis der Phänomenalität der Welt richten, sondern ein
anderes Merkmal des Kritizismus zur Hauptsache machen. Wir haben
bereits oben gesagt, daß jeder kritische Idealismus zugleich
\priorismus ist. Darunter verstehen wir die Überzeugung, daß
die menschliche Vernunft die Fähigkeit besitzt, aus sich heraus durch
unanschauliches Denken unabhängig von der Erfahrung objektive und
allgemein gültige Erkenntnisse zu gewinnen. Diese dem reinen Denken
zugeschriebene Kraft weiter zu entwickeln, ihren Anteil an den Ergeb-
nissen der positiven Wissenschaft, besonders der mathematisch-natur-
wissenschaftlichen Disziplinen herauszuarbeiten und so zu einer kriti-
schen Grundlegung der menschlichen Erkenntnis zu gelangen, das ist
die Aufgabe, die von den Idealisten neukantianischer Richtung der
kritischen Philosophie gestellt wird. Richtunggebend sind hier die
\rbeiten Hermann Cohens und der von ihm begründeten Marburger
Schule*). Cohen übernimmt von Kant nichts anderes als nur die
„transzendentale Methode", das heißt das Aufsuchen der apriorischen
I lemente in unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen, geht aber in der
Anwendung dieser Methode weit über Kant hinaus. So gibt Cohen
keineswegs zu, daß dem reinen Denken sein Stoff von der Sinnlichkeit
geliefert werde, woran Kant streng festgehalten hatte. Das reine Den-
ken ist vielmehr selbstschöpferisch und erzeugt infolge der ihm inne-
wohnenden Zeugungskraft selbst die realen Gegenstände der Wissen-
schaft. Als lehrreiches Beispiel benutzt hier Cohen den Begriff des
Unendlich-Kleinen oder des Differentials, mit dessen Hilfe die Mathe-
matik die Gesetze des kosmischen Geschehens, soweit sie mechanisch
sind, erkannt und berechnet hat. Dieses wichtige Denkmittel stammt
nicht aus der Anschauung, sondern ist durch reines Denken geschaffen
worden. Erst dadurch, daß man die Größen und die Bewegungen in
diese unendlich kleinen Teile zerlegt hat, sind sie zu realen und erkenn-
baren Gegenständen geworden. Man wird nun, meint Cohen, bei allen
wissenschaftlichen Erkenntnissen finden, daß nur die im reinen Denken
erzeugbaren Vorgänge es sind, die diesen Erkenntnissen Objektivität
und Allgemeingültigkeit sichern. Damit wird aber das Denken zum
eigentlichen Schöpfer des Seienden und „Nur das Denken selbst kann
•) Fiiiie vortreffliche Übersicht über die kritischen und systematischen
Leistungen Cohens enthält das ihm zu seinem siebzigsten Geburtstage gewidmete
l .-^trieft der Zeitschrift „Kantstudien" XVII. 3, 1912.
§ 20. Würdigung des erkenntniskritischen dealismus 55
erzeugen, was als Sein gelten darf". (Cohen, Logik der reinen Er-
kenntnis, S. 17.)
Mit großer Kraft, mit hohem Mut und mit rücksichtsloser Kon-
sequenz verteidigt und entwickelt Cohen diese schöpferische Fähigkeit
des reinen Denkens und eine nicht geringe Zahl von Anhängern und
Schülern erblickt in diesen Gedankengängen eine neue, überaus frucht-
bare Grundlegung der Philosophie. Gegen diesen idealistischen
Aphorismus ist nun allerdings der Einwand des Solipsismus gegen-
standslos. In jedem einzelnen Menschen wohnt ja diese überindividuelle
reine Vernunft, die der Philosoph herausstellt und zum Bewußtsein
bringt. Allein zwei andere, schwerwiegende Einwände erheben sich
gegen diesen Apriorismus, die sich kaum dürften widerlegen lassen.
Es ist nämlich erstens durchaus nicht erwiesen, daß in den Ergeb-
nissen der exakten Wissenschaften der von Außen gegebene Empfin-
dungsstoff eine so geringe Rolle spiele. Wenn auch die denkende Be-
arbeitung das meiste leistet, so ist dieser Bearbeitung doch durch die
Art der Sinnesaffektion die Richtung gegeben. Zweitens aber vermag
der Apriorismus nicht auf dem Boden der Erkenntniskritik stehen zu
bleiben, sondern wird zu Aufstellungen gedrängt, die ins Unerfahrbare,
ins Transzendente, ins Metaphysische führen. Die Frage läßt sich näm-
lich nicht abweisen, woher das reine Denken stammt, und wie es zu
seiner Schöpferkraft kommt. Die Ergebnisse und Fortschritte der posi-
tiven Wissenschaften können diese Frage weder beantworten, noch aus
der Welt schaffen. Diese Fortschritte ließen sich ja auf die stets wach-
sende Erfahrung zurückführen, die von unserem Verstände stets besser
geordnet und gedeutet wird. Eine solche Auffassung dürfte den
meisten sogar als die wahrscheinlichere und näherliegende erscheinen.
Eine derartige Erklärung würde jedoch dem Grundsatze des Aprioris-
mus zuwiderlaufen. Man muß also in der Struktur des Menschen-
geistes irgend etwas ursprünglich Gegebenes annehmen, das ihn zu
seinem schöpferischen Denken befähigt. Er besitzt diese Gabe vielleicht,
weil er ein Teil des göttlichen Geistes ist. Ich muß offen sagen, daß ich
persönlich in solchen Hypothesen nichts Unwissenschaftliches sehe,
jedenfalls aber sind derartige Begründungen nicht mehr erkenntnis-
kritisch, sondern metaphysisch und dogmatisch. Eine latente Meta-
physik steckt aber in jedem Apriorismus. Darauf habe ich auf dem
Heidelberger Philosophenkongreß bereits hingewiesen *), und das hat
auch jüngst einer der angesehensten Vertreter des Apriorismus zu-
gegeben. Windelband, der einen Apriorismus anderer Art vertritt, sagt
in der oben zitierten Abhandlung über die Prinzipien der Logik (Enzy-
klopädie der philosophischen Wissenschaften, L, S. 4), es sei begreif-
lich, daß die metalogische Spekulation keinen anderen Weg ein-
schlagen kann, als den einer spiritualistischen Meta-
physik.
Ein charakteristisches Merkmal des Apriorismus ist ferner seine
entschiedene Gegnerschaft gegen jede psychologische Aufhel-
*) Verhandlungen des 3. internationalen Kongresses für Philosophie in
Heidelberg, 1908, S. 806 ff.
56 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
hing des Erkenntnisprozesses. Manche Vertreter dieser Richtung gehen
darin so weit, dal) sie jeden Psychologismus nicht nur aufs
schärfste bekämpfen, sondern diesen Standpunkt als eine philosophische
Minderwertigkeit, als einen intellektuellen Defekt betrachten. Dadurch
aber versperren sie sich und anderen den Weg zu wirklich frucht-
bringenden Untersuchungen. Hier liegt, glaube ich, eine Selbst-
täuschung der kritischen Idealisten vor. Schließlich gründen sich ihre
Behauptungen und Darlegungen doch auf nichts anderes, als auf ihre
eigenen, tief innerlichen Denkerlebnisse. Das aber sind in
letzter Linie doch immer wieder psychologisch gefundene Tatsachen.
Wenn es einem hervorragenden Denker dann gelingt, eine Schule zu
munden, dann bestärken sich die Anhänger gegenseitig in ihren Über-
zeugungen und das individuelle psychische Erlebnis wird zu einer
seelischen Verdichtung, die objektive Geltung zu haben scheint. Der
\nti-Psychologismus der Aprioriker steht also mit ihrem eigenen Ver-
fahren im Widerspruch und wirkt überdies bahnsperrend, da er
die wichtigsten Probleme, welche die psychologische Betrachtung des
1 rkenntnisprozesses zutage fördern könnte, verhüllt und verdeckt.
Der erkenntniskritische Idealismus vermag also weder in seiner
phänomenalistischen, noch in seiner apriorischen Richtung eine be-
friedigende Lösung des Erkenntnisproblems zu geben. Der Phänome-
nalismus nicht, weil er, wie gezeigt wurde, zum Solipsismus führt.
Der Apriorismus nicht, weil er der sinnlichen Wahrnehmung nicht
gerecht wird, weil er auf uneingestandenen metaphysischen Voraus-
setzungen beruht und dadurch dogmatisch wird, und endlich auch des-
halb nicht, weil er durch seine Gegnerschaft gegen die Psychologie das
I »enken vollkommen isoliert, aus dem Lebenszusammenhang reißt und so
die wichtigste Quelle der Aufklärung über das Wesen, die Entstehung
und Bedeutung der menschlichen Erkenntnis verstopft und verschüttet.
Es fragt sich nun, wie eine solche, dem gesunden Menschen-
verstand widerstrebende, im praktischen Leben auch für den Idealisten
nicht durchführbare Deutung des Erkenntnisprozesses entstehen
konnte. Wir haben bereits oben gesehen, daß die Erkenntniskritik mit
der Konstatierung des subjektiven Faktors beginnt, und daß im Laufe
ihrer Entwicklung dieser subjektive Faktor immer größer und größer
i einen, bis endlich der objektive Faktor ganz eliminiert wurde.
Daß dies geschehen konnte, gründet sich auf eine Tatsache, die
ich schon anderswo hervorgehoben habe*). Alle Triebe des Menschen
haben eine Tendenz, sich weiter zu entwickeln, als es die Lebenserhal-
tung selbst fordert. Der Erkenntnistrieb ist, wie wir unten zeigen wer-
den, aus dem Selbsterhaltungstrieb entstanden, hat sich aber weiter ent-
wickelt und nach und nach das gewaltige Gebäude der theoretischen
Wissenschaft errichtet. Es kann nun vorkommen, daß einzelne Organe
und Funktionen unseres Organismus durch übermäßige Betätigung
»ich auf Kosten der anderen Organe und Funktionen so weit entwickeln,
daß dadurch eine Schädigung des Ganzen entsteht. Wir sprechen dann
i einer Hypertrophie des betreffenden Organes oder der be-
> Vgl Jerusalem, Urteilsfunktion, S. 232.
§ 21. Der kritische Realismus 57
treffenden Funktion. So gelangen z. B. bei leidenschaftlichen Turnern
oft einzelne Muskeln zur Hypertrophie. Der erkenntniskritische Idealis-
mus hat nun die abstrakte Spekulation einseitig gepflegt, hat das
Denken isoliert, aus seinem Lebenszusammenhang herausgerissen und
so immer mehr positive Erkenntnisse aus der eigenen Vernunft heraus-
zuspinnen versucht. Ohne Rücksicht auf die anderen seelischen Vor-
gänge betrachtete er das theoretische Denken als die allein maßgebende
Funktion und stellt sich somit dar als eine Hypertrophie des
Erkenntnistriebes. Diese durchaus ungesunde, das Erkennt-
nisorgan und die gesamte geistige Entwicklung schädigende Hyper-
trophie muß zur Rückbildung gebracht werden. Es ist deshalb höchste
Zeit, daß wir zur Anschauung des gesunden Menschenverstandes zu-
rückkehren, die Welt mit den Menschen, die darin wohnen, als selbstän-
dig und unabhängig vom erkennenden Subjekte existierende Wesen-
heiten betrachten, der Erfahrung ihr Recht werden lassen und das Er-
kennen als einen Teil des Lebens erfassen lernen, des Lebens, dem die
Erkenntnis entspringt und dem sie zu dienen berufen ist. Das aber ist
der Standpunkt des kritischen Realismus.
§ 21. Der kritische Realismus
Der kritische Realismus nähert sich der Anschauung des gesun-
den Menschenverstandes. Er unterscheidet sich vom naiven Realis-
mus, indem er den Glauben an die reale Existenz der wahr-
genommenen Welt nicht ungeprüft hinnimmt, sondern sich diesen
Glauben durch Überwindung der Gegenargumente erarbeitet und den-
selben nach den Forderungen der Erkenntniskritik modifiziert.
Vom Standpunkte des kritischen Realismus sind die Vorgänge in
der Natur und im menschlichen Bewußtsein objektiv vorhanden und
existieren ganz unabhängig vom erkennenden Subjekte. Was wir mit
objektiver Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit wahrnehmend und den-
kend erkennen, das ist ein Produkt aus einem objektiven, von uns un-
abhängigen Faktor und unserer eigenen physischen und psychischen
Organisation. Die Data unserer Sinne sind auch für den kritischen
Realismus nur Erscheinung, aber sie sind Erscheinung von etwas Wirk-
lichem, selbständig Existierendem. Das Blatt ist grün, heißt im Sinne
des kritischen Realismus soviel als : Dieses Blatt besitzt die Eigenschaft,
in einem menschlichen Auge unter entsprechender Beleuchtung die
Farbenempfindung Grün hervorzurufen. Grün ist ohne ein Auge, das
sieht, ganz inhaltslos, allein die Bedingungen zur Grünempfindung
bleiben auch ohne Licht und Auge bestehen. Diese Bedingungen
kommen dem Blatte objektiv zu.
Der kritische Realismus sagt nicht wie der naive: Die Dinge sind
s 0, wie sie uns erscheinen, sondern er sagt : Sie sind auch so.
Was wir wahrnehmen und denkend erkennen, das ist eine Seite
des wirklichen, unabhängig von uns sich voll-
ziehenden Geschehens, und zwar die einzige uns zugäng-
liche, aber auch die einzige für uns bedeutungsvolle Seite. Wie die-
selben Vorgänge einem anders organisierten Wesen erscheinen mögen.
I rkenntniskritik und Erkenntnistheorie
das isl allerdings nicht auszuklügeln, allein es läßt sich gar nicht
sagen, wie gleichgültig das für uns ist. Das „Ding an sich" Kants ist
also nicht vollständig unerkennbar, es bietet uns vielmehr die uns zu-
gängliche Seite dar, und die Forschung ist bemüht, immer neue Seiten
zugänglich zu machen.
Die Röntgen-Strahlen waren für das Auge unerkennbar, und doch
ist ihre 1 xistenz durch ihre so merkwürdige Wirkung erkannt worden.
So werden gewiß noch viele in der Natur vorhandene Kräfte ihr Dasein
dem Forscher durch ihre Wirkungen verraten und damit werden neue
Seiten des „Dinges an sich" der Menschheit offenbar werden.
Der kritische Idealismus läßt die Fragen nach der Entstehung und
I ntwicklung der Erkenntnis unerörtert, weil es ihm um die Festlegung
der Bedingungen ihrer objektiven Geltung und um die Betonung ihres
apriorischen Charakters zu tun ist. Der kritische Realismus hingegen
läßt kein a priori gelten, sondern stützt sich ganz auf die Erfahrung
und ist, wie bereits gesagt wurde, deshalb zugleich Empirismus. Hier
erhebt sich nun die Frage, aus welchen Elementen Erfahrung b e-
steht und entsteht, wie sie sich weiter entwickelt, in welchem Zu-
sammenhang die Erkenntnis mit den anderen Kulturfaktoren des
menschlichen Lebens steht, und welches die letzten Ziele des mensch-
lichen Erkennens sind. Mit diesen Problemen aber beschäftigt sich,
wie oben gesagt wurde, die Erkenntnistheorie.
§ 22. Entwicklung und Richtungen der Erkenntnistheorie
Die Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, Ursprung und Entwick-
lung der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen und dabei die ele-
mentaren Vorgänge zu bestimmen, aus denen sich der sehr komplizierte
I rkenntnisprozeß zusammensetzt.
Von der Erkenntniskritik unterscheidet sich die Erkenntnistheorie
dadurch, daß die Kritik die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis
aufwirft, während die Theorie die Tatsache, daß erkannt wird, voraus-
setzt, dieselbe in ihrer Entwicklung und ihrer Gesetzlichkeit zu er-
forschen und auch den Zusammenhang des Erkennens mit dem übrigen
Seelenleben bloßzulegen unternimmt. Mehrfach fallen jedoch beide
philosophischen Disziplinen zusammen. Sie haben die Frage nach den
i neu/eil menschlicher Erkenntnis gemeinsam und werden daher viel-
lach in eine Disziplin zusammengefaßt. Die von uns eingeführte Tren-
nung dürfte dazu beitragen, das Verständnis der Probleme zu er-
leichtern.
Die Erkenntnistheorie ist in der Geschichte der Philosophie später
aufgetreten als die Erkenntniskritik. Schon die Eleaten und nach ihnen
die Atomistiker (fünftes Jahrhundert v. Chr.) haben die Erkenntnis-
fähigkeit der Sinne geleugnet, aber keinen Versuch gemacht, die Ent-
stehung der Erkenntnis zu erklären. Noch energischere Kritik finden wir
bei dm sogenannten Cyrenaikern (viertes Jahrhundert v. Chr.), welche
Fast schon den Phänomenalismus lehren. Dagegen ist ein nennenswerter
Versuch, Ursprung und Entwicklung der Erkenntnis zu erklären, erst
von Aristoteles unternommen worden, aber gleich in umfassender Weise.
§ 23. Der Sensualismus 59
Ebenso haben die Stoiker die Entstehung der Erkenntnis untersucht
und nach dem Kriterium der Wahrheit gefragt.
Dennoch blieb es erst der neueren Zeit vorbehalten, eine wissen-
schaftliche Erkenntnistheorie auszubilden. John Locke (1632—1704)
hat hier den mächtigsten Anstoß gegeben, und Berkeley sowie Hume
haben weitergearbeitet. Kant ist auch da von grundlegender Bedeu-
tung, indem er die Unentbehrlichkeit erkenntnistheoretischer Unter-
suchung für alle Zeit festgestellt hat.
In der „Kritik der reinen Vernunft" hat Kant zwei Quellen der
Erkenntnis scharf voneinander gesondert, schärfer vielleicht, als es der
psychologische Tatbestand zulässig erscheinen läßt. Es sind dies
Sinnlichkeit und Verstand. Diese Zweiteilung ist maßgebend
für die Hauptrichtungen der Erkenntnistheorie.
Auf die Frage, woher unsere Erkenntnis stamme, sind zunächst
zwei verschiedene Antworten gegeben worden. Die eine bezeichnet die
Sinne als die wichtigste, ja als die einzig zuverlässige Erkenntnis-
quelle. Diese Denkrichtung heißt Sensualismus. Die andere
meint, bloß durch abstraktes, begriffliches Denken seien
sichere Erkenntnisse zu gewinnen, während die Sinne nur chaotische,
verworrene Eindrücke liefern. Diese Denkrichtung pflegt man Ratio-
nal i s m u s zu nennen. Da jedoch dieser Terminus vielfach in anderem
Sinne gebraucht wird, indem man darunter die vernunftgemäße Er-
klärung der Wundererscheinungen versteht, so wird es sich empfehlen,
die dem Sensualismus entgegengesetzte erkenntnistheoretische Richtung
lieber als Intellektualismus zu bezeichnen.
Neben diesen einseitigen Richtungen macht sich immer mehr die
Überzeugung geltend, daß Erkenntnis durch das Zusammenwir-
ken von Wahrnehmen und Denken zustande komme. Für diese kom-
binierende Richtung, die gewiß allein den Tatsachen entspricht, hat
sich kein bestimmter Terminus herausgebildet, was begreiflich ist, da
innerhalb derselben die verschiedensten Anschauungen Platz finden.
Alle bisherigen Erkenntnistheorien haben sich darauf beschränkt,
Ursprung und Entwicklung der Erkenntnis im Menschen als Einzel-
wesen zu untersuchen, das heißt insofern der Mensch seiner Umgebung
gegenübersteht und auf die Reize reagiert, die auf ihn einströmen. Die
moderne Völkerkunde macht es aber unzweifelhaft, daß nicht nur für
die Mitteilung, sondern auch für das Zustandekommen der Erkenntnis
das Zusammenleben und der Verkehr von großer Bedeutung sind. In
bezug auf die Sprache ist dies längst erkannt und die erkenntnistheo-
retische Bedeutung der Sprache ist eingehend untersucht worden. Aber
auch sonst gibt es zweifellos einen sozialen F a k t o r in der Er-
kenntnisentwicklung, mit dessen Untersuchung sich die Wissenschaft
noch lange nicht ausreichend beschäftigt hat.
§ 23. Der Sensualismus
Sensualistisch ist in gewissem Sinne der nicht philo-
sophierende Verstand, insofern dieser als sicherste Quelle der Erkennt-
nis die sinnliche Wahrnehmung betrachtet. Das griechische Wort
50 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
oida = „ich weiß" ist eine Perfektbildung vom Stamme id, welcher
„sehen" bedeutet. Wissen ist demnach für das griechische Volksbewußt-
sein ursprünglich soviel als „gesehen haben". Ein interessanter Beleg
für diese volkstümliche Auffassung ist die Stelle in Homers Ilias, II,
48 1 ii , wo der Dichter die Musen anruft, die bei allem zugegen waren
und es datier wissen. Charakteristisch für diese Denkstufe ist übrigens
auch die Identifizierung von Wahrnehmen und Denken, welch letzteres
als eine An von Siniieswahrnehmung gilt. Diese Auffassung findet sich
sogar noch in der älteren griechischen Philosophie.
Sensualismus im philosophischen Sinne ist jedoch erst da vor-
handen, wo die Sinne allein im Gegensatze zum Verstände als einzige
Erkenntnisquelle betrachtet werden. Sensualist in diesem Sinne ist der
Sophist Protagoras (gest. 411 v. Chr.), welcher gegenüber der Ver-
werfung des Sinnenzeugnisses durch die Eleaten entschieden ausspricht,
daß nur das existiert, was wir sinnlich wahrnehmen, und der sogar die
Wahrheit geometrischer Sätze bestreitet, wenn dieselben der sinnlichen
Wahrnehmung zu widersprechen scheinen *).
In neuerer Zeit hat John Locke den Sensualismus wieder auf-
genommen, indem er auf den sinnlichen Ursprung aller Erfahrung hin-
wies. Dadurch aber, daß Locke auch eine innere Wahrnehmung (reflec-
tion) zugibt, ist sein Sensualismus nicht mehr ganz rein. Der aus-
gesprochenste Sensualist in der neueren Philosophie ist der Franzose
Condillac (1715 — 17S0). Nach Condillac hat die Seele nur ein ein-
ziges Vermögen, nämlich das der sinnlichen Empfindung, aus welchem
sich die komplizierteren Denkprozesse entwickeln. Condillac bedient sich
zur Veranschaulichung seiner Theorie der Fiktion einer Statue, welche
nach und nach die verschiedenen Sinne erhält. Zuerst bekommt sie den
1 ieruchssinn und zuletzt den Tastsinn, welcher die Vorstellung der
Außenwelt erzeugt.
Nachdem der Sensualismus durch die großen intellektualistischen
Systeme von Kant, Fichte, Schell ing, Hegel eine Zeitlang vollständig
verdrängt worden war, kommt er in der modernen Wissenschaft und
Philosophie wieder einigermaßen zur Geltung. Die Überzeugung, daß
die sinnliche Wahrnehmung die letzte Quelle aller Erfahrung bilde,
wird immer allgemeiner. Wenn, wie Kirchhoff und Mach wollen, die
Wissenschaft nur die Aufgabe hat, dieTatsachenzubeschrei-
ben, und nach Machs Formulierung nichts anderes ist als ökono-
misch geordnete Erfahrun g, so ist dies in gewissem Sinne
Sensualismus. Wenn sich nun zeigen läßt, daß auch das wichtigste
Denkmittel, das zur Beschreibung und ökonomischen Ordnung ver-
wendet wird, nämlich die Mathematik, selbst wieder in letzter Linie auf
sinnliche Anschauung zurückgeht, so wird die Auffassung noch sen-
Mialistischer. In der Tat beruht die Geometrie, trotz aller neueren
Bestrebungen, die Anschaulichkeit aus ihr zu entfernen, in letzter
) Die hier zugrunde gelegte Auffassung von Profasjnras' Lehren weicht
von der üblichen, in den meisten Geschichten der Philosophie enthaltenen
wesentlich ab. Vj,ri. darüber Gomoerz, Griechische Denker, Band I, S. 362 f., und
W. Jerusalem, Zur Deutung des Homo-mensura-Satzes in „Eranos Vindobonen-
sis" (18 153 if.
§ 24. Der Intellektualismus 61
Linie doch nur auf sinnlicher Wahrnehmung. Aber auch die ganz
abstrakte Arithmetik wäre nicht möglich, wenn nicht kleine gleich-
zahlige Gruppen von Objekten durch die sinnliche Wahrnehmung als
einheitliche Inbegriffe erkannt worden wären. Der Sensualismus hat
auch sicherlich darin recht, daß er, soweit physische Phänomene in Be-
tracht kommen, die Sinneswahrnehmung als ursprünglichste Quelle
und letzte Instanz der Erfahrung ansieht. Er übersieht aber einerseits,
daß daneben in der Beobachtung der selbst erlebten psychischen Phäno-
mene eine zweite, nicht minder sichere Quelle der Erfahrung gegeben
ist, und daß anderseits in die sinnliche Wahrnehmung unbemerkt
höhere, das heißt kompliziertere psychische Phänomene mit einfließen.
§ 24. Der Intellektualismus
Die Tatsache der Sinnestäuschungen, sowie die der individuellen
Verschiedenheit von Sinneseindrücken hat die Philosophie früh dazu
geführt, die Sinne nicht als reine Erkenntnisquelle zu betrachten. Viel-
mehr glaubte man, durch abstraktes, von der Sinnenwelt ab-
gekehrtes, sich in sich selbst versenkendes Denken das
wahre Wesen der Dinge mit Sicherheit erfassen zu können. Der Intel-
lektualismus hat sich infolgedessen früh ausgebildet.
Wie schon öfters bemerkt wurde, glaubten die E 1 e a t e n, daß
nur durch unsinnliches Denken die wahre Welt erkannt werde.
Ihren Spuren folgt Piaton, bei dem noch die Vorstellung dazu kommt,
daß die Seele im Körper wie in einem Gefängnis wohne, daß sie durch
Berührung mit Körperlichem verunreinigt werde, und daß nur durch
vollständige Abkehr von der Körperlichkeit wahre Er-
kenntnis möglich werde.
Im Anschluß an diese Auffassung Piatons erklärt der heilige
Augustinus, unser Geist wisse nichts so gewiß als das, was ihm gegen-
wärtig sei, und nichts sei ihm so gegenwärtig wie er sich selbst. (Nihil
tarn novit mens, quam id, quod sibi praesto est, nee menti magis quid-
quam praesto est, quam ipsa sibi. De trinitate 14, 7.) Diesen Gedanken
machte dann Descartes zur Grundlage aller Philosophie, indem er das
Wissen vom eigenen Denken als die einzig gewisse, ganz unbezweifel-
bare Tatsache hinstellt. Am meisten wurde aber die in den Behaup-
tungen des heiligen Augustinus und in dem Satze von Descartes
(cogito, ergo sum) enthaltene intellektualistische Auffassung des Er-
kenntnisprozesses gefördert durch die allmähliche Verbreitung der
kopernikanischen Weltanschauung. Wer diese aner-
kannte, der mußte zugeben, daß das Zeugnis der Sinne, welches uns
sagt, daß die Erde ruht, und daß die Sonne täglich auf- und nieder-
geht, gegenüber der sieghaften Macht des kopernikanischen Gedankens
nicht aufrecht erhalten werden könne. Die aufblühende Mathematik
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, in der die unanschau-
liche Arithmetik sich mächtiger erwies als die anschauliche Geometrie,
trug ebenfalls viel dazu bei, das abstrakte Denken als Erkenntnisquelle
über die Sinne zu stellen. Die Quelle dieser so unzweifelhaft gewissen
mathematischen Urteile suchte damals niemand in der sinnlichen An-
62 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
schauung, sondern man glaubte allgemein, daß hier die Vernunft ganz
aus sich selbsl schöpfe und rinn deshalb, weil sie ganz unbeeinflußt
bleibe m Blendwerk der 1 rscheinung, mit so absoluter Sicherheit
arbeite.
Kants Verdiene bleibt es, nach der Berechtigung dieses Glaubens
zum erstenmal gefragt zu haben. „Wie ist reine Mathematik möglich?"
laul te I ragestellung und die Antwort fällt nicht ganz intellek-
tualistisch aus. Die Sinne liefern nach Kants Überzeugung den Stoff
der 1 rkenntnis und regen erst dadurch den Verstand zur Ausübung
der ihm angeborenen Funktionen an. Erkenntnis kommt aber doch erst
dadurch zustande, daß der von den Sinnen gelieferte Stoff vom Ver-
sande geformt wird. Der Verstand erteilt der Natur seine eigene Ge-
setzmäßigkeit und wird dadurch nach Kants bekanntem Ausspruch
um Gesetzgeber der Natur. Kant geht aber noch einen wichtigen
Sehritt weiter. Der Verstand hat nach ihm das Recht, mit seinen Stamm-
begritten ( Kategorien) über die anschauliche Grundlage hinaus weiter
u operieren, wobei „der Gedanke vom Objekt übrigens noch immer
e wahren und nützlichen Folgen auf den Vernunftgebrauch des
Subjektes haben kann". (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., § 27, III,
135 in der Harte/iste irischen Ausgabe.) Von dieser partiellen Voll-
macht, die hier Kant dem Verstände erteilt, hat dann Hegel einen so
;ui\giebigen Gebrauch gemacht, daß der Intellekt nicht mehr bloß der
-etzgeber, sondern geradezu der Schöpfer der Natur wurde. Das
Wesen der Welt ist nach Hegel geistig und unsere Begriffe stellen in
ihrer dialektischen Entwicklung das Weltgeschehen dar.
Damit ist der Intellektualismus auf die Spitze getrieben, und unser
Denken hat sich von seiner stofflichen Grundlage, der Sinneswahr-
nehmung, ganz entfernt. Es ist demgemäß nur natürlich, daß unsere
Denkrichtung wieder scnsualistischer geworden ist.
Der Intellektualismus hat zweifellos darin recht, daß jede Sinnes-
wahmehmung von unserem Verstände geformt werden muß, damit
wahre und brauchbare Erkenntnis entstehe. Diese formende und
b e z i e h e n d e T ä t i g k e i t des Denkens hat im Laufe der Zeit zahl-
reiche Formen und Denkmittel geschaffen, die uns gleichsam in Fleisch
und Blut übergegangen sind. Solche sind unter anderen der Begriff
des Dinges mit mehreren Merkmalen oder Substanz und Attri-
b u t, und ein solches ist ferner der Kausalbegriff, den wir auf
jedes Geschehen anzuwenden nicht umhin können. Da geschieht es nun
leicht, daß man solche Begriffe als Ur besitz des Verstandes an-
.t und Für angeboren hält. Die Annahme angeborener Stammformen
r Kategorien hat aber immer sehr viel Mißliches und enthält starke
l fnbegreiflichkeiten. Deswegen muß an die Stelle solcher Annahmen die
Metische Analyse der formenden Verstandes-
tätigkeil treten, um den erfahrungsmäßigen Ursprung jener
Formen zu ermitteln.
Bevor wir jedoch diese Analyse selbst vornehmen, müssen wir noch
auf einige andere Richtungen der Erkenntnistheorie aufmerksam
machen, die neben dem Sensualismus und Intellektualismus hervor-
getreten sind. Unter dem Einfluß religiöser Bedürfnisse hat sich bei
§ 25. Der Mystizismus und die Intuition 63
alten und neueren Denkern der Glaube ausgebildet, daß der Mensch
außer den Sinnen und dem Verstände noch eine eigene Art innern
Sehvermögens besitze, das ihn befähigt, das Übersinnliche un-
mittelbar zu erkennen und sich mit ihm zu verbinden. Die religiös-
philosophische Denkrichtung, die von solchem Glauben erfüllt ist, nennt
man im allgemeinen „Mystizismu s". Für das innere Schauen, das
die Anhänger dieser Richtung zu erleben glauben, ist das Wort „I n-
t u i t i o n" der übliche Ausdruck geworden. In neuerer Zeit nun wurde
versucht, die Intuition ihres mystischen Charakters zu entkleiden und
zu einer wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnisquelle zu gestalten.
Wir besprechen diese Denkrichtung deshalb unter der Überschrift
„Mystizismus und Intuition".
§ 25. Der Mystizismus und die Intuition
Von Piaton wird öfter der Gedanke ausgesprochen, daß die
menschliche Seele, bevor sie mit dem Körper vereinigt war, oder wenn
sie sich von ihm durch gewaltige innere Anstrengung loslöst, absolut
gewisse und wahre Erkenntnisse besitzt. Wir wissen vieles, was wir im
Leben aus der Erfahrung nicht gelernt haben, und dieses Wissen ist
nichts anderes als eine E r i n n e r u n g, die die Seele aus der Zeit her
bewahrt, wo sie noch nicht in das Gefängnis des Körpers eingekerkert
war. Piaton hat diese Lehre von der seit dem sechsten Jahrhundert
v. Chr. in Griechenland verbreiteten Sekte der Orphiker übernommen
und philosophisch weiter entwickelt. Der Wunsch aber, die Seele vom
Körper loszulösen, geht aus tiefem religiösen Bedürfnis hervor und hat
tiefgehende religiöse Bewegungen hervorgerufen. Die Orphiker haben
in ihren Geheimkulten oder Mysterien zum Zwecke der Erlösung
der Seele nach dem Tode viele Zeremonien ausgebildet und Gedanken
entwickelt, die uns im Christentum wieder begegnen.
Die Neupythagoreer und Neuplatoniker, die vom ersten Jahrhun-
dert v. Chr. an in der griechischen und römischen Welt großen Einfluß
gewannen, haben dann den Mystizismus zu einem philosophischen
System ausgestaltet. Der weitaus bedeutendste Vertreter dieser Rich-
tung ist Plotin (204—269 n. Chr.). In den 54 Abhandlungen Plotins,
die sein Schüler Porphyrius in sechs „Enneaden" (das heißt Bücher,
die aus neun Aufsätzen bestehen) geordnet hat, liegt ein philo-
sophisches System von großer Tiefe und geschlossener Einheit vor uns.
Plotin, der mit den Lehren des Plato, des Aristoteles, sowie auch der
anderen griechischen Denker gründlich vertraut ist, betrachtet die Gott-
heit oder das All-Eine als das Urwesen, aus dem in steter Stufenfolge
der Geist, die Ideen, die Seele und endlich die Sinnenwelt, die er als
ein Nicht-Seiendes ansieht, hervorgehen. Die höchste Erkenntnis und
zugleich die höchste Seligkeit erlangt der Mensch, wenn es ihm gelingt,
seine Seele nicht nur über die Sinnenwelt, sondern auch über das
Denken emporzuheben und sich ganz mit dem Urwesen, mit dem All-
Einen zu verbinden. In diesem Zustande des „Aus-sich-Heraustretens",
der „E k s t a s e", den Plotin mehrmals selbst erlebt zu haben berichtet,
findet die Seele ihr tiefstes Selbst, ihr Mittelpunkt fließt mit dem Mittel-
64 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
punkt der Gottheit in Lins zusammen, hier ist ewige Ruhe und innigstes
Selbstgenießen. Die ergreifende Schilderung, die uns Platin von diesem
Zustande der innigen Berührung der Seele mit Gott hinterlassen hat
(VI. ">, enthält die wichtigsten Grundgedanken der philosophischen
Mystik. Im Altertum verdienen neben Ploün noch Jamblichus und
Proklus genannt zu werden.
Im Mittelalter entsteht neben der dogmatischen, in ein strenges
1 ehrsystem gebrachten Theologie der katholischen Kirche aus dem
Bedürfnis nach vertiefter persönlicher Frömmigkeit heraus die
überaus gefühlsstarke christliche Mystik, welche durch die
über alle Fassungskraft des Verstandes hinausgehenden Glaubens-
sätze der Trinität, der unbefleckten Empfängnis, der Auferstehung
mächtig angeregt wird, nach neuen, tieferen Quellen der Erkenntnis
zu suchen und ähnlich wie Ploün in der auf inneres Schauen
gegründeten Vereinigung mit Christus das höchste Ziel menschlicher
Erkenntnis und Seligkeit erblickt. Auch die jüdische Geheimlehre der
Kabbala strebt, von neuplatonischen Gedanken beeinflußt, den innigen
Anschluß an Gott (Dibbuk) durch Abkehr vom Irdischen, durch
strenges Fasten und inniges Gebet herbeizuführen.
Der Aufschwung der exakten Wissenschaften im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert und die dadurch entstandene Aufklärung
drängten die mystische Gedanken- und Gefühlsrichtung zwar einiger-
maßen zurück, vermochten sie aber keineswegs ganz zu unterdrücken.
Swedenborgs Auftreten im achtzehnten Jahrhundert hat selbst auf die
aufgeklärtesten Geister seine Wirkung nicht ganz verfehlt. In der
deutschen Romantik finden wir sehr deutliche Spuren mystischer Ge-
danken und Gefühlsrichtungen, und in der neuesten Zeit bildet sich so-
gar eine Art wissenschaftlicher Mystik aus, die unter dem Namen
Okkultismus oder Theosophie auftritt und die Fähigkeit des
Menschen, sich mit einem übersinnlichen Geisterreich in Verbindung zu
setzen, durch eine Art methodischer Forschung zu erweisen sucht. Die
in London bestehende „Society for Psychical Research" (S. P. R.), das
heißt Gesellschaft für Seelenforschung, wirkt in diesem Sinne und hat
schon viele Bände solcher Untersuchungen publiziert.
Die Mystik berührt sich nahe mit dem künstlerischen
S ch a f f e n, denn auch der Künstler muß sich lebhaft in den Gegen-
stand seiner Darstellung einfühlen, sich gleichsam mit demselben
innerlich vereinigen. Ebenso gibt es beim Mystiker wie beim Künstler
eine Art inneren Schauen s, eine Intuition, die bei beiden
das Resultat einer ungewöhnlichen Steigerung des Innenlebens, eine Art
von Ekstase ist. Deshalb konnte auch der Mystiker Du Prel ein so
schönes Buch über die Psychologie der Lyrik schreiben.
Die philosophisch bedeutsamste Leistung der Mystik ist der
I linweis auf den engen Zusammenhang, der zwischen dem menschlichen
Erkennen und den anderen Funktionen des Bewußtseins besteht. Der
wissenschaftliche Mensch ist nur zu leicht geneigt, das Denken zu iso-
lieren, der Mystiker zeigt uns, daß Fühlen, Wollen und Denken aufs
innigste zusammenwirken. Aber auch dem Glauben der Mystiker an die
Möglichkeit eines vom Wahrnehmen und Denken gleich verschiedenen
§ 25. Der Mystizismus und die Intuition 65
inneren Schauen s, auch dem Glauben an die Intuition
liegen zweifellos psychologische Tatsachen zugrunde. In neuerer Zeit
haben zwei sehr verschiedene Denker, Spinoza und der jetzt in der Voll-
kraft des Schaffens stehende französische Philosoph Henri Bergson
auf die Intuition als philosophische Erkenntnisquelle hingewiesen. Mit
diesen Auffassungen wollen wir uns ein wenig bekannt machen.
Spinoza unterscheidet mehrere Arten der Erkenntnis (gewöhnlich
drei, an einer Stelle vier) und bezeichnet die intuitive immer als
die vollkommenste, allein anzustrebende. Über das Wesen dieser Er-
kenntnisart hat er sich wiederholt ausgesprochen, aber nirgends so
deutlich, daß sich genau und bestimmt sagen ließe, was er meint. Er
scheint darunter die vollständige geistige Durchdringung eines wahren
Urteils zu verstehen. Die intuitive Erkenntnis entsteht aus der Ver-
standeserkenntnis (Eth. V., 28), geht aber weit über dieselbe hinaus.
Sie wird, wie es einmal im sogenannten „Kurzen Traktat" heißt, nicht
durch Überzeugung aus Vernunftgründen, sondern durch Gefühl
und Genuß der Sache selbst vollzogen und ragt weit über die
anderen Erkenntnisarten empor (Spinozas Kurzer Traktat, her. von
Sigwart, S. 64). Je mehr Dinge wir so unmittelbar und so ganz er-
fassen, desto mehr lernen wir alles „sub specie aeternitatis" (in der
Form der Ewigkeit) erkennen und werden dadurch zur Erkenntnis und
Liebe Gottes geführt. Obwohl nun der mystische Einschlag in Spinozas
Philosophie hier nicht zu verkennen ist, so glaubt der tiefe und einsame
Denker doch nicht, daß zur Intuition eine Art von Ekstase oder eine
göttliche Erleuchtung gehört. Anhaltendes und angestrengtes Nach-
denken genügt, um bei jedem Menschen, der ernstlich will, dieses innere
Erfassen des Wesens der Dinge herbeizuführen. Befreiung der Seele
von Affekten und Beschäftigung mit Mathematik kann jeden Menschen
zur intuitiven, das heißt vollkommen klaren Einsicht in das Wesen der
Dinge emporführen. Weil bei Spinoza Gott das sich ewig gleich
bleibende Wesen der Welt darstellt, kann der menschliche Geist, der
eine Erscheinungsweise, ein Modus der göttlichen Substanz ist, durch
inneres Schauen zu einer klaren Einsicht in die Natur der Dinge ge-
langen. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Intuition beruht in
letzter Linie auf der metaphysischen Grundansicht.
Viel deutlicher ist die Intuition als eigenartige Erkenntnisquelle
von Henri Bergson bestimmt worden. Dieser tiefgründige Denker geht
von der Ansicht aus, daß der menschliche Verstand gar nicht die Auf-
gabe hat, die Welt zu erkennen, sondern einzig und allein darauf ab-
zielt, die Mittel und die Wege für das menschliche Handeln
zu finden. Zu diesem Zwecke muß der Verstand die Linie in Punkte,
die immer fließende Zeit in eine Anzahl zeitloser Momente und die
Bewegung in konstante Beziehungen auflösen. Diese zerlegende und
stabilisierende Tätigkeit gelingt dem menschlichen Verstände am besten,
wenn er es mit der leblosen Materie und mit dem ruhenden Räume zu
tun hat, den er sich zu seinen Zwecken konstruiert. Deshalb sind
Mathematik und Mechanik die exaktesten und vollkommensten Wissen-
schaften, die ihren Zweck, die Natur dem Menschen zu unterwerfen,
am vollkommensten erfüllen. Dagegen ist der Verstand, nach Bergson,
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. ->
00 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
unfähig, das organische Leben, das wahre Wesen der Bewegung und
der psychischen Vorgänge zu erfassen. Dazu gehört eine ganz andere
1 rkenntnisweise, und diese nennt Bergson Intuition. Man gelangt
zur Intuition, indem man sich in sich selbst versenkt und sein eigenes
Seelenleben belauscht. I Her bemerkt man, wenn man überhaupt fähig
ist, in diesem 1 laibdunkel etwas zu sehen, den ewigen Fluß, die ununter-
brochene Kontinuität, die wahre Dauer, die erfüllte und zu-
gleich schöpferische Zeit. Betrachtet man dann mit Hilfe der
so gewonnenen Intuition das äußere Geschehen, so vermag man sich in
die wachsende Pflanze, in das lebende Tier, aber auch in jede mecha-
nische Bewegung einzufühlen und erkennt so das von jeder Be-
ziehung auf den Menschen und von jedem praktischen Interesse los-
gelöste absolute und wirkliche Geschehen, wie es an sich beschaffen ist.
Die intuitive Betrachtung des Seelenlebens lehrt uns ferner, daß in
jedem Augenblick die ganze Vergangenheit, alles früher Erlebte wirk-
sam ist, weil die seelischen Vorgänge im Gegensatze zu den undurch-
dringlichen Körpern einander vollständig durchdringen. Deshalb gibt
es hier keine wirkliche Wiederholung desselben Vorganges. Jeder
nächste Augenblick unterscheidet sich von dem vorangehenden schon
dadurch, daß der frühere in ihm enthalten ist, und so entsteht hier
immer Neues, Unvorhersehbares. Die Intuition macht uns also mit einer
schöpferischen Entwicklung (evolution creatrice) bekannt,
in der sich die seelische Vergangenheit jedes Menschen immer dichter
zusammenballt, an Umfang und innerer Kraft immer zunimmt und
Unvorhersehbares, Neues aus sich hervorbringt.
Die Mystik und die Lehre von der Intuition haben jedenfalls tief
hineingeleuchtet in unser Seelenleben und auf die Entwicklung der Er-
kenntnistheorie und Metaphysik einen noch nicht genügend erkannten
Einfluß ausgeübt. Karl Joel hat dies für die alte jonische Naturphilo-
sophie und tür die Renaissancezeit nachgewiesen und es wird sich bei
weiterer Beachtung dieses Gesichtspunktes gewiß Ähnliches auch für
die späteren Perioden zeigen lassen. Aber auch die Lehre von der
intuitiven Erkenntnis, besonders in dem Sinne, wie sie Spinoza
anwendet, ist in der neuesten Zeit weitergebildet und zur Grundlage
einer neuen Erkenntnistheorie gemacht worden. Eine Reihe von Den-
kern glaubt in den letzten Jahren eine von Mystik ganz freie Art der
Intuition gefunden zu haben, die gewöhnlich als „W esensschau"
bezeichnet wird. Edmund Husserl, der diese neue Betrachtungsweise
eingeführt hat, bezeichnet sie selbst als „reine Phänomenologie"
oder als „phänomenologische Philosophi e". Da diese
Denkriehtung bereits eine Reihe von Anhängern gefunden hat und auch
.mt die I iebiete der E t h i k, der Ästhetik und der Rechtsphilo-
sophie angewendet wurde, müssen wir versuchen, ihre Ausgangs-
punkte und ihre Ziele kurz darzustellen.
§ 26. Die Phänomenologie
Das Wort „Phänomenologie" bedeutet wörtlich „Lehre von den
Erscheinungen" (Phänomenen). Seit Hegel, der seinem genialen Erst-
§ 26. Die Phänomenologie 67
lingswerk den Titel gab: „Phänomenologie des Geistes", versteht man
darunter die Lehre von allem, was unserem Bewußtsein unmittelbar
oder mittelbar gegeben ist. In diesem Sinne will auch der Begrün-
der der neuen Denkrichtung, Edmund Husserl, das Wort verstanden
wissen. Er legt besonderes Gewicht darauf, daß er immer und überall
von dem ursprünglich oder, wie er zu sagen pflegt, „originär" Ge-
gebenen ausgeht. „Das unmittelbare , Sehen', nicht bloß das sinnliche,
erfahrende Sehen, sondern das Sehen überhaupt als originär
gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechtsquelle
aller vernünftigen Behauptungen." („Ideen zu einer reinen Phäno-
menologie und phänomenologischen Philosophie", 1913, S. 36.*) Durch
tiefdringende intuitive Betrachtung des sinnlich und geistig Ge-
schauten, durch ausführliche Zergliederung der so gegebenen Inhalte
des Bewußtseins und der darauf bezogenen „Akte" glaubt nun Hus-
serl zu Wesenserkenntnissen von unbedingter Gültigkeit und
reicher Fruchtbarkeit gelangen, durch diese zum absoluten Sein
vordringen und so eine „phänomenologische Philo-
sophie" aufbauen zu können, die selbst von jeder Erfahrung ganz
unabhängig ist, trotzdem aber auch für alle „Tatsachenwissenschaften"
die letzten Begründungen festzulegen imstande sein soll.
Die wichtigste Erkenntnisquelle, die Husserl neu erschlossen zu
haben glaubt, ist das, was er als „W esensscha u", als „W esens-
erschauung" oder auch als „e i d e t i s c h e Erkenntnis" be-
zeichnet. Den letztgenannten Ausdruck wählt Husserl im Hinblick auf
das platonische Wort „Eidos", das weniger verbraucht ist, als das im
Laufe der Jahrhunderte vieldeutig und unbestimmt gewordene Wort
„Idee". „Eidos" und „eidetisch" bedeuten also in der Sprache der
„Phänomenologie" genau so viel als „Wesen" und „wesensmäßig".
Wir müssen nun versuchen, genau festzustellen, was die Anhänger
der neuen Denkrichtung unter „Wesensschau", unter „eidetischer Er-
kenntnis" eigentlich verstehen, weil dies die Grundlage aller weiteren
Aufstellungen bildet.
Husserl geht von der „natürlichen Einstellung" aus, stellt zu-
nächst fest, daß in der ersten „natürlichen Erkenntnissphäre" die Wahr-
nehmung als „originär" gebende Anschauung zu betrachten ist. „Ori-
ginäre Erfahrung haben wir von den physischen Dingen in der ,äußern
Wahrnehmung'; originäre Erfahrung haben wir von uns selbst und
unsern Bewußtseinszuständen in der sogenannten innern oder Selbst-
wahrnehmung." („Ideen", S. 8.) Was wir auf diese Art erfassen, das
sind individuell bestimmte und individuell gefärbte Tat-
sachen. Nun behauptet aber Husserl: „Individuelles Sein jeder Art
ist, ganz allgemein gesprochen, ,z u f ä 1 1 i g'. Es ist so, es könnte
seinem Wesen nach auch anders sein." („Ideen", S. 9.) Nun geht Hus-
serl einen wichtigen Schritt weiter. Er sagt: „Ein individueller Gegen-
stand ist nicht bloß überhaupt ein individueller, ein ,Dies da', ein ein-
*) Diese Abhandlung, in der die Grundsätze der Phänomenologie am
ausführlichsten dargestellt sind, befindet sich im 1. Bande des Jahrbuches für
Philosophie und phänomenologische Forschung S. 1 — 323 und ist auch separat
erschienen. Ich zitiere sie kurz als „Ideen".
5"
(in Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
maliger, er hat als ,i n sich selbst* so und so beschaffener seine
Eigenart, seinen Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die ihm
zukommen müssen (als Seiendem, wie er in sich selbst ist)." „So hat
/. B. jeder Ton an und für sich ein Wesen und zu oberst das allgemeine
Wesen Ton überhaupt oder vielmehr Akustisches überhaupt, rein ver-
standen als das aus dem individuellen Ton (einzeln oder durch Ver-
gleicbung mit anderen als Gemeinsames) herauszuschauende Moment.
1 benso hat jedes materielle Ding seine eigene Wesensartung und zu
oberst die allgemeine Artung materielles Ding überhaupt, mit Zeit-
bestimmung überhaupt, Dauer, Figur, Materialität überhaupt."
(„Ideen", S. 9.) Während also die empirisch gerichteten Denker davon
überzeugt sind, daß erst durch eine, lange Zeiten hindurch fortgesetzte
denkende Bearbeitung der Erfahrung die Gattungs-
und Artbegriffe geschaffen werden konnten, denen jeder
einzelne Gegenstand zugeordnet werden muß, ist Husserl der Mei-
nung, daß wir imstande sind, diese Zugehörigkeit aus der Wahrneh-
mung des individuell gegebenen Objektes unmittelbar herauszu-
schauen und daß auch diese „Erschauung" etwas „originär Geben-
des" ist. Das geht ganz deutlich aus seinen weiteren Ausführungen
hervor. Ich zitiere noch einige Stellen in größerem Umfang, und zwar
hauptsächlich deshalb, weil die Phänomenologen sich so oft darüber
beklagen, daß man sie mißverstehe und weil sie den kritischen Be-
denken gegen ihre Aufstellungen meistens nichts anderes entgegen-
zuhalten pflegen, als die Behauptung, daß der Kritiker sie nicht ver-
standen habe.
„Zunächst bezeichnet ,Wesen' das im selbsteigenen Sein eines
Individuums als sein Was Vorfindliche. Jedes solche Was kann aber
,in Idee gesetzt' werden. Erfahrende oder individuelle An-
schauung kann in Wesensschauung (Ideation) um-
gewandelt werden, eine Möglichkeit, die selbst nicht als empirische, son-
dern als Wesensmöglichkeit zu verstehen ist." „Das Wesen
(Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Ge-
gebene der individuellen oder erfahrenden An-
schauung ein individueller Gegenstand ist, so
dasGegebeneder Wesen san schauung ein reines Wesen."
(„Ideen", S. 10.) „Hier liegt nicht eine bloß äußerliche Analogie vor,
sondern radikale Gemeinsamkeit. Auch Wesenserschauungist
eben Anschauu n g, wie eidetischer Gegenstand eben Gegenstand
ist." „Empirische Anschauung, speziell Erfahrung, ist Bewußtsein von
einem individuellen Gegenstand, und als Anschauendes bringt sie ihn
zur Gegebenheit, als Wahrnehmung zu originärer Gegebenheit, zum
Bewußtsein, den Gegenstand ,originär' in seiner .leibhaftigen'
Selbstheit zu erfassen. Ganz ebenso ist die Wesensanschauung Bewußt-
sein von I twas, einem Gegenstand, einem Etwas, worauf ihr Blick
sich richtet, und was in ihr selbst gegeben ist." „Wesenserschauung
i s t also Anschauung, und ist sie Erschauung im prägnanten Sinn
und nicht eine bloße und vielleicht vage Vergegenwärtigung, so ist sie
eine o r i g i n ä r gebende Anschauung, das Wesen in seiner leib-
haften1 Selbstheit erfassend. Anderseits ist sie aber eine Anschauung
§ 26. Die Phänomenologie 69
von prinzipiell eigener und neuer Art." („Ideen", S. 11.) „Den Wesens-
unterschieden der Anschauungen korrespondieren die Wesensbezie-
hungen zwischen , Existenz' und , Essenz', zwischen Tatsache und
Eidos. Solchen Zusammenhängen nachgehend, erfassen wir e i n-
sichtig die diesen Terminis zugehörigen und von nun an fest zu-
geordneten begrifflichen Wesen ; und damit bleiben alle sich zumal
an die Begriffe Eidos (Idee), Wesen anheftenden, zum Teil mysti-
schen Gedanken, reinlich ausgeschiede n." („Ideen",
S. 12.)
Von da aus geht nun Husserl einen wichtigen Schritt weiter : „Das
Eidos, das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten,
in solchen derWahrnehmung, Erinnerung usw. exemplifizieren, ebensogut
aber auch inbloßenPhantasiegegebenheiten. Demgemäß
können wir, um ein Wesen selbst und o r i g i n ä r zu erfassen, von ent-
sprechenden erfahrenden Anschauungen ausgehen, ebensowohl
aber auch von nicht erfahrenden, nicht Dasein er-
fassenden, vielmehr bloß einbildenden Anschau-
ungen" (12). An einer späteren Stelle heißt es sogar, daß „freie
Phantasien eine Vorzugsstellung gegenüber den
Wahrnehmungen gewinnen" (130). Wir können, meint Husserl,
aus fingierten Akten „des Erfahrens, des Gefallens oder Mißfallens,
des Wollens u. dgl. durch ,Ideation' mannigfache reine Wesen originär
erschauen". „Es ist dabei gleichgültig, ob Derartiges je in aktueller
Erfahrung gegeben war oder nicht." „Damit hängt wesentlich zu-
sammen : Setzung und zunächst anschauende Erfassung von
Wesen impliziert nicht das Mindeste von Setzung
irgendeines individuellen Daseins; reine Wesens-
wahrheiten enthalten nicht die mindeste Behaup-
tung über Tatsachen, also ist auch aus ihnen allein nicht
die geringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen" (13).
Auf diese Erwägungen gründet nun Husserl seine Unterschei-
dung von „Tatsachenwissenschaften" und „Wesenswissenschaften".
„Es gibt reine Wesenswissenschaften, wie reine Logik,
reine Mathematik, reine Zeitlehre, Raumlehre, Bewegungslehre usw.
Sie sind durchaus, nach allen ihren Denkschritten, rein von Tatsachen-
setzungen oder, was gleichwertig ist, in ihnen kann keine Er-
fahrung als Erfahrung, das ist als Wirklichkeit, als Dasein
erfassendes, beziehungsweise setzendes Bewußtsein die Funktion
der Begründungübernehmen. Wo Erfahrung in ihnen fun-
giert, fungiert sie doch nicht a 1 s Erfahrung. Der G e o m e t e r, der
seine Figuren auf die Tafel malt, erzeugt damit faktisch daseiende
Striche auf der faktisch daseienden Tafel. Aber so wenig wie sein
physisches Erzeugen ist sein Erfahren des Erzeugten, qua Erfahren,
begründend für sein geometrisches Wesensschauen und Wesens-
denken" (16). „Ganz anders der Naturforscher. Er beobachtet
und experimentiert, das ist er stellt erfahrungsmäßiges Dasein fest, das
Erfahren ist für ihn begründender Akt, der nie durch
ein bloßes Einbilden ersetzbar wäre." „Für den Geometer aber, der
nicht Wirklichkeiten, sondern ,ideale Möglichkeiten', nicht Wirklich-
70 Erkenntimkritik und Erkenntnistheorie
Iceitsverhalte, sondern Wescnsverhalte erforscht, ist statt der Erfahrung
die Wesen serschauung der letztbegründende Akt" (17). Dar-
aus folgt nun, „daß der Sinn eidetischer Wissenschaft jede Ein-
beziehung von i i keimtnisergebnissen empirischer Wissenschaften prfn-
ipidl ausschließt". „Ist nun alle eidetische Wissenschaft prinzipiell
von aller Tatsnchenwissenschaft unabhängig, so gilt anderseits das
l fmgekehrte hinsichtlich der Tatsachenwissenschaft. Es gibt
kein e, die als Wissenschaft voll entwickelt rein sein
könnte von eidetischen Erkenntnissen und somit unabhängig
sein könnte von den, sei es formalen oder mate-
rialen eidetischen Wissenschaften" (18).
Dadurch erlangen nun die „eidetischen Wissenschaften" einen be-
deutenden Vorrang und eine große Überlegenheit über alles empirische
Suchen und Forschen. Man darf hoffen, auf diesem Wege zu absoluten
Wahrheiten zu gelangen, die nicht nur Allgemeingültigkeit und innere
Denknotwendigkeit besitzen, sondern auch die Grundlagen und die
Normen abgeben sollen für alles auf Erfahrung gegründete Denken.
Für Denker-Naturen, die an mühevollen, zeitraubenden historischen,
psychologischen und namentlich soziologischen Untersuchungen, die
niemals zu absoluter Gewißheit, sondern immer nur zu einem größeren
Grade von Wahrscheinlichkeit hinführen, weniger Geschmack finden,
hat diese neue, auf „Intuition" und „Wesensschau" gegründete For-
schungsmethode, die durch fortgesetzte Meditation über das innerlich
Erschaute zu immer bedeutsameren Ergebnissen gelangen zu können
vermeint, offenbar einen besonders großen Reiz. Daraus erklärt es sich
wohl, daß die „Phänomenologie" in den letzten Jahren so zahlreiche,
so begabte, so tiefgründige und zugleich so selbstherrliche Anhänger
gefunden hat.
Damit nun die Unabhängigkeit von aller Erfahrung und die da-
durch gewonnene Freiheit der Denkbewegung noch vollständiger werde,
macht Musserl ein kühnes Gedankenexperiment. Er lehnt sich dabei an
Descartes an und ist sogar der Meinung, daß er dadurch zu Folge-
rungen gelangt, „in denen ein bloß nicht zu reiner Auswirkung ge-
langter Kern der (auf ganz andere Ziele gerichteten) Meditationen
des Descartes endlich zu seinem Rechte kommt" (87).
In der „natürlichen Einstellung" halten wir selbstverständlich die
uns umgebende Welt mit unseren Mitmenschen darin für tatsächlich
vorhanden, für real, wirklich und existierend. Diese „Einstellung" ver-
sucht nun Hasser/, ganz ähnlich wie Descartes, „radikal zu ändern"
53). Er unternimmt es, die Wirklichkeit der Dingwelt und auch die
Menschen darin in Gedanken einmal „auszuschalten" oder „einzuklam-
mern", um zu sehen, was dann noch übrig bleibt. „Wir gehen in diesen
Studien SO weit als es nötig ist, die Einsicht zu vollziehen, auf die wir es
abgesehen haben, nämlich die Einsicht, daß Bewußtsein in
-ich selbst ein Eigensein hat, das in seinem absoluten Eigenwesen
durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird. Somit
bleibt es als ,p h ä n o m e n o 1 o g i s c h e s R e s i d u u m' zurück, als
eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer
neuen Wissenschaft werden kann — der Phänomenologie" (59). Durch
§ 26. Die Phänomenologie 7 i
solche „Ausschaltungen" und „Einklammerungen" gelangt nun tius-
serl zur Region des „reinen Bewußtseins", des „reinen" oder des
„transzendentalen Ich", wofür er auch öfter den Ausdruck „reines Er-
lebnis", „Bewußtseinserlebnis überhaupt" zu gebrauchen pflegt. Die
Behauptungen nun, die Husserl in bezug auf das „reine" Bewußtsein
und auf die Außenwelt aufstellt, erinnern zu einem Teil an die von
Augustin und Descartes betonte Evidenz der Selbstwahrnehmung, zum
anderen Teil an den Phänomenalismus Berkeleys, der sich auf eine
spiritualistische Metaphysik gründet. An Descartes erinnern z. B. die
Sätze: „Der Thesis der Welt, die eine zufällige ist, steht also gegenüber
die Thesis meines reinen Ich und Ichlebens, die eine notwendige,
schlechthin zweifellose ist. Alles leibhaft gegebene Dingliche kann
auch nicht sein, kein leibhaft gegebenes Erlebnis kann auch nicht sein"
(86). Dagegen wird man an die von Berkeley vollzogene Synthese von
der Phänomenalität der Sinnenwelt mit der selbständigen Existenz des
rein Geistigen gemahnt, wenn man Ausführungen, wie die folgenden
liest: „Das immanente Sein ist also zweifellos in
dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell
nulla re indiget ad existendum. Anderseits ist
die Welt der transzendenten ,r e s' durchaus auf Bewußt-
sein, und zwar nicht auf logisch erdachtes, sondern aktuelles an-
gewiesen" (92).
Noch deutlicher tritt die Ähnlichkeit mit Berkeley zutage in den
folgenden Sätzen: „Also wird es klar, daß trotz aller in ihrem Sinne
sicherlich wohlbegründeten Rede von einem realen Sein des mensch-
lichen Ich und seiner Bewußtseinserlebnisse i n der Welt und von
allem, was irgend dazu gehört, in Hinsicht auf ,psychophysische' Zu-
sammenhänge — daß trotz alledem Bewußtsein in , Reinheit' betrachtet
als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang
zu gelten hat, als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den
nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann, der kein
räumlich-zeitliches Draußen hat und in keinem räumlich-zeitlichen Zu-
sammenhang darinnen sein kann." „Anderseits ist die ganze räumlich-
zeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeord-
nete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes
intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekun-
dären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat. Es ist ein
Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell
nur als Identisches, von motivierten Erscheinungsmannigfaltigkeiten
anschaubar und bestimmbar — darüber hinaus aber ein Nichts
ist" (93).
Es finden sich in der „Phänomenologie" auch noch Anklänge an
andere, ältere Systeme. So erinnert schon das Wort „Eidos" an Piaton,
dessen Ideenlehre besonders in dem berühmten Gleichnis von der
Höhle im Anfang des siebenten Buches der „Politeia" sehr deutlich
an die „Wesensschau" anklingt. Ferner ist die Lehre von der „intentio-
nalen Beziehung" als charakteristisches Merkmal alles Psychischen
der Psychologie von Franz Brentano entnommen, der sie wiederum aus
der scholastischen Philosophie des Mittelalters geschöpft hat. Ferner
/-'
Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
berühren sich die Gedankengänge der „Phänomenologie" vielfach mit
Leibniz und ganz besonders mit der „Wissenschaftslehre" Bernard
Bolzanos, was tiusserl in den „Logischen Untersuchungen" selbst
wiederholt hervorhebt Trotzdem muß man aber sagen, daß die „Phäno-
menologie" einen neuen und eigenartigen Weg zur Aufhellung und zur
gründung der menschlichen Erkenntnis zu gewinnen bemüht ist.
Durch tiefgründige, durch anhaltende und angestrengte — allerdings
wich sehr anstrengende — Denkarbeit suchen Husserl und seine An-
hänger mittels der „Wesenserschauung" und mit Hilfe der „phäno-
menologischen Reduktion" zum „reinen Bewußtsein" vorzudringen und
glauben da die „absolute Seinssphäre" gefunden zu haben, über deren
Struktur sie durch „eidetische" Betrachtung Aussagen von hoher Wich-
tigkeit machen zu können vermeinen, denen Allgemeingültigkeit und
zwingende Denknotwendigkeit zukommen soll.
Wir haben den Weg gezeigt, den die Phänomenologie gehen will,
und die Kernpunkte der neuen Lehre kurz dargelegt. Wir müssen nun
die Berechtigung ihrer Grundlagen sowie die bisherigen Ergebnisse
einer kritischen Prüfung unterziehen.
Schon der Grundbegriff der Phänomenologie, die „Wesens-
S c h a u u n g", die eine von jeder Erfahrung freie und ganz unab-
hängige „eidetische" Erkenntnis begründen soll, gibt Anlaß zu
schweren kritischen Bedenken. Aus der sinnlichen Wahrnehmung eines
Tones soll es möglich sein, das „Wesen" von „Ton überhaupt" und
..Akustischem überhaupt" unmittelbar „herauszuschauen". In
derselben Weise müßte es dann auch möglich sein, aus der sinnlichen
Wahrnehmung eines Baumes das „Wesen" Baum und aus diesem das
Wesen „Pflanze" und dann auch den Begriff „organisches Gebilde"
herauszuschauen. Wer das behauptet, der scheint vollständig
darauf zu vergessen, daß diese Fähigkeit, in dem wahrgenommenen
I inzelobjekt oder Einzelvorgang die allgemeinen, logisch übergeord-
neten Begriffe zu erkennen, zu denen das geschaute Einzelding gehört,
erst im Laufe der Jahrtausende durch fortgesetzte denkende Bear-
beitung der Erfahrung erworben werden mußte. Wenn der wissenschaft-
lich geschulte Denker der Gegenwart heute in dem Baum die Pflanze
und in mr das organische Wesen enthalten zu sehen glaubt, so ist das
kein „Sehauen" und kein unmittelbares Erfassen. Diese Einsicht ist viel-
mehr da- Ergebnis unzähliger seelischer und sozialer Verdich-
U n g e n, die im Laufe der Zeiten vollzogen werden mußten. Die ge-
staltende, die ordnende Tätigkeit des Menschengeistes hat die chaotische
l mwelt gegliedert, die darin waltenden Regelmäßigkeiten und Gesetze
»teil! nid zu diesem Zwecke eine ganze Reihe ökonomischer
Denkmittel ausgebildet, /u denen in erster Linie die Begriffe
gehören. Wenn wir nun von diesen uns vertraut und geläufig gewor-
denen Denkmitteln Gebrauch machen und eben dadurch imstande sind,
zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes oder
Vorganges auch mannigfache begriffliche Beziehungen des Wahr-
genommenen /u erfassen, so vergessen wir nur allzu leicht darauf, daß
diese Erkenntnisse nur als Ergebnis verdichteter Erfahrungen möglich
geworden sind. Bezeichnet man nun, wie dies die Phänomenologen tun,
§ 26. Die Phänomenologie 73
derartige, erst durch die allmähliche Verfeinerung unseres Denkorgans
möglich gewordene, anscheinend unmittelbare Erfassungen rein begriff-
licher Beziehungen als ein „Sehen", als ein „Schauen", das seinen
Gegenstand ebenso „originär" gibt, wie die sinnliche Wahrnehmung,
so ignoriert man unberechtigterweise die durch psychologische, durch
historische, durch ethnologische und in der letzten Zeit durch sozio-
logische Forschungen erzielten Einsichten in die Entwicklungsgeschichte
des Menschengeistes.
Musserl hebt zwar gelegentlich den Unterschied der „Wesens-
erschauung" von der sinnlichen Wahrnehmung hervor (z. B. S. 11 f.),
betont aber doch immer wieder mit großer Entschiedenheit, daß die
Wesenserschauung auch eine Art von Anschauung sei, und daß ihr
Gegenstand dem Bewußtsein gegeben, und zwar „origi-
n ä r" gegeben ist. Nun sind aber tatsächlich die Gegenstände dieser
sogenannten „Wesenserschauung" nichts anderes, als abstrakte Be-
griffsbeziehungen von hoher Allgemeinheit. Diese können aber, wie die
Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes ganz deutlich lehrt, nur
als Produkte verstanden werden, bei deren Zustandekommen einerseits
die uns umgebende Dingwelt als objektiver Faktor, anderseits
die ordnende, die gliedernde und die gestaltende Tätigkeit des Men-
schengeistes als subjektiverFaktorin einer immer stärker und
immer innerlicher werdenden Verflechtung zusammenwirken. Je ab-
strakter und je allgemeiner die durch solche Denkarbeit erfaßten Be-
ziehungen werden, desto deutlicher tritt das geistige Moment darin her-
vor. Wenn nun Hermann Cohen hier von einem „Erzeugen" durch
das Denken spricht, so entspricht das zwar auch keineswegs den
Tatsachen, allein diese Ausdrucksweise scheint mir noch immer be-
rechtigter zu sein als Husserls Rede von der „gebenden" oder gar von
der „originär gebenden" Wesenserschauung.
Der feste Glaube an diese „Gegebenheiten" stammt vielleicht bei
Husserl daher, daß er von Franz Brentano den Gedanken der „inten-
tionalen Bezogenheit" alles Psychischen übernimmt. Bewußtsein ist, so
betont er wiederholt, immer „Bewußtsein von Etwas". Dem Vorstellen
entspricht ein Vorgestelltes, dem Urteilen ein Beurteiltes, dem Werten
ein Gewertetes, dem Wollen ein Gewolltes, der Freude ein Erfreu-
liches usw. Allen diesen „Gegenständen" wird dabei immer eine Art
von objektiver Selbständigkeit zugeschrieben. Durch „Hinwendung des
Blickes" sollen alle diese „Gegenstände" in ihrer „leibhaftigen Selbst-
heit" einfach „erfaßt", zur „Gegebenheit gebracht" v/erden können. Da-
bei wird immer die gestaltende und umgestaltende Tätigkeit des Geistes
übersehen oder ignoriert.
Mit dieser Lehre von der „originär gebenden" Kraft der Wesens-
erschauung scheint es nicht recht vereinbar, daß alle so gewonnenen
„eidetischen Erkenntnisse" von jeder Erfahrung ganz unabhängig sein
sollen. Husserl geht in dieser Beziehung viel weiter als alle früheren
Denker. Durch „Ausschaltung" und „Einklammerung" der Dingwelt
vollzieht er eine „phänomenologische Reduktion" und glaubt auf diesem
Wege zur Region des „reinen Bewußtseins" vordringen zu können.
Hier soll ein „Feld" gewonnen sein, eine „Seinssphäre absoluter Ur-
74 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
Sprünge", „ein der schauenden Forschung zugängliches Feld", das
eine „unendliche Fülle einsichtiger Erkenntnisse von höchster wissen-
schaftlicher Dignität" in sich birgt. („Ideen", S. 107.) Dagegen ist,
wie bereits erwähnt wurde, die ganze Sinnen- und Dingwelt für die
Phänomenologie nur Erscheinung: „Realität, sowohl Realität des
einzeln genommenen Dinges, als auch Realität der ganzen Welt ent-
lehn wesensmäßig (in unserem strengen Sinne) der Selbständigkeit.
i s ist nicht in sich etwas Absolutes und bindet sich sekundär an
anderes, sondern es ist in absolutem Sinne gar nichts, es hat gar kein
absolutes Wesen', es hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell nur
[ntentionales, nur Bewußtes, bewußtseinsmäßig Vorstelliges, Erschei-
nendes ist" (931).
Man wird also sagen können, daß die „Phänomenologie", wie sie
von Husserl begründet wurde, eine eigenartige Synthese von erkennt-
niskritischem Phänomenalismus und einer spiritualisti-
sehen Metaphysik darstellt. Den phänomenalistischen Charakter
seiner Philosophie betont Husserl selbst mit der größten Entschieden-
heit, wie die eben zitierte Stelle beweist. Dagegen dürfte er kaum zu-
geben, daß die Phänomenologie als spiritualistische Metaphysik be-
zeichnet werden dürfe. Sagt er doch ausdrücklich: „Man muß sich
überzeugen, daß dem empirischen Erlebnis gegenübersteht, als
Voraussetzung seines Sinnes, das absolute Erlebnis,
daß dieses nicht eine metaphysische Konstruktion, sondern durch ent-
sprechende Einstellungsänderung in seiner Absolutheit zweifellos Auf-
weisbares, in direkter Anschauung zu Gebendes ist" (105 f.).
Hier liegt nun meiner Überzeugung nach eine merkwürdige
Selbsttäuschung vor. Ein „absolutes Erlebnis", das bestehen
bleibt, wenn man die „phänomenologische Reduktion" vollzieht und die
ganze wirkliche Welt „ausschaltet" oder „einklammert", ist nur dann
denkbar, wenn eine geistige Substanz angenommen wird, die
ein solches „reines Erlebnis" hervorruft und ihm einen greifbaren In-
halt gibt. Nun sagt aber Husserl ganz ausdrücklich in einer sehr tief-
gründigen Auseinandersetzung, daß durch die „phänomenologische Re-
duktion" auch die Transzendenz Gottes „ausgeschaltet" sein soll
(110 f.). Dann schwebt aber das „reine Erlebnis" ganz in der Luft
und ist keineswegs etwas „in direkter Anschauung zu Gebendes".
Man könnte nun daran denken, daß dieses „reine Erlebnis" von
den Phänomenologen bloß als Fiktion, das heißt als eine bewußt
falsche Annahme gedacht ist, die zu dem Zwecke gemacht wird, um
bestimmte Probleme zu lösen. Auf die große Bedeutung solcher Fik-
tionen hat nun in jüngster Zeit, wie wir weiter unten ausführlicher
zeigen wollen, Haus Vaüünger in seiner „Philosophie des AI s-
( ) b" hingewiesen. In der Tat bezeichnet einmal Husserl die Fiktion als
das ..I eben sei ement der Phänomenologie" (132) und
räumt wiederholt der Phantasie eine Vorzugsstellung ein gegenüber
der sinnlichen Wahrnehmung. Nun kann aber, wie Vai/üuger klar ge-
zeigt hat, eine Fiktion niemals verifiziert werden, sondern muß sich
einzig und allein durch ihre Fruchtbarkeit als wertvoll erweisen.
Man muß sich deshalb fragen, ob diese Konstruktion des „reinen Er-
§ 26. Die Phänomenologie 75
lebnisses" und ob das kühne Gedankenexperiment der „phänomeno-
logischen Reduktion" neue Erkenntnisse gezeitigt hat. Da muß man
nun sagen, daß die von Husserl verheißenen „Erkenntnisse von
höchster wissenschaftlicher Dignität" bisher weder bei ihm selbst, noch
in den Ausführungen seiner Anhänger zu finden sind. Auf diese Un-
fruchtbarkeit der „Phänomenologie" hat bereits Wilhelm Wundt in
seiner überaus lichtvollen Darstellung des „Logizismus" hingewiesen
(Kl. Schriften I, 613 f.). Besonders klar hat 77z. Ziehen die Lehren der
Phänomenologie dargestellt und diese Denkrichtung als „aussichtslos
und verfehlt" bezeichnet (Lehrbuch der Logik 1920, S. 184 ff. u. bes.
S. 457).
Wandt meint (a. a. O. S. 614), daß die Phänomenologie haupt-
sächlich deshalb Anerkennung und Anhänger gefunden habe, weil man
den darin enthaltenen Scharfsinn besonders hoch einschätze. Meiner
Meinung nach hat diese auffallend hohe und, wie es scheint, noch im
Zunehmen begriffene Schätzung der Phänomenologie einen tieferen
Grund. Den Anhängern dieser Denkrichtung eignet ebenso wie ihrem
Begründer die Fähigkeit zu psychologischen Tiefblicken. Manche von
ihnen haben die Gabe, tief in sich hineinzuschauen, und sie entdecken
da mitunter Dinge, die anderen verborgen bleiben. Das habe ich in be-
zug auf Husserl selbst schon in meiner scharfen Kritik seiner
„Logischen Untersuchungen" ausdrücklich anerkannt und ihn deshalb
später einen „Psychologen wider Willen" genannt*). Seine Erörte-
rungen über Evidenz und Wahrheit in den „Logischen Untersuchungen"
und das, was er in den „Ideen" über die „Abschattungen" des Psychi-
schen sagt, sind deutliche Beweise seiner starken psychologischen Be-
gabung. Dasselbe gilt von einem der geistvollsten Anhänger dieser
Richtung, von Max Scheler. Er weiß über das „Ressentiment", über das
Wesen des Tragischen, über die „Idole der Selbsterkenntnis" viel An-
regendes zu sagen. Solche Tiefblicke üben eine starke Anziehungskraft
aus. Gerade darin scheint mir aber das Gefährliche der Phänomeno-
logie zu liegen.
Was der phänomenologisch „eingestellte" Forscher kraft seiner Be-
gabung für psychologische Forschung in sich vorfindet, das soll gleich
viel mehr sein als eine neue psychologische Erkenntnis. Er glaubt sofort
eine „Wesens schau" vollziehen zu können, löst das so „Geschaute"
gleich los aus dem psychischen Zusammenhang und ist dann der Mei-
nung, daß sich auf diesem Wege das Wesen der sittlichen Forderung,
das Wesen des ästhetischen Genusses, des richtigen Rechtes oder gar
der „wahren Religion" mit absoluter Sicherheit feststellen lasse. Da-
durch aber wirkt die Phänomenologie geradezu bahnsperrend.
Indem sie die geschichtliche Bedingtheit alles Menschlichen verkennt,
glaubt sie sich der großen Mühe historischer und soziologischer For-
schungen überhoben und hält begabte Geister von solchen For-
schungen ab.
*) Vgl. Jerusalem, „Der kritische Idealismus und die reine Logik, ein Ruf
im Streite" (1905), S. 117, und meinen Aufsatz „Philosophen und Psychologen in
der Zeitschrift „Die Zukunft", Mai 1914.
Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
So ist denn der Ertrag dieser gewaltigen Denkanstrengung ein
verschwindend geringer, in mancher Beziehung sogar ein ganz nega-
tiver. Wir erfahren gar nichts über das Verhältnis des „reinen"
Bewußtseins zur Vußenwelt und das für jeden Phänomenalis-
ni u schwierige Problem des fremden Bewußtseins, das
oben erwähnte „Du-Proble m" scheint für diese Denkrichtung gar
nicht zu existieren. Weder die apriorische, angeblich ganz erfahrungs-
t'rcie „Wesensscha u" noch die „phänomenologische Reduktion"
kann 'jemals gelingen. Jeder „e i d e t i s c h e n Erkenntnis" und
ebenso auch dem „r e i n e n E r 1 e b n i s" haftet, falls es w i r k 1 i c h e
Erkenntnisse sind, immer noch ein empirischer „Erdenrest" an,
g er den Phänomenologen noch so sehr „zu tragen peinlich" sein.
* Im Gegensatz zu solchen weltfremden und unfruchtbaren Denk-
richtungen macht sich in den letzten Jahrzehnten das Bestreben geltend,
das menschliche Erkennen in seinem innigen Zusammenhang mit dem
ganzen Seelenlebens zu betrachten und seine biologische Be-
deutung klar zu erfassen.
Eine der bedeutsamsten Denkrichtungen, die diesem Bedürfnis ihre
Entstehung verdanken, ist die von Hans Vaihinger geschaffene
„Philosophie des Als-Ob", zu deren Darstellung wir nun-
mehr übergehen.
§ 27. Die Philosophie des „Als-Ob"
Der Begründer dieser neuen, sehr fruchtbaren und überaus be-
deutsamen Erkenntnistheorie, die sich in den letzten Jahren zu einer
ganzen Welt- und Lebensanschauung auszugestalten beginnt, ist Hans
Vaihinger, derzeit Professor in Halle. Die Leitgedanken dazu hat er
schon als junger Mann in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts konzipiert und damit bei Ernst Laas und besonders bei
Fr. A. Lange, dem Verfasser der „Geschichte des Materialismus",
warme Anerkennung gefunden. Aus inneren und aus äußeren Gründen
konnte er damals das Werk nicht veröffentlichen. Erst dreißig Jahre
später entschloß er sich, sein Jugendwerk herauszugeben, weil in-
zwischen verwandte Denkrichtungen in der Philosophie sich ausgebildet
hatten. So erschien denn im Jahre 1911 das grundlegende Werk unter
dem Titel : „Die Philosophie des Als-Ob, System der theo-
retischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit",
und übte sofort eine tiefgehende Wirkung aus.
Vaihinger hat in der Vorbemerkung zur ersten und in dem Vor-
wort zur zweiten Autlage das Wichtigste über die Entstehung und über
die Tendenz seiner Philosophie mitgeteilt. Noch deutlicher und ausführ-
licher hat er sich darüber in seiner „Selbstdarstellung"*) ausgesprochen.
rt Faßt er die Grundgedanken seiner Lehre in fünfzehn klaren, in-
haltsvollen und innerlich zusammenhängenden Thesen überaus lichtvoll
, mimen, so daß man über den Gehalt der Philosophie des Als-Ob
nicht im Zweifel oder im unklaren bleiben kann.
*) „Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen";
herausgegeben von Raymund Schmidt. Leipzig 1921. 2. Band.
§ 27. Die Philosophie des „Als-Ob" 77
Der wichtigste Grundgedanke Vaihingers ist die Auffassung des
Denkens als einer biologischen Funktion. Der Intellekt ist als
eine der wichtigsten und wirksamsten Waffen anzusehen, die der
menschliche Organismus im Kampfe ums Dasein aus sich heraus ent-
wickelt hat. Dieser hier klargelegte Zusammenhang zwischen Denken
und Leben bringt, wie wir weiter unten noch deutlicher sehen werden,
eine wahre Fülle von neuem Licht in die Entwicklungsgeschichte der
menschlichen Erkenntnis. Vaihinger zeigt nun, daß der menschliche In-
tellekt im Laufe seiner Entwicklung oft dazu gelangt ist, durch b e-
wußt falsche Annahmen, die sogar meistens in sich wider-
spruchsvoll sind, Probleme zu lösen, die ohne diese Schleichwege
dem Denken unzugänglich geblieben wären. Solche Annahmen, die
man im Sinne von Ernst Mach auch als Gedankenexperi-
mente bezeichnen könnte, nennt man schon lange „Fiktionen".
Man findet nun in dem Werke Vaihingers eine ganz erstaunliche Fülle
von Beispielen für wertvolle Fiktionen, die in den verschiedensten
Wissenschaften mit großem Erfolg zur Lösung schwieriger Probleme
geführt haben. Das läßt sich in der Mathematik, in der Physik, in der
Chemie und Mineralogie, aber auch in der Rechtswissenschaft und in
der Volkswirtschaftslehre durch viele Fälle belegen. Schon durch diese
Nachweise allein wird das Werk Vaihingers für jeden, der in die Ent-
wicklung der Forschungsmethoden und in die sich darin kundgebende
schöpferische Kraft des Menschengeistes Einblick zu gewinnen wünscht,
eine reiche Quelle der anregendsten Belehrung.
Die Philosophie des Als-Ob geht aber noch einen überaus wich-
tigen Schritt weiter. Vaihinger weiß, daß im Leben der Organismen
Funktionen, die aus dem Erhaltungstrieb entstanden sind, sich oft v/eiter
entwickeln, als es die Bedürfnisse der Lebenserhaltung fordern und so
oft eine Art von Eigenleben gewinnen. Er nennt das die „Über-
wucherung des Mittels über den Zweck". Eine solche Entwicklung hat
nun auch der menschliche Intellekt durchgemacht. Das Denken hat sich
von seinem biologischen Ursprung losgelöst, ist selbständig geworden
und forscht nun bloß um des Forschens willen, ohne jede Rücksicht auf
die praktischen Konsequenzen. „Infolgedessen stellt sich dieses an-
scheinend unabhängige, anscheinend ursprünglich theoretische Denken
Aufgaben, die nicht bloß dem menschlichen Denken, sondern jedem
Denken überhaupt unmöglich sind, z. B. Fragen nach dem Ursprünge
und nach dem Sinne der Welt. Hieher gehört auch die Frage nach dem
Verhältnis von Empfindung und Bewegung, populär gesprochen, von
Seelischem und Materiellem. Solche aussichtslose, streng genommen
auch einsichtslose Fragen sind nicht nach vorwärts, sondern nur nach
rückwärts aufzulösen, indem man zeigt, wie diese Fragen psychologisch
in uns entstanden sind" {Vaihinger, „Selbstdarstellung", S. 27). Eine
ganz ähnliche Auffassung vertrete ich selbst seit mehr als zwanzig
Jahren. Schon in meinem 1895 erschienenen Buche: „Die Urteilsfunk-
tion" habe ich den Phänomenalismus, der die Welt zur „Vorstellung",
zum bloßen „Bewußtseinsinhalt" verflüchtigt, als eine Hyper-
trophie des Erkenntnistriebes bezeichnet, die zur Rück-
bildung gebracht werden muß. Deshalb habe ich auch die „Philo-
78 1 rkenntniskritik und Erkenntnistheorie
sophie des Als-Ob'4 gleich bei ihrem ersten Bekanntwerden freudig be-
Bfrüßi und als eine im höchsten Grade fruchtbare Gedankenrichtung
bezeichnet.
VaUünger hat au! den bedeutsamen Unterschied zwischen Fik-
tion und H v p 0 t h e s e hingewiesen und das Verhältnis dieser zwei
wichtigen Denkmittel klargestellt. Die Hypothese ist eine Vermu-
t u n g, die aufgestellt wird, um eine Reihe von erwiesenen Tatsachen
einheitlich zu erklären. Sie birgt immer die Hoffnung in sich, durch die
Auffindung neuer Tatsachen als wahr erwiesen, oder, wie man
auch saut, verifiziert zu werden. Dagegen ist die Fiktion als be-
wußt falsche Annahme niemals verifizierbar, sondern muß ihren Wert
nur durch ihre Fruchtbarkeit erweisen. Hier finden nun, wie
VaUünger zuerst gesehen hat, vielfach „Ideenverschiebungen" statt, die
für die Entwicklung der Wissenschaft oft sehr charakteristisch sind.
Man kann hier zwei einander entgegengesetzte Richtungen beobachten.
Zuweilen wird ein Hilfsbegriff zuerst als Fiktion gebildet, erhebt sich
dann zum Rang einer Hypothese, um schließlich zum feststehenden
Dogma zu werden. Umgekehrt kann es vorkommen, daß ein Denkmittel
zuerst dogmatisch als real existierende Tatsache hingestellt wird, um
später als bloße Arbeitshypothese verwendet zu werden, bis man ein-
sieht, daß hier nur eine brauchbare Fiktion vorliegt. Ein interessantes
Beispiel für den erstgenannten Prozeß ist der von Adam Smith ge-
bildete Begriff des „wirtschaftlichen Menschen", der alle Maßnahmen
einzig und allein auf Grund einer klaren und klugen Berechnung seines
ökonomischen Vorteils trifft. Für den Schöpfer der wissenschaftlichen
Volkswirtschaftslehre war dieser Begriff eine bloße Fiktion, die es er-
möglichte, Gesetze der Produktion und des Umlaufes der Güter auf-
zustellen. Für seine Nachfolger wurde diese Fiktion zur Hypothese, die
dann infolge ihrer scheinbaren Verifizierung zum Dogma erhoben
wurde. An diesem Dogma hält heute infolge der volkswirtschaftlichen
Entwicklung ein großer Teil der erwerbenden Menschheit fest. Ja, es hat
sich daraus sogar eine Art von panökonomischer Lebens-
anschauung herausentwickelt, die das Geld nicht mehr bloß als
allgemeines Tauschmittel, sondern als absoluten Wertmaß-
s t a b ansieht *).
Der umgekehrte Prozeß läßt sich vielleicht am besten an dem
\ t o m b e g r i f f der Physik exemplifizieren. Im Altertum haben Leu-
kipp und Demokrit die Atome als die einzig wirklichen letzten Einheiten
mit dogmatischer Bestimmtheit hingestellt. Die neuere Physik hat diesen
Begriff als Hypothese verwendet und heute gilt er meist nur mehr als
brauchbare 1 iktion. So hat also VaUünger in den Ursprung und in die
i ntwicklung des menschlichen Denkens tief hineingeleuchtet und für
die Erkenntnistheorie neue und wichtige Wege gezeigt.
Die Philosophie des Als-Ob will aber mehr sein als eine neue Er-
kenntnistheorie. Sie weist nicht bloß auf den biologischen Ursprung des
Denkens hin, sondern sie zeigt auch, daß der anscheinend selbständig
') VgL Jerusalem, „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre", 1915,
6 ff
§ 27. Die Philosophie des „Als-Ob" 70
gewordene Intellekt Probleme schafft, die auf rein rationalem, logischem
Wege ganz und gar unlösbar und darum falsch gestellt sind. Indem
nun das Denken seiner ursprünglichen Aufgabe zurückgegeben wird,
betont die Philosophie des Als-Ob mit Kant das Primat der prak-
tischenVernunft und stellt das Denken mit voller Entschieden-
heit indenDienstdesLebens. Dabei soll nun die Welt der F i k-
t i o n e n, deren Ursprung und Bedeutung Vaihinger zuerst voll er-
kannt hat, eine wichtige Funktion übernehmen.
Auf dem Gebiete der Ä s t h e t i k spielt zwar, wie Konrad Lange
in seinem tiefgründigen Werke : „Das Wesen der Kunst", nachgewiesen
hat, die „bewußte S e 1 b s t - 1 1 1 u s i o n" eine sehr wichtige Rolle,
und man kann also hier mit einem gewissen Recht von einer „Als-Ob-
Welt" sprechen, die mächtige Wirkungen ausübt. Vaihinger glaubt
aber, daß die Philosophie des Als-Ob auch für die letzten Fragen der
Rechtswissenschaft, der Ethik und der Religions-
philosophie Lösungen zu bieten habe, die ohne jeden Schritt ins
Transzendente geeignet seien, tief gefühlte Bedürfnisse des mensch-
lichen Gemütes dauernd zu befriedigen.
Gegen diese Erweiterung der „Philosophie des Als-Ob" zu einer
Welt- und Lebensanschauung erheben sich nun nicht ungewichtige
Zweifel und Bedenken, auf die ich zum Teil schon in meinem oben er-
wähnten Aufsatz hingewiesen habe. Vaihinger legt ausführlich dar,
daß der Begriff der Willensfreiheit nicht nur der beobachteten
Wirklichkeit, in der alles nach unabänderlichen Gesetzen erfolge, son-
dern auch sich selbst widerspreche. „Aller dieser Widersprüche un-
geachtet, wenden wir diesen Begriff nicht nur im täglichen Leben bei
der Beurteilung der moralischen Handlungen an, sondern er bildet auch
die Grundlage des ganzen Kriminalrechtes: ohne jene Annahme wäre
eine Strafe für etwas Getanes undenkbar vom sittlichen Standpunkt aus.
Aber auch die Beurteilung unserer Nebenmenschen hängt so voll-
kommen von diesem Begriffsgebilde ab, daß wir es nicht mehr ent-
behren können" (Philosophie des Als-Ob, S. 59). „Die Menschheit",
so fährt Vaihinger fort, „hat dieses wichtige Begriffsgebilde im Laufe
der Entwicklung mit immanenter psychischer Notwendigkeit gebildet,
weil nur auf seiner Grundlage höhere Kultur und Sittlichkeit möglich
ist; allein das hindert nicht einzusehen, daß dieses Begriffsgebilde
selbst eine logische Monstrosität ist, daß es ein Widerspruch ist, kurz,
daß es nur eine Fiktion, keine Hypothese ist" (a. a. O. S. 60). In
ähnlicher Weise betrachtet Vaihinger auch die r e 1 i g i ö s e n Ideen als
theoretisch widerspruchsvolle und praktisch wertvolle Gebilde und zählt
sie ebenfalls zu den Fiktionen. Er hat zur Illustration auf einen sehr
interessanten Versuch einer „Religion des Als-Ob" hingewiesen, den
ein Zeitgenosse Fichtes, namens Forberg, unternommen hat (a. a. O.
S. 735 ff.).
Dagegen wäre nun folgendes zu sagen: Auf dem Gebiete des
Rechtes mag vielleicht die Annahme der Willensfreiheit auch dann
ihre Wirkung tun, wenn man sie bloß als Fiktion gelten läßt, weil es
hier auf die s o z i o 1 o g i s c h e W i r k u n g der Rechtsinstitution weit
mehr ankommt als auf die theoretische Grundlegung. Wesentlich
80 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
anders verhalt es sich aber in bezug auf das Gebiet der Sittlich-
keit und der R e 1 igi o n. Die sittlichen Forderungen haben zwar
ebenso wie die Rechtsinstitutionen ihre Quelle und ihren Ursprung
ebenfalls im menschlichen / u s a m menleben. Allein hier gewinnen,
\\ ie w eiter unten gezeigt werden soll, die s o z i a 1 e n Imperative
erst dadurch den Charakter von sittlichen Pflichten, daß sie
tief in das Bewußtsein der Einzelmenschen eindringen und von ihm
innerlich als verbindlich anerkannt werden. Überdies zeitigt die stets
wachsende Überzeugung vom Eigenwert jedes Einzelmenschen immer
mehr das ( lefuhl der Menschenwürd e, das wir weiter unten als
überaus wichtigen Hebel der sittlichen Höherentwicklung kennen lernen
werden. Für diese Betrachtungsweise der ethischen Probleme wird die
Annahme einer Willensfreiheit von fundamentaler Bedeutung, und es
genügt dafür nicht, sie als bloße Fiktion gelten zu lassen. Nun steht
aber diese Annahme zwar mit jeder materialistischen, aber
keineswegs mit jeder naturwissenschaftlichen Welt-
anschauung in Widerspruch. Die neueren Untersuchungen von
William James, von Karl Joel und von Heinrich Oomperz haben er-
wiesen, daß die Leugnung der Willensfreiheit keineswegs eine wissen-
schaftliche Selbstverständlichkeit ist. Für die Begründung der sittlichen
Forderungen genügt aber die Fiktion der Freiheit oder eine
Ethik des Als-Ob durchaus nicht. Es scheint mir vielmehr in der sitt-
lichen Bestimmung des Menschen die Aufgabe enthalten zu sein, gerade
durch sein ethisches Tun die Freiheit und die Würde des Menschen
immer mehr als Tatsache zu erweisen.
Noch weniger vermag, meiner Überzeugung nach, eine Reli-
gion des Als-Ob einen Ersatz für den lebendigen Glauben des
frommen Gemütes zu bieten. Wir brauchen den Gottesbegriff, um
unserem empirischen Weltbilde den erwünschten Abschluß zu
geben. Das kann aber nur der Begriff einer Gottheit leisten, die von uns
ils reales, als wirkliches und vor allem als wirkungsfähiges Wesen ge-
dacht wird. Davon soll noch weiter unten die Rede sein.
Wenn also die Philosophie des Als-Ob als neue Welt- und Lebens-
anschauung nicht ganz zu befriedigen vermag, so hat sie doch das
Wesen und die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis in eine neue
und in eine helle Beleuchtung gerückt. Indem sie das Denken als bio-
logische Funktion erfaßt, lehrt sie uns den innigen Zusammenhang von
1 i kennen und Leben viel tiefer und viel klarer verstehen. Dadurch aber,
daß sie auf die verschlungenen Umwege und Schleichwege hinweist, die
das Denken, vom Lebensdrang getragen, aufzufinden weiß, um die Natur
dem Mensehen dienstbar zu machen, lernen wir auch die schöpferische
Krafl des Menschengeistes viel besser, viel richtiger und, wenn ich so
sagen darf, viel konkreter erkennen und würdigen.
Vaihinger bezeichnet seine Philosophie als „idealistischen
P o s i t i v i s m u su. Sie ist Positivismus, weil darin die Empfindungs-
welt als letzte Realität betrachtet und jeder Schritt ins Transzendente
vermieden wird. Idealistisch darf sich diese Denkrichtung deshalb
nennen, weil darin die schöpferische Kraft des Geistes so lebendig zum
Ausdrucke kommt, und weil in ihr die Erzeugnisse der freien Phantasie,
§ 28. Der Pragmatismus 81
also das, was wir gewöhnlich „Ideal e" nennen, eine so bedeutsame
Rolle spielen.
In den Vorbemerkungen zu seinem Werke weist Vaihinger auf ge-
wisse Strömungen in der gegenwärtigen Philosophie hin, durch die er
veranlaßt wurde, sein Jugendwerk noch bei seinen Lebzeiten, zu ver-
öffentlichen. Als eines dieser „Momente" bezeichnet er den von Amerika
herübergekommenen „Pragmatismu s", bei dem man, wie er sehr
richtig sagt, „die unkritischen Übertreibungen von dem Wertvollen
scheiden muß" (Philosophie des Als-Ob, S. XI). Diese in Deutschland
so vielfach mißverstandene und arg verketzerte Denkrichtung wollen
wir noch einer kritischen Betrachtung unterziehen, um dann zur Dar-
stellung unserer eigenen Auffassung des Erkenntnisprozesses über-
zugehen.
§ 28. Der Pragmatismus
Von der Erwägung ausgehend, daß die kritischen Untersuchungen
des menschlichen Erkennens so wie die metaphysischen Spekulationen
über den Urgrund der Dinge die Philosophie immer mehr der wirklichen
Welt und dem Leben entfremdeten, kamen am Ende des vorigen Jahrhun-
derts einige amerikanische Philosophen auf den Gedanken, den Stand-
punkt der Betrachtung zu verändern. Sie sagten sich, daß das theo-
retische Denken erfahrungsgemäß dazu diene, um dem menschlichen
Handeln die Richtung zu bestimmen und dem Leben neuen Inhalt zu-
zuführen. Auf diese praktische Bedeutung des Denkens wurde nun die
Aufmerksamkeit gerichtet und so entstand die neue Erkenntnistheorie,
für welche später die Bezeichnung Pragmatismus üblich wurde.
Der Begründer dieser neuen Methode ist Charles Peirce. In einem
im Jahre 1878 erschienenen Aufsatze*), der das Thema behandelt:
„Wie wir uns unsere Ideen klar machen können", hat er darauf hin-
gewiesen, daß unsere Urteile und unsere Überzeugungen eigentlich
nichts anderes sind als Regeln für unsere Handlungsweise. Wenn wir
also den wahren Sinn und Inhalt eines Gedankens uns selbst zu voller
Klarheit bringen wollen, so müssen wir versuchen, die Wirkungen dieses
Gedankens auf menschliche Handlungen aufzuzeigen. Es gibt keine Ge-
danken-Distinktionen, und wären sie noch so subtil, die nicht irgend
welche praktische Unterschiede bedingen. Wo wir keine solchen prak-
tischen Konsequenzen nachweisen können, da ist der Gedanke inhalts-
los und besteht bloß in Wortverbindungen. Die Erfassung der prak-
tischen Konsequenzen eines Gedankens ist die Erfassung seines voll-
ständigen und seines einzigen Sinnes.
Aus dieser Grundanschauung hat sich nun der Pragmatismus als
Methode entwickelt, die bisher hauptsächlich in zweifacher Richtung
*) Peirces Artikel erschien zuerst in der amerikanischen Zeitschrift „Populär
Science Monthly" (Januar 1878) und ist am besten zugänglich in der französischen
Übersetzung, die die „Revue Philosophique" (Dezember 1878 und Januar 1879)
brachte. Das Wort Pragmatismus kommt in der Abhandlung nicht vor.
Vgl. Jerusalem in der Deutschen Literaturzeitung 1908, Nr. 4, und Ludwig Stein
im Archiv für systematische Philosophie, 1908.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 0
Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
gewendet wurde, Der Pragmatismus ist zunächst dazu verwendet
den, um Probleme auszuschalten, deren Lösung für die praktische
1 ebensführung bedeutungslos ist. Der Pragmatist fragt sich nämlich
bei jedem Problem: Was für praktische Folgen ergeben sich aus der
einen 1 ösung und welche aus der entgegengesetzten? Zeigt es sich nun,
daß wir uns in beiden Fällen gleich benehmen müssen, so liegt kein
Problem vor. Dies nun /. B. bei der Frage nach der Realität oder
Idealität der Außenwelt zu. Der Idealist muß sich der Außenwelt
gegenüber genau so benehmen wie der Realist und somit ist der ganze
Streu im den Pragmatisten wert- und bedeutungslos. Dagegen ist die
I rage, ob die Welt von Gott geschaffen wurde oder ob sie aus rein
materiellen Prozessen entstanden sei, für die Lebensführung von großer
Bedeutung, weil die Welt mir etwas ganz anderes verheißt, wenn ich
i ioti als ihren Urheber betrachten darf, als wenn die Materie selbst
alles hervorgebracht hat. Es ist also für den Pragmatismus ein Pro-
blem, das des Nachdenkens wert ist.
Das zweite Gebiet, auf welches die pragmatische Methode bis-
her angewendet wurde, ist der Erkenntnisprozeß und der Wahr-
tieitsbegriff. Der Pragmatismus faßt das Denken als einen Teil
und als einen Faktor des Lebens auf. Die Wahrheit eines Urteils be-
steht nach dieser Auffassung nur in den praktischen Wirkungen, die
Jas Urteil auslöst. Wahr ist ein Urteil dann, wenn die dadurch ver-
anlaßten Maßnahmen sich als lebensfördernd erweisen. Eine
rein theoretische Wahrheit, die in der bloßen Konstatierung eines Tat-
bestandes sich erschöpft, gibt es bei dem engen Zusammenhang
/wischen Denken und Leben überhaupt nicht. Noch weniger kann von
einer absoluten, für alle Zeiten und für alle denkenden Wesen gültigen
Wahrheit die Rede sein. Die Wahrheit hat immer etwas Aktives, Rich-
tunggebendes. Sie ist nicht zeitlos, sondern immer der Zukunft zu-
kehrt.
Diese neue Auffassung des Wahrheitsbegriffes erschüttert alte,
festgewurzelte Denkgewohnheiten und findet deshalb von vielen Seiten
heftigen Widerspruch. Es sind insbesondere die Vertreter der alten
formalen Logik und die Mathematiker, die sich gegen die pragmatische
Auffassung der Wahrheit wehren. Die Logiker und Mathematiker
halten daran fest, daß es ewige, zeitlose Wahrheiten gibt, die unab-
hängig von aller Erfahrung gefunden werden und für jede mögliche
Erfahrung gelten müssen. In den letzten Jahren hat der Kampf gegen
den Pragmatismus und die Verteidigung desselben in den englischen
und amerikanischen Zeitschriften einen großen Raum eingenommen.
Auf dem Heidelberger Philosophen-Kongreß im Jahre 1908 war die
neue Methode der ( iegenstand sehr lebhafter Diskussionen. Eine
Klärung der Ansichten ist zurzeit noch nicht eingetreten, allein der
Pragmatismus wird durch die Argumente der Gegner zur Weiter-
entwicklung des ihm zugrunde liegenden Gedankens veranlaßt werden.
Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Erkenntnis-
pr< . die uns im nächsten Paragraphen beschäftigen wird, dürfte
/eigen, daß der Pragmatismus mii seiner aktivistischen Auffassung
des Wahrheitsbegriffes im wesentlichen recht hat. Die in jedem Urteile
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 83
enthaltene Deutung der Eindrücke bleibt immer auf die V e r w e r-
t u n g gerichtet. Wenn aber die Lebensbedingungen komplizierter
werden, so schaltet sich oft zwischen Deutung und Verwertung eine
kleinere oder größere Wartezeit ein. Wir deuten den Eindruck und be-
wahren die Deutung zur künftigen Verwertung auf. Wir lernen gleich-
sam auf Vorrat urteilen. Das Wissen ist und bleibt, wie einer
der energischesten Vertreter des Pragmatismus, Prof. F. C. S. Schiller
aus Oxford, in Heidelberg gesagt hat, „Mittel und Vermittlung". In
letzter Linie zielt alles Urteilen und somit die ganze Wissenschaft auf
Verwertung ab. In ähnlichem Sinne hat sich auch Ernst Mach aus-
gesprochen *). Allein die oben erwähnte Wartezeit zwischen Deutung
und Verwertung nimmt immer größere Dimensionen an. Hier schaltet
sich allmählich nichts Geringeres ein als die ganze theo-
retische Wissenschaft. Diese lehrt uns, die Erfahrung zer-
gliedern und mit Hilfe der früheren Erfahrungen und der daraus ab-
gezogenen Begriffe ökonomisch ordnen. Wir sehen uns immer mehr ge-
zwungen, von der unmittelbaren Verwertbarkeit der Urteile abzustehen
und die Deutung der Eindrücke ohne Rücksicht auf künftige Verwer-
tung möglichst exakt und möglichst vollständig zu gestalten. Das
wissenschaftliche Denken zeitigt in uns, wie wir oben (§5) dargelegt
haben, die Fähigkeit, Tatsachen zu konstatieren, was
durchaus nicht so leicht und so einfach ist, wie man gewöhnlich glaubt.
Haben wir aber unsern Intellekt mit Hilfe der Wissenschaft so
geschult, daß wir unsere Gefühle, Wünsche und Triebe so weit zu
unterdrücken vermögen, daß wir imstande sind, das objektiv Ge-
gebene rein zu erfassen, so brauchen wir auch eine Formel, welche
ausdrückt, daß das von uns Konstatierte wirklich eine von uns unab-
hängige Tatsache darstellt. Diese Formel ist der für die Wissenschaft
unentbehrliche theoretische Wahrheitsbegriff, eine Art
von Vorratskammer für künftige Verwertungen. Der Pragmatismus
hat die Unentbehrlichkeit des theoretischen Wahrheitsbegriffes für die
Wissenschaft nicht erkannt und sich deshalb viel unnütze Streitig-
keiten zugezogen. Daß aber die rein theoretische Wahrheit der Wissen-
schaft nicht der letzte Zweck alles Denkens ist, darin hat der Pragma-
tismus zweifellos recht. Diesen letzten Zweck zu bestimmen, ist eben
die Aufgabe der Philosophie, die sich dadurch von der Wissenschaft
unterscheidet, wie oben (§5) dargelegt wurde. Der Pragmatismus ist
keine fachwissenschaftliche, sondern eine durchaus philo-
sophische Methode. Er hat das bleibende Verdienst, auf den engen
Zusammenhang zwischen Denken und Leben hingewiesen und die
Philosophie dadurch dem Leben näher gebracht zu haben.
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie
Wenn die Philosophie nicht mehr weltfremde Spekulation, son-
dern lebensfördernde Denkarbeit sein soll, so muß die Erkenntnis-
theorie ihren isolierenden Standpunkt aufgeben und muß den Ver-
") Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, 3. Aufl. S. 462.
84 I rkenntiiiskritik und Erkenntnistheorie
such unternehmen, die menschliche Erkenntnis als einen Entwicklungs-
prozeß zu verstehen, der in der Entfaltung des individuellen Einzel-
lebens und des Lebens der menschlichen Gesellschaft naturnotwendig
hervortritt, an der allgemeinen Lebensentwicklung teilnimmt und auf
diese zurückwirkt. Die sinnliche Wahrnehmung und das begriffliche
Denken sind dann nicht als zwei getrennte Seelenvermögen zu be-
trachten; sie sind vielmehr Ausstrahlungen einer und derselben
geistigen Kraft und wirken überall zusammen. „Gedanken ohne Inhalt
sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", hat schon Kant
igt und damit zweifellos eine wichtige Wahrheit ausgesprochen.
In jedem Erkenntnisakt tritt unsere ganze psychophysische Organi-
sation lebendig in Wirksamkeit, und die Erkenntnistheorie muß vor
allem bemüht sein, durch das vertiefte Studium der Erkenntnisakte die
' irundform alles Erkennens zu finden. Aus dem Zusammenwirken des
menschlichen Organismus mit seiner Umgebung, aus der Art und
Weise, wie unser Bewußtsein auf die Eindrücke reagiert, die von außen
auf uns einstürmen, aus den Maßnahmen, die wir treffen müssen, um
uns in der Umwelt zu behaupten und um diese Umwelt beherrschen zu
lernen, wird sich die dem Menschen gemäße Form finden lassen, in die
er genötigt ist, die Vorgänge der Außenwelt zu bringen, um sich darin
/urecht zu finden.
Die genetische Betrachtung wird daher den Erkennt-
nisprozeß im Zusammenhang mit dem übrigen Seelenleben unter-
suchen. Die Erkenntnistheorie darf das Erkennen nicht gewaltsam von
seinem Zusammenhang mit dem Fühlen und Wollen loslösen, kurz, die
Erkenntnistheorie muß auf psychologischer Grundlage auf-
gebaut werden..
Man darf ferner nicht vergessen, daß der Trieb nach
Erkenntnis dem Lebenserhaltungstriebe ent-
stammt. Der Mensch muß sich in seiner Umgebung zurechtfinden,
er muß wissen, wessen er sich von den ihn umgebenden Objekten zu
versehen hat, muß ihre aktuellen und ihre potentiellen
K r a f t ä u ß e r u n g e n verstehen und deuten lernen, wenn er sich
in ihrer Mitte soll erhalten und sie nach und nach soll beherrschen
können. In der Tat verdanken auch alle Wissenschaften ihr Entstehen
einem praktischen Bedürfnisse. So ist die Astronomie im Dienste der
Landwirtschaft und der Schiffahrt und vielleicht auch zum Zwecke
einer genaueren Zeiteinteilung ausgebildet worden. Die Geometrie ist
als 1 eldmeßkunst entstanden und die Arithmetik wurde im Dienste
des Handels ausgebildet. Die Not hat nicht nur beten,
sondern auch denken gelehrt. Sowie aber der Trieb nach
I rkenntnis geweckt war, hat er sich viel weiter und viel mächtiger ent-
wickelt, als das unmittelbare Bedürfnis reichte. Er ist zu einem F u n k-
tion sb e d ü r f n i s unseres Organismus geworden, das nach Be-
friedigung verlangt. Auf diesem Wege ist das Streben nach Wissen um
des Wissens willen entstanden und so hat sich auch jenes theoretische
Staunen entwickelt, das wir oben als Anfang der Philosophie bezeichnet
haben. Ulein der biologische Ursprung des Erkenntnistriebes darf doch
nicht vergessen werden.
§ 29. Genetische und biologische Erkennistheorie 85
Wenn ferner gesagt wurde, die Sinne liefern den Stoff, der Ver-
stand die Form der Erkenntnis, so muß versucht werden, diese Form
näher zu bestimmen. Kant hat die Stammformen des Verstandes durch
Reflexion auf die von der traditionellen Logik überlieferte Eintei-
lung der Urteile gefunden. Diese Klassifikation ist jedoch eine
zu logischen Zwecken vorgenommene Umformung der wirk-
lich vollzogenen Urteile und sagt uns nichts über den
psychologischen Vorgang, der sich tatsächlich in jedem Urteilsakte voll-
zieht. Deshalb scheint es das Richtigere, die Form des U r t e i 1 s über-
haupt, wie es tatsächlich vollzogen wird, zu untersuchen. M u ß d o c h
jede Erkenntnis, die einfache Sinneswahrneh-
mung ebenso wie das Resultat einer sehr kompli-
zierten Gedankenreihe, in der Form des Urteils
gedacht und ausgedrückt werden.
Das Wesentliche an jedem Urteilsakte ist nun nicht, wie vielfach
geglaubt wird, eine Verbindung von Begriffen oder eine Assoziation
von Vorstellungen. Der beurteilte Vorgang ist vielmehr vor dem
Urteile als einheitliche Vorstellung gegeben. Durch das Urteil erfährt
nun der Vorstellungsinhalt eine bestimmte Formung und Gliede-
rung, und zwar in der Weise, daß der Vorgang auf ein selbständig
vorhandenes Kraftzentrum bezogen und als K r a f t ä u ß e-
rung dieses Kraftzentrums hingestellt wird. Die duftende
Rose ist vor dem Urteil als Ganzes gegeben. Im Urteil: „Die Rose
duftet" ist das Duften als eine Kraftäußerung des Kraftzentrums Rose
aufgefaßt. Das Kraftzentrum ist das Subjekt, die Äußerung das
Prädikat.
Diese Auffassung wird noch begreiflicher, wenn man versucht,
das allgemeine psychologische Gesetz zu finden, das sich darin wirk-
sam erweist. Es liegt hier nämlich nichts anderes vor, als eine allen
Menschen gemeinsame Art der Apperzeption. Unter Apperzep-
tion verstehen wir die Formung und Aneignung einer
Vorstellung mittels der durch die Aufmerksam-
keit aktuell gewordenen Vorstellungsdisposi-
tionen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand
konzentrieren, so wird dieser dadurch in den Blickpunkt des Bewußt-
seins gehoben, und alle Vorstellungen, die mit dem Gegenstande, sei
es durch Ähnlichkeit, sei es durch Kontiguität zusammenhängen, wer-
den dadurch lebendig. Diese wachgerufenen Vorstellungen strahlen
nun gleichsam ihr Licht auf den Gegenstand zurück, wodurch dieser
selbst in eine neue Beleuchtung gerückt wird.
Unter den vorhandenen Vorstellungsdispositionen werden natur-
gemäß diejenigen am leichtesten durch die Aufmerksamkeit lebendig
werden, die am stärksten ausgebildet und demnach bei den betreffen-
den Individuen die vorherrschenden sind. Ein und derselbe Gegen-
stand wird deshalb bei verschiedenen Personen verschiedene Vorstel-
lungsgruppen wachrufen, das heißt er wird in verschiedener Weise
apperzipiert werden. Die am leichtesten erregbaren Vorstellungs-
gruppen wollen wir die herrschende Apperzeptions-
masse nennen. So sieht z. B. der müde Wanderer in einem Walde
S6 1 rkenntniskritik und Erkenntnistheorie
nur den Schatten gewährenden Ort, der Maler wird hingegen die Far-
benschattierungen und <.lk' Baumgruppen beachten, der Zimmermann
wird auf die < iröße und Stärke der Stämme aufmerksam werden, der
I örster auf den Baumschlag, der Jäger auf die Spuren des Wildes.
So verschieden nun auch dieselben Objekte apperzipiert werden
können, so gib! es doch eine Auffassungsweise, eine Art der Apper-
eption, die wir allem Geschehen in gleicher Weise entgegenbringen.
W enn ein Kind den Versuch macht, einen Gegenstand zusammen-
zudrücken, so erscheint ihm der Widerstand, den es empfindet, als ein
wollter Gegendruck. Das Kind legt eben seine eigenen
\\ illensimpulse auch den umgebenden Objekten bei und faßt so die
Vorgänge als Willensäußerungen auf. Das Kind apperzipiert jeden
Vorgang so, daß dadurch die stärkste Vorstellungsdisposition rege
Aird. Unter allen Dispositionen hat aber keine auch nur annähernd
dieselbe Stärke wie die durch die Bewegungen des Körpers immer
wieder aktuell werdende Disposition, Willensimpulse zu erleben. Die
I rinnerung an die erlebten Willensimpulse wird also am leichtesten
wachgerufen, und diese Erinnerungen bilden die vorherrschende
\pper/eptionsmasse, die das Kind an jeden Vorgang heranbringt, dem
seine Aufmerksamkeit zuwendet. Jedes wahrgenommene Objekt gilt
dem Kinde als ein beseeltes Wesen, und alles, was es an dem Objekte
bemerkt, wird von ihm als Willenshandlung des Dinges aufgefaßt.
Dieselbe beseelende (animistische) und vermenschlichende (anthropo-
morphische) Auffassung finden wir auch bei den Naturvölkern wirk-
sam. Das Fließen des Wassers, das Wehen des Windes, das Leuchten
der Sonne, des Mondes und der Sterne, alle diese Vorgänge werden als
Willensäußerungen sichtbarer oder unsichtbarer Wesen gedeutet. Diese
\pperzeptionsweise nun, durch welche alle Vorgänge der Umgebung
als Willensäußerungen selbständiger Objekte ge-
deutet werden, nennen wir die fundamentale Apperzep-
tion.
I\üiü spricht in der „Kritik der reinen Vernunft" (transzendentale
Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, III. Band, S. 114 ff. der
Hartenstein&chen Ausgabe) wiederholt von einer „synthetischen", „ur-
sprünglichen" oder auch „transzendentalen Einheit der Apperzeption".
ir versteht darunter die Fähigkeit des Denkens, das Angeschaute in
der I inheit des Selbstbewußtseins zu verbinden. „Das ,Ich denke', sagt
er, .,11111 ß alle meine Vorstellungen begleiten können." Auch nach ihm
iil.m sich diese Grundvoraussetzung alles Erkennens in dem Akte
des l i teilens, und er sagt ausdrücklich, daß „ein Urteil nichts anderes
ist als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apper-
zeption zu bringen". ( S. 121.) Die transzendentale Apper-
zeption vollzieht sieh also auch nach Kant in jedem Urteil und ist
nach ihm die Grundform und die Grundbedingung alles Erkennens *).
') Daß liier eine neue und sehr bedeutsame psychologische Einsicht
Kants vorliegt habe ich nachzuweisen versucht in meiner Gedenkrede auf Kant
(Wien l'HM). S. 15 it.. und in meinem Buche: „Der kritische Idealismus und die
reine Logik" (Wien 1905), S. 10 ff.
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 87
In Anlehnung an Kant, aber doch in deutlichem, ja in grundsätz-
lichem Unterschiede von ihm, nennen wir die Grundform und die
Grundbedingung alles menschlichen Erkennens nicht die transzenden-
tale, sondern die fundamentale Apperzeption. Während
nämlich nach Kants Auffassung die Einheit der Apperzeption vor
aller Erfahrung gegeben, also transzendental und demnach a priori ist,,
liegt in dem, was wir fundamentale Apperzeption nennen, eine Erfah-
rung vor, aber freilich eine Erfahrung, die jeder menschliche Organis-
mus, der inmitten einer Umgebung sich entwickelt und von dieser Ein-
drücke empfängt, notwendigerweise machen muß und tatsächlich auch
macht. Während ferner Kant in der transzendentalen Einheit der
Apperzeption nur die ganz allgemeine, gar nicht näher bestimmte for-
male Bedingung sieht, Vorstellungen zu verbinden und sie in ein Selbst-
bewußtsein einzugliedern, glauben wir in der fundamentalen Apper-
zeption die genau bestimmte, speziell menschliche und vermensch-
lichende Formung zu finden, die jeder Inhalt erfahren muß, damit er
unser geistiges Eigentum werde. Durch die fundamentale Apperzeption
werden die Vorgänge unserer Umgebung aus der Sprache des Uni-
versums ins Menschliche übersetzt.
Versuchen wir nun, den Entwicklungsgang der menschlichen Er-
kenntnis, wie er sich im Lichte der fundamentalen Apperzeption dar-
stellt, kurz zu skizzieren.
Den Anfang des Seelenlebens bildet wahrscheinlich ein dunkles
Lebensgefühl, das sich in den entgegengesetzten Zuständen von
Lust und Unlust bewegt. Wir haben dieses Gefühl als die ursprüng-
liche, noch ganz und gar nicht differenzierte Reaktion
des Bewußtseins auf die in der Umgebung und im Inneren des Kör-
pers wirkenden Reize anzusehen. Dieses Gefühl scheint von gar keinen
Vorstellungen begleitet, noch ganz verworrenen, chaotischen Charak-
ters zu sein, und äußert sich in lebhaften Bewegungen, die noch keine
deutlich erkennbare Absicht und Richtung zeigen. Beim Erwachen aus
tiefem Schlafe oder aus einer Ohnmacht erleben wir etwas dem Ähn-
liches, und einen solchen Bewußtseinszustand dürfen wir bei neu-
geborenen Kindern voraussetzen.
Die Unlustzustände scheinen dabei viel deutlicher merklich zu sein
als die Lustzustände. Schon in den ersten Tagen, ja vielleicht in den
ersten Stunden seines Lebens dürfte das Kind verschiedene Arten von
Lust- und Unlustgefühlen erleben. Das Seelenleben beginnt bereits sich
zu differenzieren und mannigfacher zu gestalten. Die junge
Seele merkt anfangs nur das, was ihrer Entfaltung förderlich oder
schädlich ist. Die Vorgänge der Umgebung existieren für sie nur, in-
soferne sie Lust und Unlust bringen. Je mannigfachere Eindrücke nun
auf das Kind einströmen, desto mehr differenziert sich sein Lust- oder
Unlustgefühl. Wenn nun nach und nach immer mehr Zeit zwischen
Schlafen und Schreien verstreicht und das Kind Muße hat, die Um-
gebung auf sich wirken zu lassen, so heben sich die verschiedenen Lust-
und Unlustzustände immer deutlicher voneinander ab. Kälte bewirkt
andere Unlust als Hunger, das warme Bad ein Lustgefühl, das deut-
lich von demjenigen Gefühl unterschieden wird, welches das Kind etwa
s> Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
beim Aufnehmen der Nahrung erlebt. Die Veränderungen des Bewußt-
seinszustand.es, die das Kind erlebt, enthalten dann neben dem Lust-
und Unlustgefühl noch einen deutlieh merkbaren Bestandteil, und
dieser Bestandteil Mein mit der Natur des Reizes in viel engerer Be-
ziehung als das ursprüngliche Lust- und Unlustgefühl.
Dieser Bestandteil ist das psychische Moment, das wir Emp-
i i u d u n u nennen. Die Empfindung ist zunächst eine bestimmte
Veränderung des Bewußtseinszustandes, die sich
ebenso deutlich von dem sie begleitenden Lust- und Unlustgefühl wie
von anderen Veränderungen abhebt.
1 infache Empfindungen kommen im entwickelten Bewußtsein
nicht vor. Es sind da stets nur Komplexe von Empfindungen gegeben,
die auf äußere oder innere Reize bezogen werden und uns als wirk-
liehe Dinge oder Vorgänge erscheinen. Solche Empfindungskomplexe
nennen wir Wahrnehmungen. Die Zusammenfassung der ge-
gebenen Empfindungsgruppen zu einheitlichen Wahrnehmungen ist
nun das Werk der fundamentalen Apperzeption. Das wahrgenommene
Ding ist das Kraftzentrum und die Empfindungen, die durch dasselbe
m uns hervorgerufen werden, sind seine Kraftäußerungen oder Eigen-
schaften.
Die Wahrnehmungen hinterlassen nun in unserem Organismus
Dispositionen, vermöge deren das Bild des Gegenstandes in unserem
Bewußtsein entstehen kann, auch ohne daß der Sinnesreiz wirkt. Solche
reproduzierte Wahrnehmungen nennen wir im allgemeinen Vorstel-
lungen. Der Verlauf dieser Vorstellungen wird durch verschiedene
Gesetze geregelt, hauptsächlich aber durch eine Art Konzentration des
Organismus bestimmt, die wir Aufmerksamkeit nennen. Der
Selbsterhaltungstrieb veranlaßt den Menschen in primitivem Zu-
stande, vor allem auf diejenigen Merkmale der Gegenstände seine Auf-
merksamkeit zu konzentrieren, die für die Erhaltung seines Lebens die
wichtigsten sind. Durch diese Konzentration der Aufmerksamkeit auf
die biologisch bedeutsamen Merkmale entstehen die so-
genannten typischen Vorstellungen, die eine wichtige Vor-
stufe für die später auszubildenden logischen Begriffe abgeben.
I >ie I ntstehung der typischen Vorstellungen ist so recht geeignet, das
biologische Moment in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis
kenntlich zu machen. Dadurch, daß wir zunächst auf das achten, wo-
von unsere Lebenserhaltung abhängt, lernen wir erst gleichartige
Dinge in einem Denkakt zusammenfassen und gewinnen so eines der
wichtigsten Mittel, unsere Erfahrungen ökonomisch zu ordnen.
I inen höchst bedeutsamen Fortschritt in diesem Sinne bewirkt
die Entwicklung der Sprache. Die Sprachlaute sind zweifellos aus
unwillkürlich hervorgestoßenen Gefühlslauten entstanden.
Durch häufige Wiederholung derselben Eindrücke stumpft sich das
Gefühl ab, und die laute dienen dazu, Vorgänge in der Umgebung
Sprechenden zu bezeichnen. Diese Laute werden von den Mit-
menschen verstanden und dann absichtsvoll hervorgerufen, um mit den
Stammesgenossen Verständigung behufs gemeinsamer Arbeit zu er-
möglichen. Die ersten Sprachlaute, meist einsilbige Wurzelwörter, be-
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 89
zeichnen einen ganzen Vorgang, ohne daß darin Ding und Tätigkeit
voneinander geschieden werden. Als diese einfachen Laute nicht mehr
genügten, um Verständnis zu erzielen, suchte man die Bezeichnung
eines Vorganges durch zwei solcher Wurzellaute zu bewerkstelligen,
und damit war die Wurzel in Subjekt und Prädikat aus
einandergetreten, die Form des Satzes war gefunden. Diese Entwick-
lungsphase, die man gelegentlich auch beim Sprechenlernen der Kin-
der beobachtet, ist von großer Bedeutung. Im Satze hat nämlich die
fundamentale Apperzeption ihren adäquaten Ausdruck gefunden. Die
Form, in der wir die Welt aufzufassen nicht umhin können, ist jetzt
deutlich ausgeprägt, der so bezeichnete Vorgang ist jetzt vollständig
geformt, gegliedert und zugleich objektiviert. Die sprachlich formulierte
fundamentale Apperzeption wollen wir nun die Urteilsfun k-
t i o n nennen. Das Subjekt des Urteiles ist jetzt als selbständig exi-
stierendes Kraftzentrum hingestellt, das Prädikat bezeichnet die sich
eben jetzt vollziehende Kraftäußerung des Subjektes.
Dadurch aber, daß zur Bezeichnung des Vorganges ein Laut nicht
mehr ausreicht, tritt eine neue und bedeutsame Entwicklungsphase
ein. Das Subjekt des Urteiles „Die Rose duftet", also das Wort „Die
Rose" bezeichnet jetzt nicht mehr einen ganzen Vorgang, sondern wird
zum Träger aller nur irgend möglichen Wirkungen, die von der Rose
ausgehen können. Alle Objekte, in denen dieselben Kräfte wohnen,
werden mit dem gleichen Namen bezeichnet und dadurch in einem
Denkakt zusammengefaßt. Das Wort wird nun zum Träger der Eigen-
schaften und Zustände, die allen gleichnamigen Objekten zukommen,
und dadurch entwickelt sich die typische Vorstellung zum festen, am
Worte haftenden Begriff.
Durch das Prädikatswort werden aber auch Eigenschaften, Zu-
stände und Beziehungen von den Gegenständen, denen sie anhaften,
gewissermaßen losgelöst und damit der selbständigen Betrachtung zu-
gänglich gemacht. Eigenschaften wie Hart und Weich, Zustände wie
Gehen und Schlafen, Beziehungen wie Groß und Klein, werden auf
diese Weise zu selbständigen Denkobjekten gemacht und so zu Be-
griffen erhoben. Erst jetzt wird es möglich, Gleichmäßigkeiten und Ge-
setzmäßigkeiten im Weltgeschehen nicht nur flüchtig zu bemerken, son-
dern „mit dauernden Gedanken zu befestigen". Dadurch aber gewinnt
der Menschengeist immer neue und immer bessere Denkmittel, um die
Erfahrung ökonomisch zu ordnen, das Weltgeschehen zu begreifen und
zu beherrschen. Die Urteilsfunktion entwickelt sich zu immer neuen,
immer komplizierteren, immer verdichteteren Formen und findet kurze,
einfache und bequeme Formulierungen für umfassende Gedanken-
inhalte.
Außer dem denkökonomischen Wert der Sprache muß hier noch
auf eine andere Seite der Sache aufmerksam gemacht werden. Dadurch,
daß alle Sprachgenossen mit denselben Worten ähnliche Begriffe und
mit denselben Sätzen ähnliche Urteile bezeichnen, gesellt sich zu der
ökonomischen Allgemeinheit noch die soziale hinzu. Die Worte und
Sätze, die ich gebrauche, sind in ihrer jetzt allgemein geltenden Be-
deutung Produkte der gemeinsamen Arbeit der Sprachgenossen.
90 1 ikLiintniskritik und Erkenntnistheorie
Meine Behauptungen sind in Ihrer sprachlichen Formulierung gleich-
em getragen von der dann verdichteten Gesamtarbeit. Ich setze eine
stillschweigende Zustimmung voraus, wenn ich Satze ausspreche, die
allgemein verstanden und allgemein für wahr gehalten werden. Mit
dun gemeinsamen Sprachgut bildet sich ein Grundstock gemeinsam
für wahr gehaltener Urteile aus. In diesen Gemeinbesitz wird jeder
hineingeboren und dieses soziale Sprach- und Gedankengut hat einen
außerordentlich großen Einfluß auf die Entwicklung des Individuums.
\ut diesen sozialen Faktor in der Erkenntnisentwicklung kommen wir
weiter unten noch zurück.
Neben dvn \V;ihriiehmungsurteilen, in denen ein eben
wahrgenommener Vorgang in der bekannten Weise geformt, gegliedert
und objektiviert wird, entstehen Begriffsurteile, in denen G e-
M'i/c des Geschehens in der Weise formuliert werden, daß be-
stimmten Begriffen bestimmte Merkmale zugeordnet werden. Der Satz:
..her Walfisch ist ein Säugetier" enthält die Behauptung, daß jedem
Walfisch die Merkmale zukommen, die allen Säugetieren gemeinsam
sind. Auf Grund dieses Urteiles werde ich also von jedem Walfisch be-
haupten dürfen, daß er rotes und warmes Blut hat, durch Lungen
atmet, lebende Junge zur Welt bringt u. a. m. Dabei bleibt aber die
ursprüngliche Form des Urteiles bestehen. Der grobe Anthropomor-
pitismus der primitiven Kulturstufen und der Kinder, wo jedes Ding
der Umgebung als beseelt betrachtet und jede Eigenschaft desselben
als Ausfluß einer Willcnstätigkeit angesehen wird, kann der fort-
schreitenden Erkenntnis nicht standhalten. Allein auch der abstrakteste
Begriff bleibt für unser Denken eine Art Kraftzentrum, als dessen
potentielle Wirkungen wir seine Merkmale auffassen *).
Aus der Urteilsfunktion entsteht auch der für die Erkenntnis-
theorie so überaus wichtige Begriff der Wahrheit. Schon Piaton
und Aristoteles haben richtig hervorgehoben, daß das Urteil sich von
der Vorstellung, oder wie Aristoteles sich ausdrückt, von der „unver-
bundenen Rede" dadurch unterscheide, daß nur beim Urteil von wahr
und falsch die Rede sein könne. Eine Vorstellung, die ich erlebe, ist
tatsächlich vorhanden, aber an sich weder wahr noch falsch. Wenn
man trotzdem von richtigen oder falschen Vorstellungen spricht, so ist
dies nur eine abgekürzte Ausdrucksweise. Eine richtige Vorstellung
eine Vorstellung, die mich zu richtigen Urteilen veranlaßt, eine
falsche Vorstellung ist diejenige, aus der unrichtige oder unwahre
1 Irteile sich ergeben. Auch auf Gefühle und Willensentschlüsse finden
die Prädikate wahr und falsch keine Anwendung. Nur Urteile, die
oft unseren < »ei . hlen und Willenshandlungen vorangehen und eine
wichtige Teilursache dieser Erlebnisse bilden, nur Urteile können wahr
") Ausführlicher dargestellt und tiefer begründet findet man diese Auffas-
sung in meinem Buche: ..Die Urteilsfunktion , Wien 18Q5. Die dagegen er-
hobenen 1 inwände habe ich in meinem Buche: „Der kritische Idealismus und
die reine Logik" ( 1005) zu widerlegen versucht und dabei zugleich nach-
gewiesen, daß meine Auffassung des Urteils alle berechtigten Elemente der bis-
herigen Theorien in sich vereinigt. Für die psychologische Entwicklung des Er-
kenntnisprozesses \gl. mein „Lehrbuch der Psychologie", 7. Aufl. (1921).
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie Ql
oder falsch sein, und von der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Urteile
hängt gar oft die Zweckmäßigkeit der dadurch bedingten Gefühls- und
Willenszustände ab.
Wahrheit gibt es also nur im Urteil, und die Frage ist nun, wie
dieser Begriff entsteht, und was er bedeutet. Auf Grund der hier vor-
getragenen Anschauung ist die Beantwortung dieser Fragen nicht
schwer. Im Urteil wird ein gegebener Vorstellungsinhalt gegliedert und
objektiviert. Das Urteil ist somit ein Akt der Spontaneität oder der
Selbsttätigkeit unseres Geistes, ein Akt, durch den der aufgenommene
Eindruck eine Deutung erfährt. Erinnern wir uns nun daran, daß
dieser Akt der Selbsttätigkeit zunächst in dem Streben nach Selbst-
erhaltung seine Wurzel hat, so werden wir leicht einsehen, daß die
mit dem Eindruck vorgenommene Deutung ihrem ganzen Inhalt und
Zwecke nach darauf gerichtet ist, die Maßnahmen zu bestimmen, die
der Organismus zu treffen hat, um auf den Eindruck in zweck-
entsprechender Weise zu reagieren. Auf dieser Entwicklungsstufe ist
die Deutung dann richtig, wenn sie zweckentsprechende Maßnahmen
zur Folge hat, sie ist falsch, wenn auf Grund derselben verkehrte, das
heißt die Lebenserhaltung schädigende Maßnahmen getroffen werden.
Das heißt, richtiger ausgedrückt, daß das Verhältnis zwischen Deu-
tung und faktischem Tatbestande, das uns später als Wahrheit oder
Falschheit des Urteils zum Bewußtsein kommt, im Anfang nur in der
Form einer Reaktionstendenz vorhanden ist. Wenn aber die Kultur-
entwicklung fortschreitet, die Bedingungen der Lebenserhaltung kom-
plizierter werden, wenn der Mensch fähig und genötigt wird, sich ent-
ferntere Ziele zu setzen, die nur durch eine kombinierte größere Reihe
sorgfältig erwogener Maßnahmen erreicht werden können, dann
schaltet sich auch zwischen die Deutung und die Verwertung der Ein-
drücke eine größere Wartezeit ein. (Vgl. oben S. 83.) Wir vollziehen
die Deutungen oft, ohne sie sofort zu verwerten. Durch die sprachliche
und schriftliche Fixierung solcher Deutungen wird es möglich, die voll-
zogenen Urteile für künftige Verwertung aufzubewahren. Da sich aber
nicht alle vollzogenen Deutungen als verwertbar erweisen, so muß eine
Auslese getroffen werden. Man sucht also nach den Bedingungen der
künftigen Verwertbarkeit, und so entsteht der Wahrheitsbegriff.
Die Wahrheit eines Urteils ist nichts anderes als die Bedingung seiner
Verwertbarkeit für die Bestimmung der nötigen Maßnahmen. Dieses
aktivistische, auf künftige Tätigkeit gerichtete Element des
Wahrheitsbegriffes ist bis vor kurzem nicht erkannt oder nicht gewür-
digt worden. Alles theoretische Denken ist ein Urteilen auf Vorrat mit
der Tendenz zu künftiger Verwertung. Da aber die menschliche Tätig-
keit immer weitblickender wird und sich immer entferntere Ziele setzt,
so nimmt das theoretische Denken eine immer breiter werdende Mitte
ein, die sich zwischen Deutung und Verwertung einschaltet. Dadurch
gewinnt aber das theoretische Denken und Forschen eine relative Selb-
ständigkeit, die bei vielen den Schein erweckt, als sei das Denken vom
Leben selbst getrennt und unabhängig. Jedenfalls bilden sich inner-
halb des rein theoretischen Denkens Regeln und Begriffe aus, die zu
neuen Formulierungen des Wahrheitsbegriffes führen.
t rkumitniskritik und Erkenntnistheorie
Zum deutlichen Bewußtwerden des theoretischen Wahrheits-
riffes trägt eine ratsache des sprachlichen Lebens viel bei. Es ist
die I ntstehung der N egat i o n oder, genauer ausgedrückt, der
Verneinungspartikel. Ein und derselbe Tatbestand wird
Leicht von verschiedenen Personen verschieden gedeutet. Jede Deutung
Mithalt im Anfang der Kulturentwicklung zugleich die Tendenz zu be-
stimmten Maßnahmen. Wer meine Deutung nicht anerkennt, der weist
eben dadurch die mit dieser Deutung verbundenen Maßnahmen zurück.
I fiese Zurückweisung ist anfangs mit lebhaften Gefühlen verbunden und
wird deshalb durch einen eigenen Laut ausgedrückt. Da solche Zurück-
weisungen sich häufig wiederholen, stumpft sich das Gefühl ab und der
dafür erfundene Laut wird als Verneinungspartikel zum formalen
I lement des Urteils. Ich muß bei jeder Deutung, also bei jedem Urteil
auf eine mögliche Zurückweisung gefaßt sein. Wenn ich nun trotz der
Zurückweisungen an meiner früheren Deutung festhalte, so bildet sich
durch die Verteidigung das Bewußtsein von der Wahrheit des Urteils
deutlicher aus.
Wahrheit ist somit eine bestimmte Beziehung zwischen dem Akte
des Urteilens und dem beurteilten Vorgang, und es gilt nun, die Art
dieser Beziehung und die Bedingungen ihres Vorhandenseins zu be-
stimmen. Gewöhnlich sagt man, Wahrheit bestehe in der Überein-
stimmung eines Urteils mit dem beurteilten Vorgange. Daraus
würde sich ergeben, daß im Urteil der beurteilte Vorgang einfach nach-
gebildet, gewissermaßen kopiert werde. Diese naive Vorstellungsweise
■ ntspricht aber der heutigen Auffassung nicht mehr. Wir wissen, daß
im Urteil der vorgestellte Inhalt geformt und gegliedert wird und da
kann von Übereinstimmung nicht mehr die Rede sein. Wir werden viel-
mehr sagen müssen : ein Urteil ist wahr, wenn die darin vorgenommene
Formung und Objektivierung dem wirklichen Vorgang in der Weise
entspricht, daß Voraussagen, die sich auf das gefällte Urteil gründen,
tatsächlich eintreffen, woraus dann hervorgeht, daß das Urteil dem
beurteilten Vorgang entspricht, daß es ihm angemessen oder
adäquat ist. Das Urteil muß in dem Sinne eine Funktion des wirk-
lichen Vorganges sein, daß eine Änderung des objektiven Tatbestandes
luch eine entsprechende Änderung des Urteils zur Folge hat, und daß
die 1 olgerungen, die sich aus dem Urteil ergeben, sich auch für die
katsächliche Weiterentwicklung des wirklichen Geschehens als gültig
und als maßgebend bewähren*).
Das Eintreffen der Voraussagen ist das wichtigste und das ent-
scheidende Kriterium für die Wahrheit des Urteils. Wir nennen
es das objektive Kriterium. Nicht die sogenannte Evidenz
eines Urteils, nicht seine Denknotwendigkeit ist der überzeugende Be-
is »einer Wahrheit, sondern nur das Eintreffen der darauf gegrün-
deten Voraussagen. Nur dadurch kann das Universum in unwider-
leglicher Weise unseren Urteilen Beweiskraft und Wahrheitswert ver-
I einen.
'» i ber die I ntwicklung des Wahrheitsbegriffes vgl. „Der kritische Idealis-
mus usw.", s. I62ft
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 93
Es gibt nun freilich Urteile, bei denen eine solche Bestätigung
nicht möglich ist. Wenn wir über vergangene geschichtliche Ereignisse
urteilen oder wenn wir in unserem Erkenntnisdrang über die Grenzen
der Erfahrung hinausgehen, dann müssen wir uns damit begnügen, ein
weniger sicheres Kriterium der Wahrheit zu gewinnen, das aber doch
immerhin eine gewisse Gewähr dafür bietet, daß wir nicht ganz ver-
fehlte Gedankenwege betreten haben. Ein solches Kriterium ist die Z u-
stimmungder Denkgenossen. Wir wollen dies das inter-
subjektive Kriterium nennen.
Diese beiden Kriterien geben auch tatsächlich den Maßstab ab,
nach dem wir unsere Überzeugung von der Wahrheit eines Urteiles
bilden, wenn wir uns auch derselben nicht immer bewußt sind. Beim
Fällen eines Urteiles wirken die in ähnlichen Fällen oft eingetroffenen
Bestätigungen der darauf gegründeten Voraussagen als Erinnerungen
in der Weise auf uns ein, daß wir nicht erst abwarten zu müssen
glauben, ob die Voraussagen wirklich eintreffen. Ebenso sind wir in
vielen Fällen der Zustimmung der Denkgenossen im vorhinein gewiß.
Bei allen mathematischen Urteilen, das ist also bei solchen, die sich auf
Zahlen und Größen beziehen, haben wir, wenn diese Urteile den be-
kannten Zahlengesetzen gemäß gefällt werden, die unerschütterliche
Überzeugung, daß unsere darauf gegründeten Voraussagen eintreffen
müssen, und daß jeder Denkende, der den Sinn des Urteiles versteht,
demselben zustimmen wird. Infolge dieser allgemeinen Überzeugung
von der Richtigkeit gewisser Urteile hat sich bei vielen Denkern die
Meinung gebildet, es gebe Urteile, die vor aller Erfahrung,
und ohne daß eine Bestätigung durch die Erfahrung abgewartet werden
müsse, als unzweifelhaft sicher und wahr gelten. Piaton gründet auf
diese vermeintliche Tatsache den Beweis, daß die Seele des Menschen
schon vor ihrem Eintritt in den Körper existiert haben müsse, denn sie
besitze Kenntnisse, die sie nicht durch Erfahrung erworben haben
könne. Diese Einsichten seien Erinnerungen aus der Zeit, wo die Seele
noch unvermischt mit dem Körper ein unbeflecktes, reines, göttliches
Dasein führte und deshalb richtige Einsichten in das Wesen der Dinge
gewinnen konnte. In etwas weniger mystischer Form kehrt dieser Ge-
danke bei Philosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
wieder, wo man von angeborenen Ideen, ursprünglichen Einsichten
spricht und der menschlichen Vernunft das Vermögen zuschreibt, aus
eigener Kraft Wahrheiten zu finden. Kant untersucht in seiner „Kritik
der reinen Vernunft" dieses Vermögen und sucht im ersten Teile dieses
Werkes die Frage zu beantworten: „Wie ist reine Mathematik mög-
lich?" Er will also zeigen, durch welchen Urbesitz unseres Anschau-
ungsvermögens es möglich ist, daß Urteile, die nicht empirische Ele-
mente in sich enthalten, von uns gebildet werden, und warum diese
nicht ganz der Erfahrung entstammenden Urteile doch für jede mög-
liche Erfahrung Geltung haben müssen.
Die biologische Betrachtung des Erkenntnisprozesses und beson-
ders des Wahrheitsbegriffes lehrt uns aber, daß die Annahme eines
solchen Urbesitzes an derartigen ursprünglichen Einsichten nicht nur
überflüssig, sondern ganz unhaltbar ist. Überall, wo man von Evidenz,
I rkenntnlskritik und Erkenntnistheorie
von Denknotwendigkeit eines Urteiles spricht, gründet sich diese Evi-
denz und Denknotwendigkeii auf frühere Erfahrungen. Der Menschen-
i hal eben im Laufe seiner Entwicklung gelernt, die Erfahrungen
ökonomisch zu ordnen. I r ha1 Mittel gefunden, um die Erfahrungen
früherer Generationen zu verwerten und sie auf möglichst einfache
I ormeln zu bringen. Indem nun jede folgende Generation auf Grund
des 1 [reichten weiter baut, braucht sie die bereits getane Arbeit nicht
immer von Anfang an nochmals zu tun. Wir lehren unsere Kinder
bereits in der Elementarschule von den ererbten Denkmitteln Gebrauch
machen, und da geschieht es denn leicht, daß wir die Denkformen, an
die wir von Kindheit an gewöhnt sind, für einen Urbesitz des Men-
schengeistes halten, wahrend tatsächlich nichts anderes vorliegt als ein
mühsam erarbeitetes Erbgut vergangener Geschlechter.
Wollte man den Prozeß des Erkennens, wie er sich heute im Be-
wußtsein des erwachsenen Menschen tatsächlich vollzieht, einer ana-
lytischen Beschreibung unterziehen, dann käme man allerdings bald
auf gewisse grundlegende Erkenntnisse, von denen der einzelne nicht
mehr nachzuweisen imstande wäre, daß sie aus seiner selbsterlebten
Erfahrung stammen. Dadurch wäre dann wieder der Schein eines
i priori, eines Urbesitzes an Begriffen und Denkformen hervorgerufen.
Eben deshalb aber genügt für die Erforschung psychologischer Tat-
sachen und Gesetze die analytisch beschreibende Methode nicht. Erst
durch Hinzutreten der genetischen und biologischen Betrachtungsweise
wird der wirkliche Tatbestand aufgedeckt.
Auf Grund einer solchen Betrachtungsweise können wir nun sagen :
Es gibt keine Erkenntnis a priori. Aus dem Zusammenwirken von
< »rganismus und Umgebung entwickeln sich die allen Menschen ge-
meinsamen Erkenntnisformen, als deren wichtigste und grundlegendste
wir die fundamentale Apperzeption und die daraus entstehende Ur-
teilsform zu betrachten haben. Aus dieser allgemeinen Grundform des
menschlichen Erkennens entstehen dann auch einzelne Erkenntnis-
formen oder Kategorien, unter denen die der Substantialität
und der Kausalität die wichtigsten sind. In Kants Kategorien-
tafel spielen diese beiden tatsächlich die Hauptrolle. Kant betrachtet
sie als Urbesitz, als Urfunktionen der Vernunft, während
sie nach unserer Theorie sich leicht als Entwicklungs-
produkte nachweisen lassen.
Der Begriff der Substanz, worunter wir das beharrende, im
Wechsel der Erscheinungen unveränderliche Wesen der Dinge ver-
stehen, liegt vorgebildet bereits in der sinnlichen Wahrnehmung, wo
Komplexe von I tnpfindungen vermöge der fundamentalen Apperzep-
tion zu einheitlichen Dingen zusammengefaßt werden. In unserer Auf-
ladung unterscheiden wir das Ding von seinen Eigenschaften und be-
trachten es als dasjenige, was im Wechsel seiner Zustände und Be-
lebungen beharrt und sich erhält. Durch die Urteilsfunktion wird im
Subjekt ebenfalls ein Beharrendes geschaffen, das als Träger der von
ihm ausgehenden Wirkungen betrachtet wird. Lernen wir dann noch
au den Dingen Stoff und Form unterscheiden, so ist wieder der
:t dasjenige, was im Wechsel von Gestaltung und Bewegung gleich
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 95
bleibt und sich erhält. So bildet sich dann der Begriff eines Unver-
änderlichen, Beharrenden heraus, das allen Veränderungen zugrunde
liegt und sich selbst immer gleich bleibt. Da jedes Subjekt den Sub-
stanzbegriff in sich schließt, so ist es begreiflich, daß dieser in jeder
Auffassung des Wirklichen wiederkehrt, und eben deshalb glaubte man
darin eine angeborene Stammform des menschlichen Verstandes zu er-
blicken. In den philosophischen Systemen ebenso wie in den natur-
wissenschaftlichen Theorien finden wir den Substanzbegriff wirksam.
In der Physik und Chemie betrachtete man lange und betrachtet viel-
fach noch jetzt die Atome als die letzten unveränderlichen Sub-
stanzen, als die beharrenden Träger aller Veränderungen. In der Bio-
logie sieht man die Zellen oder Bestandteile derselben (Neurone,
Plasome) als die letzten organischen Substanzen an. In den letzten
Jahren hat man allerdings den Versuch gemacht, den Substanzbegriff
aus der Naturbetrachtung zu eliminieren. Wir kommen weiter unten
auf diese Versuche zurück, müssen aber jetzt schon sagen, daß diese
Elimination von unserem Denkvermögen nie vollständig und dauernd
durchgeführt werden kann.
Die Erkenntnisform der Kausalität ist einerseits in unseren
Willenshandlungen, anderseits in jedem Urteilsakt unmittelbar ge-
geben. Wenn wir die Wahrnehmung des blühenden Baumes in das
Urteil umformen: „Der Baum blüht", so fassen wir den Baum als
Kraftzentrum auf, das aus sich heraus das Blühen hervorbringt. In
unseren eigenen Willenshandlungen erleben wir den Übergang vom
Willensentschluß zur Muskelkontraktion in lückenloser Unmittelbar-
keit. Bei den Ereignissen in unserer Umgebung nehmen wir oft nur
einzelne Glieder der Reihe wahr. Wir ergänzen aber nach der Analogie
unserer Willenshandlungen das Fehlende und fassen infolge der funda-
mentalen Apperzeption Reihen von Geschehnissen, die regelmäßig auf-
einanderfolgen, so auf, als ob dieselbe Lückenlosigkeit der Übergänge
in ihnen herrschte. Wir müssen jeden Vorgang, den wir wahrnehmen
oder erschließen, als verursacht denken durch das, was ihm voranging,
wir können die kausale Verknüpfung aus unserem Denken nicht elimi-
nieren. Indem wir urteilen, stellen wir Kraftzentren hin, die wirken, und
die Verbindung von Subjekt und Prädikat bleibt das Vorbild für alle
ursächliche Verknüpfung.
David Hume war der erste, der sich mit der Psychologie und
Kritik des Kausalbegriffes befaßte. Er glaubte nachweisen zu können,
daß in unserer unmittelbaren Erfahrung nur regelmäßige Auf-
einanderfolge gegeben sei, und daß die Idee der Verursachung von uns
fälschlich in die Welt getragen werde. Kant, dem diese Kritik, wie er
selbst sagt, „den dogmatischen Schlummer unterbrach", glaubte dann
in der Kausalität eine Stammform des Verstandes zu finden, die wir
an den von außen kommenden Empfindungsstoff heranbringen müssen,
damit Erfahrung möglich sei. Unsere Betrachtungsweise lehrt uns, daß
die Kausalität sich aus der Urteilsfunktion mit Naturnotwendigkeit
entwickelt, und daß sie so wie diese ein Produkt der Wechselwirkung
zwischen Organismus und Umgebung ist. Die Kausalität gehört also
nicht ganz dem subjektiven Faktor der Erkenntnis an, der objektive
90 Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
1 aktor i>t an ihrem Zustandekommen mitbeteiligt, und so hat es einen
ganz vernünftigen Sinti, \o\\ objektiven Ursachen zu sprechen. In
neuerer Zeil kehrt man vielfach zu llumc zurück und behauptet mit
ihm, wir könnten immer nur die Aufeinanderfolge der Ereignisse, nie
aber ihre kausale Verknüpfung erfahren. Demgegenüber sei darauf
hingewiesen, daß sieb bloße Aufeinanderfolge von kausaler Ver-
knüpfung deutlich unterscheidet. Zwischen Ereignissen, die regelmäßig
aufeinanderfolgen, besteht meist außer der zeitlichen Sukzession noch
ein innerer Zusammenhang, der uns der Verbindung zu gleichen
scheint, die wir in unseren Willenshandlungen zwischen dem Willens-
impuls und der Muskelkontraktion täglich erleben. Wo wir diesen Zu-
sammenhang vorfinden oder mit Grund vermuten, dort konstatieren wir
kausale Verknüpfung, wo er fehlt, dort kann nur von zeitlicher Auf-
einanderfolge die Rede sein. Wenn einem großen Kriege das Er-
scheinen eines Kometen vorhergeht, so vermag unser durch Erfah-
rungen geleiteter Verstand den Kometen niemals als das Kraftzentrum
zu betrachten, dessen Kraftäußerung der Krieg ist. Wir haben also nur
Aufeinanderfolge vor uns. Wenn dagegen eine Dosis Chinin zur Folge
hat, daß die Körpertemperatur des Kranken sich vermindert, so sind
wir auf Grund der wiederholten Erfahrung berechtigt, anzunehmen,
daß durch die Verabreichung von Chinin ein physiologischer Prozeß
eingeleitet wird, der in seinem Verlaufe eine Herabsetzung der Tem-
peratur mit sich bringt.
Auch die Zahlbegriffe entwickeln sich aus der Urteilsfunk-
tion. Gruppen gleicher Objekte regen zur Wiederholung desselben Be-
nennungsurteiles an. Die paarweise angeordneten Glieder mögen dazu
der erste Anlaß gewesen sein. „Hand, Hand", „Auge, Auge";
„Bein, Bein". Die Wiederholung wird gewiß ursprünglich von Ge-
bärden begleitet und die Zahl der Wiederholungen durch die Objekte
selbst bestimmt. Wer beim Anblick einer Gruppe von drei Bäumen die
l'rteile fällt: „Baum, Baum, Baum", dem wird eben bei der dritten
Wiederholung durch das sinnlich gegebene Wahrnehmungsbild der
I iruppe Halt geboten. Zu einer weiter fortgesetzten Wiederholung fehlt
der Anlaß, das heißt das zugehörige Objekt. Die letzte Wiederholung
dürfte von einem Laute begleitet gewesen sein, aus dem sich allmählich
das entsprechende Zahlwort entwickelte. Dieses wurde dann bei jeder
1 iruppe von Objekten gebraucht, die zu der gleichen Anzahl von
Wiederholungen veranlaßte, und so entstanden die ersten Zahlbegriffe.
Jede Zahl wird zu einem Inbegriff von Einheiten, der bei
lauerer Betrachtung bestimmte Beziehungen zu diesen Einheiten und
zu anderen Zahlen aufweist. Diese Beziehungen sind bei allen Gruppen
von Objekten dieselben und müssen daher für alle Objekte Gültigkeit
haben. So wurde auch hier durch die zusammenfassende Tätigkeit des
Denkens unter der Mitwirkung der Sprache ein überaus wichtiges
I >< nkmittel gefunden, von hoher Allgemeinheit und von großem Wert
ltir die ökonomische Ordnung der Erfahrung.
So entwickeln .sich aus der Urteilsfunktion allmählich die Erkennt-
Formen und die Denkmittel, mit denen wir operieren und die uns als
-tiges Rüstzeug dienen. Immer aber bleibt die fundamentale Apper-
§ 29. Genetische und biologische trkenntnistheorie 97
zeption wirksam und selbst die kompliziertesten Urteile vollziehen
in derselben Weise die Gliederung und Objektivierung gegebener
Inhalte. Indem wir die Eindrücke unserer Umgebung aus der Sprache
des Universums ins Menschliche übersetzen, machen wir diese Ein-
drücke zu unserem geistigen Eigentum. Dieses verwerten wir dann, in-
dem wir die erkannten Naturkräfte in unsere Dienste zwingen und so
unser Leben auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten und
immer inhaltsreicher zu gestalten vermögen. Das Resultat der Wechsel-
wirkung zwischen dem menschlichen Organismus und seiner Um-
gebung läßt sich nun in den Ausdruck zusammenfassen : Erkennt-
nisderWeltdurch Gestaltung und Gestaltung der
Welt durch Erkenntnis.
Die Wahrheit, die gewöhnlich als das Ziel aller Erkenntnis be-
zeichnet wird, ist, wie wir gesehen haben, eine bestimmte Beziehung
zwischen dem Urteilsakt und dem durch denselben geformten und ob-
jektivierten Vorgang. Diese Beziehung besteht natürlich nur im Be-
wußtsein denkender Wesen und tritt am deutlichsten hervor, wenn wir
Urteile, die uns überliefert sind, mit den dadurch bezeichneten Vor-
gängen vergleichen. Bei dieser Prüfung fremder Urteile kommen nun
psychische Phänomene zum Vorschein, die für die Erkenntnisentwick-
lung von großer Bedeutung sind. Wollen wir ein gehörtes oder ge-
lesenes Urteil verstehen, so müssen wir den im gehörten oder ge-
lesenen Urteil bereits geformten und gegliederten Vorstellungsinhalt
wieder zur Einheit zusammenfassen. Während das selbständig er-
zeugte Urteil eine Analyse ist, verlangt das überlieferte Urteil von
uns eine Synthese. Bei diesem Akte des Zusammenfassens und
Wiedervereinigens stellen sich nun oft Schwierigkeiten und Hem-
mungen ein. Gelingt es uns nicht, das gehörte Urteil zu einer einheit-
lichen Vorstellung zu vereinigen, so verstehen wir das Gehörte nicht.
Wir suchen uns dann durch Fragen Aufklärung zu verschaffen *).
Allein es kommt auch häufig vor, daß es uns wohl gelingt, die im über-
lieferten Urteile gegliederte Vorstellung nachzuergänzen, daß wir aber
finden, die im überlieferten Urteil vollzogene Deutung sei nicht richtig.
In diesem Falle verstehen wir das Gehörte oder Gelesene sehr wohl, aber
wirglauben es nicht. Auf diese Weise entsteht das psychische Phä-
nomen des Glaubens oder allgemeiner ausgedrückt des Fürwahr-
h alten s.
In neuerer Zeit ist mehrfach die Ansicht ausgesprochen worden,
daß in dem Akte des Fürwahrhaltens das Wesen der Urteilsfunktion
selbst liege. Der englische Logiker John St. MM hat gesagt : „Urteilen
und ein Urteil für wahr halten ist ein und dasselbe." Diese Meinung
ist schon deshalb unhaltbar, weil der Gegenstand des Fürwahrhaltens
ja nur ein Urteil sein kann, da z. B. eine Vorstellung an sich weder
wahr noch falsch ist, also auch nicht für wahr gehalten werden kann.
Richtig ist an dieser Ansicht nur das eine, daß in jedem Urteilsakt
ein objektivierendes Element liegt. Dieses besteht darin, daß wir dem
Kraftzentrum, als dessen Äußerung wir den beurteilten Vorgang auf-
*) Vgl. Urteilsfunktion, S. 169 ff.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u 10. Aufl.
Qg Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie
gen, zugleich eine \rt selbständiger Existenz zuschreiben, und zwar
dieselbe Selbständigkeit, die wir für unser eigenes Ich in Anspruch
nehmen. Diese objektivierende Funktion des Urteils ist aber nicht das
l ianze des Urteilsaktes, sondern eine unmittelbare Folgeerscheinung
der darin vollzogenen Deutung und Gliederung. Diese aber kann in
bezug au! denselben Inhalt von verschiedenen Personen in verschie-
dener Weise vorgenommen werden. So kann ein Geräusch von einer
\n/ahl versammelter Flirten als das Geheul eines herannahenden
Wolfes, von anderen als das Sausen des Windes gedeutet werden.
Objektiviert ist der Vorgang in beiden Deutungen, allein das Kraft-
zentrum und die Kraftäußerung ist sehr verschieden. Das, was für
wahr gehalten wird, ist jedoch die Art der Deutung und Gliederung,
und eben deshalb ist der Akt des Fürwahrhaltens mit dem Urteilsakt
selbst nicht identisch. Er bedarf deshalb einer besonderen psycho-
tischen Zergliederung.
Das Fürwahrhalten ist uns in den beiden Erlebnissen des W i s-
s e n s und des Glaubens gegeben. Zwischen diesen beiden Erleb-
nissen besteht nicht etwa, wie häufig angenommen wird, ein Gegen-
satz, sondern nur ein gradueller Unterschied. Das Wissen ist
der höchste für uns erreichbare Grad des Fürwahrhaltens. Wir sprechen
von einem Wissen dann, wenn mit dem Fällen eines Urteils zugleich
das objektive und das intersubjektive Kriterium seiner Wahrheit ge-
geben ist (s. o. S. 92 f.), wenn das Eintreffen der Voraussagen sich
durch Erfahrung bewährt hat, und wenn die Zustimmung der Denk-
genossen uns selbstverständlich erscheint. Wo dies jedoch nicht der
Fall ist, wir aber doch geneigt sind, ein gegebenes Urteil für wahr zu
halten, da sprechen wir von einer Überzeugung, von einem
Glauben. Beim Wissen hat es keinen Sinn von Intensitäts-
abstufungen zu sprechen, weil das Wissen eben der höchste Grad des
Fürwahrhaltens ist, der keine weitere Steigerung zuläßt. Der Glaube
jedoch und die Überzeugung, die sind uns in verschiedenen Stärke-
graden gegeben. Wir können mit geringerer oder mit größerer Festig-
keit glauben, mehr oder weniger überzeugt sein.
Fragt man nun nach der psychologischen Natur des Glaubens und
der Überzeugung, so führt schon die Tatsache, daß beide intensiv ab-
gestuft sind, auf die Vermutung, daß wir es hier nicht mit Denk-
prozessen, sondern mit G ef ü h 1 en zu tun haben. In dieser Auffas-
sung bestärkt uns die Erwägung, daß der Gegensatz des Glaubens,
der Zweifel, jedem von uns als Gefühlszustand bekannt ist.
Fragen wir nun nach den Entstehungsbedingungen dieser Ge-
fühle, so wird die Antwort nicht schwer. Das Gefühl des Glaubens
• »der der Überzeugung entsteht, wenn die Übereinstimmung eines Ur-
teils mit unseren bisherigen Erfahrungen, mit unserer Weltanschauung
uns deutlich /um Bewußtsein kommt. Wir versagen einem Urteil den
Glauben, wenn dasselbe allen unseren bisherigen Erfahrungen wider-
prnlit, wenn wir es nicht einzufügen vermögen in unser Weltbild, in
unsere Weltanschauung. Die heftigsten Seelenkämpfe sind oft die
Folgen solcher neuer Urteile, die uns entgegengebracht werden. So
versagte man den Behauptungen des Kopernikus lange den Glauben,
§ 29. Genetische und biologische Erkenntnistheorie 99
s
weil man gewohnt war, die Bibel auch in wissenschaftlichen Fragen als
Autorität zu betrachten *).
Im Laufe der Entwicklung muß es natürlich vorkommen, daß
Urteile, die früher allgemein für wahr gehalten wurden, sich als un-
richtig erweisen. Solche Urteile haben sich aber meist schon zu Be-
griffen verdichtet, mit denen man zu operieren gewohnt war. Wenn
nun die Urteile nicht mehr wahr sind, so können auch die Begriffe
nicht mehr als wirklich vorhandene Kraftzentren betrachtet werden.
Wenn sich z. B. in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit die
Heiden zum Christentume bekehrten, so verloren in ihren Augen die
früher angebeteten Gottheiten ihre Realität. Die Chemiker des sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts glaubten fest an die Realität
des von ihnen angenommenen Phlogiston, eines Stoffes, der sich bei
allen brennbaren Körpern finden sollte. Als dann Lavoisier den Ver-
brennungsprozeß richtig erklärte, verlor der Begriff seine Geltung, das
Phlogiston seine Realität. Es bildet sich demgemäß ein dem Wahrheits-
begriff analoges Denkmittel aus, das die Beziehung des Begriffes zur
Wirklichkeit bezeichnet. Wir nennen dieses Denkmittel den Exi-
stenzbegriff. Auch dieser ist in neuerer Zeit mehrfach erörtert
worden und hat zu manchen Kontroversen Anlaß gegeben. Wir fassen
die Existenz als ein Prädikat auf, das die Wirkungsfähig-
keit des Subjektes ausdrückt. Wenn wir sagen : Gott existiert,
so heißt das soviel als : Gott ist nicht etwa das Geschöpf der mensch-
lichen Phantasie, sondern er besteht unabhängig davon, ob wir an ihn
glauben, er ist ein selbständiges Kraftzentrum, das wir aus seinen
Wirkungen erkennen. Der Tyrann Dionysius in Schillers „Bürgschaft"
hat nicht geglaubt, daß so etwas wie aufopferungsfähige Freundestreue
wirklich existiere. Nun erlebt er aber ein Ereignis, das er nicht umhin
kann, als Wirkung eben jener angezweifelten Treue zu deuten. Daher
ruft er überzeugt aus: „Die Treue ist doch kein leerer Wahn." Im
Deutschen ist der Zusammenhang von Existenz und Wirkungsfähig-
keit schon in der Sprache angedeutet. Das, was existiert, heißt ja das
Wirkliche.
Die aprioristische Erkenntnistheorie, die jetzt in Deutschland so
viele Anhänger zählt, verschmäht es, nach dem Ursprung und der Ent-
wicklung der Denkformen zu fragen. Sie will sich nur mit der objek-
tiven Geltung der Erkenntnis befassen und sucht diese Geltung auf
immanente Eigenschaften der Vernunft zu gründen, die ihre Fähigkeit,
objektive und allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen, in der
mathematischen Naturwissenschaft bewährt hat. Trotz der großen
Denkenergie, die in solchen Untersuchungen zutage tritt, bleiben alle
diese Spekulationen deshalb unfruchtbar, weil die bewegende
Kraft, durch die alles Erkennen in Tätigkeit gesetzt und vorwärts
getrieben wird, dem Aprioriker verborgen bleiben muß, da er nicht nach
ihr sucht. Dagegen vermag unsere, auf dem Entwicklungsgedanken
ruhende; evolutionistische Betrachtungsweise nicht nur den
*) Weitere Ausführungen: Urteilsfunktion, 198 ff.; Lehrbuch der Psycho-
logie. 7. Aufl., S. 128 ff.
7'
100 • rkenntniskritik und liikenntnistheorie
Ursprung, das allmähliche Wachstum und das letzte Ziel aller Er-
kenntnis aufzuzeigen, sondern auch die Grundform unseres Denkens
zu bestimmen und über das Wesen der Wahrheit sowie über die Be-
dingungen der objektiven Geltung unserer Urteile Aufschluß zu geben.
Mierdings weis! unsere Untersuchung noch eine große Lücke auf. Wir
konnten aui dem Wege der individualpsychologischen Untersuchung,
in der fundamentalen Apperzeption die vermenschlichende Funktion
des Urteilsaktes erschließen und dabei zeigen, wie unser Fühlen und
\\ »llen dem Erkennen die Form und Richtung gibt. Wir konnten
dartun, wie die in unserer zentralisierten psycho-physischen Organisa-
tion begründete Gliederung und Objektivierung der von außen kom-
menden Eindrucke sich in der sprachlichen Formulierung des Urteils-
satzes niederschlägt, und wie daraus die Begriffe und die Kategorien
notwendigerweise hervorgehen müssen. Wir haben die Welt dem ein-
zelnen Menschen gegenübergestellt und gezeigt, wie sich aus ihrer
Wechselbeziehung die Form und die Formen unseres Erkennens ent-
wickeln. Was aber dabei so gut wie ganz unberücksichtigt blieb, das
war die seelische Wechselwirkung der Menschen untereinander, das
heißt der soziale Faktor in der Entfaltung menschlicher Er-
kenntnis. Wir haben die Existenz dieses Faktors zwar einmal (S. 89 f.)
angedeutet, denselben aber in unsere Untersuchung nicht einbezogen.
Diese Lücke ganz auszufüllen ist nun allerdings zurzeit noch unmög-
lich. Man hat eben erst begonnen, auf dieses wichtige Moment die
Aufmerksamkeit zu lenken, und der Verfasser dieses Buches ist selbst
mit einer diesbezüglichen Untersuchung beschäftigt. Über die Wege
und Ziele einer solchen „Soziologie des Erkennens" habe ich mich in
einem Aufsatze ausgesprochen, der bei den französischen Soziologen
Beachtung gefunden hat *). Obwohl nun die Untersuchung noch nicht
ganz abgeschlossen ist, so sollen doch die wichtigsten Gesichtspunkte
und die bisherigen Ergebnisse weiter unten im Rahmen des Abschnittes,
der die Soziologie behandelt, mitgeteilt werden.
Unsere eben dargelegte biologische und genetische Erkenntnis-
thorie ruht, wie bereits bemerkt wurde, auf der Grundlage des kriti-
schen Realismus. Wenn auch die Form alles Erkennens aus
unserer psycho-physischen Organisation stammt und nach psycho-
logischen Gesetzen bestimmt ist, so ist doch der durch diese Organi-
sation geformte und objektivierte Inhalt nicht von uns geschaffen,
sondern gegeben und besteht unabhängig von uns. Ferner sind wir
selbst eingebettet in das Universum, und was in uns vorgeht, ist
ebenfalls nichts anderes als ein Teil des kosmischen Ge-
schehens. Der aprioristische Idealismus will das Wesen der Welt
aus dem eigenen Ich begreifen und sucht W e 1 1 e r k e n n t n i s zu
ewinnen durch Selbsterkenntnis. Der evolutioni-
-tische Realismus, den wir vertreten, schlägt den umgekehrten
Weg ein und erstrebt Selbsterkenntnis durch Welt-
er k e n u t n i s. Der aprioristische Idealismus enthält, wie bereits ge-
•) Wgl Jerusalem, „Die Soziologie des Erkennens" („Die Zukunft", XVII,
n. Mai 1909) und dazu Emil Durkheim in „Annee sociologique", Band XXI.
I2ff. (1910).
Literatur 1 0 1
sagt wurde, eine latente Metaphysik, mit der er operiert, ohne sich
darüber klar und deutlich Rechenschaft zu geben. Der empirische
Realismus sieht hingegen ganz genau, daß die Erfahrung und ihre
wissenschaftliche Bearbeitung ihn niemals bis zur Erkenntnis des
Ganzen und bis zur Einsicht in das Wesen der Dinge führen kann.
Da aber das Bedürfnis, das Universum zu verstehen, zu stark ist, als
daß es sich ganz unterdrücken ließe, so sehen wir uns genötigt, auf
Grund der bewährten Erkenntnismethoden über die Erfahrung hinaus-
zugehen und Hypothesen über die Natur des Weltalls und des
Menschengeistes aufzustellen, die geeignet sind, die Erfahrung zu er-
klären und zu begründen, unserem Erkennen einen Abschluß zu geben
und in einer so gewonnenen einheitlichen Weltanschauung Richtlinien
für unser Handeln zu gewinnen. Der kritische Realismus, der die
Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis bejaht, enthält also schon
in sich die weitere Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit.
Mit diesem Problem aber beschäftigt sich der Teil der Philosophie,
den wir oben als Metaphysik oder Ontologie bezeichnet
haben.
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Vierter Abschnitt
Metaphysik oder Ontologie
§ 30. Probleme und Richtungen der Metaphysik
Die Metaphysik ist der älteste und zugleich der zen-
tralste Teil der Philosophie. Die Frage nach dem Wesen der Welt
hat sich den indischen und griechischen Denkern aufgedrängt, be-
vor ihnen das menschliche Erkennen zum Problem geworden war. Das
Denken ist eben zuerst nach außen gerichtet und gelangt erst viel
später dazu, sich auf sich selbst zu besinnen und in die Tiefen des
Seelenlebens hinabzusteigen. Aber selbst dann, wenn wir längst ge-
lernt haben, nach der Möglichkeit und nach den Grenzen des Erken-
nens zu fragen, wenn wir über die sittlichen Aufgaben des Menschen
Untersuchungen anstellen und uns redlich bemühen, auf dem Boden
der Erfahrung zu bleiben, immer zeigt es sich, daß alle Erkenntnis-
theorie und alle Ethik entweder auf unausgesprochenen metaphysischen
Voraussetzungen beruht oder einer Ergänzung und Abschließung
durch metaphysische Hypothesen bedarf. Die Metaphysik ist tatsäch-
lich der Mittelpunkt, von dem alle Philosophie ausgeht, und zu dem sie
wieder zurückkehrt. Die Anhänger Kants glaubten eine Zeitlang, daß
durch die „Kritik der reinen Vernunft" jede Metaphysik für alle Zeiten
unmöglich gemacht worden sei. Allein Kant selbst gründete seine
Sittenlehre auf metaphysische Behauptungen und seine Nachfolger,
Fichte, Schilling, Hegel, Herbart und Schopenhauer, haben die im
erkenntniskritischen Idealismus verborgenen ontologischen Voraus-
setzungen zu tief durchdachten und groß angelegten metaphysischen
Systemen ausgebaut. Auch der von Auguste Comte begründete Posi-
tivismus, der in erneuerter und vertiefter Form von hervorragenden
Denkern der Gegenwart vertreten wird, lehnt prinzipiell jede Meta-
physik ab. Wir werden aber weiter unten sehen, daß auch diese Denk-
richtung nicht bloß Methode ist, sondern zu einer Weltanschauung
sich ausgestaltet, diu in gewissem Sinne ebenfalls über die Erfahrung
hinausgeht.
Das metaphysische Bedürfnis macht sich nun gerade in der
neuestm Zeit, die von materiellen und wirtschaftlichen Interessen ganz
in Anspruch genommen zu sein scheint, in dem stark verbreiteten
Streben nach I rneuerung und Vertiefung des religiösen Lebens
Itend. Der Glaube an eine höhere geistige Macht, die über uns
§ 30. Probleme und Richtungen der Metaphysik 105
thront und doch zugleich in uns wirksam ist, gehört keineswegs der
Geschichte an, sondern wird gerade in den Kreisen der höher Ge-
bildeten wieder lebendig. Ebenso weisen die künstlerischen
Richtungen unserer Tage eine entschiedene Abkehr von der naturali-
stischen Nachahmung der Wirklichkeit auf und suchen wieder auf das
tiefere geistige Leben in uns zu wirken. Die Erörterung metaphysischer
Probleme hat es also heute nicht bloß mit der Darstellung vergangener
Denkrichtungen zu tun. Die Metaphysik ist nicht tot, sondern bildet
einen wichtigen Teil unseres wirklichen Lebens.
Man hat in den letzten Jahrzehnten viel von einer populären oder
unbewußten Metaphysik gesprochen. Der erkenntniskritische Idealis-
mus erklärt z. B. den Glauben an die Realität der Außenwelt, der die
Grundlage des naiven, nicht philosophierenden Denkens bildet, bereits
für eine unerlaubte Überschreitung der Erfahrung, für eine latente
Metaphysik. Dies ist jedoch ein Mißbrauch des Wortes und zugleich
eine sachliche Irreführung. Der naive Realismus, den wir oben
(S. 45 f.) als die Auffassung des nicht philosophierenden Verstandes
kennen gelernt haben, ist ebensowenig Metaphysik, wie er Erkenntnis-
kritik ist. Dieser Standpunkt liegt diesseits der Metaphysik und
der Kritik. Wir glauben alle an die von uns unabhängige Realität der
von uns wahrgenommenen Dinge und sind überzeugt, daß wir damit
keinen Schritt über die Erfahrung hinausgetan haben. Im Gegenteil.
Gerade diese Überzeugung scheint uns das charakteristische Merkmal
des Erfahrungsmäßigen zu sein und wir richten eben deshalb unser
praktisches Handeln darnach ein. Einen naiven Realisten als Meta-
physiker zu bezeichnen wäre ebenso sinnlos, wie wenn wir uns selbst
Orientreisende nennen wollten, weil wir die tägliche Drehung der Erde
von Westen nach Osten mitmachen.
Aber auch die personifizierenden Vorstellungen von den Natur-
gewalten und der Seelenglaube der primitiven Völker sind noch nicht
Metaphysik, sondern nur eine Vorstufe dazu. Der Mensch steht auf
dieser Kulturstufe noch ganz im Banne der weiter unten zu besprechen-
den sozialen Verdichtungen. Er nimmt den Glauben an die
vielen Dämonen und Geister von frühester Jugend an in sich auf, wird
darin von den Stammesgenossen immer bestärkt und so verschmelzen
diese Wesen mit seinen sinnlichen Wahrnehmungen und bilden für ihn
einen integrierenden Bestandteil seiner vermeintlichen Erfahrung. Er
glaubt an die Geister und ihre Macht mindestens ebenso fest, wie an
das, was er sieht und mit Händen greift.
Die eigentlich philosophische Metaphysik beginnt erst
dort, wo der Mensch sich in gewissem Grade bereits unabhängig ge-
macht hat von der Tradition, wo seine eigene selbständig gewordene
Vernunft ein widerspruchsloses Weltbild verlangt. Die Philosophie ist
eben, wie wir oben sagten, ihrem Wesen nach individuali-
stisch, weil sie die frei gewordene Persönlichkeit zur Voraussetzung
hat. Diese sucht nun zunächst in der Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen ein einheitliches Band zu entdecken. Der Mensch will
mit Faust wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, will
schauen alle Wirkenskraft und Samen. Das ursprüngliche Problem
]06 Metaphysik oder Ontologie
der Metaphysik besteht also darin, daß man hinter der Vielheit
der 1 rscheinung die Einheit des Wesens zu finden
sucht. Alle Metaphysik ist somit von Anfang an monistisch ge-
richtet. Wir verstehen unter Monismus jeden Versuch, das Uni-
. 1 1 >um aus einem einheitlichen P r i n z i p zu erklären, und wer-
den gleich sehen, daß diese Denkrichtung in sehr verschiedenen Formen
zum Ausdruck gelangt.
In den Anfängen der metaphysischen Spekulation ist das Denken
noch vorwiegend nach außen gerichtet. Was man zu erklären und
einheitlich zu begreifen sucht, das ist die sieht- und greifbare Welt, die
uns umgibt, das Himmelsgewölbe, das sich scheinbar um die Erde dreht,
und diese Erde selbst, die als der Mittelpunkt des Weltalls gilt, mit den
Pflanzen, Tieren und Menschen, die auf ihr wohnen. Das metaphysische
I inheitsbedürfnis führte nun auf dieser Stufe zunächst dazu, daß die
ältesten griechischen Denker, die beobachtet hatten, daß derselbe
Stoff in verschiedenen Formen zutage trete (Wasser als Dunst in
der Luft, als Feuchtigkeitsgehalt in festen Körpern, Feuer als Licht
und als Wärme) nach einem U r s t o f f e suchten, aus dem alle Dinge
entstehen konnten. Thaies stellte das Wasser, Anaximenes die Luft,
tieraklit das Feuer als Urstoff auf. Dieser Gedanke wurde im Laufe
der Geistesentwicklung verfeinert, mit den Ergebnissen der Physik in
Zusammenhang gebracht und bildete sich zu der Lehre aus, daß allem
Sein und Geschehen in der Welt der Stoff oder die Materie zugrunde
liege. Diese Form des ontologischen Monismus nennt man Materi-
alismus, eine Weltanschauung, deren Entwicklung und Bedeutung
uns weiter unten eingehend beschäftigen wird.
Je komplizierter sich aber im Laufe der Zeit das soziale Leben
gestaltete, desto größere Bedeutung gewannen diegeistigen Vor-
gänge im Menschen. Die Denker sahen sich genötigt, den Blick immer
mehr nach innen zu richten und sich mit der Menschenseele und
ihrem Reichtum zu befassen. Reiche Schätze wurden da entdeckt und
so wurde der Geist immer höher gewertet. Nicht was dem Menschen
von außen entgegentritt, sondern was er infolge seiner Geistestätigkeit
daraus macht, entscheidet über sein Schicksal. Unterstützt durch ge-
läuterte religiöse Vorstellungen, wird das spekulative Denken ver-
anlaßt, die im eigenen Innern erlebten geistigen Vorgänge in den Welt-
bildungsprozeß hineinzudeuten. Der tote, formlose und träge Stoff
wird nicht mehr als die letzte Wirklichkeit anerkannt. Plato und Platin
gehen sogar so weit, die Materie geradezu als das Nicht-
i e n d e zu bezeichnen. Jedenfalls gehören geistige Vorgänge zum
Wesen der. Welt. Empedokles läßt als erster Liebe und Haß, also
seelische Vorgänge, bei der Weltbildung mitwirken und sein Zeit-
genosse Anaxagoras führte in den Weltprozeß den ordnenden Geist ein,
der das Chaos zum Kosmos gestaltet. Die Ideenlehre Piatons, der
I iottesbegriff des Aristoteles, die Religionsphilosophie Plotins, die
jüdische und die christliche Lehre von Gott als reinem Geist, bringen
das spekulative Denken immer mehr dazu, das geistige Sein nicht nur
für wertvoller, sondern auch für wesenhafter und wirklicher zu halten
als die Materie. Einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung be-
§ 30. Probleme und Richtungen der Metaphysik 107
deutet die Entdeckung des hl. Augustinus, daß unser eigener Geist das
Unmittelbarste und Gewisseste für uns ist. Diese Entdeckung hat aller-
dings erst zwölf hundert Jahre später ihre Wirkung getan, als Des-
cartes diese Überzeugung in seinem „cogito, ergo sum" formulierte
und zum Ausgangspunkt einer neuen Philosophie machte. George Ber-
keley zieht dann daraus die Konsequenz, daß nur Geister wirklich
existieren, während die sinnliche Welt an sich nichts ist, sondern nur
als Vorstellung der Geister gegeben ist. Diese Lehre von der Geistig-
keit der Welt wird im neunzehnten Jahrhundert kräftig ausgebaut und
bildet sich zu einer dem Materialismus ganz entgegengesetzten, aber
ebenfalls monistischen Metaphysik aus, die wir S p i r i t u a 1 i s m u s
nennen wollen. Diese Denkrichtung werden wir weiter unten genauer
zu betrachten haben. Hier sei noch bemerkt, daß sie dem germanischen
Geist am meisten kongenial ist. Deutsche und englische Denker haben
sie am wirksamsten ausgestaltet und auch heute findet sie in Deutsch-
land, England und Amerika ihre bedeutendsten Vertreter.
Materialismus und Spiritualismus sind die inhaltlichen
Gegensätze, in welche die monistische Metaphysik auseinandertritt.
Materie und Geist streiten gleichsam um die Weltherrschaft, und dieser
Streit ist auch heute noch nicht geschlichtet. Neben dieser inhaltlichen
Verschiedenheit macht sich nun im metaphysischen Denken noch ein
anderer, mehr formaler Gegensatz geltend, der ebenfalls ver-
schiedene Formen des Monismus hervorbringt. Zum Verständnis dieser
etwas komplizierteren Denkgebilde müssen wir jedoch vorher einige
Betrachtungen vorausschicken.
Die philosophische Spekulation ist vorwiegend abstraktes
Denken. Das charakteristische Merkmal des abstrakten Denkens ist
nun die Bildung fester und dauernderBegriffe. Durch den
Begriff werden die gemeinsamen Merkmale vieler Einzeldinge in einem
Denkakt zusammengefaßt. Auf diese Weise wird es möglich, das Ge-
meinsame festzuhalten, die Regelmäßigkeiten des Geschehens zu be-
merken und präzise zu formulieren, die unübersehbare Menge der
Objekte ökonomisch zu ordnen und denkend zu bewältigen. Während
nun die Einzeldinge einer steten Veränderung unterliegen, hat es den
Anschein, als ob der Begriff, der ja nur die wesentlichen und somit
dauernden Merkmale in sich enthält, unverändert und immer sich selbst
gleich bleibe. Da nun im Begriff alles Wesentliche des Einzeldinges
darin steckt, so bildet sich leicht die Meinung aus, daß die einzelnen
Dinge nur durch ihre Zugehörigkeit zum Begriff das sind, was ihr
Wesen ausmacht. Zu diesem Wesen aber scheint es zu gehören, daß
aller Veränderung etv/as zugrunde liegt, was sich selbst nicht ver-
ändert, sondern ewig dasselbe bleibt. Diese Auffassung wird dadurch
gestützt, daß wir geneigt sind, die Ruhe als den Normal-
zustand der Dinge anzusehen, während die Bewegung ein z u f ä 1-
liges Ereignis ist, das am Wesen des Bewegten nichts ändert.
Wir können diese Betrachtungsweise mit einem der Mechanik ent-
lehnten Ausdruck als die s t a t i s c h e bezeichnen. Auf diesem Stand-
punkte glauben wir das Wesen der Dinge am sichersten dadurch zu
erkennen, daß wir immer die bleibenden, unveränderlichen Merkmale^
108 Metaphysik oder Ontologie
daß wir den ruhenden Pol in der Flucht der Erscheinungen zu erfassen
streben. Als beharrender Träger aller Veränderung wird zuerst der
Stoff oder die Materie angesehen. Bald aber zeigt es sich einerseits,
dal> der Stoff den stärksten Wandlungen unterworfen ist, anderseits
brauchl man auch für die nicht stofflichen, für die geistigen Vorgänge
einen keiner Veränderung unterworfenen Träger. Um diesen An-
sprüchen des begrifflichen Denkens zu genügen, bildete man einen
helleren, allgemeineren Begriff, dem man später den Namen S u b-
stan gab. Die Substanz gilt nun als der schlechthin beharrende,
absolut unveränderliche Urgrund alles körperlichen und geistigen Ge-
schehens. Die Aufgabe der Metaphysik besteht nun darin, das Wesen
dieser Substanz vollständig zu erfassen und daraus das Weltgeschehen
reiflich zu machen. Wir wollen diese statische Denkrichtung der
Metaphysik als Monismus der Substanz bezeichnen. Im alten
Griechenland hat der der sogenannten eleatischen Schule angehörende
1 Vnker Parmerddes die Grundlage zu dieser Weltauffassung ge-
schaffen, die dann von Spinoza mit großer Denkkraft zu einem System
ausgestaltet wurde.
Gegen diese auf das abstrakte Denken und seine starren Begriffe
gegründete statische Weltauffassung lehnt sich nun die anschauliche
I rfahrung auf. Was wir in der Welt vorfinden, das ist nirgends starre
Ruhe, sondern im Gegenteil stete Veränderung, immerwährendes
Werden und Geschehen. Die Ruhe, die wir zu sehen glauben,
erweist sich bei genauerem Zusehen als nur scheinbar. Das Wesen der
Welt ist also durchaus nicht unveränderliches Sein, sondern ewiges
Werden und Geschehen. Diese dynamische Weltbetrach-
tung, die in bewußtem Gegensatz zu den Eleaten zuerst von Heraklit
als die einzig richtige bezeichnet wurde, erfährt durch die moderne
Wissenschaft immer neue Bestätigungen. Die moderne Physik lehrt
uns, daß es absolute Ruhe nirgends in der Welt gibt, und daß wirklich,
wie Heraklit lehrte, alles in Bewegung ist und nichts beharrt. Durch
Beobachtung, Versuch und Rechnung lernen wir die Gesetze
dieses Geschehens kennen und machen uns so zu Herren der
Natur. Allein nirgends geraten wir dabei auf eine unveränderliche
und beharrende Substanz. Der vereinheitlichende Begriff, der ganz
ungezwungen auch das seelische Leben mit umfaßt, ist nicht
der des Seins, sondern der des Geschehens. Wir stellen also
dem Monismus der Substanz einen Monismus des Ge-
schehens gegenüber, eine Denkrichtung, die in der neuesten Zeit
von besonders hervorragenden Denkern vertreten und ausgebildet
wurde.
Wir haben somit vier Grundformen monistisch gerichteter Welt-
anschauung zu verzeichnen, zwischen denen allerdings auch Kombi-
nationen möglich sind. Jede derselben betont einseitig ein einziges
Prinzip, einen ein/igen Gesichtspunkt und wird eben durch diese Ein-
seitigkeit geeignet, eine monistische Weltanschauung konsequent auf-
zubauen. Dabei geht es aber ohne Gewaltsamkeiten nicht ab. Immer gibt
es Gruppen von 1 atsachen, die bei der einen oder der anderen Form des
Monismus unerklärt bleiben. So kann der Materialist sein eigenes
§ 31. Der Materialismus 109
Seelenleben nicht erklären, der Spiritualist vermag nicht anzugeben,
wie sich der Geist zur Materie verdichtet, der Monist der Substanz
steht der Veränderung ratlos gegenüber, während der Monist des Ge-
schehens die doch nicht wegzuleugnende Erhaltungs- und Beharrungs-
tendenz der organischen und unorganischen Strukturformen nicht recht
zu begreifen vermag.
Infolge dieser mit jedem monistischen System verbundenen Ver-
gewaltigung der Tatsachen gewinnen ältere Denkrichtungen, die be-
reits als vollständig überwunden galten, wieder neue Anhänger. Dazu
gehört vor allem der von allen monotheistischen Religionen zum
Dogma erhobene Dualismus. Mit diesem Namen bezeichnet man
allgemein die Lehre, daß Materie und Geist zwei ganz ver-
schiedene Wesenheiten sind. Im Menschen sind beide Substanzen vor-
handen und stehen da in steter Wechselbeziehung. Der Dualismus ist
keineswegs bloß eine theologische, sondern auch eine streng philo-
sophische Denkrichtung, die von Descartes am schärfsten formuliert
und in neuester Zeit wiederholt sehr geistvoll verteidigt wurde. Die
Gründe für und gegen diese Weltanschauung sowie die damit zu-
sammenhängenden Probleme werden uns weiter unten eingehend be-
schäftigen.
In den letzten Jahren hat man mit der Rückkehr zum Standpunkt
des nicht philosophierenden Verstandes vollen Ernst gemacht und be-
hauptet, die Welt sei das, als was sie unserer Erfahrung gegeben ist,
eine Vielheit von Einzeldingen. Diese Ansicht des radikalen Empi-
rismus, als dessen hervorragendster Vertreter der berühmte ameri-
kanische Psychologe William James zu nennen ist, wird als Plura-
lismus bezeichnet. Für die Anhänger dieser Denkrichtung ist die
Einheit der Welt weder Tatsache noch Vermutung, sondern eine Auf-
gabe, die der menschlichen Kultur gestellt ist. Die Welt soll vom
Menschen immer mehr zur Einheit ausgestaltet werden, in der alle
geistigen Bestrebungen und alle sittlichen Ideale sich frei entfalten
können.
Wir müssen nun darangehen, die wichtigsten der hier genannten
Denkrichtungen genauer darzustellen und zu prüfen.
§ 31. Der Materialismus
„Der Materialismus ist so alt wie die Philo-
sophie, abernichtälte r", sagt Fr. Albert Lange am Anfang
seiner vortrefflichen „Geschichte des Materialismus". Damit ist vor
allem die verbreitete, aber durchaus irrige Ansicht zurückgewiesen,
daß der Materialismus die Auffassung des naiven Verstandes sei. Der
Materialismus ist vielmehr eine metaphysische, das heißt über
die Erfahrung hinausgehende Hypothese, welche versucht, den Zu-
sammenhang des Weltgeschehens begreiflich zu machen.
Die ersten Bemühungen der griechischen Philosophen, die Welt zu
deuten, sind, wie bereits erwähnt, entschieden materialistisch gerichtet.
Man sucht nach einem Grundstoff, aus dem alles entstanden sein soll,
und glaubt ihn bald im Wasser, bald im Feuer, bald in der Luft gefun-
|10 Metaphysik oder Ontologic
den /.u haben. Das geistige Leben bleibt dabei freilich unerklärt, weil es
eben noch nicht Gegenstand des philosophischen Nachdenkens ist.
Empedokles und Anaxagoras (beide um 450 v. Chr.) haben, wie wir
oben sagten, zuerst ein geistiges Prinzip zur Welterklärung mit ver-
wendet, der erstere Liebe und Haß, der letztere den ordnenden Geist.
i s scheint jedoch, daß bei diesen Denkern auch die dem geistigen
Leben entnommenen Lrklärungsprinzipien noch stofflich gedacht
werden.
Einen konsequenten Materialismus haben im Altertum zuerst
Leukipp und Denwkrit in ihrer Atomlehre ausgebildet. „In Wirk-
lichkeit", sagt Denwkrit, „existieren nur Atome und der leere Raum."
Auch die Seele besteht nach Denwkrit aus feinen, glatten und runden
Atomen, durch deren Bewegungen das Leben hervorgerufen wird. Epi-
knr gab der Lehre Demokrits, die er systematisch weiterbildete, eine
antitheologische Tendenz und wird vom römischen Dichter Lukrez,
der uns in seinem Lehrgedicht „Vom Weltall" (De rerum natura) eine
Darstellung von Epikurs Naturphilosophie gegeben hat, hauptsächlich
deshalb gepriesen, weil er die Menschheit vom Aberglauben befreit hat.
Auch das Lehrgebäude der Stoiker ruht sowohl in der Erkenntnis-
theorie als auch in der Naturphilosophie auf materialistischer Grund-
lage. Epikurs Lehren haben in der ihnen von Lukrez gegebenen Form
auf die Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
mächtig eingewirkt.
Zuerst hat der katholische Geistliche Pierre Oassendi (1502 bis
1655) die Lehre Epikurs systematisch dargestellt und mit den phy-
sikalischen Anschauungen seiner Zeit in Verbindung gebracht. Lange
bezeichnet daher Oassendi mit Recht als den Vater des neueren
Materialismus. Auf anderer Grundlage hat dann der Engländer
Thomas Hobbes ein streng materialistisches System aufgestellt. Aber
sowohl Oassendi als Hobbes wußten ihre philosophischen Ansichten
mit der herrschenden Kirchenlehre in Einklang zu bringen. Dagegen
tritt der Materialismus der späteren Zeit der positiven Religion
energisch entgegen und wird zur mächtigen Waffe der sogenannten
Aufklärung.
Im achtzehnten Jahrhundert hat in Frankreich der Arzt Lamettrie
(1709— 1751) in seinem Buche „L'homme — machine" (der Mensch
als Maschine betrachtet) den entschiedenen Materialismus aus-
gesprochen und alles Denken als körperliche Tätigkeit gedeutet. Baron
Holbach (gest. 1789) hat dann im „Systeme de la nature" diesen
Materialismus ausführlich begründet und damit die religiösen Vor-
urteile zu bekämpfen versucht.
Durch die idealistischen Systeme Kants, Fichtes, Schillings und
Hegels verlor der Materialismus eine Zeitlang an Ansehen, um nach
dem Sturze Hefreis neu zu erwachen. Vogt, Moleschott, Büchner sind
energisch für die materialistische Weltanschauung eingetreten und
Büchners in zahlreichen Auflagen erschienenes Buch „Kraft und Stoff"
hat sehr viel zur Verbreitung dieser Lehre beigetragen. Die Fortschritte
der Sinnesphysiologie und der Gehirnkunde haben dieser Verbreitung
kräftigen Vorschub geleistet. In wissenschaftlichen Kreisen hat der
§ 31. Der Materialismus 111
Materialismus in den letzten Dezennien wieder an Geltung verloren,
allein derselbe ist unter gebildeten Laien sehr verbreitet. Wir haben
uns nun mit den wichtigsten Behauptungen des Materialismus sowie
mit deren Begründung vertraut zu machen.
Der Materialismus sucht vor allem zu beweisen, daß alles, was
wir psychische Vorgänge nennen und was wir als solche in unserem
Bewußtsein erleben, tatsächlich nichts anderes als Funktionen unserer
Organe, insbesondere unseres Gehirns sind. Das wahre Wesen eines
psychischen Vorganges, also eines Gedankens, eines Gefühles, eines
Willensentschlusses, ist erst dann erkannt, wenn der entsprechende Ge-
hirnprozeß erforscht ist. Die Psychologie ist für den Materialis-
mus nichts anderes als G e h i r n p h y s i o 1 o g i e. Insbesondere sucht
der Materialismus die Annahme eines vom Körper verschiedenen und
geschiedenen Seelenwesens als unwissenschaftlich und als aller Er-
fahrung widersprechend nachzuweisen. Die wichtigsten Argumente,
die er zum Beweise dieser Behauptung ins Feld führt, sind folgende:
1 . Das methodologische Argument : Die Annahme eines
immateriellen, aber doch beharrenden, selbständigen, vom Körper ver-
schiedenen Seelenwesens ist v o r wissenschaftlich und u n wissenschaft-
lich. Wer so denkt, der steht auf der Kulturstufe der Naturvölker,
welche jeden Vorgang als Wirkung eines unsichtbaren Dämons auf-
fassen. In der Erfahrung ist nur der Körper und seine Organe ge-
geben. Alles, was dieser Organismus leistet, und was darin vorgeht,
muß als Funktion seiner Organe begriffen werden. Die Annahme eines
Seelenwesens ist ebenso überflüssige wie haltlose Metaphysik, welche
von der strengen Wissenschaft unerbittlich eliminiert werden muß.
2. Das mechanische Argument : Die naturwissenschaftliche
Auffassung des Weltgeschehens hat den Grundsatz aufgestellt und be-
währt gefunden, daß die Summe der in der Welt vorhandenen Kraft-
menge oder Energie weder vermehrt noch vermindert werden kann,
sondern immer konstant bleibt. Alles Geschehen besteht nur in Um-
setzungen von Energie. So setzt sich Bewegung in Wärme, Wärme in
Bewegung um, der elektrische Strom übt, durch Wasser geleitet,
chemische Wirkungen und der gesamte Mechanismus des Universums
wird unter der Voraussetzung, daß keine Neuschöpfung von Energie
stattfindet, verständlich. Nimmt man nun ein vom Körper verschiedenes
Seelenwesen an, das durch seine — nicht mechanische — Einwirkung
einen Muskel zur Kontraktion bringt und eine Bewegung hervorruft,
so würde dies eine Vermehrung der vorhandenen Energie, eine Neu-
schöpfung bedeuten. Diese Annahme stünde mit dem so oft bewährten
Prinzipe von der Erhaltung der Energie in Widerspruch und ist des-
halb als unwissenschaftlich zu verwerfen.
3. Das kosmologische Argument : Es hat eine Zeit gegeben,
wo unsere Erde ein glühender Gasnebel war. Damals konnte es auf
derselben kein organisches Leben, keine Menschen und damit auch
keine geistigen Tätigkeiten geben. Erst als sich die Erde abgekühlt
hatte und die Bedingungen für die Entstehung des organischen Lebens
gegeben waren, ist auf der Erde die Pflanzen- und Tierwelt entstanden,
aus der sich dann auch der Mensch entwickelt hat. Geistiges Leben
1 i _ Metaphysik oder Ontologie
isi somit erst mit dem organischen entstanden und bleibt auch an das
Vorhandensein der physiologischen Bedingungen gebunden. Es hat
■ keinen Sinn, ein von dem Organischen verschiedenes Geistiges
anzunehmen, da dieses zugleich mit dem Organischen entstanden ist
und gewiß mit diesem untergehen wird.
Alle diese Argumente zusammengenommen haben eine stark über-
zeugende oder wenigstens überredende Kraft, so daß es nicht wunder-
nehmen darf, wenn der Materialismus in weiten Kreisen als die einzig
mögliche wissenschaftliche Weltanschauung betrachtet wird.
" Was nun zunächst das methodologische Argument gegen die An-
nahme eines Seelenwesens betrifft, so muß die moderne Psychologie
dem Materialismus zustimmen, aber freilich aus anderen Gründen.
i in von den psychischen Vorgängen selbst verschiedenes Seelenwesen,
das als Träger unseres Denkens, Fühlens und Wollens gelten soll, ist
allerdings in keiner Erfahrung gegeben. Es ist vielmehr für die
seelischen Vorgänge charakteristisch, daß sie uns immer nur als ein
Geschehen, als Ereignisse entgegentreten, bei deren Beschreibung
gar kein Anlaß vorliegt, einen substantiellen Träger einzuführen.
Wenn wir nun trotzdem von einer Seele oder von einem Geiste sprechen,
i hegt der Grund tatsächlich in dem, was wir oben die fundamentale
Apperzeption genannt haben. Die einmal entwickelte Urteilsfunktion
kann sich einen Denkinhalt nur in der Form von Subjekt und Prädikat
aneignen. Solange die Psychologie sich dieses Seelenbegriffes in der-
selben Weise bedient, wie der Physiker von Magnetismus und Elektri-
zität spricht, wo ihm doch tatsächlich nur magnetische und elektrische
Erscheinungen gegeben sind, solange die Seele nur ein Subjekt für die
psychischen Vorgänge bildet und nicht als selbständige Substanz be-
trachtet wird, solange kann diese Ausdrucksweise nicht unwissenschaft-
lich genannt werden. Sowie man jedoch ein vom Leibe verschiedenes
Seelenwesen annimmt, das selbständig existiert und nach dem Tode
weiter besteht, tut man den in der Erfahrung gegebenen psychischen
! i iebnissen Gewalt an.
Jede Substanz wird aber, man mag alles Stoffliche noch so ge-
waltsam daraus eliminieren, doch immer wieder materiell vor-
teilt. Alles, was beharrt, muß nach unserer Denkweise einen Raum
einnehmen und damit materiell sein. Die Annahme einer Seelensub-
stanz, welche der Materialismus so eifrig und auch mit Recht bekämpft,
führt also zum Materialismus. Den Tatsachen entspricht es einzig und
allein, wenn man immer nur von einem psychischen Geschehen,
nie von einem psychischen Sein spricht, und nur ein solches gleich-
tun substratloses Geschehen ist tatsächlich etwas von allem
Materiellen wesentlich Verschiedenes. Die streng wissenschaftliche
Methode, welche nur die Tatsachen beschreiben will, lehrt uns, daß in
unserer täglichen und stündlichen, sowie zugleich in unserer aller-
sichersten I rfahrung ein Geschehen gegeben ist, das sich von allem
sinnlich Wahrnehmbaren, allem Materiellen wesentlich unterscheidet,
ja mit diesem gänzlich unvergleichbar ist. Die vom Materialismus an-
gerufene wissenschaftliche Methode entscheidet demnach gegen diese
Weltanschauung.
§ 31. Der Materialismus 113
Das mechanische Argument besitzt in den Augen der gebildeten
Laien und auch bei vielen Naturforschern die größte Überzeugungs-
kraft, und es ist nicht ganz leicht, die gänzliche Unhaltbarkeit des-
selben einzusehen. Man hat zur Entkräftung dieses Argumentes darauf
hingewiesen, daß die psychische Einwirkung auf den Körper ja nicht
so gemeint sei, daß neue Energie geschaffen, sondern nur so, daß vor-
handene Energie ausgelöst werde. Von einer Auslösung ist in der
Physik immer dann die Rede, wenn ein geringes Quantum von Energie
genügt, um eine Entladung einer großen Menge anderer Energie her-
vorzurufen, z. B. wenn durch die Einführung einer brennenden Lunte
ein Faß voll Schießpulver zur Explosion gebracht wird. Alle Reize,
die auf den Körper einwirken und Empfindungen hervorrufen, erregen
Auslösungsprozesse, weil die physiologische Wirkung immer weit
größer ist als die physikalische Ursache. Aber wenn auch nur ein
geringes Quantum von Energie nötig ist, um eine große Wirkung zu
erzielen, so ist dieses geringe Quantum doch nicht Nichts, es ist doch
nicht = Null. Wenn aber die psychische Einwirkung überhaupt als
Aufwendung von physikalischer Energie gefaßt werden muß, so hat
der Materialismus recht, und es ist dabei ganz gleichgültig, ob die
dem psychischen Vorgang äquivalente Energie größer oder kleiner ist.
Die Auffassung der psychischen Einwirkung als Auslösung dient somit
eher dazu, das mechanische Argument zu bekräftigen, als es zu wider-
legen. Trotzdem ist dieses Argument doch vollkommen unhaltbar.
Das Prinzip der Erhaltung der Energie hat nur dann Sinn und Be-
deutung, wenn man seine Geltung auf physikalische und chemische
Prozesse einschränkt. Ja es gibt sogar hervorragende Physiker, die
auch auf diesem Gebiete die unbedingte Geltung dieses Prinzipes nicht
zugeben wollen. Zur Erklärung der Lebensvorgänge aber er-
weist sich dieser Grundsatz als unzureichend. Die zentralisierte Organi-
sation aller Lebewesen, das merkwürdige Zusammenwirken aller Teile
zu einem gemeinsamen Zweck, alles das läßt sich durch physikalisch-
chemische Denkmittel nicht begreiflich machen. Schon die rein bio-
logische Entwicklung der Lebewesen zeigt uns fortwährende Neu-
schöpfungen, und wenn wir das geistige Geschehen in seiner bisherigen
Entwicklung betrachten, so sind wir genötigt, mit Wundt eine Ver-
mehrung der geistigen Energie zu konstatieren, während der Versuch,
das Prinzip der Erhaltung der Energie auch auf die geistige Entwick-
lung anzuwenden, die offenkundigsten Tatsachen unberücksichtigt läßt.
Das mechanische Argument der Materialisten ist bei Lichte be-
sehen gar kein Argument, sondern eine Voraussetzung. Nur wenn man
von vornherein annimmt, daß alles Geschehen, also auch das Lebendige
und das Psychische, sich nach physikalisch-chemischen Gesetzen muß
beschreiben und erklären lassen, nur dann hat es einen Sinn, gegen die
Durchbrechung des Prinzips der Erhaltung der Energie zu pro-
testieren. Wenn man sich aber nicht an eine bestimmte Theorie, son-
dern an die Tatsachen selbst hält, so muß man zugeben, daß das Prin-
zip der Konstanz der Energie auf dem Gebiete des Lebendigen und
des Psychischen zur Vereinfachung und zum Verständnis des tatsäch-
lich Erlebten gar nichts beiträgt. Die hier konstatierten Tatsachen und
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 8
1 i 4 Metaphysik oder Ontologie
die bisherige I ntwicklung verlangen vielmehr ein ganz anderes Er-
klärungsprinzip, was ja auch von hervorragenden Naturforschern zu-
geben wird. Hur ist, wie U" um/t gezeigt hat, eine Art von
schöpferischer Synthese wirksam, deren Natur und deren Gesetzmäßig-
keit erst näher erforscht werden muß. Das mechanische Argument ver-
liert also sofort seine überzeugende Kraft, sobald man den Boden der
materialistischen Theorie verläßt und sich an die unzweifelhaften Tat-
sachen des eigenen Erlebens hält.
Das kosmologische Argument bewegt sich ganz im Reiche
schwer verifizierbarer Hypothesen. Anfang und Ende des geistigen Ge-
SChehens sind uns in keiner Erfahrung gegeben. Wenn wir auch er-
fahrungsgemäß gewisse physische Bedingungen des geistigen Ge-
schehens feststellen können, so folgt daraus noch lange nicht, daß diese
die einzig möglichen sind. Sicher ist aber das Eine, daß das psychische
Leben wie das Leben überhaupt seine eigenartige Gesetzmäßigkeit hat,
die sich aus den Gesetzen des Leblosen nicht ableiten läßt. Solange
dieses uns heute erschlossene Universum besteht und bestehen wird,
können wir über diesen Unterschied nicht weg. Ob es jemals ein Uni-
versum ohne geistiges Leben geben kann oder geben wird, das liegt
außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeit.
So vermögen denn alle diese Argumente nichts an der Tatsache
zu ändern, daß die von uns erlebten psychischen Vorgänge etwas von
allem Materiellen vollkommen Verschiedenes sind. Henri Bergson hat
durch seine eindringenden Analysen viel dazu beigetragen, daß der
Unterschied beider Gruppen in seiner Tiefe erfaßt und erlebt werde.
Wer das Psychische in seiner Unmittelbarkeit und in seiner Tiefe wirk-
lich durchlebt, der kann niemals beim Materialismus Befriedigung
finden.
Der Materialismus hat um die Entwicklung unserer Denkfähigkeit
und als richtunggebender Faktor große Verdienste. Der enge Zu-
sammenhang zwischen Gehirn und Seele ist durch ihn besser ein-
geprägt und erfolgreiche Forschungen über die Einzelheiten dieses Zu-
sammenhanges sind durch ihn angeregt worden. Als methodisches und
heuristisches (zum Auffinden neuer Tatsachen führendes) Prinzip hat
er immer noch große Bedeutung, als Weltanschauung aber wird er
einem großen Teil der Erfahrung nicht gerecht. Wie der erkenntnis-
kritische Idealist dem fremden, so steht der Materialist dem
e i g e n e n Bewußtsein ratlos gegenüber und doch können beide die
ihnen unerklärbaren Erscheinungen nicht aus der Welt schaffen.
§ 32. Der Spiritualismus
I >ie Ansicht, daß das Wesen der Welt, die wir mit unseren Sinnen
wahrnehmen, nicht körperlich, nicht materiell, sondern geistiger
Natur ist, hat für den nicht philosophierenden Verstand etwas sehr
Befremdendes. Während der Materialismus auch dem minder Gebil-
deten schnell einleuchtet und deshalb leicht zu einer weitverbreiteten
populären Weltanschauung werden konnte, setzt der Spiritualismus
§ 32. Der Spiritualismus 115
eine weit stärkere Schulung im abstrakten Denken und die Fähigkeit
voraus, sich tief in das eigene Seelenleben zu versenken. Der
Grundgedanke aller spiritualistischen Metaphysik besteht nämlich in
der zuerst von den indischen Weisen tief erfaßten und eindring-
lich ausgesprochenen Überzeugung, daß wahre Welterkenntnis
nur zu gewinnen sei durch vertiefte Selbsterkenntnis. „Tat
Twam Asi" (Das bist du) sagen die alten Brahmanen mit Bezug
auf die Welt und meinen damit, daß der Mensch nur tief genug in sich
selbst hineinschauen müsse, um sein eigenes geistiges Selbst, sein
„Atman", zu erfassen, welches zugleich das Atman des Universums
ist. Goethes oft zitierter Ausspruch: „Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?" gibt derselben Grundansicht einen ebenso
kurzen als bedeutsamen Ausdruck.
Wer den Weg des Geistes, von der Welt zu sich selbst und von da
aus wieder zur Welt zurück innerlich mitmachen und eine tiefgründige
spiritualistische Metaphysik auf sich wirken lassen will, der lese den
ersten Band von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung".
Von den alten Indern, von Plato und ganz besonders von Kant hatte
Scfiopenhauer die Überzeugung übernommen, daß die Sinnenwelt nur
Erscheinung sei, daß es ohne denkendes Subjekt auch kein Objekt geben
könne, und hatte sich so die phänomenalistische Betrachtungsweise des
kritischen Idealismus zu eigen gemacht. Die von Kant behauptete Un-
erkennbarkeit des der Erscheinung zugrunde liegenden Dinges an
sich wollte und konnte er jedoch nicht zugeben. Die Welt ist meine
Vorstellung und zu dieser Welt gehört auch mein Körper. Ich bin mir
also selbst zunächst nur als Erscheinung, als Vorstellung gegeben. So-
bald ich aber tiefer in mich hineinschaue, entdecke ich noch eine andere,
viel wichtigere und bedeutsamere Seite meines Wesens. Mein Ich ist
seiner wirklichen Beschaffenheit nach Wille, und zwar Wille zum
Dasein, Wille zum Leben. Ich bin also auf doppelte Weise da. Als
Vorstellung in der Welt der Erscheinung und als Wille in meinem
innersten Selbstbewußtsein. Ich darf deshalb annehmen, daß auch die
Dinge da draußen nicht bloß als Erscheinung für mich da sind, son-
dern daß auch ihnen ein meinem Willen analoges Wesen zugrunde
liegt. Schopenhauer sucht dann zu zeigen, daß diese metaphysische
Annahme im Einklang steht mit den Ergebnissen der Naturwissen-
schaft und Seelenkunde, und daß sich daraus auch das Wesen der
Kunst und die Prinzipien der Ethik ableiten lassen. Vielleicht werden
nicht viele imstande sein, diese Willensmetaphysik als eine vollkommen
befriedigende Lösung des Welträtsels anzuerkennen, aber niemand
wird das Buch ohne tiefgehende Wirkung lesen und jeder wird darin
ein Musterbeispiel einer auf den Spiritualismus gegründeten Welt-
anschauung kennen gelernt haben und die innere Kraft einer solchen
Denkweise an sich selbst erleben.
Das Studium Schopenhauers lehrt uns auch ein besonders charak-
teristisches Merkmal der spiritualistischen Metaphysik kennen. Wir
meinen die tiefe innere Verwandtschaft mit dem kritischen
Idealismus und dem erkenntnistheoretischen Intellektua-
lismus. Wenn man die sieht- und greifbare Welt seiner Umgebung
1 i 0 Metaphysik oder Ontologle
nichl als Wirklichkeit, sondern nur als Erscheinung für ein denkendes
Subjekt ansieht, wenn man ferner den Sinnen die Erkenntnisfähigkeit
abspricht, dann führl dies entweder bei demselben Denker oder bei
seinen Nachfolgern mit unerbittlicher Konsequenz zu der Annahme,
daß das wahre Wesen der Welt nicht körperlicher, sondern geistiger
Natur ist. 1 >iese l iedankenentwicklung kann man in der Geschichte der
Philosophie wiederholt beobachten.
Die eleatischen Henker (s. oben S. 61) hatten den Sinnen alle Er-
kenntnisfähigkeil abgesprochen, die Vielheit und Bewegung geleugnet
und nur die Manen Begriffe des abstrakten Denkens gelten lassen.
Unter ihrem Einfluß baut dann Piaton seine Welt der Ideen auf, der
immateriellen Urbilder aller Sinnendinge, an deren Spitze die Idee
des Oute n, also eine rein geistige Macht, steht. Platin konstruiert
aus platonischen Gedanken, die er mit den Lehren des Aristoteles und
der späteren Denker in Einklang bringt, ein groß angelegtes spiri-
hialistisches System, in welchem die Materie geradezu als das „Nicht-
Seiende" bezeichnet wird. Descartes vollzieht an sich ein Gedanken-
experiment, indem er den Versuch macht, die Sinnenwelt für unwirklich
zu halten. Er findet dann bekanntlich in der unbezweifelbaren Tat-
sache seines eigenen Denkens den festen Ausgangspunkt für das weitere
Philosophieren. Descartes hat selbst die spiritualistischen Konse-
quenzen seiner Lehre nicht gezogen; er hat vielmehr, wie wir später
sehen werden, dem philosophischen Dualismus die schärfste Formu-
lierung gegeben. Allein nicht lange nach ihm finden wir bei Leibniz
ein durchaus spiritualistisches System. Die Welt besteht nach Leibniz
aus ausdehnungslosen, immateriellen und beseelten Monaden,
deren Wesen sich im Wahrnehmen und Streben kundgibt. Es ist be-
greiflich, daß ein derartiger spiritualistischer Pluralismus das meta-
physische Einheitsbedürfnis nur wenig befriedigt, allein es zeigt sich
doch auch hier, daß schon die Anfänge erkenntniskritischer Erwä-
gungen, wie sie bei Descartes vorliegen, die Tendenz in sich tragen,
sich zu spiritualistischer Metaphysik weiterzuentwickeln.
Viel deutlicher tritt dieser innere Zusammenhang in der Entwick-
lung der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel zutage. Kant
glaubte in seiner Kritik der reinen Vernunft festgestellt zu haben, daß
unsere sicheren Erkenntnisse Elemente enthalten, die nicht aus der Er-
fahrung stammen und somit a priori im Menschengeist angelegt sind.
Wenn nun unser Geist die Fähigkeit besitzt, aus sich heraus
ewige Wahrheiten zu entwickeln, dann zieht man leicht daraus die
Folgerung, daß der Geist etwas Schöpferisches und W e s e ti-
li a f t e S sei. Wenn wir nun bei Hegel die Sätze lesen, daß die S u fa-
st a n / Subjekt und daß das Absolute Geist ist, so ist es
vollkommen klar, daß hier aus der aphoristisch begründeten Erkennt-
niskritik eine spiritualistische Metaphysik hervorgegangen ist*).
*) Vgl. Jerusalem, „Apriorismus und Evolutionismus" in den Verhand-
lungen des III. Internationalen Kongresses für Philosophie in Heidelberg,
6 n.
§ 32. Der Spiritualismus 117
Ein ähnlicher Entwicklungsgang scheint sich in der deutschen
Philosophie der Gegenwart zu vollziehen. In der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts wurde in Deutschland von mehreren Seiten
der Ruf erhoben : „Zurück zu Kant." Die erkenntniskritische Arbeit
Kants wurde mit großer Energie wieder aufgenommen, kräftig weiter-
entwickelt und besonders die apriorische Seite dieser Kritik zu einer
„reinen" und „gegenständlichen" Logik ausgestaltet. Allein die in
jedem Apriorismus enthaltenen metaphysischen Keime drängen sich
vor und kommen immer deutlicher zur Entfaltung. Wir sehen tatsäch-
lich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England
und Amerika immer neue spiritualistische Systeme erstehen.
Es ist aber keineswegs bloß die apriorisch gerichtete Erkenntnis-
kritik, die den Spiritualismus begünstigt. Wir sehen hier noch andere
Motive am Werk. Es wird sich weiter unten zeigen, daß die soziale
Differenzierung der Menschen eine höhere Wertung des
Seelischen im Menschen zur Folge hat. Die intensive Beschäfti-
gung mit Psychologie, die wir seit den Tagen des Aristoteles beob-
achten können, ist gewiß mit auf diese höhere Wertung zurückzuführen.
Nun wird gerade in unserer Zeit überall in großem Umfang und mit
starkem Interesse Psychologie getrieben. Wer sich sein Leben lang mit
der Erforschung des Psychischen beschäftigt, der kann sich nicht leicht
beim Materialismus beruhigen. So sehen wir denn tatsächlich, wie
spiritualistische Systeme direkt aus der Beschäftigung mit Psychologie
hervorgehen. Wilhelm Wundt, der Begründer der experimentellen
Seelenkunde, ist überzeugt, daß das wahre Wesen der Welt geistiger
Natur ist, und hat dieser Überzeugung in seinem „System der Philo-
sophie" Ausdruck gegeben. Durch eine geistvolle Kombination Leib-
nizscher und Schopenhauerscher Gedanken und durch strenges Fest-
halten an dem ereignisartigen Charakter alles seelischen Geschehens
gelangt Wundt zu seinen Willenseinheiten, die das wahre
Wesen der Welt ausmachen. Diese sind aber nicht beharrende Sub-
stanzen, sondern Tätigkeiten. „Der kosmische Mechanismus ist nur
die äußere Hülle, hinter der sich ein geistiges Wirken und Schaffen,
ein Streben, Fühlen und Empfinden verbirgt, dem gleichend, das wir in
uns selber erleben." (Wundt, System der Philosophie, 3. Aufl., I, 422.)
Auch Henri Bergson, der die Intuition als Erkenntnisquelle so
hoch einschätzt (s. oben S. 65 f.), wird durch seinen psychologischen
Tiefblick zu einer spiritualistischen Metaphysik geführt und findet im
seelischen Leben die „wahre Dauer" (la vraie duree), das heißt die
inhaltsvolle Zeit, und in ihr eine „schöpferische Entwick-
1 u ng". Bergson hat seine Metaphysik noch nicht vollständig dar-
gestellt, allein man sieht aus den bisher veröffentlichten Werken, daß
das Geistige für ihn so wie für Wundt kein Sein, sondern ein Wer-
den ist, aber ein krafterfülltes, lebendiges Werden, das mit einem
ursprünglichen Lebensdrang (elan vital) beginnt, sich die
Materie unterwirft und als schöpferische Entwicklung immer neue un-
vorhersehbare Wirkungen hervorbringt. Für Bergsons Metaphysik ist
die innige Verbindung von Seele und Leben charakteristisch. Er
hat deshalb auch umfassende biologische Studien angestellt und erst
118 Metaphysik oder Ontologie
auf Grund derselben seine spirituaiistische Denkrichtung zur vollen
i rberzeugung entwickelt.
I in weiteres Motiv zur Bildung spiritualistischer Weltanschau-
ung», i! ist das geläuterte und vertiefte religiöse Bedürfnis. Das
intellektuell und ethisch höher entwickelte menschliche Bewußtsein faßt
die ( iottheit immer vollkommener und zugleich immaterieller auf und
siehi in Goti den Inbegriff der reinen Geistigkeit. Wenn nun Gott als
Schöpfer und I rhalter des Universums angesehen wird, so führt dies
naturgemäß da/u, alles Geistige als etwas Höheres, Wesenhafteres zu
betrachten, und der Materie nur insofern Realität zuzusprechen, als sie
Ausstrahlung des göttlichen Geistes ist. Schon bei Piaton finden wir
dieses religiöse Motiv wirksam. Plato kannte die Lehre der soge-
nannten Örphiker, welche den Körper als ein Grab der Seele be-
trachteten und von einem tiefen Erlösungsbedürfnis erfüllt waren. Die
Seele ist deshalb auch für Plato das Wertvollere im Menschen, sie ver-
mag aus sich heraus wahre Erkenntnis zu gewinnen und ist deshalb
auch das wahrhaft Seiende. Noch deutlicher tritt das religiöse Moment
bei Plotin zutage, den wir ja bereits oben als den Begründer der philo-
sophischen Mystik kennen gelernt haben. Aber auch in unserer Zeit
können wir dasselbe beobachten. Wir sehen, wie auch heute noch spiri-
tuaiistische Systeme aus religiösem Bedürfnis hervorgehen und eben
darum zahlreiche Anhänger finden. Rudolf Eucken mahnt uns mit
energischer Wärme, durch angestrengte geistige Arbeit an uns selbst
zur Aneignung eines „geistigen Lebensinhaltes" zu gelangen, in dem
er das wahre Leben, das „Bei sich selbst sein" des Lebens erblickt.
Dieser geistige Lebensinhalt ist für Eucken nicht das Produkt gemein-
samer geistiger Arbeit der Menschen. Das geistige Zusammenwirken
wird vielmehr selbst erst ermöglicht und getragen durch einen transzen-
denten göttlichen Geist, der in jedem von uns wirksam ist und das
wahre Sein repräsentiert. In Amerika tritt Josiah Royce mit großer
Kraft und Wärme für einen religiös gefärbten Spiritualismus ein. Sein
Hauptwerk „Die Welt und das Individuum" (leider noch nicht ins
Deutsche übersetzt) ist besonders darum bemerkenswert, weil Royce den
sozialen Faktor im Leben des Einzelnen energisch betont und aus
dieser steten Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum
auf ein ewiges, geistiges, göttliches Sein schließt.
Aus einer eigenartigen Verbindung erkenntniskritischer und reli-
giöser Motive ist der Spiritualismus von Gustav Theodor Fechner her-
vorgegangen, der anfangs wenig beachtet wurde, jetzt aber wieder An-
hänger gewonnen hat (Pau/sen, Lasswitz u. a.). Fechner hat sich durch
seine exakten Versuche und Messungen um die experimentelle Psycho-
logie große Verdienste erworben und hat in die Betrachtung des Seelen-
lebens die mathematischen Methoden mit viel größerem Erfolge ein-
geführt, als vor ihm Her hart. Fechner hat auch als erster eine Art
empirischer und experimenteller Ästhetik begründet. Neben diesen Ar-
beiten, zu denen noch eine Reihe von Einzeluntersuchungen auf dem
1 iebiete der Physik hinzukommt, fand aber Fechner noch Zeit und
Muße, eine religiös gefärbte Metaphysik aufzubauen, die auf spiri-
tualistischer Grundlage ruht. Nach dem von Kant begründeten Phäno-
§ 32. Der Spiritualismus 1 ig
menalismus sind alle sieht- und greifbaren Dinge nur als Erschei-
nungen gegeben, die für ein denkendes Bewußtsein da sind. Fechner
kann nun nicht glauben, daß die Erde und die Gestirne nur für uns da
sein sollen und nicht zugleich etwas für sich selbst sind. Deshalb
schreibt er der Erde, den Gestirnen und den Pflanzen Beseeltheit zu
und meint überhaupt, daß das Unorganische aus einem ursprünglich
belebten (kosmorganischen) Zustande hervorgegangen ist. Fechners
Lehre von der Allbeseelung (Panpsychismus) gipfelt in dem
Glauben an Gott als persönlichen Geist, dessen Leib das Uni-
versum ist.
Wir haben bisher die verschiedenen Motive kennen gelernt, die zu
einer spiritualistischen Metaphysik führen, und uns mit den hervor-
ragendsten Vertretern derselben bekannt gemacht. Fassen wir nun das
allen diesen Denkrichtungen gemeinsame Moment zusammen, so fin-
den wir es in der Überzeugung, daß das innerste und tiefste Wesen der
Welt nicht materieller, sondern geistiger Natur sein muß. Es ist der
Geist, der sich den Körper baut. Diese Auffassung steht in einer Be-
ziehung philosophisch höher als der Materialismus, und zwar deshalb,
weil hier das menschliche Bewußtsein, dessen Bedeutung für die
soziale Entwicklung immer deutlicher hervortritt, nicht wie beim
Materialismus als etwas Unbegreifliches und zugleich Nebensächliches
erscheint, sondern als ursprüngliche kosmische Kraft anzusehen ist,
die in einem höheren, universellen, geistigen Sein verankert ist. Die
spiritualistische Welt- und Lebensanschauung ist aber auch geeignet,
zur Konzentration des Menschen auf das Geistige in ihm anzuregen
und den Leib als Werkzeug aufzufassen, das höheren geistigen Zielen
zu dienen bestimmt ist. Dieser ethische Einschlag der spiritualistischen
Metaphysik ist vielleicht die vielen unbewußte Ursache dafür, daß man
den Spiritualismus gerne mit dem ethisch anziehenden Namen
Idealismus bezeichnet, was tatsächlich sowohl in geschichtlichen
Darstellungen als auch in systematischen Auseinandersetzungen sehr
häufig geschieht.
Allein der Spiritualismus macht sich doch auch wieder derselben
Einseitigkeit schuldig, die uns beim Materialismus unerträglich schien.
Der Unterschied zwischen physischen und psychischen Phänomenen
wird auch im Spiritualismus nicht überwunden oder aufgehoben, son-
dern einfach verwischt. Wir können ebensowenig begreifen, wie die
Materie denken, als wie der Geist ausgedehnt sein und sich zum Stoff
verdichten kann. Die physischen Phänomene sind, wie wir schon be-
merkten, der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich, die geistigen unzu-
gänglich. Wie nun so ganz unvergleichbare Vorgänge auseinander ent-
stehen und ineinander übergehen sollen, das will uns weder dann ein-
leuchten, wenn aus Materie Geist, noch auch, wenn aus Geist Materie
werden soll.
Diese sowohl im Materialismus als auch im Spiritualismus liegen-
den Schwierigkeiten des monistisch gerichteten Philosophierens zeitigen
das Bedürfnis, einen höheren Begriff zu bilden, der Materie und Geist
in sich faßt, oder einen Standpunkt zu finden, wo dieser Gegensatz
noch nicht besteht. Der Monismus sucht einen derartigen höheren Be-
] _>(j Metaphysik oder Ontologie
griff, wie wir oben sagten, zunächst durch statische Betrachtung
u gewinnen und bildet so ein metaphysisches System aus, das wir als
Aonis m u - d e r Subst a n z bezeichnet haben.
§ 33. Der Monismus der Substanz
Die älteste Form dieser Auffassung ist die Lehre der sogenannten
I leaten, die im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. in griechischen
l anden ausgebildet wurde. Die Schule hat ihren Namen von der Stadt
i lea in Unteritalien, wo mehrere dieser Denker zu Hause waren. Der
Mitter der Schule, Xenop/ianes, hatte bereits gegen die vermensch-
lichende Auffassung der Götter bei Homer und Hesiod protestiert und
gelehrt, daß die Gottheit den Menschen weder an Gestalt noch an
Denkweise ähnlich sei. Ontologisch ausgestaltet wurde die Lehre aber
erst von seinem Schüler Pannenides aus Elea. Wir haben schon oben
(S. 61 ) die F.leaten als Begründer einer intellektualistischen Erkennt-
nistheorie kennen gelernt. Die sinnliche Wahrnehmung ist, so lehrt
Parmenides, durchaus trügerisch *). Die Göttin, die ihn belehrt, warnt
ihn davor, das „nichts erschauende Auge und das brausende Ohr"
walten zu lassen. Nur das reine Denken führt zur Erkenntnis des wahr-
haft Seienden. Dieses Seiende ist einheitlich und ewig. Es ist ungewor-
den, kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur ein
ewiges „Jetzt". Das Seiende ist ferner unteilbar, unveränderlich und
kennt demnach weder Vielheit noch Bewegung. Parmenides war frei-
lich nicht imstande, seine hohe Abstraktion konsequent zu Ende zu
denken. Sein unsinnliches, nur durch reines Denken zu erfassendes
Sein gleicht, wie er sich ausdrückt, „der Masse einer wohlgerundeten
Kugel, von der Mitte nach allen Seiten hin gleich stark". Er stellt sich
also das Abstrakte noch in sinnlicher Gestalt vor. Parmenides' Schüler
Zeno von Elea suchte die Lehre seines Meisters scharfsinnig, aber
auch spitzfindig zu begründen und führte mehrere Beweise gegen die
Glaubwürdigkeit der Sinne, gegen das Vorhandensein von Vielheit und
Bewegung. Die Lehre der Eleaten übte großen Einfluß auf Piaton, der
seine Ideen nach eleatischer Denkweise als ewig und unveränderlich
hinstellte und auch als rein geistige Wesenheiten, die mit den Sinnen
nicht wahrnehmbar, sondern nur von dem zu erfassen sind, der die
Seele von dem Blendwerk der Erscheinung nicht betören läßt.
Der eleatische Grundgedanke ist bis auf den heutigen Tag bedeut-
sam geblieben und dürfte es auch in Zukunft bleiben. Daß die sinnliche
Wahrnehmung auch in naturwissenschaftlichen Fragen nicht das letzte
Wort hat, das wurde der denkenden Welt am deutlichsten und ein-
dringlichsten von Nikolaus Köper nikus bewiesen. Wenn man überzeugt
sein muß, daß die Sonne, die wir täglich auf- und niedergehen sehen,
•) Parmenides hat seine Gedanken in einem Lehrgedicht niedergelegt, das
ungefähr 480 v. < hr. abgefaßt ist. Von diesem Gedichte sind uns etwa 150 Verse
erhalten. Die beste Ausgabe ist jetzt: „Parmenides Lehrgedicht", griechisch und
deutsch, von Hermann Dich. Berlin 1897. Auch enthalten in der von demselben
\ erfasser herausgegebenen Sammlung: „Die Fragmente der Vorsokratiker".
1. Band, 2. Aufl. 1907.
§ 33. Der Monismus der Substanz 121
tatsächlich ihren Ort nicht verändert, dann besitzt das abstrakte, mathe-
matische Denken, dann besitzt selbst die konstruktive, wissenschaftliche
Phantasie mehr Wahrheitswert als das „nichts erschauende Auge und
das brausende Ohr". Kopernikus hat aber die Philosophen noch etwas
anderes gelehrt. Die Erde, bis dahin der Mittelpunkt des Weltalls,
wurde zu einem kleinen unbedeutenden Planeten, der mit vielen anderen
um die Sonne kreist. Oiordano Bruno (1548—1600) war der erste
Philosoph, der aus den astronomischen Lehren des Kopernikus die
ontologischen Konsequenzen zog. Mit flammender Begeisterung ver-
kündete er seine Lehre von der Unendlichkeit der Welt und von der
Einheit des Universums. Oiordano Bruno ist am 17. Februar 1600 in
Rom als Ketzer verbrannt worden, weil seine Lehre den damals gelten-
den Dogmen widersprach, und weil er sich weigerte, seine Überzeugung
durch Widerruf zu verleugnen. Brunos Gedanke von der Einheit des
Universums, die, wie weiter unten gezeigt werden soll, zugleich die
Identität von Gott und Welt bedeutete, ist jedoch wirksam geblieben.
In einer anderen, weniger lebendigen, aber logisch konsequenteren
Form hat ihn Baruch Spinoza (1632—1677) wieder aufgenommen, in
dessen System der Monismus der Substanz am reinsten zum Ausdruck
kommt.
Als Jude in Amsterdam geboren, war Spinoza schon als Knabe
mit dem Alten Testament vertraut und wurde dann auch in die Lehren
der jüdischen Religionsphilosophen eingeführt. Hier lernte er nun
einen Gottesbegriff kennen, der, soweit dies dem menschlichen Denken
überhaupt erreichbar ist, von allen Anthropomorphismen (Vermensch-
lichungen) gereinigt ist. Allerdings bleibt dieser Gott ein von der Welt
selbst verschiedenes Wesen. Er war da, „bevor die Berge geboren wur-
den" (Psalm 90), und hat durch sein Wort die Welt geschaffen. Als
nun Spinoza mit den Lehren des Philosophen Descartes (1596—1650)
vertraut wurde und die Strenge der mathematischen Beweisführung
kennen gelernt hatte, konnte ihn der Dualismus von Gott und Welt
nicht mehr befriedigen. Er faßte das im Alten Testamente so oft ein-
geschärfte Gebot der G o 1 1 e s 1 i e b e im strengsten und weitesten
Sinne auf und vermochte dieses Gebot nicht anders zu deuten, als daß
darin die unbedingte Hingabe der Menschen an die Unendlichkeit
Gottes verlangt werde. Daraus erwuchs ihm allmählich der Begriff
Gottesalsdereinzigen Substanz, aus der alles Sein, das
körperliche sowohl als das geistige, mit logischer Konsequenz abzu-
leiten sei. Deswegen sind ihm, ebenso wie dem leidenschaftlichen Oior-
dano Bruno, Gott und Welt ein und dasselbe (Deus sive natura).
Diese einzige Substanz, deren Begriff die Existenz schon in sich
schließt, hat zwei Attribute, das Denken und die Ausdeh-
nung. Jedes einzelne Ding in der Welt, also auch jeder Mensch, ist
nichts als eine Erscheinungsform, ein Modus der einzigen Substanz.
Wenn man die Dinge nicht in ihrer Besonderung, sondern vom Ge-
sichtspunkt der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) betrachtet, dann ist
alles Sein und Geschehen ein vollkommen einheitliches. Wir haben
immer nur die eine Substanz, deren Attribute sich in zahllosen Erschei-
nungsformen verwirklichen. Die Ordnung der Vorstellungen des Men-
\22 Metaphysik oder Ontotogie
sehen und die Ordnung der Dinge ist dieselbe, weil beide aus derselben
Quelle, der einzigen, ewigen, unteilbaren Substanz fließen. Das höchste
Ziel der menschlichen Erkenntnis und zugleich der menschlichen Glück-
seligkeit ist demnach die unbedingte Hingabe an das Universum oder,
wie es Spinoza formuliert, die intellektuelle Liebe zu Gott.
Spinozas Weltanschauung hat in ihrer Einheitlichkeit und in ihrer
starren l ieschlossenheit zweifellos etwas Großartiges. Bei genauerem
Zusehen zeigt es sich jedoch, daß in ihrer Grundlegung sehr Wichtiges
übersehen ist. Der erste schon oft hervorgehobene Fehler ist der, daß
Spinoza das logische Verhältnis von Grund und Folge mit dem onto-
^, sehen von Ursache und Wirkung identifiziert. Er glaubt alles Sein
und Geschehen aus dem B e g r i f f e der Substanz in derselben Weise
deduzieren zu können, wie die Geometrie ihre Lehrsätze aus ihren Defi-
nitionen der Raumgebilde tatsächlich ableiten darf. Deswegen glaubt
er auch, daß den metaphysischen Aufstellungen, die er in seiner
„Ethik" nach geometrischer Methode ableitet, dieselbe unerschütterliche
Beweiskraft zukommt wie den geometrischen Lehrsätzen. Er vergißt,
daß die Geometrie mit selbstgeschaffenen, die Philosophie mit vor-
gefundenen und gegebenen Begriffen operiert. Ein zweiter Mangel des
Spinozismus ist der, daß hier aus dem Weltgeschehen die Zeit gleich-
sam eliminiert wird. Spinoza sieht in seiner begrifflichen Deduktion
nur das ewig Beharrende, sich Gleichbleibende, und merkt nicht, daß
im Weltgeschehen stete Veränderung und Entwicklung vor sich geht.
Als dritten Fehler der spinozistischen Weltbetrachtung muß man
ferner die in der damaligen Zeit allgemeine, rein intellektualistische
Auffassung des Seelenlebens bezeichnen. Für ihn wie für Descartes ist
das ganze Seelenleben ein Denken. Nun lehrt aber die moderne Psycho-
logie, daß Fühlen und Wollen die ursprünglichen Betätigungsweisen
des Bewußtseins sind, und daß erst aus diesen die Denktätigkeit sich
entwickelt.
Spinozas Monismus der Substanz kann daher in seiner starren
Form nicht befriedigen. Goethe, auf den Spinoza nachhaltig eingewirkt
hat, verlebendigte aus eigenem innern Antrieb den starren Substanz-
begriff. Ihm war die Einheit von Gott und Natur sehr sympathisch,
allein für ihn ist Natur Leben, Entwicklung und stete Veränderung.
Deshalb begrüßte es auch Goethe mit Freude, als im Jahre 1797
Schillings Naturphilosophie erschien, ein Werk, in welchem der Grund-
lanke Spinozas, die Einheit von Natur und Geist, beibehalten, aber
mit der Idee der Entwicklung verbunden war.
Schilling (1775—1854) nahm mit vollem Bewußtsein den Ge-
danken Spinozas wieder auf. Schon in einer seiner ersten Schriften
spricht er die Hoffnung aus, „der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas
Ethik aufzustellen, Realität zu geben". „Ich bin", schreibt er an Hegel,
„Spinozist geworden, Du wirst bald sehen, wie." Auch für Schilling
sind Natur und Geist Erscheinungsformen des Absoluten, auch für ihn
ist das Universum einheitlicher Natur. Zum Unterschiede von Spinoza
betrachtet aber Schilling Natur und Geist nicht als Attribute, sondern
als die zwei Pole des Absoluten. Das Gesetz der Polarität, wie es die
I rscheinungen des Magnetismus und der Elektrizität aufweisen, be-
§ 33. Der Monismus der Substanz 123
trachtet Schetling als Weltgesetz. So wie der Magnet in der Mitte weder
Nordmagnetismus noch Südmagnetismus aufweist, sondern eine Art
Indifferenz beider, so sind Natur und Geist im Absoluten in un-
geschiedener Einheit verbunden und treten erst infolge des Gesetzes
der Polarität auseinander, ohne daß dadurch ihre innere Wesens-
einheit aufgehoben wird. Dabei aber bleibt das wahre Wesen des Ab-
soluten doch ein Geistiges. Die Natur ist für Schelüng „sichtbar gewor-
dener Geist". Darin neigt die von Schelüng so genannte „Identitäts-
philosophie", für die Denken und Sein ein und dasselbe ist, doch wieder
dem Spiritualismus zu. Ferner ist bei Schelüng das Absolute zwar an
sich unveränderlich und immer dasselbe ; es tritt aber in verschiedener
Form in die Erscheinung und diesen Prozeß hat Schelüng als Entwick-
lungsprozeß gefaßt. Von den beiden Polen des Absoluten hat Schelüng
besonders ausführlich die Natur behandelt und seine „Philosophie der
Natur" hat eine Zeitlang einen bedeutenden, wenn auch nicht gerade
förderlichen Einfluß ausgeübt. Die moderne Naturwissenschaft mußte
die Methode Schelüngs, die Naturgesetze aus philosophischen Ideen ab-
zuleiten, aufs entschiedenste bekämpfen und endgültig überwinden. In
den letzten Jahren aber begann man einzusehen, daß Schelüngs Ge-
danke, alle Naturkräfte aus einem einheitlichen Prinzipe zu erklären,
doch viel Richtiges hat, da ja auch die moderne Naturwissenschaft
nach und nach zu der Auffassung gelangt ist, alles Naturgeschehen
als Umformungen und Umsetzungen einer einheitlichen Energie zu
betrachten.
Viel geschlossener und einheitlicher ist der Monismus der Sub-
stanz durchgeführt bei Hegel (1770—1831). Die Identität von Denken
und Sein wird von Hegel so aufgefaßt, daß die logische oder, wie Hegel
sagt, dialektische Entwicklung der Begriffe zugleich die Entwicklung
des Weltgeschehens ist. Schelüngs Gesetz der Polarität wird bei Hegel
zum rein logischen Gegensatz der Begriffe. Jeder Begriff drängt nach
Hegels Lehre dazu, seinen Gegensatz zu denken. Jedes A verlangt
gleichsam zur Ergänzung sein Non A. Wenn aber ein Begriff seinen
Gegensatz aus sich herausgetrieben hat, so entsteht das logische
Bedürfnis, beide Begriffe unter einem höheren Begriff zu vereinen
oder, wie Hegel sagt, „aufzuheben". Man kann also zur absoluten
Wahrheit gelangen, wenn man nur die Selbstentwicklung der Begriffe
denkend nacherzeugt. Hegel führt uns so von dem reinen, inhaltslosen
Begriff des Seins bis zur Idee, die „sich als Natur frei aus sich ent-
läßt", um dann als Geist wieder in sich zurückzukehren. In den drei
Entwicklungsstufen des Geistes, dem subjektiven, dem objektiven und
dem absoluten Geiste, welch letzterer sich in Kunst, Religion und
Philosophie offenbart, erreicht die Entwicklung ihren Höhepunkt und
kehrt doch wieder zu ihrem Ausgangspunkt, dem reinen Sein zurück.
Während Schelüng seine Aufmerksamkeit hauptsächlich der Natur zu-
wendete, liegt Hegels Stärke in der Philosophie des Geistes. Hier hat
er namentlich durch den Begriff des „objektiven" Geistes, der sich in
Recht, Moralität und Sittlichkeit verwirklicht, und dessen Vorhanden-
sein sich in dem Familienleben und im Staatsleben deutlich zeigt, die
historische Betrachtungsweise ungemein vertieft. Man hat von ihm ge-
Metaphysik oder Ontologie
lernt, daß jeder einzelne Mensch unter dem Einfluß des objektiven
< ieistes steht, und daß jede erreichte Stufe der Geistesentwicklung nur
durch eingehendes Studium der vorhergehenden Entwicklung begriffen
werden kann. Allem Hegel glaubte, seine dialektische Methode über-
hebe der Muhe, exakte naturwissenschaftliche und historische Studien
zu machen, und g< statte es, die Gesetze des Seins und Geschehens
spekulativ abzuleiten. Deswegen hat die exakte Forschung so energisch
n seinen Einfluß ankämpfen müssen und deswegen hat gerade
Hegel unter den Einzelforschern so heftige Gegner gehabt. Heute frei-
lieh, wo die Tatsachenforschung längst gesiegt hat, findet man wieder
die Unbefangenheit, um auch Hegels Verdienste um die Förderung des
menschlichen Wissens gerechter zu würdigen. Hegels Philosophie ver-
dient zunächst als ein großartiger, in sich geschlossener Gedankenbau
schon an sich Anerkennung und Bewunderung. Aber auch aus dem
positiven Inhalt seiner Lehre bleibt die geschichtliche Betrachtungs-
weise alles geistigen Geschehens als wertvolles Ergebnis bestehen.
Der Monismus der Substanz ist nur bei den Eleaten und bei
Spinoza in voller Strenge durchgeführt. Bei Schelling und Hegel ver-
bindet sich damit auch der Gedanke der Entwicklung; bei Schilling
im Sinne einer wirklichen Veränderung, während Hegel die Entwick-
lung mehr als Selbstentfaltung des Begriffes faßt. Zugleich ist dieser
Monismus, wie schon bemerkt, bei Schelling und Hegel spiritualistisch
gefärbt, indem das Wesen des Absoluten bei beiden doch geistiger
Natur ist.
Die Schwierigkeit dieser Weltbetrachtung liegt hauptsächlich im
Begriff der beharrenden Substanz. Ein derartiger Begriff läßt sich
eben auf das geistige Geschehen schlechterdings nicht anwenden, weil,
wie wir bereits wiederholt bemerkt haben, die seelischen Vorgänge
durchaus ereignisartigen Charakter an sich tragen. Außerdem aber
widerspricht die statische Betrachtungsweise dem modernen Entwick-
lungsgedanken.
Deshalb wurde von anderer Seite auf Grund physiologischer und
physikalischer Theorien der Versuch unternommen, den Substanzbegriff
als beharrenden, sich immer gleich bleibenden Stoff ganz aus der Welt-
betrachtung zu eliminieren und nur die stete, gesetzmäßige Veränderung
als das Bleibende anzusehen. Diese etwas schwerer verständliche, aber
mit sehr strenger Konsequenz durchgeführte Betrachtungsweise, die
wir oben den Monismus des Geschehens nannten, soll jetzt dargestellt
werden.
§ 34. Der Monismus des Geschehens
So wie der Monismus der Substanz, so hat auch der Monismus
ä Geschehens im griechischen Altertum seine Wurzeln. In bewußtem
Gegensatz zu den elektischen Denkern hat Heraklit aus Ephesus (um
500 v. Chr.) d a s W e r d e n und die V e r ä nderun g als das Prin-
zip des Weltgeschehens aufgestellt. „Alles bewegt sich und nichts
bleibt4*, lautet einer seiner Aussprüche, und indem er das Weltgeschehen
mit einem Flusse vergleicht, behauptet er, man könne nicht zweimal in
§ 34. Der Monismus des Geschehens 125
denselben Fluß hinabsteigen, denn es sei dann nicht mehr derselbe *).
Heraklit hat auch erkannt, daß in all dieser Veränderung ein Gesetz
walte, eine Art Weltvernunft, die er Logos nannte. „Diese Weltord-
nung," sagt er, „dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein
Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein
ewig lebendiges Feuer." Das Feuer, das nach Heraklit den Urstoff
bildet, scheint auch nur ein Sinnbild der ewigen Bewegung zu sein.
Heraklit kennt auch bereits den Gedanken einer steten Entwicklung
zum Höheren und nennt deshalb den Kampf den Vater aller Dinge.
Aus diesem Kampfe sind nach ihm Götter und Menschen, Herren und
Knechte hervorgegangen.
Heraklits Gedanken sind zum Teil von den Stoikern wieder auf-
genommen worden, aber ohne daß diese die zugrunde liegende An-
schauung in ihrer vollen Tiefe erfaßt hätten. Auch bei Oiordano Bruno
begegnen wir den Spuren Heraklits, da auch dieser Feuergeist vom Ge-
danken des ewigen Werdens erfüllt ist. Hegel glaubte bei Heraklit die
Grundideen seines eigenen Systems zu finden, und Hegels Schüler,
Lassalle, hat in diesem Sinne ein zweibändiges Werk über Heraklit
geschrieben. Zweifellos haben Hegel und Lassalle in die Aussprüche
Heraklits oft einen Sinn hineingelegt, der dem griechischen Denker
fremd war, allein in der Hauptsache haben sie doch richtig geurteilt.
Für Heraklit ist das Universum nicht beharrende Substanz, sondern
ein Weltprozeß.
Diesen Gedanken haben nun auf dem Grund der Entwicklungs-
lehre neuere Forscher energisch aufgenommen und mit großer Konse-
quenz zu Ende gedacht. Bevor wir jedoch diesen neuen Monismus selbst
darstellen, sei ein Blick auf die erwähnte Entwicklungslehre geworfen.
Für die unorganische Welt hatte Kant in seinem Werke „All-
gemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (erschienen 1755)
den Gedanken einer Entwicklung nach mechanischen Gesetzen streng
und konsequent durchgeführt. Seine Hypothese von den glühenden
Gasnebeln, aus denen sich unser Sonnensystem gebildet habe, wurde
später in ähnlicher Weise vom französischen Astronomen und Mathe-
matiker Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselbe Idee ge-
kommen war, aufgestellt und ist unter dem Namen der Kant-Laplace-
schen Theorie allgemein bekannt**). Helmholtz hat in einem überaus
*) Von dem Werke Heraklits besitzen wir über 100 Bruchstücke, die jetzt
am bequemsten zugänglich sind in dem Buche: „Herakleitos von Ephesos",
griechisch und deutsch von Hermann Diels. Berlin 1Q01. Man findet sie auch in
der oben zitierten Sammlung: „Die Fragmente der Vorsokratiker".
**) Lanlace. hat seine Hypothese nicht so ausführlich dargelegt wie Kant.
Dieselbe findet sich am Schlüsse seines Werkes „Exposition du Systeme du
monde" in einer längeren Anmerkung (S. 498—509 im Band IV der großen
Pariser Gesamtausgabe). Während nun Kant voll Zuversicht ausruft: „Gebet
mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen", ist der Astronom und Mathe-
matiker viel zurückhaltender. „Ich werde", so kündet er seine Theorie an, „in
der Anmerkung am Schlüsse dieses Werkes eine Hypothese vortragen, die nur
mit großer Wahrscheinlichkeit aus den dargestellten Phänomenen sich zu er-
geben scheint, die ich aber dennoch mit all dem Mißtrauen vorbringe, womit uns
alles erfüllen muß, was nicht Resultat der Beobachtung und Rechnung ist"
(S. 477).
1 26 Metaphysik oder Ontologie
lichtvoll geschriebenen Vortrage*) dargetan, daß diese Theorie auch
dem gegenwärtigen Stande der Forschung am meisten entspreche. Vor
der organischen Welt macht aber Kant mit vollem Bewußtsein halt.
Während er in fester Zuversicht zu seinen Aufstellungen meint, man
könne ohne Vermesseuheit sagen: „Gebet mir Materie, ich will eine
Wilt daraus bauen, das ist: Gebet mir Materie, ich will euch zeigen,
wie eine Welt daraus entstehen soll", getraut er sich nicht, die Er-
zeugung eines einzigen Krautes oder einer Raupe erklären zu können.
Durch die Forschungen von Goethe, Lamarck, Geojjroy Saint-
llilaire, Spencer und Darwin ist nun die Einsicht in die Entwicklung
der organischen Welt wesentlich gefördert worden. Man weiß jetzt,
daß auch hier aus einfachen Elementen die kompliziertesten Gebilde
sich entwickeln, und man hat wenigstens eine Ahnung von den Ge-
setzen dieser Entwicklung. Die Grundeigenschaften des Lebens, als
da sind: Wachstum, Ernährung, Anpassung der inneren Funktionen
an die äußere Umgebung, müssen hier allerdings auch schon bei den
I lementen, mag man sie nun Zellen, Neurone, Plasome oder wie immer
nennen, vorausgesetzt werden. Aber das eine steht fest, daß alle Organe
und alle Funktionen sich auf Grund bestimmter Tendenzen entwickeln,
die darauf gerichtet sind, den Organismus und seine Gattung zu er-
halten. Die aus dieser Betrachtungsweise entstandene Wissenschaft
von den Gesetzen des Lebens, das ist die Biologie, hat durch
emsige Einzelforschung große Fortschritte gemacht und es ist eine un-
abweisbare Aufgabe geworden, auch das geistige Leben des Menschen
vom Standpunkte der Lebenserhaltung aus oder, wie man es wissen-
schaftlicher ausdrücken kann, nach biologischen Prinzipien zu durch-
forschen. Herbert Spencer hat dies in seinen „Prinzipien der Psycho-
logie" zuerst versucht und hat dadurch trotz seiner etwas zu engen
Fassung des Lebensbegriffes viel zum besseren Verständnis der seeli-
schen Vorgänge beigetragen.
Wenn alles, was im menschlichen Organismus vor sich geht, als
Lebensvorgang aufgefaßt wird, so ist die Möglichkeit geboten, für
psychische und für physische Phänomene ein einigendes Band zu fin-
den und einen Begriff aufzustellen, der tatsächlich beide vereinigt.
Von da aus läßt sich aber der Blick auf alles Geschehen erweitern und
so eine monistische Auffassung gewinnen, die weit konsequenter und
strenger ist als alle bisher versuchten. Diese Gedankenwege sind von
Richard Avenarius und von Ernst Mach eingeschlagen worden und
der von Avenarius begründete „Empiriokritizismus" ist das konsequen-
teste monistische System, das bisher aufgestellt wurde.
Avenarius und Mach sind unabhängig voneinander und auf ganz
verschiedenen Wegen zu ihren Resultaten gelangt. Avenarius, der sich
anfangs viel mit Spinoza beschäftigte und durch diese Beschäftigung
jedenfalls in dem Verlangen nach streng monistischer Auffassung des
Universums bestärkt wurde, geht vom materialistischen Standpunkte
') Heimholte, „Übet die Entstehung des Planetensystems", abgedruckt in
„Vorträge und Reden", Band II, S. 53 ff.
§ 34. Der Monismus des Geschehens 127
aus, während Mach anfangs dem Idealismus näher stand und aus-
drücklich sagt, daß der idealistische Ursprung seiner Anschauungen
nicht verdeckt werden soll.
Der Grundgedanke des Avenarius-Machschen Monismus ist die
Aufhebung des Unterschiedes zwischen physi-
schen und psychischen Phänomenen. Zu dieser Auf-
hebung gelangen diese Denker aber nicht durch irgendwelche mate-
rialistische oder spiritualistische Hypothesen, sondern durch eindrin-
gende Zergliederung des Ich-Bewußtseins. So wie Kopernikus
uns gezwungen hat, den geozentrischen Standpunkt aufzugeben und
unsere Erde nur als einen Punkt im Universum zu betrachten, so suchen
diese Forscher einen Standpunkt zu gewinnen, der über dem Ich liegt,
um so die egozentrische Weltauffassung zu überwinden. Was
wir unser Ich nennen, das ist ein Komplex von einzelnen Elementar-
vorgängen, deren Zusammensein ein festes, aber durchaus kein unzer-
störbares ist. In dieser Auflösung des Ich-Begriffes ist bereits David
Hume vorausgegangen, dem Ernst Mach in erkenntnistheoretischen
Fragen auch sonst sehr nahe steht. Zwischen den Elementarvorgängen,
die mein Ich ausmachen, und den Vorgängen meiner Umgebung be-
stehen Abhängigkeitsbeziehungen, die in ihrer Art gar nicht verschie-
den sind von den Abhängigkeitsbeziehungen, die zwischen den son-
stigen Vorgängen im Universum obwalten. Die Mathematik hat zur
Zusammenfassung der verschiedenen Abhängigkeiten zwischen Größen
den allgemeinen Begriff der Funktion gebildet, a ist eine Funktion
von b heißt: Mit jeder Größenänderung von a ist eine Änderung von
b immer verbunden. Verallgemeinert man nun den Begriff der Funk-
tion in dem Sinne, daß nicht nur quantitative, sondern auch quali-
tative Abhängigkeitsbeziehungen darunter verstanden werden, so wird
man sagen können: Im Universum findet sich nichts anderes vor als
Elementarvorgänge, zwischen denen funktionale Beziehungen be-
stehen. Die wichtigste, ja die einzige Aufgabe der Wissenschaft besteht
nun darin, diese Elementarvorgänge und ihre funktionalen Bezie-
hungen möglichst einfach zu beschreiben. Mit dieser Beschreibung hat
sich zugleich eine ökonomische Ordnung der Erfahrung zu verbinden,
damit das Gemeinsame nur einmal gedacht werde und so mit mög-
lichst geringem Denkaufwand möglichst viele funktionale Beziehungen
zusammengefaßt und verwertbar gemacht werden. So sind die Zahl-
begriffe nichts anderes als sehr brauchbare Denkmittel, die es ge-
statten, Beziehungen von hoher Allgemeinheit in kurzen und präzisen
Formeln zur Verfügung zu haben.
Die Welt ist somit, wie es ein jüngerer Forscher (Heinrich Qom-
perz) ausdrückt, ein geordnetes Ereignis. Hier kann weder von Sub-
stanzen noch von Ursachen die Rede sein. Jede Substanz verflüchtigt
sich sofort in eine Reihe von Geschehnissen und zwischen diesen Ge-
schehnissen kann nur von regelmäßiger Sukzession und Koexistenz,
nie aber von kausaler Verknüpfung gesprochen werden. Nur die Zweck-
mäßigkeit der biologischen Funktionen im Leben der Organismen bleibt
bestehen, aber nur als charakteristisches Merkmal, als Wegweiser zu
einer künftigen ganz exakten, ökonomisch geordneten Beschreibung.
Metaphysik oder Ontolo»ie
Die I lementarprozesse, zwischen denen die Funktionalbeziehungen
obwalten, sind bei Avenarius materieller, stofflicher Natur. Er be-
trachtet jeden Menschen mit seiner von ihm wahrgenommenen, zu ihm
m Beziehung stehenden Umgebung zusammen als eine „Prinzipialko-
ordination", das heißt als eine von Anfang an bestehende Zusammen-
gehörigkeit. Das „Ich-Bezeichnete" und seine Umgebung bilden ein
Ganzes. Das System C, so nennt Avenarius das Gehirn, ist das Zen-
tralglied dieser Prinzipialkoordination. Im menschlichen Weltbegriff,
der sich bei jedem von selbst bildet, verlegen wir nun die Wahrneh-
mungen. Gedanken und Gefühle unserer Mitmenschen in ihr Inneres.
Wir unterscheiden den Baum in unserer Umgebung, gleichsam „den
wirklichen Baum", von dem Bilde des Baumes, das unser Mitmensch
m seiner „Seele" hat. Diese „Einlegung" oder „Introjektion" ist nach
Ave mir; 11$ eine in den Tatsachen nicht begründete Verdoppelung der
Welt, indem wir den „Sachen" in unserer Umgebung unsere „Ge-
danken" gegenüberstellen. Schließlich gehört dann unser Körper zu
den „Sachen", aber in ihm wohnt ein eigenes und eigenartiges Wesen,
die Seele, als der Träger der Gedanken und Gefühle. Diese Verdoppe-
lung ist aber nach Avenarius eine Verfälschung der reinen Erfahrung.
Jeder Mensch ist nur ein Zentralglied einer Prinzipialkoordination und
seine Umgebung, insofern er sie wahrnimmt, ist dasselbe, was seine
Gedanken und Gefühle: „Abhängige vom System C" (Gehirn).
Durch Einführung des Begriffes der Prinzipialkoordination und
dadurch, daß alle psychischen Phänomene bloß als „Abhängige vom
System C" aufgefaßt werden, glaubt Avenarius den Gegensatz
/wischen Psychischem und Physischem überwunden und den natürlichen
Weltbegriff, für den es seiner Meinung nach nur eine einzige Gattung
von Geschehnissen gibt, wiederhergestellt zu haben. Da aber bei ihm
das Gehirn, also etwas Materielles, die Grundlage für seine moni-
stische Auffassung bildet, so behält sein Monismus immer etwas
Materialistisches. Was er als „Abhängige vom System C" bezeichnet,
das sind ebenso wie das System C selbst und alles, was darin vorgeht,
doch immer stoffliche, an ein materielles Substrat gebundene Vorgänge,
und wenn man seine Ausführungen konsequent zu Ende denkt, so bleibt
doch schließlich nichts übrig als ein materialistischer Monismus.
Anders verhält es sich in dieser Beziehung bei Mach. Da, wie be-
reits bemerkt wurde, Mach vom Idealismus ausgegangen ist und aus
tiefgründiger Beobachtung des eigenen Seelenlebens die wertvollsten
Erkenntnisse gewonnen hat, so erscheint bei ihm der Monismus des
Geschehens weit strenger und konsequenter durchgeführt als bei
Avenarius. Die Elemente, aus denen das Universum besteht, sind für
Mach zunächst Empfindungen. Diese tragen als psychische Phäno-
mene den Charakter des Ereignisartigen, des substratlosen Geschehens
an sieh, der allen seelischen Erlebnissen eigentümlich ist. Indem nun
Mach zur Überzeugung gelangt, daß auch die physischen Phäno-
mene, wenn man sie eingehend zergliedert, sich nicht als beharrende
Substanzen, sondern ebenfalls nur als Ereignisse darstellen, zwischen
denen gesetzmäßige Beziehungen obwalten, gelangt er zu einer wirk-
lich monistischen Auffassung, die nicht Materialismus ist. Der einheit-
§ 34. Der Monismus des Geschehens 129
liehe Begriff, durch den alles gedacht wird, ist der Begriff des O e-
schehens. Die Elemente sind nicht beharrende unveränderliche
Atome, sondern Elementar Vorgänge, zwischen denen funktionale
Beziehungen bestehen. Deshalb betont auch Mach ausdrücklich, daß der
idealistische Ursprung seiner Betrachtungsweise nicht verdeckt werden
soll. Denn zu dem Begriff des reinen Geschehens und zu dessen kon-
sequenter Anwendung kann man nur durch introspektive Betrachtung
des eigenen Seelenlebens gelangen. Um diese Auffassung zu verstehen,
muß man sich freilich über sich selbst erheben. Man muß gleichsam
den archimedischen Punkt außerhalb seines Ich finden, um von da aus
das Weltgetriebe zu überschauen. Indem man sich eins fühlt mit dem
Universum, und im Sinne des Steinklopferhans in Anzengrubers
„Kreuzelschreibern" zu der Überzeugung gelangt: „Du g'hörst zu dem
Allen und dös Alls g'hört zu Dir", sieht man ein, daß das, was wir unser
Ich nennen, nur ein vorübergehendes Zusammenballen kosmischen Ge-
schehens ist, in dem dieselben Gesetze herrschen wie in der Natur. Dem
geklärten Blicke des Denkers erscheint dann das Universum als eine
Reihe von Gesetzmäßigkeiten, und es ist hier wirklich gelungen, den
Unterschied zwischen physischen und psychischen Vorgängen, wenig-
stens für die Methode der Forschung zu überwinden.
In seinem Werke „Erkenntnis und Irrtum" hat Mach seine mo-
nistische Betrachtungsweise noch deutlicher dargelegt. Er billigt darin
(S. 460 d. 2. Aufl.) die von mir gewählte Bezeichnung seines Stand-
punktes als Monismus des Geschehens. Den Unterschied zwischen
Physischem und Psychischem bestimmt er dahin, daß „die Gesamtheit
des für a 1 1 e im Räume unmittelbar Vorhandenen als das Physische",
„dagegen das nur Einem unmittelbar Gegebene, allen anderen aber
nur durch Analogie Erschließbare als das Psychische bezeichnet" wird
(S. 6). Diese Unterscheidung liegt aber nicht am Anfang der Erfah-
rung, sondern vollzieht sich erst durch den Verkehr der Menschen mit-
einander. „Wer durch irgendeinen Zufall ohne lebende Genossen auf-
wachsen könnte, würde seine dürftigen Vorstellungen schwerlich den
Empfindungen gegenüberstellen, würde nicht zum Gedanken des Ich
gelangen, dieses nicht der Welt entgegensetzen. AllesGeschehen
wäre für ihn nur Eines." (S. 460.) „Als der Mensch durch
Analogie die Entdeckung machte, daß noch andere ihm ähnliche, sich
ähnlich verhaltende Lebewesen, Menschen und Tiere, bestehen, und als
er genötigt war, sich zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß er deren
Verhalten mit Rücksicht auf Umstände beurteilen müsse, die er nicht un-
mittelbar sinnlich wahrnehmen konnte, deren Analoga ihm aber doch
in seiner besonderen Erfahrung bekannt waren, da konnte er nicht
anders, da mußte er die Vorgänge in zwei Klassen teilen, in solche, die
allen, und in andere, die nur Einem wahrnehmbar waren ... So
wurde ihm zugleich der Gedanke des fremden und des eigenen Ich klar.
Beide Gedanken sind untrennbar." (S. 459 f.) Die Unterscheidung von
Physischem und Psychischem ist also für Mach und ebenso für
Avenarius eine willkürliche und darum nicht berechtigte. Beide wollen
die „reine Erfahrung" wiederherstellen, in der diese Scheidung noch
nicht vollzogen war. Sie suchen keineswegs das Physische und das
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
130 Metaphysik "der Ontologie
Psychische durch ein unbekanntes Drittes zu verbinden, wie dies
Spinoza tat, dessen göttliche Substanz gleichsam jenseits von
Physisch und Psychisch liegt. Der Standpunkt, den Mach und
Avenarius gewinnen wollen, liegt vielmehr diesseits von Phy-
5 c li und P s y c h i s eh. I Kirch eine „k ü n s 1 1 i c h e N a i v i-
t ä r will sich Mach (Erk. und Irrtum, 2. Aufl. S. 16) auf den primi-
tiven Standpunkt zurückversetzen, wo der Unterschied von Körper-
lichem und Seelischem noch nicht gemacht war. Es gibt nur ein Uni-
versum, nur ein einziges kosmisches Geschehen, das in zwei getrennte
Welten zu zerlegen kein Grund vorhanden ist. Für Avenarius ist dabei
mehr der systematische, für Mach mehr der methodo-
logische Gesichtspunkt maßgebend. Avenarius will einen „natür-
lichen Weltbegriff", also ein System, eine Weltanschauung, Mach hin-
en nur einen Standpunkt, den er nicht gleich verlassen muß, wenn
er von der Physik zur Psychologie übergeht. Machs Auffassung ist
deshalb nicht metaphysischer, sondern nur methodologischer
Monismus und als solcher jedenfalls von großem Wert für den
Forschungstrieb, insbesondere für die Ausschaltung überflüssiger Pro-
bleme. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß in Machs methodologischen
Prinzipien die Elemente einer Weltanschauung enthalten sind, die man
als Monismus des Geschehens bezeichnen darf.
Zweifellos ist dieser Monismus weit strenger und konsequenter
als alle anderen monistischen Deutungsversuche. Aber auch hier muß
die Kritik fragen, ob sich diese Auffassung durchführen läßt. Ist auf
dem Standpunkte, der diesseits von Physisch und Psychisch liegt, über-
haupt Erfahrung möglich und kann hier von einem Weltbegriff ernst-
lich die Rede sein? Erfahrung besteht nicht bloß im Erleben der
Tatsachen, Erfahrung setzt überall schon Formung und Gliederung
derselben voraus. Alle Eindrücke, die von außen kommen, müssen durch
die zentralisierte Organisation des Menschen, durch das System C,
wie Avenarius sagt, gleichsam hindurchgegangen sein, wenn sie zu Er-
fahrungen werden sollen. Auch das Zusammenwirken der Menschen
ist zum Zustandekommen biologisch verwertbarer Erfahrungen uner-
läßlich. Solche Erfahrungen können aber, wie oben gezeigt wurde,
ohne die fundamentale Apperzeption nicht gemacht werden und diese
setzt schon den Gegensatz von Ich und Welt voraus. Dieser Gegensatz
ist eben ein durchaus ursprünglicher und liegt von Anfang an dem
menschlichen Denken und Handeln zugrunde. Scheinbar vermögen
wir ihn vielleicht auf Augenblicke zu vergessen, wenn wir uns etwa
auf einem hohen Berge befinden und uns ganz der Betrachtung des
erhabenen Schauspiels hingeben. Auch im ästhetischen Genießen
großer Kunstwerke und in der mystischen Ekstase geht unser Ich im
Kunstwerke oder in der Gottheit gleichsam auf. Das sind aber nur
vorübergehen d e Zustände, aus denen unser Ich bald, wie aus
einem Traume erwacht, um sich gestaltend und stellungnehmend der
Welt gegenüber wieder selbständig zu fühlen. Diese im Wesen des
Menschen begründete Z w e i h e i t, die zugleich eine fortwährend sich
erneuernde S v n t h e s e verlangt, hat Karl Joe! in seinem hinreißend
chriebenen Werke „Seele und Welt" sehr wirkungsvoll dargestellt.
§ 35. Der Dualismus 131
Mit der Auffassung von Avenarius und Mach verwandt, aber
keineswegs identisch, ist der Monismus, der als Kulturbewe-
g u n g von Ernst Hacket in seinem Buche „Die Welträtsel" inauguriert
wurde, und von Wilhelm Ostwald in der Form einer energeti-
schen Natur- und Kulturphilosophie mit Kraft und Geschick ver-
fochten wird. Ostwald baut seine Weltanschauung auf dem physikali-
schen Begriff der Energie auf und wendet dieses Denkmittel auch
auf das Seelenleben an, indem er von einer „psychischen Energie"
spricht. Gegen diese Erweiterung erheben sich nun allerdings wichtige
Bedenken, und zwar erstens, weil die Eigenart der seelischen Vorgänge
sich der Bearbeitung durch physikalische Begriffe nicht ungezwungen
fügt und zweitens, weil der Annahme einer Konstanz der psychischen
Energie wichtige historische und psychologische Tatsachen wider-
sprechen. Trotzdem aber muß man sagen, daß Ostwald durch seine
„energetische Kulturphilosophie" sowie durch seine „monistischen Sonn-
tagspredigten" den Beweis erbracht hat, daß sich wichtige Kultur-
probleme von seinem Standpunkte aus sehr lichtvoll und belehrend be-
handeln lassen. Der von Ostwald und dem großen deutschen Monisten-
bunde verfochtene Monismus ist aber, wie gesagt, mehr eine Kultur-
bewegung als ein philosophisches System. Die Tendenz des Bundes
ist vor allem gegen die herrschenden Kirchen gerichtet und die Haupt-
arbeit besteht darin, der naturwissenschaftlichen Betrachtung alles
Geschehens zum Siege zu verhelfen.
Die monistischen Versuche, das ontologische Problem zu lösen,
haben die Denkkraft in hohem Maße gesteigert und uns gelehrt, den
Blick aufs Ganze zu richten. Tatsächlich aber scheint es bis jetzt nicht
gelungen, die Vielheit der Erscheinungswelt aus einem Grundprinzip
heraus als vollkommen gleichartig zu fassen. Selbst wenn man sich
auf den formalen Begriff des Geschehens beschränkt und in der all-
gemeinen Gesetzmäßigkeit das einigende Band sucht, bleibt, wie oben
bemerkt wurde, die Zweiheit bestehen. Deshalb kehrt man in neuester
Zeit wieder mehrfach zu der anscheinend wissenschaftlich minder-
wertigen, tatsächlich aber der wirklichen Erfahrung mehr entsprechen-
den Auffassung des Dualismus zurück. Mit den damit zusammen-
hängenden Problemen haben wir uns jetzt zu beschäftigen.
§ 35. Der Dualismus
Schon vor jeder philosophischen Spekulation, noch auf dem Boden
der praktischen Weltanschauung ist der Unterschied zwischen B e-
1 e b t e m und Leblosem aufgefallen und bemerkt worden. Das
Leblose bleibt ruhig, bis ein äußerer Anstoß es in Bewegung setzt, das
Belebte bewegt sich aus eigenem Antrieb und in zweckmäßiger Weise.
Dem Belebten muß daher ein Wesen innewohnen, das diese Bewegung
hervorruft. Zu einer derartigen Auffassung führt, wie wir aber ge-
sehen haben, bereits die fundamentale Apperzeption. Auf Grund der-
selben verlegte man das Kraftzentrum, das Bewegende in das Innere
des Körpers und machte sich zunächst über die Gestalt und über die
I $_> Metaphysik oder Ontologie
Schicksale dieses von Innen heraus bewegenden Wesens keine Ge-
danken. Da traten nun im Laufe der Entwicklung zwei wichtige Mo-
mente da/u Die Tatsache des Todes wurde selbstverständlich so
gedeutet, daß das innerlich Belebende jetzt aus dem Körper gewichen
sei. Da/u kamen nun mannigfache Erfahrungen des Traum-
1 e b e n s. Primitive Menschen betrachten die Träume als wirkliche Er-
lebnisse und glauben an die Wahrheit dessen, was sie im Traume ge-
sehen haben. Wenn nun ein Häuptling des Stammes gestorben war,
so träumten in den darauffolgenden Nächten gewiß viele Stammes-
jenossen von ihm und erzählten einander, der Verstorbene sei ihnen
im Traume erschienen. So bekam das belebende Prinzip oder die
Seele Gestalt, man glaubte an ihr Weiterleben, bestärkte sich gegen-
seitig in diesem Glauben und so wurde der S e e 1 e n b e g r i f f zu
einer der ältesten und festesten sozialen Verdichtungen, die
wir keimen.
Der Mensch besteht also nach dem überall verbreiteten Glauben
der primitiven Völker aus zwei verschiedenen Wesen, aus dem sicht-
und greifbaren Körper, der den eigentlichen Menschen ausmacht
und der Träger seiner Persönlichkeit ist, und aus der körperlosen, un-
greifbaren, aber darum doch nicht ganz immateriellen Seele. Diese
wird als Hauch, als Schatten vorgestellt. Sie verläßt den Menschen
zeitweise im Schlafe und für immer im Tode. Für den Primitiven be-
deutet der Körper alles, die Seele wenig oder nichts. Wenn der Kanni-
bale den Feind verzehrt, dann ist er überzeugt, daß er mit dem Fleisch
auch die Kraft, den Mut und den Verstand des Erschlagenen sich ein-
verleibt hat. In den homerischen Gedichten sehen wir, wie die Eigen-
schaften des Menschen am Körper haften, während die Seele ein
schattenhaftes Dasein führt, die Trennung vom Leibe beklagt und sich
im Hades nach der Oberwelt sehnt.
Dies wird anders, sobald die komplizierteren Formen des sozialen
Lebens zu einer höheren Wertung des Geistigen im Menschen
führen. Der rohe Seelenglaube der Primitiven, die mythischen Phanta-
siegebilde Homers machen nun ganz anderen Vorstellungen Platz. Die
Seele ist das Wertvolle, das Höhere, das Göttliche im Menschen Ihre
Vereinigung mit dem Körper wird als Befleckung aufgefaßt und es
entsteht die Sehnsucht und die Hoffnung, daß die Seele, wenn sie aus
der ( ietangenschaft im Körper befreit ist, zu ihrem göttlichen Urquell
zurückkehren wird. Die Seelenwanderung in der indischen und pytha-
goreischen Religionsphilosophie wird als ein langer Läuterungsprozeß
der Seele aufgefaßt, und in der bereits öfter erwähnten Religion der
Orphiker bildet das Erlösungsbedürfnis den Grundgedanken
und das Grundmotiv. Unter dem Einfluß dieser Strömungen lehrt
Plaio im „Phädon" die Unsterblichkeit der Seele und sucht sowohl ihr
I )asein vor der ( ieburt als auch ihre Fortdauer nach dem Tode logisch
zu beweisen. Jetzt erst wird das Geistige vollkommen immateriell ge-
faßt und vom Körperlichen scharf geschieden. Piaton selbst betrachtet
nur das Geistige als das Wirkliche und erkennt der Materie kein wahr-
haftes Sein zu. Allein der I.rfahrungsphilosoph Aristoteles, der auch
den Sinnendingen die vollkommene Realität zuerkennt, formuliert als
§ 35. Der Dualismus 133
erster einen philosophischen Dualismus. Die Seele ist
zwar bei Aristoteles nur die Form; die Vollendung (Entelechie) des
lebenden Wesens und geht mit dem Körper zugrunde. Aber es gibt
außer der Seele noch einen vom Körper verschiedenen Geist, der in
ihm wohnt, solange der Körper lebt, dann aber sich von ihm trennt und
ein Eigenleben führt.
Körper, Seele und Geist sind aber nicht zwei, sondern drei Prin-
zipien und diese bei Aristoteles vorgebildete Dreiheitslehre, der
Trialismus, erhält sich lange Zeit in der c h r i s 1 1 i c h e n Philosophie.
Das Wort aber, das den Geist zum Unterschied von der Seele be-
zeichnet, ist nicht das von Aristoteles gebrauchte (voü? Nus), sondern
ein Ausdruck, der zuerst etwas Materielles bedeutete. Es ist das
griechische Wort Pneuma (lat. Spiritus), das in der stoischen
Naturphilosophie eine Rolle spielt. Wörtlich heißt es „Hauch", aber
gemeint ist damit eine ganz dünne, alles durchdringende Luftart, etwa
dem Äther der modernen Physik vergleichbar. Nach der Lehre der
Stoiker ist das ganze Weltall vom Pneuma durchwohnt, aber es ent-
faltet sich da in verschiedener Reinheit und Feinheit. Das Pneuma
ist bei den Stoikern zugleich Urstoff der Welt und höchste göttliche
Intelligenz. Im Menschen wirkt es als vernünftige Seele, die alle
niederen Triebe zu meistern vermag *). So wird das materiell gedachte
Pneuma zum Träger der reinen Geistigkeit und daraus erklärt es sich,
daß dieses Wort in der jüdisch-alexandrinischen Philosophie und
später im Neuen Testament der Ausdruck wird für den vollkommen
immateriellen, reinen Geist, der nicht, wie die Seele, mit dem Körper
verbunden ist. So stellt der Apostel Paulus dem „seelischen"
(^r/iy-öc) Menschen, der die Werke des Geistes nicht in sich aufzu-
nehmen vermag, den „geistigen" (icveojiatix6c) gegenüber, der das
Göttliche erkennt (I. Cor. 2, 14, 15). Nach der Lehre der
„Gnostiker" **) wird das ganze Menschengeschlecht in Materien-
menschen (Hyliker), in Seelenmenschen (Psychiker) und in Geistes-
menschen (Pneumatiker) eingeteilt. Nur die letzteren sind des gött-
lichen Geistes teilhaftig und erheben sich über den Glauben zum Wissen
(Gnosis).
Allmählich tritt diese Dreiheitslehre zurück und macht einem aus-
gesprochenen Dualismus Platz. Schon Thomas v. Aquino zog Geist
und Seele, die bei Aristoteles getrennt waren, in einen Begriff zu-
sammen und seine Auffassung wurde im Jahre 1311 durch das Konzil
von Vienne kanonisiert. Eine philosophisch strenge Formulierung hat
jedoch der Dualismus erst durch Rene Descartes (1596—1650) er-
fahren.
*) Vgl. darüber Hans v. Arnim in dem Sammelwerke „Allgemeine Ge-
schichte der Philosophie" (Kultur der Gegenwart, I, 5, S. 210—250). Es ist dies
die weitaus beste Darstellung des Stoizismus, die wir besitzen.
**) Das sind christliche Theologen des zweiten und dritten Jahrhunderts,
die vom christlichen Glauben zum christlichen Wissen fortschreiten wollten und
die Lehre der christlichen Religion zu einer philosophischen Weltanschauung
weiter zu entwickeln strebten. {Übcrweg-Heinze, Grundriß, 10. Aufl., II, 35 ff.)
134 Metaphysik oder Ontologie
Deseartes lehrt, daß es zwei voneinander ganz verschiedene Sub-
stanzen gibt, die nichts miteinander gemein haben. Es gibt in der Welt
ausgedehnte Dinge oder Körper, die mechanisch aufeinander
wirken. Ihre Bewegungen und deren Gesetze müssen durch Beobach-
tung und Rechnung erforscht werden und laufen mechanisch ab, ohne
daß dabei zur Erklärung irgendeine Zweckursache verwendet werden
darf Außerdem aber existiert in mir eine denkende Sache, die
etwas ganz anderes »st als der Körper. Die Existenz dieser geistigen
Substanz ist mir durch mein Selbstbewußtsein unmittelbar gewiß und
kann nicht angezweifelt werden. Gott, dessen Wahrhaftigkeit über allen
Zweifel erhaben ist, hat mir die Überzeugung von der Existenz der
Körper gegeben, und er kann mich nicht täuschen. Nun sind aber diese
beiden Substanzen im menschlichen Organismus vereint. Die Erfah-
rung lehrt, daß körperliche Vorgänge mich zum Denken veranlassen,
und daß mein Wille den Körper zu bewegen vermag. Es fragt sich
nun, wie die Wechselbeziehung zweier so durchaus verschiedener Sub-
stanzen aufeinander zu erklären sei. Dieses Problem der Wirkung des
Körpers auf die Seele und der Seele auf den Körper ist das zentralste
und wichtigste Problem des Dualismus. Um die Lösung desselben
haben sich die größten Denker bemüht und der Streit darüber ist immer
noch nicht geschlichtet.
Deseartes selbst hat dieses Problem in der Weise zu lösen ver-
sucht, daß er der Seele einen Sitz im Gehirn (in der Zirbeldrüse) an-
wies und sie von da aus Wirkungen ausüben und empfangen ließ. Nun
erschien aber späteren Denkern die Wechselwirkung zwischen zwei
so ungleichartigen Substanzen als eine logische Unmöglichkeit und
man suchte den unleugbaren Zusammenhang zwischen Physischem
und Psychischem anders zu erklären. Die sogenannten Okkasicna-
listen (Oeulincx, 1624—1669, und Malebranche, 1638—1715)
i lahmen an, daß Gott bei jeder Gelegenheit eines physischen Vor-
ganges den entsprechenden geistigen erzeuge und umgekehrt. Die Vor-
gänge seien also nur Gelegenheitsursachen (occasio = Gelegenheit),
welche Gott Anlaß zum Eingreifen geben. An Stelle dieses jedes-
maligen Eingreifens der göttlichen Allmacht setzte dann Leibniz (1646
bis 1716) eine vorher bestimmte Übereinstimmung oder p r ä s t a b i-
lierte Harmonie. Wie ein geschickter Uhrmacher zwei Uhren
konstruieren könnte, die, ohne miteinander verbunden zu sein, doch
genau gleich gehen, so habe Gott in seiner Allmacht die Verfügung
getroffen, daß Leib und Seele in immer gleichem harmonischen Zu-
sammenhange stehen, indem jedem Reize die Empfindung, jedem
Willensakte die Bewegung folge, ohne daß Leib und Seele aufeinander
wirken.
In neuester Zeit hat man zur Erklärung dieser Wechselbezie-
hungen die Theorie des psych o-physischen Parallelis-
mus aufgestellt. Danach sind die physiologischen Vorgänge in den
Nerven und besonders im Gehirn, welche in letzter Linie die psy-
chischen Vorgänge bedingen, psycho-physische Prozesse. Es findet nur
ein Vorgang statt, aber er bietet der Betrachtung zwei Seiten.
Von außen ist er physischer Natur und steht mitten in der
§ 35. Der Dualismus 135
Kausalreihe des Naturgeschehens, von innen aber ist dieser Vor-
gang ein psychischer, er ist Empfindung, Wahrnehmung, Vor-
stellung, Gefühl oder Willensakt.
Der psycho-physische Parallelismus ist nur eine scheinbare, aber
keine wirkliche Lösung des Problems, das in der täglich erlebten Tat-
sache der Wechselbeziehungen zwischen physischen und psychischen
Phänomenen enthalten ist. Wenn man von einer „Innenseite" spricht,
so ist dies nur ein täuschendes Bild. Nicht deshalb, weil die psychischen
Phänomene sich im Innern des Organismus abzuspielen scheinen,
heißen sie innere Vorgänge, denn sonst müßten ja auch die rein physio-
logischen Prozesse, wie die Verdauung, die Aufsaugung, der Blutkreis-
lauf, die sich alle im Innern des Körpers vollziehen, darunter ver-
standen sein. Die „Innenseite" des psycho-physischen Prozesses ist so-
mit nur das Psychische selbst als Bewußtseinsvorgang. Wird nun der
Bewußtseinsvorgang zusammen mit den ihm zugeordneten Vorgängen
im Gehirn als ein einheitlicher Vorgang aufgefaßt, so läuft das immer
auf eine materialistische Deutung hinaus. Man muß dann sagen: So-
bald die physiologischen Vorgänge einen gewissen Grad der Kompli-
ziertheit erreichen, gesellen sich psychische Erlebnisse dazu. Diese sind
aber dann nur Funktionen des physiologischen Prozesses. Der einheit-
liche Vorgang ist ein materieller, und das Psychische ist, wie Ribot
es ausdrückt, nur eine Zutat (surajoute), die für das Wesen des Pro-
zesses eigentlich belanglos ist. Dadurch aber wird der psycho-physische
Parallelismus zum reinen Materialismus und alle Argumente, die
gegen diesen vorgebracht wurden, gelten auch hier. Stellt man sich
aber auf den Standpunkt Machs, der das Physische und das Psychische
als verschiedene Klassen von Vorgängen auffaßt, zwischen denen funk-
tionale Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, so ist damit allerdings für
die Psychologie ebenso wie für die Naturwissenschaft die Schwierig-
keit des Problems methodologisch überwunden. Die Wissen-
schaft hat dann die Aufgabe, diese funktionalen Beziehungen immer
genauer zu erforschen und braucht nicht zu fragen, ob hier wirkliche
Verursachung vorliegt. Das philosophische Problem ist damit
aber weder gelöst, noch aus der Welt geschafft. Für unseren Erkennt-
nisdrang bleibt immer noch das unausrottbare Verlangen bestehen, das
innere Band zu schauen, das den Leib mit der Seele und die Seele
mit dem Leibe verbindet.
Das erreichen wir am sichersten, wenn wir uns aufrichtig und
rückhaltlos zum Dualismus bekennen und vor der Annahme einer
Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychischem nicht zurück-
scheuen. Tatsächlich erleben wir ja diese Wechselwirkung täglich
und stündlich. Wenn wir auf Grund eines Willensentschlusses eine Be-
wegung ausführen, so fühlen wir gleichsam, wie Ursache und Wir-
kung ineinander übergehen. Es ist diese Verbindung, wie Jodl einmal
sagt, das Urbild aller Kausalität. Indem wir aber dabei an
unsere oben gegebene Erklärung von der Entstehung der Urteilsfunk-
tion erinnern, können wir noch mehr sagen. Diese Verbindung von
Wille und Bewegung ist die einzige kausale Verknüpfung, die wir in
ihrem Verlaufe erleben. Sie ist aber zugleich infolge der durch sie ge-
1 30 Metaphysik oder Ontologie
schaffen«] fundamentalen Apperzeptio n die Quelle alles
unseres Urteilens und damit alles unseres Begreifens.
I - hat nun keinen rechten Sinn, eine solche Urtatsache als un-
begreiflich zu bezeichnen. Unbegreiflich erscheint sie nur, wenn man
die kausale Beziehung vom einseitigen, rein naturwissenschaftlichen
Standpunkt betrachtet und jede Wechselbeziehung dem Prinzip der
1 rhaltung der Energie unterwirft. Dieses Prinzip hat sich, ins-
besondere seitdem durch Robert Mayer, durch Joule, Helmholtz, Mach
und in neuester Zeit durch Ostwald seine wahre Bedeutung erkannt
wurde, für alles physikalisch-chemische Geschehen aufs glänzendste
bewährt. Man wird deshalb gewiß methodologisch richtig verfahren,
wenn man an diesem bewährten Grundsatz auch neu hervorkommenden
Energieformen gegenüber, wie man sie z. B. an den radio-aktiven Sub-
stanzen beobachtet, so lange festhält, als dies nur irgend möglich ist.
Die Erhaltung und Umsetzung der Energie ist aber durchaus nicht die
einzige Betätigungsweise der Kausalität. Wir bemerken innerhalb des
Gebietes der psychischen Phänomene, also im Reiche des Geistes kau-
sale Beziehungen, bei denen von einer Konstanz der Energie keine
Rede sein kann. Schon die geistige Entwicklung jedes einzelnen Men-
schen zeigt eine Steigerung der seelischen Leistungsfähigkeit.Weit groß-
artiger aber und viel deutlicher tritt uns diese Steigerung entgegen,
wenn wir die geschichtliche Entwicklung der Menschheit ins Auge
fassen. Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat die geistige Lei-
stungsfähigkeit der Menschheit in einem Maße gesteigert, von dem
man sich gar keine Vorstellung machen kann. Spielend operieren wir
heute mit Begriffen, die zu bilden und auszudrücken einem Aristoteles
die größte Anstrengung gekostet hat. Für das Verständnis der gei-
stigen Entwicklung ist das Prinzip von der Erhaltung der Energie kein
geeignetes Denkmittel. Viel tauglicher scheint uns vielmehr auf
geistigem Gebiete das von Wandt aufgestellte Prinzip des Wachs-
tumsgeistiger Energie zu sein (Wundt, Ethik, 4. Aufl., III,
41). In der physischen Welt ist die Kausalität eine geschlossene und
beruht auf dem' Grundsatze der Gleichartigkeit von Ursache und Wir-
kung. In der Welt des Geistes und der Geister ist zwar jedes Ge-
schehen durch die vorangegangenen Ereignisse verursacht, aber die
Wirkungen gehen weit über das Vorangegangene hinaus. Die phy-
sischen Vorgänge lösen geistige Vorgänge aus, aber diese erfahren
dann dadurch, daß viele Menschen davon beeinflußt werden, eine Ver-
mannigfaltung und Vervielfältigung, die sich ins Unermeßliche steigert.
Kausalität ist also nicht nur da anzutreffen, wo das Gesetz der Er-
haltung der I nergie Geltung hat. Auch die tatsächlich vorhandenen
Wechselbeziehungen zwischen physischen und psychischen Vorgängen,
Beziehungen, die täglich und stündlich erlebt werden, können gar nicht
anders gedeutet werden, als durch gegenseitige Beeinflussung und Ver-
ursachung. Diese Deutung verstößt keineswegs, wie oft behauptet wird,
gegen irgendein wissenschaftliches Denkgesetz. Es liegt keines-
wegs im Begriff der Ursache, daß die Wirkung ihr äquivalent oder
auch nur mit ihr gleichartig sei. Selbst in der physischen Welt sind
die sogenannten ,, auslösenden" Ursachen durchaus nicht den aus-
§ 36. Das kosmologisch-theologische Problem. Gott und Welt 137
gelösten Wirkungen äquivalent. Alle psychischen Vorgänge aber sind
selbst eine Art von Auslösungen und üben wiederum auslösende Wir-
kungen aus. Der Gedanke einer Wechselwirkung zwischen Physischem
und Psychischem widerspricht also keineswegs irgendeiner wissen-
schaftlich festgestellten Tatsache. Er bleibt vielmehr die einzige wirk-
lich einwandfreie Erklärung unserer häufigsten und alltäglichsten Er-
lebnisse, die keinem der in diesen Erlebnissen wirksamen Bestandteile
Gewalt antut.
Es gibt demnach in der Welt physische Vorgänge, das ist solche,
die sinnlich wahrnehmbar sind oder es werden können, und die zugleich
an einen substantiellen Träger gebunden erscheinen. Es gibt ferner
psychische Vorgänge, die niemals sinnlich wahrnehmbar werden
können, und die, an sich betrachtet, zur Annahme eines substantiellen
Trägers keinen Anlaß geben. Ihre Vereinigung im menschlichen
Organismus beruht auf Wechselwirkung, welche an sich gar nichts Un-
begreifliches hat.
Diese Auffassung bleibt wissenschaftlich möglich, und so verdient
der Dualismus auch heute noch als berechtigte Weltanschauung zu
gelten.
Neben dem Dualismus haben amerikanische Denker der jüngsten
Zeit auch den ganz ursprünglichen Pluralismus wieder zur Gel-
tung gebracht. Es ist dies eine vollkommen bewußte, aber viel radi-
kalere Rückkehr zum Standpunkt des nicht philosophierenden Verstan-
des. Diese Richtung hängt mit dem Pragmatismus zusammen und wird
auch von dem energischesten Vertreter des Pragmatismus, von William
James, verteidigt. Der Einheitstrieb des Menschen soll nur nach vor-
wärts und gar nicht nach rückwärts gerichtet sein. Die Welt ist ur-
sprünglich durchaus keine Einheit, die menschliche Arbeit soll viel-
mehr eine einheitliche Organisation erst herbeiführen. Die Philo-
sophie hat es bei diesen Denkern gar nicht mit dem Universum, sondern
nur mit der Erde und den auf ihr wohnenden Menschen zu tun. Der
Pluralismus ist einerseits radikaler Empirismus, anderseits energischer
A k t i v i s m u s. Während nun diese letztere, vorwärts treibende, zur
Tätigkeit spornende Tendenz sehr segensreich werden kann, wird in der
theoretischen Grundlegung die bisher von der Wissenschaft erreichte
Vereinheitlichung doch zu sehr vernachlässigt. Die physikalisch-chemi-
schen Vorgänge haben soviel Gemeinsames, daß ihre Zusammenfassung
in einen Begriff gerechtfertigt und geboten ist. Ebenso zeigen alle
psychischen Phänomene das gemeinsame Merkmal des Unsinnlichen
und des Ereignisartigen. Wenn man diesen beiden Gruppen ihre Selb-
ständigkeit beläßt, hat man der wirklichen Erfahrung hinlänglich Rech-
nung getragen.
§ 36. Das kosmologisch-theologische Problem. Gott und Welt
Der Gegensatz von Beseeltem und Unbeseeltem, von Körper und
Geist, der sich schon der naiven Auffassung aufdrängt, und den die
Philosophie entweder anerkennt (Dualismus) oder zu überbrücken
sucht (Monismus), ist durch die Betrachtung des Menschen nahe
Metaphysik oder Ontologie
gebracht. Früher jedoch als der Mensch war die Welt, die ihn umgibt,
Gegenstand der philosophischen Spekulation.
Der früh bemerkte Zusammenhang der Weltereignisse, die gesetz-
liche Regelmäßigkeit, die schon der Lauf der Jahreszeiten aufweist,
verlangten eine Erklärung. Die Frage nach der wahren Natur des
Weltalls, nach seinem Ursprung, seiner Entwicklung und seinem even-
tuellen Untergang bildet den Inhalt des kosmologischen Pro-
blems, mit dessen Lösung sich die Naturphilosophie be-
schäftigt, welche ein Teil der Metaphysik ist.
Die ersten griechischen Philosophen glaubten den Zusammenhang
und die Gesetzlichkeit des Weltgeschehens am einfachsten durch die
Annahme eines einzigen Grundstoffes zu erklären, aus dem alles ent-
standen sei. Das Wasser, die Luft, das Feuer wurden von verschiedenen
1 tenkern als solche Urstoffe angenommen. Empedokles stellte dann die
bekannten vier Elemente auf (Wasser, Feuer, Luft und Erde), während
Leuluppos und sein Schüler Demokrit die Atomistik begründeten, wo-
nach die Welt aus qualitativ gleichen, nur durch Gestalt und Größe
unterschiedenen, kleinen Körperchen besteht, die selbst unteilbar sind
(atomon Unteilbares) und durch ihre Gruppierung die verschie-
denen Körper entstehen lassen.
Diese Theorie wurde in der neueren Zeit durch verfeinerte Denk-
mittel und Denkmethoden weiter ausgebildet und bildet noch heute
bei einem großen Teile der Physiker die Grundlage der mechanischen
Auffassung der Welt. Durch die genauere Erforschung der Bewe-
gungsgesetze sowie durch die Erkenntnis der chemischen Eigen-
schaften der Körper ist diese Lehre heute eine ungleich kompliziertere
und auch inhaltlich verschiedene gegenüber der Leukipps und Demo-
krits, allein der Grundgedanke ist derselbe geblieben.
Diese mechanische Auffassung befriedigte aber nicht allgemein
und nicht auf die Dauer. Die auffallende Zweckmäßigkeit so
vieler Naturvorgänge zeitigte bald den Gedanken an eine baumeister-
liche Intelligenz, die alles planmäßig angeordnet habe. Anaxagoras
ist der erste Philosoph, der eine solche Intelligenz zum Zwecke der
Welterklärung annimmt. Sein Nus (voöc) oder Geist bringt Ordnung
in das chaotische Weltall. Von da ab ist das kosmologische Problem
eng verknüpft mit der Frage nach dem geistigen Urheber und Lenker
des Weltalls. Der G o 1 1 e s b e g r i f f, der durch die religiösen Vor-
stellungen vorgebildet war, tritt nun in den Bereich der p h i 1 o s o p h 1-
schen Spekulation und schafft das theologische Pro-
blem, mit dem sich ein anderer Teil der Metaphysik, die Religions-
philosophie, beschäftigt.
Der Gottesbegriff hat jedoch in der Philosophie nicht nur eine
metaphysische und erkenntnistheoretische, sondern auch eine
ethische Bedeutung. Bald wird mehr die eine, bald wieder die
andere Seite dieses Begriffes betont, mehrfach aber fließen beide zu-
sammen.
Jeder Lösungsversuch des kosmologischen Problems muß heute
zum Gottesbegriff Stellung nehmen, sei es auch nur in der Leugnung
desselben. Ganz außer acht lassen darf man ihn nicht mehr, da der-
§ 36. Das kosmologisch-theologische Problem. Gott und Welt 130,
selbe infolge einer jahrtausendelangen Entwicklung zum ständigen
Inventar unserer philosophischen Begriffe gehört.
» Das kosmologisch-theologische Problem hat zunächst zwei ent-
gegengesetzte Lösungsversuche hervorgebracht, die man kurz M e-
chanismus und T e 1 e 0 1 0 g i e nennt.
Die mechanische Auffassung betrachtet das Weltgeschehen
als Ausfluß von Kräften, die der Materie selbst innewohnen. Durch
Anziehung und Abstoßung in den verschiedensten Formen, durch
Schwere und Fliehkraft werden die Körper in ihrer Zusammensetzung
und in ihren Bahnen erhalten. Auch die so überaus wichtigen chemi-
schen Prozesse lassen sich in diese Anschauung einfügen, wenn es
auch noch nicht gelungen ist, alle qualitativen Unterschiede auf quanti-
tative zu reduzieren. Denn die chemischen Eigenschaften wohnen ja
gleichfalls den Stoffen inne und sind nicht von außen in sie hinein-
gebracht.
Die mechanische Auffassung liegt der antiken Physik fast aus-
schließlich zugrunde und wird in neuerer Zeit namentlich von ma-
terialistischer Seite energisch verfochten. Auch die Vorgänge in den
lebenden Organismen sucht man auf Mechanik und Chemie zurückzu-
führen und lehnt die Annahme einer besonderen Lebenskraft ab.
Der Gottesbegriff ist mit der mechanischen Auffassung vereinbar
und ist auch häufig mit ihr verbunden worden. Gott ist hier der Ordner
(Anaxagoras) oder erste Beweger (Aristoteles) der vor ihm schon vor-
handenen Materie. Selbst der Begriff Gottes als Weltschöpfer ließe
sich mit einer mechanischen Naturauffassung verbinden, wenn man
Gott als Urheber der mechanischen Naturgesetze denkt, der die ein-
mal gegebenen Gesetze nicht ändert.
Die mechanische Auffassung bemüht sich namentlich in neuerer
Zeit, den Zweckbegriff ganz aus der Naturerklärung zu eli-
minieren, und steht eben dadurch im Gegensatz zu der teleo-
logischen Auffassung.
Die T e 1 e 0 1 0 g i e ist nämlich diejenige Denkrichtung, welche,
die Zweckmäßigkeit der Weltereignisse und namentlich der ein-
zelnen Organe des Körpers betonend, die Annahme macht, die Welt
sei von einer höheren Intelligenz nach bestimmten Plänen und Zwecken
eingerichtet worden. Piaton macht dem Anaxagoras den Vorwurf, daß
sein Nus nur eine ordnende Tätigkeit entfaltet, über den Zweck der
einzelnen Einrichtungen aber keine Rechenschaft gebe. Die teleo-
logische Auffassung findet in G 0 1 1 den Schöpfer und den Lenker
der Welt.
Am deutlichsten ausgesprochen ist diese Anschauung in der
Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes
und von da aus ist sie in die monotheistischen Religionen des Abend-
landes eingedrungen, so daß sie den Kern der wichtigsten Religions-
systeme bildet. Eben deshalb ist uns diese Auffassung von Kindheit
an vertraut und geläufig.
Diese Form der Teleologie setzt einen persönlichen,
außerweltlichen Gott voraus und kann deshalb, weil sie da-
140 Metaphysik oder Ontolojjic
Jim über die Erfahrung hinausgeht, auch transzendente
I e 1 e o 1 o g i e genannt werden.
In neuerer Zeil hat sieh daneben eine andere Form der Ideologie
herausgebildet, welche die Zweckmäßigkeit als eine den Dingen,
namentlich den Organismen selbst innewohnende Tendenz auffaßt.
1 >iese immanente T e 1 e o 1 o g i e ist die Auffassung der soge-
nannten Entwicklungslehre.
I >abei kommt allerdings vorwiegend die organische Natur in Be-
tracht. Man nimmt an, daß allen Organismen der Trieb nach Selbst-
erhaltimg und Arterhaltung innewohne. Infolge dieses Triebes ent-
wickeln sich die Organismen entsprechend den Lebensbedingungen und
passen sich diesen im Kampfe ums Dasein immer besser an.
Diese von Lamarck begründete und von Goethe vielfach vertretene
Anschauung ist, von Herbert Spencer (1856) zum erstenmal philo-
sophisch formuliert, durch Darwin (Entstehung der Arten, 1859) Ge-
meingut der Gebildeten geworden. Darwin erweiterte sie durch die jetzt
vielfach bestrittene Hypothese, daß die Organismen ihre im Kampf ums
Dasein erworbenen Eigenschaften durch natürliche Auslese
oder Zuchtwahl vererben und so die Anpassungsfähigkeit ins Un-
gemessene steigern können. Das Überleben der am meisten Angepaßten
(the survival of the fittest) und die natürliche Auslese
bilden den Kern des sogenannten Darwinismus, der aber nicht identisch
ist mit dem Gedanken der Entwicklung überhaupt. Wenn also in neuerer
Zeit manches von den speziellen Lehren Darwins sich als wissenschaft-
lich unhaltbar erwiesen hat, so bleibt doch der von ihm so energisch und
so machtvoll vertretene Grundgedanke von bleibendem Werte.
Die hier gelehrte immanente Teleologie ist auch für die Erfor-
schung des Seelenlebens und für die gesamten Geisteswissenschaften
von großer Bedeutung.
Auch mit der immanenten Teleologie läßt sich, wie
schon das Beispiel von Darwin selbst lehrt, der Gottesbegriff
vereinigen. Man muß dann nur annehmen, daß Gott die ein-
fachsten Lebewesen, etwa das Protoplasma, geschaffen und daß sich
nach den von ihm vorher bestimmten Entwicklungsgesetzen daraus die
Mannigfaltigkeit der Organismen allmählich herausgebildet habe.
Die Auffassung Gottes als einer außerweltlichen Intelligenz, die
mit unendlicher Denk- und Willenskraft begabt ist, nennt man
anthropomorphischen Theismus. Anthropomorphisch
muß jeder Theismus bleiben, weil wir eine Intelligenz nur nach Ana-
logie der menschlichen zu denken vermögen. Wir können unsere Seelen-
kräfte ins Unendliche gesteigert denken, aber es bleiben immer
menschliche Kräfte. Der Theismus ist in roher Form die Auffas-
sung aller Naturvölker, in geläuterter — nur letztere pflegt mit diesem
Namen bezeichnet zu werden die Anschauung der herrschenden
monotheistischen keligionssysteme.
Davon verschieden ist der Pantheismus, wonach Gott und
Welt nicht verschieden, sondern Eines sind. Das Göttliche
durchdringt das gesamte W e 1 t a 1 1, ist überall vorhanden, aber nicht
getrennt von den Dingen, sondern ihnen immanent. Anklänge an
§ 36. Das kosmologisch-theologisclie Problem. Gott und Welt HI
den Pantheismus finden sich schon bei Xenophanes. Pantheistisch ist
ferner in gewissem Sinne die Weltanschauung der Stoiker, welche
auch in dieser Richtung mächtig auf die Philosophie der Neuzeit ein-
gewirkt haben. Oiordano Bruno tritt mit feuriger Begeisterung dafür
ein, daß die ganze Welt vom Hauch des Göttlichen durchdrungen ist.
Am klarsten und am konsequentesten ist aber der Pantheismus zu Ende
gedacht und dargestellt von Baruch Spinoza. Für Spinoza gibt esr
wie wir oben gehört haben, nur eine Substanz, nämlich Gott. Diese
Substanz hat zwei Betätigungsarten oder Attribute, Denken und Aus-
dehnung. Jedes Ding ist ein Modus der einzigen Substanz und nimmt
so teil an ihrer Göttlichkeit. Das Ziel der Weisheit ist die freudige Hin-
gabe an das All, von dem wir ein Teil sind, und diese Hingabe ist es,
welche Spinoza Gottesliebe nennt. Diese großartige Welt-
anschauung hat besonders mächtig auf Goethe gewirkt, der ihr schon
in seiner Jugend in Fausts Religionsgespräch mit Gretchen und später
als gereifter Genius wiederholt poetischen Ausdruck gegeben hat:
„Was war' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt."
Neben dem Pantheismus bildete sich im siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhundert in England eine besondere Auffassung des
Gottesbegriffes aus, für welche die Bezeichnung Deismus gewählt
wurde. Die Vertreter dieser Auffassung {Cherbury f 1648, Toland
t 1722, Collins f 1729) nehmen für die Vernunft das Recht in An-
spruch, auch in den Fragen der Religion mitzusprechen, und lehnen
sich gegen vernunftwidrige Dogmen und gegen überkommene Autori-
tät auf. Sie nennen sich deshalb mit Vorliebe Freidenker. Sie
treten ein für eine natürliche Religion, was nach ihrer Meinung so viel
ist als Vernunftreligion. Gott ist für sie der Schöpfer und Lenker der
Welt, hauptsächlich aber sehen sie in ihm die Quelle des Sittengesetzes.
Ein solcher Gottesbegriff kann aus der Vernunft abgeleitet werden
und es bedarf keiner Offenbarung und keiner Wunder, um an ihn zu
glauben. Der Wert der Religion liegt in der moralischen Gesinnung,
die durch sie hervorgebracht wird. „Glaube an Gott und tue deine
Pflicht", lautet die Devise des Deismus.
Das Bedürfnis, den in der religiösen Tradition gegebenen Gottes-
begriff philosophisch zu bearbeiten, hat sich im Mittelalter besonders
stark fühlbar. gemacht. Zunächst suchte man das Dasein Gottes aus
seinem Begriffe, aus der Zweckmäßigkeit der Welt und aus anderen
Argumenten logisch zu beweisen. Schon von manchen Scholastikern
\Z. B. Duns Scotus, 1265 — 1308) wurde jedoch die logische Unnah-
barkeit dieser Beweise erkannt und das Dasein Gottes zu den geoffen-
barten, das heißt mittels der Vernunft nicht zu begründenden Wahr-
heiten gerechnet (s. oben S. 6). Auch in der neueren Philosophie hat
man sich viel mit solchen Beweisen abgegeben, bis Kant das Dasein
Gottes zwar als unbeweisbar, wohl aber als eine Forderung der prak-
\\2 Metaphysik "der Orttolo^ie
tischen Vernunft, das heißt des Sittengesetzes, hinstellte. Seitdem
schreibt man dem < iottesbegriffe vorwiegend ethische Bedeutung zu.
Unserer Ansicht nach ist jedoch der Gottesbegriff nicht so sehr
für die Begründung des Sittengesetzes, als vielmehr für unsere theo-
retische Weltanschauung von Bedeutung. Wir verweisen, um das deut-
lich zu machen, wieder auf die Urteilsfunktion, als auf die
I undamentaleApperzeptio n. Wenn wir jeden uns in der
Wahrnehmung gegebenen Inhalt nur dadurch zu unserem geistigen
1 igentum machen können, daß wir ihn in die unserem Organismus ge-
mäße I "im umgießen, und ihn als ein Kraftzentrum und dessen Kraft-
äußerung aufzufassen nicht umhin können, wenn sich uns ferner diese
I "im in jahrtausendelanger Denkarbeit bewährt und erprobt hat und
wir mit ihrer Hilfe die Welt geistig erobert haben, dann liegt der Ge-
danke gewiß nahe, diese Form einmal auf das Weltganze anzuwenden.
Sowie wir dies aber versuchen, dann erscheint uns dieses Ganze als
das Werk eines mächtigen, unendlichen Willens, dessen Kraftäußerung
eine konstante ist. Erst dadurch aber erhält unser Weltbild den wün-
schenswerten Abschluß. Dieser mächtige Wille ist der Ur-
grund für Materie und Geist, die Naturgesetze sind seine
Gesetze, er hat sie gegeben, wie der Psalmist sagt, und er
selbst bricht sie nicht.
So gelangen wir durch Anwendung der an der Erfahrung be-
währten Urteilsfunktion auf das Weltganze, zu einer unseren Erkennt-
nistrieb befriedigenden Weltanschauung, in der auch der Gottesbegriff
seine Stelle findet.
Literatur
Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus. 1. Aufl. 1866, 9. Auil. 1914 15.
Ed. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik. 2 Bände 1899 und 1900.
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abgedruckt in der „Philosophischen Bibliothek" (Leipzig, Meiner).
vV. Wundt, System der Philosophie. 1889, 4. Aufl. 1919.
G. Th. Fech'ner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre.
2. Aufl. 1864
Zendavesta oder: Über die Dinge des Himmels und des Jenseits.
3 Bände. 1851, I. Band, 5. Aufl. 1921, II. Band, 4. Aufl. 1920.
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( i. Ili\ maus, Einführung in die Metaphysik. 2. Aufl. 1911.
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Der Gegenstand der Psychologie. Drei Aufsätze in der Yierteljahrsschnft
für wissenschaftliche Philosophie. IS(>4 und 18Q5. Jetzt als Anhang in der
Aufl. von „Der menschliche Weltbegriff". (Aus diesen Aufsätzen lernt
man den Grundgedanken des A venar iusschen Monismus am besten
kennen.)
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2 Bande. 1900 und l1
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- Die Prinzipien der Wärmelehre. 1896, S. 362—461. (3. Aufl. 1919.)
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W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 1902, 3. Aufl. 1905.
M. V e r w o r n, Naturwissenschaft und Weltanschauung. 1904.
Rudolf Eucken, Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der
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Geistige Strömungen der Gegenwart. 5. Aufl. 1916.
Josiah Royce, The world and the individual. 2 Bände, 1902. (Enthält ein
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Henri Bergson. (Die oben zitierten Werke enthalten eine tiefgründige Meta-
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gung des Dualismus und der Wechselwirkung.)
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schiedenen Formen des Monismus.)
Karl J o e 1, Seele und Welt, Versuch einer organischen Auffassung. 1912. (Stellt
den Begriff des Lebens in den Mittelpunkt und zeigt, daß Physisches und
Psychisches dabei zusammenwirken müssen. Geistvolle und sehr lebendige
Darstellung.)
C. Siegel, Geschichte der deutschen Naturphilosophie. 1913.
Weltanschauung, Philosophie und Religion; herausgegeben von M. Frisch-
eisen-Köhler. 1911. (Ein Sammelwerk.)
Carl Jellinek, Das Weltengeheimnis. 1921.
Fünfter Abschnitt
Wege und Ziele der Ästhetik
§ 37. Begriff und Aufgabe der Ästhetik
Das ästhetische Verhalten des Menschen ist ein eigen-
artiger Seelenzustand, der im Laufe der Kuiturentwicklung sich viel-
fach differenziert und kompliziert hat. Das Charakteristische dieses
Seelenzustandes besteht darin, daß Objekte und Vorgänge der Um-
gebung, mögen es nun Naturdinge oder Kunstwerke sein, in uns
durch ihre bloße Betrachtung Lust- und Unlustgefühle ent-
stehen lassen, die nicht unmittelbar Anlaß zu heftigen Begehrungen
geben. Kant, der dieses Merkmal der ästhetischen Gefühle zuerst er-
kannte, hat deshalb von einem „uninteressierten Wohlgefallen" ge-
sprochen.
Die ästhetischen Gefühle veranlassen uns aber fast immer zu U r-
t eilen über die ästhetischen Objekte. Die Prädikate dieser Urteile
wie: schön, reizvoll, interessant, oder häßlich, reizlos, langweilig,
gelten uns dabei für Eigenschaften der betrachteten Kunstwerke, die
denselben objektiv zukommen. Für diese Urteile nehmen wir mit-
unter Allgemeingültigkeit in Anspruch und verteidigen unsere Mei-
nung oft sehr lebhaft gegenüber anderen Ansichten.
Da nun das ästhetische Verhalten im Leben des Einzelnen, sowie
auch in der Kulturentwicklung der Menschheit eine große Rolle spielt,
da ferner das ästhetische Verhalten auf neue Seiten der menschlichen
Seele und des menschlichen Tuns aufmerksam macht, so muß die For-
schung sich mit diesem Gegenstand beschäftigen. Es müssen die sub-
jektiven und die objektiven Bedingungen des ästhe-
tischen Verhaltens untersucht werden, und darin besteht eben
die Aufgabe der Ästhetik.
Die subjektiven Bedingungen fallen ganz in das Gebiet der
Psychologie. Mit psychologischen Untersuchungen hat sich die
Ästhetik in den letzten Dezennien vorzugsweise beschäftigt, und wir
verdanke!] diesen Forschungen eine nicht unerhebliche Vermehrung
unserer Einsicht in das Wesen des ästhetischen Verhaltens.
Wir wissen heute besser als etwa vor 30 Jahren, was wir er-
leben, wenn wir durch die Betrachtung eines Gemäldes, durch das An-
hören einer Symphonie, durch die Lektüre einer Dichtung angeregt und
freudig gestimmt sind. Die psychologische Ästhetik untersucht einer-
§ 37. Begriff und Aufgabe der Ästhetik 145
seits das ästhetische Genießen, anderseits das künst-
lerische Schaffen gewissermaßen von der Innenseite.
In bezug auf die objektiven Bedingungen des ästhetischen
Verhaltens ist die Forschung noch keineswegs zu einer Einigung über
die Ziele und noch weniger über die Wege der Untersuchung gelangt.
Philosophische Spekulationen über das Wesen des Schönen und über
seine kosmische Bedeutung, wie sie von Piaton und Plotin im Alter-
tum, von Schelling, Hegel und Schopenhauer in der Neuzeit angestellt
wurden, haben ihre Wirkung auf die Geister noch nicht ganz verloren.
Wichtiger jedoch sind historische Untersuchungen über die Entstehung
und Entwicklung der einzelnen Künste und kulturgeschichtliche For-
schungen über die Verbreitung und Bereicherung des ästhetischen Ver-
haltens, über die allmähliche Erziehung zum Bedürfnis nach Kunst
und über die immer allgemeiner werdende Fähigkeit, auch die Natur
vom ästhetischen Standpunkte zu betrachten. Die subjektiven Bedin-
gungen des ästhetischen Verhaltens sind psychologisch, die objektiven
historisch und soziologisch zu untersuchen. Vielleicht ist es dann, wenn
hier positive Ergebnisse vorliegen, dem weiterschauenden Geiste mög-
lich, im Universum selbst Keime des Ästhetischen zu entdecken und da-
mit zu einer Philosophie des Schönen und der Kunst vorzudringen.
Die Grundlage alles ästhetischen Verhaltens darf man dabei aber
nie aus dem Auge verlieren. Diese besteht, wie gesagt, darin, daß wir
reine, von heftigen Begehrungen freie Gefühle erleben. Die Tatsache
des ästhetischen Verhaltens ist also zugleich ein Beweis dafür, daß das
Fühlen eine eigenartige Grundfunktion des Bewußtseins ist, die sich
einerseits vom Vorstellen und Denken und anderseits vom Begehren
und Wollen unterscheidet. Da dieses reine Fühlen nur im ästhetischen
Verhalten zur vollen Entfaltung gelangt, so kann nur die Ästhetik
über das Wesen und über die Rolle des reinen Fühlens die letzten Auf-
schlüsse geben. Man kann deshalb die Ästhetik am kürzesten und am
treffendsten mit Heinrich von Stein definieren als die P h i 1 o s o p h i e
des Fühlens.
Durch diese Begriffsbestimmung ist die Stellung der Ästhetik im
System der Philosophie charakterisiert und zugleich auch ein reiches
Feld für psychologische, historische und soziologische Untersuchungen
eröffnet. Die erste und wichtigste Aufgabe ist die psychologische Unter-
suchung des ästhetischen Genießen s. Wir müssen uns zu
klarem Bewußtsein bringen, was wir bei Betrachtung von Kunst und
Natur im ästhetischen Verhalten tatsächlich erleben. Wir müssen im be-
sonderen die ästhetische Freude von anderen Lustgefühlen unter-
scheiden und den Grund dieser Unterscheidung kennen zu lernen
streben. Wir müssen ferner den Versuch wagen, uns in die Seele des
schaffenden Künstlers zu versenken, um die Vorstellungen und Motive
kennen zu lernen, die ihn beherrschen und bewegen. Alle diese Unter-
suchungen dürfen sich nicht ganz auf das einzelne Individuum be-
schränken. Der soziale Faktor spielt im ästhetischen Verhalten eine
weit größere Rolle, als man meint. Wir sind in unserem eigenen ästhe-
tischen Verhalten vielfach von der Mode und von anderen Zeit-
strömungen beeinflußt, und auch der schaffende Künstler hat bei seiner
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 10
146 Wege und Ziele der Ästhetik
Arbeit vielleicht mehr, als er sich selbst und anderen eingestehen will,
das Publikum im Vuge, für welches sein Werk bestimmt ist. Die sozio-
logische Bedeutung der Kunst, die schon Pluto und Aristoteles erkannt
haben, wird immer genauer erforscht werden müssen. Von da aus er-
geben sich Zusammenhänge zwischen Ästhetik und Ethik und auf
jem W ege kann man auch zu Normen gelangen, die, ohne das Genie
des Künstlers oder (.las ästhetische Recht des individuellen Geschmackes
irgendwie einzuschränken, doch eine Skala objektiver ästhetischer
Werte aufzustellen vermögen.
Die Ästhetik ist somit Philosophie des Fühlcns und ihre Aufgabe
besteht darin, die psychologischen, die soziologischen, die historischen
und schließlich die kosmischen und metaphysischen Bedingungen des
ästhetischen Verhaltens zu untersuchen.
§ 38. Entwicklung und Richtungen der Ästhetik
Das Wort Ästhetik im Sinne einer Philosophie des
Schönen wird zum erstenmal von Baumgarten (1714—1762) ge-
braucht, der durch seine 1750 — 1758 erschienene Ästhetik eine Lücke
in dem \Y'o///schen System der Philosophie auszufüllen suchte und
damit die Ästhetik als selbständige philosophische Disziplin ge-
schaffen hat.
Das Wort selbst (vom griechischen aisthänesthai = wahrnehmen)
heißt eigentlich Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung und in dieser
Bedeutung gebraucht es noch Kant, der einen Teil seiner Kritik der
reinen Vernunft, eben die Lehre von der Sinnlichkeit, die transzenden-
tale Ästhetik genannt hat. Bei Baumgarten ist die wörtliche Bedeutung
noch insofern wirksam, als dort die Schönheit als Vollkommenheit der
sinnlichen Erkenntnis bezeichnet wird. Kant hat den von Baumgarten
eingeführten Ausdruck in seiner „Kritik der Urteilskraft" bereits in
dem heute üblichen Sinne verwendet, so daß das Wort „Ästhetik" bei
ihm zwei ganz verschiedene Bedeutungen hat. In seiner Erkenntnislehre
heißt Ästhetik die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung und in
seinem Werke über die Urteilskraft wird damit die Lehre vom Wohl-
gefallen am Schönen bezeichnet.
Wieder in anderem, etwas erweitertem Sinne wird das Wort von
Herbari (1776—1841) verwendet, der darunter die praktische Philo-
sophie überhaupt versteht, also alles, was Werturteile betrifft, und der so
die Lehre vom Sittlichen und die Lehre vom Schönen unter dem Namen
Ästhetik zusammenfaßt. Diese Schwankungen im Wortgebrauche haben
aber jetzt aufgehört und man versteht heute unter Ästhetik allgemein
die Philosophie des Schönen und der Kunst.
Während also der Name der Ästhetik erst in der neueren Zeit ent-
stand, hat ihr I iegenstand, das Schöne und die Kunst, schon ziemlich
frühe die Aufmerksamkeit der Denker auf sich gezogen. Piaton hat den
Begriff des Schönen in einem eigenen Dialoge (Hippias major) er-
örtert und auch sonst viel von der Idee des Schönen gehandelt, die er
in engen Zusammenhang mit der Liebe gebracht hat. Aristoteles hat
in seiner berühmten Poetik eine Theorie der Dichtkunst, insbesondere
§ 38. Entwicklung und Richtungen der Ästhetik 147
der Tragödie, entworfen und Horaz mit mehrfacher Benützung des
Aristoteles seine Epistel über die Dichtkunst verfaßt. Der Neu-
platoniker Plotin hat zwei tief angelegte philosophische Abhandlungen
über das Schöne hinterlassen, die heute noch ernste Beachtung ver-
dienen. Gelegentliche Beiträge zur Ästhetik finden sich in der schola-
stischen Philosophie, aber erst das achtzehnte Jahrhundert hat mit der
reichen Entwicklung des Gefühlslebens auch die wissenschaftliche Er-
forschung des Schönheitssinnes gezeitigt.
Der Engländer Shaftesbury (1671—1713) hat durch seine ästhe-
tische Moralphilosophie, die Schotten Home (1696 — 1782) und Burke
(1728 — 1797) haben durch ihre psychologische Ästhetik sehr viel zur
Kenntnis der betreffenden Seelenvorgänge beigetragen und auf die
deutschen Denker und Dichter mächtig eingewirkt. Unter den fran-
zösischen Ästhetikern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
hat besonders Dubos in seinen „Reflexions critiques" (1719) wertvolle
Gedanken ausgesprochen, die erst in neuester Zeit die ihnen gebührende
Würdigung erfuhren. Dubos findet, daß das ästhetische Genießen des-
halb lustvoll ist, weil es den Geist angenehm beschäftigt. Wir kommen
auf diesen sehr wichtigen und fruchtbaren Gedanken in unserer eigenen
Darstellung des ästhetischen Verhaltens zurück.
Nachdem dann Winckelmann an der antiken Kunst das Schön-
heitsideal zu erforschen sich mühte, Lessing die Aufgabe der Dicht-
kunst von der der bildenden Künste zu sondern suchte und Herder
in der Tiefe der Volksseele die Urquelle der Poesie entdeckt zu haben
glaubte, ging Kant daran, in seiner „Kritik der Urteilskraft" die Ästhe-
tik wissenschaftlich zu begründen.
Der glückliche Gedanke Kants, nicht das Schöne, sondern unsere
Geschmacksurteile zu untersuchen, und die ebenso richtige als wich-
tige Behauptung, daß das Wohlgefallen am Schönen ein „uninter-
essiertes", das heißt nicht von Begehrungen begleitetes sei, geben noch
heute der philosophischen Ästhetik Inhalt und Richtung.
Eine kräftige Weiterbildung erfuhr die Kantsche Ästhetik durch
Schiller. Sein Lieblingsgedanke zwar, dem er bereits vor seiner Be-
kanntschaft mit Kant in dem Gedichte „Die Künstler" Ausdruck ge-
geben hatte, wonach der Schönheitssinn dem Menschen allein eigen und
die Quelle der Erkenntnis und Sittlichkeit sowie aller Kultur sei, läßt
sich nicht halten und muß angesichts der modernen Entwicklungs-
lehre aufgegeben werden. Allein die Ableitung der Kunst aus dem
Spieltrieb, die in den Briefen über „die ästhetische Erziehung des Men-
schen" auseinandergesetzt wird, ist einer der bedeutendsten und frucht-
barsten Gedanken, welche die Ästhetik hervorgebracht hat. Erst in
der jüngsten Zeit begann man die Tragweite dieses Gedankens zu
würdigen und auf Schillers Grundlage weiter zu bauen.
Hegel, Schelling und Schopenhauer haben sich viel mit Ästhetik
beschäftigt, und zwar im Sinne einer Metaphysik des Schönen und der
Kunst. Für Hegel ist die Kunst die niedrigste Stufe, in der sich der
absolute Geist objektiviert, während Religion und Philosophie die
höheren bilden. Diese Stufen haben sich historisch im Altertum,
im Mittelalter und in der Neuzeit nacheinander und auseinander
10*
14S Wege und Ziele der Ästhetik
entwickelt. Das Schöne, besonders das Kunstschöne, ist nach Hegel
das I hirchscheinen der I d e e in dem Stoff und dieser Gedanke findet
mehrfache Weiterbildung. In Hellsehern Geiste sind die Bearbei-
tungen der Ästhetik von fr. Vischer und Carriere gehalten, von denen
dieerstere heute noch die umfassendste und inhaltsreichste Darstellung
dieser Disziplin ist. I ur Scheüing ist die ganze Schöpfung ein Kunst-
werk, und nach Schopenhauer bildet die Kunst die höchste Errungen-
schaft des Menschengeistes, weil da der blinde und dumme Lebenswille
vollständig überwunden ist und der reine Intellekt zum Ausdruck ge-
langt. Als die höchste Kunst betrachtet Schopenhauer die Musi K\
welche die tiefsten Aufschlüsse über das ihr Zugängliche gibt.
Gegenüber dieser auf den Inhalt des Dargestellten gerichteten
Ästhetik glaubt Herbart, das Wesen des Schönen bestehe nur in ge-
wissen Formen und Verhältnissen. Diese Ästhetik als Form-
wissenschaft hat der Herbartianer Robert Zimmermann ausgebildet,
dem wir auch die erste Geschichte der Ästhetik verdanken.
Während die bisher betrachteten Versuche alle den spekulativen
Weg einschlagen, betritt O. Th. Fechner in seiner 1876 erschienenen
„Vorschule der Ästhetik" neue Bahnen. An Stelle der früheren Ästhe-
tik von Oben will er eine Ästhetik von Unten setzen und
auf empirischem und experimentellem Wege zu Gesetzen des ästhe-
tischen Wohlgefallens gelangen. Die ausgedehnten Versuche und die
eindringende psychologische Analyse Fechners haben viele wertvolle
Resultate zutage gefördert und noch mehr Anregungen gegeben. Ins-
besondere ist Fechners Unterscheidung des direkten und des
»soziativen Faktors in der ästhetischen Beurteilung eine wert-
volle Entdeckung. Gewisse Sinneseindrücke, wie einfache gesättigte
Farben oder Farbenkombinationen, Töne und Klänge, sowie gewisse
Formen und Gestalten bewirken ein direktes oder elementares Wohl-
gefallen. Dagegen wirken größere Gemälde, Statuen und namentlich
I Achtungen erst durch die assoziativ erweckten Vorstellungen und Ge-
fühle ästhetisch.
In Fechners Geiste wird nun durch Experiment und Analyse emsig
weitergearbeitet an der Erforschung der Gesetze des künstlerischen
Schattens und des ästhetischen Genießens.
Über die Ergebnisse und Aufgaben der experimentellen Ästhetik
hat Oswald Külpe auf dem Würzburger Psychologenkongreß ein licht-
volles und sehr belehrendes Referat erstattet, das im Berichte dieses
Kongresses veröffentlicht ist. Die Analyse des ästhetischen Genießens
ist in den letzten Jahren besonders durch Theodor Lipps, Konrad
Lange, Johannes Volke/t und Hugo Spitzer sehr gefördert worden.
Max Dessoir hat durch Begründung einer eigenen Zeitschrift für Ästhe-
tik ein Zentralorgan geschaffen, das viele wertvolle Beiträge enthält.
\ls besonders anregende neue Gesichtspunkte sind dabei der von
Lipps eingeführte Begriff der „Einfühlung" und die „bewußte Selbst-
illusion" von Konrad Lange zu bezeichnen. Lipps geht von der
Voraussetzung aus, daß jedes ästhetische Objekt ein Lebendiges dar-
stellt, und nennt den Seclenzustand, den wir erleben, wenn wir uns in
das Leben des ästhetischen Objekts hineinversetzen, „Einfühlung".
§ 38. Entwicklung und Richtungen der Ästhetik 141)
Lipps findet die Einfühlung schon in der Auffassung einfacher geo-
metrischer Ornamente sowie auch in der Betrachtung der Natur und
führt dieses Prinzip konsequent und sehr anregend bei allen Künsten
durch. Konrad Lange sieht wieder das Hauptmerkmal des ästhetischen
Genießens darin, daß wir beim Betrachten der Kunstwerke eine be-
wußte Selbsttäuschung erleben. Wir vergessen nie, daß wir nur eine
Darstellung, nicht das Objekt selbst vor uns haben. Jedes Kunstwerk
hat illusionsfördernde und illusionsstörende Elemente, und in diesem
Wechsel von Schein und Wirklichkeit besteht nach ihm der ästhetische
Genuß. Bei der im Flusse befindlichen Bewegung ist es nicht möglich,
das sicher Erkannte von dem bloß Vermuteten genau zu unterscheiden.
Es sollen daher nur die Richtungen und Tendenzen der modernen
Ästhetik kurz angedeutet werden.
Die spekulative Ästhetik ist noch nicht so ganz überwunden wie
die spekulative Psychologie (vgl. oben S. 18 f. und S. 28 f.), allein auch
hier wendet sich das Hauptinteresse der erfahrungsmäßigen Behand-
lungsweise zu. Die empirische Ästhetik teilt sich in eine nor-
mative oder technische und in eine beschreibende oder ana-
lytische.
Die normative Ästhetik stellt Regeln für den Künstler und
Normen für den Beurteiler auf. Die Regeln für den Künstler betreffen
meist das Handwerksmäßige der Kunst und das nennt man speziell
die Technik. Diese ist bei den einzelnen Künsten verschieden und
auch von verschiedener Bedeutung.
Die bildenden Künste, wie Baukunst, Malerei und Bildhauerkunst,
erfordern zu ihrer Ausübung ein großes Maß wissenschaftlicher Vor-
bildung und technischer Ausbildung. Ihre Technik muß erlernt werden,
ehe die künstlerische Aufgabe beginnt. Bei der Schwierigkeit dieser
Technik kommt es nur allzuleicht vor, daß das technisch Korrekte auch
schon für künstlerisch gilt. Die Technik ist also hier von großer Bedeu-
tung und wird leicht überschätzt.
Die Technik der Tonkunst erfordert ebenfalls gründliches und
mitunter schweres Studium, allein trotzdem wird hier auf das speziell
Künstlerische mehr Gewicht gelegt und viel genauer zwischen dem
technisch Korrekten und dem musikalisch Bedeutenden unterschieden.
In der Dichtkunst endlich spielt die Technik eine geradezu unter-
geordnete Rolle. Ihr Organ, die Sprache, wird von jedem gehandhabt
und höchstens in der dramatischen Kunst kommt es auf eine gewisse
Kenntnis der Bühnenverhältnisse an. Hier ist niemals die geschickte
Technik allein ausreichend, einen künstlerischen Erfolg zu erringen,
wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß man mit ein wenig Bühnen-
gewandtheit ein brauchbares Theaterstück zustande bringen kann.
Die technische Ästhetik ist somit bei den bildenden Künsten und
der Musik von großer, bei der Dichtkunst von geringerer Bedeutung.
Immer aber bleibt sie vor dem Kern der ästhetischen Fragen stehen,
sie hat es mehr mit den Außenwerken, nicht mit dem Innern des Kunst-
werkes zu tun.
Die beschreibende oder analytische Ästhetik sucht hingegen
in diesen Kern möglichst tief einzudringen. Sie bemüht sich, die Be-
150 Wege und Ziele der Ästhetik
dingungen, unter denen ein Kunstwerk entsteht und wirkt, in der Seele
des Künstlers, in dem Kulturzustande, in der Geschmacksrichtung
seiner Zeil nach allen Seiten bloßzulegen. Auf diese Weise löst sich die
Ästhetik vielfach au! in Psychologie und Geschichte. In der
lat ist es auch die Vereinigung der psychologischen und der histo-
rischen Methode, welche am sichersten zum vollen Verständnis eines
Kunstwerkes fährt.
Neben diesen Unterschieden in bezug auf die Methode und das
Ziel der Ästhetik machen sich in neuerer Zeit ästhetische Richtungen
bemerkbar, che in ihrer Auffassung von der Aufgabe der Kunst von-
einander abweichen. Wir meinen den Idealismus und den ihm ent-
uengeset/ten Realismus oder Naturalismus.
Der ästhetische Idealismus sieht den Zweck der Kunst darin,
uns in eine höhere Sphäre „reinerer Wirklichkeit" zu erheben und
durch Darstellung ergreifender Menschenschicksale das tiefere Wesen
der Menschennatur zu enthüllen, so daß wir uns erhoben und gereinigt
und zugleich neu gestärkt fühlen für die Aufgaben des Tages. Dem-
zufolge muß alles Schmutzige, alles Gemeine, ja alles Alltägliche aus
der künstlerischen Darstellung eliminiert werden.
Demgegenüber behauptet der Naturalismus, die Kunst
müsse uns die Welt zeigen, wie sie ist. Nur die genaueste und gewissen-
hafteste Treue der Darstellung sei eines Künstlers würdig. Wenn da
nun vieles häßlich und abstoßend erscheint, so will er gerade dadurch
am tiefsten ergreifen und erschüttern. Der Naturalismus hat nicht nur
hervorragende Werke hervorgebracht, sondern auch seine Theorie mit
viel Kraft und Geschicklichkeit verteidigt.
In den letzten Jahren sind einige neue Richtungen entstanden, die
eine Art Synthese von Naturalismus und Idealismus anstreben, aber
noch nicht erreicht haben. Der Symbolismus in der Malerei und
in der Dichtung geht über das rein Gegenständliche in der Darstellung
hinaus und will in Gestalten und Worte etwas Geheimnisvolles hinein-
legen, das aber meist nur dem Kreise der Eingeweihten verständlich
wird. Der Impressionismus will den momentanen Eindruck des
Künstlers möglichst rein und vollständig wiedergeben, wird aber da-
bei oft verworren und unklar. In den letzten Jahren sind unter verschie-
denen Namen neue Strömungen zutage getreten, die besonders durch
stelle Darstellungen zu wirken versuchen. Dazu gehört der
sogenannte „Expressionismus" und verwandte Richtungen.
Die starke Verbreitung und die große Anziehungskraft des Kinos
scheint auf eine Verrohung des künstlerischen Geschmackes hinzu-
deuten, die vielleicht eine der traurigen Wirkungen des Weltkrieges ist.
1 )aneben bemerkt man allerdings auch eine Art von Neuromantik,
die das I eben künstlerisch zu gestalten und zu vertiefen bemüht ist.
Die Stellungnahme gegenüber diesen Richtungen ist mit wissen-
schaftlicher Überzeugung unserer Ansicht nach nur dann möglich,
wenn man die Ästhetik auf genetische und biologische
I irundlage stellt und das Schöne und die Kunst in ihren Ursprüngen
und in ihrer Bedeutung für die Lebenserhaltung zu erkennen sucht.
Die Grundzüge einer solchen Ästhetik sollen nun hier skizziert werden.
§39. Genetische und biologische Ästhetik 151
§ 39. Genetische und biologische Ästhetik
Kant hat uns gelehrt, daß wir im ästhetischen Urteil „die Vor-
stellung nicht durch den Verstand auf das Objekt", sondern „auf das
Subjekt und das Gefühl der Lust und Unlust" beziehen. Das Ge-
schmacksurteil, sagt er, ist kein Erkenntnisurteil, es wird dadurch
nichts am Objekt bezeichnet, sondern in ihm fühlt sich das Subjekt
selbst, wie es durch die Vorstellung affiziert wird.
Das Wohlgefallen am Schönen unterscheidet sich aber nach Kant
von der Lust am Angenehmen und von der Freude am Guten. Das
Angenehme sowohl als das Sittlich-Gute beeinflussen das Begehrungs-
vermögen, während das Wohlgefallen am Schönen ein „uninter-
essiertes" Wohlgefallen oder, wie wir auch sagen können, ein reines
Fühlen ist. Kant hat durch seine Untersuchung eine Umgestaltung,
und zwar eine Verinnerlichung der Ästhetik vollzogen. Er hat uns, wie
es scheint, endgültig bewiesen, daß es das zentrale Problem der Ästhe-
tik sein muß, in das Wesen des ästhetischen Genießens so
tief als möglich einzudringen.
Schiller hat darin einen mächtigen Schritt nach vorwärts getan,
indem er, wie bereits erwähnt wurde, zur Erklärung des ästhetischen
Genießens die Analogie des S p i e 1 e n s heranzog. Das Spiel ist nach
Schillers Meinung die Betätigung der überschüssigen Kräfte, das heißt
derjenigen, die bei der Herbeischaffung der Notdurft des Lebens nicht
zur Verwendung gelangen. In demselben Sinne hat ^Herbert Spencer
das Spiel aufgefaßt, während Lazarus, der mehr die Spiele der Er-
wachsenen im Auge hatte, das Spiel aus dem Erholungsbedürfnis er-
klärte. Karl Oroos hingegen, der die Spiele der jungen Tiere und der
Kinder eingehend untersucht hat, sieht im Spiel eine Vorübung für
das Leben.
Alle diese Auffassungen des Spieles lassen sich vereinigen und
ästhetisch verwerten, wenn man sich daran erinnert, daß beim Spiel
die Freude aus der Tätigkeit selbst fließt, nicht aber aus einem durch
diese Tätigkeit zu erreichenden Ziele. Bei jeder ernsten Arbeit, die wir
unternehmen, schwebt uns ein Zweck vor, den wir erreichen, eine Lei-
stung, die wir vollbringen wollen. Die Vorstellung dieses Zweckes ist
es, die uns spornt und treibt, das fest im Auge behaltene Ziel ist es,
das uns über Schwierigkeiten hinweghilft und Unannehmlichkeiten er-
tragen läßt, wie sie ja mit jeder Arbeit verbunden sind. Das Spiel hin-
gegen macht uns lediglich deshalb Freude, weil es uns angenehm be-
schäftigt. Diese aus der Betätigung der physischen und psychischen
Kräfte fließende Lust am Spiel ist nur ein Spezialfall eines allgemein
biologisch-psychologischen Gesetzes, das bis jetzt noch wenig Beach-
tung gefunden hat.
Alle Organe und Funktionen, die sich im psychophysischen Or-
ganismus des Menschen im Laufe der Zeit herausgebildet haben, ver-
langen in gewissem Sinne nach Betätigung. Diese Betätigung ist, o b-
j e k t i v betrachtet, ein Erfordernis, das heißt eine Bedingung
der Erhaltung und Entwicklung des menschlichen Organismus. Sie ist
152 Wege und Ziele der Ästhetik
deshalb ein Erfordernis, weil Organe und Funktionen, die keine Ge-
ilheit zur Betätigung finden, der Gefahr des Verkümmerns
unterliegen. < iliedmaßen, che lange nicht bewegt wurden, werden steif
und, wenn die Funktionshemmung länger anhält, sogar für die Dauer
unbeweglich. Kinder, die im dritten oder vierten Jahre taub werden,
verlernen in der Regel auch das Sprechen, weil die Funktion jetzt nicht
mehr durch das Sprechenhören angeregt wird. Dieses Erfordernis
nach Betätigung der einzelnen Funktionen reflektiert sich nun, wie dies
auch bei anderen Erfordernissen der Fall ist, im Bewußtsein und so
entsteht eine Reihe von subjektiv gefühlten B e d ü r f n i s s e n, die wir
I unktionsbedürfnisse nennen wollen.
Nun ist jedes Bedürfnis zu der Zeit, wo es aktuell wird, ein Un-
lustgeffihl, das mit bestimmten Vorstellungen verbunden ist und uns
zu Maßnahmen veranlaßt, die so lange fortgesetzt werden, bis das Un-
lustgefühl verschwindet. So treibt uns der Hunger oder das Nahrungs-
bedürfnis dazu, uns auf irgendeine Weise Nahrung zu verschaffen,
wodurch dann das Unlustgefühl des Hungers beseitigt wird und das
lustvolle Gefühl der Sättigung eintritt. Ebenso ist jede längere Hem-
mung einer zum Leben notwendigen Funktion mit Unlust verbun-
den, während die kraftvolle Ausübung der betreffenden Funktion uns
Lust bereitet.
So fühlen wir z. B., wenn wir lange gesessen sind, das Bedürfnis
nach Bewegung, und in einem solchen Falle macht uns das kräftige
Ausschreiten an sich Freude. Eine derartige Funktionslust ist gar nicht
mit Begehrungen verbunden, sondern bedeutet für uns nur eine För-
derung und Erhöhung des ganzen Lebensprozesses. Das tritt nun
beim Spiel der Kinder deutlich zutage. Die Freude am Spiel ist eben
gar nichts anderes als ein Lustgefühl, das aus der Befriedigung von
Funktionsbedürfnissen entspringt.
Dasselbe gilt aber auch vom ästhetischen Genießen. D a s ä s t h e-
tische Genießen ist als eine Art von Funktions-
lust aufzufassen, das heißt als die Freude, die aus der Betätigung
verschiedener psychischer Funktionen hervorgeht *). Deshalb bleibt
diese Lust, wie Kant so überaus glücklich und treffend bemerkt hat,
ohne Einfluß auf das Begehrungsvermögen und aus demselben Grunde
ist das ästhetische Genießen dem Spiele so nah verwandt. Diese
Wesensverwandtschaft darf aber keineswegs als Identität betrachtet
werden. Die Funktionslust, die wir beim Spiele erleben, ist zwar ähn-
lich dem ästhetischen Genuß, aber sie ist nicht dasselbe. Das ästhe-
tische Genießen tritt in seinen höheren Entwicklungsformen mit solchen
seelischen Funktionen in Verbindung, die beim Spiel fast gar nicht zur
Betätigung gelangen.
Die ästhetische Funktionslust ist eben dadurch charakterisiert, daß
sie durch Betrachtung von Objekten und Vorgängen
ausgelöst wird. Dabei verstehen wir unter Betrachtung nicht nur das
Anschauen und das Anhören, wie wir es bei Werken der bildenden
'i Einen ähnlichen Gedanken hat bereits der französische Ästhetiker Dubos
ausgesprochen. (S. oben S. 164.)
§39. Genetische und biologische Ästhetik j 53
Kunst, bei musikalischen Kompositionen oder im Theater üben und er-
leben, sondern auch die Seelenzustände beim Lesen von Dichtungen.
Eine solche Betrachtung von Gegenständen der Kunst oder auch der
Natur ist nun geeignet, die verschiedensten Funktionen unserer Seele
zur Betätigung zu bringen. Es werden dadurch, wie wir gleich sehen
werden, unsere Sinnesfunktionen angenehm beschäftigt, es
wird unsere Phantasie angeregt, unser Denken und Fühlen
in Tätigkeit gesetzt. Alles das bleibt aber in Beziehung zu dem be-
trachteten Objekt und dadurch erhält die ausgelöste Funktionslust ihre
Richtung und ihre Färbung.
Das ästhetische Genießen ist demnach eine besondere Art
von Funktionslust, die durch Betrachtu n g hervor-
gerufen wird.
Schon die Sinneswahrnehmungen, insbesondere die des Gesichtes
und Gehörs, aber unter Umständen auch die des Tastsinnes, sind häufig
mit elementaren ästhetischen Gefühlen verbunden. Einfache Farben,
noch mehr aber Farbenkombinationen und kompliziertere Lichtwir-
kungen, wie sie etwa der Regenbogen oder der gestirnte Nachthimmel
bieten, erwecken ästhetisches Wohlgefallen. Noch reicher und mannig-
faltiger sind die ästhetischen Gefühle, die durch geometrische Orna-
mente und durch Gestalten hervorgerufen werden. Die Ausübung der
Funktion des Sehens ist in diesen Fällen besonders lustvoll, wir suchen
aber die Quelle der Freude nicht in uns, sondern im Objekte, das zu
dieser lustvollen Ausübung Anlaß gibt, und bezeichnen dieses Objekt
als schön. Die Quelle solcher ästhetischer Urteile, insofern diese
selbständig gefällt und nicht etwa gedankenlos nachgesprochen wer-
den, ist jedoch immer nur die tatsächlich erlebte Funktionslust. Die
objektiv vorhandenen Eigenschaften des Gegenstandes sind immer nur
mittelbare Ursachen des ästhetischen Urteils. Das beweist deut-
lich die Tatsache der Abstumpfung. Ein Objekt, das uns beim ersten
und zweiten Betrachten als schön erschien, wird gleichgültig, wenn
wir es täglich und stündlich um uns haben. Das Objekt hat sich nicht
geändert, allein unsere Funktionslust hat sich abgestumpft.
Unter den Gehörswahrnehmungen sind es zunächst einfache Töne,
besonders aber rhythmisch geordnete Reihen von Tönen und Ge-
räuschen, die elementare ästhetische Wirkungen auslösen. Das Wohl-
gefallen an Melodien und an symphonischen Tonwerken beruht hin-
gegen auf der Befriedigung höherer und mannigfaltigerer Funktions-
bedürfnisse. Rhythmische Tonreihen regen uns vielfach zur Ausfüh-
rung rhythmischer Bewegungen an und da ist es ganz deutlich die
Funktionslust, die das ästhetische Wohlgefallen hervorbringt. In ähn-
licher Weise zeigt sich dies bei der ästhetischen Wirkung von Tast-
wahrnehmungen, wie dies in neuester Zeit an Taub-Blinden be-
obachtet wurde*). Sie finden an der Betastung solcher Gegenstände
Gefallen, die Anlaß zur Ausführung angenehmer und rhythmisch ge-
ordneter Tastbewegungen geben.
*) Vgl. oben S. 22.
154
Wege und Ziele der Ästhetik
Elementare ästhetische Gefühle entstehen also auf die Weise, daß
durch die Wahrnehmungen, die wir erleben, unser sensuelles
I unktionsbedürfnisin angenehmer und in hinreichend inten-
siver Weise befriedigt wird.
I Ingleich mannigfaltiger und reicher entwickelt sich jedoch das
ästhetische Genießen, wenn die auf uns wirkenden Gegenstände nicht
nur unsere Sinne, sondern auch unser Vorstellen und Denken angenehm
beschäftigen. 1 in Werk der Malerei oder Skulptur, dessen Gestalten
wir verstehen und zu deuten vermögen, bietet uns stärkeren und nach-
haltigeren Genuß. In je höherem Grade die dargestellten Gegenstände
und Vorgänge unsere Erinnerungs- und Phantasietätigkeit anregen,
je mehr sie uns zu denken geben, desto intensiver, desto reicher wird
der ästhetische Genuß und desto schwerer stumpft er sich ab. Diese
ästhetisch wirkende Befriedigung unseres intellektuellen
Funktionsbedürfnisses erleben wir in besonders deutlicher
Weise bei Werken der Dichtkunst. Die Worte des Dichters bedeuten als
sinnliche Wahrnehmungen so gut wie gar nichts und wirken nur durch
die Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, die durch sie in uns an-
geregt werden. Die sogenannte Anschaulichkeit mancher Dichtungen
ist natürlich nicht durch die Sinne, sondern durch die Phantasie her-
vorgerufen. Grill parzer hat sehr treffend gesagt (XV, 43 der Sauer-
schen Ausgabe), daß die Versinnlichung in der Poesie nicht von außen
hinein-, sondern von innen herausgeht. Wenn es uns nun gelingt, dem
Dichter leicht zu folgen, wenn wir verstehen, was er meint, wenn unsere
Phantasie durch ihn angeregt wird, so ist schon das allein ausreichend,
um uns einen hohen ästhetischen Genuß zu verschaffen.
„Es lockt uns nach und nach, wir hören zu,
Wir hören und wir glauben zu verstelm.
Was wir verstehn, das können wir nicht tadeln
Und so gewinnt uns dieses Lied zuletzt."
Schillers philosophische Lyrik, schwierige Stellen in Goethes
Faust wirken erst dann ästhetisch, wenn es uns gelungen ist, den Ge-
danken des Dichters zu erfassen, in uns nachzuerzeugen und weiter
zu entwickeln. Solange das nicht der Fall ist, wird unser intellektuelles
Funktionsbedürfnis gehemmt und die ästhetische Wirkung bleibt aus.
Dieselbe Flemmung erleben wir oft bei Gemälden moderner Künstler,
wenn es uns nicht gelingen will, in dem Meere von Farben und Figuren
den Plan der Komposition zu entdecken und den Sinn des Ganzen zu
enträtseln. Unser sensuelles Funktionsbedürfnis wird durch solche
Kunstwerke oft in hohem Maße befriedigt, aber die damit verbundene
I lemmung der intellektuellen Funktionslust läßt eine nachhaltige ästhe-
tische Wirkung nicht aufkommen.
Dagegen wirkt die Betrachtung großer Fabriksanlagen, Ma-
schinen, sinnreicher Erfindungen und anderer Meisterwerke der Tech-
nik in hohem Grade ästhetisch, obwohl diese Dinge ja zunächst nur
praktischen /wecken dienen. Josef Popper hat jedoch sehr treffend dar-
aui hingewiesen, daß unsere Freude an dem Verstehen so sinnreicher
§39. Genetische und biologische Ästhetik 155
Einrichtungen und der Einblick in die zusammenstimmende Zweck-
mäßigkeit dem ästhetischen Genießen ganz nahe verwandt ist.
Der intellektuellen Funktionslust ähnlich, aber doch nicht ganz
mit ihr identisch, ist die Freude an unserer eigenen Phantasie-
tätigkeit, die durch anschauliche Schilderung von Begebenheiten
und Objekten in uns ausgelöst wird. Beim Lesen der Homerschen Ge-
dichte sehen wir die Gestalten des Achill, des Agamemnon, des Odys-
seus, der Nausikaa, Hektors und Andromaches mit unserem inneren
Auge leibhaftig vor uns stehen. Grill parzer verlangt diese Anschaulich-
keit vom Dichter und tadelt es sehr, wenn sie fehlt. Diese Freude am
inneren Anschauen der durch den Dichter hervorgezauberten Gestalten
wollen wir als imaginative Funktionslust bezeichnen.
Auch elegante Lösungen mathematischer Aufgaben bieten, wie
die französische Mathematikerin Sophie Germain * ) sehr schön aus-
geführt hat, ästhetischen Genuß. In beiden Fällen ist es lediglich die
intellektuelle Funktionslust, auf der die ästhetische Wirkung beruht.
Diese intellektuelle Funktionslust ist der Inhalt der psychischen Erleb-
nisse, die wir im gewöhnichen Leben theoretisches Interesse zu
nennen pflegen. Was unseren Intellekt angenehm beschäftigt, das
interessiert uns, das finden wir interessant.
Die bisher betrachtete sensuelle, intellektuelle und imaginative
Funktionslust hat uns jedoch erst die Anfänge des ästhetischen Ge-
nießens, gewissermaßen die Außenwerke kennen gelehrt. In das innerste
Wesen der Freude am Schönen in der Kunst und in der Natur dringen
wir erst dann, wenn wir uns erinnern, daß auch das Fühlen eine
Grundfunktion des Bewußtseins ist, die nach Betätigung verlangt. Wir
haben tatsächlich ein Bedürfnis nach Gemütserregung, und die Befriedi-
gung dieses Bedürfnisses ist oft im höchsten Grade lustvoll. Wir wollen
dieses Bedürfnis mit Anlehnung an das englische Wort für Gefühl
(emotion) das emotionale Funktionsbedürfnis nennen.
Der Bauer, der die ganze Woche hinter dem Pfluge einhergeht, will
am Sonntag im Wirtshaus eine Rauferei haben. Sein Blut kommt dabei
in Wallung und die damit verbundene Erregung empfindet er als sehr
wohltuend. Der römische Stadtpöbel verlangte bekanntlich von den
Kaisern Brot und Gladiatorenspiele (panem et circenses). Das Brot
für seinen Hunger und die Spiele für sein emotionales Funktionsbedürf-
nis. Das tiefsinnige Märchen vom Hans, der das Gruseln lernen wollte,
zeigt deutlich, daß schon die vorwissenschaftliche Psychologie auf das
tatsächliche Vorhandensein dieses Bedürfnisses aufmerksam wurde.
Die emotionale Funktionslust greift vermöge der zentralen Natur
alles Fühlens viel tiefer in das Seelenleben ein als die sensuelle und
intellektuelle. Die Erregung breitet sich hier viel mehr aus, dringt viel
tiefer und löst deshalb oft Wirkungen aus, die den ganzen Organismus
erschüttern und bisweilen dauernd verändern. Hier ist die Quelle jener
psychischen Dispositionen zu suchen, die wir Leidenschaften
*) Vgl. über diese tiefe Denkerin Jerusalem, „Gedanken und Denker",.
S. 94 ff.
l5o Weg« und Ziele der Ästhetik
nennen, die ofl verzehrend wirken, aber auch wahrhaft Großes zu-
stande bringen.
Was die sensuelle I unktionslust auslöst, das erscheint uns an-
g e n e h in oder gefällig, was den Verstand angenehm beschäftigt,
das linden wir interessant. Für die Vorgänge aber und für die
»chäftigungen, die von emotionaler Funktionslust begleitet sind, hat
die Sprache die Ausdrücke Reiz, reizend und reizvoll ge-
bildet. Hohes Hazardspiel und gefahrvolle Bergtouren üben auf viele
Menschen einen großen Reiz aus, weil die damit verbundene Erregung
emotionale 1 unktionslust hervorbringt.
Wenn nun die Betrachtung eines Kunstwerkes in uns nicht nur
die .sensuelle, die imaginative und intellektuelle, sondern auch die emo-
tionale Funktionslust auszulösen vermag, so wird es zur Quelle des
reichsten und des intensivsten ästhetischen Genießens. Wir versuchen
dies zunächst an einem Beispiel zu erläutern und wählen das allgemein
bekannte Gedicht Schillers „Der Taucher". Die spannende Erzählung
beschäftigt unser Vorstellen und Denken und erregt so unsere intellek-
tuelle Funktionslust. Schon dadurch wirkt das Gedicht ästhetisch. Die
tiefere und intensivere Wirkung stellt sich aber erst ein, wenn wir an
dem Schicksal des kühnen Jünglings Anteil nehmen, wenn wir mit ihm
in den Wasserstrudel hinabtauchen, alle Angst mit ihm durchleben
und uns mit ihm freuen, wenn er glücklich wieder heraufkommt. Mit
wachsendem Anteil lauschen wir seiner Erzählung von den Un-
geheuern der Tiefe, sind dann empört über das grausame Spiel des
Königs, der ihn zum zweitenmal hineintreibt, wir fühlen warme Teil-
nahme für die Königstochter und ihre aufkeimende Liebe und sind tief
ergriffen, wenn wir den Schluß lesen: „Den Jüngling bringt keines
wieder". Der Ablauf der Gefühle, dem wir uns ungehemmt, ohne jede
Rücksicht auf die uns umgebende Wirklichkeit hingeben dürfen, das
I rieben solcher rein menschlicher Gefühle, die im Alltag nur selten sich
zu betätigen Gelegenheit haben, all das erzeugt eine reiche und inten-
sive Funktionslust und in dieser emotionalen Funktionslust besteht der
wahre ästhetische Genuß.
Die Schicksale Antigones, Hamlets, Macbeths, Othellos, König
Lears, Maria Stuarts, Wallensteins, Fausts und Gretchens und anderer
Stalten, die uns in den Dramen der Weltliteratur vorgeführt werden,
sind in noch höherem Grade geeignet, lebhafte Gefühle auszulösen. Auf
dem Theater tritt zu der emotionalen die sensuelle und intellektuelle
Funktionslust modifizierend und steigernd (bisweilen allerdings auch
Störend) hin/u, aber das Wesentliche bleibt doch unser innerer Anteil
an den Gestalten, unsere emotionale Funktionslust, die durch verständ-
nisvolle Aufnahme des Kunstwerkes in uns hervorgerufen wird.
' iemälde und Skulpturen sind ebenfalls geeignet, emotionale Funk-
tionslust im Beschauer zu wecken, wenn es gelingt, den Gesichtsaus-
druck, die Korperhaltung und die Gruppierung der dargestellten
I iguren richtig zu deuten und sich in das Kunstwerk „einzufühlen".
I eichte Verständlichkeit in der Darstellung fördert diese „Einfüh-
lung" sehr, während all/u komplizierte, dem Ideenkreis fernliegende
Motive die emotionale I unktionslust nicht aufkommen lassen.
§ 39. Genetische und biologische Ästhetik 157
Die stärkste Gefühlswirkung übt unter den verschiedenen Künsten
anerkanntermaßen die Musik aus. Dies kommt daher, weil hier das
Gefühl durch die sinnliche Wahrnehmung der Töne direkt, ohne Ver-
mittlung des Intellektes angeregt wird. Die rein musikalische Wir-
kung wird deshalb bei der sogenannten „absoluten", der Textbegleitung
entbehrenden Musik viel echter und inniger zum Bewußtsein kommen.
Auf Personen hingegen, die weniger musikalisch veranlagt sind, wirken
Lieder, deren Text verstanden wird, leichter und stärker. Im Musik-
drama der Gegenwart, wie es von Richard Wagner ausgebildet wurde,
werden alle vier Arten von Funktionslust, die sensuelle, die imagina-
tive, die intellektuelle und die emotionale, mächtig angeregt und des-
halb ist hier der ästhetische Genuß ein besonders starker und dauern-
der. Allerdings kommt es bei diesen Kunstwerken nicht selten vor, daß
die sinnliche Auffassung der Tonfolgen nicht sofort gelingt oder auch,
daß der oft schwierige Text nicht sofort verstanden wird. Dadurch
wird dann die sensuelle und intellektuelle Funktion gehemmt und
dies bildet ein Hindernis für die Entfaltung der emotionalen Funk-
tionslust. Hat man aber durch wiederholtes Anhören die Schwierig-
keiten der Auffassung überwunden, dann ist der Gesamteindruck ein
um so stärkerer, der sich auch infolge des fast unerschöpflichen Reich-
tums an Motiven beinahe gar nicht abstumpft.
Alles ästhetische Genießen ist somit eine Art von Funktionslust
und dadurch dem Spiele verwandt. Die Wirkung der ästhetischen Funk-
tionslust ist aber eine andere und eine tiefere als die des Spieles. Das
Kunstwerk oder das Naturobjekt, das die ästhetische Funktionslust in
uns entstehen ließ, steht vor uns. Es ist in der Wirklichkeit vorhanden,
wir nehmen es mit unseren Sinnen wahr, sehen in ihm den Urheber, die
Quelle unserer Freude, wir fühlen uns durch das Objekt erfreut, ge-
fördert. Vermöge der fundamentalen Apperzeption betrachten wir nun
unsere Freude als Wirkung, als Kraftäußerung des vor uns stehenden
Objektes und so entwickeln sich aus unserer Funktionslust ä s t h e-
tischeUrteile. Wir brauchen zur Erklärung solcher Urteile nicht
mit Kant ein besonderes Seelenvermögen, eine „ästhetische Urteils-
kraft" anzunehmen. Die fundamentale Apperzeption genügt vollstän-
dig, um die Entstehung solcher Urteile begreiflich erscheinen zu lassen.
Beim ästhetischen Genießen fühlen wir uns angenehm berührt, inter-
essant beschäftigt, mächtig ergriffen, kurz, niemals begehrend und
wollend, sondern immer affiziert. Es ist daher nur natürlich, daß wir
die Quelle der Freude nicht in uns, sondern außer uns suchen, und wir
finden sie dann auch dort, wo sie wirklich ist, im Kunstwerk. Wir be-
zeichnen nun, wie gesagt, das Objekt, das in uns die ästhetische Funk-
tionslust auslöst, je nach der Art der hervorgerufenen Funktionslust als
angenehm oder gefällig, als interessant, als reizend
oder reizvoll. Das allgemeinste Prädikat aber, das wir den
ästhetisch wirkenden Objekten zusprechen, ist das der Schönheit.
Als schön bezeichnen wir im weitesten Sinne alles, was unsere
ästhetische Funktionslust auszulösen geeignet ist.
Aus unserer Theorie des ästhetischen Genießens ergibt es sich von
selbst, daß in den ästhetischen Urteilen große Verschiedenheiten an-
] ££ Wege und Ziele der Ästhetik
zutreffen sein müssen. Die Dispositionen zu den verschiedenen Arten
von Funktionslusi ^ind bei den einzelnen Individuen in sehr verschie-
dener Weise entwickelt. Es ist somit begreiflich, daß ein und dasselbe
( »bjekt nicht in allen Betrachtern dieselbe Art und denselben Grad von
Funktionslusi auszulösen geeignet ist. Auch ein und derselbe Mensch
ist nicht zu allen Zeiten in gleicher Weise für ästhetische Wirkungen
empfänglich, weil eben die Funktionsbedürfnisse nicht immer dieselben
sind. 1 n>t/dem gibt es Kunstwerke, die durch Jahrhunderte, ja durch
fahrt ausende von sehr verschiedenen Menschen als schön bezeichnet
wurden. „König Ödipus" von Sophokles, der vor 2300 Jahren in Athen
u\k\ in anderen Städten Griechenlands in der Ursprache starke Wir-
kungen auslöste, wurde in unseren Tagen auf deutschen Bühnen in
einer Übersetzung vor einem Publikum gespielt, dessen Kulturstand
sich gewiß sehr von dem des athenischen Urpublikums unterscheidet.
Dennoch hat das Stück viele Tausende von Zuschauern auch heute noch
mächtig ergriffen. Das berechtigt wohl zu dem Urteil, daß in dem
Drama objektive Eigenschaften zu finden sind, die starke ästhetische
Funktionslust auszulösen vermögen. Ähnliches gilt von manchen
Werken der altgriechischen Baukunst und Skulptur, sowie von vielen
Gemälden der altitalienischen und niederländischen Schulen. Bei
solchen Kunstwerken darf man von objektiver Schönheit
sprechen, indem man darunter die dem Kunstwerk selbst anhaftenden
Eigenschaften versteht, die geeignet sind, bei vielen Menschen Funk-
tionslust auszulösen. Diese Bedingungen zu ermitteln ist gewiß eine
dankbare und keineswegs aussichtslose Forscheraufgabe. Objektive
Schönheit ist aber keineswegs gleichbedeutend mit a b s o 1 u t e r Schön-
heit. Von einer solchen zu sprechen ist bei dem durchaus relativen
Charakter des Schönheitsbegriffes vollkommen sinnlos.
Das Wort Schönheit hat aber neben der eben besprochenen
weiteren Fassung auch noch eine engere Bedeutung. Wenn wir ein
Objekt aus voller Überzeugung, ich möchte sagen, aus vollem Herzen
schön nennen, so meinen wir damit nicht bloß, daß es unser Wohl-
gefallen erregt. Wir fühlen für das Objekt, das wir in diesem engeren
Sinne schön nennen, eine Art von Dankbarkeit für den Genuß, den es
uns gewährt, eine Art von Zuneigung, die wir, wenn sie einen
höheren Grad erreicht, sogar Liebe nennen dürfen. Jeder von uns
tragt gewiß so manche Gestalten, die von Künstlern geschaffen sind,
liebevoll im Herzen, betrachtet sie als seinen kostbaren Besitz, den er
geneigt ist, gegen hämische Krittelei lebhaft zu verteidigen. Wo ein
Künstler in uns diese Liebe für seine Gestalten zu wecken versteht, da
hat er die höchste ästhetische Wirkung erzielt und es tritt hier zu der
Funktionslust ein neues Moment hinzu, gerade das, wodurch sich das
ästhetische Genießen am meisten vom Spiel unterscheidet.
Der Zusammenhang von Liebe und Schönheit ist längst er-
kannt und oft ausgesprochen worden. Die gewöhnliche Auffassung des
Verhältnisses ist aber meist die, daß die (objektiv vorhandene)
Schönheit als U r s a c h e, die Liebe als ihre Wirkung an-
gesehen wird. Diese Auffassung erweist sich aber bei genauerer Unter-
suchung als nicht ganz zutreffend. Gewiß übt die Schönheit des Weibes
§ 39. Genetische und biologische Ästhetik 159
einen Reiz aus, der Liebe zu erwecken vermag, und zweifellos hat im
Altertum die Schönheit der Knaben bei den Männern oft Liebe her-
vorgerufen. Aber es kann auch das Umgekehrte der Fall sein. Men-
schen und Dinge, durch die wir uns gefördert fühlen und die in uns
das Gefühl der Zuneigung und Liebe wachrufen, erscheinen uns in-
folge dieses Gefühles wesentlich verschönert. Die Schönheit ist
nicht bloß Ursache, sie ist vielleicht häufiger
noch die Wirkung der Liebe. Aus unserem Innern heraus
strahlt die Schönheit aus auf die geliebten Gegenstände und umgibt
sie mit stets neuen Reizen.
Die verschönernde Kraft der Liebe kann jeder, der darauf achtet,
durch eigene Erfahrung kennen lernen. Die Mutter findet ihr geliebtes
Kind schön, auch wenn dieses anderen häßlich vorkommt. Die un-
beholfene Schreibart eines Buches, das uns aus irgendeinem Grunde
lieb geworden ist, gewinnt für uns oft einen eigenen Reiz. Schopen-
hauers Schwärmerei für die geradezu stillose lateinische Übersetzung
der indischen Upanishaden, die Anquetil du Perron nach einer per-
sischen Übertragung angefertigt hatte, ist ein merkwürdiges Beispiel
dieser verschönernden Kraft der Liebe. Den deutlichsten Beweis aber
für die Richtigkeit unserer Behauptung liefert die Entwicklung des
Naturgefühles. Im Altertum hatte man nur Sinn für die liebliche
Sommerlandschaft, die ein angenehmes Lustwandeln im Kühlen und
ein Ausruhen im Grase am Rande eines murmelnden Quells darbot.
Für die erhabenen Schönheiten der Alpennatur aber wurde der Mensch
erst dann empfänglich, als er ein wenig kulturmüde geworden war und
sich gerne in die Abgeschiedenheit der Berge flüchtete. Kurz, der
Mensch fand die Natur erst dann schön, als er sie
lieben gelernt hatte.
Wenn ein Kunstwerk in uns eine so starke und so mannigfaltige
Funktionslust auslöst, daß wir die Gestalten, die es uns vorführt, in
unser Herz schließen, daß wir sie lieben lernen, dann strahlt aus dieser
Liebe eine neue, eigene, warme Schönheit auf das Kunstwerk zurück
und diese Schönheit, die aus der Liebe geboren ist, die ist es, die wir
die wahre, die eigentliche, die herzerfreuende Schönheit nennen. Die
Kunstwerke, die wir in diesem Sinne schön finden, begleiten uns durchs
Leben, bereichern unsere Seele und vermehren unser Glück. In das
Innerste unserer Persönlichkeit dringen solche Gestalten ein, und nichts
ist charakteristischer für die Eigenart eines Menschen, als die Kunst-
werke, die er in diesem engeren Sinne schön findet.
Das ästhetische Genießen ist somit, ganz allgemein und kurz aus-
gedrückt, durch Betrachtung ausgelöste Funktionslust. Jede der be-
sprochenen vier Arten ist für sich allein imstande, ästhetischen Ge-
nuß zu bieten. Reicher aber und mannigfaltiger, intensiver und er-
greifender wird der Genuß, wenn sich sensuelle, intellektuelle, imagi-
native und emotionale Funktionslust miteinander verbinden. Die Kom-
binationen sind bei den verschiedenen Künsten verschieden. Skulptur
und Malerei wirken zunächst auf die Sinne und erregen mittels des
Verstandes unser Fühlen. Die Poesie beginnt mit der intellektuellen
Funktionslust und ruft durch diese die emotionale hervor, welche dann
160 Wege und Ziele der Ästhetik
wieder von innen heraus die Phantasie zur Erzeugung anschaulicher
Bilder anregt, wie dies Orillparzer in der oben (S. 1t4) zitierten Stelle
ausgeführt hat. Bei der Musik gehl die sensuelle Funktionslust viel-
leieht mit Hilfe von Irinästhetischen ( Bewegungs-) Empfindungen un-
mittelbar in die starke Gefühlswirkung über. Diese Gefühlswirkung
oder die emotionale Funktionslust bildet immer den zentralen Teil des
ästhetischen Genießens. Wo die emotionale Funktionslust sich nicht
einstellt, bleibt der ästhetische Genuß gleichsam an der Oberfläche, er
entbehrt der inneren Wärme. Wo aber die emotionale Funktionslust
ausgelöst wird, da kann daraus das oben geschilderte Gefühl der Liebe
entstehen, aus dem eine neue, gefühlswarme Schönheit auf das Kunst-
werk zurückstrahlt.
Die ästhetische Funktionslust unterscheidet sich also von anderen
Arten der Funktionslust, z. B. vom Spiele, schon dadurch, daß sie
solcher ins Innerste gehender Wirkungen fähig ist. Es gibt aber noch
ein anderes wichtiges Merkmal, durch welches sich der ästhetische Ge-
nuß vom Spiele unterscheidet. Alles ästhetische Genießen löst, wie be-
reits bemerkt wurde, ästhetische Urteile aus. Diese Urteile
.verden vom Genießenden in der Überzeugung gefällt, daß sie objektiv
gültig sind. Was mir gefällt, das finde ich schön, das heißt, ich behaupte,
in meinem Urteile, daß der Gegenstand, den ich betrachte, die Quelle,
das Kraftzentrum ist, von dem mein Genuß bewirkt wird. Eindring-
liche Selbstbeobachtung und Erfahrungen an anderen belehren uns
nun allerdings, daß das Schöne des Objektes nur in meiner Freude
daran besteht, allein es wäre trotzdem verfehlt, wenn man aus den
ästhetischen Urteilen den objektiven Faktor ganz eliminieren wollte.
Die ästhetische Funktionslust stellt sich doch nur dann ein, wenn sie
durch ein Objekt ausgelöst wird. Nun gibt es ja, wie wir gesehen haben,
Kunstwerke, die in sehr zahlreichen Menschen zu verschiedenen Zeiten
ästhetische Funktionslust ausgelöst haben. Diese Kunstwerke müssen
demgemäß objektiv bestimmbare Eigenschaften besitzen, aus denen die
ästhetischen Wirkungen hervorgehen. Die Ästhetik als Wissenschaft
hat nun die Aufgabe, nicht nur die subjektiven, sondern auch die objek-
tiven Bedingungen des ästhetischen Genießens zu studieren. Noch wich-
tiger aber werden diese objektiven Eigenschaften hervorragender Kunst-
werke dadurch, daß die schaffenden Künstler an diesen Werken die
Mittel kennen lernen, durch welche man hoffen kann, ästhetische Wir-
kungen hervorzurufen.
Damit sind wir bei der zweiten Aufgabe der Ästhetik angelangt,
die darin besteht, die Gesetze des künstlerischen Schaffens zu erforschen
und dadurch zu Normen und Regeln zu gelangen. Hier müssen wir
uns kürzer fassen, weil bei der großen individuellen Verschiedenheit
der künstlerischen Begabungen sich nur weniges im allgemeinen fest-
stellen läßt. Die Hauptarbeit bleibt hier der Technik der einzelnen
Künste übt rlassen.
Das künstlerische Schaffen ist die Folge eines dem Künstler inne-
wohnenden Tätigkeits- und Gestaltungsdranges. Dieses Schaffen ist
ebenfalls dem Spiele verwandt, insofern die Freude des Künstlers im
Schaffen selbst, also in der Funktion liegt. Dabei bleibt es aber nicht
§ 39. Genetische und biologische Ästhetik 161
lange. Wenn einmal die Kultur so weit entwickelt ist, daß das Bedürfnis
nach ästhetischem Genuß bei vielen Menschen vorhanden ist, dann
kann und darf dem Künstler die rein individuelle, nur für ihn vor-
handene Freude an der Betätigung seines Schaffensdranges nicht mehr
genügen. Er ist dazu berufen, anderen Freude zu machen und so das
Glück der Menschheit zu vermehren. Seine Tätigkeit ist nun nicht mehr
bloßes Spiel, sie wird vielmehr eine ernste soziale Arbeit, die
für die Entwicklung der Kultur in hohem Grade bedeutsam ist :
„Der Menschengeist in sonnigem Bezirken
Will nicht nur tätig sein, er will bewirken."
Aber um wirken zu können, genügt es für den Künstler nicht mehr,
sich blind seinem Schaffensdrang hinzugeben. Er muß jetzt lernen.
Die auf einer langen Kunstübung beruhende, mitunter schwierige
Technik seiner Kunst muß er sich anzueignen suchen. Er fühlt sich
verpflichtet und gedrängt, die großen Meister seines Faches zu stu-
dieren, um die Mittel kennen zu lernen, durch die es erfahrungsgemäß
gelingt, Funktionslust bei den Genießenden zu wecken. In seinen Vor-
stellungskreis tritt das Publikum ein, für welches seine Werke be-
stimmt sind.
Dadurch aber, daß zum Verständnis der meisten Kunstwerke die
Kenntnis des Publikums gehört, für das sie bestimmt waren, wird das
Werk des Künstlers zu einer kulturgeschichtlichen Tatsache. Man
sucht deshalb jetzt die Künstler vergangener Perioden aus ihrer Zeit
heraus zu verstehen und so hat sich eine historische Ästhetik
ausgebildet, die viel Aufklärung gebracht, manches Mißverständnis
beseitigt und zur intimeren Kenntnis der Künstler und Dichter viel
beigetragen hat. Bisweilen wird allerdings durch allzu einseitiges Fest-
halten an dem historischen Gesichtspunkt der Blick für das allgemein
Menschliche, für das Ewige im Kunstwerk getrübt. Der Künstler
schafft nämlich nicht bloß für sein Volk und seine Zeit. Wie Thukydides
von seinem Geschichtswerk, so darf der große Künstler von den Ge-
bilden seiner Phantasie behaupten, sie seien ein Besitztum für die
Ewigkeit uzf^.v. U asi) und nicht bloß ein Schaustück für den
Augenblick (a7<oviofj.a ix toö Traoa/o^aa).
Ein solcher Künstler löst in uns nicht bloß eine vorübergehende
Funktionslust aus, sondern versteht es auch, in unserem Herzen eine
dauernde Liebe wachzurufen für die Gestalten, die er geschaffen
hat. Aus dieser Liebe aber strahlt, wie vorhin bemerkt wurde, eine
lebendige, gefühlswarme und innige Schönheit auf sein Kunstwerk
zurück, und diese zu erzeugen, ist des Künstlers letztes und höch-
stes Ziel.
Das künstlerische Schaffen ist also zunächst Spiel als Betäti-
gung des Schaffensdranges und wird im Laufe der Kulturentwicklung
zur ernsten sozialen Arbeit, die sich die Vermehrung des Men-
schenglückes zum Ziele setzt. In seiner höchsten Vollendung ist aber
das künstlerische Schaffen eine Art von Liebeswerbung. Wenn
wir die Liebeswerbung des Künstlers erhören, dann erscheint uns sein
Jerusalem, Einleitung- in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
162 Wege und Ziele der Ästhetik
Wnk im tiefsten und wahrsten Sinne des Wortes schön. Homer wirbt
um 1 lebe für Achill und ( Klvsseus, Raffael für die göttliche Madonna,
Shakespeare nicht nur für den philosophierenden Dänenprinzen und
für den unglücklichen König Lear, sondern auch forden Falstaff, diesen
Vbschaum der ( iemeinheit, den der göttliche Humor unserem Herzen
näherbringt
Wenn es aber dem Künstler gelingen soll, in uns Funktionslust
auszulösen und Liebe wachzurufen, dann muß in ihm etwas von dem
schöpferischen Odem wohnen, der seinen Gestalten den Geist des
Lebens einzuhauchen vermag. Das Lebendige lebendig darzustellen,
diese Aufgabe ist allen Künstlern gemeinsam. Das Lebendige aber
an den Menschen und Dingen in unserer Umgebung, das Lebendige
an den Vorgängen der Gegenwart und der Geschichte, das ist das,
was in uns Leben weckt, was uns zu entsprechenden Reaktionen ver-
anlaßt. Dieses Lebendige ist nichts anderes als das Charakteri-
stische an den Dingen, das, was sie zu dem macht, was sie sind,
und was sie für uns bedeuten, und das ist das T y p i s c h e an ihnen.
Die typische Vorstellung ist, wie ich anderswo*) gezeigt habe, un-
mittelbar aus dem Lebensbedürfnis entstanden. Das biologisch Be-
deutsame an den Dingen zwingt uns, die Aufmerksamkeit darauf zu
konzentrieren, und so wird das Typische vieler gleichartiger Dinge
zu einer Einheit zusammengefaßt. Wir sehen dieses Typische in jedem
F.inzeldinge und richten darnach unser Verhalten ein. Der Künstler
muß nun in noch höherem Grade als jeder Mensch die Fähigkeit be-
sitzen, im Individuellen das Typische zu sehen und darzustellen. Die
Gestalten des Künstlers sind für uns immer Typen, auch wenn sie ganz
den Eindruck wirklicher Personen in uns hervorrufen. Gretchen in
(ioethes Faust ist so anschaulich und so individuell dargestellt, daß
wir ihre Lebensgeschichte schreiben könnten. Trotzdem lebt sie in
unserer Vorstellung als der Typus des Mädchens, das sich liebevoll hin-
gibt und verlassen wird. Dem König Lear streifen wir das Königs-
gewand ab und übrig bleibt nur der Vater, für den zärtliche Worte
mehr bedeuten als Cordelias „Lieben und Schweigen". Weil aber in
jedem Vater ein Stück vom König Lear steckt, deshalb verliert
Shakespeares Dichtung nie ihre Wirksamkeit.
Wie sehr das Typische zum Wesen der künstlerischen Darstellung
gehört, das sieht man am deutlichsten, wenn der Gegenstand der Dar-
stellung ein in der Wirklichkeit nur einmal vorhandenes Objekt, eine
historische Persönlichkeit, eine ganz bestimmte Landschaft oder ein
ein /einer Mensch aus der Umgebung des Künstlers ist. Auch in der
Darstellung des Individuellen muß der Künstler, um ästhetisch zu
wirken, das Typische, das Charakteristische, das wirklich Lebendige an
dem I inzelobjekt herausfinden und zum Ausdruck bringen.
Das Typische, das jeder künstlerischen Darstellung eigen ist,
bringt nun die Kunsl in einen eigenartigen Zusammenhang mit unserer
i rkenntnistäti g k e i t und mit der Wissenschaft.
*) Lehrbuch der Psychologie, 7. Aufl., S. 101 U.
§ 39. Genetische und biologische Ästhetik 163
Die typische Vorstellung ist, wie wir oben (S. 88) ge-
hört haben, in der Erkenntnisentwicklung eine Vorstufe des abstrakten
Begriffes. Da nun die Kunst ihrem Wesen gemäß typische Vor-
stellungen hervorzurufen geeignet ist, die bei voller lebendiger An-
schaulichkeit doch auch den Charakter des Repräsentativen, des All-
gemeinen an sich tragen, so übernimmt die künstlerische Darstellung
oft die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse, die mit Begriffen
arbeiten, in anschaulichen Bildern darzustellen. Der abstrakte wissen-
schaftliche Begriff verwandelt sich unter der Hand der Kunst in eine
lebendige, gefühlswarme und anschauliche Vorstellung, die wir dann
oft mit dem vieldeutigen Namen einer Idee bezeichnen. Die pla-
tonischen Ideen sind nichts anderes als Begriffe, die der künstlerische
Geist des tiefen und genialen Denkers zu anschaulichen Vorstellungen
verkörpert hat. Eben deswegen konnte Plato auch an die selbständige
Existenz dieser künstlerischen Denkgebilde glauben und sie zu wir-
kungsvollen Urbildern der Dinge erheben *). Auch Hegels Gedanke,
daß das Schöne sich bestimme als „das sinnliche Scheinen der Idee"
{Hegels Werke, X, 1, 141), und daß das Schöne als Träger der Idee
mit dem Wahren identisch sei, wird verständlich, wenn man dabei
an den typischen Charakter jeder künstlerischen Darstellung denkt.
Am tiefsten aber und zugleich am klarsten scheint mir Schiller den
auf der typischen Vorstellung beruhenden Zusammenhang von Kunst
und Wissenschaft erfaßt zu haben, wenngleich sein Gedanke, der
Schönheitssinn habe den Erkenntnistrieb erst hervorgerufen, sich nicht
festhalten läßt (s. oben S. 147). Vorahnend eilt die künstlerische Phan-
tasie oft der Wissenschaft voraus und bahnt ihr den Weg:
„Eh' vor des Denkers Geist der kühne
Begriff des ew'gen Raumes stand,
Wer sah hinauf zur Sternenbühne,
Der ihn nicht ahnend schon empfand ?"
Wenn aber die Wissenschaft ihren eigenen Weg geht und durch
mühsames Forschen und strenges Denken der Natur ihr Geheimnis ab-
gerungen und die Gesetze des Geschehens ergründet hat, dann ist es
wieder Sache des Künstlers, die Arbeit des Denkers zu krönen und zur
Vollendung zu bringen. Was die Wissenschaft in trockenen Formeln
und in toten Begriffen ihren Jüngern verkündet, das muß erst die
Kunst durch ihre Bilder beleben, damit alle Menschen die abstrakte
Wahrheit in konkreter Anschaulichkeit vor sich sehen und sie in ihr
Herz aufnehmen können.
„Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen,
Entdecken sie, ersiegen sie für euch.
Der Schätze, die der Denker aufgehäufet,
Wird er in euern Armen erst sich freun,
Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet,
Zum Kunstwerk wird geadelt sein."
s>v
*) Wenn Natorp in seinem Buche über die platonische Ideenlehre die Idee
als das Gesetz betrachtet, so verkennt er meines Erachtens den ästhetischen und
künstlerischen Untergrund, auf dem Piatons Lehre erwachsen ist.
11*
lo4 Woge und Ziele der Ästhetik
In noch innigeren Zusammenhang aber ist die Kunst seit jeher mit
der Religion getreten. Im griechischen Altertum nicht minder als
im Mittelalter und in der Neuzeit hat die Kunst ihre liebewerbende
Kraft in den Dienst der Religion gestellt. Der Zeus des Phidias, der
Moses MicheU Angelos, die 'vielen herrlichen Dome, Rajjaels Ma-
donnen und Lionardos Abendmahl sind die großartigsten und innig-
sten I iebeswerbungen für die Gestalten des religiösen Glaubens. Aber
auch dadurch, daß die Kunst reine, begehrungslose Freude in uns
wach ruft, erhebt sie uns über die Alltagsstimmung und erhöht unsere
Disposition zur Andacht und innerlichen Frömmigkeit. Deshalb spielt
besonders die Musik im religiösen Kultus eine so große Rolle.
Nicht so ganz klar hingegen ist der oft besprochene Zusammen-
hang /wischen Ästhetik und Ethik, oder richtiger zwischen Kunst
und Sittlichkeit.
Wenn von der veredelnden Wirkung der Kunst gesprochen wird,
so ist dies, wie wir gleich sehen werden, in gewissem Sinne berechtigt,
aber keineswegs so, daß der Kunst die Aufgabe zufiele, die Tugend
schön, das Laster häßlich darzustellen. Das Lebendige und Lebens-
volle in der Natur und in der Menschenwelt sucht der Künstler zu er-
fassen und darzustellen, und wo es ihm gelingt, das volle Menschen-
leben zu packen, da wird sein Werk für uns interessant. Rohe Kraft,
ungebändigte Leidenschaft, ja selbst gemeinen Eigennutz vermag der
große Künstler so vor uns hinzustellen, daß seine Vorführung in uns
die lebhafteste Funktionslust weckt. Nie und nimmer braucht der
Dichter darnach zu fragen, wie die landläufige Moral seine Charaktere
beurteilt. Wo er zu engherzig darauf Rücksicht nimmt, da verliert seine
Darstellung nur zu leicht den künstlerischen Wert. Shakespeares
Richard der Dritte und noch mehr sein Falstaff sind deutliche beweise
dafür, daß das ästhetische Genießen von sittlichen Werturteilen unab-
hängig ist. Die falsch verstandene Lehre des Aristoteles von der
tragischen Schuld hat lange genug über den wahren Grund des Ver-
gnügens an tragischen Gegenständen getäuscht. Niemals kann die
Kunst dadurch veredelnd wirken, daß sie in irgendeiner Form Moral
predigt.
Trotzdem aber besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen Kunst
und Sittlichkeit. Das ästhetische Genießen ist reine, begehrungslose
Freude, und indem der Künstler uns zum Erleben solcher Freude Ge-
legenheit gibt, entrückt er uns auf eine Zeitlang den egoistischen
Regungen des Alltagslebens und hebt uns für eine Weile über uns
selbst empor. s<> lange wir im Zauberbanne des Künstlers stehen, hat
in unserer Seele das rein Menschliche die Herrschaft inne. Nichts
Kleines und Niedriges findet da Raum im Herzen, wir sind empor-
gewachsen und befinden uns auf dem Wege zur inneren Freiheit. Durch
diese befreiende und läuternde Wirkung, die von jedem wahren Kunst-
werk ausgeht, muß allmählich ein höherer Standpunkt erklommen
werden. Wenn wir <>tt Gelegenheit haben, uns an Kunstwerken zu er-
freuen, so lernen wir andere Vergnügungen verschmähen, die mehr die
rohen und niedrigen Instinkte wecken. Deshalb ist die jetzt mit Recht
befürwortete künstlerische Erziehung der Jugend von großer Bedeu-
§39. Genetische und biologische Ästhetik 165
tung auch für die sittliche Entwicklung der künftigen Generation. In-
dem wir unseren Kindern Gelegenheit bieten, sich an Kunstwerken zu
erfreuen, erschließen wir ihnen nicht nur eine reiche Quelle reinen
Glückes, sondern wir bewahren sie auch vor verderblichen Genüssen.
„Interest, unde quis gaudeat", sagt sehr treffend Augustinus. Es ist
nicht gleichgültig, wo man seine Freuden sucht. Die Kunst aber läßt
den Menschen Freuden finden,
„Die seine Gier nicht in sein Leben reißt,
Die im Genüsse nicht verscheiden."
Nicht durch Moralpredigen wirkt die Kunst veredelnd, wohl aber
dadurch, daß sie unsere Freude läutert und unsere Teilnahme für alles
Menschliche erhöht.
Die Ästhetik wurde oben (S. 145) als Philosophie des
F ü h 1 e n s bezeichnet. Das Fühlen tritt aber am reinsten in den Funk-
tionsgefühlen auf, weil diese ohne Einfluß auf das Begehren bleiben.
Die Philosophie des Fühlens hat nun zu zeigen, welche Bedeutung dem
reinen Fühlen für das Seelenleben des Menschen und für die mensch-
liche Kultur zukommt. Sie hat sich aber auch mit den Objekten zu be-
schäftigen, welche geeignet sind, dieses reine Fühlen auszulösen. Unsere
genetische und biologische Betrachtung hat nun gezeigt, wie sich aus
dem Funktionsbedürfnis das ästhetische Genießen als Funktionslust ent-
wickelt. Aus dieser Funktionslust entsteht dann zuweilen jene innige
Liebe zu den Gestalten des Künstlers, eine Liebe, welche in Verbindung
mit der Funktionslust die Quelle der Schönheit ist. Die ästhetischen
Urteile, die durch diese Gefühle ausgelöst werden, enthalten neben dem
subjektiven auch einen objektiven Faktor, den zu erforschen eine wich-
tige Aufgabe der Ästhetik bildet. Durch diese Betrachtungsweise wurde
aber auch das Schaffen des Künstlers in seinen Hauptzügen verständ-
licher gemacht. Damit sind die Ziele einer wissenschaftlichen Ästhetik
gezeigt und zugleich die Wege gewiesen, auf denen wir hoffen dürfen
durch emsige Arbeit zu einer Philosophie des Fühlens zu gelangen, die
nicht nur dem ästhetisch empfindenden Subjekt, sondern auch dem
ästhetisch wirkenden Objekt seine Stelle und seine Bedeutung im Uni-
versum anweist, im Universum, von dem der Mensch nur ein winziger
Teil ist, aber ein Teil, dem das Streben innewohnt, das Ganze, dem er
angehört, zu begreifen, zu bewundern und zu lieben.
Literatur
Fr. Vi scher, Ästhetik. 3 Bände, 1846 1858. (Im Geiste Hegels, sehr reich
an feinsinnigen Beobachtungen.)
R. Zimmerman, Ästhetik. 2 Bände, 1858 ff. (Der erste enthält die Geschichte
der Ästhetik, das im zweiten Bande niedergelegte System der Ästhetik ruht
auf H e r b a r t scher Grundlage.)
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G. Th. Fechner, Vorschule der Ästhetik. 2. Aufl. 1897.
Johannes Volkelt, Ästhetische Zeitfragen. 1894.
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K. Groos, Der ästhetische Genuß. 1902
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II. \. Stein, Die Entstehung der neueren Ästhetik. ISSo.
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Karl Federn. 1905. (Enthält eine sehr beachtenswerte Geschichte der
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(Enthält eine sehr gründliche psychologische Analyse der Phantasie und
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ebenfalls mit dem Liebesleben und mit der Entwicklungslehre in Zusammen-
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Hugo Spitzer, Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und
Literaturästhetik. Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der
Ästhetik, I. Band. 1903. (Enthält eine Fülle feinsinniger Erörterungen.)
T h. A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie. 1901. (Enthält treffende Bemerkungen
über unanschauliche Vorstellungen und ihre ästhetische Wirkung.)
F. Meumann, Einführung in die Ästhetik der Gegenwart. 1909.
M. Verworn, Die Anfänge der Kunst. 1909.
E. U t i t z. Die Funktionsfreudeu im ästhetischen Verhalten. 1 •-» 1 1 .
\. Hildebrand, Das Problem der Form. 7. und 8. Aufl. 1910.
N. Müller-Freien fei s, Psychologie der Kunst. 1912
Friedrich Jodl, Ästhetik der bildenden Künste; herausgegeben von
W. Börner. 1917.
Sechster Abschnitt
Allgemeine Ethik
§ 40. Gegenstand und Aufgabe der Ethik
Gegenstand der Ethik oder Moralphilosophie sind die
Motive, die Normen und die Ziele der menschlichen
Handlungen. Das Tun der Menschen wird nämlich nicht bloß
darnach beurteilt, ob es nützlich oder schädlich, ob es ästhetisch wohl-
gefällig oder häßlich ist, sondern auch nach einem ganz anderen Maß-
stabe der Beurteilung unterzogen. Wir fragen nicht nur, ob eine Tat
klug und richtig berechnet, wir fragen auch, ob sie gerecht und
gut war. Wir untersuchen, ob der Einzelne durch sein Tun die Inter-
essen der Gemeinschaft, der er angehört, gefördert oder geschädigt hat,
und entscheiden zunächst darnach, ob die Tat allgemeine Billi-
gung oder Mißbilligung verdient. Im Laufe der Kulturentwick-
lung hat sich jedoch die Überzeugung herausgebildet, daß der sittliche
Wert einer Tat nicht oder nur in geringem Grade von ihrem Erfolge
bedingt ist. Maßgebend dafür ist vielmehr die Absicht des Täters
oder, richtiger ausgedrückt, die seiner Tat zugrunde liegende Gesin-
nung oder Willensrichtung. „Es ist überall nichts in der
Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
guter Wille." Diese Worte Kants*) sind für die Bestimmung
des Gegenstandes der Ethik maßgebend geblieben. Der menschliche
Wille, seine Eigenart und seine Bestimmung sind ihr Forschungs-
gebiet. Man kann also kurz sagen : Ethik ist Philosophie des
Wollens.
Die Aufgabe der Ethik ist eine mehrfache. Es gilt zunächst die
psychologischen Gesetze zu erforschen, nach denen wir tatsächlich
eigene und fremde Handlungen moralisch beurteilen, das heißt billigen
und mißbilligen. Eine solche Untersuchung des Ursprungs und der
Entwicklung der moralischen Beurteilung wäre eigentlich die grund-
legende Vorarbeit zu einer wissenschaftlichen Ethik. Diese Aufgabe ist
einerseits psychologischer, anderseits historischer Natur.
Durch genaue psychologische Analyse dessen, was in uns vorgeht, wenn
wir eigene oder fremde Handlungen moralisch beurteilen, müßte die
psychologische Grundlage der Sittenlehre geschaffen werden. Diese
*) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, erster Abschnitt, IV, 241
(Hartenstein).
Allgemeine Ethik
Arbeit müßte, wie wir dies als allgemeine Regel für die Psychologie
kennen gelernt haben, nicht nur analytisch, sondern auch genetisch
und biologisch durchgeführt werden. Man müßte also auf den
prung des moralischen I iefühls zurückgehen und auch zeigen, in
welchem Zusammenhang die sittlichen Forderungen mit dem Leben
des Einzelnen und dem der ganzen Menschheit stehen.
I >a es nun aber schon dem oberflächlichen Betrachter auffallen
muß, daß dieselben Handlungen zu verschiedenen Zeiten und bei ver-
schiedenen Völkern verschieden beurteilt wurden, daß die eine Zeit oft
dasselbe schätzt und bewundert, was die andere verabscheut, und daß
namentlich die Intensitätsunterschiede der moralischen Mißbilligung
so außerordentlich bedeutend sind, so erwächst der wissenschaftlichen
Ethik die äußerst schwierige und langwierige Aufgabe, die moralische
Beurteilung von den niedrigsten Kulturstufen an geschichtlich zu ver-
folgen, um vielleicht die Gesetze ihrer Entwicklung kennen zu lernen.
Dieser historische Teil der Ethik ist jetzt durch das gründliche
Werk von Eduard Westermarck: Origin and development of the moral
ideas (Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, deutsche Be-
arbeitung von Leopold Kutscher, 1906— 1909) auf eine viel festere
Grundlage gestellt worden. In dem genannten Werke ist die moralische
Beurteilung insbesondere bei den Naturvölkern durch ein außerordent-
lich reiches Tatsachenmaterial veranschaulicht und es ist auch ver-
sucht worden, den allmählichen Wandel dieser Beurteilungen bei den
Kulturvölkern darzustellen. Dieser Teil des Werkes bedarf allerdings
noch vielfach der Ergänzung, allein die Grundlage für weitere For-
schungen ist auch hier gegeben.
Erst wenn durch psychologische und historische Untersuchungen
das Material gesammelt und verarbeitet vorliegt, kann mit Aussicht
auf Erfolg die weitere Aufgabe der Ethik gelöst werden, die meist als
die wichtigste betrachtet wird. Die Ethik hat nämlich auch Normen
aufzustellen für das menschliche Handeln, welche zu Grundsätzen
werden sollen, nach denen wir unser Benehmen einrichten, und die
namentlich in den so häufigen Fällen der Kollision der Pflichten unsere
Entscheidung zu bestimmen berufen sind. Insbesondere aber sollen
diese Normen für die Erziehung der Jugend maßgebend sein. Hier
können sie viel leichter zu fruchtbringender Wirkung gebracht werden
und zum Fortschritt der sittlichen Entwicklung beitragen. Diese n o r-
m a t i v e Aufgabe der Ethik ist viel früher und in weit ausgedehnterem
Maße in Angriff genommen worden als die theoretisch-historische.
Die Ethik oder Moralphilosophie, auch praktische Philo-
sophie genannt, ist demnach die PhilosophiedesWollens.
Ihre Aufgabe besteht darin, die Gesetze der moralischen Beurteilung
zu erforschen und Normen für das sittliche Handeln aufzustellen.
\K Philosophie des Wollens findet aber die Ethik gleich bei ihrem
Ausgangspunkt ein Problem vor, das sogar ihre Möglichkeit in Frage
stellt. Es ist dies die viel erörterte Frage, ob der Wille des Menschen
überhaupt frei und ob er fähig ist, die an ihn gestellten Forderungen
zu erfüllen.
/u diesem Problem müssen wir also vorerst Stellung nehmen.
S 41. Das Problem der Willensfreiheit 169
§ 41. Das Problem der Willensfreiheit
Die Frage, ob der Wille des Menschen frei ist, gehört nicht zu
denen, auf die sich einfach mit „ja" oder mit „nein" antworten läßt.
Man stellt die Frage von sehr verschiedenen Standpunkten aus und da
bekommt das Wort „frei" jedesmal einen ganz anderen Sinn. Es gibt
eben nicht bloß ein einziges Problem der Willensfreiheit, sondern
mehrere solche Probleme. Man kann zum mindesten drei verschiedene
Standpunkte und damit ebensoviele verschiedene Fragestellungen
unterscheiden.
1. Was man gewöhnlich unter dem Problem der Willensfreiheit
versteht, das ist eine metaphysische oder ontologische Frage.
Wer in diesem Sinne die Behauptung aufstellt: Der Wille des Men-
schen ist frei, für den bedeutet das Wort „f r e i" soviel als : außer-
halb des Kausalgesetzes stehend. Es gibt zwar jeder-
mann zu, daß Vorstellungen und Urteile als Motive auf unseren Willen
einwirken, und gewöhnlich leugnet man auch nicht, daß Gefühle als
Triebfedern bei unseren Willensentscheidungen eine Rolle spielen. Allen
diesen Einflüssen gegenüber, so lehrt der Anhänger der metaphysischen
Willensfreiheit, hat der Wollende jedoch die Macht, sich ganz selbständig
zu entscheiden. Jeder Willensentschluß ist eine freie Tat meiner Per-
sönlichkeit. Mein Wille ist die einzige Ursache meiner Tat und hat selbst
keine andere Ursache als sich selbst. Jeder Willensakt ist in diesem
Sinne ein absoluter Anfang. Der Wille mag also durch Motive und
Triebfedern beeinflußt werden, endgültig bestimmt oder determiniert
kann er nur durch sich selbst werden. Da also nichts Äußeres den
Willen zu lenken vermag und die Entscheidung niemals durch andere
Ursachen endgültig determiniert werden kann, so bezeichnet man diese
Ansicht von der absoluten, metaphysischen Willensfreiheit als I n-
determinismus. Die Anhänger dieser Theorie stützen sich auf
die psychologische Tatsache, daß wir vor jeder Entscheidung über-
zeugt sind, wir könnten auch anders, und nach der Entscheidung mit
Sicherheit glauben, wir hätten auch anders können. Sie weisen ferner
auf die Unvorhersehbarkeit jeder Willenshandlung hin und bedienen
sich mitunter auch noch eines ethischen Argumentes. Wenn wir nämlich
für unsere Handlungen verantwortlich sein sollen, so sei dies nur dann
mit der Forderung der Gerechtigkeit vereinbar, wenn wir bei der Ent-
scheidung vollkommen selbständig und frei waren.
Gegen diese Auffassung werden nun überaus gewichtige Ar-
gumente ins Feld geführt. Man weist zunächst darauf hin, daß jede
Willenshandlung doch auch in physischen Bewegungen bestehe, und
daß diese Bewegungen doch irgendwie durch vorhergehende physische
Vorgänge verursacht sein müssen. Man macht ferner geltend, daß auch
das seelische Geschehen dem Kausalgesetz unterworfen sei. Jeder
Mensch ist durch seine angeborenen Anlagen, durch die Erziehung
und durch die sonstigen Einflüsse seiner Umgebung zu dem geworden,
was er ist. Seine Willenshandlungen müssen also unbedingt Ergeb-
nisse seiner bisherigen Entwicklung sein und könnten von einer Intelli-
genz, die alle diese Faktoren mit einem Blicke zu übersehen in der Lage
] 70 Allgemeine Ethik
wäi . nz ebenso vorausberechnet und vorausgesagt werden, wie
etwa Jas I intreten einer Sonnenfinsternis. Endlich sei ein ursachloses
schehen für den wissenschaftlich geschulten Verstand einfach un-
denkbar. Deshalb müsse man jede Willenshandlung als einen Vor-
gang ansehen, der. wie alles andere Geschehen, durch das, was vorher-
ging, vollkommen oder, wie die Mathematiker sagen, eindeutig bestimmt
"der determiniert sei. Hiese vollständige Leugnung der Willensfreiheit
« ird nun als Determinismus bezeichnet.
Infolge der großen Fortschritte, welche die mathematische Natur-
wissenschaft, die Chemie und besonders die Technik in den letzten
Jahrhunderten machen konnten, schien der Determinismus derart die
t überhand gewonnen zu haben, daß viele Philosophen und Psychologen
die Frage für erledigt hielten und der Ansicht waren, jeder wissen-
schaftlich Denkende müsse sich zum Determinismus bekennen. In den
letzten Jahrzehnten sind aber in William James, in Henri Bergson
und in Karl Joel wieder geistvolle Verteidiger des Indeterminismus er-
standen. Man hat die überaus große Kompliziertheit der Willensvor-
g ige richtiger erkannt und überdies auch einsehen gelernt, daß die
geistigen Prozesse im Menschen selbst bedeutsame kosmische Kräfte
sind, die das Weltgeschehen nachhaltig beeinflussen. Man muß des-
halb sagen, daß sich das metaphysische Willensproblem derzeit in
vollem Flusse befindet.
Die Entscheidung darüber, ob eine Willenshandlung im meta-
physischen Sinne als „f r e i" angesehen werden kann, hängt in letzter
Linie von der Auffassung des Verhältnisses zwischen Geistigem und
Körperlichem, zwischen Leib und Seele ab. Für den Anhänger des
Materialismus kann es keine Willensfreiheit geben, weil er ja alles
Seelische nur als sekundäre Begleiterscheinung physiologischer Vor-
gänge ansieht, die selbstverständlich durch das allgemeine Kausal-
etz alles Naturgeschehens vollkommen determiniert sind. Aber auch
die anderen monistischen Weltanschauungen betonen die Gesetzlichkeit
alles Geschehens so stark, daß für die Willensfreiheit kein Raum bleibt.
Nur vom Standpunkte der dualistischen Weltanschauung, die
wir oben als durchaus berechtigt nachgewiesen haben, läßt sich eine
im metaphysischen Sinne freie und eben deshalb unvorhersehbare
Willensentscheidung denken. Aber auch hier liegt die Sache nicht so
einfach. Wenn wir auch überzeugt sind, daß unser Wille aus eigener
Kraft in der Lage ist, unseren Körper zu bewegen, so müssen wir doch
zugeben, daß unser Wollen mit den übrigen Vorgängen in unserem
Bewußtsein in einem innigen Zusammenhange steht. Daß auf unseren
Willen die Motive und die Triebfedern, die in uns wirksam sind, einen
großen I influß haben, wird ja niemand leugnen können. Fs kann sich
also bloß darum handeln, ob diese Motive und Triebfedern die Willens-
handlung vollständig bestimmen, oder ob ihnen gleichsam nur eine
beratende Stimme zufällt, der gegenüber schließlich doch der Wille
seine souveräne 1 ntscheidung trifft. So betrachtet, verliert aber das
metaphysische Willensproblem viel von seiner Bedeutung. Wer die
menschlichen Willenshandlungen zum Gegenstand des Nachdenkens
macht, also der Psycholog, der Richter und der Ethiker, der Soziologe
§ 41. Das Problem der Willensfreiheit 171
und der Geschichtschreiber, der wird immer nach den Motiven und
nach den Triebfedern suchen müssen und kann die subtile Frage nach
der endgültigen Entscheidung auf sich beruhen lassen. So führt also
das metaphysische Freiheitsproblem selbst zu den anderen Stand-
punkten hin, von denen wir oben sprachen.
2. Vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, heißt
„f r e i" soviel als „ohne das Gefühl des äußeren oder
inneren Zwange s". Wenn wir im Vollbesitze unserer geistigen
Kräfte mit ruhiger Überlegung eine Entscheidung treffen, deren Trag-
weite wir zu ermessen vermögen, dann handeln wir aus unserer
eigensten Persönlichkeit heraus und fühlen uns vollständig frei. Stehen
wir dagegen unter äußerem Zwange oder sind wir von einer heftigen
Leidenschaft bewegt, dann handelt etwas Fremdes in uns und wir
fühlen uns unfrei. Psychologisch betrachtet ist also die Freiheit des
Willens kein Problem, sondern eine unleugbareTatsache. So-
bald sich die Willensfunktion über das Streben und Begehren hinaus
zum deutlich bewußten Wollen entwickelt hat, dann erleben wir die
Tatsache der psychologischen Willensfreiheit in jedem Willensakt und
jedes solche Erlebnis ist ein neuer, unwiderleglicher Beweis dafür. Je
reicher sich nun unser Denken entwickelt, je mehr Vorstellungen und
Urteile uns bei unseren Willensakten zur Verfügung stehen, desto freier
erscheint dann jedes Wollen. „Bildung macht frei", weil sie
uns reicher macht an Erfahrungen und Kenntnissen und uns dadurch
immer neue Mittel und Wege erschließt, unter denen wir wählen können.
Je reicher die Auswahl ist, desto deutlicher fühlen wir die Freiheit
unseres Wählens *).
3. Durch den Hinweis auf die Tatsache der psychologischen
Willensfreiheit wird auch das ethisch-juristische Willens-
problem geklärt. Von diesem Standpunkt aus wird eine Willenshand-
lung dann als f r e i betrachtet, wenn sie mit dem Bewußtseinder
Verantwortlichkeit vollzogen wird. Wenn ich nun im Voll-
besitz meiner geistigen Kräfte eine Entscheidung fälle, so ist das meine
eigene Tat und ich finde es ganz in der Ordnung, daß sie mir zu-
gerechnet wird. Handeln wir aber unter äußerem Zwang oder unter der
Herrschaft eines starken Affektes, dann betrachtet uns auch das Gesetz
nicht mehr als voll verantwortlich. Kinder, Schwachsinnige, Betrunkene
sind nicht im Vollbesitze ihrer geistigen Kräfte und gelten daher vor
dem Gesetz nicht als zurechnungsfähig. Notwehr, heftige Leidenschaft
und Verhältnisse, welche das Gesetz als „unwiderstehlichen Zwang" be-
trachtet, heben die Zurechnungsfähigkeit auf oder vermindern sie doch.
Für die Ethik und für die Rechtswissenschaft ist also die Willens-
freiheit eine unerläßliche Voraussetzung. Alle moralische Be-
urteilung und alle strafrechtlichen Bestimmungen gehen von der An-
nahme aus, daß der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befindliche
Mensch die Fähigkeit besitzt, aus eigener Überlegung frei zu handeln.
Ohne diese Annahme müßten die Begriffe der Absicht und der Schuld,
die Institutionen der Haftung und der Strafe ihren Sinn und ihre Be-
") Vgl. Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie, 7. Aufl., S. 202 ff.
1 72 Allgemeine tthik
deutung verlieren. 1 ür den Sittenlehrer und für den Gesetzgeber genügt
aber vollständig das Bewußtsein der Freiheit und beide brauchen in
ihrem Denken und in ihrem Handeln nicht darauf zu warten, bis das
metaphysische Willensproblem gelöst ist.
1 u r den \ufbau der Ethik, mit der wir es hier zu tun haben,
kompliziert sich jedoch das Willensproblem durch zwei Momente, die
schon jetzt erwähnt werden müssen, obwohl sie erst weiter unten den
I iegenstand unserer Darlegungen bilden werden. Das eine dieser Mo-
mente ist der soziologische, das zweite der metaphysische
I inschlag der Ethik.
1 He grundlegende und umfassende Bedeutung der Soziologie
für die ganze Ethik wird weiter unten dargelegt werden. Schon hier
aber muß auf einen Begriff hingewiesen werden, dessen Wichtigkeit
für die Soziologie und für die Ethik erst in der neuesten Zeit erkannt
wurde. Wir meinen den Begriff des Gesamt willens, der neben
und über dem Einzelwillen seinen mächtigen Einfluß geltend macht.
Der Gesamtwille tritt uns in den herrschenden Glaubensvorstellungen,
im geltenden Recht, in der Sitte, in der Mode, in der öffentlichen Mei-
nung und schließlich in der Organisation des Staates entgegen. Er
durchdringt jede Willensentscheidung des Einzelnen in hohem Grade
und oft ist der Einzelne, der sich frei zu entscheiden meint, nur ein
unbewußter Träger des Gesamtwillens. Im Laufe der Kulturentwick-
lung hat sich der selbständig gewordene Einzelmensch aber auch die
Fähigkeit und die Neigung erworben, dem Gesamtwillen kritisch gegen-
überzutreten und ihn eventuell auch zu bekämpfen. Gerade diese Selb-
ständigkeit der reif gewordenen Persönlichkeit gegenüber den Impera-
tivischen Forderungen der Gesellschaft meint man gewöhnlich, wenn
man im engeren Sinne von der Freiheit des Individuums spricht.
Das Verhältnis des Einzelwillens zum Gesamtwillen ist für die Entwick-
lung der sittlichen Forderungen von grundlegender Bedeutung. Wir
werden weiter unten sehen, daß die Entfaltung selbständiger und eigen-
kräftiger Persönlichkeiten ein wichtiger Hebel der moralischen Entwick-
lung wird und neue Forderungen aufstellt, die das ethische Niveau
immer höher zu heben geeignet sind. Dabei bleibt aber der Gesamtwille
ethisch in höchstem Grade bedeutsam, weil er der Träger der sozialen
Imperative wird, von deren Befolgung das Wohl und die Existenz der
I iesellschafi abhängen. Inwiefern die dadurch entstehenden, oft schein-
bar entgegengesetzten ethischen Ziele und Richtungen sich vereinigen
lassen, das wird in dem Abschnitt über soziologische Ethik klargestellt
werden.
I inen metaphysischen Einschlag erhält die Ethik da-
durch, daß der menschliche Wille und überhaupt die Bestimmung des
Menschen seit den ältesten Zeiten mit dem göttlichen Willen in
Beziehung gebracht wird. Man hat mit tiefem Ernst die Frage er-
örtert, ob der Mensch die I ähigkeit besitzt, aus eigener Kraft sich zur
sittlichen Vollkommenheit emporzuarbeiten und sich dadurch die ewige
Seligkeit zu sichern, oder ob dabei die göttliche Gnade mitwirken müsse.
Die ethischen Probleme treten überhaupt von allem Anfang an im
Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen auf und bis in die
§ 42. Entwicklung der Ethik 173
neueste Zeit hinein wird darüber gestritten, ob Sittlichkeit ohne Reli-
gion möglich sei. Die sittlichen Forderungen werden jedenfalls vielfach
als Gebote Gottes aufgefaßt und erhalten dadurch ihre metaphysische
Begründung. Es läßt sich aber auch nachweisen, daß die Entwicklung
des sittlichen Bewußtseins, das im Laufe der Zeiten durch die kompli-
zierteren Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sich immer
reicher gestaltet, in hohem Grade läuternd auf die religiösen Vorstel-
lungen zurückwirkt. Der menschliche Wille scheint sich dabei zu so
großer Freiheit und Selbständigkeit zu erheben, daß er aus eigener
Kraft sich selbst das Sittengesetz gibt und dadurch der Religion einen
rein ethischen Charakter verleiht.
Dadurch wird aber die Ethik selbst zur Grundlegung der Meta-
physik erhoben. Der sittliche Wille gibt erst der Welt und der Gottheit
ihre wahre Bedeutung. Das ist ganz deutlich die Meinung Fichtes, der
ausdrücklich sagt: „Unsere Welt ist das versinnlichte Material unserer
Pflicht" *). So gestaltet sich die Ethik immer deutlicher zu einer wirk-
lichen Philosophie des Wollen s, in der der sittliche Wille
nicht nur frei, sondern auch schöpferisch erscheint und so selbst zu
einem kosmischen Prinzip geworden ist.
Wir wollen nun zeigen, wie sich die Ethik zu dieser hohen Auf-
gabe allmählich hinauf entwickelt hat.
§ 42. Entwicklung der Ethik
Als Begründer der wissenschaftlichen Ethik gilt dem ganzen
Altertum Sokrates, der Sohn des Sophroniskos aus Athen (469 — 399
v. Chr.). Cicero sagt von ihm, er habe als erster die Philosophie von
den verborgenen Dingen, mit denen alle früheren Philosophen sich be-
schäftigt hatten, abgelenkt und sie dem gewöhnlichen Leben zugeführt.
Die Dinge im Himmel liegen weitab von unserer Erkenntnis, könnten
aber auch, selbst wenn sie genau bekannt wären, nichts zum richtigen
Leben beitragen (Academica post. I, IV, 15). An einer anderen Stelle
heißt es noch deutlicher, Sokrates habe als erster die Philosophie vom
Himmel abgelenkt, sie in die Städte und in die Häuser eingeführt und
sie gezwungen, über das Leben und über die Sitten, über Gut und Böse
Untersuchungen anzustellen (Tusc. V, 4, 10). Damit ist ausdrücklich
bezeugt, daß Sokrates zuerst mit vollem Bewußtsein den Menschen und
seine sittliche Bestimmung zum Gegenstand des philosophischen Nach-
denkens gemacht hat. Dazu waren allerdings in den Strömungen seiner
Zeit die mannigfachsten Anlässe gegeben. Durch die Denkarbeit der
ionischen Naturphilosophen war der Glaube an die überlieferten Er-
zählungen von den Göttern stark erschüttert. Die Aufklärungstätigkeit
der älteren Sophisten (Protagoras, Oorgias, Hippias) und die fort-
gesetzte Demokratisierung Athens unter Perikles und seinen Nach-
folgern hatte zur Folge, daß das geltende Recht, die Autorität des
Staates, die überkommenen Sitten und Einrichtungen, das Verhältnis
der Kinder zu den Eltern und überhaupt Erziehungs- und Bildungs-
*) Fichte, „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-
regierung", S. W. 5, 185.
j 74 Allgemeine Ethik
[ragen lebhaft erörtert wurden. Die [ragödien des Euripides, die Lust-
spiele des Aristophanes, besonders die „Wolken" und die „Wespen",
einzelne Stellen im Geschichtswerk des Thukydides (bes. II, 35 ff. und
III. 82), die Dialoge Piatons aus seiner Frühzeit (bes. der Protagoras,
der Gorgias, der kl. Iltppias) geben ein anschauliches Bild dieser Be-
wegung der < leister.
- krates hatte sich mit den Lehren der Naturphilosophen bekannt
gemacht und keine Befriedigung darin gefunden. Er war mit einigen
Sophisten zusammengekommen, hatte ihre Vorträge gehört und die Art
ihres fugendunterrichtes kennen gelernt. Dadurch gelangte er dann zur
Klarheit über seinen eigenen Beruf. Mit vollem Bewußtsein stellte er
sich die Aufgabe, seine Mitbürger, besonders die jungen Leute, zur
Selbstbesinnung anzuregen und ihnen zu zeigen, daß im richtigen
Denken und im starken, zielbewußten Wollen für jeden Menschen die
sichere Quelle des wahren Glückes zu finden sei. „Für den guten Mann
gibt es kein Übel weder im Leben noch im Tode," sagt Sokrates in
seiner Verteidigungsrede vor Gericht und in diesen Worten sind zwei
Grundgedanken der somatischen — und wir dürfen auch sagen
der allgemein menschlichen Ethik enthalten. Es ist einerseits die A u t o-
nomie und anderseits die Autarkie des sittlichen Bewußtseins,
die Sokrates hier für seine Mitbürger, aber auch für alle Menschen und
Zeiten verkündet hat.
Die Autonomie oder die Selbständigkeit des sittlichen Be-
wußtseins ist für Sokrates dadurch gegeben, daß er überzeugt ist, jeder
I inzelne habe in sich die Fähigkeit zur sicheren Einsicht in das
R i c h t i g e zu gelangen. Diese durch eindringendes Nachdenken über
sich selbst gewonnene Erkenntnis macht den Menschen u n a b h ä n-
g i g von der Meinung der Vielen und gibt zugleich dem Willen die
Kraff, gemäß der so erarbeiteten Überzeugung zu handeln. In diesem
Sinne ist die Tugend für Sokrates ein W i s s e n, eine Erkenntnis
und deshalb 1 e h r b a r. Wer sich etwa durch sinnliche Begierden
von dem richtigen Weg ablenken läßt, der hat sich, nach Sokrates
Meinung, eben noch nicht zu der vollständigen, zu der sicheren Ein-
sicht emporgearbeitet. Dieser intellektua listische Grundzug
der somatischen Ethik ist oft als verfehlte Einseitigkeit bezeichnet und
bekämpft worden. Tatsächlich hat aber Sokrates damit die ewige Wahr-
heit ausgesprochen, daß das bewußte Nachdenken über sittliche Fragen
die erste und die wichtigste Bedingung für einen sittlichen Lebens-
wandel ist, wenn man auch vielleicht wird zugeben müssen, daß die
richtige I rkenntnis allein nicht immer dazu ausreicht.
Das intellektualistische Moment in der Ethik des Sokrates hängt,
wie wir später deutlich sehen werden, mit seinem indi vidual isti-
h e n Standpunkt eng zusammen. Sokrates hatte in seinem Wirken
Sittenlehrer minier nur den einzelnen Menschen im Auge. Diesen
wollte er anregen und zur sittlichen Selbstbesinnung veranlassen. Er
einer Verteidigungsrede ausdrücklich, daß er die öffentliche
Wirksamkeil im Staate nicht für das richtige Mittel halte, die Menschen
besser zu machen. „Wer wirklich für das Rechte kämpfen will, der muß
dies im Privatleben tun und nicht im öffentlichen." {Pluto, Apol. C. 20.)
§ 42. Entwicklung der Ethik 175
Von diesem Standpunkt aus wird das zweite Prinzip der soma-
tischen Ethik verständlich, das wir eben als Autarkie des sittlichen Be-
wußtseins bezeichnet haben. Autarkie heißt : Selbstgenügsam-
keit. Nun ist das Ziel alles menschlichen Handelns, also auch des
sittlichen Tuns, nach Sokrates Überzeugung die eigene Glückselig-
keit oder Eudämonie. Sokrates ist aber davon durchdrungen, daß
das wahre Glück jedes Menschen nur durch die Einsicht in das Richtige
zu gewinnen ist. Handelt er nun auf Grund dieser Einsicht, so wahrt er
zugleich am sichersten seinen wahren, seinen dauernden Vorteil. Das
Einhalten des als richtig erkannten Weges bringt nämlich selbst das
stärkste Glücksgefühl mit sich und reicht somit für sich allein zur Er-
langung der Glückseligkeit aus, die eben in diesem Tun besteht. Das
sittliche Bewußtsein ist also sich selbst genug und wer ganz davon
durchdrungen ist und darnach sein Leben einrichtet, wird dadurch zu-
gleich unabhängig vom Schicksal. Wir finden diesen großen
ethischen Gedanken der Autarkie bei den Stoikern, bei Spinoza und
auch bei Kant wieder und dürfen also sagen, daß Sokrates hier wahr-
haft grundlegend gewirkt hat. Was wir in der Lehre des Sokrates ver-
missen, das ist eine nähere Bestimmung des Inhaltes der sittlichen
Normen. Sokrates wollte offenbar keine bestimmten Lehren verbreiten,
sondern glaubte, daß die Aufrüttlung des Gewissens, das Hinlenken
auf Selbstbesinnung das Wesentliche sei. Jeder einzelne werde dann
schon den seiner Natur, seinen Anlagen, seinen Kräften gemäßen Weg
finden. Zu einer solchen Wirksamkeit brachte Sokrates allerdings eine
ganz ungewöhnliche Begabung mit. Die Wirkung seiner Unterredungen
wird uns in der Rede des Alkibiades in Piatons „Gastmahl" überaus
eindrucksvoll geschildert. Wir erkennen sie aber auch an den lebendigen
Anregungen des Meisters, die wir bei seinen Schülern und Enkel-
schülern wirksam finden.
Für sich selbst hat übrigens Sokrates sich seinen Pflichtenkreis
auch inhaltlich bestimmt. Er hat sich aus freiem Entschluß den Beruf
erwählt, gemäß dem Gebote des delphischen Gottes „Erkenne dich
selbst" sein Inneres zu erforschen und seine Mitbürger zu steter Selbst-
prüfung anzuregen und ihr Gewissen aufzurütteln. Diesem Berufe zu-
liebe hat er seine wirtschaftlichen Angelegenheiten vernachlässigt, und
während die Sophisten sich durch ihren Unterricht bereicherten, ist
Sokrates sein ganzes Leben lang arm geblieben. Diese erzieherische
Tätigkeit, dieses ununterbrochene Forschen und Prüfen ist ihm nach-
gerade so sehr zum Bedürfnis, so sehr zur zweiten Natur geworden,
daß er seinen Richtern sagte: „Ein Leben ohne fortgesetzte Prüfung
ist für den Menschen nicht lebenswert." (P/ato, Apol. C. 28.) Für
diesen Beruf hat Sokrates gelebt und für ihn ist er standhaft in den
Tod gegangen.
Neben dieser selbstauferlegten Pflicht, in der Sokrates eine Art
göttlicher Sendung erblickte, erkannte er auch die Pflichten gegen den
Staat in vollem Ausmaß an und hat sein Handeln auch diesem Grund-
satze gemäß eingerichtet. Sokrates fühlte sich ganz als athenischer
Bürger. Als solcher hat er dreimal Kriegsdienste geleistet und sich da-
bei sehr tapfer gehalten. Als ihn nun seine Freunde dazu bewegen
1 7o Allgemeine t'thik
wollten, eins dem Kerker zu entfliehen, da weigerte er sich entschieden
und setzte ihnen auseinander, daß er sich ja dadurch, daß er immer in
\ilun geblieben sei, stillschweigend verpflichtet habe, die Gesetze
-seiner Vaterstadt zu halten. Er müsse sich ihnen deshalb auch jetzt
fügen, wenngleich er auf Grund derselben zum Tode verurteilt sei.
Sokrates fühlte also in sich eine doppelte moralische Verpflichtung.
Diesem Gedanken hat er in seiner Verteidigungsrede einen ebenso
schlichten als erhabenen Ausdruck verliehen. „Wo einer sich selbst hin-
gestellt hat, weil er es für das beste hielt, oder wo er vom Vorgesetzten
hingestellt wurde, dort muß er ausharren, auch in der Gefahr, und
darf sich dabei weder um den Tod noch um etwas anderes mehr küm-
mern, als um das, was die Ehre gebietet." (Plato, Apol. C. 16.)
SokraUs hat damit eine moralische Synthese vollzogen, die wir später
als den Höhepunkt der sittlichen Entwicklung werden darzulegen
haben. Wag sein, daß Plato, der uns ja die Verteidigungsrede über-
liefert hat, seinen Meister darin etwas idealisiert hat, aber sicher ist
doch so viel, daß Sokrates für seinen sittlichen Beruf ruhig und freudig
in den Tod gegangen ist. Dadurch aber haben seine Lehren eine so
große Kraft erhalten, daß sie bis auf den heutigen Tag fortwirken.
Sokrates hat selbst nichts geschrieben, sondern nur durch persön-
liche Unterredung seine Grundsätze weitergegeben. Unter seinen
Schülern ist wohl Antisthenes derjenige, der die Lehren des Meisters
am treuesten bewahrt und in seinem Sinne fortgebildet hat. Anti-
sthenes hielt sich vor allem an die Autarkie des sittlichen Bewußt-
seins und glaubte, in der Bedürfnislosigkeit die wichtigste
Bedingung dafür gefunden zu haben. Diese macht den Menschen wahr-
haft unabhängig von der Meinung der Menge und vom Schicksal, sie
ist die Quelle der von Sokrates geforderten inneren Freiheit.
Antisthenes ist der Begründer derkynischen Schule, deren charak-
teristischester Vertreter sein Schüler Diogenes aus Sinope geworden
ist. Diogenes hat den Grundsatz der Bedürfnislosigkeit auf die Spitze
getrieben, ist mit Bettelstab und Ranzen umhergezogen, hat sich über
alle konventionellen Schranken der Sitte hinweggesetzt und mit großer
Derbheit den Luxus und die Sinnenlust als die Quelle eingebildeter Be-
dürfnisse gegeißelt. Mit der von Sokrates geforderten Autarkie hat er
in so radikaler Weise Ernst gemacht, daß ihn Plato einen verrückt ge-
wordenen Sokrates nannte. In konsequenter Verfolgung des Gedankens
der inneren Freiheit und Selbstgenügsamkeit hat Diogenes seine Zu-
gehörigkeit zu einem bestimmten Gemeinwesen, zu einem Staate geleug-
net und ich einen „Bürger der Welt", einen Kosmopoliten ge-
nannt. Damit aber hat dieser als Karikatur verspottete Kyniker den
Gedanken und die Idee der ganzen Menschheit als einer
großen I inheit in die Welt gebracht. Wir werden weiter unten sehen,
daß dieser Übergang vom extremen Individualismus zum U n i-
versalismus ein bisher wenig beachtetes, aber sehr wichtiges sozio-
logisch« - I lesetz zum Ausdruck bringt, das sich in den verschiedensten
Zeitperioden als wirksam und für die Entwicklung der Ethik als sehr
bedeutsam erweist. Daß aber dieser Übergang ganz im Geiste des
Sokrates begründet war. erhellt daraus, daß man im Altertum gelegent-
§ 42. Entwicklung der Ethik 177
lieh auch von Sokrates selbst erzählte, er habe sich einen Weltbürger
genannt, was freilich mit seiner treuen Anhänglichkeit an seine Vater-
stadt sich schwer in Einklang bringen läßt *). Jedenfalls hat Diogenes
dadurch, daß er den Namen und den Begriff des Weltbürgers schuf,
in der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins einen wichtigen Schritt
nach vorwärts getan.
Die S t o i k e r, die wir als die philosophischen Erben der kynischen
Schule betrachten dürfen**), haben die Gemeinschaft aller Menschen
energisch betont und sind auch für die Autarkie des sittlichen Bewußt-
seins entschieden eingetreten. Nun haben aber die Stoiker nicht nur auf
die christliche Gedankenwelt des Altertums, sondern auch auf die
Philosophie der neueren Zeit, besonders auf Descartes, auf Spinoza
und auf Kant starken Einfluß geübt und so haben die sittlichen
Grundsätze des Sokrates bis auf unsere Zeit weitergewirkt und wirken
noch fort.
Die Kyniker glaubten, wie gesagt, die Autarkie des sittlichen Be-
wußtseins am sichersten durch die Bedürfnislosigkeit zu erreichen. Um
sich nun zu dieser Unabhängigkeit hinaufzuarbeiten, dazu bedarf es
zunächst der Einsicht in die Nichtigkeit der Güter, die von den Men-
schen am meisten erstrebt werden. Dazu bedarf es ferner der „soma-
tischen Kraft", um die sinnlichen Triebe zu überwinden und überdies
unaufhörlicher „Übung" in dieser Überwindung. Als Folgeerscheinung
dieser fortgesetzten Arbeit, die von den Kynikern mit den Arbeiten des
Herakles verglichen wurde, stellte sich, namentlich bei Diogenes, ein
starkes Gefühl der inneren Sicherheit ein, das eine heitere Seelenstim-
mung auslöste, die sich in seinem überlegenen, oft sehr drastischen, aber
auch sehr treffenden Witz äußert. Diese Freudigkeit, die überall die
Wirkung der inneren Freiheit ist, liegt nun ebenfalls auf dem Wege,
den Sokrates gewiesen hat und selbst gegangen ist. Höffding hat in
seinem schönen Buche über den „großen Humor" Sokrates mit vollem
Recht als einen der größten Humoristen bezeichnet***). Es ist deshalb
kein Wunder, wenn ein anderer Schüler des Sokrates den Weg zur
inneren Freiheit nicht wie die Kyniker durch Entbehrung, sondern
durch überlegenes Genießen zu gewinnen suchte.
Dieser Schüler war Aristipp, der Begründer der k y r e n a i-
sehen Schule. Das Ziel des Lebens ist für ihn nicht der allgemeine,
unbestimmte Zustand der Glückseligkeit, sondern die unmittelbar er-
lebte, gegenwärtige sinnliche Lust. Diese darf aber nicht so stark,
nicht so heftig sein, daß sie den Menschen ganz einnimmt, sie muß
vielmehr einer „sanften Bewegung" gleichen, so daß der Weise immer
noch darüber steht und sie mit vollem Bewußtsein genießt. Aristipp
verlangt vom Philosophen, daß er in jeder Lebenslage das Lustvolle
*) So finden wir bei Cicero Tusc. V, 37, 108, die Mitteilung-, daß Sokrates
auf die Frage, was für ein Landsmann er sei, geantwortet habe, „ein Weltbürger",
denn er hielt sich für einen Einwohner und Bürger der ganzen Welt. Ebendas-
selbe sagt Epiktet, Diss. I, 9, 1.
**) Zeno, der Stifter der stoischen Schule, war ein Schüler des Kynikers
Krates.
***) Höffding, „Der Humor als Lebensgefühl (Der große Humor)", Deutsch
v. Göbel, Leipzig 1918. S. 170 ff.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u 10. Aufl. 12
] 78 Allgemeine Ethik
zu finden und in voller Überlegenheit zu genießen verstehe. Auch er
strebt also nach innerer Freiheit, nach Unabhängigkeit vom Schicksal
und gib! so dem soldatischen Grundgedanken der Autarkie eine neue,
eigene Gestalt. Sein Liebesverhältnis zu der berühmten Hetäre Lais be-
zeichnet Aristipp mit den Worten: „Ich bin Besitzer, nicht Besitz"
(:/,„. oox :/v'7'i Horaz kennzeichnet die Lehre des Aristipp sehr
treffend mit den Versen: „Wiederum komm ich zurück auf den Satz
Arisüpps und versuche, Mir die Dinge, nicht mich den Dingen gefügig
zu machen" *). Während also die Kyniker die Unabhängigkeit durch
Entbehren und Entsagen, durch kraftvolle Bekämpfung der sinnlichen
Triebe zu erringen suchten, glaubt Aristipp auf dem Wege der mäßigen
Freude zur inneren Freiheit gelangen zu können. Er hat damit einen
sehr wichtigen ethischen Gedanken ausgesprochen, dessen Bedeutung
allerdings nur langsam und spät erkannt wurde und vielleicht heute
noch nicht genügend gewürdigt wird. Epikur, der Arisüpps Anschau-
ungen aufnahm, galt lange und gilt vielen heute noch als der Vorkämpfer
der Sünde. Die christliche Kirche hat die Lehren Epikurs, die zu ihrer
1 leilslehre in schroffem Gegensatze standen, begreiflicherweise immer
auf das schärfste bekämpft. Erst in der neueren Zeit haben einzelne
Denker den ethischen Wert der Freude einzusehen begonnen. So finden
wir bei Spinoza (Eth. IV., 45. Anmerkung) die entschiedene Über-
zeugung ausgesprochen, daß mäßige Freude den Körper und den Geist
der Vollendung näher bringe. In voller Tiefe hat allerdings erst Schiller
die sittliche Bedeutung der Freude erkannt. Schon in seiner Jugend hat
er in dem bekannten Hymnus die menschenverbindende Kraft der
Freude gepriesen. Als reifer Mann aber hat er in seinen Briefen über
die ästhetische Erziehung des Menschen die Freude am Schönen und
an der Kunst als den besten Weg zur inneren Freiheit und zur wahren
Menschlichkeit bezeichnet. Auch Goethe hat gesagt, daß die Freudig-
keit die Mutter aller Tugenden ist. Die wissenschaftliche Ethik unserer
Zeit hat diesen Gedanken bis jetzt nicht genügend gewürdigt und so
bleibt es wohl erst der Zukunft vorbehalten, den ethischen Wert der
Freude ganz zu erfassen und daraus für die Sittenlehre und besonders
für die Erziehung der Jugend die Konsequenzen zu ziehen. Jedenfalls
aber sehen wir schon jetzt, wie mannigfach und wie fruchtbar die An-
regungen sind, die Sokrates für die Erkenntnis des sittlichen Bewußt-
seins gegeben hat.
I >ies tritt vielleicht noch deutlicher bei Piaton hervor, dem größten
und einflußreichsten Schüler des Sokrates.
Piaton hat die ethischen Gedanken seines Meisters dadurch er-
weitert und vertieft, daß er bemüht war, ihnen eine ausreichende theo-
retische Grundlage zu geben. Er versucht zunächst eine psycho-
logische Grundlegung der Ethik zu gewinnen. Die Seele besteht
nach Piaion aus drei Teilen, aus der V e r n u n f t, aus der edlen, mut-
artigen Leidenschaft und aus der niederen sinnlichen Begierde. Sollen
nun alle diese Teile harmonisch zusammenwirken, so muß die Vernunft
*) „Nunc in Aristippi furtim praeeepta relabor. Et mihi res, non me rebus
subjungere conor." Hör. epist. I, 1, 18 f.
§ 42. Entwicklung der Ethik 179
über die edle Leidenschaft ebenso wie über die sinnliche Begierde die
Herrschaft führen. Piaton bedient sich im Dialog „Phaedrus" dafür des
berühmt gewordenen Bildes von einem Zweigespann, dessen Rosse der
Mut und das Begehren sind, während die Vernunft zum Wagenlenker
bestimmt ist. Wenn nun in der Seele dieses Verhältnis zwischen ihren
Teilen besteht, dann ist Gesundheit, Harmonie vorhanden, und diesen
Zustand bezeichnet Piaton als G e r e c h t i g k e i t. Das Wesen dieser
wichtigsten Tugend tritt aber nach Piatons Überzeugung viel deut-
licher zutage, wenn man ihre Bedingungen nicht in der Seele des Ein-
zelnen, sondern im S t a a t e aufsucht. Piaton hat bekanntlich in seinem
bedeutendsten Werke, in der „Politeia", den Plan eines idealen Gemein-
wesens entworfen, in welchem den drei Teilen der Seele drei ver-
schiedene Stände entsprechen. Die Vernunft wird darin vertreten
durch den Stand der „Hüter", die den Staat zu leiten berufen sind. Das
„Mutartige" (döfioeiSsc) wird repräsentiert durch die Klasse der
„Helfer" oder Krieger, die dazu bestimmt sind, den Staat zu verteidigen.
Der dritte Stand ist der der Landwirte und der Gewerbetreibenden. Er
entspricht insofern den niederen Begierden, als er alles herbei-
zuschaffen hat, was zur Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse, also
zur Ernährung, zur Bekleidung, zur Wohnung u. dgl., nötig ist. Wenn
nun in diesem Staate jeder „das Seine" tut, das heißt das, wozu er
durch seine Geburt, seine Anlage und seine Erziehung am besten be-
fähigt ist, wenn ferner die Klasse der „Hüter" genügend wissenschaft-
lich, philosophisch und moralisch geschult ist, um überall das Richtige
anzuordnen, dann fühlt sich jeder einzelne wohl und das Ganze wird
einheitlich, harmonisch in sich gefestigt und deshalb von dauerndem
Bestand sein. Das ist nun die G e r e c h t i g k e i t im großen, die auch
hier wieder im harmonischen Zusammenwirken der Teile besteht*).
Piaton hat also nicht nur eine psychologische, sondern auch eine
soziologische Grundlegung der Ethik versucht und gerade
dadurch sind seine Darlegungen für die Gegenwart und be-
sonders für die Zeit nach dem Weltkrieg von geradezu aktueller Be-
deutung. Die Forderungen, die er an die Lenker der Staaten stellt, so-
wie seine Betonung der ethischen Aufgaben des Staates werden jetzt
besonders dringend und bedeutungsvoll. Wir verstehen vielleicht erst
heute diese Gedanken ganz zu würdigen.
Dazu kommt aber noch ein Weiteres. Piaton hat neben der psycho-
logischen und soziologischen Begründung der ethischen Forderungen
noch den Versuch gemacht, diese Forderungen mit seiner Weltanschau-
ung in Einklang zu bringen und ihnen so eine Art metaphysischen oder
kosmischen Gepräges zu geben. Das wahrhaft Seiende sind für Piaton
die ewigen, unveränderlichen, nur geistig zu schauenden Urbilder der
Dinge, die Ideen. An einer Stelle seines Werkes über den Staat legt
er nun dar, daß die Ideen selbst ihr Dasein, ihren Zweck und ihre
*) Piaton stellt das Wesen der Gerechtigkeit zuerst im Staate dar und zeigt
dann in einer sehr geistvollen ausführlichen Erörterung, daß die Gerechtigkeit
in der Seele des Einzelnen auf denselben Grundlagen beruht wie im Staate.
(Polit. IV, c. 11—19, p. 435—445, in der deutschen Übersetzung von Apelt,
S. 156 ff.)
12*
1 80 Allgemeine Ethik
Wesenheit dadurch erhalten, daß sie von der Idee des Guten
gleichsam durchdrungen werden. Die Idee des Guten wirkt dabei auf
die Ideen ähnlich wie die Sonne auf die sichtbaren Dinge. „Die Sonne
verleiht dem, was gesehen wird, nicht nur das Vermögen, gesehen zu
werden, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung. Also mußt
du auch sagen, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden
von dem Guten zuteil werde, sondern daß es sein Sein und Wesen
von ihm habe"*). Die Idee des Guten fließt bei Piaton gelegentlich
mit der ( Gottheit in eins zusammen. Jedenfalls bezeichnet der Philosoph
den Weltbildner, wo er von einem solchen spricht, als Inbegriff der
Güte und sagt von ihm, daß er beim Schaffen der Welt die Absicht
hatte, daß alles gut sei und nichts Schlechtes bestehe (Timaeus,
p. 29 E ff.). Das Sittliche wird hier von Piaton zum Weltprinzip er-
hoben und mit der Religion in nahen Zusammenhang gebracht. Auch
hier hat Piaton anregend auf das spätere Altertum, auf die christliche
Ethik und auf die neuere Zeit eingewirkt. Wird doch das Verhältnis
der Sittlichkeit zur Religion auch heute als eine durchaus noch
nicht endgültig gelöste Frage betrachtet.
Wir dürfen also sagen, daß Piaton durch seine psychologische,
durch seine soziologische und durch seine theologische Grundlegung
der Ethik geradezu die Richtlinien gezogen hat, auf denen sich das
Nachdenken über sittliche Fragen in der Folgezeit bewegt hat.
Aristoteles hat der wissenschaftlichen Ethik den Namen gegeben
und als erster diesem Gegenstand in der sogenannten „Nikomachischen
Ethik" eine eigene Abhandlung gewidmet. Er hat darin zunächst die
psychologische Grundlegung wesentlich vertieft. Durch die wichtige
Entdeckung, daß die Glückseligkeit nicht im passiven, untätigen Ge-
nießen gegeben ist, sondern nur durch eine dem Wesen des Menschen
entsprechende und gemäße Tätigkeit erlangt werden kann, kommt er
zu dem bedeutsamen Ergebnis, daß die Tugend in einer vernunft-
gemäßen Tätigkeit der Seele bestehe. Aristoteles erkannte auch die in-
tellektualistische Einseitigkeit des Sokrates und wirft ihm mit Recht
vor, daß er die irrationalen Teile der Seele (ta äXoY« TV V'rÄ-> ver"
nachlässigt habe. Er betont deshalb wiederholt die Bedeutung der Ge-
wohnheit und der Willensenergie für die sittliche Entwicklung. Wenn
aber Aristoteles der vernunftgemäßen Tätigkeit der Seele hauptsäch-
lich die Aufgabe zuschreibt, überall die Extreme zu vermeiden und die
richtige AI i 1 1 e zu finden, so hat er ein allzu äußerliches Merk-
mal hervorgehoben, das für das Wesen der sittlichen Forderung so gar
nicht charakteristisch ist. Es ist zwar nicht uninteressant zu lesen, wie
Aristoteles die einzelnen Tugenden nach diesem Prinzipe darstellt, in-
dem z. B. die Sparsamkeit als Mitte zwischen Geiz und Verschwen-
dung, die Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit be-
zeichnet wird. Allein er vermag selbst das Prinzip nicht überall durch-
zuführen und wir müssen heute offen sagen, daß die Philosophie der
mittleren I inie die größten Taten der heroischen Begeisterung oder der
heroischen Entsagung ganz und gar nicht zu würdigen vermag. Trotz-
• Plato, „Staat", 509 b, Obersetzung von Apelt, S. 304.
§ 42. Entwicklung der Ethik 181
dem bleibt die nikomachische Ethik ein sehr anregendes Werk. Die
schwierigen, aber tiefgründigen Erörterungen über die Gerechtigkeit im
fünften Buche, die warmherzige, und feinsinnige Schilderung der
Freundschaft (VIII. u. IX. Buch), die geradezu erhebende Lobpreisung
des der denkenden Betrachtung gewidmeten Lebens (X. Buch) sind
überaus eindrucksvoll und von bleibendem Wert. Als notwendige Ergän-
zung seiner Ethik bezeichnet Aristoteles am Schlüsse des Werkes die
Lehre vom Staate. Nach seiner Überzeugung ist nämlich der Mensch
von Natur aus ein soziales Wesen, das nur im Zusammenleben seine
Kräfte voll entfalten kann. Der staatlose Mensch ist, wie sich Aristo-
teles ausdrückt, ein Tier oder ein Gott. Die „Politik" soll nach dem
eigenen Zeugnis des Aristoteles den Abschluß der auf das Mensch-
liche bezogenen Philosophie bilden (Eth. Nik. X, 9). Wir kommen auf
dieses Meisterwerk weiter unten in anderem Zusammenhange noch
einmal zu sprechen.
Die auf Aristoteles folgende hellenistisch-römische
Periode der griechischen Philosophie ist für die Entwicklung der Ethik
besonders bedeutsam. Die kleinen griechischen Stadtstaaten verlieren
nach dem Eroberungszuge Alexanders immer mehr ihre Selbständig-
keit und infolgedessen bekommt das Denken der Philosophen eine stark
individualistische Richtung. Dazu kam noch, daß infolge der
vorangegangenen Aufklärungszeit im fünften und vierten vorchrist-
lichen Jahrhundert der Glaube an die überlieferten Götter seine Macht
über die Seelen verloren hatte. So verlangte dann der nunmehr ganz
auf sich selbst gestellte, seiner Götter und seines Staates verlustig ge-
gangene Einzelne von der Philosophie alles das, was ihm früher der
Glaube und die Staatszugehörigkeit gegeben hatte. Jeder sehnte sich
nach Seelenruhe, nach innerer Unabhängigkeit und nach persönlichem
Glück. Aus diesen Gründen treten in der Philosophie dieser Zeit d i e
ethischen Probleme in den Vordergrund. Die Philosophie soll die
Wege der richtigen Lebensführung zeigen und so die Mittel zur Er-
reichung des nunmehr ausschließlichen Lebenszweckes, der indi-
viduellen Glückseligkeit darbieten.
Epikur (340—270 v. Chr.) versuchte diesem Bedürfnisse durch
eine bequeme und leicht annehmbare Welt- und Lebensanschauung zu
genügen. Seine an Demokritos sich anlehnende materialistische Natur-
philosophie soll die Menschen zunächst von der abergläubischen
Furcht vor übersinnlichen Mächten befreien und ihnen die Angst vor
dem Tode benehmen. Als das höchste Gut bezeichnet Epikur, der in
der Ethik sich an Aristipp anschließt, die Lust, aber nicht den für den
Augenblick bestimmten gegenwärtigen Sinnengenuß, sondern das
dauernde Wohlbefinden und vor allem die Schmerzlosigkeit. Er schätzt
ferner die geistigen Freuden höher ein als die sinnlichen, preist
besonders warm den Wert der Freundschaft und rät seinen Jüngern,
sich von Staatsgeschäften fernzuhalten und ein zurückgezogenes stilles
Leben im Verborgenen zu führen (Xdfte ßtrioas).
Epikurs Naturphilosophie ist von dem römischen Dichter Lukrez
(96—55 v. Chr.) in seinem Lehrgedicht „Vom Weltall" (De rerum
natura) eindrucksvoll dargestellt worden. Seine Lebensanschauung hat
Allgemeine Ethik
in dem vielgelesenen Dichter Horaz, der sich selbst ein Tier aus Epi-
kurs I leide nennt, einen warmen und liebenswürdigen Anwalt gefun-
den. Durch diese zwei Dichter, besonders durch Lukrez, ist Epikur
in der Rennis^auce/eü wieder bekannt geworden und dadurch ist seine
i eine auch in der neueren Zeit einflußreich geblieben. Im 17. Jahrhun-
dert hat Gassendi ein großes Werk über Epikur geschrieben und darin
nicht nur die mit der neu entstandenen mathematischen Naturwissen-
schaft übereinstimmende Naturphilosophie Epikurs, sondern auch seine
I tluk gewürdigt. Auch die späteren, auf die Selbstliebe gegründeten
Moralsysteme, wie z. B. das des tielveüus im achtzehnten Jahrhundert,
sind von Epikur beeinflußt.
Über den wertvollsten ethischen Gedanken, den Epikur von Ari-
stipp übernommen hat, den Gedanken nämlich, daß auch die Freude
ein Weg zur inneren Freiheit werden kann, haben wir bereits oben ge-
sprochen. Daraus kann aber ein geläuterter Epikureismus hervorgehen,
der eine EthikderFreude herausarbeitet, die für die fernere sitt-
liche Entwicklung neue Wege zu bahnen berufen ist.
Nachhaltiger als durch Epikur ist die Ethik der Folgezeit von
den Stoikern beeinflußt worden. Diese Philosophenschule, die un-
gefähr gleichzeitig mit der Epikurs begründet wurde (um 300 v. Chr.),
hat, wie bereits oben bemerkt wurde, das philosophische Erbe der
Kyniker übernommen, deren Grundlehren aber selbständig weiter ent-
wickelt. Die sicherste Gewähr der dauernden Glückseligkeit finden die
Stoiker, wie vor ihnen die Kyniker, in der Unabhängigkeit vom
Schicksal, in der Bedürfnislosigkeit und im kraftvollen Vertrauen auf
die eigene Vernunft. Das höchste Gut ist für sie nicht die Lust, sondern
die Freiheit von Leidenschaften, die Apathie. Um dazu zu gelangen,
muß man ein Leben führen, das mit der Naturübereinstimmt.
Wie Epikur, so gründen nämlich auch die Stoiker ihre Ethik auf eine
bestimmte Naturphilosophie. Diese ist bei den Stoikern m a-
terialistisch und pantheistisch zugleich. Die ganze Welt
ist für die Stoiker ein großer, lebendiger Körper, dessen Teile sämtlich
von dem göttlichen Urfeuer, vom Lebenshauch (Pneuma) durchdrungen
werden. Dieses Pneuma ist in verschiedenen Graden der Reinheit und
der Feinheit vorhanden. In den unorganischen Körpern bewirkt es den
Zusammenhalt der Teile, bei Pflanzen und Tieren ist es der Quell des
sich selbst erhaltenden Lebens. Im Menschen wirkt es als vernünftig
erkennende und das Vernünftige wollende Seele. In der Natur herrscht
unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit, die von den Stoikern als „Schicksal"
bezeichnet wird. Zugleich aber wirkt das göttliche Urfeuer, aus dem
die Welt hervorgeht, auch als anerkennende Vernunft und als zweck-
setzende Intelligenz. Neben dem unerbittlichen Schicksal steht die gütig
vorsorgende Vorsehung. Ja, es ist ein und dasselbe reale, materielle
Wesen, das beide Funktionen ausübt, die kausale Bewirkung alles Ge-
schehens und die Hinführung dieses Geschehens zum schönsten, besten
und vernünftigsten Zweck *).
*) Ich folge in der Darstellung der stoischen Lehre den vortrefflichen Dar-
ungen Hans v. Arnims (Aller. Gesch. der Philosophie), S. 219 ff., in dem
Sammelwerke ..Die Kultur der Gegenwart", I, 5.
§ 42. Entwicklung der Ethik 183
Der Mensch besitzt nun im „führenden" Teil seiner Seele (im
Hegemonikon) eine geistige Kraft, die der göttlichen Weltvernunft
wesensgleich ist. Bringt er diese seine Vernunft zur vollen Entfaltung,
so daß sie imstande ist, die störenden Triebe und Affekte niederzuhalten,
dann erfüllt er seine eigentliche Bestimmung, dann erwirbt er die
Tugend und findet in ihrem Besitz das wahre und dauernde Glück. Da
nun, wie bereits bemerkt wurde, die menschliche Vernunft mit der gött-
lichen Weltvernunft wesensgleich ist, so ist das der Vernunft gemäße
Leben, in dem die Tugend besteht, zugleich in vollem Einklänge mit
der den Naturlauf bestimmenden Weltvernunft und somit auch über-
einstimmend mit der Natur.
Die Begründer und ersten Häupter der stoischen Schule (Zeno,
Kleanthes und besonders Chrysippus) bilden diese Lehre mit schroffer
Konsequenz aus. Wer vernunftgemäß lebt, der ist ganz unabhängig
vom Schicksal, frei von Leidenschaften, vollkommen tugendhaft und
damit zugleich vollkommen glücklich. Er hat die Gottheit in seinen
Willen aufgenommen und wird dadurch den Göttern gleich. Dieses
Ideal des Weisen schildern die Stoiker mit den stärksten Aus-
drücken und können sich in seinem Preise gar nicht genug tun. Wer
dagegen die Vernunft in sich nicht zur Herrschaft bringen kann, der
bleibt ein unwissender Tor, wird von Begierden und Leidenschaften
hin- und hergeworfen und kann daher niemals die Seelenruhe, niemals
die Tugend und deshalb auch niemals die Glückseligkeit gewinnen.
Zwischen dem Weisen und dem Toren, zwischen dem Tugendhaften und
dem Schlechten gibt es bei den älteren Stoikern keine Übergänge. Man
muß die Tugend und damit das Glück entweder ganz besitzen oder
ihrer vollständig entraten. Für den vollkommen Weisen sind Lust, Ge-
sundheit, Reichtum, Ehre und Ruhm keine Güter, Krankheit, körper-
licher Schmerz, Armut keine Übel. Alles dies gehört für ihn zu den
gleichgültigen Dingen (Adiaphora). Zwischen diesen Adiaphora gibt
es nun allerdings doch Wertunterschiede. Alles das, was dem natür-
lichen Selbsterhaltungstriebe gemäß ist, wie Gesundheit, Kraft, gutes
Gedächtnis, leichte Auffassungsgabe, das gehört zu den „bevorzugten"
Dingen (Proegmena), was diesem Triebe widerstreitet, wie z. B.
Schmerz, Krankheit, seelische Stumpfheit wird den „nicht bevorzugten",
den zu vermeidenden Dingen zugezählt (Apoproegmena). Was und
wieviel uns von diesen Dingen zuteil wird, hängt nicht von uns ab und
deshalb sind sie weder Güter noch Übel. Zu wahren Gütern werden
sie erst durch den Gebrauch, den der Weise von ihnen macht, und so
ändert diese Unterscheidung nichts an der konsequenten Strenge der
stoischen Tugendlehre. Nur ein der Vernunft gemäßes und eben des-
halb auch mit der wahren Natur des Menschen übereinstimmendes
Leben entspricht den Forderungen der Tugend. Ihr Besitz aber macht
uns vollkommen frei von Leidenschaften, ganz unabhängig vom Schick-
sal und bedeutet somit für jeden auch die vollkommenste Glückseligkeit.
Die Stoiker haben somit die von Sokrates aufgestellte Forderung
nach vollständiger Autonomie und Autarkie des sittlichen Be-
wußtseins streng durchgeführt und ihr durch die metaphysische Be-
gründung einen festen Halt gegeben. Die Geschlossenheit ihres
184 Allgemeine Ethik
Systems und die Strenge ihrer sittlichen Vorschriften hat dieser Philo-
sophie m Kom Eingang verschafft und durch die Vermittlung von
( icero und Seneca haben ihre Gedanken auf die Philosophie der Neu-
zeit mächtig eingewirkt. Wir finden die Spuren stoischen Denkens ganz
deutlich bei Descartes, bei Spinoza und insbesondere in der Ethik
Kants.
Der nachhaltige Einfluß der stoischen Ethik ist aber nicht bloß
auf die Strenge ihrer sittlichen Forderung zurückzuführen. Es kommt
dabei muh ein anderes wichtiges Moment in Betracht, das bisher nicht
genügend erkannt und gewürdigt wurde. Die Ethik der Stoiker ist so
u Ie die Epikurs zunächst ebenfalls rein individualistisch ge-
richtet. Sie soll dem Einzelnen den Weg zeigen, wie er in sich die Ver-
nunft zur Herrschaft bringen, die Leidenschaften überwinden und da-
durch zur inneren Freiheit, zur Unabhängigkeit vom Schicksal, zur
Tugend und zur Glückseligkeit gelangen kann. Nun führt aber, wie
weiter unten ausführlicher gezeigt werden soll, der Individualismus
mit einer Art von Naturnotwendigkeit zum Universalismus und
zum Kosmopolitismus. Diesen Übergang haben nun die Stoiker
mit ausgesprochener Deutlichkeit vollzogen. Die Vernunft ist allen
Menschen in gleicher Weise gegeben. Wer also die Vernunft in sich zur
Herrschaft gebracht hat, der lebt in natürlicher Gemeinschaft mit allen
Vernunftwesen. Er ist Bürger eines großen Staates, der die ganze Welt
umfaßt und auch die Götter in sich schließt. Aus dieser Idee der Ein-
heit des Menschengeschlechtes und des Weltbürgertums haben nun die
Stoiker die neue sittliche Forderung der allgemeinen Mensch-
lichkeit abgeleitet, die uns gebietet, in jedem unserer Neben-
menschen das Menschentum anzuerkennen, an allem, was ihn betrifft,
verständnisvollen Anteil zu nehmen, ihm zu helfen, wenn er in Net ist,
freundlich mit ihm zu verkehren, zugleich aber auch in uns selbst den
Sinn für jede Art feinerer Ausbildung des Geistes und des Herzens
zu wecken. Neuere Forschungen haben ergeben, daß es besonders der
Stoiker Panaeüus aus Rhodus (zirka 180—110 v. Chr.) war, der für
diese neue Forderung in Wort und Schrift mit besonderem Nachdruck
eingetreten ist. Panaeüus war viel in Rom und verkehrte dort in dem
vornehmen und gebildeten Kreise, der sich um den jüngeren Scipio ge-
bildet hatte. Dort ist wahrscheinlich der sprachliche Ausdruck für diese
neue sittliche Pflicht geprägt worden. Sie wurde als „h u m a n i t a s",
als Menschlichkeit, als Humanität bezeichnet und in diesem Wort
verdichteten sich hinfort alle auf edlere Menschlichkeit, auf Güte und
Wohlwollen, auf innere Anteilnahme gerichteten ethischen Bestre-
bungen •). Demselben Kreise gehörte auch der Lustspieldichter Terenz
an und es ist deshalb kein bloßer Zufall, daß das oft zitierte Glaubens-
bekenntnis der Humanität „Ein Mensch bin ich, nichts Menschliches
ist mir tremd" (homo sum, humani nil a me alienum puto) sich in
einem seiner Lustspiele findet**). Aus dieser Forderung ergeben sich
nun viele neue Pflichten für den Verkehr der Menschen untereinander
•) Vgl. Reitzcnstcin, „Werden und Wesen der Humanität im Altertum", 1907.
'•) Heauton Timorumenos V. 77.
§ 42. Entwicklung der Ethik 185
und es ist deshalb begreiflich, daß Panaetius ein eigenes Buch über
die Pflichten verfaßt hat, dessen Inhalt und Gedankengang wir aus
Ciceros freier Bearbeitung kennen *). Damit ist aber die Lehre von
den Pflichten, die z. B. bei Aristoteles noch gar nicht behandelt wird,
zu einem unentbehrlichen Bestandstück der wissenschaftlichen Ethik
geworden, das nicht mehr daraus verschwinden kann.
Wie stark die von Panaetius aufgestellte und von seinem römi-
schen Kreise weitergebildete Forderung der Humanität auf die Neuzeit
gewirkt hat, sieht man schon daraus, daß Herder die Entwicklung zur
Humanität als den Sinn der Weltgeschichte ansah, daß Wilhelm von
Humboldt eine Philosophie der Humanität zu begründen unternahm,
und daß in der neuesten Zeit Wilhelm Wundt den Gedanken Herders
wieder aufgenommen und völkerpsychologisch zu begründen ver-
sucht hat.
Die Stoiker haben also nicht nur die von Sokrates aufgestellten
Forderungen der Autonomie und der Autarkie des sittlichen Bewußt-
seins weitergebildet und vertieft, sondern auch neue und wertvolle An-
regungen für das Nachdenken über sittliche Fragen gegeben, die bis
auf unsere Tage fortwirken. Dazu gehört besonders die Idee des Welt-
bürgertums und der daraus entstandene Gedanke der Humanität. Des-
halb sind die auf uns gekommenen Lehren und Schriften der
Stoiker auch heute noch besonders geeignet, denen, die darnach ver-
langen, sittliche Belehrung und Erbauung zu bieten **).
Der Grundzug der stoischen Ethik ist die Herrschaft der Vernunft
über die Affekte. In dem Ideal des Weisen, das die Stoiker so gerne
schildern, gelangt diese Herrschaft zur Vollendung und damit ist
Tugend und Glückseligkeit vollkommen. Zu dieser Höhe vermögen sich
aber nur ganz wenige hinaufzuschwingen. Die überwältigende Mehr-
zahl der Menschen fühlt sich unfähig, aus eigener Kraft zur Selbst-
erlösung zu gelangen. Deshalb sehen sich die meisten nach über-
irdischer Hilfe um und so entsteht in der ganzen hellenistisch-römischen
*) Cicero „De ofh'ciis" (Über die Pflichten), in drei Büchern. Was darin
dem Panaetius gehört, hat Schmekel (Philosophie der mittleren Stoa, 1892,
S. 29 — 46) sorgfältig herausgearbeitet.
**) Von den Vertretern der älteren und der mittleren Stoa sind uns nur
Bruchstücke oder fremde Bearbeitungen erhalten. Die Lehren der älteren Stoiker,
besonders die des Chrysippus, sind jetzt vollständig gesammelt und übersichtlich
geordnet in dem Werke .,Stoicorum veterum fragmenta" von Hans v. Arnim in
5 Bänden (1903). Die ethischen Fragmente finden sich im dritten Bande. Die
mittlere Stoa, deren Hauptvertreter Panaetius und Posidonius waren, kennen wir
aus Ciceros Schrift Von den Pflichten und aus seinen allerdings nur fragmen-
tarisch erhaltenen Werken über den Staat (de republica) und über die Gesetze (de
legibus). Dagegen besitzen wir von den Stoikern der römischen Kaiserzeit voll-
ständige Werke und gerade diese sind für die Gegenwart bedeutsam. Da ist zu-
nächst Seneca zu nennen, der Lehrer des Kaisers Nero, auf dessen Befehl er sich
im Jahre 65 v. Chr. selbst den Tod gab. Von seinen Schriften sind besonders die
124 Briefe moralischen Inhalts hervorzuheben. Ferner die Schriften über den
Zorn, über die Milde, über Wohltun, die Trostschrift an seine Mutter Hclvia, über
das glückliche Leben, über die Ruhe des Gemütes. Sehr eindrucksvoll sind ferner
die Schriften des Epiktet, die von seinem Schüler Arrian herausgegeben wurden,
und ebenso die „Selbstbetrachtungen" des Kaisers Mark Aurel, des Stoikers auf
dem Throne.
1 36 Allgemeine Ethik-
Welt eine tiefe Sehnsucht nach religiöser Erbauung und Beruhi-
gung. Da jedoch der ülaube an die olympischen Götter erschüttert
war, suchte mau bei fremden, namentlich bei orientalischen Gottheiten
Zuflucht. Man betete zu den ägyptischen Gottheiten Serapis und Isis,
/.u der phrygischen Göttermutter Kybele und besonders zum persischen
Mithras. Auch der geheimnisvolle, durch kein Kultbild dargestellte
i i-itt der Juden Fand vielfach unter den Heiden Gläubige und Verehrer.
I läufig traten Wahrsager, Wundermänner und Zauberer auf und fan-
den leieln eine Gemeinde.
Die Philosophie sah sich veranlaßt, diesem religiösen Be-
dürfnis Rechnung zu tragen. Die Stoiker ließen den Volksglauben
gelten und versuchten, durch allegorische Umdeutung der überlieferten
Mythen die volkstümlichen Überlieferungen in ihr philosophisches
System aufzunehmen. Von dieser Methode machen dann auch die
jüdisch-alexandrinischen Denker Gebrauch, als deren
weitaus hervorragendster Vertreter Philo von Alexandria (20 v. Chr.
bis 50 n. Chr.) zu betrachten ist. Philo ist ein frommer, gesetzestreuer
Jude, der tief in die griechische Philosophie eingedrungen und haupt-
sächlich von Piaton und von den Stoikern beeinflußt ist. In zahlreichen
Schriften, die sich meistens an die fünf Bücher Mosis anlehnen, sucht
er darzutun, daß in der jüdischen Religion die erhabenste und reinste
Gotteslehre und Sittenlehre enthalten ist. Diese aber stimmt mit der
wahren Philosophie, wie sie von Piaton und von den Stoikern gelehrt
wird, vollständig überein. Philo hat den Gottesbegriff von den ihm in
der Bibel beigelegten Vermenschlichungen gereinigt und betrachtet
Gott als das höchste Wesen, das vollendet in sich ist und sich selbst
genügt. Er ist von der Welt geschieden und erfüllt sie doch ganz. Seine
Eigenart kann der Menschengeist nie ganz ergründen. Bei der Welt-
schöpfung bedient sich Gott der in ihm wohnenden, aber nicht mit ihm
identischen Weltvernunft, des „Logos", der zwischen Gott und Welt
in der Mitte steht und beide miteinander verbindet. Philo nennt den
Logos gelegentlich auch den erstgeborenen Sohn Gottes oder den
„zweiten Gott" und schreibt ihm auch die Aufgabe zu, der Fürsprecher
zu sein für das sterbliche Geschlecht in seinen Ängsten vor dem Ewigen.
Durch diese Lehre hat Philo sehr nachhaltig auf die christliche
Theologie eingewirkt. Von den Kirchenvätern wird er sehr häufig zitiert
und diesem Umstände ist es auch zu danken, daß seine Werke uns er-
halten blieben.
Für die Entwicklung der Ethik wird Philo dadurch bedeutsam,
daß er neben der weltlichen Ethik, die er ganz nach den Grundsätzen
der Stoiker darstellt, dem Menschen noch eine höhere Aufgabe stellt.
Wenn die Seele die volle Glückseligkeit erlangen will, dann muß sie
nicht bloß sich von der Sinnlichkeit abwenden, nicht bloß die Leiden-
schaften überwinden, sondern auch über das Denken hinausgehen. Sie
muß sich selbst zu entrinnen suchen und in Ekstase aus sich selbst
heraustreten, um sich dann in einer Art von Enthusiasmus mit Gott
selbst zu vereinigen und ganz in ihm zu verharren.
In dieser mystischen und theologischen Richtung der Ethik sind
dem Philo die Neupia toniker gefolgt, als deren weitaus be-
§ 42. Entwicklung der Ethik 187
deutendsten Vertreter wir Plotin betrachten müssen (204—269 n. Chr.).
Die Schriften dieses tiefen Denkers sind von seinem Schüler Porphy-
rius mit großer Sorgfalt herausgegeben und geordnet worden. (Vgl.
S. 63.) Plotins Denken ist theologisch gerichtet. Die Gottheit ist
für ihn das Ur-Eine, aus dem das Weltall herausströmt. Die Welt
ist bei Plotin nicht durch einen schöpferischen Willensakt hervorge-
bracht worden wie bei Philo. Es ist vielmehr das Ur-Eine oder die Gott-
heit, die nichts verlangte und nichts bedurfte, in seiner Fülle über-
geströmt, und seine Überfülle hat dann das andere ins Dasein gerufen.
(V, 2, 1.) So ging aus dem Ur-Einen zunächst der Geist und die
Ideen hervor, aus diesen entstand die Seele und aus dieser erst die
M a t e r i e, die vom Ur-Einen am weitesten entfernt ist und keinen An-
teil hat am wirklichen Sein und deshalb auch nicht an dem Guten.
Die Materie ist für Plotin das Nichtseiende und das Böse. Deshalb
besteht die sittliche Aufgabe der Seele darin, daß sie sich mit voller
Kraft auf sich selbst konzentriert, die Materie und die Sinnlichkeit
überwindet und sich aufs neue mit dem Ur-Einen, mit der Gottheit ver-
bindet, aus der sie hervorgegangen ist. Plotin glaubte, daß er solche
Zustände oft selbst erlebt habe, und schildert dies einmal mit folgenden
Worten : „Oft schon bin ich aus meinem Körper zu mir selbst erwacht,
befand mich außerhalb alles anderen, aber innerhalb meiner selbst.
Ich sah eine Schönheit von wunderbarer Größe, und war überzeugt,
das bessere Teil ergriffen, das beste Leben verwirklicht zu haben und
mit der Gottheit eins geworden zu sein, in ihr fest zu ruhen und mich
über alles Denkbare erhoben zu haben." (IV, 8, 1.)
Wir haben bereits oben Plotin als den Begründer der philoso-
phischen Mystik kennen gelernt (S. 63 f.). Hier sehen wir, daß er die
Vereinigung mit Gott zugleich als die höchste sittliche Aufgabe
betrachtet. Für die Entwicklung der Ethik ist Plotin aber auch dadurch
bedeutsam, daß er mit voller Schärfe betont, nicht die Handlungen
seien an sich gut, sondern „die Gesinnungen sind es, welche auch
die Handlungen zu guten machen". (I, 5, 10.) Die „bürgerlichen"
Tugenden, die von Plato und den Stoikern als die grundlegenden, als
die Kardinaltugenden bezeichnet wurden, die Weisheit, die Tapferkeit,
die Mäßigkeit (Sophrosyne) und die Gerechtigkeit, haben nach Plotin
ihren Wert darin, daß sie dazu beitragen, die Herrschaft der Vernunft
über die Affekte zu befestigen. Sie sind aber nur Mittel und Wege zum
höchsten Zweck und zum höchsten Ziel, zur schließlichen Einswerdung
der Seele mit dem Urquell alles Seins, mit der Gottheit.
Plotin ist der letzte große Denker, den das Altertum hervor-
gebracht hat, und wir dürfen also mit ihm die Darstellung der anti-
ken Ethik beschließen und nun darangehen, die Bedeutung derselben
für die Entwicklung des Nachdenkens über sittliche Fragen zusammen-
zufassen.
Als das charakteristische Merkmal der antiken Sittenlehre wird
gewöhnlich die Richtung auf die individuelle Glückselig-
keit bezeichnet. Nach dem griechischen Worte für Glückseligkeit
(Eudaimonia) nennt man diese Denkrichtung der Ethik „E u d a i-
m o n i s m u s". Man kann diese Behauptung, wenn auch nicht unein-
ls>s Allgemeine Hthik
geschränkt, so doch im allgemeinen als richtig gelten lassen, man muß
aber sagen, daß damit der Wert der antiken Ethik keineswegs ge-
bührend eingeschätzt ist. Wichtiger ist schon die Tatsache, daß die
meisten Sittenlehrer des Altertums die Herrschaft der Vernunft über die
Affekte als die bedeutsamste sittliche Forderung bezeichnen. In diesem
intellektualistischen Zuge der antiken Ethik ist aber die
überaus wichtige Wahrheit enthalten, daß das Nachdenken über
sittliche Probleme die unerläßliche Vorbedingung für den
ethischen Fortschritt ist. Wir können aber noch viel mehr und viel Be-
deutenderes von den ethischen Denkern des Altertums lernen. Schon
Sokrates hat die Autonomie und die Autarkie des sittlichen
Bewußtseins als Forderung verkündet und damit für die Moralphilo-
sophie Kants eigentlich die Grundlage geschaffen. Piaton und Aristo-
ieles haben auf den engen Zusammenhang zwischen den sittlichen For-
derungen und dem Gemeinschaftsleben hingewiesen und die
ethischen Aufgaben des Staates betont. Damit haben sie aber An-
regungen gegeben, die wir erst heute ganz würdigen können. In dieser
Beziehung möchte ich noch nachträglich darauf hinweisen, daß der
Geschichtschreiber Polybius (200—120 v. Chr.) in der Übersicht über
die verschiedenen Staatsformeii, die er am Anfang des sechsten Buches
seines großen Geschichtswerkes gibt, ausdrücklich sagt, daß erst durch
die Gewohnheit des geordneten Zusammenlebens sich bei den Menschen
die Begriffe der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit gebildet haben, und
daß aus der naturgemäßen Billigung des Guten und Mißbilligung des
Bösen das bewußte Nachdenken über diese Fragen hervorging, und
daß dies die Grundlage der Gerechtigkeit sei {Polybius VI, 5, 10,
u. VI, 6, 7). Wir haben also bereits im Altertum die Keime zu einer
soziologischen Ethik gegeben.
[n der hellenistisch-römischen Periode tritt nun allerdings die i n-
dividualistische Richtung der Ethik wieder stärker hervor.
Daraus ist jedoch, wie wir gezeigt haben, die Idee der ganzen Mensch-
heit als einer großen Einheit hervorgegangen und dieser Gedanke ist,
wie wir später zeigen werden, für die Entwicklung der Ethik von fun-
damentaler Bedeutung. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der
Menschheitsgedanke gerade jetzt nach dem Weltkriege zu neuem Leben
erwachen wird und für die ethische Zielsetzung richtunggebend zu
werden bestimmt ist. Das Altertum hat aber aus dieser großen Idee die
Pflicht der allgemeinen Menschlichkeit entwickelt und so
den Gedanken der Humanität geschaffen, der die neuere Ethik
eine Zeitlang fast allein beherrscht hat, wobei die Beziehung auf das
klassische Altertum immer lebendig geblieben ist.
Philo und Platin haben der Ethik eine tief religiöse Richtung ge-
geben und stehen damit schon mitten in der geistigen Bewegung, die
durch das Christentum geschaffen wurde. Beide haben tatsächlich auf
die Entwicklung der christlichen Lehre stark eingewirkt.
Wir dürfen also sagen: Die antike Ethik hat für die psycho-
logische, für die soziologische, für die metaphysische und religiöse Be-
gründung der Sittenlehre die Fundamente gelegt, auf denen die neuere
Philosophie weiter gebaut hat. Sie hat aber auch die Selbständigkeit
§ 42. Entwicklung der Ethik 189
und Eigenberechtigung der sittlichen Forderungen energisch betont
und ist auch dadurch wieder bis auf unsere Zeit herab fruchtbar ge-
blieben. Von Plato und von den Stoikern sind ethische Gedanken ge-
formt worden, deren Bedeutung wir erst heute würdigen, und deren
Verwirklichung wir erst von der Zukunft erhoffen. Wir haben deshalb
die antike Ethik etwas ausführlicher dargestellt und werden uns für
die Folgezeit kürzer fassen können.
Das Christentum hat in den ersten Jahrhunderten seiner
Entwicklung viele Elemente der antiken Philosophie in seine Welt-
anschauung und in seine Sittenlehre aufgenommen. Allein die Grund-
lage der christlichen Ethik bildet, wie dies durch die Zeit und durch
den Ort der Entstehung des Christentums gegeben ist, die Sittenlehre
des Alten Testamentes. Die Ethik des Judentums unterscheidet
sich von der philosophischen Ethik der Griechen zunächst durch ihren
streng theologischen Charakter. Die Sittengesetze sind ebenso
wie die zahlreichen Vorschriften über Reinigungen, über Opfer und
Feste, Gebote Gottes, die er seinem erwählten Volke auferlegt, Gebote,
deren Erfüllung er mit Strenge fordert, und deren Übertretung er mit
schweren Strafen bedroht. Trotzdem aber besteht die Sittlichkeit und
Frömmigkeit keineswegs bloß in äußerem Gehorsam. Gott verlangt
vielmehr innere Hingabe an seinen Willen. Sein Grundgebot
lautet : „Heilig sollt ihr mir sein, denn heilig bin ich, der Herr". (3. Mos.
IQ, 2.) „Ihr sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heilig Volk."
(2. Mos. 19, 6.) In den fünf Büchern Mosis, die in der jüdischen Theo-
logie kurz die „Thora", das heißt die Lehre, genannt werden, sind
Zeremonialgesetze und Sittengesetze enthalten und das Ganze wird
wiederholt als eine Einheit bezeichnet, zu der nichts hinzugefügt und
von der nichts hinweggenommen werden darf. Dort finden sich auch
in zwei nicht ganz gleich lautenden Fassungen die sogenannten Zehn
Gebote, die durch das Christentum, welches sie übernahm, zum all-
gemeinen Sittenkodex der Menschheit geworden sind. (2. Mos. 20,
1— 17und5.yWos.5,6— 18.) Die großen Propheten Israels, unter denen
Arnos, Jesaia, Micha, Jeremia, Ezechiel und der sogenannte Deutero-
Jesaia besonders hervorragen, haben dann das Zeremonialgesetz als
weniger bedeutsam hingestellt und vor allem die Erfüllung der sitt-
lichen Forderungen als das Wesentliche, ja als das allein Maß-
gebende bezeichnet. So betont z. B. der Prophet Micha die sittliche
Wertlosigkeit der Opfer, indem er sagt : „Hat Gott etwa Wohlgefallen
an Tausenden von Widdern, an Myriaden von Strömen Öles? Soll ich
etwa meinen Erstgeborenen als Sühne für mich hingeben, die Frucht
meines Leibes als Sühnopfer für mein Leben? Er hat dir gesagt,
o Mensch, was gut ist, und nichts anderes fordert Gott von dir, als daß
du Gerechtigkeit übest, Liebe beweisest und in Demut wandelst vor
deinem Gott." {Micha 6, v. 7 u. 8.)
Noch schärfer eifert De utero- Jesaia *) gegen die Verdienstlichkeit
des Fastens und fordert statt dessen Werke der Nächstenliebe. Daß von
*) So bezeichnet man den großen Unbekannten unter den Propheten, der
zur Zeit des Perserkönigs Cyrus (6. Jahrh. v. Chr.) lebte. Seine Reden sind in
unserer Bibel mit denen des Jesaia (8. Jahrh. v. Chr.) vereinigt (Kap. 40—66).
1 .iii Allgemeine lithik
dem wahrhaft Frommen nur die I Erfüllung der sittlichen Pflichten
verlangt wird, das ist besonders deutlich und wirksam ausgesprochen
im fünfzehnten Psalm. Dieser beginnt mit der Frage: „Wer wird weilen
in deinem Zelte, o I lerr, wer wird wohnen auf deinem heiligen Berge?"
Die Antwort lautet: „Wer in Unschuld wandelt und Gerechtigkeit übt
und Wahrheit redet in seinem Merzen. Keine Verleumdung schwebt
auf seiner Zunge, er fügt seinem Mitmenschen nichts Böses zu und
ladet keine Schande auf seinen Nächsten. Der Verächtliche ist in seinen
Augen verworfen, die den Herrn fürchten, denen erweiset er Ehre. Er
schwört sich zum Schaden und ändert es nicht. Sein Geld leiht er nicht
aus auf Zinsen, Bestechung gegen den Unschuldigen nimmt er nicht
an. Wer so handelt, der wankt nicht in Ewigkeit."
In der Zeit nach dem babylonischen Exil wurde das Gesetz beson-
ders durch die Anregung Esras eifrig studiert und dadurch der Be-
griff der „Thora" wesentlich erweitert. Man nahm an, daß Moses von
Gott noch viele Erläuterungen zu den Vorschriften vernommen und
diese durch mündliche Mitteilung seinem Volke überliefert hatte. Alle
diese im Laufe der Zeiten sich immer mehrenden Einzelbestimmungen
werden mit zur Thora gerechnet, die dadurch an Umfang stetig zu-
nahm *). Sie ist die Summe alles dessen, was Gott seinem Volke ge-
offenbart hat. Das tägliche Leben des Einzelnen wird dadurch auf das
strengste geregelt, allein der Fromme fühlt sich dabei keineswegs
beengt und bedrückt, sondern freut sich vielmehr, daß er so oft Ge-
legenheit hat, Gottes Gebote zu erfüllen und ihm so zu dienen.
Aber auch in dieser Zeit, von der manche Geschichtschreiber be-
haupten, daß hier die rein äußerliche Befolgung der Zeremonial-
vorschriften den ganzen Inhalt der Frömmigkeit bildete, blieb für die
tiefer Blickenden das Sittengesetz der weitaus wichtigste Inhalt der
Thora. Dies beweist folgende im Talmud überlieferte Geschichte. Zu
dem Weisen Hillel, der ungefähr zur Zeit Christi in Palästina lebte
und lehrte, kam einst ein Heide und erklärte ihm, er möchte sich zum
Judentum bekehren, wenn ihm Hillel die Grundlehren dieser Religion
in der Zeit mitteilen könne, während er auf einem Fuße stehe. Mit dem-
selben Ansinnen war er kurz zuvor von einem anderen Schriftgelehrten
schroff abgewiesen worden. Hillel aber sagte zu ihm: „Was du nicht
willst, daß dir geschehe, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist
die ganze Thora, alles Übrige ist nur die Erklärung dazu. Geh hin und
lerne"**).
Daß zur Zeit der Entstehung des Christentums eine derartige Kon-
zentration der jüdischen Religionslehre auf das reine Sittengesetz mög-
lich war, beweist deutlich, daß die Thora auf die äußere Erfüllung des
Gesetzes niemals das Hauptgewicht gelegt hat. Werktätige Menschen-
liebe, strenge Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen, unbedingte Wahr-
•) Der Begriff der Thora und ihre religions-geschichtliche Bedeutung ist
.im tiefsten erfalh und am klarsten herausgestellt von dem englischen Geistlichen
Travers Herford in seinem Werke „Das pharisäische Judentum" (deutsche Über-
etzune v. Rosalia Pcrlcs mit einer 1 inleitung von Felix Perlcs 1913), S. 48 — 92.
**) Babylonischer Talmud. Traktat Sabbath p. 31.
§ 42. Entwicklung der Ethik IQ]
haftigkeit sind die Forderungen, die von allen hervorragenden Sitten-
lehrern des Judentums immer wieder als das Wesentliche der jüdischen
Frömmigkeit bezeichnet werden. Ihren theologischen Charakter behält
aber die jüdische Ethik immer bei. Die Sittengesetze sind Gebote Gottes.
Als Grundforderungen der jüdischen Ethik darf man vielleicht in
kurzer Zusammenfassung die Gottesliebe und die Menschen-
liebe bezeichnen.
Auf diesem geistigen Boden ist das Christentum entstanden.
Sein erhabener Stifter hat die soeben genannten Grundforderungen aus-
drücklich anerkannt. Heißt es doch wörtlich im Evangelium Matthaei
(22, 36 ff.): „Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?
Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von
ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (5. Mos.
6, 5). Das ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist
ihm gleich. Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst (3. Mos.
19, 18). In diesen zwei Geboten hanget das ganze Gesetz und die Pro-
pheten." Da Christus überdies ausdrücklich sagt, er sei nicht ge-
kommen, um das Gesetz, das heißt die Thora, aufzulösen, sondern zu
erfüllen, so unterscheidet sich seine Predigt nicht wesentlich von der
der alten Propheten. Er treibt die Wechsler und die Krämer aus dem
Tempel, eifert gegen die Scheinheiligkeit der Schriftgelehrten, dehnt die
Liebespflicht auch auf die Feinde aus, verlangt von seinen Anhängern
eine gründliche Sinnesänderung, betont die Wertlosigkeit der irdischen
Güter, fordert Sanftmut, Friedfertigkeit und demutsvolle Hingabe an
Gott und verkündet das Nahen des Himmelreiches. Das Christentum
Christi erscheint für die objektive geschichtliche Beurteilung als eine
sittliche Läuterung des Judentums, wobei der Jenseitsgedanke stärker
betont wird, als dies im Alten Testament der Fall war.
Seine weltgeschichtliche Bedeutung erlangt aber das Christen-
tum erst dadurch, daß der Kreuzestod Christi von seinen Jüngern dahin
gedeutet wird, daß Christus durch seinen Tod, den er auf sich nahm,
die Menschheit von der Erbsünde erlöst hat, die ihr von Adam her an-
haftet und dadurch erst die Menschen des ewigen Heiles fähig und
würdig gemacht hat. Jetzt ist Jesus von Nazareth kein reformierender
Prophet mehr. Er ist zum Erlöser, zum Heiland, zum Messias, zum
Christus*), zum eingeborenen Sohn Gottes geworden, der mit dem
Vater wesensgleich ist. Diese Lehre vom göttlichen Heiland verkündet
der Apostel Paulus nicht mehr bloß den Juden, sondern in viel weiterem
Umfange den Heiden und findet unter diesen zahlreiche Anhänger. In-
folgedessen scheidet sich das Christentum immer deutlicher vom Juden-
tum und tritt schon im zweiten Jahrhundert in entschiedenen Gegensatz
dazu. Die Christen nehmen auch das Alte Testament als die ihnen zu-
teil gewordene Offenbarung für sich in Anspruch und deuten viele
Weissagungen der alten Propheten auf die Erscheinung Christi. Die
zahlreichen Gemeinden schließen sich allmählich zu größeren Verbän-
den zusammen und so entsteht im vierten Jahrhundert die große
*) Christus (yowro? von yptw — ich salbe) ist die wörtliche Übersetzung von
„Messias" (hebr. Meschiach, der Gesalbte).
] o_> Allgemeine Ethik
< Organisation der katholischen (allgemeinen) Kirche, die für die
sittliche Entwicklung der abendländischen Menschheit von so großer
Bedeutung werden sollte.
Die Kirche verlangt von ihren Anhängern zunächst Festigkeit
im Glauben an Christum, zuversichtliche Hoffnung auf das
künftige Heil und besonders werktätige Liebe. Alle Menschen sind
Kuider Gottes und, soweit sie zur Kirche gehören, überdies Brüder in
Christo. Dieser universalistische Charakter der römisch-katholischen
Kirche hat /weifellos erziehlich auf die germanische Welt des Mittel-
alter gewirkt. Trotz allen individuellen und nationalen Differenzen
haben sich da gewisse einheitliche Grundsätze der Welt- und Lebens-
anschauung ausgeprägt, die bis tief in die Neuzeit hinein und vielfach
bis zur Gegenwart die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins be-
stimmt haben.
Dazu gehört vor allem der asketische, weltvernei-
n ende Zug im kirchlichen Christentum. Schon in den Evangelien
tritt uns der neue Glaube als Erlösungsreligion, als Jenseitshoffnung
entgegen. Das verstärkt sich nun im Laufe der Zeit derart, daß das
irdische Leben ganz und gar als sündhaft betrachtet wird. Der
Christenmensch muß sich durch Bußübungen und Kasteiungen von
dieser Sündhaftigkeit rein zu erhalten suchen und sich so auf das wahre
Leben vorbereiten, das erst nach dem Tode beginnt. Gott und Welt sind
Gegensätze. Der im Jahre 630 verstorbene spanische Bischof Isidor
erklärte: „Gut ist die Absicht, welche auf Gott, böse aber diejenige,
welche auf irdischen Gewinn oder vergänglichen Ruhm gerichtet ist."
Bernhard von Clairvaux mahnte einmal zur Gottesfurcht mit den
Worten: „Vergiß dein Volk, dein Vaterhaus, entsage den fleischlichen
Neigungen, verliere die weltlichen Sitten." Auch Katharina von Siena
stellte Reichtum und weltliche Ehren auf eine Stufe mit sündhafter
Sinnlichkeit: „Die Welt," sagte sie, „ist Gott entgegen und Gott der
Welt. Beide haben nichts miteinander gemein. Der Sohn Gottes er-
wählte sich Armut, Niedrigkeit, Verhöhnung, Hunger und Durst. Die
Welt sucht Reichtum, Ehren und Lüste." Am vollständigsten klang
diese weltverneinende Stimmung des Mittelalters in der Schrift „Über
die Verachtung der Welt" aus, welche der Papst Innozenz III. als
Kardinal vor dem Jahre 1198 verfaßte. In derselben heißt es: „Wir
sterben, indem wir leben, und dann erst hören wir auf zu sterben, wenn
wir aufhören zu leben" *). In der Zeit der Gegenreformation (16. und
17. Jahrhundert) hat der Jesuitenorden die Pflicht der Askese noch
-i irker betont und ausdrücklich verlangt, daß der fromme Christ sich
selbst irii willig Qualen und Leiden auferlege. (Belege bei Eicken
807 ff.)
Infolgedessen hat sich in der christlichen Welt allmählich die An-
schauung herausgebildet, daß eine menschliche Handlung nur dann
wahrhaft sittlich ist. wenn sie mit E n t s a g u n g, mit Selbstübe r-
*) Diese Zitate entnehme ich dem grundlegenden und überaus lehrreichen
Werke: „Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung" von Hein-
rich v. Eicken, S. '314 ff.
§ 42. Entwicklung der Ethik 193
Windung, mit einem persönlichen Opfer verbunden ist. Ja, man
mißt den -sittlichen Wert einer Tat geradezu nach der Größe des
Opfers, das der Handelnde dabei bringen muß. Dieser asketische
Grundzug der christlichen Sittenlehre tritt uns mit voller Deutlichkeit
noch in der Kantschen Ethik entgegen. Es ist zweifellos, daß diese hohe
Wertschätzung der Selbstüberwindung die Opferfähigkeit der Mensch-
heit gesteigert und dadurch in hohem Grade erziehlich gewirkt hat.
Trotzdem werden wir später zu untersuchen haben, ob Selbstüber-
windung und Opfer wirklich zum Wesen der sittlichen Verpflichtung
gehören und namentlich, ob dieser selbst auferlegte Zwang schon an
sich einen moralischen Wert besitzt, ganz abgesehen von dem Zwecke,
dem diese Entsagung dienen soll.
In wesentlich anderem Sinne hat die Gnadenlehre der
römischen Kirche die sittliche Entwicklung beeinflußt. Der Kirchen-
vater Augustinus (354—430 n. Chr.) ist in seiner tief innerlichen
Frömmigkeit, der er namentlich in seinen „Bekenntnissen" einen mäch-
tig ergreifenden Ausdruck verliehen hat, zur Überzeugung gelangt,
daß der von Natur aus sündhafte Mensch ganz unfähig sei, sich aus
eigener Kraft die Erlösung zu erwirken. Diese bleibt immer ein frei-
williges Geschenk der göttlichen Gnade. Da nun Augustin
auch mit aller Entschiedenheit für die Einheit, für die Heiligkeit, für
die Irrtumslosigkeit der Kirche eintrat und immer wieder lehrte, daß
nur in der Kirche und durch die Kirche für den Einzelnen das Heil
zu gewinnen sei, so bildete sich in der Folgezeit die Lehre aus, daß die
Kirche die alleinige Spenderin der Gnadenmittel sei. Ihre Priester
konnten durch Mitteilung oder Verweigerung der Sakramente, beson-
ders des Abendmahls, das Heil dem Einzelnen gewährleisten oder ver-
sagen. Dadurch wurde es für den Christenmenschen wichtiger, durch
Erfüllung der religiösen Zeremonien sich sein Heil zu sichern, als nach
innerer sittlicher Läuterung zu streben.
Da nun die Kirche, wie Heinrich von Eicken gezeigt hat, im Laufe
des Mittelalters durch Weltverneinung zur We 1 1 b e h e r r-
s c h u n g gelangte, indem sie genötigt war, zu den konkreten Lebens-
verhältnissen, wie z. B. zur Ehe, zur Erziehung, zum wirtschaftlichen
Erwerb und besonders zum weltlichen Staate, Stellung zu nehmen, so
mußte geradezu eine immer stärkere Verweltlichung der leiten-
den Kirchenmächte eintreten.
Als Reaktion auf die Verweltlichung macht sich schon im drei-
zehnten und vierzehnten Jahrhundert innerhalb der Kirche das Be-
dürfnis nach intensiver persönlicher Frömmigkeit geltend. Die Bettel-
orden wollen durch strenge Bußübungen und durch ein gottgeweihtes
Leben diesem Bedürfnis entgegenkommen. Aus demselben Drange ent-
steht die christliche Mystik eines Meister Eckhart, eines Suso und
Johannes Tauler, die alle durch tiefes Versenken in sich selbst sich mit
der Gottheit zu vereinigen streben.
Aus solchen Bestrebungen ging dann im sechzehnten Jahrhundert
die große Reformation hervor, die einen nicht geringen Teil der
Christenheit von Rom losriß. Der Protestantismus lehnt sich
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 13
194 Allgemeine Ethik
vor allem gegen die Autorität der Kirche als der alleinigen Spenderin
der Gnade auf und will das ursprüngliche, das evangelische
l hristentum wieder herstellen. Er lehnt ferner die Weltverneinung ab
und betrachtet die Wirksamkeit des Menschen im diesseitigen Leben,
in der I he, in der Berufsarbeit, in der Beteiligung am Staate als einen
wesentlichen Teil seiner sittlich-religiösen Aufgabe.
I her tritt nun der Protestantismus in enge Beziehungen zu den
anderen Strömungen der Zeit, die im Verein mit dieser religiösen Be-
wegung eine neue Epoche der Weltgeschichte heraufführen.
Die wichtigste dieser Strömungen ist die neu erwachte Freude am
Menschen und an der Welt. Man bezeichnet deshalb diese Zeit des
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gerne als die der Wieder-
geburt ( Renaissance) und des Humanismus. Die Wieder-
belebung des klassischen Altertums, die von Italien ausgeht und bald
nach Deutschland und Frankreich übergreift, wirkt bei dieser Um-
wandlung des inneren Menschen kräftig mit. Die Entdeckung Amerikas
und des Seeweges nach Indien erweitert den geographischen Horizont
und eröffnet dem wirtschaftlichen Leben neue und sehr ergiebige
Quellen. Zu gleicher Zeit wird aber durch die Erfindung der Buch-
druckerkunst eine geradezu unendliche Fülle neuer Bildungsmöglich-
keiten erschlossen.
Infolge dieser Tatsachen und Strömungen vollzieht sich im poli-
tischen, im wirtschaftlichen und im geistigen Leben Europas eine
überaus bedeutsame Umwandlung. Es bildet sich eine neue E i n s t e 1-
lung des Geistes heraus gegenüber der Natur, gegenüber der
Geschichte, gegenüber dem Staate, gegenüber dem Einzel-
menschen und seiner sittlichen Aufgabe. Dabei wirken die Ge-
danken des wiedererstandenen Altertums überaus befruchtend mit. Die
neue Zeit kehrt vielfach zur Gedankenwelt der Griechen und Römer
zurück, wächst aber durch die Auffindung neuer Denkmittel und neuer
Forschungsmethoden namentlich in der mathematischen Naturwissen-
schaft gewaltig über das Altertum hinaus. Durch die Arbeiten von
Kopernikus, Galilei, Kepler, Huyghens und Newton wird die Mechanik
der leblosen Körper auf eine feste Grundlage gestellt und die Struktur
unseres Sonnensystems bloßgelegt. Durch solche Ergebnisse, an deren
Richtigkeit ein Zweifel unmöglich schien, wurde das Vertrauen in die
Kraft des Menschengeistes ganz außerordentlich gestärkt. Die auf-
blühende Mathematik läßt die Meinung aufkommen, daß die mensch-
liche Vernunft aus sich selbst heraus, ohne die Erfahrung befragen zu
müssen, unumstößliche Wahrheiten zu gewinnen vermag, die für jede
Erfahrung Geltung besitzen. Anderseits sieht man wieder ein, daß die
genaue Beobachtung der Tatsachen, die durch das Experiment wirk-
sam unterstützt wird, weit sicherere Einsichten in das Wesen der Natur
verschafft, als die überlieferte Bücherweisheit. Die Beobachtung be-
schränkt sich aber nicht auf die sinnlich wahrnehmbare Außenwelt.
Man bemüht sich auch tiefer in die eigene Seele zu blicken und die
Regungen der Seele bei anderen sorgsam zu untersuchen. Auch hier
glaubt man ein Stück Natur zu finden, und zwar ein sehr wichtiges
stuck. Man will auf diesem Wege das Wesen des Menschen ergründen,
§ 42. Entwicklung der Ethik ]95
alle ihm von der Natur verliehenen Anlagen kennen lernen, die man
dann bei allen Menschen als gegeben voraussetzen darf. Da erneuert
sich die schon von den Stoikern verkündete Lehre von dem natür-
lichen Lichte der Vernunft, das allen Menschen verliehen
wurde und die sicherste Quelle der Wahrheit sei. Man geht aber jetzt
noch weiter. In den Tiefen der Menschenseele findet man auch das
natürliche Recht, das für alle Menschen gelten müsse und
höhere Autorität für sich in Anspruch nehmen darf, als alle positiv
geltenden Rechte in den verschiedenen Staaten. Aus der allgemeinen
Menschenvernunft glaubt man dann auch eine natürliche Religion ab-
leiten zu können, die keiner Dogmen und keiner Wunder bedarf. In
derselben Weise hofft man dann auch eine allgemein geltende natür-
liche Sittenlehre aus dem Wesen des Menschen heraus begrün-
den zu können. In welcher Weise dieser neue Geist sich in der philo-
sophischen Ethik der Neuzeit kundgibt, das hat nebst anderen beson-
ders Friedrich Jodl in seinem grundlegenden Werke „Geschichte der
Ethik" (zwei Bände, 2. Aufl. 1906—1912) ausführlich dargestellt. In-
dem ich die Leser auf dieses vortreffliche Werk verweise, hebe ich hier
nur die wesentlichsten Züge dieser Entwicklung hervor.
Für die philosophische Ethik der neuen Zeit darf man vielleicht
folgende Strömungen als charakteristisch herausheben:
1. Besonders deutlich macht sich das Streben nach einer Sä-
kularisation der Ethik bemerkbar. Man bemüht sich nach-
zuweisen, daß die sittliche Verpflichtung ganz unabhängig sei von
jedem religiösen Dogma, und daß die Moral keiner theologischen Be-
gründung bedürfe.
2. Durch eindringende Zergliederung der seelischen Vorgänge,
die wir bei der moralischen Beurteilung unserer eigenen und fremder
Handlungen erleben, sucht man eine psychologische Grund-
legung der Ethik herauszuarbeiten.
3. Bei diesen Bemühungen zeigt es sich immer deutlicher, daß für
die Herausbildung ethischer Normen das Zusammenleben der Men-
schen von entscheidender Wichtigkeit ist. So entsteht allmählich das
Bedürfnis nach einer soziologischen Untersuchung der
moralischen Entwicklung.
4. Neben diesen streng wissenschaftlichen Bestrebungen finden
sich auch noch bedeutsame Versuche einer metaphysischen Moral-
begründung, in denen das ethische Verhalten zum kosmischen Ge-
schehen in Beziehung gebracht und als ein letztes Ziel der Weltordnung
betrachtet wird.
In allen hier genannten Denkrichtungen wirken Ideen der antiken
Ethik befruchtend und anregend mit. Am deutlichsten ist dabei der Ein-
fluß von Sokrates, von Piaton und von den Stoikern bemerkbar. Da-
neben aber haben auch Aristoteles, Epikur und die Neuplatoniker auf
die Ethik der Neuzeit eingewirkt. Wir wollen nun diese vier Strö-
mungen durch Anführung der wichtigsten geschichtlichen Tatsachen
illustrieren und behalten uns dabei vor, bei einzelnen besonders her-
vorragenden und richtunggebenden Denkern etwas länger zu verweilen.
13*
1QÖ Allgemeine Ethik
Ad 1. (Säkularisation der Ethik.) Schon im sechzehnten Jahr-
hundert hat in Frankreich Charron in seinem Buche „Von der Weis-
heit" eine von jedem religiösen Dogma unabhängige Ethik zu begrün-
den gesucht und dabei die stoische Formel vom „naturgemäßen Leben"
sich zu eigen gemachl </<><// 1, 191 ff.). Noch entschiedener betont
Herbert von ( '.herbury (H81— 1648) in seinem Werke „Von der Wahr-
heit", daß die l nterscheidung von Gut und Böse eine Gabe der Natur
sei, und daß unsere Urteile in moralischen Fragen eine innere Gewiß-
heit in sieh tragen, wie sie sonst nur den mathematischen Urteilen inne-
wohne. Herbert wird allgemein als der Vater des englischen Deis-
mus bezeichnet, über den wir bereits oben (S. 141 ) gesprochen haben.
Die Vertreter dieser Religionsphilosophie bezeichnen sich selbst als
„Freidenke r". Sie behaupten, daß es eine natürliche Religion
gibt, die in der menschlichen Vernunft selbst begründet sei. In den
»itiven, den „geoffenbarten" Religionen sei nur das wahr und richtig,
was mit der Vernunftreligion übereinstimmt. Die wesentliche Aufgabe
der Vernunftreligion besteht aber darin, die sittlichen Forde-
rungen, die in der menschlichen Vernunft selbst ihre hinreichende Be-
gründung finden, zu stärken und zu vertiefen. Der englische Deismus
hat in Frankreich und in Deutschland die Bewegung der Geister her-
vorgerufen, die man gewöhnlich als „Aufklärung" bezeichnet.
Nach Kants berühmter Definition *) ist Aufklärung „der Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Die mensch-
liche Vernunft wird also für selbständig und für frei erklärt. Sie will
sich weder in ihren wissenschaftichen Erkenntnissen, noch auch in ihren
sittlichen Forderungen durch überkommene Autoritäten irgendwie ein-
schränken lassen. Für die Ethik wird damit vor allem die Entbehrlich-
keit jeder theologischen Begründung behauptet. Man geht sogar noch
einen Schritt weiter, indem man umgekehrt den Wert und die Wahrheit
der Religion durch den sittlichen Gehalt ihrer Lehren zu begründen
sucht. Diesen hohen Gedanken hat Lessing in seinem „Nathan" aus-
gesprochen, indem er in der Parabel von den drei Ringen dem Richter
die Worte in den Mund legt:
„Wohlan!
Es eifre jeder seiner nnbestoclinen.
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen: komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltim.
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu lliilf. Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes Kindeskindern äußern,
So lad ich über tausend tausend Jahre
wiederum vor diesen Stuhl."
Die sittlichen und die erziehlichen Wirkungen einer Religion sind
es also, die allein ihre Wahrheit beweisen können. Einen ganz ähn-
i Beantwortung der frage: „Was ist Aufklärung?" (IV, 161, Harten-
\\xsg ibe.)
§ 42. Entwicklung der Ethik 197
liehen Gedanken hat Goethe in seiner Ode „Das Göttliche" klar und
deutlich ausgedrückt:
„Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut,
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.
Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen.
Sein Beispiel lehr uns
Jene glaube n."
Die Fähigkeit des Menschen, entsagungsvoll sich dem Wohle
anderer zu widmen, soll der Beweis dafür sein, daß es ein allgütiges
göttliches Wesen gibt.
Die philosophische Ausgestaltung dieser Verselbständigung der
Ethik hat dann Immanuel Kant vollzogen. So wie die Erkenntnistheorie
Kants gegründet ist auf den Glauben an eine von allem Anfang an
gegebene, zeitlose logische Struktur der „reinen" Vernunft, so
beruht auch seine strenge Sittenlehre auf der Überzeugung von einer
festen, unveränderlichen ethischen Struktur des menschlichen
Willens oder, wie er lieber sagt, der praktischen Vernunft. Kant ist
also ebenso wie Sokrates und die Stoiker, von denen er stark beeinflußt
ist, für die unbedingte Autonomie des sittlichen Bewußtseins und der
daraus sich ergebenden ethischen Normen eingetreten. Er hat aber
diesen Gedanken mit einer derartigen Konsequenz durchgeführt und
die daraus entspringenden Folgerungen mit so unerbittlicher Strenge
gezogen, zugleich aber in seiner Begründung so viel neue Gedanken
ausgesprochen, daß seine Denkarbeit in der Entwicklung der Ethik
eine neue Epoche heraufgeführt hat.
Kant bekennt sich in seiner Ethik ebenso wie in seiner Erkenntnis-
theorie mit voller Entschiedenheit zum Apriorismus. (Vgl. S. 54.)
Niemals können wir durch die Erfahrung, das heißt durch die Beob-
achtung dessen, was die Menschen in moralischen Dingen wirklich
tun, zur Klarheit darüber gelangen, was sie tun sollen. Darüber
kann uns nur das in unserer Brust wohnende Sittengesetz be-
lehren, das aus der reinen praktischen Vernunft selbst, aus ihrem
innersten Wesen abgeleitet ist und eben deshalb unabhängig von jeder
Erfahrung für alle vernünftigen Wesen unbedingte, objektive und all-
gemeine Gültigkeit besitzt. Vor diesem Richterstuhl in unserem Innern
müssen sich auch die religiösen Begriffe erst rechtfertigen, wenn sie
moralisch vollgültig sein sollen. „Selbst der Heilige des Evangelii",
sagt Kant, „muß zuvor mit unserem Ideal der sittlichen Vollkommen-
heit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er von
sich selbst: was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut? Niemand ist gut
als der einige Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir aber den
Begriff von Gott als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die
die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit
Allgemeine Ethik
dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft"*). Man
sieht also deutlich, daß Kant ebenso wie Lessing und Goethe die Reli-
gion auf die Sittlichkeil gründet und nicht umgekehrt.
Worin besteht min dieses der praktischen Vernunft immanente,
a priori erkennbare und für alle gültige Sittengesetz? Kant legt großen
\\ er! ilarauf, immer wieder zu betonen, daß das Bewußtsein von diesem
inneren Wertmaßstab schon dem nicht philosophierenden Verstände
innewohnt. Man hält auch im gewöhnlichen Leben nur solche Hand-
lungen für wahrhaft sittlich, bei denen sich keine Spur eines selbst-
süchtigen Motives, kein Gedanke an einen etwaigen Vorteil, keine
Furcht vor Strafe nachweisen oder vermuten läßt. Der moralische
\\\rt einer Handlung liegt ferner, auch nach der allgemeinen An-
sicht, nicht in den besonderen Absichten, die uns dabei leiten, und
noch weniger in den Wirkungen, die wir damit erzielen, sondern einzig
und allein in den Grundsätzen, von denen wir uns bestimmen
lassen. Der Philosoph findet also im allgemeinen Bewußtsein die
Keime des wahren A4oralprinzips bereits vor. Seine Aufgabe besteht
nun darin, das Prinzip deutlich zu formulieren und zu zeigen, daß es
wirklich aus dem Wesen der praktischen Vernunft mit innerer Not-
wendigkeit abgeleitet werden könne.
Das Sittengesetz stellt an den menschlichen Willen, der ja in der
Regel von Neigungen und Wünschen beeinflußt wird, Forderungen,
es richtet an ihn Gebote. Kant nennt diese Forderungen Impera-
tive.
Diese Imperative unterscheiden sich von den sonstigen Forde-
rungen, die die Vernunft zur Erreichung bestimmter Zwecke an den
Willen richtet, dadurch, daß jene nur bedingte Geltung haben, während
die Imperative der Sittlichkeit unbedingt gebieten und zu jeder
Zeit von jedem Befolgung verlangen. Deswegen werden diese Forde-
rungen von Kant als kategorische Imperative bezeichnet.
Sollen nun derartige Imperative aus der Vernunft selbst abgeleitet
werden können, so dürfen sie keine bestimmten Vorschriften, keine
speziellen Anweisungen enthalten, da hiezu überall Erfahrung nötig
ist. Das in der praktischen Vernunft selbst begründete Sittengesetz
kann sich nur auf allgemeine Grundsätze beziehen. Kant nennt
den ( irundsatz, durch den ich mich in jedem einzelnen Falle zum Han-
deln bestimmen lasse, die Maxime meines Handelns. Wenn nun
diese Maxime dem Sittengesetz gemäß sein soll, so muß ich wollen
können, daß sie zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht
werden könnte. Und so lautet denn die erste Formulierung des kate-
gorischen Imperativs folgendermaßen: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz
werde" Kant versucht nun in der „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten" an mehreren Beispielen zu zeigen, daß diese Formel tatsäch-
lich einen sicheren Maßstab für die Beurteilung der Grundsätze unseres
I landelns abgeben kann.
•) Grundlegung z. Met. d. Sitten. 2. Abschnitt. IV., 256 (Hartenstein).
§ 42. Entwicklung der Ethik 199
Hier muß zunächst ein naheliegendes Mißverständnis verhütet
werden. Die Ausdrücke „Prinzip einer Gesetzgebung" und „allgemeines
Gesetz" könnten den Gedanken nahelegen, als wolle Kant die Richtig-
keit seines Moralprinzips aus den Bedingungen des menschlichen
Zusammenlebens erweisen. Dies würde jedoch dem apriorischen
Charakter seiner Ethik ganz widersprechen. Er sucht vielmehr zu
zeigen, daß jede unmoralische Maxime sich dadurch als solche erweist,
daß sich sofort ein logischerWiderspruch ergibt, wenn man
versucht, diese Maxime zu verallgemeinern. Es läßt sich nicht leugnen,
daß es dabei nicht ohne dialektische Spitzfindigkeiten abgeht und eben
deshalb wirkt diese Formulierung des Sittengesetzes nicht ganz über-
zeugend.
Wichtiger und bedeutsamer ist die zweite Formulierung des kate-
gorischen Imperativs, die mit der ersten nur lose zusammenhängt. Wenn
die Vernunft sich selbst ihre Gesetze gibt, so erhält das vernünftige
Wesen eben dadurch eine innere Selbständigkeit, einen inneren
Wert, der es von den übrigen Dingen der Welt wesentlich unterscheidet.
Die Dinge, die wir als Sachen bezeichnen, gewinnen für uns nur
dadurch einen Wert, daß wir sie als Mittel für unsere Zwecke ge-
brauchen. Der Mensch aber ist als Vernunftwesen nicht Sache, sondern
Person und besitzt dadurch seinen eigenen Wert. Man darf ihn
deshalb niemals bloß als Mittel zu irgendeinem Zwecke betrachten,
sondern muß in ihm eine Art von Selbstzweck erblicken, der an
sich Wert hat. Aus dem Bewußtsein der eigenen Vernunft, die jedem
Menschen gegeben ist, ergibt sich demnach die Forderung : „Handle
so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Per-
son, als in der Person eines jeden andern jeder-
zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst" (IV, 277.)
Mit dieser Forderung hat Kant einen ganz neuen Begriff in die
wissenschaftliche Ethik eingeführt. Jeder einzelne Mensch besitzt nach
dieser neuen Lehre als Träger der Menschheitsidee, als Vernunftwesen
einen eigenen inneren Wert (oder wie Kant schön sagt, eine eigene
Würde [IV, 282 f.]). Wir werden weiter unten sehen, wie der Be-
griff der Menschenwürde als besonders wichtiger Hebel der
sittlichen Höherentwicklung wirkt, und behalten uns vor, dort nochmals
auf diese von Kant zuerst aufgestellte Forderung zurückzukommen.
In dem Begriffe der Würde konzentriert sich gleichsam Kants
energisches Eintreten für die Autonomie des Sittengesetzes. Wo
unser Wille durch eine Autorität bestimmt oder auch nur durch Nei-
gungen beeinflußt ist, da herrscht Heteronomie, das heißt, fremde
Gesetzgebung. Sittlich aber handeln wir nur dann, wenn wir einzig
und allein dem in uns selbst liegenden, von der Vernunft gegebenen
Moralgesetz folgen. Kant ist fest davon durchdrungen, daß die Hetero-
nomie des Willens der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit
sei (IV, 289).
Daraus erklärt sich auch die unerbittliche Strenge seiner mora-
lischen Forderungen, eine Strenge, die man oft als übertriebenen R i-
g o r i s m u s getadelt hat. Kant kann aber konsequenterweise gar nicht
ji) i Allgemeine Ethik
anders denken. Was .1 priori aus der reinen Vernunft sich ableiten läßt,
dem kommt allgemeine Gültigkeit und innere Notwendigkeit zu. Das
mit aber nach Kants ( Fberzeugung vom Sittengesetz. Wo sich also bei
einer I landlungsweise empirische Elemente eindrängen, wie z. B.
irgendeine, und sei es auch nur die geringste Neigung oder eine Aus-
sicht ant einen Vorteil oder Furcht vor Strafe, da ist die Tat nicht mehr
bloß von der reinen praktischen Vernunft diktiert und darum nicht mehr
moralisch. Koni weiß ganz genau, daß eine wahrhaft sittliche Tat, die
seiner strengen Forderung vollkommen gerecht wird, vielleicht niemals
von einem Menschen vollbracht worden ist •). Das beeinträchtigt aber
in keiner Weise die „unnachlaßliche" Strenge seiner Forderung. Er
denkt hier genau so, wie die älteren Stoiker. Moralisch ist nur die Tat,
die ganz und gar dem Sittengesetz entspricht. Jeder fremde Zusatz
vernichtet sofort ihren moralischen Charakter.
Auch der Pflichtbegriff Kants, der seiner Ethik das Gepräge gibt,
hängt mit seiner Überzeugung von der Autonomie des Sittengesetzes
zusammen. „Pflicht ist Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung
für das Gesetz." (IV, 248.) Sie ist somit das unbedingte Gebot, das
die ihrer selbst bewußte praktische Vernunft aus ihrem eigensten Wesen
heraus sich selbst gibt. In der ergreifenden Apostrophe an die Pflicht,
die sich in der „Kritik der praktischen Vernunft" findet („Pflicht, du
erhabener großer Name" usw.), fragt Kant: „Welches ist der deiner
würdige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft?"
Seine Antwort lautet: „Es ist nichts anderes als die Persönlich-
keit, das ist die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus
der ganzen Natur." (V,91 .) Die Pflicht ist also nach Kant der Ausdruck
der inneren Selbständigkeit des Menschen als eines Vernunftwesens. „Er
ist das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge
der Autonomie seiner Freiheit." (V, 92.) In dem Pflichtbewußtsein ist
also die eigentliche Würde des Menschen und zugleich seine Be-
stimmung enthalten.
Mit dieser Auffassung der Pflicht hängt auch Kants entschiedene
Bekämpfung des Eudaimonismus zusammen. In einer tiefgrün-
digen Auseinandersetzung zeigt er, daß die Natur den Menschen gar
nicht zur Glückseligkeit bestimmt haben kann. Diesen Zweck hätte sie
nämlich weit sicherer erreicht, wenn sie ihm statt der Vernunft bloß
einen Naturinstinkt verliehen hätte. „In der Tat finden wir auch, daß,
je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß
des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von
der wahren Zufriedenheit abkomme." (IV, 243.) Daraus schließt Kant,
der fest davon überzeugt ist, daß die Natur niemals zweckwidrig vor-
geht, daß sie dem Menschen, indem sie ihm die Vernunft verlieh, ein
ganz anderes Ziel als die Glückseligkeit gesetzt, daß sie ihm eine ganz
andere Bestimmung gegeben habe. Dem Menschen als einem Vernunft-
westn ist vielmehr die, vielleicht unerfüllbare, aber dennoch „unnach-
*) Vgl. „Grundlegung der Met. d. Sitten", IV. 275: „In einer praktischen
Philosophie, wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzunehmen von dem.
was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es
gleich niemals geschieht" usw.
§ 42. Entwicklung der Ethik 201
läßliche" Aufgabe gestellt, das in ihm liegende Sittengesetz durch sein
Tun zur Verwirklichung zu bringen.
Wir sehen also, daß Kant den somatischen und stoischen Ge-
danken von der Autonomie des sittlichen Bewußtseins sich zu eigen ge-
macht, diese Forderung aber durch seine tiefgründigen Untersuchungen
wesentlich erweitert, vertieft und mit dem wahren Wesen des Menschen
in Zusammenhang gebracht hat. Kants Ethik ist durch ihre Strenge,
durch ihre innere Geschlossenheit und ganz besonders durch die hohe
Aufgabe, die er dem Menschen stellt, selbst eine sittliche Tat von der
größten Tragweite geworden. Seine Lehre von der Würde des Menschen
kann erst heute auf Grund der soziologischen Methode in ihrer wahren
Bedeutung erfaßt werden. Wir werden in unserer eigenen Darstellung
der Ethik vielfach genötigt sein, über die Begriffe der Menschenpflicht
und Menschenwürde, über Autonomie und Heteromie Überzeugungen
vorzubringen, die in wesentlichen Punkten von Kant abweichen. Nie-
mals aber werden wir vergessen, daß Kant es war, der den sittlichen
Beruf des Menschen in seiner vollen Tiefe erfaßt und das Vertrauen
in die moralische Kraft des Willens durch seine tief bohrende Denk-
arbeit so außerordentlich gestärkt hat.
Die Unabhängigkeit des Sittengesetzes von jedem religiösen
Dogma ist in der Zeit nach Kant vielfach zu einer fast selbstverständ-
lichen Überzeugung geworden. Die Entwicklungslehre hat es nahe-
gelegt, die moralischen Vorstellungen und Gefühle als ein natur-
gemäßes Produkt der Lebensnotwendigkeit anzusehen. Erst in den
letzten Dezennien haben wir infolge der ausgedehnten geschichtlichen
Studien und insbesondere durch die völkerkundlichen Forschungen
wieder einsehen gelernt, daß Religion und Sittlichkeit sich von allem
Anfang an in innigem Zusammenhang miteinander entwickelt haben.
Hier wird die soziologische Betrachtungsweise geeignet sein, uns dar-
über aufzuklären, in welcher Weise ein Zusammenwirken dieser beiden
durch und durch sozialen und zugleich durch und durch geistigen Pro-
zesse in der Zukunft möglich und wünschenswert sein wird.
Ad 2. (Psychologische Grundlegung der Ethik.) Auf diesem Ge-
biete haben englische und insbesondere schottische Denker
fruchtbringende Arbeit geleistet. Als das wichtigste Ergebnis ihrer
psychologischen Untersuchungen darf wohl die allmählich gewonnene
Erkenntnis gelten, daß die beiden Grundtatsachen des sittlichen Lebens,
die moralische Beurteilung fremder Handlungen und die
warnende Stimme in unserem Innern, die wir das Gewissen
nennen, nicht in der Vernunft, sondern in einem viel ursprünglicheren
Gefühl ihre seelische Quelle haben. Über die Art, den Ursprung
und die Zusammensetzung dieses sittlichen Grundgefühls gehen be-
greiflicherweise die Meinungen stark auseinander.
John Locke (1632 — 1704) hat durch seine entschiedene Bekämp-
fung der Annahme angeborener Ideen auf die Notwendigkeit
einer empirischen Moralbegründung hingewiesen, diese aber selbst
nicht gegeben. Recht und Unrecht wird seiner Überzeugung nach immer
nur in bezug auf ein Gesetz unterschieden. Solche Gesetze gibt es
nach Locke dreierlei. Das göttliche, das bürgerliche und das der öffent-
202 Allgemeine Ethik
liehen Meinung. Diese übt, wie Locke sehr treffend bemerkt, den stärk-
sten Einfluß auf das wirkliche Handeln der Menschen aus. Locke hat
damit .mt ein sehr wichtiges soziologisches Moment in der
! tlnk hingewiesen, worauf wir später noch zurückkommen. Für die
psychologische Moralbegründung hat er jedoch nicht viel getan.
Diese hat vor anderen der feinsinnige Denker Shajtesbury (1671
!>-.s 1713) sich zur Aufgabe gemacht. In striktem Gegensatz zu Hobbes,
der im Menschen nur selbstsüchtige Triebe gelten ließ, die erst durch
die Vergesellschaftung gehemmt werden, glaubt Shajtesbury fest an die
l frsprünglichkeit sozialerGefühle. Die zärtliche Fürsorge der
I ltern für die Kinder, das natürliche Mitgefühl mit dem Leidenden,
die Freude an der Geselligkeit, die Abneigung gegen die Einsamkeit
sind ihm Beweise dafür. Zu wirklich moralischen Gefühlen wer-
den diese natürlichen Affektionen erst dadurch, daß wir sie in unser
reflektierendes Bewußtsein erheben und uns dann an ihrem Ablauf
innerlich erfreuen können.
Dazu kommt bei dem von antiker Bildung ganz durchtränkten
Denker noch die Überzeugung, daß wir von Natur aus einen Sinn für
Ordnung, für Harmonie und Proportionalität, kurz für das richtige
Maß besitzen und uns am Anblick dieser Verhältnisse erfreuen. Des-
halb betont er wiederholt im Anschluß an Aristoteles, daß jedes Über-
maß, jedes Zuviel in irgendeiner einzelnen Neigung, und sei sie auch
an sich tugendhaft, eben durch die Übertreibung zu einem Fehler, ja
sogar zu einem Laster werde.
Die Religion kann die Kraft dieser moralischen Gefühle erhöhen,
wenn der Gott, an den sie glaubt, nicht bloß als ein mächtiges, sondern
auch als ein gütiges Wesen gedacht wird. Wer aber nur aus Furcht
vor der göttlichen Strafe oder in sklavischem Gehorsam gegen das Ge-
bot des Allmächtigen seine bösen Triebe im Zaume hält, dessen Sitt-
lichkeit ist nicht größer als die eines gefangenen Tigers *).
Aus der antiken Ethik übernimmt Shajtesbury den Eudaimonis-
mus und bemüht sich nachzuweisen, daß die Betätigung der sozialen
Gefühle das Glück des Einzelnen sicherer und dauernder zu begründen
vermag, als die ausschließliche Verfolgung seiner selbstsüchtigen Inter-
essen. Wie Epikur, so schätzt auch Shajtesbury die g e i s t i g e n Freu-
den viel höher ein als die sinnlichen. Ganz besonders aber betont er,
daß die Betätigung von Wohlwollen und Menschenliebe dauernde Freu-
den schafft, die sich nicht so leicht abstumpfen.
Das wichtigste in Shajtesburys Moralphilosophie bleibt aber die
Begründung der Sittlichkeit auf ein natürliches Gefühl, das in jedem
Menschen wirksam ist und nur der Entfaltung bedarf.
Der Schotte Huicheson (1694—1741) entwickelt Shajtesburys Ge-
danken weiter und gelangt zu der Annahme eines eigenen „mora-
lischen Sinne s", eines ursprünglichen Unterscheidungsver-
mögens, mit dem wir die menschlichen Handlungen ganz abgesehen
davon beurteilen, ob sie uns Vorteil bringen oder nicht. Hutcheson be-
müht sich, das Vorhandensein dieses „moral sense" (ein Aus-
*) Shaftesbury, ..Characteristics" ed. Robertson. London 1Q0O, I, 267.
§ 42. Entwicklung der Ethik 203
druck, den schon Sfiajtesbury gelegentlich anwendet) an verschiedenen
Beispielen nachzuweisen, von denen wir eines wegen seines kultur-
historischen Interesses anführen wollen. Die spanische Inquisition hat
eine nicht geringe Zahl von niederländischen Gewerbetreibenden zur
Auswanderung nach England veranlaßt. „Sie haben uns in Fabrika-
tionen unterwiesen, die Millionen von armen Leuten Brot gaben, den
Reichtum fast aller in unserem Staate vermehrt und' uns unsern Nach-
barn gefährlich gemacht haben." Bald darauf unternahmen es einige
mutvolle „Burgemeister" in den Niederlanden, durch einen gefahrvollen
Krieg das spanische Joch abzuschütteln und begründeten selbst einen
großen Industriestaat, der uns in unserem Handel eine sehr erhebliche
Konkurrenz macht. „Die ganze Welt sieht leicht, ob die ersteren (die
zu uns geflüchteten Handwerker) oder die letzteren (die mutvollen
„Burgemeister") uns den größeren Vorteil gebracht haben. Trotzdem
aber schätzen wir die mutvollen Burgemeister, durch deren Vaterlands-
liebe wir geschädigt wurden, moralisch höher ein, als die Flüchtlinge,
die uns genützt haben" *).
Mit Hilfe dieses jedem Menschen verliehenen „moralischen Sinnes"
betrachten wir nun immer solche Handlungen als sittlich, die aus dem
Wohlwollen für andere und aus der Absicht hervorgehen, das Gesamt-
wohl zu fördern.
Eindringender und erfolgreicher hat David Hume (1711 — 1776)
die psychologischen Grundlagen der Ethik untersucht. Schon in seinem
Erstlingswerk in der „Abhandlung über die menschliche Natur" hat er
mit dem größten Nachdrucke darauf hingewiesen, daß niemals die
Handlungen selbst, sondern immer nur die ihnen zugrunde liegenden
Gesinnungen Gegenstand der moralischen Billigung oder Miß-
billigung sind. Er zeigt ferner, daß der Grund unserer Billigung und
Mißbilligung nicht in Erwägungen der Vernunft, sondern in einem ur-
sprünglichen G e f ü h 1 zu suchen sei. Nun schätzen wir im allgemeinen
solche Gesinnungen am höchsten, die dem Wohle der Gesellschaft
förderlich sind, und viele sind daher geneigt, den letzten Grund für
unsere moralische Billigung und Mißbilligung menschlicher Hand-
lungen in dem Nutzen zu suchen, den diese Handlungen für uns selbst
oder für die menschliche Gemeinschaft stiften. Mit dieser oberfläch-
lichen Erklärung ist aber Hume nicht zufrieden. Das Wohl anderer
Menschen und das der Gemeinschaft, in der wir leben, muß unmittel-
barer auf uns wirken, als durch die kalte Überlegung des Vorteils, den
wir etwa selbst daraus ziehen könnten. Eine solche unmittelbare Wir-
kung findet denn auch Hume in der jedem Menschen naturgemäßen
Fähigkeit, fremdes Leid ebenso wie die Freude anderer, sobald diese
Gefühle sich in den Gebärden und Mienen deutlich äußern, selbst mit-
zuempfinden. Hume nennt dieses Mitempfinden Sympathie und
charakterisiert sie einmal sehr treffend mit folgenden Worten : „Wie bei
gleich gestimmten Saiten eines Instrumentes die Bewegung einer Saite
sich leicht den anderen mitteilt, so gehen alle Affekte leicht von einem
*) Hutcheson, „Inquiry into the origin of our ideas of beautv and virtne",
3. edition. London 173«. S. 116.
204 Allgemeine Ethik
Menschen auf den anderen über und erzeugen entsprechende Bewe-
gungen in jedem menschlichen Wesen"*). In dieser ursprünglichen
I ähigkeit des Mitempfindens liegt nach Hume der letzte Grund für
alle moralische Beurteilung. Durch den gegenseitigen Verkehr und den
| iebrauch der Sprache, die dazu nötigt, allgemeine Begriffe zu bilden,
klaren sich die Svmpathiegefühle allmählich ab zu allgemeinen Regeln
der moralischen Beurteilung, wobei der durch vernünftige Überlegung
immer deutlicher erkannte Nutzen der sozialen Gefühle eine wichtige
Rolle spielt**).
Tiefgründiger noch als Hume untersucht sein persönlicher Freund,
der berühmte Nationalökonom Adam Smith (1732—1790), in seinem
1750 erschienenen Werke „Theory of moral sentiments" (Theorie der
moralischen Gefühle) die psychologischen Grundlagen der sittlichen
Beurteilung und Verpflichtung. Er geht ebenfalls von unserer Fähig-
keit der „Mitempfindung", der „Sympathie" aus, die er jedoch viel
sorgfältiger zergliedert. Unsere Fähigkeit, uns mittels der Phantasie
in den Seelenzustand eines anderen zu versetzen, bildet unseren Maß-
stab für die Beurteilung der Schicklichkeit (propriety) und der
Unschicklichkeit (impropriety) fremder Handlungen. Die
Freude, die Trauer, der Zorn, die Entrüstung, die wir bei einem
anderen beobachten, erscheint uns angemessen und schicklich, wenn
wir glauben, daß wir in derselben Lage ebenso empfinden würden. Ein
weiteres Moment für die moralische Beurteilung anderer liegt in den
„Vergeltungsgefühle n". Sie entscheiden darüber, ob wir
eine Handlung als verdienstlich oder als strafbar be-
zeichnen. Was in uns das Gefühl der Dankbarkeit hervorruft, das be-
trachten wir als verdienstlich, was gerechten Unwillen (resentment) er-
zeugt, das gilt uns als strafbar. Unser Urteil richtet sich dabei auf die
Gesinnung, die der Handlung zugrunde liegt. Allein Smith legt
mit lichtvoller Klarheit dar, daß trotzdem der tatsächliche Erfolg
der Handlung unser moralisches Urteil in hohem Grade beeinflußt.
Die Gewohnheit, fremde Handlungen unserem moralischen Urteil
zu unterwerfen, hat dann zur Folge, daß wir auch bei unserem eigenen
Tun uns auf den Standpunkt eines fremden Beobachters stellen, um
uns gleichsam selbst zu fragen, ob das, was wir zu tun im Begriffe sind,
schicklich oder unschicklich, verdienstlich oder strafbar sei. So entsteht
allmählich in unserem eigenen Innern ein unparteiischer Richter, der
uns sagt, ob das, was wir tun wollen, recht sei oder nicht, und ob das,
was wir getan haben, die allgemeine Billigung verdiene, oder ob wir
uns damit verdiente Mißbilligung zugezogen haben. Ganz unparteiisch
ist diese innere Stimme in uns, die wir unser Gewissen nennen,
allerdings in den meisten Fällen nicht. V o r der Tat sind wir gewöhn-
lich durch unsere selbstsüchtigen Interessen so befangen, daß wir nur
selten ganz ruhig abzuwägen imstande sind. Aber auch nach der Tat
') Hume, „Treatise on human nalure" ed. Green and Grose. II, 395.
'') Vgl die tiefgründige Auseinandersetzung in Hume, „Untersuchung über
die Prinzipien der Moral" in dem Abschnitt: „Why Utility pleases" (warum der
Nutzen gefällt). Hume, „Essays" her. v. Green u. Grose II, 202 ff.
§ 42. Entwicklung der Ethik 205
weiß die sophistische Vernunft meistens allerlei Entschuldigungsgründe
aufzufinden.
Wenn wir aber diesen Richter in unserem Innern durch fortgesetzte
Selbstschulung, durch Vernunft und Philosophie wirklich zu einem
vollkommen unparteiischen Beurteiler gemacht haben, dann werden
wir zu den höchsten moralischen Leistungen befähigt. „Es ist dann
nicht mehr die Liebe zu unserem Nächsten, nicht die Liebe zur Mensch-
heit, die uns zur Ausübung dieser göttlichen Tugenden veranlaßt. Es
ist eine stärkere Liebe, ein mächtigerer Affekt, der bei solchen Gelegen-
heiten entsteht, es ist die Liebe zu all dem, was ehrenvoll und edel ist,
die Liebe zur Größe und zur Würde und zur Überlegenheit unseres
eigenen Charakters" *). Smith hat hier den Gedanken der Menschen-
würde als eines Höhepunktes der moralischen Entwicklung aus-
gesprochen, einen Gedanken, den wir weiter unten vom sozio-
logischen Gesichtspunkt aus werden zu würdigen haben. Seine
Analyse des Gewissens ist überhaupt ein Meisterstück psychologischer
Zergliederung und schon deshalb verdient sein Buch auch heute noch
gelesen und studiert zu werden.
Durch die fortgesetzte Übung in der moralischen Beurteilung
fremder und eigener Handlungen bilden sich allmählich a 1 1-
gemeine Regeln aus, die sehr geeignet sind, selbstsüchtige An-
wandlungen zu hemmen und zu unterdrücken. Das Bewußtsein dieser
allgemeinen Regeln ist dann das, was wir die Pflicht nennen. Der
Pflichtbegriff ist für Smith keineswegs etwas ursprünglich Gegebenes,
wie bei Kant, sondern das Produkt einer langsam sich bildenden Er-
fahrung. Smith zeigt uns, wie auf Grund der in der allgemeinen
Menschennatur liegenden Sympathiegefühle und der Vergeltungs-
gefühle die moralische Beurteilung, das Gewissen und das Pflicht-
bewußtsein entstehen. Sein Werk ist die beste Darstellung der Ethik
auf empirischer und auf psychologischer Grundlage. Es bedarf, wie
wir sehen werden, nur noch der Ergänzung durch die soziologische
Betrachtungsweise.
Die Lehren der englischen Moralphilosophen sind im Laufe des
achtzehnten Jahrhunderts vielfach in Deutschland bekannt geworden
und haben da mehrere Versuche hervorgebracht, zwischen dem Ratio-
nalismus der Leibniz-Wolffschen Philosophie und dem englischen
Empirismus zu vermitteln. Da jedoch Kants apriorisch gerichtete Ethik
jede psychologische Grundlegung schroff ablehnte, so konnte die
deutsche Philosophie die von den Engländern so erfolgreich betretenen
Wege nicht weiter verfolgen. Erst im neunzehnten Jahrhundert finden
wir in Deutschland einige nennenswerte Versuche einer psychologischen
Moralbegründung. Hier ist vor allem Schopenhauers tiefgründige
Mitleidsmoral zu nennen, die zwar mit seiner pessimistischen
Weltanschauung zusammenhängt, von ihm aber trotzdem rein erfah-
rungsmäßig begründet wird. Der von den Engländern eingeführte
allgemeine Begriff der Mitempfindung oder Sympathie wird von
*) Smith, „Theory of moral sentiments", 3. Ausg. v. J. 1767, 3. Teil, 2. Kap.,
S. 214.
206 Allgemeine Ethik
Schopenhauer auf das Mit- Lei den eingeengt, weil der Anblick
des zufriedenen und glücklichen Menschen uns entweder gleichgültig
läßl oder gar unseren Neid erweckt. Dagegen ist das Mitgefühl mit
dem Leiden anderer tief in der Menschennatur begründet und dieses
ist für Schopenhauer die tatsächlich vorhandene Quelle aller selbst-
losen, das heißt aller wirklich moralischen Handlungen. Schopenhauer
Intet daraus die beiden Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der
Menschenliebe in überaus anregender Weise ab. Seine Darlegungen
sind auch für denjenigen sehr belehrend, der den pessimistischen
Grundanschauungen des Philosophen nicht zuzustimmen vermag.
Die bisher betrachteten Versuche einer psychologischen Grund-
legung der Ethik stimmen darin überein, daß alle ein Motiv des selbst-
losen Handelns zu finden sich bemühen. Demgegenüber versuchen die
französischen Aufklärungsphilosophen und Materialisten des acht-
zehnten Jahrhunderts die Sittlichkeit einzig und allein aus dem alle
I landhingen der Menschen bestimmenden Egoismus abzuleiten.
I Hes hatte schon Lamettrie, der Begründer des neueren Materialismus
(s. oben S. 110 f.), in seinem „Discours sur le bonheur" in wenig ge-
schmackvoller Darstellung versucht (Jodl I, 454). Systematisch durch-
geführt ist die egoistische Moralbegründung bei Helvetius (1715 bis
1771 ) in seinem Werke „De l'esprit" (Vom Geiste). Helvetius bekennt
sich zum Sensualismus Condillacs (s. oben S. 60) und findet, daß Lust
und Schmerz die einzigen wahren Beweggründe des menschlichen Han-
delns sind. Wir suchen die Lust und meiden den Schmerz. Als An-
hänger Epikurs meint auch Helvetius, daß die geistigen Freuden
dauernder sind als die sinnlichen, aber wir suchen auch diese nur aus
Selbstliebe. Wir nennen diejenigen Handlungen gut, die uns nützen.
„Ein Richter spricht einen Schuldigen frei, ein Minister erhebt einen
unwürdigen Menschen zu hohen Ehren. Beide sind immer gerecht in
den Augen ihrer Schützlinge" *). Auch die menschliche Gesellschaft
urteilt nicht anders. Sie erklärt das für gut, was ihr nützt und für
böse, was ihr schadet. Indem wir nun das Wohl der Gemeinschaft, in
der wir leben, zu fördern streben, handeln wir unmittelbar auch im
eigenen Interesse und so bleibt die Selbstliebe immer das letzte Motiv.
Trotzdem aber bezeichnet es Helvetius als das sicherste, ja als das ein-
zige Kriterium der Rechtschaffenheit einer Handlung, wenn dadurch
das öffentliche Wohl befördert wird. Er hat ausdrücklich das größte
Glück der größten Anzahl als das Ziel der Tugend hingestellt und
damit die später von Bentham gebrauchte Formel vorweggenommen.
Die egoistische Moralbegründung ist nach Helvetius noch wieder-
holt versucht worden. Am radikalsten vielleicht von Max Stirner in
meinem 1845 erschienenen Buche „Der Einzige und sein Eigentum".
Hier wird jede I l.indlung, auch die der größten Hingabe an das Ideal
,nif egoistische Motive zurückgeführt und damit eigentlich jede Moral
negiert. Infolge einiger äußeren Ähnlichkeiten hat man Stirner mit
Friedrich Nietzsche in Verbindung gebracht, weil dieser die asketische
I thik des l hristentums als Sklavenmoral gebrandmarkt und eine auf
*) Helvetius, Oeuvn complettes, I. 182 (Ausgabe Paris 17Q5).
§ 42. Entwicklung der Ethik 207
dem Willen zur Macht gegründete „Herrenmoral" gepredigt hat, die
in der Konzeption des „Übermenschen" ihren Höhepunkt erreicht, 'Das
wäre jedoch eine arge Verkennung Nietzsches, der ein hohes Ideal auf-
stellt, um dessen allmähliche Verwirklichung sich die Menschheit be-
mühen soll. Nietzsche ist eben bereits mächtig beeinflußt vom Ent-
wicklungsgedanken, der die psychologische Untersuchung
des sittlichen Bewußtseins auf eine neue Grundlage gestellt hat.
Der Evolutionismus -so bezeichnen wir die auf der Idee
der Entwicklung beruhende Betrachtungsweise — ist von uns bereits
oben (S. 125 f.) in seinen wichtigsten Zügen dargestellt worden. Hier
haben wir nur auf seine Bedeutung für die Psychologie und für die
Ethik hinzuweisen.
Darwin und Spencer haben uns gelehrt, bei allen seelischen Vor-
gängen, die wir an uns selbst beobachten oder bei anderen erschließen,
uns die Frage vorzulegen, in welchem Zusammenhange diese Vorgänge
und die ihnen zugrunde liegenden psychischen Dispositionen*)
mitderErhaltungdesLebens stehen.
Durch diese biologische Betrachtungsweise, die wir oben
(S. 23 f.) als ein sehr wichtiges heuristisches Prinzip be-
zeichnet haben, sind neue und überaus bedeutsame Einsichten für die
Psychologie gewonnen worden. Es lag nun nahe, dieselbe Methode
auch auf die Tatsachen und auf die Normen der Ethik anzuwenden.
Darwin hat im fünften Kapitel seines Buches über die Abstammung
des Menschen {Kröners Volksausgabe, S. 99 ff.) in bescheidenem Maße
versucht, die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähig-
keiten während der vorgeschichtlichen und zivilisierten Zeiten darzu-
stellen. Er hat darauf hingewiesen, wieviel die Erwerbung sozialer
Fähigkeiten, also die Sympathie, die gegenseitige Hilfe, die Fähigkeit
der Unterordnung, die Empfänglichkeit für Lob und Tadel der Mit-
menschen zum Entstehen und zum Wachstum sozialer Verbände bei-
trägt, und meint deshalb, daß diese Eigenschaften sich durch natür-
liche Zuchtwahl vererbt und gesteigert haben. In weit umfassenderer
und gründlicherer Weise hat dann Herbert Spencer diese Arbeit in
Angriff genommen. Sein großangelegtes „System der synthetischen
Philosophie", das ganz auf dem Entwicklungsgedanken aufgebaut ist,
findet seinen Abschluß in den „Prinzipien der Ethik", die von Anfang
an als Krönung des Ganzen gedacht waren. Spencer weist zunächst
nach, daß das sittliche Handeln als eine sehr komplizierte Verbindung
von Vorstellungen, Gefühlen, Willensakten und Körperbewegungen,
eine sehr hohe Entwicklungsstufe der Lebenserscheinungen darstellt.
Er zeigt das, indem er die moralischen Handlungen vom physi-
kalischen, vom biologischen, vom psychologischen und vom sozio-
logischen Gesichtspunkt einer eingehenden Betrachtung unterzieht.
Daraus zieht er dann den Schluß, daß wir in den moralischen Normen
der Vollkommenheit nahekommende Anpassungserscheinungen zu er-
blicken haben. Ein Hindernis für die Entwicklung bildet nach Spencer
*) Vgl. über diesen wichtigen Hilfsbegriff Jerusalem, „Lehrbuch der Psycho-
logie", 7. Aufl., S. 30 ff.
20S Allgemeine Ethik
die schon bei Primitiven vorhandene und bis in die Gegenwart
reichende Wertschätzung der kriegerischen Tugenden. Diese
muß im 1 aufe der Zeiten abnehmen und an die Stelle der zwangsweisen
Kooperation muH die freiwillige Kooperation treten. Das Ideal ist für
//« rberi Spencer ein Zustand, in dem jeder Einzelne durch seine Arbeit
für sein eigenes Wohl zugleich das Wohl der Gesellschaft befördert.
\ui dem Wege, den Spencer gezeigt hat, sind viele andere For-
scher gegangen und haben zum Verständnis der moralischen Entwick-
lung viel beigetragen. Wir werden weiter unten zu zeigen haben, daß
der Evolutionismus im Verein mit der soziologischen Betrachtungs-
weise es tatsächlich ermöglicht, das sittliche Bewußtsein als Entwick-
lungsprodukt zu begreifen und zu den ethischen Problemen in befrie-
digender Weise Stellung zu nehmen.
Die meisten der von uns betrachteten Versuche einer psycho-
logischen Moralbegründung fanden auf ihrem Wege das Zusam-
menleben der Menschen als wichtigen Faktor der sittlichen
Entwicklung vor. Es war deshalb darin vielfach von sozialen Gefühlen
und von Pflichten gegen die Gemeinschaft die Rede. Dies gilt auch von
den oben nicht erwähnten psychologischen Untersuchungen des sitt-
lichen Bewußtseins, die von Herbart, von Beneke und von Feuerbach
unternommen wurden. Bei einigen Denkern der Neuzeit tritt nun dieses
soziologische Moment derart in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen,
daß man sie zu einer besonderen Gruppe zusammenfassen kann. Eine
vortreffliche Übersicht über diese Denkrichtung gibt das fleißig ge-
arbeitete Buch von Georg Cohn: „Ethik und Soziologie", Leipzig 1916.
I >a wir weiter unten selbst die Grundzüge einer soziologischen Ethik
geben wollen, so können wir uns hier auf die Anführung der alier-
wichtigsten dieser Denker beschränken.
Ad 3. (Soziologische Untersuchung des sittlichen Bewußt-
seins.) Hier ist vor allem der kraftvolle und originelle Denker Thomas
Hobbes (1588—1679) zu nennen. Nach seiner Überzeugung ist der
ursprüngliche Zustand der Menschheit derart, daß er als Krieg aller
gegen alle zu charakterisieren ist. In diesem Kriegszustand haben
die Begriffe von Recht und Unrecht keine Stätte. Wo keine gemein-
same Macht ist, da ist kein Gesetz. Wo es kein Gesetz gibt, da gibt
es keine Ungerechtigkeit*).
Aus diesem Zustand des Krieges aller gegen alle sucht nun der
Mensch, da er sein Leben erhalten will, dadurch herauszukommen, daß
er sich mit anderen /nsammenschließt, auf das Recht der Gewalt ver-
zichtet, um durch die Gemeinschaft den gegenseitigen Frieden zu
Meilern Da/u zwingt ihn seine eigene Vernunft, die ihm gebietet, für
die I rhaltung seines Lebens zu sorgen. Es ist daher, nach Hobbes, das
erste Vernunftgebot, den Frieden zu suchen. Dies erreichen die Men-
SChen, indem sie sieh zu einem Gemeinwesen (Commonwealth) zu-
Dimenschließen, und sieh durch ausgesprochenen oder stillschweigen-
den V e r t r a g verpflichten, den G esetzen dieses Gemeinwesens
) Hobbes Leviathan, cap. 13 in der (iesaintausgabe der englischen Werke
v. Molesworth, nach der ich zitiere, III. 115.
§ 42. Entwicklung der Ethik 209
zu gehorchen. Das Einhalten dieses Vertrages gebietet ihnen wieder
ihre eigene Vernunft, das heißt das Interesse ihrer Selbsterhaltung.
Darauf gründet Hobbes ein weiteres Vernunftgesetz, das er auch ein
Gesetz der Natur nennt, nämlich die Verpflichtung, Verträge zu
halten. Aus diesen zwei Bestimmungen leitet dann Hobbes im
15. Kapitel des „Leviathan" (III, 130 ff.) eine ganze Reihe von „Ge-
setzen der Natur" ab, die zusammen einen ziemlich reichhaltigen
Moralkodex ausmachen. Er faßt sie dann in der einen Grundforderung
zusammen : „Was du nicht willst, daß dir geschehe, das tue auch keinem
andern." Er sagt aber ausdrücklich, daß diese „Diktate der Vernunft"
nichts anderes sind als „Schlüsse, als Theoreme, die sich auf das be-
ziehen, was für jeden zur Selbsterhaltung und zur Selbstverteidigung
nötig sei" (III, 147).
Die bindende Kraft erhalten diese sittlichen Forderungen erst da-
durch, daß ein Gemeinwesen entsteht, in welchem diese Forderungen
durch die zur Herrschaft berufenen Organe des Gemeinwesens — sei
es nun ein Monarch oder ein Parlament — zu „bürgerlichen Gesetzen"
(civil laws) erhoben werden. „Denn die Gesetze der Natur, die in der
Billigkeit, in der Gerechtigkeit, in der Dankbarkeit und anderen davon
abhängigen moralischen Tugenden bestehen, sind im Naturzustande,
wie ich am Ende des 15. Kapitels gezeigt habe, nicht eigentlich Ge-
setze, sondern Eigenschaften, die zum Frieden und zum Gehorsam be-
fähigen. Wenn ein Gemeinwesen begründet ist, dann sind sie wirklich
Gesetze und nicht früher; denn dann sind sie Gebote des
Staates und deshalb auch bürgerliche Gesetze. Denn es ist die sou-
veräne Macht, welche die Menschen verpflichtet, ihnen zu gehorchen.
Um nämlich in den privaten Streitigkeiten der Menschen zu bestimmen,
was Billigkeit, was Gerechtigkeit, was moralische Tugend ist, und um
diese Forderungen bindend zu machen, dazu bedarf es der Befehle der
souveränen Macht." (Leviathan, 26. Kap., III, 253.)
Hobbes sagt also klar und deutlich, daß die sittlichen Forde-
rungen ihre bindende Kraft erst dadurch erhalten, daß sie zu Staats-
geboten gemacht werden. Da nun, wie Hobbes im 42. Kapitel des
„Leviathan" ausführlich darlegt (III, 485 ff.), nach seiner Überzeu-
gung das Staatsoberhaupt auch in religiösen Fragen zu entscheiden
hat, was im Staate geglaubt und gelehrt werden soll, so wird hier der
Staat zur letzten und zur höchsten Autorität der Moral emporgehoben.
Hobbes'' Lehre von der unbedingten Autorität der Staatsgewalt ist in
der Folgezeit heftig bekämpft worden. Für die Entwicklung der Ethik
bleibt seine Meinung aber höchst bedeutsam und verdient besonders
heute, wo infolge des Weltkrieges das Verhältnis der Politik zur Moral
der Gegenstand intensiven Nachdenkens und lebhafter Erörterungen
geworden ist, besondere Beachtung.
Das soziale Wohlfahrtsprinzip bildet den Kern der Lehre
Jeremias Benthams (1748—1832), der den bereits von Helvetius auf-
gestellten Grundsatz vom größten Glück dergrößten An-
zahl zur Grundlage der Moral und der Gesetzgebung machte. Von
der Richtigkeit dieses zu erstrebenden Zieles ist Benthatn so überzeugt,
daß er eine Begründung für überflüssig hält. Seine Hauptarbeit besteht
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. 14
210 Allgemein« lithik
darin, in die Einschätzung von Lust- und Unlustwerten eine Art von
System hineinzubringen und so eine Berechnung der Summe von Lust
oder Unlust, die sich als Folgen der verschiedenen Handlungsweisen
ergeben, möglich zu machen. Man nennt seine Lehre, die den all-
gemeinen Nutzen zum einzigen Wertmaßstab macht, gewöhnlich
Utilitarismus. Benthams begeisterter Verehrer John Stuart Mill
hat diese Richtung weiterentwickelt, die auch heute noch angesehene
Anhänger besitzt.
her Schöpfer der Soziologie, Auguste Conüe (1798—1857), ist
für ehe ( »eschichte der Ethik schon deshalb wichtig, weil er den Begriff
des „Altruismu s" eingeführt hat, in welchem alle nicht von der
Selbstliebe herstammenden und also dem Egoismus entgegengesetzten
Motive zusammengefaßt werden. Comtes Ethik ist besonders durch
seine hohe Wertschätzung der Familie charakteristisch, in deren
Schoß die altruistischen Gefühle sich am reinsten und am reichsten
entwickeln. In den größeren sozialen Gebilden wirkt wiederum der i n-
tellektuelle Faktor stärker, da die Einsicht in die Notwendig-
keit der Eingliederung den egoistischen Trieben entgegenarbeitet.
Nachdem einmal durch Comte die Gesellschaftslehre als eigener
Wissenszweig geschaffen war, stand die Ethik von da an immer stärker
unter soziologischem Einfluß. Das beweisen alle neueren Darstel-
lungen der Moralphilosophie, die wir deshalb nicht einzeln aufzuzählen
brauchen.
Dagegen verdienen in diesem Zusammenhange zwei Denker Er-
wähnung, die im menschlichen Zusammenleben und der daraus er-
wachsenden Kultur einen Faktor erblicken, der die moralische Entwick-
lung nicht nur nicht fördert, sondern ihr direkt entgegenarbeitet. Der
eine ist Bernard de Mandeville (1670—1733), ein Franzose, der in
London als Arzt lebte. Im Jahre 1708 ließ er eine Flugschrift in Lon-
don drucken mit dem Titel : „Der summende Bienenstock oder Schelme,
die ehrlich wurden" („The grumbling hive or knaves made honest").
Er schildert da in etwa 400 Versen im Bilde eines Bienenstockes einen
Staat, der in großer Blüte steht. Rastlosigkeit, Unzufriedenheit,
Wollust, Eitelkeit, Betrug sind herrschend, tragen aber alle zum ge-
meinen Besten bei. Da kamen nun einige, die zu rufen begannen : „Fort
mit der Verderbtheit. Du lieber Gott, wären wir doch bloß ehrenhaft."
Die Götter erhören den Ruf. Die Heuchelei verschwand, der Luxus
hörte auf. Man begnügte sich mit den heimischen Erzeugnissen und
bedurfte keiner kostbaren, eingeführten Waren. Die Schiffahrt wurde
eingestellt. Die Bevölkerung nahm ab und zuletzt:
„Sie flüchten sich in einen hohlen Baum,
Dort hat Zufriedenheit und Tugend Raum."
Mandeville fügt dann noch die „Moral der Fabel" hinzu und
sagt: „Ohne Laster einen Staat groß zu machen, ist eine Utopie, ein
Hirngespinst. Das Laster ist für das Gedeihen des Gemeinwesens
ebenso nötig, wie der Hunger für die Ernährung des Körpers. Die
Tugend allein ist nicht imstande, die Völker in Überfluß und in Glanz
leben zu machen. Wer das goldene Zeitalter wieder herstellen will, der
§ 42. Entwicklung der Ethik 211
muß für Eicheln als einzige Nahrung ebenso begeistert sein, wie für
die Tugend." Als das Gedicht unbeachtet blieb, veranstaltete Mande-
ville einige Jahre später eine neue Ausgabe unter dem Titel: „Die
Bienenfabel, oder: Wie private Laster zu öffentlichen Wohltaten wer-
den" („The fable of the bees, or private vices public benehts"), bei
welcher Gelegenheit er eine Reihe von Abhandlungen über den Ur-
sprung der Tugend, über Barmherzigkeit und über das Wesen der Ge-
sellschaft hinzufügte. In diesen Aufsätzen trat er besonders scharf dem
Optimismus Shaftesburys entgegen und suchte mit großem Scharfsinn
darzutun, daß ohne den Ansporn der Habsucht, der sinnlichen Be-
gierden, des Wettbewerbes ein reicheres und verfeinertes Kulturleben
sich nicht entwickeln könne.
Mandeville hat zweifellos darin recht, daß die egoistischen Triebe
im Menschen der stärkste Ansporn zur Aktivität, zur Unternehmungs-
lust sind, und daß die vollständige Unterdrückung derselben eine
Stagnation des wirtschaftlichen Lebens und damit des kulturellen Fort-
schrittes nach sich ziehen müßte. Er hat jedoch ganz übersehen, daß
ohne gegenseitige Hilfe, ohne Rücksicht auf die Rechte der anderen,
ohne Einordnung und Unterordnung ein Zusammenleben ebensowenig
möglich wäre.
Von einem ganz anderen Standpunkt ausgehend als Mandeville
hat Jean Jacques Rousseau (1712—1778) darzutun versucht, daß die
Kultur die Sitten der Menschen verderbe. Auf die Preisfrage der Aka-
demie von Dijon, ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste
dazu beigetragen habe, die Sitten zu reinigen, antwortet er in seiner Be-
werbungsschrift mit einem flammenden „Nein". In seiner nächsten Arbeit
über die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen predigt er die
Rückkehr zum Naturzustande. Am eindrucksvollsten legt er dann seine
Ansichten dar in seinem 1762 erschienenen pädagogischen Roman
„Emile". „Alles ist gut;" heißt es da am Eingang, „so wie es aus den
Händen des Urhebers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter der
Hand des Menschen." Rousseau glaubt also im Gegensatz zu Hobbes
und zu Mandeville an die ursprüngliche Güte und Reinheit der Men-
schennatur, ist aber davon überzeugt, daß diese ursprüngliche Rein-
heit durch das Zusammenleben der Menschen und die daraus ent-
standenen Einrichtungen arg getrübt worden sei. Er empfiehlt deshalb
eine Erziehungsmethode, bei der der Zögling möglichst losgelöst vom
gesellschaftlichen Verkehr in der Natur aufwachsen, die in ihm liegen-
den Anlagen entfalten und die fürs Leben nötigen Erfahrungen selbst
machen und selbst deuten lernen möge.
Im „Emile" findet sich auch Rousseaus berühmtes Glaubens-
bekenntnis, das er einem savoyschen Vikar in den Mund legte. Hier
sieht man, daß Rousseaus Glaube ganz auf seinem lebendigen Gefühl
von der Schönheit der Natur beruht, einem Gefühl, das ihm bei seinen
einsamen Wanderungen in der Alpenwelt, deren erhabene Reize er erst
neu entdecken mußte, am reinsten zum Bewußtsein kam. Solch ein
inniges Naturgefühl wird nun freilich durch das Leben in der Gesell-
schaft niemals hervorgerufen, sondern im Gegenteil, weit eher ver-
dorben. Rousseaus Ruf nach Rückkehr zur Natur ist deshalb mehr
14*
2 1 2 Allgemeine Ethik
persönliche Stimmung, als wissenschaftliche Überzeugung. Hat er doch
selbst in seiner Schrift vom Gesellschaftsvertrag einen sehr wirksamen
Versuch gemacht, das Zusammenleben der Menschen auf neue Grund-
Lagen zu stellen.
Jedenfalls beweisen Manäeville und Rousseau besonders deutlich,
wie dringend notwendig das soziologische Studium der Beziehungen
des ein/einen Menschen zur organisierten Gesellschaft für das Ver-
ständnis der moralischen Entwicklung geworden ist. Nur auf diesem
Wege können solche Einseitigkeiten vermieden werden.
Ad 4. (Metaphysische Begründung der sitt-
lichen Forderungen.) Neben den psychologischen und sozio-
logischen Untersuchungen des sittlichen Bewußtseins und zum Teil
sogar in Verbindung mit ihnen finden wir auch in der neueren Philo-
sophie einige Versuche, die Ethik durch Annahmen zu begründen,
die über die Erfahrung hinausgehen, und das Sittliche als etwas an-
zusehen, das in der ganzen Weltordnung seine Grundlage hat.
Wie Spinoza aus seinem Pantheismus heraus die Liebe zu Gott
als unbedingte Hingabe des Menschen an das All fordert und in dieser
vollkommen selbstlosen Hingabe die höchste Verpflichtung des Men-
schen findet, haben wir bereits oben (S. 121 f.) gesehen. In ähnlicher
Weise bezeichnet der französische Denker Malebranche (1638 — 1715)
es als die höchste sittliche Aufgabe des Menschen, Gott, in dessen
Wesen Wahrheit und Gerechtigkeit in eins zusammenfallen, zu er-
kennen und zu lieben. Unser Wille muß die Kraft erlangen, die durch
die Sinnlichkeit nahegelegten Irrtümer ebenso zu vermeiden, wie die
aus unseren Trieben stammenden Neigungen zu bekämpfen. Dadurch
gelangen wir dazu, uns mit Gott, in dem alle Dinge sind, eins zu fühlen.
Unseren Nebenmenschen sollen wir Achtung und Wohlwollen entgegen-
bringen, weil sie in gewissem Grade die Vollkommenheiten des gött-
lichen Wesens ausdrücken. (Jodl I, 347.)
Metaphysische Voraussetzungen liegen auch der Kantschen Ethik
zugrunde. Die ethische Struktur der praktischen Vernunft, die nach
Kant a priori gewiß ist, stellt sich bei näherer Betrachtung als eine
über die Erfahrung hinausgehende, also metaphysische Annahme her-
aus. Diese versteckte Metaphysik tritt bei Kants Nachfolgern deutlich
hervor. Für Fichte, der die Selbständigkeit und Freiheit unseres Ich als
absolute und zugleich unmittelbare Gewißheit ansieht, ist die ganze
Welt nichts anderes als „das versinnlichte Material der Pflicht". Da-
mit ich meine sittliche Bestimmung erfüllen kann, dazu muß eine Welt
da sein als Betätigungsgebiet meines sittlichen Willens.
Bei He ^el, der von früher Jugend an gewohnt war, geschicht-
lich zu denken, wird dann die sittliche Forderung zu einer Tat des
„objektiven Geiste s". Dieser verkörpert sich zunächst im
Recht, das als Erzeugnis des Gesamtwillens das Leben regelt
und dabei in das subjektive Bewußtsein eindringt. Dort entfaltet es
sich zur „ Moral ität", worunter Hegel die allmählich sich entwickelnde
Fähigkeit versteht, Recht und Unrecht, Gut und Böse zu unterschei-
den, also das, was wir das „Gewissen" nennen. Dieses subjektive
Gefühl kann aber irren. Seinen objektiven Inhalt bekommt es erst in
§ 43. Richtungen der Ethik 213
der konkret gegebenen Sittlichkeit, wie sie in der Familie, in der
bürgerlichen Gesellschaft und im Staate gegeben ist.
Wir übergehen die Versuche Schellings und Schleiermachers, das
Sittliche aus der romantischen Weltanschauung zu begründen und
ebenso den tiefgründigen Gedanken Eduard von Hartmanns, der die
Sittlichkeit als Erlösung Gottes darzustellen unternahm. Wir bemerken
nur noch, daß auch für die Stellungnahme zu einer metaphysischen
Moralbegründung die weiter unten folgende Darstellung einer sozio-
logischen Ethik die Richtlinien zu ziehen haben wird.
§ 43. Richtungen der Ethik
Im Laufe der hier von uns skizzierten historischen Entwicklung
der philosophischen Ethik haben sich nun bestimmte Probleme und
ihnen entsprechende Grundrichtungen herausgebildet, die wir zum
Schluß noch kurz zusammenfassen wollen. Wir ordnen die Probleme der
leichteren Übersicht wegen nicht nach historischen, sondern nach metho-
dischen und nach sachlichen Gesichtspunkten.
Da haben wir denn zunächst die Frage nach dem Ursprünge
der moralischen Beurteilung, des sittlichen Gefühles, der ethischen
Verpflichtung. Die wissenschaftliche Ethik hat auf diese Frage zwei
einander entgegengesetzte Antworten gegeben. Die einen behaupten,
die Unterscheidung von Gut und Böse sei eine ganz ursprüngliche
Funktion des Menschengeistes. Wir haben, wie es namentlich Hut-
cheson formuliert, einen „moralischen Sinn", der untrüglich ent-
scheidet, was gut und was böse ist. Oder aber man läßt die Frage des
Angeborenseins einer solchen Fähigkeit beiseite und begnügt sich da-
mit, die G e 1 1 u n g des Sittengesetzes als eine von jeder Erfahrung un-
abhängige und eben darum objektive und allgemeine hinzustellen.
Diese beiden nicht identischen, aber doch ähnlichen Auffassungen kann
man als Apriorismus bezeichnen, weil es a priori, das heißt von
vornherein, vor aller Erfahrung feststeht, was dem Sittengesetz gemäß
ist und was nicht. Kant und Fichte sind die bedeutendsten Vertreter
des ethischen Apriorismus.
In vollständigem Gegensatze dazu behaupten die anderen, das
Sittliche sei ganz und gar als Produkt der Entwicklung aufzufassen.
Erst die Erfahrungen des menschlichen Zusammenlebens lassen die
moralische Beurteilung, das moralische Gefühl und den Gedanken einer
moralischen Verpflichtung entstehen. Man könnte eine derartige e r-
fahrungsmäßige Begründung der Ethik als ethischen Empi-
rismus bezeichnen. Tatsächlich aber verbindet sich diese Auffassung
in der neueren Zeit immer mit dem Entwicklungsgedanken und wird
deshalb besser Evolutionismus genannt.
Als Zweck des sittlichen Handelns gilt der antiken Ethik die
individuelle Glückseligkeit. Das ist, wie Aristoteles darlegt, ein
Gut, das wir um seiner selbst willen begehren und eben deswegen kann
man es als das allgemeine Ziel bezeichnen, dem alle Menschen nach-
streben. Wir haben diese Denkrichtung der Ethik bereits wiederholt als
Eudaimonismus bezeichnet. Da jedoch das Wesen der Glück-
214 Allgemeine Ethik
seligkeil verschieden bestimmt wird, so müssen wir auch verschiedene
I ormen des I udaimonismus unterscheiden. Faßt man mit Aristipp und
mit lipikur die Glückseligkeit als sinnliche oder geistige Lust auf, so
haben wir einen hedonistischen Eudaimonismus vor uns, den wir auch
kurz als H ed o n i s m u s (vom griechischen „Hedone" = Lust) be-
zeichnen können.
Nimmt man jedoch mit Aristoteles an, daß das Glück nicht in
passivem ( ienusse, sondern in einer vernunftgemäßen Betätigung
unserer inneren Kräfte bestehe, dann haben wir eine viel brauchbarere
Form der Glückseligkeitslehre gegeben, die wir vielleicht sachgemäß
da\ energetischen Eudaimonismus nennen können.
Betrachtet man mit Bentham als das erstrebenswerte Ziel alles
menschlichen Tuns das größte Glück der größten Anzahl, so darf man
diese als Utilitarismus bezeichnete Denkrichtung mit noch
besserem Rechte einen sozialen Eudaimonismus nennen. Die Lehre
derjenigen Religionen, die das irdische Leben nur als Vorbereitung für
das Leben im Jenseits ansehen und das künftige Heil als das wahre
Ziel des Lebens hinstellen, ist passend als jenseitiger Eudaimonis-
mus zu bezeichnen.
Kant bekämpft nun, wie wir gesehen haben, den Eudaimonismus
in jeder Form. Das Ziel des Menschen kann es nicht sein, die Glück-
seligkeit zu erlangen. Sein einziger Zweck ist, das in ihm wohnende
Sittengesetz zu verwirklichen oder, wie es Fichte formuliert, seine Be-
stimmung zu erfüllen. Man kann diese Denkrichtung als Vollkom-
menheitsmoral, als Perfektionismus bezeichnen. Mir
erscheint es passender, sie einfach ethischen Idealismus zu
nennen,
Als Motive des menschlichen Handelns will eine große Zahl
von Denkern ausschließlich das eigene Interesse, die Selbstliebe, kurz
alles das gelten lassen, was man im Leben als Egoismus be-
zeichnet. Man versucht demgemäß, auch das moralische Handeln auf
egoistische Motive zurückzuführen. Für die meisten antiken Ethiker,
für Hobbes, für Helvetius, für Holbach, für Max Stirner gilt das
sogar als selbstverständlich. Die darauf sich gründenden Ableitungen
der sittlichen Normen und die damit verbundene psychologische Er-
klärung haben jedoch immer etwas äußerst Gezwungenes. Sie erweitern
dabei meist den Umfang des Begriffes „Egoismus" über das zulässige,
meist sogar über jedes verständliche Maß hinaus. Der normal denkende
und natürlich empfindende Mensch wird niemals verstehen können,
daß sich jemand aus Selbstsucht für sein Vaterland opfert oder aus
reinem Egoismus sein Leben dem Wohle der Menschheit widmet. Wenn
jemand in einer solchen Handlungsweise innere Befriedigung findet,
so ist er eben deshalb kein Egoist. Die Freude an solchen gemein-
nützigen Bestrebungen hat vielmehr ihre Quelle in ganz anderen
lenkräften, die ebenso ursprünglich sind, wie der Trieb nach Selbst-
erhaltung und das Verlangen nach Genuß.
Die eben besprochenen psychologischen Untersuchungen des Ur-
sprunges der moralischen Gefühle haben in ihrer überwiegenden Mehr-
zahl das Vorhandensein einer natürlichen Mitempfindung oder Sym-
§ 43. Richtungen der Ethik 215
pathie mit den Gefühlen anderer bei jedem Menschen nachzuweisen
unternommen. In neuerer Zeit haben diese Untersuchungen auch eine
biologische Grundlage erhalten. Neben dem von Darwin und Spencer
-aufgestellten Prinzipe des „Kampfes ums Dasein" haben namhafte
Forscher die Wirksamkeit eines wesentlich anderen Faktors erwiesen.
In der ganzen Tierwelt und ebenso bei den primitiven Menschen finden
wir das Streben nach „gegenseitiger Hilf e", wofür besonders
Peter Kropotkin in seinem bekannten Werke überaus zahlreiche und
sehr beweiskräftige Belege beigebracht hat.
Auguste Comte hat nun alle Motive des menschlichen Handelns,
die nicht auf Selbstsucht zurückgehen, unter dem Namen „A 1 1 r u i s-
m u s" (von alter = der andere) zusammengefaßt und so steht jetzt
der egoistischen Moralbegründung, die noch immer ihre An-
hänger zählt, die altruistische gegenüber, die den gegebenen
Tatsachen und dem allgemeinen Bewußtsein zweifellos besser ent-
spricht. Der Begriff des Altruismus scheint jedoch etwas zu eng zu
sein. Man denkt dabei bloß an die Beziehungen der einzelnen Menschen
zueinander und weniger an das allgemeine Solidaritätsgefühl,
das die Mitglieder einer Gruppe und schließlich alle Menschen unter-
einander verbindet. Gerade darauf aber führt Kropotkin die Tatsachen
der gegenseitigen Hilfe mit vollem Recht zurück. Meynert hat in seinem
gedankenreichen Vortrag „Gehirn und Gesittung" für diese auf das
Wohl anderer und auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtete Gesin-
nung die sehr treffende Bezeichnung „M u t u a 1 i s m u s" vor-
geschlagen und dieses Wort charakterisiert die gemeinte Denkrichtung
viel schärfer und viel präziser*). Der Mutualismus oder das Prin-
zip der Gegenseitigkeit ist auch geeignet, den Wahrheits-
gehalt der egoistischen Moralbegründung in sich aufzunehmen. Das
Solidaritätsgefühl, aus dem das Streben nach gegenseitiger Hilfe her-
vorgeht, steht mit meinen eigenen Interessen nicht im Widerspruch. Ich
fördere auch mein eigenes Wohl, indem ich dem Ganzen diene. Das
Motiv des Mutualismus dürfte also als die den Tatsachen am meisten
entsprechende Synthese von Egoismus und Altruismus zu be-
trachten sein.
In bezug auf die Normen des sittlichen Handelns und die
Sanktion derselben, das heißt die Bestimmung derjenigen Macht
oder Autorität, die den Normen ihre bindende Kraft gibt, scheiden sich
zwei Richtungen ziemlich schroff voneinander. Die starken Persönlich-
keiten unter den Ethikern, wie Sokrates, die älteren Stoiker, Kant und
besonders Fichte, sind der Überzeugung, daß in unserer eigenen Ver-
nunft, in unserem eigenen Gewissen der letzte Grund und die höchste
Sanktion der sittlichen Normen zu suchen sei. Kernt hat diese Denk-
richtung als autonome Ethik bezeichnet. Findet man diesen
letzten Grund in der Vernunft, also in der Erkenntnis, so nennen wir
diese Form der autonomen Ethik Reflexionsmoral. Nimmt man
dagegen, wie dies Shaftesbury, Adam Smith und Schopenhauer getan
*) Vgl. über diesen Vortrag Mcynerts: Jerusalem, „Gedanken und Denker",
S. 122 ff.
j I (l Allgemeine Ethik
haben, ein Gefühl als Grundlage an, so sprechen wir von einer G e-
i 11 h 1 s in o r a 1.
Sucht man jedoch diu letzten Grund der ethischen Normen nicht
im Menschen selbst, sondern in einer außer ihm und über ihm befind-
lichen Macht, so nennt man die auf einem fremden Machtgebot be-
ruhende Sittenlehre nicht mehr autonome, sondern heteronome
Ethik. Diese äußere Macht hat meistens religiösen Charakter. Es ist
dann die I iottheit oder die Kirche, die uns das Sittengesetz gibt. Kant
hat, wie wir oben sahen, jede Heteronomie in der Ethik auf das ent-
schiedenste bekämpft, wobei er ausschließlich die theologische Hetero-
nomie im Auge hatte. Man kann aber auch die Ansicht vertreten, daß
die sittlichen Forderungen an den Einzelnen zuerst in der Form
sozialer Imperative, das heißt als Gebote der Gesellschaft
herantreten, der er als Mitglied angehört. Dann kommen sie doch ge-
\\ issermaßen von außen und es ist dies dann auch eine Art von
I leteronomie. Für diese Annahme sprechen aber sehr gewichtige Tat-
eichen, die wir in unserer eigenen Darstellung der Ethik werden
anzuführen haben. Da aber die Menschengruppe selbst nur aus
Menschen besteht, so können die in ihr entstandenen Forderungen doch
nicht als Fremdgebote und die darauf gegründete Ethik nicht als voll-
ständige Heteronomie bezeichnet werden. Man wird vielmehr sagen
müssen, das Sittengesetz sei, soweit der Einzelne in Betracht kommt,
heteronom, insofern aber die menschliche Gesellschaft als seine Schöp-
ferin anzusehen ist, doch wieder als autonom zu bezeichnen.
Mit der Frage der Autonomie hängt auch das Verhältnis der Ethik
zur Religion zusammen, das wir bereits oben erörtert haben.
Der Weltkrieg hat uns jedoch ein anderes überaus wichtiges Pro-
blem wieder nahegebracht, das auch vorher schon die Geister vielfach
beschäftigt hatte. Es ist dies der schroffe Gegensatz, der zwischen der
Kriegsmoral und der Friedensmoral seit jeher bestanden
hat. im Frieden sind wir verpflichtet, das Leben, die Freiheit, das
Eigentum der Nebenmenschen als unverletzlich zu betrachten. Im
Kriege werden wir dazu verhalten, möglichst viele von unseren Fein-
den zu töten, zu verwunden, gefangenzunehmen. Im Frieden gelten
räuschung, Betrug, Verstellung und Lüge als unmoralisch. Im Kriege
all das dem Feinde gegenüber erlaubt, ja sogar geboten. Da nun
bisher die meisten Staaten sich auch im Frieden für einen künftigen
Krieg vorbereiteten, so bestand dieser Gegensatz in gewissem Grade
auch im Frieden. Es war immer nur ein notdürftiges Kompromiß
/wischen Kriegsmoral und Friedensmoral möglich. Das hat unter den
neueren 1 thikern besonders Herbert Spencer lebhaft empfunden und
einen solchen Zustand auf die Dauer als unhaltbar bezeichnet. Sieht
man genauer zu, so erweist sich dieser jetzt besonders fühlbare Gegen-
satz als Spezialfall eines umfassenderen ethischen Problems, das für
die nächste Zukunft von besonders dringender Bedeutung sein wird.
I - handelt sich um das schon von fhukydides erörterte Verhältnis
/wischen Politik und Moral, das heißt um die Frage, inwieferne
für die Beziehungen der Staaten untereinander moralische Forde-
rungen Geltung besitzen. Diese Frage hängt aber in letzter Linie
§ 43. Richtungen der Ethik 217
wiederum mit der Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Staate
und seinen Bürgern zusammen und ist nur durch die vertiefte Einsicht
in die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen
und der Gesellschaft zu lösen.
Diese Wechselbeziehungen zu erforschen ist aber die eigentliche
Aufgabe der Gesellschaftslehre und so mündet die Ethik
schließlich in die S o z i o 1 o g i e, von der sie selbst ein Teil ist. Es wird
sich deshalb empfehlen, unsere eigene Darstellung der Ethik in den
Abschnitt, der die Soziologie behandelt, einzufügen.
Literatur
Friedrich Jodl, Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft.
2. Aufl. 1906—1912. 1. Bd. 3. Aufl. 1920.
Theobald Ziegler, Geschichte der christlichen Ethik. 1886.
Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen. 1882.
Wilhelm Wundt, Ethik, eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des
sittlichen Lebens. 3 Bände. 4. Aufl. 1912. (Entwickelt vortrefflich den Begriff
des Gesamtwillens.)
EduardWestermarck, Origin and development of the moral ideas. 2 Bände.
1906—1908. Deutsch von Leopold Katscher 1907—1909. (Wegen des
sorgfältig gesammelten und geordneten, überaus reichen Tatsachenmaterials
ein für jeden Forscher unentbehrliches, aber auch für jeden Laien verständ-
liches, sehr belehrendes Werk.)
August Döring, Philosophische Güterlehre. (Sehr anregende, auf den Be-
griff des Bedürfnisses gegründete Erörterung.)
Johannes Unold, Grundlegung für eine moderne praktisch-ethische Lebens-
anschauung. 1898.
Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens. 1908.
Rudolf Goldscheid, Ethik des Gesamtwillens. 1902.
Reine Vernunft und Staatsvernunft. 1918. (Enthält die drei letzten Kapitel
des früheren Werkes mit einer neuen Vorrede.)
H. Sidgwick, The methods of ethics. 8. Aufl. 1901. Deutsch 1908.
J. Marti neau, Types of ethical theory. 2 Bände. 3. Aufl. 1901.
C h. Renouvier, Science de la morale. 2 Bände. 1908.
Friedrich Paulsen, System der Ethik. 2 Bände. 7. Aufl. 1908.
Harald Höffding, Ethik, eine Darstellung der ethischen Prinzipien und
deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse. Deutsch von B e n-
dixen, 2. Aufl. 1901. (Tiefgründiges und sehr anregendes Werk.)
Alexander Sutherland, The origin and growth of the moral instinct.
2 Bände. 1898.
Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschcnwelt.
Deutsch von Landauer. Volksausgabe. 1910.
Georg Cohn, Ethik und Soziologie (von der Universität Kopenhagen mit
der goldenen Medaille ausgezeichnet). 1916.
Friedrich Jodl, Allgemeine Ethik. Herausgegeben von Wilhelm Börner.
1918.
Wilhelm Jerusalem, Moralische Richtlinien nach dem Kriege. Ein Beitrag
zur soziologischen Ethik. 1918.
Robert Reininge r, Friedrich Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens.
Der Ertrag seiner Philosophie für die Ethik. 1921.
R. N. Coudenhove, Ethik und Hyperethik. 1921.
Felix Adler, An ethical philosophv of life. 1919. (Ein erlebtes, gedanken-
reiches und sehr anregendes Buch.)
Siebenter Abschnitt
Soziologie und Geschichtsphilosophie
§ 44. Gegenstand der Soziologie
Die Soziologie ist die jüngste der philosophischen Wissenschaften
und hat sich erst in den letzten Jahren als selbständiger und überaus
wichtiger Wissenszweig durchgesetzt. Ihr Gegenstand ist der
Mensch als soziales Wesen oder richtiger gesagt d i e z u r
Einheit zusammengeschlossene Menschengruppe.
Line solche Gruppe ist mehr und ist etwas anderes als die Summe der
sie bildenden Individuen. Jede derartige Gruppe ist eine Art von Ge-
meinschaft, und zwar eine Gemeinschaft des Denkens, des Fühlens und
des Strebens. Als sprachliche und historische Gemeinschaft tritt sie uns
im Volke, in der Nation entgegen, als Rechtsgemeinschaft im Staate,
als Interessengemeinschaft in den Zünften, Innungen und Vereinen, als
< Haubens- und Gesinnungsgemeinschaft in der religiösen Gemeinde
und schließlich als Kulturgemeinschaft in dem Begriff der Mensch-
heit. Die Gruppe übt auf jedes ihrer Mitglieder einen mächtigen Ein-
fluß aus, indem sie Impulse gibt, Hemmungen schafft oder beseitigt.
Das Werden und Sein, das Vorstellen und das Denken, das Fühlen
und das Handeln des Einzelnen wird durch die Gruppe vielfach be-
stimmt. Dabei ist die Gruppe immer Schöpferin und Gestalterin.
Wundts großer Gedanke von der schöpferischen Synthese in der gei-
stigen Entwicklung tritt uns in der sozialen Gruppe lebhaft und greif-
bar vor Augen. Durch die Gemeinschaft der Individuen entsteht etwas
Neues, Überpersönliches, das sich dem Einzelnen gegenüberstellt und
das doch wieder durch die Arbeit der Individuen vermehrt und modi-
fiziert wird. Alle sozialen Phänomene bieten dem Betrachtenden ein
merkwürdiges Doppelantlitz dar. Sie sind außer uns und treten
uns da als .Wacht und Autorität gegenüber. Sie beeinflussen, sie be-
schränken, sie gebieten und sie zwingen. Das ist zweifellos die Wir-
kung der geltenden Gesetze, der herrschenden Sitten, der religiösen
Glaubenssätze, der Kultgebräuche, der Mode und des herrschenden
Geschmackes. Die sozialen Phänomene sind aber nicht bloß außer
und über uns, sie sind auch i n uns. Sie erfüllen unsere Seele mit
reichem Inhalt, sie geben uns Anschluß und inneren Halt, den wir, auf
uns allein gestellt, nie gewinnen könnten, sie geben unserem Denken
Stoff, Richtung und Ziel. Diese zweifache Funktion des Sozialen haben
§ 44. Gegenstand der Soziologie 219
erst in jüngster Zeit französische Soziologen herausgestellt*). Der
Kern dieser Wahrheit ist allerdings schon in dem ebenso tiefsinnigen
als schlichten Worte Christi enthalten: „Wenn zwei beisammen sind
in meinem Namen, so bin ich mitten unter ihnen." Wo immer sich
mehrere Menschen zu einer gemeinsamen sittlichen Aufgabe vereinen,
da erhebt sich zwischen ihnen und über ihnen ein Höheres, ein Über-
persönliches, das dem Einzelnen als etwas Objektives gegenübersteht,
das aber doch wieder tief in seine Seele eindringt, sein Selbst erweitert
und ihn zu einer höheren Weihe emporhebt.
Es vollziehen sich also zwischen dem sozialen Ganzen und den
einzelnen Individuen, die ihm angehören, fortwährende Wechsel-
wirkungen. Die soziale Gruppe wirkt zuerst mit elementarer Macht
auf jedes ihrer Mitglieder ein. Im Laufe der Zeiten zeigt sich aber
auch eine intensive Einwirkung hervorragender Persönlichkeiten auf
die Struktur und auf die Entwicklung der Gruppe. Das unzweifelhafte
Vorhandensein solcher Wechselbeziehungen ist der Daseinsgrund der
Soziologie, und diese Beziehungen bilden den einheitlichen und doch
überaus mannigfaltigen Gegenstand, der alle solchen Untersuchungen
zu einer Wissenschaft zusammenschließt und ihr zugleich den philo-
sophischen Charakter aufprägt. Die Soziologie ist die P h i 1 o s o p h i e
der m e.n s c h 1 i c h e n Gesellschaft. Sie hat es mit der Ent-
wicklung des menschlichen Zusammenlebens zu tun und muß
insbesondere die daraus hervorwachsenden Erzeugnisse des G e-
s a m t g e i s t e s, wie z. B. die Sprache, das Recht, die Sitte, die
Religion in ihrem Wesen und Werden untersuchen und dabei immer
die Einwirkung dieser geistigen Gebilde auf die Wechselbeziehungen
zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft im Auge behalten. Da
nun alle diese Wechselbeziehungen wesentlich geistiger Natur
sind, so erweitert sich der Gegenstand der Soziologie immer mehr in
dem Sinne, daß sie die gesamte geistige Entwicklung der Menschheit
in sich faßt. Es zeigt sich dabei immer deutlicher, daß der Menschen-
geist erst im Zusammenleben zu seiner vollen Entfaltung kommt
und daß erst die soziologische Betrachtungsweise uns die wahre Be-
deutung des Geistigen im Menschen zu vollem Bewußtsein zu bringen
vermag. Das macht die Soziologie zur wahren Geisteswissen-
schaft, und eben das prägt ihr auch ihren philosophischen
Charakter auf. Die natürlichen Bedingungen des menschlichen Da-
seins, wie Klima, Bodenbeschaffenheit, Küstenentwicklung und an-
deres, sind zweifellos von der allergrößten Bedeutung. Es kommt aber
darauf an, wie der Mensch diese gegebenen Daseinsbedingungen be-
nützt, was er daraus macht, und das hängt von seinen geistigen Fähig-
keiten ab, die sich erst im Zusammenleben entfalten. Aus diesem Zu-
sammenleben aber gehen erst, wie wir später sehen werden, die selb-
ständigen, kraftvollen Persönlichkeiten hervor, die wiederum ihrerseits
auf die soziale Gestaltung des Lebens einwirken. Man kann also, wie
*) Vgl. H. Hubert und H. Mauss, Melanges d'histoire des Religions, Paris 1900.
S. 128 f. Siehe auch Jerusalem, „Die Aufgabe der Soziologie" in der Monats-
schrift für Soziologie I (1909), S. 550 ff., und ferner /erusalem, „Die Aufgaben
des Lehrers an höheren Schulen", Wien 1912, S. 18 f.
220 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Comte einmal gesagt hat, niemals die Menschheit aus dem einzelnen
Menschen, sondern immer nur den einzelnen Menschen aus der
Menschheit, das heißt aus dem Zusammenleben der Menschen be-
greifen. So erweitert sieh die Soziologie zur Wissenschaft von der
Geistigkeit des Menschen und der Menschheit.
§ 45. Die Aufgaben der Soziologie
ch dem eben Gesagten erscheinen die Aufgaben der Soziologie
auf den ersten Blick so umfassend und so mannigfaltig, daß sie ganz
unübersehbar werden. Diesen Eindruck dürfte jeder bekommen, der
einen Band des in Paris erscheinenden Jahrbuches für Soziologie
i I 'annee sociologique, bisher 12 Bände) durchblättert. Man muß zu-
geben, daß es schwerlich einen Forscher geben kann, der alle dort be-
rücksichtigten Gebiete beherrscht, und daß es nicht leicht ist, das ge-
meinsame Band zu finden, das die dort besprochenen Werke miteinan-
der verknüpft. Trotzdem aber hat sich die Soziologie als Wissenschaft
durchgesetzt. Das Bedürfnis nach Erforschung der Kräfte, die im
menschlichen Zusammenleben wirksam sind, ist eben zu stark gewor-
den und verlangt gebieterisch nach Befriedigung.
Sollen nun die Aufgaben der Soziologie übersehbarer gemacht
weiden, so empfiehlt es sich zunächst, dieselben in zwei große
( iruppen zu gliedern. Die erste derselben bilden die äußeren A u f-
g aben. Diese bestehen darin, die soziale Struktur der tatsächlich be-
siehenden Verbände, also der Familie, des Clans, der Totemgruppe,
des Stammes, der Gemeinde, der Nation, des Staates und schließlich
der ganzen Menschheit, darzustellen. Aber auch die innerhalb eines
sozialen Ganzen sich bildenden Gruppen, wie z. B. Kasten, Männer-
bünde, Priesterkollegien, politische Parteien, Vereine, Genossen-
schaften, Zünfte u. dgl., werden den Gegenstand soziologischer
Untersuchungen bilden, die hier vornehmlich den Charakter
historischer und statistischer Arbeiten tragen werden.
Auf diesen Gebieten ist auch eine weitgehende Teilung der Arbeit
möglieh und zum Teil bereits durchgeführt. Der Historiker und der
I tlmologe, der Jurist, der Sprachforscher und der Nationalökonom,
aber auch der Religionsforscher und der Philosoph können hier wert-
volle Beiträge liefern. Tatsächlich kann man heute schon auf eine An-
zahl von Werken hinweisen, die solche Einzelgebiete zum Gegenstand
haben. Wir verweisen z. B. auf Morgans „Urgesellschaft", auf Maines
„Ancient Law", auf Wester mar cks „Geschichte der Ehe" und sein
bereits oft genanntes großes Werk über den Ursprung der moralischen
Ideen, auf Sdnirtz „Männerbünde", auf Franz Kleins „Organisa-
tionswesen der Gegenwart" und auf Bouglis „Sur le regime des castes".
Wenn aber solche Arbeiten dazu beitragen sollen, die Soziologie
allmählich zu einer Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes aus-
zugestalten, so müssen sie begleitet und durchdrungen sein von einer
tersuchung des Einflusses, den das Zusammenleben auf die Seelen-
kräfte des Menschen ausübt. Man muß einsehen lernen, wie durch die
§ 45. Die Aufgaben der Soziologie 2?1
fortwährenden seelischen Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen
und der Gesellschaft die Struktur der Menschenseele sich zu dem
Reichtum und zu der Vielgestaltigkeit entwickelt hat, die wir heute
an ihr beobachten können. Diesen viel schwierigeren, aber auch viel
wichtigeren Teil der soziologischen Forschungsarbeit möchte ich als
die i n n e r e A u f g a b e der Soziologie bezeichnen.
Das Wort „innere" sagt schon, daß wir es hier vor allem mit
psychologischen Untersuchungen zu tun haben. Durch diese
soll festgestellt werden, inwieweit die wichtigsten Funktionen des
menschlichen Bewußtseins dadurch beeinflußt worden sind, daß der
Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist und daß durch das Zu-
sammenleben seine psychische Struktur so geworden ist, wie wir sie
gegenwärtig vorfinden. Hier läßt sich leicht eine Gliederung finden,
die auch zugleich eine Arbeitsteilung bedeuten kann. Indem man näm-
lich die übliche Einteilung der Grundfunktionen des Bewußtseins
heranzieht, kann man den Einfluß des menschlichen Zusammenlebens
auf das Erkennen, auf das Fühlen und auf das Wollen gesondert unter-
suchen, so daß die innere Aufgabe der Soziologie sich ungezwungen in
drei Teile zerlegen läßt. Man darf bei dieser Sonderung allerdings
niemals vergessen, daß im wirklichen Leben die drei Grundfunktionen
des Erkennens, des Fühlens und des Wollens niemals voneinander
wirklich isoliert sind, sondern vielmehr in jedem tatsächlich gegebenen
Erlebnis immer zusammenwirken. Allerdings überwiegt meistens die
eine oder die andere Grundfunktion und nach diesem überwiegenden
Teile bezeichnen wir das Erlebnis als eine Erkenntnis, als ein Gefühl
oder als einen Willensakt. Unter der Voraussetzung also, daß die
Untersuchung der einzelnen Grundfunktionen den innigen Zusammen-
hang aller seelischen Erlebnisse niemals außer acht lasse, zerfiele
dann die innere Aufgabe der Soziologie in folgende Teile:
1. Die Soziologie des Erkennens. Auf die Bedeutung
des sozialen Faktors in der Erkenntnisentwicklung haben wir bereits
oben (S. 102 ff.) hingewiesen und eine eingehendere Darstellung in
Aussicht genommen. Der Begriff der sozialen Verdichtung
dürfte sich für die Entwicklung des Massenglaubens von grundlegen-
der Bedeutung erweisen und neues Licht auf die mächtige und lang
andauernde Wirkung religiöser Vorstellungen verbreiten. Die
Entstehung und soziale Bedeutung der typischen Vorstel-
lung wird dabei klar hervortreten. Auf die soziale Funktion der
Sprache wird neues Licht fallen und so der große Anteil, den das
Zusammenleben am Zustandekommen dauernder und wirksamer
Überzeugungen hat, deutlich herausgestellt werden können. Weitere
Untersuchungen, mit denen der Verfasser dieses Buches seit längerer
Zeit beschäftigt ist, dürften zu der überaus wichtigen Einsicht führen,
daß sich zugleich mit der weiter unten zu besprechenden sozialen
Differenzierung, die infolge der Arbeitsteilung eintritt, eine Intel-
lektualisierung der Seele vollzieht. Sobald nämlich durch
die fortgesetzte Arbeitsteilung sich aus der anfangs ganz homogenen
und sozial gebundenen Menschenherde selbständige und eigenkräftige
Persönlichkeiten herauszuentwickeln beginnen, da bekommt der Intel-
222 Soziologie und Geschichtsphilosophie
lekl immer mehr Spielraum und dadurch immer mehr Kraft. In der
ial gebundenen Menschengruppe herrschen nämlich die affektiven
Grundfunktionen des Bewußtseins, das Fühlen und das Wollen vor.
Ein rein theoretisches henken ist auf dieser Stufe noch gar nicht mög-
lich. Dazu wird der Mensch erst fähig, wenn er beginnt, sich aus dem
engen Verbände loszulösen und sich zur selbständigen Persönlichkeit
entwickeln. Da erst entfaltet sich sein Denken zu einer für seine
1 ebensführung bedeutsamen Kraft, da erst erstarkt die Vernunft, gibt
dem Wollen neue Ziele und verfeinert zugleich das Gefühlsleben. Da
erst wird der Mensch allmählich dazu erzogen, die Tatsachen
rein objektiv zu beobachten, und so entsteht nach und nach die
\\ i s s e n s c h a f t, die dann so mächtig in das Leben eingreift. Aber
die von einzelnen Denkern gefundenen Wahrheiten werden erst dann
zu lebendigen Kräften, wenn die nunmehr reicher organisierte Gruppe
sieh diese Entdeckungen aneignet und die Mittel zu ihrer Verwertung
herbeischafft. Daß hier ein überaus wichtiges und großes Arbeitsfeld
vorliegt, das hat Emile Durkheim ausdrücklich dadurch anerkannt,
daß er in seinem soziologischen Jahrbuch (Annee sociologique, Bd. 11,
1910) eine eigene Rubrik für „die soziologischen Bedingungen der Er-
kenntnis" eröffnete und den Wunsch aussprach, im nächsten Bande
bereits über eine größere Anzahl von Arbeiten auf diesem Gebiete be-
richten zu können. Wir kommen, wie gesagt, auf diese Probleme noch-
mals ausführlicher zu sprechen.
2. Die Soziologie des Fühlen s. Hier liegt ein ganz
neues, noch sehr wenig bearbeitetes Feld der wissenschaftlichen For-
schung vor uns. Gilt doch das Fühlen mit Recht als die subjektivste
und zugleich als die am meisten individuell gefärbte Seelentätigkeit.
Trotzdem ist die Einwirkung des menschlichen Zusammenlebens auf
die Entwicklung des Gefühls nicht ganz unbemerkt geblieben.
Le Bon hat die Psychologie der Massen untersucht (Psychologie
des foules 1895) und gefunden, daß in den zu einem bestimmten
Zweck vereinten Massen das affektive Moment derart vorherrscht, daß
die durch die intellektuelle Schulung der Einzelnen sonst bewirkten
1 lemmungen leicht wegfallen, wodurch dann die Masse zu kraftvollem,
leidenschaftlichem und unüberlegtem Handeln besonders geneigt und
befähigt wird. Durch das Zusammensein in der Masse geht eben die
durch soziale Differenzierung entstandene Intellektualisierung der
Seele zum Teil wieder verloren. Im primitiven Zustande herrschen
< iefühle und Triebe vor, und in diesen Zustand fällt der Mensch, wo
er in Massen beisammen ist, leicht zurück. Daß aber im Urzustände
bereits starke Gefühle der Solidarität, der Zusammengehörigkeit und
das Streben nach gegenseitiger Hilfe vorhanden sind, das hat Kropot-
kin in seinem oben bereits zitierten Buch nachgewiesen. Ribot hat in
seinem lehrreichen Werke „La psychologie des sentiments" diese Ge-
fühle als die ursprünglichsten Betätigungen des Seelenlebens be-
zeichnet und ihren Ursprung bis in die Tierwelt verfolgt.,
I lierher gehört auch die Philosophie der Solidarität,
die am Ende des vorigen und am Anfang des jetzigen Jahrhunderts
§ 45. Die Aufgaben der Soziologie 223
besonders in Frankreich der Gegenstand lebhafter Diskussionen war*).
Leon Bourgeois hat durch sein kleines, sehr warm geschriebenes Buch
„Solidarite" (1. Aufl. 1895, 6. Aufl. 1907) die Anregung gegeben.
Er will durch den Gedanken der Solidarität, das ursprünglich so viel
bedeutet als „Gesamthaftung", die ökonomischen und sozialen Gegen-
sätze überwinden. Jeder einzelne Mensch ist der Gesellschaft, in der er
lebt, mehrfach verschuldet. Er muß nun diese „sozialen Schulden"
(dette sociale) durch Leistungen für die Gesamtheit abtragen und ist
dazu sogar rechtlich verpflichtet. Die „Academie des sciences poli-
tiques et morales" veranstaltete nun eine ausführliche Diskussion dieser
neuen Forderung und des zugrunde liegenden Begriffes der Solidarität.
An dieser Diskussion beteiligten sich hervorragende Nationalöko-
nomen, Juristen und Philosophen. Prof. Feilbogen gibt in der ge-
nannten Arbeit die Hauptgedanken, die vorgebracht wurden, wieder.
Ausführlich sind sie mitgeteilt im Jahresbericht der genannten Aka-
demie (1903). Für uns kommen hauptsächlich die Äußerungen des
Philosophen Boutroux in Betracht. Boutroux hat erkannt, daß die
Solidarität im Grund nichts anderes ist als ein G e f ü h 1. „Aber dieses
Gefühl kann einen Glauben und ein Streben begründen. Darum ist
diese Theorie in ihrem Wesen rein modern, denn es ist modern, die
Intelligenz und die Vernunft nicht mehr als höchste Fähigkeit anzu-
erkennen, sondern sie den Gefühlen, dem Willen, dem Handeln unter-
zuordnen. Das Gefühl ist das Leben, das Seiende, der Motor, die In-
telligenz ist nur Erfindung und Gebrauch von Zeichen als Mittel für
die Befriedigung der Gefühle. Man anerkennt daher in unserer Zeit
das Gefühl als Quelle des Rechtes und der Gesetze, nur muß es hin-
länglich stark und allgemein sein, um den Glauben an die Rechts-
notwendigkeit zu erzeugen." Daher stellt Boutroux folgende Fragen
zur wissenschaftlichen Erörterung: „Worin besteht, genau analysiert,
das Gefühl der Solidarität? Welches ist der Grad der Allgemeinheit
und der Kraft dieses Gefühls? Worin besteht sein Zweck und sein
Werk?"**)
Hier wird mit voller Deutlichkeit eine Soziologie des Fühlens ver-
langt. Ein Gefühl, das die Beziehungen des Einzelnen zu seiner
sozialen Gruppe begleitet, soll zum Gegenstand der Untersuchung ge-
macht werden. Die Aufgabe ist gestellt, aber noch keineswegs gelöst.
Ja, es sind noch nicht einmal die Wege bezeichnet, die zur Lösung
führen können. Die Soziologie des Fühlens steckt eben noch ganz in
den Anfängen.
Der Weg ist zu finden, wenn man sich die weiter unten darzu-
legende Grundeinsicht zu eigen macht, daß der primitive Mensch im
Zustande vollständiger sozialer Gebundenheit lebt und daß seine Seele
ganz ausgefüllt ist von den überkommenen Vorstellungen und Ge-
fühlen seines Stammes, seines Clans, kurz von der zu einer Einheit
zusammengeschlossenen Gruppe, von der jeder Einzelne nur ein unselb-
*) Eine vortreiiliche, klar und lichtvoll geschriebene Übersicht über die
Solidaritätsphilosophie in Frankreich hat Prof. S. Feilbogen gegeben in der „Fest-
schrift für Wilhelm Jerusalem", Wien 1915. S.61— 80.
**) Feilboten a. a. O. S. 78 f.
224 Soziologie und Cieschiclitsphilosophie
ständiger Teil, gleichsam ein (Mied des Gesamtkörpers ist. Bei dcu
< >pfer- und Zauber-Riten, bei den Vorbereitungen zur Jagd, bei den
gemeinsamen Tänzen, bei den Einweihungszeremonien sieht man, wie
die wissenschaftlich geschulten Reisenden übereinstimmend berichten,
die ganze Gruppe von einem Gesamtgefühl durchdrungen, das die
Seele jedes Einzelnen ganz ausfüllt. Erst durch die soziale Differen-
zierung und die damit sich allmählich vollziehende Ausbildung selb-
ständiger I inzelpersönlichkeiten erfahren auch die Gefühle eine Ver-
mannigfaltigung, eine Bereicherung und erhalten ihre individuelle
rbung. Der Einzelne erlebt jetzt manches, was nur ihn allein und
nicht mehr die ganze Gruppe betrifft, und so ergeben sich vielfach An-
1. 5Se zu eigener Freude, zu eigener Trauer, zu eigener Angst. Immer
aber bleibt dabei das Gesamtgefühl als erheblicher Rest in seiner Seele
bestehen, und gerade diese Wechselbeziehungen, die sich zwischen den
Individualgefühlen und dem Gesamtgefühl ergeben, bilden den ebenso
schwierigen als wichtigen Gegenstand der Soziologie des Fühlens.
So bildet sich z. B. das Ehrgefühl und das Rechts-
g e f ü h 1 nur in steter Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und
der Gemeinschaft aus und auch die sittlichen Gefühle setzen, wie wir
weiter unten sehen werden, diese Beziehungen voraus.
Ein Gebiet aber gibt es, wo eine künftige Soziologie des Fühlens
ein besonders reiches und fruchtbares Feld der Betätigung finden wird.
Das ist diejenige Sphäre des Seelenlebens, wo das Gefühl ganz rein,
das heißt ohne ein Begehren zu erwecken, hervortritt. Dies ist, wie
oben (S. 151 ff.) bereits gezeigt wurde, das große Gebiet des Ästhe-
tischen. Die soziologische Betrachtung wird uns zeigen, daß auch
der größte Genius, trotzdem er über seine Zeit hinausragt, doch in
seinem Schaffen beeinflußt ist durch die Gesellschaft, i n d e r und
für die er arbeitet. Ebenso hängt der ästhetische Geschmack mit
anderen Kulturerscheinungen der Epoche zusammen und wird so zu
einem sozialen Phänomen. Auf diese Seite der Kunst haben in Frank-
reich besonders Arreat und Ouyau, im germanischen Kulturgebiet vor
allen anderen Wilhelm Dilthey und Kuno Francke hingewiesen. Ganz
besonders klar haben in neuerer Zeit hervorragende Vertreter der
Literaturgeschichte und der Kunstgeschichte die
vielfachen Zusammenhänge der literarischen und der künstlerischen
Produktion mit den geistigen Strömungen oder richtiger gesagt mit
der seelischen Struktur des Zeitalters erfaßt und dadurch ein weit
tieferes und besseres Verständnis der einzelnen Werke erzielt. Hin-
gewiesen sei hier nur auf die kleine, aber sehr inhaltsvolle Schrift des
leider zu früh verstorbenen Wiener Kunstforschers Max Dvorak
„Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei"
(1918). Hier sind die wertvollsten Anregungen für eine künftige
Soziologie des Fühlens gegeben, durch welche namentlich
das große Gebiet der bildenden Künste in ganz neuem Lichte er-
scheinen dürfte.
3. Soziologie des Wollen s. Dieses Gebiet ist zweifellos
das umfassendste und das wichtigste. Hier ist schon seit langem der
Begriff des Gesamt willens herausgearbeitet worden, der uns
§ 45. Die Aufgaben der Soziologie 225
bereits in den mittelalterlichen Untersuchungen über den Staat ent-
gegentritt und dann in der neueren Zeit bei den Vertretern der Volks-
souveränität und namentlich bei Rousseau eine große Rolle spielt.
Die moderne Völkerpsychologie hat, wie besonders Wilhelm Wundt
hervorhebt, die konkrete Realität des Gesamtwillens erwiesen. Unter
dem Einfluß des Gesamtwillens stehen wir von früher Jugend an, und
die meisten und die wichtigsten Einwirkungen der Gesellschaft be-
ziehen sich auf unser Wollen und Tun. Jede Betätigung des Gesamt-
willens, die wir oft nur an dem Widerstände spüren, den er unserem
Streben, uns davon zu befreien, entgegensetzt, wirkt auf unser Wollen
und Tun. Emile Durkheim hat zweifellos richtig erkannt, daß alles
Soziale gerade durch das zwingende, gebietende, autoritative Moment
charakterisiert ist, und das heißt doch nichts anders, als daß hier ein
mächtiger, durch Überlieferung und Gewöhnung verstärkter G e-
s a m t w i 1 1 e auf jeden Einzelnen seinen Einfluß ausübt.
Der Gesamtwille der Gruppe betätigt sich nun in verschiedenen
Formen. Das geltende Recht, die herrschende Sitte, die Mode, die
Formen des wirtschaftlichen Verkehrs, sie alle sind verschiedene Be-
tätigungsweisen eines Gesamtwillens, werden dadurch zu sozialen
Tatsachen und damit zum Gegenstand der Soziologie. Es gehört also
mit zu ihrer inneren Aufgabe, alle diese Dinge in ihrer Entstehung,
Entwicklung und sozialen Bedeutsamkeit zu untersuchen.
Der Gesamtwille schafft sich aber im Laufe der Zeiten auch sehr
verschiedene Träger. Der Häuptling im Kriege, die Priesterschaft
in späteren Zeiten, die öffentliche Meinung und die Presse als ihr
Sprachrohr, der absolute oder der konstitutionelle Monarch, die ver-
antwortlichen Minister, die Parlamente, sie alle sind in gewissem
Sinne Träger des Gesamtwillens. In fast allen Kulturländern aber geht
in den letzten Jahrhunderten die Entwicklung dahin, daß der Staat
immer mehr zum Mandatar der Gesellschaft sich ausgestaltet. Es
gehört deshalb heute zu den wichtigsten Aufgaben der Soziologie, das
Wesen des Staates, seinen Ursprung und seine Entwicklung zu er-
forschen und die stete Vermannigfaltigung seiner Funktionen sowie die
Bedingungen seines äußeren und inneren Wachstums zu untersuchen.
Der Staat als Träger des Gesamtwillens ist somit ein überaus wichtiger
Gegenstand der Soziologie. Aus der Beschäftigung damit ergeben sich
die mannigfachsten und kompliziertesten Probleme, die nicht nur
wissenschaftliche, sondern auch praktische Bedeutung haben. Die Ent-
wicklungsgeschichte lehrt uns nämlich, daß der Mensch sich aus der
vollständigen sozialen Gebundenheit, die für primitive Zustände
charakteristisch ist, immer mehr zu befreien strebt. Die Ausbildung
eigenkräftiger, selbständig denkender und wollender Persönlichkeiten
ist das wichtigste Ergebnis sozialer Entwicklung. Da erhebt sich nun
die Frage, wie die für das Zusammenleben unentbehrliche Autorität
des Staates mit dem Rechte der Persönlichkeit auf freie Entfaltung ihrer
Fähigkeiten in Einklang zu bringen sei. Man wird weiter fragen
müssen, wie der Staat seine Autorität aufrechtzuerhalten und dabei
doch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit allen seinen Organen ein-
zuflößen vermag. Endlich wird das Verhältnis der Staaten untereinan-
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. »5
226 Soziologie und Geschichtsphilosophie
der und damit die sozial so überaus bedeutsamen Tatsachen des
Krieges, des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes, die Vermehrung der
Bevölkerung, die Auswanderung zu überaus wichtigen Problemen der
Soziologie.
Der Staat war anfangs wahrscheinlich nichts anderes als ein
Machtstaat, in welchem die herrschende Klasse die Unterworfenen für
sich arbeiten ließ. Er hat sich dann zum Rechtsstaat weiter-
entwickelt und scheint im Begriffe, sich zum Wohlfahrtsstaat
und Kulturstaat auszugestalten. Das heißt nichts anderes, als
daß der Gesamtwille sich immer neue und wichtige Betätigungsgebiete
Hubert. Im Weltkrieg ist die Macht des Staates in ganz außerordent-
lich hohem Grade verstärkt worden, aber auch das Bewußtsein der
Abhängigkeit des Einzelnen von den Geschicken des Staates ist tief in
die Seelen gedrungen. Die infolge des Krieges eingetretenen Umwäl-
zungen haben dann eine Reihe ganz neuer soziologischer Probleme
geschaffen, deren Lösung erst die Zukunft bringen kann. Die Für-
sorgepflicht des Staates für alle Bürger ist viel größer geworden,
während sich anderseits das Freiheitsbedürfnis der Bürger wieder viel
stärker zur Geltung bringt. Jedenfalls zeigen auch diese neuen Er-
scheinungen des Gemeinschaftslebens, wie dringend nötig es ist, durch
soziologische Untersuchungen hier Klarheit zu schaffen.
Die Soziologie des Wollens enthält eine so reiche Fülle von Auf-
gaben, daß es wünschenswert erschiene, hier eine weitere Gliederung
und Gruppierung vorzunehmen. Das ist jedoch bei dem heutigen Zu-
stande dieses Wissenszweiges noch nicht möglich. Die tatsächliche
Forschung hat sich eben nicht nach der hier gegebenen Einteilung der
Aufgaben entwickelt, sondern ist andere Wege gegangen und hat eine
oft verwirrende Mannigfaltigkeit der Richtungen gezeitigt. Heute
können wir nur soviel sagen, daß die von uns vorgeschlagene Gliede-
rung in äußere und innere Aufgaben geeignet erscheint, Ordnung und
Übersicht zu schaffen und dadurch die künftige Forschung in die rich-
tigen Bahnen zu leiten.
Wir wollen nun eine kurze Übersicht über die bisherige Entwick-
lung und die verschiedenen Richtungen der Soziologie geben, wobei
wir uns auf das Wichtige und Fruchtbare beschränken.
§ 46. Entwicklung der Soziologie
Der Begriff und der Name „Soziologie" ist erst gegen die Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts vom französischen Denker Auguste
Comie geschaffen worden *), allein der Gegenstand unserer Wissen-
schaft, das heißt das Zusammenleben der Menschen und die sich
daraus ergebenden Konsequenzen sind schon seit den Zeiten der
Griechen ein sehr beliebtes Thema des wissenschaftlichen und des
*t Comte behandell den Gegenstand, den er zunächst als „Physique sociale"
bezeichnet, zuerst im 4. Bande seines „Cours de philosophie positive". Dieser
Band ist 1839 erschienen. Dort findet sich nun S. 185 der zweiten von Littre
besorgten Ausgabe die Einführung des neuen Wortes „sociologie", was von
Comic in einer Anmerkung begründet wird.
§ 46. Entwicklung der Soziologie 227
philosophischen Nachdenkens gewesen. Unter den verschiedenen
Formen des Zusammenlebens war es besonders der Staat, der die
Aufmerksamkeit der Denker auf sich zog. Anlaß dazu gab häufig,
wenn auch nicht immer, eine starke Unzufriedenheit mit den
herrschenden sozialen Zuständen. Der Wunsch nach besserer
Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse war
auch hier der Vater des Gedankens.
Dies gilt gleich von dem ältesten Werke, in welchem das Wesen
und die Ziele des Staates untersucht und das Ideal eines den sitt-
lichen Forderungen entsprechenden Gemeinwesens entworfen wird,
das zugleich allen Mitgliedern ein „gutes Leben" gewährleisten soll.
Ich meine selbstverständlich Piatons „P o 1 i t e i a". Der Schüler des
Sokrates übt darin unbarmherzige Kritik an der in den meisten der
vorhandenen Gemeinwesen herrschenden Ungleichheit des
Besitzes. Dadurch entstehen, so sagt er, in jedem Staate eigent-
lich zwei Staaten, der der Armen und der der Reichen, und
das ist eine Quelle fortwährender Zwietracht. Plato findet das
„drohnenhafte" Dasein der Reichen mit den sittlichen Forderungen
unvereinbar. Die treibende Idee bei seinem Versuche, einen Musterstaat
zu entwerfen, ist die Verwirklichung derGerechtigkeit.
Das Wesen der Gerechtigkeit besteht aber für Plato in dem har-
monischen Zusammenwirken der verschiedenen Teile der Seele.
Diese Teile sind nach Piatons Seelenlehre die Vernunft, die energische
Tatkraft und das niedere Begehren. Gerechtigkeit ist beim einzelnen
Menschen dann vorhanden, wenn die Vernunft über die anderen
Seelenteile herrscht, ihnen ihre Ziele anweist, und sie zugleich in
Schranken hält. Deutlicher nun als beim Einzelmenschen, so führt
Sokrates im zweiten Buche des platonischen Staates aus, kann man
das Wesen der Gerechtigkeit im Staate erkennen, und in diesem
Sinne wird nun das Musterbild entworfen. Jedem der drei Teile der
Seele entspricht ein eigener Stand. Die Klasse der Hüter hat
die Vernunft im Staate zur Geltung zu bringen und deshalb alles
zu ordnen. Der Kriegerstand, der die energische Tatkraft, das „Mut-
artige" (■ö-ofj.osios;) repräsentiert, wird zur Verteidigung des Ganzen
bestimmt, während der zahlreiche Stand der Gewerbetreibenden für
die materiellen Bedürfnisse zu sorgen hat. Dabei werden die Hüter
dafür sorgen, daß jeder nur „das Seine tue", das heißt diejenige
Beschäftigung wähle, zu der er am besten veranlagt ist und in der er
sich durch stete Übung immer mehr vervollkommnet. Besondere Sorg-
falt muß nun auf die Auswahl, auf die intellektuelle und moralische
Ausbildung der „Hüter" verwendet werden. Diese müssen von allen
materiellen Sorgen befreit sein, jede Möglichkeit des Gelderwerbes
muß ihnen benommen werden, sie müssen eine strenge, vieljährige
wissenschaftliche Schulung durchmachen und ihr ganzes Sinnen und
Trachten ihrer Herrschertätigkeit zuwenden. Durch diese Einrich-
tungen wird ein harmonisches Zusammenwirken aller Teile ermöglicht
und so die Gerechtigkeit verwirklicht. Jeder Bürger dieses Ideal-
staates wird immer nur das zu tun haben, was seiner Natur gemäß
ist und deshalb auch das ihm zukommende Glück oder, wie Plato sagt,
15*
; tgie und üescliichtsphilosopliie
«.las „gute Leben" infolge des streng geordneten Zusammenwirkens
genießen können.
Trotz seines utopischen Charakters enthalt der großzügige Ent-
wurf Platins eine erstaunliche Fülle soziologisch bedeutsamer Ge-
danken. Die energische Forderung nach intellektueller und mo-
ralischer Schulung der zur Leitung Berufenen, die Arbeitsteilung und
ihre Vorzüge, die Verknüpfung mit psychologischen Erwägungen, das
hohe ethische Ziel, das alles sind bedeutsame Erkenntnisse und Forde-
rungen. Deshalb haben auch die Vertreter der modernen sozial-
reformatorischen Bestrebungen vielfach Gedanken und Schlagwörter
von Piaion entlehnt. Noch reicher an soziologischen Einsichten und
Anregungen ist Piatons Alterswerk „Die Gesetze". Hier nimmt der
Philosoph auf die tatsächlichen Verhältnisse mehr Rücksicht. Seine
reiche Lebenserfahrung hat ihn mit den menschlichen Schwächen
bekannt gemacht, und er hat einsehen gelernt, daß der praktische
Staatsmann mit diesen Schwächen rechnen muß. So weiß er z. B.
\z genau, daß das im Staate geltende Recht zunächst immer
dem Willen und den Interessen der herrschenden Klasse
angepaßt ist. Fr glaubt nicht mehr so fest, wie in der „Politeia",
an die unbedingte Wirksamkeit philosophischer Erkenntnis, weil er
die Kraft der menschlichen Leidenschaften besser kennen gelernt hat.
Er untersucht unter anderem die Frage, ob es für die neu zu grün-
dende Kolonie besser ist, wenn sie sich aus Bürgern von ganz gleicher
Abstammung und gleichem Bildungsgrade zusammensetzt, oder wenn
sich Elemente verschiedener Abkunft zusammenfinden. Die Vorteile
und die Nachteile werden für beide Fälle sorgsam gegeneinander ab-
gewogen (4, 3). Dagegen steht der sittliche Zweck des
Staates auch in den „Gesetzen" als höchstes Ziel überall im Vorder-
grund und wird immer mit aller Entschiedenheit betont (z. B. 4, 2).
Man findet ferner überaus feinsinnige Bemerkungen über Ehe und
Familie, über Erziehung, über Rechtspflege, über die sozial-ethische
Wirkung von Dichtungen, über die Gefahren der Ungleichheit des
Besitzes, des Handels und des daraus entstehenden Mammonismus,
ferner tiefgründige Erörterungen über die soziale Bedeutung reli-
giöser Institutionen und noch vieles andere, das in der heutigen Zeit
oft sogar von geradezu aktueller Wirksamkeit sein könnte. Es wäre
deshalb eine lohnende Arbeit, den soziologischen Gehalt der „Gesetze"
in einer besonderen Untersuchung herauszuarbeiten. Viel Wertvolles
da/u findet sich bei Pöhlmann, „Gesch. d. antiken Kommunismus",
I. 477 ff.
Aristoteles hat in seiner „P o 1 i t i k" ein Werk geschaffen, das
grundlegende soziologische Einsichten enthält und viel-
fach noch heute geeignet ist, in die Probleme der Gesellschaftslehre
einzuführen. Sein oft" zitierter Ausspruch, daß der Mensch von
Natur aus ein soziales Wesen ist ( s uoet jroXreir.öv C<pov),
kann erst heute auf Grund der Ergebnisse der wissenschaftlichen
Völkerkunde in seiner ganzen Tragweite verstanden und gewürdigt
werden. Dasselbe gilt von seiner Behauptung, daß der Staat früher
ist als das Individuum. Aristoteles denkt dabei zunächst an ein
§ 4b. Entwicklung der Soziologie 229
logisches Vorangehen, weil, wie er sagt, das G a n z e die logische
Voraussetzung seiner Teile bilde. Die wissenschaftliche Völkerkunde
läßt es jedoch heute als überaus wahrscheinlich erscheinen, daß die
sozial eng verbundene Menschengruppe sogar zeitlich früher da
war als der selbständige, seiner Eigenart und seiner Eigenberechtigung
voll bewußte Einzelmensch. Damit hängt die ganz besonders bedeut-
same Lehre des Aristoteles zusammen, daß der Mensch nur im staat-
lichen Verbände wahrhaft Mensch sei, und daß der „Staatenlose"
(atfoXts) entweder etwas Minderwertiges ('faöXo?) oder ein Über-
mensch ([j.siCwv v) v.ar' av&ptoirov i, entweder ein Tier oder ein Gott
sein müsse. In diesen Worten ist nichts Geringeres enthalten als die
erst heute sich langsam durchringende Überzeugung, daß man das
wahre Wesen des Menschen und seiner geistigen Entwicklung nur
dann zu erfassen und ganz zu verstehen vermag, wenn man nicht
vom Individuum, sondern von der Gruppe ausgeht, und das
heißt wiederum nichts anderes, als daß nur die soziologische
Betrachtungsweise geeignet ist, in das Wesen und Werden des Men-
schengeistes Einblick zu gewähren. Von seinem Lehrer Piaton hat
Aristoteles ferner die Überzeugung übernommen, daß der Staat den
Zweck habe, das „gute", das heißt das sittliche Leben seiner
Bürger möglich zu machen und auf jede Weise zu fördern. Er gibt
dazu sehr anregende Ratschläge und Winke, die mitunter sogar für
den Wiederaufbau unserer heute moralisch so stark erschütterten Zeit
von aktueller Bedeutung werden können. Auch in seiner berühmten
Darstellung der verschiedenen Staatsverfassungen (Buch III — VI)
finden sich viele soziologisch wertvolle Gedanken. Dies gilt in noch
höherem Grade von seinen im 7. und 8. Buche enthaltenen Erörterungen
über die beste Staatsform, wobei besonders die Bemerkungen über die
Ehe, die Kindererzeugung und über Erziehung zu beachten sind.
Man darf allerdings niemals vergessen, daß Aristoteles trotz allen
genialen Intuitionen und allgemeinen Einsichten immer doch ein Kind
seiner Zeit bleibt. Der Staat, den er im Auge hat, ist die „Polis",
der griechische Stadtstaat von mäßigem Umfang, dessen Be-
stimmung es ist, sich selbst zu genügen. Die Institutionen des Krieges
und der Sklaverei sind für ihn ebenso selbstverständlich als unent-
behrlich. Ja, er geht so weit, zu behaupten, daß die Hellenen
von Natur aus zur Herrschaft berufen, die Barbaren dagegen
zur Knechtschaft verdammt sind. Er verlangt, daß die freien
Bürger sich nicht mit dem Erwerbe befassen sollen, damit sie Muße
haben zur Besorgung der Staatsgeschäfte. Dabei weiß er allerdings
über die kulturelle Bedeutung der Muße vieles sehr Tref-
fende zu sagen. Auf die Tätigkeit der Bauern, der Handwerker und
besonders der Kaufleute sieht er mit einer gewissen Verachtung herab.
Es fehlen deshalb bei ihm viele Gesichtspunkte, die für unsere Zeit
des Weltverkehres, der Weltwirtschaft und der so
reichen und so verwickelten internationalen Beziehungen von
maßgebender Bedeutung sind. Trotzdem bleibt die „Politik" des
Aristoteles eine reiche Fundgrube soziologisch wertvoller Gedanken
und Anregungen.
2 30 Soziologie und Geschiclitsphilosophie
In der sogenannten hellenistischen Periode (von 300
v. Chr. an) erfährt die Auffassung vom Staate und von seinem Ver-
hältnis zum Einzelmenschen sehr wesentliche Veränderungen. Es
treten liier neue und sehr wichtige soziologische Gedanken auf,
die bis in die Gegenwart fortwirken. Der Eroberungszug Alexander
i/es Großen hatte den geographischen und den soziologischen Gesichts-
kreis stark erweitert. Der Unterschied zwischen Hellenen und Bar-
barin begann sich zu verwischen. Durch die Entstehung größerer
Staatengebilde auf dem Boden Griechenlands, Vorderasiens und
Ägyptens hatte die „Polis" ihre Selbständigkeit und damit ihren ver-
gesellschaftenden Einfluß auf ihre Bürger immer mehr verloren. In
den Vordergrund des Interesses tritt nun der einzelne Mensch,
das I n d i v i d u u m, mit seinen Freuden und Schmerzen, mit seinen
persönlichen körperlichen und seelischen Bedürfnissen. Dieser Indi-
vidualismus tritt uns in der Literatur, in der Kunst, in der
Wissenschaft und besonders in der Philosophie der hellenistischen Zeit
überall entgegen*). In den Systemen der Skeptiker, der Epikureer
und besonders in dem der Stoiker steht der Einzelmensch mit seinem
Bedürfnis nach Seelenruhe, nach persönlicher Glückseligkeit und nach
religiöser Erlösung durchaus im Mittelpunkte des Denkens und
Strebens. Nun führt aber, wie später ausführlich dargelegt werden
soll, die individualistische Entwicklungstendenz mit psychologischer
Notwendigkeit immer wieder zum Universalismus und zum
Kosmopolitismus. Dieser wichtige, bisher noch wenig beachtete Über-
gang vollzieht sich nun in der hellenistischen Zeit mit ganz besonderer
Deutlichkeit. Hier wird von den Geographen der Begriff der „Öku-
mene", das heißt der von Menschen bewohnten Erde geprägt und
zugleich von den Philosophen die Idee der ganzen Mensch-
heit als veiner großen Einheit geschaffen. Daraus entwickelt
sich dann im zweiten Jahrhundert v. Chr. der Gedanke der a 1 1-
gemeinen Menschlichkeit, der Humanität, auf dessen
Pedeutung für die Ethik bereits oben hingewiesen wurde. Für das
soziologische Denken wird dieser kosmopolitische Zug im
Hellenismus dadurch bedeutsam, daß hier zum erstenmal die Solidarität
der ganzen Menschheit deutlich zum Bewußtsein gebracht wird.
Durch die Erstarkung des nationalen Gedankens wird diese
vom Hellenismus geschaffene Idee in der neueren Zeit zwar vielfach
zurückgedrängt, tritt aber in der Gegenwart besonders infolge des
Weltkrieges wieder kraftvoll hervor und verlangt dringend nach
soziologischer Durcharbeitung und Ausgestaltung. Dem Staate gegen-
über verhalten sich die Philosophen der hellenistischen Zeit meist ab-
lehnend, indem sie davon abraten, sich mit politischen Angelegenheiten
zu beschatten. Epikur empfiehlt seinen Anhängern ein stilles, ver-
borgenes Leber: im vertrauten Freundeskreise, während die Stoiker
den vollendeten „Weisen" in den großen Verband aller Menschen
hineinstellen, an dem auch die Götter teilnehmen.
*) Vgl. Jerusalem, „Gedanken imd Denker", S. 242 iL, den Aufsatz „Alt-
griechisches Kleinleben".
§ 46. Entwicklung der Soziologie 231
Rom hat ein mächtiges Staatengebilde geschaffen und durch
seine Sprache, durch sein Recht, durch sein Verwaltungstalent auf
viele Jahrhunderte hin gestaltend und musterbildend auf das soziale
Leben des Abendlandes gewirkt. Die bedeutsamste soziale Schöpfung
der Römer, das Recht, beruht im wesentlichen auf individua-
listischer Grundlage. Was hier geregelt wird, ist das Ver-
hältnis zwischen den Einzelnen und ist demnach hauptsächlich
Privatrecht. Als solches ist es wegen seiner Klarheit und Be-
stimmtheit sowie wegen der darin herrschenden strengen Logik für
die Gestaltung der rechtlichen Beziehungen im Verkehrsleben Muster
und Schule geblieben. Dagegen bietet uns die römische Literatur
nur sehr wenig neue Gedanken über das Wesen des Staates und der
Gesellschaft. In den theoretischen Auseinandersetzungen Ciceros ist
das Wesentliche meistens die Verteidigung der herrschenden Klasse
und der Kampf gegen Umsturz*). Bei den Satirikern findet man
Klagen über die sittliche Verwilderung, über die Mißstände in der
Großstadt, aber sonst nirgends tiefer dringende Untersuchungen über
die Struktur der Gesellschaft, über das Wesen und die Aufgaben des
Staates. Die Römer verstanden eben zu erobern, zu organisieren, zu
verwalten, aber ihre Sache war es nicht, zu theoretisieren.
Die Weltanschauung des Mittelalters, deren
System und Geschichte Heinrich v. Eicken so vortrefflich dargestellt
hat, ist für die Entwicklung des soziologischen Denkens von großer
Bedeutung. Der Kirchenvater Augustin hat in seinem für die kirch-
liche Anschauung vom Wesen der Gesellschaft grundlegenden Werke
„Vom Gottes Staate" (De civitate Dei) den irdischen Staat,
der auf Gewalt und Unterdrückung beruht, als das Werk der Sünde
und des Teufels bezeichnet und diesem den Gottesstaat oder die Kirche
Christi entgegengestellt, in welchem alle Menschen als Kinder Gottes
untereinander verbrüdert in Friede und Eintracht zusammen leben
und dabei nicht ein Leben im Fleische, sondern ein Leben
im Geiste führen sollen. Den Gottesstaat zu verwirklichen, macht
sich die römische Kirche mit dem Papst an der Spitze zur
Aufgabe und sie bildet sich im Laufe des Mittelalters zu einer überaus
mächtigen, in sich gefestigten und doch leicht beweglichen Organi-
sation aus, die in der Menschheitsgeschichte einzig dasteht. Ihre
Macht beruht, wie Eicken in dem obenerwähnten Werke**) gezeigt
hat, auf der Synthese von Weltverneinung und Welt-
beherrschung. Die asketische Grundidee, wonach das irdische
Leben nur eine Vorbereitung für das ewige Leben im Jenseits ist,
bringt die Kirche ganz von selbst dazu, alle Gebiete dieses irdischen
Lebens in die Hand zu nehmen, um sie ihren höheren Zwecken an-
zupassen. Dadurch wächst sie sich immer mehr zur Beherrscherin
der Welt und des Lebens aus und bildet tatsächlich viele Jahrhunderte
*) Vgl. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus,
II, S. 486 ff.
**) Heinrich v. Eicken, „Geschichte und System der mittelalterlichen Welt-
anschauung", 1887, Neudruck 1913.
2 3_> Soziologie und Geschichtsphilosophie
hindurch das geistige Zentrum der abendländischen Menschheit. 1 »k
Kirche hat zweifellos viel da/u beigetragen, die germanischen und
romanischen Völker Europas zur Herrschaft des Geistes über dvn
Körper zu erziehen und die Kraft des Willens, besonders im Entsagen,
zu stärken.
Theoretische Erwägungen über das Wesen des Staates werden
im Mittelalter wiederholt angestellt. Die Kirche betrachtete zwar den
irdischen Staat als ein Werk der Sünde, konnte jedoch die weltliche
Wacht zur Durchführung ihrer Zwecke nicht entbehren. Man faßte
also den Staat als ein Heilmittel gegen die Sünde auf und führte ihn
auf einen zum Schutze gegen verbrecherische Gewalttat geschlossenen
Gesell schaf tsvertrag zurück (ticken 363 ff.). Diese An-
seht war im Mittelalter sehr verbreitet und sowohl von der staatlichen
als auch von der kirchlichen Partei angenommen (Eicken 365). Im
Laufe des Mittelalters trat jedoch eine starke Verweltlichung der
Kirche ein. Dazu kam ein durch die Kreuzzüge hervorgerufenes Er-
starken des nationalen Bewußtseins. So sehen wir, wie im H.Jahr-
hundert die staatliche Gewalt ihre Selbständigkeit gegenüber der
Kirche immer kräftiger wahrt und behauptet. „Die Wissenschaft kam
diesen Bestrebungen der Staatsgewalten zu Hilfe. Während des
vierzehnten Jahrhunderts entstand die sogenannte organische
Staatstheorie, welche die staatliche Ordnung in Parallele stellte
mit dem beseelten Organismus. Die Theorie wollte mit diesem Ver-
gleiche die Selbständigkeit des Staates gegenüber der Kirche, den
einheitlichen Zusammenhang der staatlichen Verwaltung und die
politischen Rechte des Volkes erweisen." [Eicken 773.) Die Seele
dieses staatlichen Organismus ist nicht mehr die Kirche, sondern
der einheitliche Wille der Gesamtheit, wie es Marsilius von Padaa in
seiner Schrift: „Der Verteidiger des Friedens" formuliert {Eicken 774).
Dieser Gedanke führt zu dem Begriff der Volkssouveränität,
der in den neueren Staatstheorien eine so große Rolle spielt. Das
Mittelalter hat also die beiden einander so lange bekämpfenden An-
sichten, die Vertragstheorie und die organische Auf-
fassung des Staates, bereits gekannt und so der neueren Zeit die
Wege gebahnt*).
Die Zeit der Renaissance (etwa 1450—1550) bringt nicht
nur die „Wiedergeburt" des klassischen Altertums, sondern vor allem
eine mächtige Irstarkung des individuellen oder, richtiger gesagt, des
) Ins Mittelalter gehört der Zeit nach auch der im 14. Jahrhundert lebende
arabische Soziolog Ibn-Chaldun. Seine Einleitung in die Geschichtswissenschaft
-i unter dem Titel „Prolegomenes historiques d' Ibn-Chaldun" im Jahre 1857
ins Französische übersetzt worden. Ludwig üumnlowicz hat auf die Bedeutung
dieses Forschers in seinen „Soziologischen Essays" (1899), S. 14Qff., hingewiesen
und zahlreiche Proben seines Werkes gegeben. Ibn-Chaldun hat die Abhängig-
keit der soziologischen Struktur menschlicher Gesellschaften von der Umgebung,
besonders vom Klima deutlich erkannt, die Entstehung des Staates auf Eroberung
und Kampf zurückgeführt, die Bedingungen von Blüte und Verfall der Staaten
untersucht und dabei ganz moderne Anschauungen vorweggenommen. Eine voll-
ständige deutsche Übersetzung seines Werkes aus dem in Paris befindlichen
arabischen Original wäre sehr wünschenswert.
§ 46. Entwicklung der Soziologie 2i 5
persönlichen Bewußtseins und damit ein kräftiges Be-
dürfnis nach persönlicher Lebensgestaltung. Damit hängt in der bereits
oben angedeuteten Weise eine viel intensivere Beschäftigung mit der
objektiven Welt der Tatsachen und eine größere Wert-
schätzung der diesseitigen Wirklichkeit zusammen. Diese
Tendenzen kommen in den beiden wichtigsten Kulturströmungen der
Renaissance, im Humanismus und in der Reformation, in
Verschiedener Weise zum Ausdruck.
Der Humanismus ist die Reaktion gegen das asketische Mönchs-
ideal des Mittelalters. Das irdische Dasein, das nur eine Vorbereitung
für das wahre Leben im Jenseits sein sollte, gewinnt selbständigen
Wert. Es lohnt der Mühe, diese Welt kennen zu lernen und das Leben
ästhetisch auszugestalten. Hier findet die eigene Vernunft, hier findet
die menschliche Bildkraft ein reiches Gebiet lustvoller Betätigung.
Diese Lebensstimmung führt in Italien, wo die Erinnerung an die
große Römerzeit immer lebendig geblieben war, zur Wiederbelebung
der klassischen Studien, und diese wirken ihrerseits befruchtend auf
den neuen Geist zurück. Einen wichtigen Faktor bildet dabei die durch
Griechen aus Konstantinopel vermittelte Kenntnis der hellenischen
Dichtkunst, Geschichte und Philosophie. Es eröffnen sich da neue
Ausblicke auf die Natur und tiefe Einblicke in die Seele des Menschen.
Aus dieser Bewegung entwickelt sich in den nächsten Jahrhunderten
die neue Wissenschaft, die neue Kunst und die neue Philosophie.
Hier wurde der forschende und der schaffende Mensch der Neuzeit
geboren.
Die Reformation wendet sich gegen die Verweltlichung und
gegen die Tyrannei der römischen Kirche. Schon im Mittelalter macht
sich das Bedürfnis nach individueller, nach persönlicher Frömmigkeit
in der tiefgründigen Mystik eines Berthold v. Regensburg und eines
Meister Eckkart geltend. Damit verbindet sich nun im Anfang des
sechzehnten Jahrhunderts der Widerstand gegen Rom, und so ver-
einigen sich religiöse und nationale Strömungen zu der großen prote-
stantischen Bewegung. Die passive Entgegennahme der Gnadenmittel
aus der Hand der übermächtigen Kirche vermag die kräftig erwachte
persönliche Frömmigkeit nicht mehr zu befriedigen. Luther mW Christum
in sich selbst lebendig werden lassen und verlangt deshalb Recht-
fertigung durch den lebendigen innerlichen, persönlichen Glauben.
Der Protestantismus ist zwar später ebenfalls zur autoritativen Kirche
ausgestaltet worden, allein der freien Entfaltung persönlicher Über-
zeugung wird doch ein größerer Spielraum gelassen.
Gleichzeitig mit den Bewegungen des Humanismus und der
Reformation macht sich in den Kulturländern Europas ein kräftiges
Erstarken des Nationalbewußtseins bemerkbar. Unter dem
Einfluß dieser drei Strömungen erfahren die Ansichten vom Wesen
des Staates wichtige Veränderungen. Der berühmte und berüchtigte
Verfasser des Buches „Der Fürst" (II Principe, zum erstenmal 1532
gedruckt), Machiavelli, will einen einheitlichen italienischen Staat
begründen, der von der Kirche ganz unabhängig sein soll. Deswegen
rät er seinem „Fürsten", die Autorität und die Macht des Staates
234 Soziologie und Geschichtsphilosophie
vor allem durch Klugheil und Kraft zur Geltung zu bringen und aus-
zudehnen, ohne sich dabei durch moralische Skrupel beengen zu lassen.
Machiavelli hat deutlich erkannt, daß der Staat auf Machtverhält-
nissen beruht und zu seiner Erhaltung die stärksten, mitunter auch
grausame Machtmittel nicht entbehren könne. Wer ist nun der
1 räger dieser staatlichen Gewalt? Diese Frage wurde im sechzehnten
und im siebzehnten Jahrhundert viel erörtert. Der Franzose Jean
Bodin tuest. 1596) hat sich in seinen 1577 erschienenen Büchern
„Vom Staate" damit beschäftigt und den Begriff der Souveränität
klar herausgearbeitet. Es kann verschiedene Regierungsgewalten
geben, aber es gibt im Staate nur eine Souveränität. Die verschiedenen
Staatsformen entstehen dadurch, daß die Souveränität beim
Fürsten, bei den Aristokraten oder bei dem Volke sei. Dagegen be-
hauptet ' Alth usius (gest. 163S), daß die Souveränität immer nur der
Gesamtheit, immer dem Volke gehöre. Das Verhältnis des
Herrschers zu den Beherrschten beruhe auf einem widerruf-
lichen Vertrag. Eine eigene Behörde, die E p h o r e n, müsse
darüber wachen, daß der Herrscher seine Pflichten erfülle. Alihusius
darf als der Schöpfer einer Theorie des Gesellschaftsvertrages
angesehen werden und hat damit mächtig auf die Folgezeit ein-
gewirkt*). Ebenso hat sein entschiedenes Eintreten für die „Volks-
souveränität" diesen Begriff zum unverlierbaren Besitz der Staatslehre
gemacht.
Hugo Orotius hat durch sein im Jahre 1625 erschienenes Werk
„Vom Rechte des Krieges und Friedens" (De jure belli ac pacis) die
naturrechtliche Auffassung des Staates begründet. Orotius
betrachtet den Menschen wie Aristoteles als soziales Wesen und ist
überzeugt, daß Gefühl und Bedürfnis zur Vergesellschaftung treiben.
Die in der menschlichen Natur selbst liegenden Bedingungen, welche
erfüllt sein müssen, damit ein geordnetes Zusammenleben der Menschen
möglich werde, bilden in ihrer Gesamtheit das, was Orotius das
„N a t u r r e c h t" nennt. Die Bestimmungen desselben sind unver-
änderlich, und nicht einmal Gott könnte sie umstoßen. Eine der wich-
tigsten Verpflichtungen, die aus dem Naturrecht fließen, ist die, daß
einmal eingegangene Verträge gehalten werden müssen. Das gebietet
die allen Menschen gemeinsame und darum natürliche Vernunft.
Nun beruht nach Orotius der Staat selbst auf einem stillschweigenden
Vertrag, und deswegen verlangt das Naturrecht, daß der Staat er-
halten bleibe und daß alles, was ihn zerstört, zu unterlassen sei.
Orotius betrachtet deshalb die Staatsgewalt als eine unbedingte, gegen
die sich aufzulehnen dem Naturrecht widerspreche. Diese Staats-
gewalt gehört aber nach Orotius keineswegs, wie Alt/iusius meinte,
immer dem Volke, sondern sie steht dem zu, dem sie durch ausge-
sprochenen oder stillschweigenden Kontrakt übertragen wurde.
*) Girrckc hat in seinem überaus lehrreichen und bedeutenden Werke über
Johannes Althusius (2. Aufl.. 1902) eine Reihe solcher Nachwirkungen erwiesen
und mit großer Wahrscheinlichkeit vermutet, daß Rousseau die „Politica" des
Althusius benutzt hat.
§ 46. Entwicklung der Soziologie 235
Grotius führt zur Begründung seiner Theorien eine oft ver-
wirrende Fülle von Stellen aus antiken Schriftstellern, aus dem Alten
und Neuen Testament, aus den Kirchenvätern und gelehrten Werken
an. Er zeigt entschieden die Anfänge geschichtlichen Denkens, seine
Theorie ruht aber im ganzen und großen doch auf individua-
listischer Grundlage. Die von Natur aus gleichberechtigten und
gleich veranlagten Menschen schließen sich aus freiem Willen zu
einem Gemeinwesen zusammen, das auf einem ausgesprochenen oder
stillschweigenden Vertrag beruht. Grotius macht den herrschenden
Meinungen seiner Zeit, vielleicht auch manchmal den Herrschern,
allerlei Konzessionen, allein im ganzen genommen ist das Naturrecht
und der Vertrag doch eine Schöpfung des Individualismus. Dies wird
vollständig klar bei Thomas Hobbes, der die Vertragstheorie mit rück-
sichtsloser Konsequenz ausgebildet hat.
Hobbes ist radikaler Individualist. Nach seiner Überzeugung
ist der Mensch ursprünglich ein durchaus ungeselliges Wesen.
Das sieht man deutlich, meint er, wenn man die Menschen im Verkehr
miteinander beobachtet. Jeder sucht da seinen eigenen Vorteil, auch
durch die Schädigung der anderen, seine eigene Unterhaltung, wobei
er meist den Nebenmenschen verspottet, oder trachtet, sich irgendwie
hervorzutun, zu welchem Zwecke er gerne andere herabsetzt. Alle
Menschen sind von Natur aus gleich, und die meisten haben einen
Hang, einander gegenseitig zu bekämpfen und zu verletzen {Hobbes,
English works, II, p. 3 ff.). Von Natur aus hat jeder ein Recht auf
alles, und da jeder dieses Recht gegenüber den anderen geltend macht,
so muß der natürliche Zustand des Menschengeschlechtes notwendiger-
weise zu einem Kampf aller gegen alle, zu ewigem Streit
und Krieg werden. Da ein solcher Zustand zum Untergang hätte
führen müssen, so zwang der Selbsterhaltungstrieb die Menschen dazu,
auf einzelne Rechte zu verzichten, sich zu einem Gemeinwesen zu-
sammenzuschließen und die Gewalt an einen einzelnen oder an eine
Ratsversammlung zu übertragen. So beruht der Staat auf einem
durch die Selbsterhaltung gebotenen Gesellschaftsvertrag.
Die Herrscher oder die Ratsversammlung sind in der Ausübung der
Gewalt ganz uneingeschränkt, da ihnen das Herrscheramt kraft des
Kontraktes unbedingt übertragen ist. Der Vertrag ist nämlich nach
Hobbes nur zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gemeinwesens
untereinander, aber nicht zwischen ihnen und dem Herrscher ge-
schlossen. Dieser besitzt daher seine Gewalt durch freiwillige Über-
tragung und ist in keiner Weise durch Kontrakt gebunden (Leviathan,
c. 18, English works, III, 161). Hobbes' Staatslehre begründet also
den Absolutismus, wie er sich im siebzehnten und im achtzehnten Jahr-
hundert in ganz Europa ausbildete.
Die Idee der Volkssouveränität, die bei Hobbes und einigen
späteren Theoretikern zurücktrat, wird wieder kraftvoll betont von
Rousseau, der in seinem 1762 erschienenen Buch „Vom Gesellschafts-
vertrag" (Du contrat social) den führenden Männern der fran-
zösischen Revolution die leitenden Gesichtspunkte gegeben hat. Das
Volk kann sich nach Rousseaus Ansicht nicht, wie Grotius meinte,
2 Mj Soziologie und Oeschichtspliilosophic
einem König ganz anheimgeben, bevor es ein Volk geworden ist.
Ein Volk aber wird es erst dadurch, daß jeder Einzelne seine persön-
lichen Rechte durch einen ausgesprochenen oder stillschweigenden
Vertrag der Gesamtheit übergibt. Dazu aber werden die ur-
sprünglich zerstreut lebenden Menschen durch die Bedürfnisse der
Selbsterhaltung gezwungen. Ist aber die Vereinigung erfolgt, dann
besitzt der Einzelne keine Rechte mehr und alle Macht geht auf den
des a m t w i 1 1 e n (Volonte generale) über. Dieser bleibt der einzige
I räger der Souveränität und kann sich ihrer unter keinen Um-
ständen entäußern. Die revolutionierende Neuerung Rousseaus be-
stand dann, daß er den Gesellschaftsvertrag als die einzige rechtliche
Grundlage des Staates ansah und den von den meisten früheren
Theoretikern daneben noch angenommenen Unterwerfungs- oder Herr-
schaftsvertrag durchaus nicht gelten ließ (üiereke, Althusius, S. 1 15 f.).
Die naturrechtlichen Staatstheorien des siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhunderts, die alle auf der Lehre vom Gesellschafts-
vertrag beruhen*), tragen einen ausgesprochen individua-
listischen Charakter. Sie leiten die menschliche Gemeinschaft
aus dem freien Willen der im vorstaatlichen Zustand lebenden Indi-
viduen ab und gründen deshalb alle Rechte des Staates auf aus-
gesprochene oder stillschweigende Verträge. Das Individuum ent-
äußert sich aber im Gesellschafts- oder im Unterwerfungsvertrag
keineswegs aller seiner ihm ursprünglich eigenen Rechte. Selbst fiobbes,
der radikalste Vertreter des Staatsabsolutismus, gibt im 21. Kapitel
seines „Leviathan" zu, daß dem Individuum auch im Staate gewisse
Rechte verbleiben, die ihm der Herrscher nicht nehmen kann. Viel
schärfer betont lohn Locke, der den Staat als eine Anstalt zum Schutz
des Naturrechtes betrachtet, die Ansprüche der einzelnen Menschen.
Die Grundrechte des Individuums sind unveräußerlich und unüber-
tragbar. Der Staat ist dazu da, diese Grundrechte, besonders die
Freiheit und das Eigentum des Einzelnen, zu schützen.
(Vgl. Oiercke, Althusius 114.)
Christian v. Wolff hat in seinem achtbändigen Werke über das
Naturrecht (1741—1749 erschienen) strenge zwischen den „an-
geborenen" und den „erworbenen" Rechten der Menschen unter-
schieden. Diese angeborenen Rechte hat der Mensch aus der Freiheit
und Gleichheit des Naturzustandes herübergerettet, und kein staat-
liches Gesetz kann ihm dieselben entziehen. Auch Rousseau, nach
dessen Lehre die „Volonte generale" absolute Macht hat, spricht in
seinem Buche (II, c. 4) von den Grenzen der souveränen Gewalt, und
so bildet sich der Gedanke von den „unveräußerlichen Menschen-
rechten" aus. In Nordamerika wurden diese Rechte nach der Un-
abhängigkeitserklärung vom Jahre 1776 in die Verfassungen der ein-
zelnen Staaten aufgenommen und nach ihrem Muster wurden die
•) Den innigen Zusammenhang von Naturrecht und Sozialkontrakt hat
Adolf Menzel nachgewiesen in einem überaus lehr- und inhaltsreichen Aufsatz
ilirrecht und Soziologie", Sonderabdruek aus der Festschrift für den
31. deutschen Juristentag, Wien 1912.
§ 46. Entwicklung der Soziologie 237
Menschenrechte in der Konstitution der französischen Republik von
3. September 1791 formuliert und erhielten Gesetzeskraft*).
Die naturrechtliche und zugleich individualistische Auffassung
des Staates erhält sich bis tief in das neunzehnte Jahrhundert
hinein und liegt strenggenommen dem politischen Liberalismus auch
heute noch zugrunde. Wissenschaftlich wurde sie durch die tiefer ein-
dringende historische und ethnographische Forschung des neun-
zehnten Jahrhunderts überwunden und vermochte sich den sozial-
reformatorischen Bestrebungen gegenüber nicht mehr zu behaupten.
Die naturrechtliche Lehre vom Staatsvertrag ist wohl endgültig er-
legen. „Sie erlag," sagt Oiercke (Althusius 122) sehr treffend, „aber
noch heute genießen wir die unverlierbaren Errungenschaften, da sie
inmitten unsäglicher von ihr verschuldeter Irrtümer und Gefahren
den Gedanken der Freiheit und des Rechtes erkämpft hat."
Gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnen sich
in Europa und in Amerika tiefgreifende Veränderungen in der
Struktur der Gesellschaft zu vollziehen, die im neun-
zehnten Jahrhundert immer größere Dimensionen annehmen und in
unserer Zeit auch die Völker des nahen und des fernen Ostens mächtig
bewegt haben und noch bewegen. Dadurch entsteht starke Un-
zufriedenheit mit den bestehenden Gesellschaftsordnungen und das
führt in den verschiedenen Ländern zu heftigen Reformbestrebungen
sowie auch zu politischen und sozialen Revolutionen. Alles das regt
nun die denkenden Köpfe und die warm fühlenden Herzen dazu an,
das Wesen und Werden, die Gesetze und die möglichen Gestaltungen
des menschlichen Zusammenlebens zum Gegenstand des ernstlichen
Nachdenkens zu machen. Immer deutlicher und immer tiefer wird die
Notwendigkeit einer eigenen Wissenschaft empfunden, die sich die
Erforschung des Wesens und Werdens der menschlichen Gesellschaft
zur Aufgabe macht, bis diese dann in der ersten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts wirklich geschaffen wird und nun eifrige Pflege
findet.
In der großen französischen Revolution vom Jahre 1789 wurden
zunächst die Vorrechte des Adels und der Geistlichkeit gebrochen, und
der „dritte Stand" (tiers etat), der sich aus Bürgern und Arbeitern
zusammensetzte, trat als Vertreter der ganzen Nation auf den Plan.
Nach den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit soll nun ein neuer Staat und eine neue Gesellschafts-
ordnung begründet werden. In der Nacht des 4. August 1789 wurden
die allgemeinen Menschenrechte feierlich verkündet und
in der Verfassung vom 3. September 1791 rechtlich sichergestellt.
Bald aber machte sich innerhalb des „dritten Standes" der Gegensatz
zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen geltend.
Die Masse der Besitzlosen gelangte zur Macht, und in der Verfassung
vom Jahre 1793 wurde der Versuch unternommen, das Prinzip der
absoluten Gleichheit mit aller Strenge durchzuführen. Das
*) Text abgedruckt bei Altmann, „Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen
Verfassungsgeschichte", 2. Aufl., Berlin 1913.
_> ig - ziologie und Ocschich t?iihil> »Sophie
führte bekanntlich zur Schreckensherrschaft und im weiteren Verlauf
zur Beendigung der Revolution durch Napoleon. Allein die Ideen
von 1789 wurden dadurch keineswegs vernichtet. Sie verbreiteten sich
vielmehr über ganz Europa und erzeugten dort den demokra-
tischen Gedanken, der allmählich dem Bürgertum seinen Anteil
an der Staatsgewalt verschaffte. Neben diesen politischen Bewegungen
gi winnt nun im neunzehnten Jahrhundert der nationale Gedanke
immer mehr an Boden und an Kraft. Die von den klassischen deutschen
Dichtern und Denkern, von Herder, von Schiller, von Kant, von Goethe
und Wilhelm \\ Humboldt, großgezogene, mit soviel Begeisterung
und Wärme gehegte und gepflegte Idee des Weltbürgertums
und der Humanität verliert allmählich ihre werbende Kraft und
wird von der Liebe zum eigenen Volkstum zurückgedrängt. In Deutsch-
land, in Italien und in den slawischen Ländern entstehen auf nationaler
Grundlage neue und kräftige Staatengebilde. Nationalstaaten aber
haben meistens die Tendenz, die errungene Macht nicht bloß zu
erhalten, sondern auch auszudehnen. Diesem Zwecke dient die durch
die Fortschritte der Technik so sehr begünstigte Ausgestaltung der
Wehrmacht und der ganzen militärischen Organisation. Daraus aber
entsteht ein gewaltiges Wettrüsten der Großstaaten, die sich nunmehr
ständig in offenem oder in latentem Kriegszustand miteinander be-
finden. Die so entstandene Kombination von Nationalismus und Mili-
tarismus ist zweifellos eine der Hauptursachen des Weltkrieges ge-
worden, der vier Jahre lang alle Kontinente und Meere durchzittert
hat. Der Krieg selbst und die großen politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Umwälzungen, die er zur Folge hatte, regen nun wieder
mächtig zum Nachdenken an über diese so überaus komplizierten
Wechselbeziehungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft,
über die sich immer mehr erweiternden Aufgaben des Staates, über das
Verhältnis von Staat und Nation und ganz besonders über die so
schwierige Regelung der neuen zwischenstaatlichen Beziehungen. Der
Gedanke von der Solidarität aller Menschen wird wieder lebendig
und schreit geradezu nach irgendeiner Form seiner Verwirklichung.
All das fordert nun gebieterisch den Ausbau einer wissenschaft-
lichen Gesellschaftslehre. In diesem Sinne habe ich schon in meinem
im Jahre 1915 erschienenen Buche „Der Krieg im Lichte der Gesell-
schaftslehre" gesiigt, die denkende Betrachtung des Weltkrieges müßte
eine Soziologie schaffen, wenn sie nicht schon da wäre. Sicher ist,
daß der Krieg das Interesse für diese junge Wissenschaft mächtig
angeregt hat, wie wir weiter unten noch deutlicher sehen werden.
Noch wichtiger aber als die politischen und die nationalen Bewegungen
erscheinen für die Entstehung und für die Weiterentwicklung der
Soziologie die gewaltigen Veränderungen im Wirtschaftsleben,
die sich in den letzten 150 Jahren auf der bewohnten Erde vollzogen
haben. Die Erfindung der Dampfmaschine (1770) ermöglichte es
zunächst, im Bergbau, in der Spinnerei und Weberei, dann auch in
der Metallbearbeitung, bei den Mühlen, bei der Holzindustrie und
in vielen anderen Produktionsgebieten den Großbetrieb einzuführen,
wodurch das kleinbürgerliche Handwerk sehr viel von seiner Be-
§ 46. Entwicklung der Soziologie 239
deutung verlor. Die großen Fortschritte der Chemie hatten zur Folge,
daß nunmehr Farbwaren, Heilmittel und Sprengstoffe fabrikmäßig
erzeugt werden konnten. Die Verwendung der Elektrizität für
Beleuchtung und Kraftübertragung läßt wieder zahlreiche neue In-
dustriezweige entstehen. Die Folge von dem allen ist zunächst eine
ganz ungeahnte Vermehrung der Güterproduktion, wodurch die Waren
verbilligt und weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden konnten.
Durch die Erfindung der Eisenbahnen, der Dampfschiffe, des Tele-
graphen und des Telephons sind dann der Industrie ganz neue und
sehr große Absatzgebiete erschlossen und für den Handel und für
den Weltverkehr vorher kaum geahnte Wege und Entwicklungs-
möglichkeiten eröffnet worden. Eine Weltwirtschaft ist ent-
standen und dadurch ist die Zusammengehörigkeit und die gegenseitige
Abhängigkeit der verschiedenen Länder der Erde in ganz außerordent-
lich hohem Grade gesteigert und zugleich zum Bewußtsein gebracht
worden. Die Störungen dieser Weltwirtschaft, die der große Krieg
und seine Nachwirkungen zur Folge hatten, werden jetzt von Siegern
und Besiegten in gleicher Weise gefühlt, und man sieht deutlich,
wie überall das Streben hervortritt, den Weltverkehr wiederherzustellen.
Das Wirtschaftsleben hat infolge der kolossalen Ausdehnung des
Handelsverkehres in den letzten Jahrzehnten einen immer stärkeren
Einfluß auf die Struktur der Gesellschaft ausgeübt. Ein überaus
kompliziertes System von Banken und anderen Kreditinstituten hat sich
ausgebildet, das den Weltverkehr und die damit verbundenen, oft sehr
verwickelten gegenseitigen Verrechnungen vereinheitlicht und damit
wesentlich vereinfacht. Eine bisher vielleicht nicht genügend beachtete
Folge dieser tief in das Leben der Menschen eingreifenden Wirtschafts-
gebarung besteht darin, daß die Bedeutung und die Wertschätzung
des Geldes eine geradezu ungemessene Steigerung erfahren hat.
Das Geld ist heute weit mehr als ein allgemeines Tauschmittel. Es
wächst sich vielmehr immer deutlicher zum absoluten Wert-
maßstab aus, an dem und mittels dessen nicht bloß die Rentabilität
eines Unternehmens, nicht nur der Preis einer Ware, sondern auch
der Wert wissenschaftlicher, künstlerischer und an-
derer g ei st ig en Leistungen gemessen oder doch abgeschätzt wird.
Die Überzeugung, daß man für Geld alles haben kann, dringt immer
weiter vor, und das Wort des Geizigen in tiorazens erster Satire:
„Quia tanti, quantum habeas, sis", das heißt: „Man gilt so viel, als
man hat", ist heute zweifellos wahrer als im Rom des Augustus. Es
ist deshalb wahrer, weil man heute nicht nur den Gesamtbesitz eines
Staates und aller seiner Bürger als „Nationalvermögen" ziffermäßig
darstellt, sondern in neuerer Zeit sogar darangegangen ist, „den
Kostenwert des Menschen" zu berechnen. Es bildet sich eben, wie ich
in meinem Buche „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre" (37 ff.)
gezeigt habe, eine panökonomische Lebensanschauung
aus, die mir als ein besonders charakteristisches Merkmal der mo-
dernen Zivilisation erscheint. Nun hat man schon im Altertum gegen
das Überhandnehmen der Habsucht und der Geldgier geeifert, und
solche Klagen kehren in allen Perioden der Weltgeschichte wieder,
2\o Soziologie und üeschichtsphilosophic
allein erst die im 1 ante des letzten Jahrhunderts einsetzende Ent-
wicklung der Weltwirtschaft hat die alles beherrschende, das ganze
1 eben durchdringende zentrale Bedeutung und soziale Macht des
Geldes gezeitigt. Nicht nur der Staat mit seinen sich immer mehr
erweiternden Aufgaben, sondern auch alle wissenschaftlichen, künst-
lerischen und sonstigen kulturellen Bestrebungen geraten immer mehr
in Abhängigkeit vom Gelde und damit von den über große Geldmittel
verfügenden Personen und Instituten. In allen Geldfragen gibt es aber
der Natur der Sache nach nur rein verstandesmäßige Be-
rechnung, die auf skrupellosem Egoismus aufgebaut ist. Die
panökonomische Lebensanschauung ist eben, wie ich in dem oben-
genannten Kriegsbuche dargelegt habe, als egoistischer In-
tellektualismus oder als intellektualistischer
I g o i s m u s zu charakterisieren. Georg Simmel hat in seinem ge-
dankenreichen Buche „Die Philosophie des Geldes", besonders in dem
Abschnitt „Die Not des Lebens" (S. 455 ff.), den rein intellektuali-
stischen, so ganz unpersönlichen Charakter des Geldes und der Geld-
wirtschaft sehr fein herausgearbeitet. Was aber noch nicht genügend
durchforscht worden ist, das sind die tiefen soziologischen Wirkungen
dieser durch die Entwicklung der Weltwirtschaft entstandenen Lebens-
anschauung. Die Gesellschaftslehre wird zu untersuchen haben, ob
das Wirtschaftsleben wirklich nur unter der Herrschaft des intellek-
tualistischen Egoismus gedeihen und sich weiterentwickeln kann.
Alan wird fragen müssen, ob das Geld wirklich auch in Zukunft der
absolute Wertmaßstab bleiben muß oder bleiben darf. Wenn die
Soziologie, wie Müller-Lyer will, zur Kulturbeherrschung
führen soll, so wird sie die panökonomische Lebensanschauung nicht
als unvermeidliches Schicksal hinnehmen dürfen, sondern bemüht sein,
die der Menschenseele zweifellos innewohnenden Kräfte aufzusuchen
und zur Entfaltung zu bringen, die den ebenso starken als tief be-
dauerlichen Wirkungen dieser immer mehr um sich greifenden Lebens-
anschauung entgegenzuarbeiten geeignet sind. Wir sind heute noch
nicht in der Lage, die Wege zu zeigen, die unsere Wissenschaft in
dieser Sache einschlagen wird, allein auf das ebenso dringende als
schwierige Problem, das hier vorliegt, glaubten wir doch hinweisen
/ti müssen.
Wir wenden uns jetzt den konkreteren, greifbareren, leichter er-
sichtlichen und deshalb schon wiederholt beachteten und dargestellten
Strukturveränderungen der Gesellschaft zu, die sich infolge des Auf-
blühens der Industrie, des Handels und des Weltverkehres im Laufe
des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen und das Nachdenken über
iologische Fragen mächtig angeregt haben. Der Großbetrieb hatte
zunächst zur Folge, daß sich in den Fabriks-Orten große Scharen von
Arbeitern ansammelten, die sich selbst und ihre Familien nur kümmer-
lich fortbringen konnten, während die Unternehmer immer reicher
wurden und ihren Reichtum vor den Augen der Arbeiter ungestört
genießen durften. Der schrankenlose Egoismus, der im Geschäftsleben
allgemein als selbstverständlicher Grundsatz betrachtet wird, hatte
zur I olge, daß der Arbeitslohn von den Unternehmern möglichst
§ 46. Entwicklung der Soziologie 241
niedrig gehalten wurde und bald kaum ausreichte, um die dringendsten
Lebensbedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen. Um den Gewinn noch
mehr zu steigern, zog man Frauen und Kinder zur Arbeit heran, und
dadurch wurde das Elend der arbeitenden Klassen bald so offen-
sichtlich, daß edle Menschenfreunde mit warmen und beredten Worten
darauf hinwiesen und Abhilfe forderten. Besonders in England, wo
die Industrie sich am frühesten und am raschesten entwickelt hatte,
traten schon am Ende des achtzehnten und gleich zu Beginn des neun-
zehnten Jahrhunderts wiederholt Männer auf, die auf die traurigen
Zustände hinwiesen und Vorschläge zur Besserung machten. Charles
Hall, William Oodwin, Robert Owen und William Thompson haben
in diesem Sinne gewirkt und die Abhilfe der Übelstände von der Ein-
sicht der Regierungen auf dem Wege der Gesetzgebung erhofft. Da
jedoch die Staatsgewalt unter dem Einflüsse der besitzenden Klasse
stand, so blieben alle diese Bemühungen erfolglos. Die Gesetzgebung
stellte sich vielmehr anfangs ganz auf die Seite der Unternehmer.
Man verbot den Arbeitern jede Art von Zusammenschluß und unter-
drückte gelegentliche Aufstände mit blutiger Gewalt. Erst später ent-
wickelte sich in England die große Gewerkschaftsbewegung
(Trade-Unions), durch die es der Arbeiterklasse möglich wurde, auf
friedlichem Wege ihre materielle Lage erheblich zu bessern.
In Frankreich ist die „industrielle Gesellschaft"
etwas später zur vollen Entfaltung gelangt als in England. Allein
in diesem Lande der zahlreichen und tiefgehenden Staatsumwälzungen
lagen die Reformgedanken näher als in dem konservativen England.
Tatsächlich haben französische Denker die Wirkungen der industriellen
Entwicklung auf Staat und Gesellschaft sehr früh erkannt, und in
Frankreich war es, wo zuerst sozialistische und kommu-
nistische Systeme entstanden, die zugunsten der arbeitenden Klasse
grundstürzende Änderungen der ganzen Gesellschaftsordnung ver-
langten. Noch während der großen Revolution hat Babeuf eine
kommunistische Verschwörung angezettelt, die den Zweck ver-
folgte, das Privateigentum abzuschaffen und dadurch eine vollständige
ökonomische Gleichheit aller Staatsbürger herzustellen.
Babeuf wurde im Jahre 1796 hingerichtet und seine Verschwörung
gewaltsam unterdrückt. Einer seiner Mitverschworenen, namens
Buonarotti, veröffentlichte viele Jahre später die Geschichte dieser
Verschwörung. Dadurch wurden die kommunistischen Ideen Babeufs
wieder allgemein bekannt und fanden in den dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts unter der Regierung Louis Philip pes viele An-
hänger. Auf Grund dieser Gedanken hat dann Cabet seine berühmte
„Reise nach Ikarien" (1842) verfaßt und hier in der Form einer Utopie
ein System des Kommunismus entworfen.
Es waren aber schon vorher in Frankreich Männer erstanden,
die das Wesen der industriellen und kapitalistischen Wirtschafts-
entwicklung tief erfaßten, die dadurch hervorgerufene traurige Lage
der arbeitenden Klasse als Unrecht empfanden, zugleich aber auch
erkannten, daß diesen Übelständen nur durch tiefgreifende Änderung
der ganzen Gesellschaftsordnung abgeholfen werden könne. Damit ver-
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
242 Soziologie und Geschichtsphilosophie
banden sie auch die von Adam Smith zum erstenmal ausgesprochene
Überzeugung, daß die menschliche Arbeit die weitaus wichtigste
wertschaffende Kraft sei. Daraus leiteten diese Männer den Grundsatz
ab, daß das Einkommen jedes Menschen nach Maßgabe seiner wirklich
geleisteten produktiven Arbeit geregelt werden müsse, und daß ein
arbeitsloses Einkommen in einem Rechtsstaate nicht geduldet werden
solle. Das System einer solchen auf Grundlage der Arbeit auf-
gebauten Gesellschaftsordnung bezeichnet man heute allgemein als
Sozialismus, der sich neben dem Kommunismus zuerst in Frank-
reich entwickelt hat. Henri Saint-Simon und seine Schüler, besonders
ßazard, dann Charles Fourler und später Pierre Joseph Proudhon,
verdienen da vor anderen genannt zu werden.
Durch die Schriften dieser Männer und die dadurch entstandenen
sozialen Bewegungen hat sich zunächst der Arbeiterstand zu
einer mächtigen und bedeutsamen Gesellschaftsklasse entwickelt, die
nicht nur ihre materielle Lage zu verbessern, sondern eine vollständige
Umgestaltung der Gesellschaftsordnung herbeizuführen bestrebt 'ist.
Diese Klasse nennt sich schon seit längerer Zeit das Proletariat
und bildet heute einen überaus wichtigen Faktor der politischen, der
wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung. Durch die energische
Tätigkeit von Karl Marx, Friedrich Engels und ihrer zahlreichen
Jünger hat das Proletariat in den letzten Jahrzehnten inter-
nationalen Charakter angenommen, wodurch die soziologische
Bedeutsamkeit dieser Gesellschaftsklasse noch wesentlich erhöht wurde.
Es ist nicht unsere Aufgabe, den Verlauf der durch alle die bisher
erwähnten Momente entstandenen sozialen Bewegungen im einzelnen
zu verfolgen und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen in der
Struktur der Gesellschaft darzustellen. Wir haben nur zu zeigen, wie
dadurch das Nachdenken über das Wesen und Werden des mensch-
lichen Zusammenlebens mächtig angeregt wurde, wie daraus die
Soziologie als dringend notwendige Wissenschaft hervorging
und wie sich dieselbe bis zur Gegenwart entwickelt hat.
Da finden wir nun, daß ungefähr gleichzeitig in Frankreich und
in Deutschland zwei Männer, die beide mehr denkende Beobachter
als aktive Teilnehmer der sozialen Bewegungen waren, unabhängig
voneinander die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Durch-
forschung des menschlichen Gemeinschaftslebens klar erkannt, deutlich
ausgesprochen und so die neue Wissenschaft von der Gesellschaft, die
Soziologie, begründet und ihre Aufgaben bestimmt haben.
Der französische Denker Auguste Comte (1798—1857) ist längst
und allgemein als Schöpfer der Soziologie bekannt. Comte war
in seiner Jugend eine Zeitlang Sekretär von Saint-Simon und ist von
diesem genialen Denker stark beeinflußt. Schon im Alter von 24 Jahren
schrieb er einen Entwurf zur Reorganisation der Gesellschaft, der
bereits die wichtigsten Grundgedanken seines Systems enthält*). Comte
*) Der französische Titel der Schrift lautet: „Plan des travaux scientifiques
necessaires pour reorganisier la societe" (1822). Wilhelm Ostwald hat dieses
Jugendwerk Cumtcs in deutscher Übersetzung herausgegeben und in seinem
§ 46. Entwicklung der Soziologie 243
legt bereits hier auf die wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes
das Hauptgewicht und verlangt ausdrücklich eine „Wissenschaft der
Politik". In den Jahren 1830—1842 arbeitet er dann sein System der
„positiven Philosophie" aus, das in sechs starken Bänden vorliegt.
Comtes Bemühung geht dahin, von der „theologischen" und „meta-
physischen" Betrachtungsweise, die dem Kindesalter der Menschheit
entstammt, aber noch lange nicht ganz überwunden ist, zur einzig
berechtigten Methode aufzusteigen, die er die „positive" nennt. Auf
dieser Entwicklungsstufe muß die Wissenschaft das Forschen nach
letzten Ursachen und ewigen Substanzen ganz aufgeben und ihre
Aufgabe einzig und allein darin erblicken, die Tatsachen und Gesetze
auf Grund exakter Beobachtung festzustellen, damit man auf diesem
Wege dazu gelange, die Zukunft vorherzusagen („Voir pour prevoir").
Comte entwirft in seinem umfassenden Werke eine Rangordnung, eine
„Hierarchie" der Wissenschaften, wobei er von den einfachsten und
allgemeinsten zu den komplizierteren und spezielleren aufsteigt. In
den ersten drei Bänden behandelt Comte die Mathematik, die Astro-
nomie, die Physik, die Chemie und die Biologie. Jede spätere Wissen-
schaft setzt die vorhergehenden alle voraus, die Krönung des Ge-
bäudes bildet dann die letzte, die komplizierteste und zugleich die um-
fassendste Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Ihr sind
die drei letzten Bände des „Cours de philosophie positive" gewidmet.
Comte nennt sie zuerst „Physique sociale" und will damit sagen,
daß er die Gesetze der sozialen Entwicklung nach derselben positiven
Methode zu erforschen beabsichtigt, wie sie von der Naturwissenschaft
befolgt wird. An einer Stelle seines Werkes (IV, 185) wendet er dann
plötzlich das Wort „sociologie" an und spricht sich darüber in einer
Anmerkung aus. Wir setzen die Stelle selbst und die Anmerkung her :
„Seit Montesquieu verdankt man den ersten wichtigen Schritt, der
inzwischen in der grundlegenden Konzeption der Soziologie
gemacht worden ist, dem berühmten und unglücklichen Condorcet."
Dazu die Anmerkung: „Ich glaube, von jetzt an dieses neue Wort
wagen zu dürfen, das meinem bereits eingeführten Ausdruck .soziale
Physik' völlig gleichkommt, um mit einem einzigen Namen diesen
Ergänzungsteil der Naturphilosophie bezeichnen zu können, der sich
auf das positive Studium der sämtlichen den sozialen
Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze bezieht"*).
Comte hat die Soziologie als philosophische Universal-
wissenschaft betrachtet, die es allein möglich macht, das Wesen
und Werden des Menschengeistes richtig zu verstehen. Der
einzelne Mensch ist für Comte eine Abstraktion. Man kann
niemals, sagt er, die Menschheit aus dem einzelnen Menschen, sondern
Vorwort wie auch in den Anmerkungen auf die große Bedeutung und besonders
auf die Aktualität dieser Schrift hingewiesen. Auguste Comte, „Die Organisation
der Gesellschaft." Deutsch von Willi Ostwald, 1914.
*) Die drei letzten Bände des „Cours de philosophie positive" sind unter
dem Titel „Soziologie von Aucuste Comte" in deutscher Übersetzung erschienen
(Jena 1907, 3 Bände). Dieser deutschen Ausgabe ist die im Text gegebene
Übersetzung entnommen (I, 184). Die Sperrungen sind von mir.
16*
244 Soziologie und Geschichtsphilosophie
immer nur den Menschen durch das Studium der Menschheit begreifen
lernen. Darin lieg! meiner Überzeugung nach das Hauptverdienst
Comies. Er hat ferner den aktivistischen Charakter der So-
ziologie sehr energisch betont. Sie hat den ausgesprochenen Zweck,
durch tue I rkenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung
die Wege zu zeigen zur Herbeiführung einer befriedigenden Gestaltung
des menschlichen Zusammenlebens. Diese Gestaltung hängt seiner
Überzeugung nach hauptsächlich vom intellektuellen Fort-
schritt der Menschheit ab. Den Weg dazu zeigt sein berühmt ge-
wordenes Gesetz von den drei Phasen, die die Geistesentwicklung
des Menschen notwendigerweise durchlaufen muß. Die Gesell-
schaftslehre muß den theologischen und den metaphysischen Stand-
punkt mit aller Entschiedenheit aufgeben und sich rückhaltlos der
„positiven", das heißt der rein wissenschaftlichen Methode zuwenden.
Man muß sowohl die Bedingungen des Gleichgewichtes oder
der O r d n u n g in der Gesellschaft untersuchen (s o z i a le Statik),
wie auch die Gesetze des Fortschrittes und der Entwick-
lung (soziale Dynamik). Comte hat übrigens auch schon
auf den Zusammenhang zwischen der intellektuellen und
der sozialen Entwicklung hingewiesen. Der theologischen Welt-
betrachtung entspricht bei ihm der militärische, der positiven
der industrielle Typus der Gesellschaft, der sich immer deut-
licher ausprägt. Diese Unterscheidung hat Herbert Spencer von Comte
übernommen. Die Abhängigkeit des Individuums von seiner sozialen
Umgebung hat Comte wiederholt betont und für diese Umgebung den
seither allgemein üblich gewordenen Ausdruck „Milieu" geprägt.
Dagegen hat er die überaus komplizierten Wechselbeziehungen
zwischen dem Einzelnen und der Gruppe nicht näher untersucht.
Ebensowenig findet sich bei ihm eine gründliche Erörterung über das
Wesen des Staates und seiner Beziehungen zur Gesellschaft. Er ver-
langt zwar in seinem späteren Werke, in der „Politique positive", die
Herrschaft der Gelehrten und der Weisen und will eine Art von
„Menschheitsreligion" stiften, in der die Menschheit als das „große
Wesen" göttlich verehrt werden soll, allein er fragt nicht danach,
wie die Idee der ganzen Menschheit als einer großen Einheit ent-
standen ist, sondern nimmt diese Einheit als eine gegebene Tatsache
an, die zugleich das Ziel der Entwicklung bildet. Von der Weiter-
entwicklung der industriellen Gesellschaft und der damit Hand in
I land gehenden Verbreitung der positiven Philosophie erhofft er eine
einheitliche Organisation der europäischen Gesellschaft. Comte hat
also der soziologischen Betrachtungsweise die Bahn gebrochen, hat
damit einen neuen Weg gezeigt, die Geistesentwicklung der Mensch-
heit besser zu erforschen, hat jedoch, wie dies bei einem ersten Versuch
gar nicht anders sein kann, viele wichtige Fragen offen gelassen*).
*) Wir haben uns hier mit der Hervorhebung der Hauptpunkte der Comte-
schen Lehre begnügt. Für die vielen oft sehr interessanten Einzelheiten, z. B.
Comtes Anschauungen über die Stellung der Familie, sein Verhältnis zur katho-
lischen Kirche, seine ethischen Grundsätze — er hat den Begriff „A 1 1 r u i s-
m u s" geprägt — , seine Auffassung von Pflicht und Recht verweise ich auf
§ 46. Entwicklung der Soziologie 245
Lorenz v. Stein hat in seinem 1850 erschienenen Werke „Ge-
schichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage" der historischen Darstellung eine Abhandlung über
den Begriff der Gesellschaft vorausgeschickt, in der klar
und deutlich die Forderung erhoben wird, das WesenderGesell-
Schaft, ihre Geschichte und ihr Verhältnis zum Staate wissen-
schaftlich zu durchforschen*). In diesem Manne haben wir also den
oben erwähnten deutschen Denker vor uns, der ungefähr gleich-
zeitig mit Auguste Comte, aber, wie es scheint, ganz unabhängig von
ihm, die Soziologie als Wissenschaft gefordert und begründet hat.
Stein hatte die sozialen Bewegungen in Frankreich gründlich studiert
und war in Paris mit einigen ihrer Führer persönlich bekannt ge-
worden. Er hatte das Aufkommen des Proletariats genau
beobachtet und seine Bedeutung als einer neuen Gesellschaftsklasse,
die sich ihrer Macht bewußt und zum Kampf bereit geworden war,
scharf und klar erfaßt (II, S. 57 ff.). Als geschulter National-
ökonom erkennt Stein die treibenden Kräfte in der neu entstandenen
„industriellen Gesellschaft" und sieht deutlich, daß sich überall ein
heftiger Kampf der besitzlosen Klasse gegen die herrschende Gesell-
schaftsschicht der Kapitalisten vorbereitet. In diesem bevorstehenden
Konflikt kommt nun nach Steins Überzeugung dem Staate eine
sehr wichtige Aufgabe zu. Hier unterscheidet sich Stein wesentlich
von Comte. Der deutsche Denker steht keineswegs auf dem positivi-
stischen Standpunkt, obwohl ihm ein überaus starker Wirklich-
keitssinn zu eigen ist. Stein ist stark von Hegel beeinflußt und
sein Denken bewegt sich im begrifflichen und spekulativen Ideenkreise.
Im Staate sieht er mit Hegel die „Wirklichkeit der sittlichen Idee".
Der Staat ist für ihn eine Persönlichkeit höherer Ordnung,
deren Aufgabe und Bestimmung es ist, jedem einzelnen Staatsbürger
die Möglichkeit der freien Entfaltung seiner Anlagen und des wirt-
schaftlichen Aufstieges zu gewährleisten. An der Erfüllung dieser
seiner Bestimmung, die in seinem Wesen, in seinem Begriffe begründet
ist, wird nun der Staat durch die herrschende Klasse der Besitzenden
gehindert. Diese Gesellschaftsklasse versteht es nämlich, die Macht-
mittel des Staates in ihre Hände zu bekommen und ist nun gemäß
ihrem Interesse bemüht, durch entsprechenden Einfluß auf die Gesetz-
gebung, die Verwaltung und die ganze Staatsverfassung ihre Herr-
Comtes Schriften selbst, dann auf die ausführliche Darstellung seiner Lehre bei
Paul Barth, „Philosophie der Geschichte als Soziologie", 3. und 4. Aufl., S. 172 ff.,
bei Höffding, „Geschichte der neueren Philosophie", II, 353 ff., und auf das vor-
treffliche Buch von Levy-Brühl, „Die Philosophie Auguste Comtes". Deutsche Aus-
gabe, 1902.
*) Das Werk Steins ist zuerst im Jahre 1842 unter dem Titel: „Der So-
zialismus und Kommunismus im heutigen Frankreich, ein Beitrag zur Zeit-
geschichte" erschienen und hat auf die Ausbildung der sozial- und geschichts-
philosophischen Theorien von Karl Marx stark eingewirkt. In der dritten, im
Jahre 1850 erschienenen Bearbeitung, die der Verf. in der Vorrede als ein neues
Werk bezeichnet hat, erhielt es den oben angeführten Titel. Von dieser lange
vergriffenen Ausgabe ist im Drei-Masken-Verlag im Jahre 1921 ein Neudruck
erschienen, nach dem hier zitiert wird. Das Werk umfaßt 3 Bände und wird
durch ein sehr instruktives Vorwort von Dr. Gottfried Salomon eingeleitet.
240 Soziologie und Geschichtsphilosophie
schaft zu erhalten und zu befestigen. Aus dem so entstehenden Anta-
gonismus zwischen S t a a t und Gesellschaft erwachsen nun
die schwierigen Probleme, deren Lösung Stein von einer in die Tiefe
dringenden Untersuchung des Wesens der Gesellschaft erwartet. Er
richtet deshalb einen warmen Appell an die deutsche Gelehrtenwelt,
sie möge sich diesem Forschungsgebiete zuwenden und die Begründung
einer wissenschaftlichen Gesellschaftslehre als ihre dringende Aufgabe
betrachten. Seine Worte klingen so aktuell, als ob sie heute geschrieben
waren: „Und jetzt, wo die großen Wogen der gesellschaftlichen Be-
wegungen Staat und Volk durchbrausen und mit Allgewalt an dem
Bestehenden rütteln, jetzt ist es wahrlich hohe Zeit, daß wir Deutsche
uns unserer hohen Mission und unseres Namens würdig zeigen.
Wollen wir aber Großes leisten neben dem Großen, was die Nachbarn
schon gedacht und getan haben, so müssen wir nunmehr in den tiefsten
Kern jener menschlichen Ordnung hineingreifen." „Wir müssen uns
zur Wissenschaft der Gesellschaft, zur objektiven, an
sich wahren Erkenntnis der gesellschaftlichen Elemente und Er-
scheinungen erheben, denn wahrlich, es gibt keinen zweiten Weg,
nicht bloß, um eine eigene deutsche Epoche in dieser Frage zu be-
ginnen, sondern auch, um zu einer wirklichen Lösung jener Fragen
zu gelangen." „Hier ist unser, hier ist das Gebiet der deutschen
Arbeit, und dringend genug ist die Frage, um die beste Anstrengung
der Besten unter uns zu fordern" (I, 140 ff.). Stein hat diese neu
zu schaffende Wissenschaft in vier Teile gegliedert. Der erste soll
die Lehre vom Begriff und von der Ordnung der Gesellschaft
enthalten, der zweite die Geschichte der Gesellschaft
darstellen. Im dritten Teil sollen dann die Grundsätze dargelegt
werden, nach denen die Gesellschaftsordnung die Staatsverfassung
und die Verwaltung beherrscht. Der vierte und letzte Teil soll dann
die Lehre von der sozialen Reform enthalten und darin den
Beweis erbringen, daß das eigene Interesse der Gesellschaft diese
Reform fordert, um durch sie der sonst unausbleiblichen sozialen
Revolution zu entgehen. „Man hat diesen vierten Teil fast immer
als den einzigen Inhalt dieser Wissenschaft betrachtet; man wird ihn
nicht erschöpfen, wenn man die ersten drei Gebiete nicht erforscht hat.
Aber um so viel wichtiger die Zukunft ist als die Vergangenheit und
Gegenwart, weil sie beide in sich umfaßt und vereinigt, um so viel
bedeutsamer ist dieser vierte Teil neben den drei ersten" (I, 138).
Auch für Stein ist also, ebenso wie für Comte, die künftige
Gestaltung der Gesellschaft das treibende Motiv zu
ihrer Erforschung. Allein beide Denker sehen deutlich, daß ohne
gründliches theoretisches Nachdenken über das menschliche Zu-
sammenleben die Richtungslinien für die Zukunft nicht gefunden
werden können.
Auguste Comte und Lorenz \>. Stein werden von nun an beide
als Schöpfer und Begründer der Gesellschaftslehre genannt werden
müssen. Comte hat ihr den Namen gegeben, die positive Forschungs-
methode für sie verlangt, aber auch ihre große Bedeutung für das
wahre und tiefe Verständnis des Menschengeistes erkannt. Stein hat
§ 46. Entwicklung der Soziologie 247
ihre Aufgabe schärfer umrissen und deutlicher gegliedert. Merk-
würdigerweise sind aber beide Begründer unserer Wissenschaft, der
französische Positivist und der deutsche Hegelianer, in zwei wich-
tigen Punkten einer und derselben Meinung. Beide betonen mit
gleichem Nachdruck sowohl den aktivistischen als auch
den philosophischen Charakter der Soziologie. Sie hat
einerseits nicht bloß die Erforschung, sondern auch die
künftige Gestaltung der Gesellschaft in den Bereich ihrer Auf-
gaben einzubeziehen, und darin liegt ihr A k t i v i s m u s. Sie darf
sich aber auch nicht mit der bloßen Sammlung und Aufzählung von
Tatsachen begnügen, zwischen denen eventuell gewisse Regel-
mäßigkeiten sich konstatieren lassen. Die Soziologie muß vielmehr
immer das Ganze der Menschheit im Auge haben, die seelischen
Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft
untersuchen und von der Überzeugung ausgehen, daß das Wesen
und Wirken des Menschengeistes nur im Gemeinschaftsleben klar
erfaßt werden kann. Möge die Gesellschaftslehre diese tiefen Ein-
sichten ihrer beiden Begründer niemals vergessen.
Wir wollen jetzt versuchen, die Entwicklung der nunmehr als
selbständige Wissenschaft auftretenden Gesellschaftslehre in ihren
Hauptvertretern und in ihren Hauptrichtungen bis zur Gegenwart
zu verfolgen.
Comic hat zunächst in England unmittelbar gewirkt. John
St. MM und Herbert Spencer sind von ihm mächtig angeregt und stark
beeinflußt worden. Spencers erste soziologische Arbeit, die im Jahre
1850 erschienene Schrift „Social Statics", ist ganz in Comtes Geist
abgefaßt. Sogar der Ausdruck „soziale Statik" ist ursprünglich von
Comte geprägt worden. Später hat Spencer in seinem auf dem Ent-
wicklungsgedanken aufgebauten System der „synthetischen Philo-
sophie" die Soziologie ausführlich (in drei starken Bänden) behandelt
und überdies ein vortreffliches kleineres Buch über das Studium der
Soziologie geschrieben, das sich zur Einführung ganz besonders eignet.
Auf Spencers wichtigsten soziologischen Gedanken, auf das von ihm
zuerst gebührend verwertete Gesetz der Differenzierung
kommen wir weiter unten zu sprechen. Spencer hat ferner auf die
Bedeutung des Studiums der primitiven Völker hingewiesen und diese
Studien selbst gefördert. Er darf als Urheber der „organischen"
Richtung gelten, von der später die Rede sein wird, hat sich aber vor
ihren Übertreibungen gehütet. Spencers Schriften fanden in Amerika
besonders starke Verbreitung und haben dort zum intensiven Betrieb
der Soziologie viel beigetragen. Im Lauf der letzten Jahrzehnte sind
an den größeren Universitäten Amerikas Professuren und eigene
Institute für Soziologie errichtet worden. Lester Ward und Henry
Giddings sind die führenden Männer, denen viele andere zur Seite
stehen. In Chicago ist in allerletzter Zeit ein großes Lehrbuch der
Soziologie publiziert worden, in welchem die verschiedenen Rich-
tungen der Gesellschaftslehre durch zahlreiche Proben aus den Werken
ihrer Hauptvertreter charakterisiert werden. Man sieht daraus, wie
248 Soziologie und Geschichtsphilosophie
eingehend sich die amerikanischen Universitäten bereits seit Jahr-
zehnten mit Soziologie beschäftigen.
In seinem eigenen Vaterlande, in Frankreich, hat Comte zunächst
Mark aui die I ieschichtschreibung eingewirkt. Ernest Renan, besonders
aber HippolyU Taine stehen unter seinem Einfluß und legen in ihren
Geschichtswerken großes Gewicht darauf, die Einwirkung des „Milieu"
auf den Ein/elmenschen gebührend zu berücksichtigen. In den letzten
Jahrzehnten ist aber auch eine ganze Soziologenschule in Frankreich
erstanden, die ganz im Geiste des Comteschen Positivismus das Wesen
und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu erforschen be-
strebt ist und darin bereits kräftig vorwärts gekommen ist. Ihr Führer
war Emile Durkheim, der während des Weltkrieges (1917) gestorben
ist. Von ihm wurde im Jahre 1896 das bereits oben erwähnte Jahrbuch
„Annee sociologique" begründet, von dem bis zum Jahre 1913 zwölf
Bände erschienen sind. In einer besonderen Schrift hat Durkheim die
von ihm befolgte Methode dargelegt und überdies selbst eine Reihe
größerer Arbeiten veröffentlicht, in denen er sich mit dem Problem
der Teilung der Arbeit und dann besonders intensiv mit der sozio-
logischen Erforschung der Religion beschäftigt; Durkheim hat
eine ganze Reihe begabter und fleißiger Jünger gefunden, die nach
seiner Methode und in seinem Geiste weiter arbeiten. Zu nennen sind
darunter besonders: Levy-Brühl, Bougle, Hubert und Mauss. Wir
kommen auf diese bedeutsame Schule weiter unten noch einmal zurück.
Übrigens hat auch die von Spencer ausgehende „organische" Richtung
der Soziologie in Frankreich Vertreter gefunden. Ihr Führer ist Rene
Worms, der an der Spitze des in Paris bestehenden „Institut inter-
national de sociologie" steht. Auch in Belgien, in Holland, in Italien
und in den nordischen Ländern hat die Soziologie eifrige Pflege ge-
funden. Überall sind Professuren und Institute zum Betriebe dieser
Wissenschaft errichtet worden.
Dagegen hat es in Deutschland und in Österreich verhältnismäßig
lange gedauert, bevor sich die Gesellschaftslehre als selbständige
Wissenschaft durchsetzen konnte und auch heute noch verfügt sie nur
über sehr wenige Lehrstühle und erst in den allerletzten Jahren über
einige Institute. Lorenz v. Stein hat durch die erste Ausgabe seines
obenerwähnten Werkes zunächst auf Karl Marx stark eingewirkt und
die Ausbildung seiner ökonomischen Geschichtsauffassung jedenfalls
mit beeinflußt. Auf Grund dieser Geschichtsphilosophie, die in dem
berühmten „Kommunistischen Manifest" vom Jahre 1847 zum ersten-
mal dargelegt ist, haben es dann Karl Marx und Friedrich Engels
unternommen, die Proletarier aller Länder zu einer gemeinsamen
internationalen Partei zusammenzuschließen, die, wie bereits erwähnt
wurde, im Lauf der Jahrzehnte ein überaus bedeutsamer Faktor der
politischen und wirtschaftlichen Entwicklung geworden ist. Der von
den genannten Führern begründete, von ihren Jüngern immer weiter
ausgebaute sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus" hat das Nach-
denken über soziologische Probleme mächtig angeregt. Unter der
Führung Gustav Schmollen hat sich der „Verein für Sozialpolitik" ge-
bildet, durch dessen Arbeiten die Volkswirtschaftslehre einen
§ 46. Entwicklung der Soziologie 249
starken soziologischen und ethischen Einschlag erhielt.
Als selbständige Wissenschaft trat jedoch die Soziologie in Deutsch-
land erst auf, als der Gedanke Darwins von der natürlichen Auslese
und vom Kampf ums Dasein in weitere Kreise gedrungen war. Da
wurde zunächst die organische Staatstheorie wieder aufgenommen
und von A. Schaeffle, von Paul Lilienfeld und anderen breit aus-
geführt. Die Analogien zwischen den einzelnen Organen und Funk-
tionen der Gesellschaft und denen eines einzelnen Lebewesens wurden
oft bis in die kleinsten Einzelheiten ausgeführt. So entsprechen z. B.
bei Schaeffle die „technischen Veranstaltungen" den Muskeln, und zwar
die zu Machtzwecken dienenden, wie Heer und Polizei, den quer-
gestreiften oder willkürlichen Muskeln, dagegen die zum Zwecke des
Handels und der Produktion ins Leben gerufenen technischen Betriebe
den glatten, unwillkürlichen Muskeln {Barth I, 374).
Viel bedeutsamer als solche stark in die Irre führende Analogien
ist für den Ausbau der Soziologie die Idee des Kampfes ums
Dasein geworden, welche von den Einzelwesen, die Darwin allein
betrachtet hatte, auf die sozialen Gruppen übertragen wurde. Hier ist
vor allen anderen Ludwig Gumplowicz zu nennen, der in tiefgründigen
Untersuchungen den Kampf der sozialen Gruppen zum wichtigsten
Faktor der Entwicklung macht. Der „R a s s e n k am p f" zwischen
den Völkern setzt sich innerhalb des Staates fort in den Klassen-
kämpfen und aus diesem fortgesetzten erbarmungslosen Ringen ent-
wickeln sich nach Gumplowicz alle sozialen Gebilde und auch die
sozialen Institutionen. Der Staat entsteht dadurch, daß eine soziale
Gruppe die andere unterwirft und für sich arbeiten läßt. Aus diesem
Herrschaftsverhältnis versteht man nach Gumplowicz
wiederum erst das Wesen des Rechts und der Moral. Der Einzel-
mensch ist in jeder Beziehung von der Gruppe beeinflußt. Gumplowicz
geht darin so weit, daß er behauptet, es sei einer der größten Irrtümer
der Individualpsychologie, zu sagen : „Der Mensch denkt." Was in ihm
denkt, das ist gar nicht er selbst, sondern seine soziale Gemeinschaft
(Grundriß der Soziologie, S. 167). Trotz mancher Übertreibungen
hat Gumplowicz tief in das Wesen der Gesellschaftsentwicklung hinein-
geleuchtet. Bemerkt sei hier noch, daß er im „Grundriß der Soziologie"
eine kurze, aber sehr gehaltreiche Geschichte der Gesell-
schaftslehre gegeben hat, in der er besonders auf die weniger
bekannten und jedenfalls noch lange nicht ausgeschöpften sozio-
logischen Gedanken des großen Ethnologen Adolf Bastian hinweist.
Franz Oppenheimer hat in seinem sehr lesenswerten kleinen Büchlein
„Der Staat" die Ansichten von Gumplowicz sehr lichtvoll dargestellt
und weiter entwickelt.
Biologisch orientiert ist ferner auch Gustav Ratzenhof er, der eine
Anzahl angeborener „Interessen" annimmt, die das soziale Geschehen
bestimmen. Man vermißt bei diesem Forscher die Klarstellung des
Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gruppe.
Ebenfalls vom Entwicklungsgedanken ausgehend, hat es dann
Müller-Lyer unternommen, in einer ganzen Reihe von Schriften die
Richtungslinien der menschlichen Kulturenwicklung darzustellen, und
250 Soziologie und Geschichtsphilosophie
zwar mit dem ausgesprochenen Zwecke, durch soziologische
Betrachtung der einzelnen Kulturgebiete den Gang der Kultur zu
deutlichem Bewußtsein zu bringen und auf diesem Wege zu einer
bewußten Kulturbeherrschung zu gelangen, die der bereits
in hohem Grade erreichten Naturbeherrschung an die Seite
treten soll. Müller-Lyer hat sein Werk nicht vollenden können. Er ist
mitten in der Arbeit vom Tode ereilt worden. Allein schon die zwei
ersten grundlegenden Bände „Der Sinn des Lebens" und „Die Phasen
der Kultur" bringen den leitenden Gedanken zu klarem Ausdruck.
Der Gedanke der „Kulturbeherrschung" beruht nach Müller-Lyer
auf der Voraussetzung, daß die Kulturbewegung, die sich bisher
gleichsam unter der Schwelle des menschlichen Bewußtseins vollzogen
hat, das heißt ohne daß die einzelnen Menschen die Kräfte klar
erkannt hätten, durch welche sie sich vom Urzustände zur Zivilisation
hinaufentwickelt haben, daß diese Kulturbewegung in das helle Be-
wußtsein tritt. Das ist nun nach seiner Überzeugung jetzt der Fall,
und zwar ist es das Verdienst der Geschichtsphilosophie
und der Entwicklungslehre. Aus ihnen entsteht nun die neue
Wissenschaft von der Gesellschaft, die Soziologie, die dazu
bestimmt ist, die Kulturgesetze zu erforschen, sie zum allgemeinen
Bewußtsein zu bringen und auf diesem Wege zur Kultur-
beherrschung zu gelangen. Müller-Lyer verspricht sich von
diesem „Bewußtwerden" der Kulturentwicklung ein neues Zeitalter
für die Menschheit. Jedenfalls hat er der Soziologie eine eigenartige
Aufgabe gestellt und in dem Gedanken der K u 1 1 u r b e h e r r-
schung einen starken Ansporn zu soziologischer Forschung gegeben.
Es fehlen jedoch auch bei ihm eingehende Untersuchungen über die
psychischen Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und der
Gruppe, und deshalb vermag er auch die einzelnen Phasen der Kultur,
die er darzustellen unternommen hat, nicht recht innerlich miteinander
zu verknüpfen. Es zeigt sich eben immer deutlicher, daß wir gerade
in diesen sehr komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Gruppe und
Individuum den wichtigsten, den schwierigsten, zugleich aber auch den
lohnendsten Gegenstand der Soziologie zu suchen haben.
Ferdinand Tönnies hat durch seine feinsinnige Unterscheidung
zwischen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" zum erstenmal auf die
Bedeutung dieser Beziehungen für die Struktur und für den Charakter
des menschlichen Zusammenlebens hingewiesen. Die „Gemein-
schaft" ist nach Tönnies eine Vereinigung von Menschen, die be-
herrscht werden vom „Wesenswillen", das heißt von einem or-
ganischen Willen. Sie ist ein Gebilde der Natur, ein Organismus.
Verwirklicht ist sie in der Familie, im Dorfe, dem Wohnsitz des Clans
oder des Geschlechtes, in dem Stamme, der einen Gau, auch im Volke,
das ein Land bewohnt. Wir finden sie auch noch in der mittelalterlichen
Stadt, wo die Gilde oder Zunft sowie die gesamte Bürgerschaft eine
geschlossene, auch religiös verbundene Gemeinschaft bildet. Die Ge-
meinschaft wird zusammengehalten durch die gleiche Abstammung
und durch den gemeinsamen Glauben. Die harmonische Einheit der
Wesenswillen, ihre Solidarität hat zur Folge den ganz oder teilweise
§ 46. Entwicklung der Soziologie 251
gemeinsamen Besitz an Grund und Boden, und ein Recht, das
wesentlich Familienrecht ist. In schroffem Gegensatz zur organischen
und harmonischen „Gemeinschaft" steht nach Tönnies die bloß me-
chanische Vereinigung selbständiger Individuen, die er „G e s e 1 1-
schaft" nennt. Hier wird jeder Einzelne vom überlegten, klar be-
wußten „Kürwillen" beherrscht, der nur egoistische Zwecke verfolgt.
In dieser Vereinigung ist, wie sich Tönnies selbst ausdrückt, „jeder
für sich und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen". („Ge-
meinschaft und Gesellschaft", 3. Aufl., S. 33.) Die Gesellschaft ist
kein Organismus, sondern ein künstlicher Mechanismus. Zusammen-
gehalten wird sie durch ein konventionelles Recht, das formal jedem
den gleichen Anspruch gewährleistet, tatsächlich aber doch im Sinne
der besitzenden Klasse gehandhabt wird. Geschichtlich beginnt die
Gesellschaft in Westeuropa mit dem lebhaften Warenverkehr im sech-
zehnten und siebzehnten Jahrhundert, der die Einführung des rö-
mischen Rechtes zur Folge hat, und durch dieses Recht die Einheit
der Familie sowie überhaupt häusliche Verbände auflöst. Und sie
dauert fort unter beständiger Desintegration *tier Reste der Gemein-
schaft, die sich noch erhalten haben. Das „Naturrecht", ein Recht
der allgemeinen Gleichheit, wie es der Warenverkehr braucht, liefert
die Begriffe dazu. Immer deutlicher zeigt sich der „isolierte Mensch,
ein Gespenst in heller, nüchterner Tageswahrheit". So geht die Ge-
schichte von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, von der Kultur des
Volkstums zur Zivilisation des Staatstums *).
Die Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft",
die Tönnies vornimmt, entspricht zweifellos in vieler Beziehung der
Wirklichkeit. Das wahrhaft Bedeutsame daran — und das tritt bei
Tönnies nicht deutlich genug hervor — liegt darin, daß in diesen beiden
Formen des Zusammenlebens das Verhältnis des Einzelnen zur Ge-
samtheit ein wesentlich verschiedenes ist. In der Gemeinschaft wird
der Einzelne vom „Wesenswillen" beherrscht, wofür man ebensogut
Gesamtwille sagen könnte. Er fühlt sich als ein Teil seiner Gruppe
und hat sich noch nicht zur vollen Eigenpersönlichkeit emporgearbeitet.
In der „Gesellschaft" hingegen treten uns lauter selbständige eigen-
kräftige Individualitäten entgegen, die nach Tönnies nur egoistische
Interessen verfolgen und einander feindlich und mißtrauisch gegen-
überstehen. In der Schilderung der „Gesellschaft" scheint mir Tönnies
stark von Hobbes beeinflußt zu sein, mit dessen Werken er sich be-
sonders eifrig beschäftigt hat. Dazu zeigt sich bei ihm auch eine
etwas romantisch gefärbte Vorliebe für die organische Gemeinschaft
und eine starke Abneigung gegen die bloß mechanische Gesellschaft.
Es geht aber aus seinen Darlegungen nicht hervor, wie der Einzelne
zu der Selbständigkeit gelangt ist, die er dann in der Gesellschaft
so unangenehm betätigt. Gerade dieser Übergang aus der ursprüng-
lichen sozialen Gebundenheit zur allmählichen Selbstentfaltung der
*) Bei der Darlegung von Tönnies' Lehre, die er selbst oft in schwer ver-
ständlicher Sprache vorträgt, haben wir außer seinem eigenen Hauptwerk die
vortreffliche Darstellung von Paul Barth (Phil. d. Gesch. als Soziologie, 3. und
4. Aufl., I, 441 ff.) benützt und oft wörtlich wiedergegeben.
252 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Individualität scheint mir einer der allerbedeutsamsten soziologischen
Prozesse zu sein, der in seinem Entstehen und in seinen Wirkungen
erforscht werden muß. Tönnies hat auf dieses Problem hingewiesen,
ist aber durch seine romantische Vorliebe für die organische Gemein-
scfaaft von der intensiven Behandlung desselben abgelenkt worden.
Man hat die Bedeutsamkeit der so überaus komplizierten seelischen
Wechselbeziehungen immer deutlicher erkannt und die Notwendigkeit
einer psychologischen Untersuchung derselben einzusehen be-
gonnen. Der Franzose Gabriel Tarde hat in der Nachahmung
und in der Erfindung die ursprünglichen Kräfte des sozialen
Lebens zu finden geglaubt. Auf ihnen beruht seiner Überzeugung nach
die Entstehung und Entwicklung der Sprache, der Religion,
aber auch die allmähliche Ausbildung der Technik. Daran ist
/weifellos viel Richtiges, allein das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesamtheit — und das ist nun einmal das soziologische Grund-
problem — wird durch diese Kategorien nicht erfaßt.
Selbst die tiefgründigen Untersuchungen, die Georg Simmel in
seiner großen „Soziologie" (1908) vorlegt, haben meist nur die Wechsel-
wirkungen zwischen den einzelnen Individuen zum Gegenstand und
beschäftigen sich fast gar nicht mit den soziologisch viel wichtigeren
Beziehungen des Einzelnen zur Gruppe. Trotzdem hat Simmel die
deutsche Gesellschaftslehre in ganz hervorragender Weise gefördert
und angeregt. Neben der bereits genannten großen „Soziologie"
kommen hier besonders seine Bücher „Soziale Differenzierung" und
die „Philosophie des Geldes" in Betracht. Simmel hat übrigens eine
ganz neue Richtung in der Soziologie begründet, die gerade jetzt eifrig
gepflegt wird.
Im alten Österreich, und zwar nicht bloß im deutschen Teile
seiner Bevölkerung, wurde die Soziologie bereits in den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts eifrig gepflegt. Die beiden oben-
genannten Denker, Gumplowicz und Ratzenhof er, waren Österreicher.
Dazu kommen noch Anton Menger, Julius Ofner, Friedrich v. Wieser,
Masaryk, Menzel, Somlö u. a. m. Als nun im Jahre 1907 Rudolf
Goldscheid, der durch seine Arbeiten über Menschenökonomie
und Entwicklungswert der Volkswirtschaftslehre neue und
sehr wichtige soziologische Aufgaben gestellt hat, in Wien eine
soziologische Gesellschaft ins Leben rief, da wurde
durch die im Rahmen dieser Gesellschaft abgehaltenen Vorträge und
I >i^kussionen das Interesse für soziologische Probleme in weitere Kreise
getragen. Überdies wurden auch einige jüngere Forscher zur Be-
schäftigung mit der Gesellschaftslehre angeregt. Dazu gehören neben
Rudolf Goldscheid selbst noch Max Adler, Eugen Ehrlich, Hans
Ktlsen, Otmar Spann u. a. Auch der Verfasser dieses Buches darf
sich zu den österreichischen Soziologen dazuzählen, weil er seit mehr
als zehn Jahren in jedem Sommersemester ein Kolleg über Soziologie
abhält, das immer zahlreicheren Zuspruch findet. In den letzten Jahren
hat er überdies einige wichtige Entdeckungen auf diesem Gebiete
gemacht und hofft bald mit Arbeiten seiner Schüler vor die Öffentlich-
keit treten zu können.
§ 46. Entwicklung der Soziologie 253
Der Weltkrieg und die darauffolgenden Ereignisse haben in
Deutschland das Interesse für Gesellschaftslehre mächtig angeregt
und es herrscht jetzt auf diesem Gebiete ein überaus reges Leben.
Johann Plenge, dem wir bereits ein tiefgründiges Buch über Marx
und Hegel und viele andere sehr anregende Schriften verdanken, hat
in Münster ein Institut für Organisationslehre geschaffen,
aus dem schon jetzt wertvolle Arbeiten hervorgegangen sind. In Köln
ist ein Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften ins Leben gerufen
worden, das eine wissenschaftliche Zeitschrift für Soziologie herausgibt.
Die bisher erschienenen, von Leopold v. Wiese vortrefflich redigierten
Hefte enthalten eine Fülle von Untersuchungen und Anregungen, be-
sonders auch sehr dankenswerte Mitteilungen über die jetzt so schwer
zugänglichen ausländischen Publikationen.
Das rege Interesse für die junge Wissenschaft zeigt sich auch
darin, daß die soziologische Betrachtungsweise immer mehr auf die
einzelnen Gebiete des Geisteslebens angewendet wird. So
haben wir, um nur die allerwichtigsten Arbeiten zu nennen, in den
letzten Jahren das große dreibändige Werk von Max Weber über
Religionssoziologie zu verzeichnen, worin dieser geniale,
leider zu früh verstorbene Forscher die Wirtschaftsethik der
Weltreligionen darstellt. Man rindet hier die schon früher bekannte
tiefgründige Untersuchung: „Die protestantische Ethik und der Geist
des Kapitalismus" wieder abgedruckt. Dann werden die Religionen
Chinas und Indiens und im dritten Bande das antike Judentum dar-
gestellt. Die befruchtende Kraft der soziologischen Methode zeigt sich
da Schritt für Schritt.
Die soziologische Funktion des Rechtes hat Anton Menger
mit besonderer Schärfe erfaßt. In seiner im Jahre 1890 erschienenen
Schrift „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen" hat er
durch schlagende Beispiele den Beweis erbracht, daß das geltende
Recht den Interessen der herrschenden, das heißt der besitzenden
Klasse angepaßt sei, dagegen die Bedürfnisse der Besitzlosen, des
Proletariats, so gut wie gar nicht berücksichtigt. In seiner Rektorats-
rede vom Jahre 1895 hat Anton Menger die „soziale Rechtsbildung"
mit großer Entschiedenheit gefordert und den soziologischen Ge-
sichtspunkt in der Rechtswissenschaft geistvoll verteidigt. In zahl-
reichen Schriften hat Julius Ofner die rein formale Behandlung in
der Rechtsprechung bekämpft und sowohl für die Schaffung als auch
für die Handhabung des Rechtes die Rücksicht auf die Bedürfnisse
des Lebens und auf die soziale Gerechtigkeit gefordert*). Seither haben
sich hervorragende Rechtslehrer, z. B. Josef Kohler, der soziologischen
Betrachtungsweise zugewendet. Eugen Ehrlich hat in seinem Werke
„Grundlegung zur Soziologie des Rechtes" wertvolle Anregungen
gegeben. Nach und nach bildet sich eine ganze Schule soziologisch
orientierter Juristen aus, die nicht nur zum tieferen Verständnis,
sondern auch zur zeitgemäßen Weiterentwicklung des Rechtes viel
*) Vgl. Bienenfeld, „Ofner und die Rechtswissenschaft" in der Festschrift
für Julius Ofner, Wien 1915, S. 45 ff.
254 Soziologie und Geschichtsphilosophie
beitragen dürfte. Die neue Betrachtungsweise ist besonders geeignet,
auf den jetzt wieder viel erörterten Begriff des Naturrechtes helleres
Licht zu werfen. Es gibt allerdings noch zahlreiche Vertreter der
Rechtswissenschaft, die sich für die alte dialektische, formalistische
und apriorisch gerichtete Jurisprudenz aussprechen und jede sozio-
logische Interpretation der Rechtssätze, Rechtsnormen und Rechts-
institutionen schroff ablehnen. Allein gerade aus den dadurch hervor-
gerufenen Diskussionen geht, meiner Überzeugung nach, die große
Fruchtbarkeit der soziologischen Betrachtungsweise mit immer
größerer Deutlichkeit schlagend hervor.
Die Volkswirtschaftslehre ist bereits von ihrem Be-
gründer Adam Smith als ein Teil eines umfassenden politischen und
ethischen Systems entworfen worden und trug somit von allem Anfang
an soziologischen Charakter an sich. Das hat vor einiger Zeit ein
amerikanischer Soziologe, A. W. Small, in einer interessanten kleinen
Schrift „Adam Smith and modern Sociology" (Chicago 1907) klar
nachgewiesen. Von den Nachfolgern des großen schottischen Denkers,
von der sogenannten „klassischen" Nationalökonomie ist dann aller-
dings der Versuch unternommen worden, das wirtschaftliche Leben
künstlich zu isolieren und die darin waltenden Gesetze mit Hilfe der
elementaren, mitunter sogar der „höheren" Mathematik in möglichster
Exaktheit festzustellen. Diese Richtung einer „rechnenden" National-
ökonomie hat zwar noch immer bedeutende Vertreter und zahlreiche
Anhänger, allein es bricht sich doch immer mehr die Überzeugung
Bahn, daß die Lehre von den Bedingungen der Güterproduktion und
der Güterverteilung, von den Gesetzen des Handels und des Geld-
verkehres nur im Zusammenhang mit den Bedingungen des ganzen
Kulturlebens der Nationen verstanden werden kann. Die Probleme
des Wirtschaftslebens sind für die Struktur der Gesellschaft immer
bedeutsamer geworden und können daher nicht mehr isoliert betrachtet
werden. Tatsächlich beschäftigen sich unsere hervorragenden National-
ökonomen immer mehr mit soziologischen Problemen, und nicht wenige
unter ihnen sind ganz und gar Soziologen geworden. Man braucht
dabei, um bloß die bekanntesten zu nennen, nur an Max Weber,
Werner Sombart, Franz Oppenheimer, Friedrich Wieser und Johann
PI enge zu erinnern.
Die Bedeutung der soziologischen Betrachtungsweise für die
E r k e n n t n i s 1 e h r e, für die Ethik und für die Pädagogik
wird weiter unten dargelegt werden.
In der wissenschaftlichen Durchforschung der Literatur und
der K u n s t ist die soziologische Betrachtungsweise schon längere Zeit
heimisch, jedoch ohne daß sich die Vertreter dieser Wissenszweige
dessen deutlich bewußt geworden sind. Daß jedes Kunstwerk und
jedes literarische Erzeugnis kulturgeschichtlich betrachtet und aus dem
Geiste seiner Zeit heraus interpretiert werden muß, das ist den meisten
Forschern auf diesen Gebieten längst eine ganz geläufige, fast selbst-
verständliche Forschungsregel geworden. Man sollte sich aber auch
klar machen, daß es sich dabei immer um Wechselbeziehungen handelt,
die zwischen dem schaffenden Künstler oder Schriftsteller einerseits
§ 47. Richtungen der Soziologie 255
und der kleineren oder größeren Gemeinschaft, der sie angehören und
auf die sie wirken wollen, anderseits bestehen. Diese Wechsel-
beziehungen sind den Schaffenden mitunter deutlich bewußt, wirken
aber oft auch im Dunkel des Unbewußten in ihrer Seele. Für die
Erkenntnis dieser weitverzweigten und nicht immer leicht erkennbaren
Wechselbeziehungen hat aber die Soziologie das Auge geschärft und
wird es im Fortgang der Forschung noch mehr schärfen. Es ist
deshalb wichtig, daß die Literatur- und die Kunsthistoriker sich mit
der soziologischen Betrachtungsweise vertraut machen und sich der-
selben mit vollem Bewußtsein bedienen. Auch da, wo es sich darum
handelt, den über alle historische Bedingtheit scheinbar hinausragenden
„Ewigkeitswert" eines Kunstwerkes, den allgemein mensch-
lichen Gehalt einer Dichtung herauszuarbeiten und darzustellen,
selbst da braucht der Kunst- oder Literarhistoriker die soziologische
Betrachtungsweise. Denn die Idee der ganzen Menschheit und der
Gedanke der allgemeinen Menschlichkeit, diese beiden großen Er-
rungenschaften des Menschengeistes, können in ihrem Entstehen und
in ihrer Entwicklung nur mit Hilfe der soziologischen Methode richtig
verstanden und gewürdigt werden. Der weiter unten darzulegende
Zusammenhang von Individualismus und Universalis-
mus ist für die Gebiete der Kunst und Literatur von grundlegender
Bedeutung und bringt für die ästhetische Beurteilung ganz neue
Gesichtspunkte. Es wird sich also auch für die richtige Würdigung
des allgemein Menschlichen in Kunst und Dichtung die soziologische
Betrachtungsweise als fruchtbar erweisen.
Auf den beiden großen Gebieten der Philologie und der
Sprachwissenschaft haben die Forscher bisher von der
Soziologie noch wenig Notiz genommen. Daß auch hier die neue
Betrachtungsweise fruchtbar werden könnte, das habe ich in einem
kleinen Aufsätze nachzuweisen versucht *).
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich bestimmte Rich-
tungen in der Soziologie ausgebildet, über die nun kurz berichtet
werden soll.
§ 47. Richtungen der Soziologie
Man kann heute im ganzen und großen etwa fünf verschiedene
Richtungen in der Soziologie unterscheiden, wobei es allerdings an
Zwischenstufen und an Kombinationen nicht fehlen dürfte.
1. Die induktiv-statistische Richtung. Schon in
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde vom Belgier
Quetelet und vom Engländer Buckle der Versuch unternommen, durch
statistische Untersuchungen gewisse Regelmäßigkeiten und Zu-
sammenhänge im sozialen Leben nachzuweisen. So fand z. B. Buckle,
daß mit dem Steigen der Getreidepreise gewöhnlich die Zahl der Ehe-
schließungen sich vermindere, dagegen die Zahl der Selbstmorde zu-
*) „Die alten Sprachen und die neue Zeit" von Wilh. Jerusalem, abgedruckt
in den „Mitteilungen des Vereines der Freunde des humanistischen Gymnasiums
in Wien", Heft 20 (1921).
256 Soziologie und Geschichtsphilosophie
nehme. Manche Forscher sind nun auch heute noch der Meinung,
daß durch fortwährende Verfeinerung der statistischen Methoden
immer mehr solcher Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge fest-
gestelll werden könnten, und daß darin die eigentliche Aufgabe der
Soziologie bestehe, die nichts anderes sein dürfe als eine ganz exakte
Tatsachenwissenschaft. Nun ist es ja zweifellos, daß statistische und
historische Untersuchungen der Gesellschaftslehre ein überaus wert-
volles Material zu liefern vermögen, und je genauer diese Feststellungen
vorgenommen werden, desto wertvoller sind die so zutage tretenden
Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge. Zu wirklichen soziolo-
gischen Erkenntnissen werden diese Tatsachen aber erst
dann, wenn es gelingt, die psychischen Wechselbeziehungen zwischen
Individuum und Gruppe aufzufinden, aus denen die ermittelten äußer-
lichen Zusammenhänge tatsächlich hervorgehen. Die Soziologie ist
ihrem innersten Wesen nach Geisteswissenschaft, und nur
wenn man sie als solche erfaßt und betreibt, kann sie ihrer wahren
\ufgabe gerecht werden.
2. Die biologisch-organische Richtung. Diese
Auffassung dringt schon deshalb mehr in die Tiefe als die bloß in-
duktive Konstatierung von äußerlichen Zusammenhängen, weil hier
der Grundsatz gilt, daß man die einzelnen Teile der Gesellschaft
immer nur aus der Struktur des Ganzen verstehen kann, niemals
aber das Ganze aus seinen einzelnen Bestandteilen. Betrachtet man
aber, wie dies von den Vertretern dieser Richtung oft geschehen ist,
die Gesellschaft oder den Staat als einen wirklichen einheitlichen
Organismus und versucht man die einzelnen Klassen, Stände,
Berufszweige und Institutionen der Gesellschaft als Organe eines
einzelnen Lebewesens zu deuten und demgemäß ihre rein b i o-
logischen Funktionen zu bestimmen, so führen, wie wir bereits
oben gesehen haben, diese viel zu weit getriebenen Analogien stark
in die Irre. Herbert Spencer hat diese Fehlerquelle bereits klar er-
kannt, indem er darauf hinweist, daß die Gesellschaft ja aus selb-
ständig denkenden und wollenden Individuen bestehe, während die
Organe eines einzelnen Lebewesens niemals fähig sind, ein Eigen-
dasein zu führen. Spencer spricht deshalb lieber von der über-
organischen Struktur der sozialen Gebilde.
Trotz dieser Irrwege haben einzelne Vertreter der organischen
Richtung doch sehr tiefe Einblicke in das Wesen des menschlichen
Zusammenlebens zu tun vermocht. Wir dürfen also sagen, daß die
biologisch - organische Auffassung der Gesellschaft als heu-
ristisches Prinzip gute Dienste geleistet hat. Sie verleitet aller-
dings leicht zu der irrigen Ansicht, daß es möglich sei, die überaus
komplizierten seelischen Wechselwirkungen, aus denen sich das
soziale Leben der Menschen zusammensetzt, bloß mit Hilfe der natur-
wissenschaftlichen Methode sachgemäß zu beschreiben und in seiner
Tiefe zu erfassen.
3. Die psychologische Richtung. Je tiefer die For-
schung in das Wesen des Gemeinschaftslebens eindringt, desto deut-
licher stellt es sich heraus, daß die seelischen Wechsel-
§ 47. Richtungen der Soziologie 257
beziehungen seine eigentliche Grundlage bilden. Es liegt also
der Gedanke nahe, durch tief dringende psychologische Analysen
die Entstehung und die Entwicklung der menschlichen Verbände in
helleres Licht zu setzen. Wir haben bereits oben gesehen, wie dies
Gabriel Tarde und Georg Simmel versucht haben. Neben ihnen wären
noch Giddings und aus der neuesten Zeit Mc Dougall und Alsworth
Ross zu nennen. Niemand wird leugnen, daß durch die Unter-
suchungen dieser Forscher unsere Einsicht in die psychologischen
Grundlagen des Gemeinschaftslebens gefördert worden ist. Tarde hat
sehr erfolgreich auf die Nachahmung, Simmel sehr fein auf die
Gegenseitigkeit der Beziehungen, Mc Dougall auf das Be-
dürfnis nach Unterordnung hingewiesen. Trotzdem birgt die
rein psychologische Methode Gefahren und Fehlerquellen in sich, die
den Seelenforschern meist unbekannt bleiben. Der moderne Psychologe
geht zunächst selbstverständlich vom Individuum aus und hat ferner
meistens den hochentwickelten Kulturmenschen der Gegenwart mit
seinem stark differenzierten Bewußtsein im Auge. Die Psychologen
lassen sich ferner von der Voraussetzung leiten, daß die Struktur des
Menschengeistes, wenigstens soweit die Grundfunktionen des Bewußt-
seins in Betracht kommen, zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieselbe
war und sich im ganzen und großen auch gleichgeblieben ist. Nun
lehrt uns aber die moderne Völkerkunde, daß die Geistesart der Primi-
tiven in ganz wesentlichen Punkten von der des modernen Kultur-
menschen verschieden ist. Das hat Levy-Brühl in den beiden weiter
unten angeführten Werken auf Grund einer überwältigenden Fülle
von unzweifelhaften Tatsachen nachzuweisen vermocht. Es ist des-
halb für den modernen Individualpsychologen überaus schwer, sich
in diese von der unseren so ganz verschiedene Geistesart hinein-
zudenken. Die Berichte der Reisenden führen da sehr oft ganz in
die Irre. Nun ist aber das Studium der primitiven Gesellschafts-
gruppen für die Soziologie von ganz besonderer Wichtigkeit, weil wir
den Menschen auf dieser Kulturstufe noch in dem Zustand voll-
kommener sozialer Gebundenheit antreffen. Was das
bedeutet, wird weiter unten dargelegt werden. Allerdings ist ja der
Versuch, sich in die Seele der Primitiven einzufühlen, in gewissem
Sinne auch ein Akt psychologischer Forschertätigkeit. Diese Psycho-
logie darf aber nicht vom Individuum ausgehen, sondern muß die
Gruppe als Ganzes ins Auge fassen.
Die psychologische Richtung hat, besonders durch die von Simmel
gegebenen Anregungen, in den allerletzten Jahren zur Ausbildung
einer neuen soziologischen Methode geführt, die von ihren Anhängern
als besonders wissenschaftlich bezeichnet, sehr hoch eingeschätzt und,
wie es scheint, immer eifriger gepflegt wird. Ich möchte sie als „f o r-
m a 1 i s t i s c h e" Richtung bezeichnen und gleich hier der Vermutung
Ausdruck geben, daß sie sich unter dem Einfluß der von Husserl in-
augurierten „phänomenologischen Philosophie" ausgebildet hat.
4. Die formalistische Richtung. Ihr Begründer ist,
wie gesagt, Georg Simmel. Gleich im ersten Kapitel seiner großen
„Soziologie" macht er den Versuch, in den Vorgängen der „Ver-
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. I'
258 Soziologie und Geschichtsphilosophie
gesdlschaftung" Inhalt und Form voneinander zu unterscheiden.
I Hu Inhalt bilden nach ihm die Triebe, die Interessen, die Zwecke und
die Motive, die als lebendige und gleichsam gegenständliche Seelen-
kräfte zur Vergesellschaftung hinführen. Dagegen sind die Arten der
Wechselwirkungen der Individuen aufeinander, die sich im
Prozesse der Vergesellschaftung gleichsam von selbst einstellen, als
die Formen der Vergesellschaftung anzusehen. Soll nun, so argu-
mentiert Simmel weiter, die Soziologie als selbständige, als einheitliche
Wissenschaft gegenüber den einzelnen sozialen Disziplinen, wie Rechts-
wissenschaft, Staatslehre, Sprachwissenschaft u. a., ihr eigenes Dasein
führen, so kann dies nur dann der Fall sein, wenn sie die Formen
der Vergesellschaftung gedanklich von den damit verbundenen Inhalten
loslöst und diese Formen zum Gegenstand einer gesonderten Unter-
suchung macht. Simmel weiß ganz genau, daß sich eine tatsächliche
Trennung von Inhalt und Form nicht vollziehen läßt. „In jeder vor-
liegenden sozialen Erscheinung," sagt er ganz richtig, „bilden Inhalt
und gesellschaftliche Form eine einheitliche Realität; eine soziale
Form kann so wenig eine von jedem Inhalt gelöste Existenz gewinnen,
wie eine räumliche Form ohne eine Materie bestehen kann, deren
Form sie ist. Dies vielmehr sind die in der Wirklichkeit untrennbaren
Elemente jedes sozialen Seins und Geschehens: ein Interesse, Zweck,
Motiv und eine Form oder Art der Wechselwirkung unter den Indi-
viduen, durch die oder in deren Gestalt jener Inhalt gesellschaftliche
Wirklichkeit erlangt" (Soziologie, S. 6 f.). „Was nun die Gesellschaft,
in jedem bisher gültigen Sinne des Wortes, eben zur Gesellschaft
macht, das sind ersichtlich die so angedeuteten Arten der Wechsel-
wirkung." „Soll es also eine Wissenschaft geben, deren Gegenstand
die Gesellschaft und nichts anderes ist, so kann sie nur diese Wechsel-
wirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung unter-
suchen wollen." „Daß dieses beides (Inhalt und Form), in der Wirklich-
keit untrennbar Vereinte, in der wissenschaftlichen Abstraktion ge-
trennt werde, daß die Formen der Wechselwirkung oder Vergesell-
schaftung, in gedanklicher Ablösung von den Inhalten, die durch
sie erst zu gesellschaftlichen werden, zusammengefaßt und einem
einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkte methodisch unterstellt
werden — dies scheint mir die einzige und die ganze Möglichkeit
einer speziellen Wissenschaft von der Gesellschaft als solcher zu be-
gründen" (S. 7). Das Recht zu einer solchen Loslösung der Formen
hängt nun nach Simmel von zwei Bedingungen ab: „Es muß sich
einerseits finden, daß die gleiche Form der Vergesellschaftung an ganz
verschiedenem Inhalt, für ganz verschiedene Zwecke auftritt und um-
gekehrt, daß das gleiche inhaltliche Interesse sich in ganz verschiedene
Formen der Vergesellschaftung als seine Träger oder Verwirklichungs-
arten kleidet" (S. 8). Simmel behauptet nun, daß beides als Tatsache
ganz unleugbar sei. „Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nach-
ahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit
des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen
und unzähliges Ähnliches findet sich an einer staatlichen Gesellschaft
wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an
§ 47. Richtungen der Soziologie 259
einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer
Familie" (S. 8). Man sieht aus Simmeis klaren und scharfen Dar-
legungen, was mit der Loslösung der Formen vom Inhalt gemeint ist
und wie sich der Verfasser den Betrieb dieser — allerdings recht ab-
strakten — Wissenschaft denkt. Er selbst hat in seiner „Soziologie"
einige solcher „Formen der Vergesellschaftung" untersucht, besonders
„Über- und Unterordnung" (134—248) und den „Streit" (247—336).
Wie wir bereits hervorgehoben haben, berücksichtigt Simmel dabei
nur die Beziehungen der einzelnen Individuen zueinander und fast
gar nicht die Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen und der
Gruppe als einem Ganzen.
Mit großer Energie haben Leopold v. Wiese und Alfred Vierkandt
den Gedanken Simmeis aufgenommen und weiter entwickelt. In der
ersten Nummer der von Wiese redigierten „Kölner Viertel jahrshefte
für Sozialwissenschaften" haben diese beiden Forscher die forma-
listische Richtung der Soziologie klar dargestellt und ihre Aufgaben
näher bestimmt. An Stelle des etwas zu vieldeutigen Wortes
„Form" will Wiese hiebei von einer „Beziehungslehre" sprechen, die
ganz im Sinne Simmeis die seelischen Wechselbeziehungen zwischen
den Menschen als Grundlage der Soziologie betrachtet und auf rein
erfahrungsmäßigem Wege zu erforschen und in ein System zu bringen
bemüht sein soll. Er eröffnet zu diesem Zwecke in der genannten Zeit-
schrift eine eigene Abteilung, die er als „Archiv für Beziehungslehre"
bezeichnet. In einem sehr lehrreichen Aufsatze entwirft dann Vierkandt
das „Programm einer formalen Soziologie". Er bespricht darin nicht
bloß die Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen, sondern weist
auch auf die „Tatsachen des Kollektivlebens, das Gesamt-
bewußtsein, den Gesamtwillen" hin. Vierkandt glaubt, daß diese
Richtung deshalb bis zu den letzten Tatsachen vorzudringen vermag,
„weil sie nicht bloß aus der Erfahrung verallgemeinert, sondern auch
eine Reihe von Tatbeständen apriorisch feststellen kann, weil sie
nicht nur induktiv vorgeht, sondern, und zwar in höherem
Maße, auch phänomenologisch" (I, 65)*). Auch Wiese,
der sonst den streng empirischen Charakter der „Beziehungs-
lehre" scharf betont, scheint von der phänomenologischen Betrach-
tungsweise wichtige Ergebnisse zu erwarten. Sagt er doch ausdrücklich
in dem oben angeführten Aufsatz: „Bei dieser Aufgabenbestimmung
der Beziehungslehre ist sie als ein Teil der Lehre vom Sein (nicht
des Wertens), als Systematisierung von Tatsächlichem bezeichnet;
ihre phänomenologische Natur steht fest" (1,50.
Die Sperrung von mir). In diesem Hinweis auf die Phänomenologie
scheint mir nun eine gefährliche Fehlerquelle dieser formalistischen
Richtung der Soziologie zu liegen. Wer sich der Phänomenologie im
Sinne Husserls hingibt, dessen Sinn ist von allem Anfang an auf
„W esensschau" gerichtet. Er fühlt sich von vornherein ganz
unabhängig von allen Ergebnissen historischer und induktiver For-
schung. Der Phänomenologe ignoriert in seinem stolzen Selbst-
*) Die Sperrungen sind von mir.
260 Soziologie und Geschichtsphilosophie
bevvußtsein mit voller Absicht die Tatsache, daß er selbst mit seiner
ganzen Denkfähigkeit doch auch nur ein Produkt der sozialen Ent-
wicklung, daß er selbst durch und durch historisch bedingt ist. Auf
Grund des ganz individuellen Erlebnisses glauben diese Forscher,
durch „Sichtigmachung", durch „Intuition" und die von Husserl an-
gegebenen Methoden der „Reduktion" und der „Einklammerung"
ganz unabhängig von jeder historischen und induktiven Forschung
zu „absoluten" Erkenntnissen von „höchster Dignität" zu gelangen.
Blickt man auf die Ergebnisse, welche die Anwendung der „phäno-
menologischen" Methode auf dem Gebiete der Kunstforschung, der
Rechtslehre und in letzter Zeit auch der Religionswissenschaft zutage
gefördert zu haben behauptet, so muß man nur über den Grad des
dogmatischen Vertrauens staunen, welches die Anhänger
dieser Richtung den Erkenntniskräften ihres rein individuellen be-
schränkten kleinen Ichs entgegenbringen und sich zugleich über die
Kühnheit wundern, welche dazu gehört, rein subjektive Erlebnisse für
absolute, allgemeingültige Wahrheiten auszugeben. Die phänomeno-
logische Betrachtungsweise ist eben mit wirklichem Empirismus, der
auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften nur als E v o 1 u t i o n i s-
m u s auftreten kann, ganz unvereinbar, weil sie ja auf die Kon-
statierung des jetzt vorhandenen Seins eingestellt ist und die Frage
nach dem Werden geradezu verbietet. Wenn sich also die „Be-
ziehungslehre", wie Vicrkandt es zu wollen scheint, ganz und gar
der Phänomenologie verschreibt, dann wird sie gerade zu dem ge-
langen, was Wiese durchaus vermeiden will, zu „unerträglichen, vor-
eiligen und aberwitzigen Spekulationen" (I, 55). Bleibt sie aber auf
dem Boden der wirklichen Erfahrung, dann wird sie der ethno-
graphischen, der historischen und der biologischen Betrachtungsweise
nicht entraten können.
Diese von der Schule Dürkheims mit so viel Erfolg eingeschlagene
Richtung scheint mir nun unter all den bisher genannten Methoden
die fruchtbarste zu sein. Da ich derselben in der folgenden Dar-
stellung meiner eigenen Ergebnisse wiederholt zu gedenken Gelegen-
heit haben werde, so genügt es, wenn ihre Eigenart nur ganz kurz
charakterisiert wird.
5. Die ethnographisch-historische Richtung.
Das wichtigste Merkmal dieser Betrachtungsweise besteht darin, daß
hier nicht vom Einzelmenschen, sondern von der Gruppe ausgegangen
wird. Die Völkerkunde hat bewiesen, daß der Mensch als sozial ge-
bundenes Herdentier begonnen hat, und deshalb sind die „Kollektiv-
vorstellungen" auch zeitlich früher da als die individuell differenzierten,
persönlich gefärbten Erlebnisse. Versucht man nun zu zeigen, wie
sich aus der sozial gebundenen Gruppe infolge der Arbeitsteilung
langsam und allmählich selbständige und eigenkräftige Persönlich-
keiten herausentwickelt haben, wie dadurch ganz neue Seelenkräfte
zur Entfaltung gelangen, wie das wiederum auf die Weiterentwicklung
und die immer kompliziertere Gestaltung der nunmehr sich bildenden
größeren Gemeinwesen zurückwirkt, dann fällt ein ganz neues Licht
auf die immer verwickelter werdenden Beziehungen zwischen dem
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 261
Gemeinwesen und jedem einzelnen seiner Mitglieder. Verfolgt man
dann diese Entwicklungstendenzen in ihren geschichtlichen Aus-
wirkungen, so wird die Fruchtbarkeit dieser echt soziologischen Be-
trachtungsweise immer deutlicher zutage treten.
Ich glaube nun mit Hilfe dieser Methode zu einer Reihe von
soziologischen Grundeinsichten gekommen zu sein, die nunmehr dar-
gelegt werden sollen.
§ 48. Soziologische Grundeinsichten.
Als Ergebnis der bisher geleisteten Forschungsarbeit auf dem
Gebiete der Gesellschaftslehre darf man vielleicht folgende vier
Tatsachen und Gesetze ansehen, die jedoch nicht nur als Resultate,
sondern zugleich als Richtlinien für die weitere Untersuchung zu
betrachten sind.
1. Die zur Einheit zusammengeschlossene
organisierte Menschengruppe, die den eigent-
lichen Gegenstand der Soziologie bildet, ist
mehr und ist etwas anderes als die Summe der
sie bildenden Mitglieder.
Diese Überzeugung bildet eigentlich die Voraussetzung der So-
ziologie. Trotzdem ist sie heute noch teils wenig verstanden, teils
viel umstritten. Herbert Spencer findet, daß alles, was in der Gesell-
schaft ist, in den einzelnen Mitgliedern vorhanden sein muß, und
sieht deshalb in der Gruppe nur die Summe oder die Integration der
einzelnen Seelen. Demgegenüber betrachtet wiederum Dürkheini und
seine Schule die Gesellschaft als etwas von den Individuen total Ver-
schiedenes. Die „kollektiven Vorstellungen" unterliegen seiner Ansicht
nach ganz anderen Gesetzen und können auf dem Wege der Individual-
psychologie nicht verstanden werden. Alles Soziale ist nach Dürkheini
dadurch charakterisiert, daß es dem Einzelnen gegenüber einen
imperativischen Charakter an sich trägt, ihm als äußerer Zwang
gegenübersteht. Er spricht deshalb von den sozialen Gebilden mit
Vorliebe so, als ob sie eine Art äußerer „Ding e" (choses) wären,
die dem Einzelnen ebenso als „Widerstände" gegeben sind, wie man
dies oft von den Wahrnehmungen des Tastsinnes gesagt hat. Das
wollen nun individualistisch orientierte Denker nicht nur nicht gelten
lassen, sondern überhaupt gar nicht begreifen. Dürkheims Ausdrucks-
weise klingt in der Tat beim ersten Lesen seiner Schriften oft recht
seltsam, und es ist deshalb nicht zu verwundern, daß viele seine
Aufstellungen ablehnen. Sieht man aber etwas genauer zu, so findet
man bald, daß seine Betrachtungsweise doch weit mehr geeignet ist,
Klarheit in die soziologische Struktur der Gesellschaft zu bringen als
die Herbert Spencers und der meisten anderen Soziologen. Dürkheini
weiß sehr wohl, daß das kollektive Bewußtsein, dessen Wandlungen
er an den objektiv gegebenen Erzeugnissen desselben, meist an reli-
giösen Kulten und an Rechtsgebräuchen studiert, nichts Transzendentes
ist und seine Wirklichkeit und Wirksamkeit nicht anderswo betätigen
kann als in den Einzelseelen. Allein er versteht es vortrefflich, in
262 Soziologie und Geschichtsphilosophie
den Einzelseelen den sozialen Gehalt von dem persönlichen
zu scheiden und zeigt uns namentlich in seinem Werk über die Teilung
der Arbeit, wie das Gesamtbewußtsein in den primitiven Phasen der
Entwicklung fast die ganze Seele des Einzelnen ausfüllte und wie erst
allmählich die Einzelseelen ihre Sonderinhalte gewinnen.
Durch die fortwährende seelische Wechselwirkung, die sich
/wischen den Mitgliedern der Gruppe abspielt, wird tatsächlich etwas
Neues geschaffen, das der Einzelne aus sich selbst niemals hervor-
bringen könnte. So entsteht die Sprache, so bilden sich religiöse
< ihuibensvorstellungen und Kultgebräuche, so das Recht und die
Sitte als Erzeugnisse des Gemeinschaftslebens aus. Diese werden
zum Gemeinbesitz des Clans, des Stammes, der Dorfgemeinde, des
Volkes. Von frühester Jugend an tritt dieses Gemeingut jedem Ein-
zelnen als etwas Gegebenes, Dauerndes, Festes, zugleich aber auch
als etwas Ehrfurcht Gebietendes und Zwingendes entgegen. Dieser
geistige Gemeinbesitz der Gruppe, an dessen tatsächlichem Vorhanden-
sein und an dessen bedeutungsvoller Wirksamkeit niemand zweifeln
kann, der das Zusammenleben der Menschen denkend betrachtet, dieser
Gemeinbesitz ist es, durch den die Gruppe mehr und etwas anderes
ist als die Summe ihrer Mitglieder*). Sie bekommt eben durch dieses
geistige Gemeingut eine Art selbständiger Existenz, ein eigenes Leben.
Dürkheim sagt also ganz richtig in seiner Schrift: „Die Methode der
Soziologie" (deutsche Ausgabe, S. 132): „Die Gesellschaft ist nicht
bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung
gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die ihren eigenen
Charakter hat. Allerdings kann eine soziale Erscheinung nicht ent-
stehen, ohne daß ein Einzelbewußtsein vorhanden ist, doch ist diese
notwendige Bedingung allein nicht ausreichend. Die einzelnen Seelen
müssen noch verbunden, kombiniert und in einer bestimmten Art kom-
biniert sein; es ist diese Verbindungsart, aus der das soziale Leben
folgt. Indem sie aneinandertreten, sich durchdringen und verschmelzen,
bringen die individuellen Seelen ein neues, wenn man will, psychisches
Wesen hervor, das eine psychische Individualität von einer neuen Art
darstellt. Die Gruppe denkt, fühlt und handelt ganz anders, als es
ihre Mitglieder, wären sie isoliert, tun würden. Wenn man also von
den letzteren ausgeht, so wird man die Vorgänge in der Gruppe niemals
verstehen." Dürkheim geht hier in der Trennung der Soziologie von
der Psychologie entschieden zu weit. Es kommt ihm aber in diesem
methodologischen Buche besonders darauf an, die Eigenart des So-
zialen scharf hervorzuheben und zu zeigen, daß die Gruppe nicht als
•) Während des Druckes finde ich dieselbe Ansicht bei dem englischen
Soziologen William Mc Doügall deutlich ausgesprochen. In seinem kürzlich
erschienenen Werke „The Group Aliud" (Cambridge 1021) heißt es S. 12 f.:
„Nicht deshalb, weil die Geister (der Einzelnen) viel miteinander gemein haben,
spreche ich von dem Gesamtgeist (collective mind), sondern weil die Gruppe
als solche mehr ist als die Summe der Individuen, weil sie ihr
eigenes Leben hat, das sich gemäß gewissen Gesetzen des Gruppenlebens ent-
u ic kelt, welche nicht die Gesetze des individuellen Lebens sind, weil ihr eigen-
artiges Oruppenleben auf das Leben der Individuen einwirkt und dasselbe tief-
gehend beeinflußt." (Die Übersetzung ist von mir.)
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 263
bloße Summe von Einzelnen betrachtet werden darf. Dürkheim weiß
aber ganz genau, daß der geistige Gemeinbesitz der Gruppe, der eben
ihre Eigenart und ihre Selbständigkeit ausmacht, mit überwältigender
Kraft auf die einzelnen Seelen einwirkt, und zwar derart, daß in
primitiven Phasen der Entwicklung das Denken und Fühlen der
Gruppe die Seelen ihrer Mitglieder ganz ausfüllt. Daß aber dieser
Gemeinbesitz nur in diesen Einzelseelen wirklich und wirksam ist,
das würde Dürkheim ohne weiteres zugeben. Soziologisch wichtig ist
aber vor allem die unzweifelhafte Realität und die bedeutungsvolle
Wirksamkeit dieses Gemeinbesitzes, der das Leben der Individuen
überdauert, eine starke Festigkeit zeigt und sich nur langsam und
allmählich verändert. Wie dieses Gemeingut sich in den Seelen der
Einzelnen reflektiert, das wird unsere zweite soziologische Grund-
einsicht deutlich machen.
2. Alle sozialen Gebilde, das heißt alle Erzeug-
nisse des menschlichen Gemeinschaftslebens,
haben eine eigenartige Doppelfunktion. Sie sind
außer uns und über uns, zugleich aber auch in uns.
Auf diese merkwürdige Eigenschaft aller sozialen Dinge haben
zuerst zwei französische Soziologen aus der Schule Dürkheims hin-
gewiesen. H. Hubert und M. Mauss sagen in ihrer gemeinsamen Arbeit
über das Opfer: „Dieser Charakter der intimen Durchdringung und
Trennung, der Immanenz und der Transzendenz ist im höchsten
Grade bezeichnend für die sozialen Dinge. Sie sind, je nach dem
Standpunkt, auf den man sich stellt, zugleich innerhalb und
außerhalb des Individuums."*) Diesen von den Ver-
fassern nur als flüchtige Bemerkung hingeworfenen Gedanken habe
ich in meinem Buche „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre"
zu einer soziologischen Grundformel ausgestaltet, die sich für das
Verständnis der sozialen Struktur von Staat, Nation und Menschheit
überaus fruchtbar erwiesen hat. Am deutlichsten läßt sich jedoch diese
Doppelfunktion an einem sozialen Gebilde veranschaulichen, das jeder
kennt, jeder täglich als soziales Werkzeug gebraucht und an dessen
sozialer Provenienz niemand zu zweifeln vermag. Ein solches Gebilde
ist die Sprach e.
Daß die Sprache nur als Produkt des Gemeinschaftslebens ent-
stehen kann, braucht wohl nicht erst bewiesen zu werden. Sie ist
ein durchaus soziales Gebilde, und zwar als ein Erzeugnis der
seelischen Wechselwirkung in ihrem Wesen durchaus geistiger
Natur. Werden doch die physiologisch erzeugten und sinnlich wahr-
nehmbaren Laute erst dadurch zur Sprache, daß sie, wie Aristoteles
sagt, a6u.ßoXa twv iv z-q tyr/% das heißt zu Zeichen psychischer Vor-
gänge gemacht werden. Jeder Einzelne wächst nun in die fertige
*) „Le caractere de penetration intime et de Separation, d'immanence et de
transcendance est, au plus haut degre, distinctif des choses sociales. Elles aussi
existent ä la fois, selon le point de vue auquel on se place dans et hors
l'i n d i v i d u." Hubert et Mauss. „Essai sur la nature et la fonction du sacrifice".
Zuerst erschienen in „L'annee sociologique", II, dann wieder abgedruckt in
„Melanges d'histoire des religions", 1909, p. 128.
264 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Sprache seines Volkes hinein. Er muß sich selbstverständlich nach
ihrem Lautbestand und nach ihren Gesetzen richten. Die Sprache
steht ihm somit als etwas Objektives, nicht von ihm Geschaffenes
gegenüber. Sie ist also über ihm und außer ihm. Zugleich aber
bildet sie einen integrierenden Bestandteil seines psychischen Inventars.
Sie steht ihm zur Verfügung, wenn er ausdrücken will, was er denkt,
was er fühlt und was er von seinem Nebenmenschen erreichen will.
Sie ist also nicht nur außer und über ihm, sondern auch i n ihm
und diese Doppelfunktion gehört zu ihrem Wesen. Hat man sich das
einmal klargemacht, so erkennt man dieselbe Doppelnatur leicht auch
an anderen sozialen Gebilden. Man findet sie in der Religion, im
Recht, in den sittlichen Normen, aber auch in der Mode und in der
öffentlichen Meinung wieder. Ja, es zeigt sich bei etwas genauerer
Untersuchung, daß eine soziale Institution erst dann zu ihrer vollen
soziologischen Auswirkung gelangt, wenn die beiden Momente ihrer
Doppelfunktion gleich stark entwickelt sind, daß sie dagegen an
bindender und zusammenhaltender Kraft verliert, wenn nur die eine
Seite ihres Wesens deutlich hervortritt, die andere aber noch nicht
zur vollen Entfaltung gelangt ist. Wir wollen dies an einigen sozio-
logisch besonders bedeutsamen Gebilden zu veranschaulichen suchen
und wählen dazu den Staat, die Nation und die Idee der
ganzen Menschheit.
Der Staat ist in normalen Friedenszeiten in weit höherem
Grade über mir und außer mir als i n mir. Er tritt mir als Polizei-
gewalt, als Steuerbehörde, als lästiger Regulator gegenüber und er
stellt sich da meistens als eine Macht dar, die hemmend und störend
in meine Aktionssphäre eingreift. Ich füge mich seinen Geboten,
allein er erscheint mir als etwas Fremdes, ja mitunter sogar als etwas
Feindliches, gegen das ich mich zur Wehr setzen möchte. Trotzdem
fühle ich mich als einen Teil dieses Ganzen, und es bedarf nur der
geeigneten Gelegenheit, um dieses Gefühl in mir lebendig zu machen.
Am Anfange des Weltkrieges, im August 1914, konnte man es in
Deutschland und Deutschösterreich geradezu anschaulich beobachten,
wie das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Staate sich tief in jede
I inzelseele hineinsenkte. In den großen Volksheeren stand der Staat
für jeden greifbar und verkörpert da. Die Macht und die Autorität
des Staates wurden dabei immer größer. Der Staat war gewiß nicht
weniger außer uns und über uns als im Frieden, allein er wuchs jetzt
immer stärker in uns hinein. Jeder fühlte sich als einen Teil dieses
< tanzen, von dessen Existenz auch sein eigenes Wohl und Wehe ab-
hing. Auch in England, wo das Freiheitsgefühl der Persönlichkeit
so stark ausgebildet ist, daß jede unbefugte Einmischung des Staates
in die Rechtssphäre des Individuums immer mit der größten Energie
bekämpft wurde, hat der Krieg das Bewußtsein der Zugehörigkeit
zum Staate zweifellos in hohem Grade gestärkt. Sonst wäre die dem
• iiglischen Nationalcharakter so wenig zusagende allgemeine Wehr-
pflicht nicht so rasch und nicht so wirksam durchzuführen gewesen.
Die soziologische Wirksamkeit des Staates ist also dadurch erhöht
worden, daß er seinen Bürgern nicht bloß als Macht und Autorität
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 263
gegenüberstand, also nicht bloß außer und über ihnen stand,
sondern auch einen integrierenden Bestandteil jeder Einzelseele bildete
und so zugleich in ihnen wirksam wurde.
Es wird deshalb — das kann man aus unserer soziologischen
Grundformel des „in mir" und „über mir" lernen — nach dem Kriege
die Aufgabe aller Staatenlenker sein, nicht nur die Macht und die
Autorität des Staates zu wahren, sondern vor allem darauf bedacht
zu sein, das Gefühl der Zugehörigkeit jedes Einzelnen zum Staat
besonders bei der heranwachsenden Jugend zu pflegen, weil der Staat
seine bindende und zusammenhaltende Kraft nur dann zur vollen
Entfaltung bringen kann, wenn er nicht nur als Macht und Autorität
über dem Einzelnen steht, sondern auch im Bewußtsein eines jeden
tief verankert ist.
Die Nation, der ich angehöre, ist wiederum, solange sie sich
noch nicht zu einem selbständigen Staat ausgestaltet hat, mehr
i n m i r als ü b e r m i r. Sie erzeugt in mir ein lebendiges Zu-
gehörigkeitsgefühl, eine liebevolle Begeisterung für die heimatliche
Sprache und Literatur, ein starkes Interesse für die Geschichte meines
Volkes, ein mächtiges Streben, an der Weiterentwicklung desselben mit-
zuarbeiten, vielleicht auch eine Abneigung, ja mitunter sogar einen
Haß gegen andere Nationen, besonders gegen solche, die die Ent-
faltung meiner nationalen Eigenart hindern und hemmen. Wenn nun
verschiedene Nationen in einem gemeinsamen Staatswesen zusammen-
leben, so kann man die Verschiedenheit der beiden Zugehörigkeits-
verhältnisse deutlich beobachten. Es kann geschehen, daß der Staats-
verband stärker bindet als die Nationalität. Dafür bietet die Schweizer
Eidgenossenschaft ein besonders lehrreiches Beispiel. Auf der Balkan-
halbinsel hingegen und auch im alten Österreich haben einzelne
Nationen die Zugehörigkeit zu einem anderen Staate drückend emp-
funden und mit allen Kräften nach staatlicher Selbständigkeit gestrebt.
Schon dieses Streben zeigt uns, daß die nationale Einheit als etwas
noch nicht Vollendetes betrachtet und gefühlt wird. Sie bedarf der
Vollendung durch die staatliche Gemeinschaft, weil dadurch erst zu
dem „in mir" das „über mir" hinzutritt. Mit der Ausgestaltung zum
Staate bekommt die Nation erst Macht und Autorität und jetzt erst
kann die vollendete Organisation ihre ganze soziologische Wirksamkeit
entfalten.
Wenden wir nun unsere Grundformel auf die Idee der ganzen
Menschheit als einer großen Einheit an, so sehen wir auch hier vieles
klarer und deutlicher. Wir werden weiter unten zu zeigen haben, wie
diese Idee entstanden ist und mit welchen Entwicklungstendenzen sie
zusammenhängt. Hier aber sei nur darauf hingewiesen, daß diese
Idee von unseren großen Dichtern und Denkern, von Schiller und
Goethe, von Herder, Kant und Wilhelm v. Humboldt, liebevoll gehegt,
kraftvoll verteidigt und dadurch tief in unsere Seelen hineingepflanzt
wurde. Sie ist aber bloß i n u n s und noch nicht über uns. Die
ganze Menschheit ist noch lange nicht zur organisierten Einheit zu-
sammengeschlossen. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß der Natio-
nalismus des neunzehnten Jahrhunderts die Idee der ganzen Mensch-
»56 Soziologie und Geschiclitsphilosophie
bei! eine Zeitlang stark zurückgedrängt hat. Weltbürgertum galt
vielen und gilt vielleicht heute noch nicht wenigen als utopische
Schwärmerei, als kraftlose, ja sogar als vaterlandlose Gesinnung.
Der gewaltige Weltkrieg, der nicht bloß durch den wirtschaftlichen
Konkurrenzkampf der Staaten, sondern gewiß zum Teil auch durch
den nationalen Chauvinismus entfesselt wurde, ließ anfangs die Idee
der ganzen Menschheit und die von dieser Idee getragene weit-
bürgerliche Gesinnung noch mehr zurücktreten. Jetzt aber bekommt
die alte Idee wieder neue Kraft. Wenn der Völkerbund einmal so
ausgestaltet sein wird, daß der größte Teil der Menschheit sich darin
auf dem Boden des Rechtes zur organisierten Einheit zusammen-
schließt, dann wird die Verheißung der Propheten Israels, dann werden
die Pläne der Weltverbrüderung, wie sie einem Dante, einem St. Pierre,
einem Bentham und einem Kant vorschwebten, nicht mehr bloße Ideen,
nicht mehr bloß in uns sein. Die Menschheit wird uns als organi-
sierte Macht und Ehrfurcht gebietende Autorität gegenübertreten und
so wird sich zu dem „i n u n s" das machtgebietende „über u n su
gesellen. Erst dann aber wird das soziale Gebilde der ganzen Mensch-
heit seine volle soziologische Wirksamkeit entfalten können und die
kommenden Geschlechter vor der Wiederkehr einer solchen Welt-
katastrophe, wie wir sie erleben mußten, zu bewahren imstande sein.
' Wir sehen also, daß die Einsicht in die eigenartige Doppelfunktion
der sozialen Gebilde sehr viel zum Verständnis der soziologischen Be-
deutung der verschiedenen Verbände beizutragen vermag. Es wird
eine dankbare Aufgabe für künftige Soziologen bilden, diese Grund-
formel auch auf kleinere Verbände, die sich innerhalb der großen
politischen Organisationen bilden, anzuwenden und ihre aufklärende
Kraft dadurch immer wieder aufs neue zu erproben.
Die unter 1 und 2 formulierten soziologischen Grundeinsichten
liefern uns den Standpunkt, von dem aus alle sozialen Dinge be-
trachtet werden müssen. Sie sind sozusagen eine Art soziologischer
I »rille, die geeignet macht, in allen diesen Fragen schärfer zu sehen.
Die nun folgenden Grundeinsichten sind nicht mehr bloß formaler
und heuristischer Natur. Sie vermitteln uns vielmehr das Verständnis
für den geschichtlichen Verlauf der sozialen Entwicklung und
sollen uns lehren, die Gegenwart und die Zukunft aus der Vergangen-
heit zu verstehen.
3. Der Mensch hat als sozial gebundenes
Herdentier begonnen und sich erst langsam und
allmählich zu einer selbständigen und eigen-
kräftigen Persönlichkeit h i n a u f e n t w i c k e 1 1.
Diese Grundeinsicht verdanken wir vor allem der modernen
Völkerkunde. Wissenschaftlich gebildete Forschungsreisende haben
uns in den letzten Jahrzehnten mit den primitiven Völkerstämmen
Amerikas, Anikas und besonders Australiens und seiner Inselwelt
bekannt gemacht. Sie haben die soziale Struktur dieser Menschen-
g nippen erforscht, und es ist ihnen zugleich möglich geworden, tiefe
Einblicke in das Seelenleben dieser auf einer primitiven Stufe der
Kultur zurückgebliebenen Völker zu gewinnen. Trotz aller Ver-
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 267
schiedenheiten, die sich da vorfinden, ergibt sich aus den Berichten in
einem Punkte völlige Übereinstimmung. Der primitive Mensch ist in
seinem Denken oder genauer gesprochen in seiner Deutung der Sinnes-
wahrnehmungen, in seinem Fühlen und Wollen ganz und gar an die
Tradition seines Stammes gebunden. Levy-Brühl hat uns in seinen
beiden Werken über die Geistesart der Primitiven eine überaus dankens-
werte, zusammenfassende Darstellung des Denkens und Fühlens der
Naturvölker gegeben*). Es ist für diese Stufe der sozialen Gebunden-
heit besonders charakteristisch, daß es hier ein rein theoretisches
Denken, ein objektives Beobachten von Tatsachen noch gar nicht gibt.
Der Intellekt dieser Gruppen wird nur durch Eindrücke in Bewegung
gesetzt, die für die Erhaltung des Lebens bedeutsam sind, also durch
Erscheinungen, die Hoffnung oder Furcht erwecken und dadurch zu
biologisch wichtigen Maßnahmen Anlaß geben. Dabei ist ferner der
Glaube an unsichtbare Geister und Dämonen, die in das Leben ein-
greifen, so allgemein und so intensiv, daß die ganze Denk- und Lebens-
weise der Primitiven durch diese Vorstellungen beeinflußt und reguliert
wird. Durch die bei allen Naturvölkern üblichen Einweihungszeremonien,
denen sich die jungen Leute bei ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft des
Stammes zu unterziehen haben, wird diese seelische Struktur mit ihren
festgelegten Inhalten von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und
wurde von den modernen Reisenden so vorgefunden, wie sie vor vielen
Jahrtausenden sich ausgebildet und die ganze Zeit hindurch erhalten
hatte. Man sieht deutlich, daß mit der sozialen Gebundenheit die
Vorherrschaft des Affektiven und Emotionalen über den noch wenig
entwickelten Intellekt Hand in Hand geht. Der so allgemein ver-
breitete, so unerschütterlich feste, durch keinerlei konkrete Demon-
stration ins Wanken zu bringende Glaube an Geister, an Dämonen
und an die Kraft der Zauberei ist als ein Produkt der emotionalen
Phantasie entstanden und durch soziale Verdichtung verfestigt worden.
Man lese z. B. die zahlreichen Belege dafür, daß Krankheit und Tod
bei den Primitiven überall auf die Einwirkung von Geistern und
Dämonen zurückgeführt werden und daß zugleich der Glaube all-
gemein verbreitet ist, die Krankheit könne nur durch zauberische Ein-
wirkung auf den Dämon geheilt werden (Levy-Brühl, „Das Denken
der Naturvölker", S. 232 ff.) und man wird sich ein Bild von dem
sozial gebundenen Denken dieser Menschengruppen machen können.
Man wird es dann auch begreifen, daß der Einzelne auf dieser Ent-
wicklungsstufe durchaus nicht die Fähigkeit besitzt, sich über das
Niveau seiner Stammesgenossen zu erheben und daß seine Seele gleich-
sam ganz ausgefüllt ist von den Anschauungen, Gefühlen und Willens-
dispositionen der Gruppe. Dürkheim hat in seinem Buche „La division
du travail social" sehr richtig darauf hingewiesen, daß auch das
Hervortreten einzelner Häuptlinge im Kriege noch keine Individuali-
*) Das erste dieser beiden Bücher heißt: „Les fonctions mentales dans
les societes inferieures" (1910) und ist unter dem Titel: „Das Denken der Natur-
völker" von mir in deutscher Übersetzung herausgegeben und durch ein längeres
Vorwort eingeleitet worden (Wien 1921). Das zweite, erst kürzlich erschienene
führt den Titel: „La mentalite primitive" (Paris 1922).
268 Soziologie und Geschichtsphilosophie
sierung bedeutet. Der Häuptling ist hier nichts anderes als der Träger
des Gesamtwillens, und weil ihn die Gruppe als solchen betrachtet,
hat er unbeschränkte Gewalt und unbedingte Autorität. So zeigt es
sich also, daß die beiden grundlegenden Sätze des Aristoteles, der
Mensch sei von Natur aus ein soziales Wesen, und der Staat sei
früher als das Individuum, im Lichte der modernen Völkerkunde eine
ganz neue Bedeutung gewinnen und einen viel tieferen Einblick in
das Wesentliche der menschlichen Geistesentwicklung tun lassen, als
ihr Urheber ahnen konnte. Der Mensch hat wirklich als gebundenes
Herdentier begonnen und seine Seele war von einem kollektiven, durch
das Gemeinschaftsleben erzeugten Inhalte ganz erfüllt, bevor sie sich
zu einer selbständigen, eigenartigen und eigenkräftigen Einzelseele
hinaufentwickeln konnte. Es handelt sich nun darum, den Weg zu
finden, den der Mensch gehen mußte, um aus einem sozial gebundenen
Herdentier sich zu einer freien, selbständigen Persönlichkeit aus-
zugestalten.
Diesen Weg hat uns die Entwicklungslehre gezeigt.
Wir haben aus ihr das allgemeine Gesetz des Geschehens kennen
gelernt, daß sich im ganzen Universum fortwährend eine Verwandlung
des Gleichartigen in ein Ungleichartiges vollzieht. Herbert Spencer,
der Philosoph des Evolutionismus, hat diese zuerst von Ernst v. Baer
bemerkte Regelmäßigkeit am klarsten dargestellt und zugleich am
umfassendsten verwertet. In den sechzehn kurzen Leitsätzen, in denen
Spencer in der Vorrede zu dem von Collins hergestellten Auszuge aus
seinem System die Quintessenz seiner Lehre zusammenfaßt, findet sich
in den Sätzen 3—6 die kürzeste und beste Formulierung dieses im
ganzen Universum sich vollziehenden Prozesses*). Die Sätze lauten:
„3. Die Entwicklung ist einfach, wenn der Prozeß der Integration
oder die Bildung eines zusammenhängenden Aggregats vor sich geht,
ohne durch andere Prozesse kompliziert zu sein.
4. Die Entwicklung ist zusammengesetzt, wenn dieser primäre
Übergang von einem unzusammenhängenden in einen zusammen-
hängenden Zustand von sekundären Veränderungen begleitet wird.
5. Diese sekundären Veränderungen stellen sich dar als die
Umwandlungen eines Gleichartigen in ein Un-
gleichartiges. Diese Umwandlung vollzieht sich im Universum
selbst ebenso wie in allen (oder beinahe in allen) seinen Bestandteilen.
Man findet sie im Aggregat der Sterne und der Sternennebel, im
Planetensystem, in der Erde als einer unorganischen Masse, in jedem
Organismus, mag er nun Tier oder Pflanze sein, im Aggregat der
Organismen durch die ganze geologische Zeit, im Menschen-
g e i s t, in der Gesellschaft, in allen Erzeugnissen der sozialen
I .itigkeit.
*) Epilome of Ihe synthetic philosophy of Herbert Spencer by F. Howard
Collins with a preface of Herbert Spencer, fifth edition, 1901, p. IX. Eine deutsche
Übersetzung der sechzehn Leitsätze, die ich hier teilweise benütze, bei Otto
(jinipp „Herbert Spencer" (Fromanns Klassiker der Philosophie, V), 2. Aufl.,
1900, S. 43 f.
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 269
6. Der Prozeß der Integration kombiniert sich mit dem Prozeß
der Differenzierung und bewirkt dadurch nicht mehr bloß
eine Umwandlung von Gleichartigkeit in Ungleichartigkeit, sondern
auch eine Umwandlung von unbestimmter Gleichartig-
keit zu bestimmter Ungleichartigkeit. Diese zu-
nehmende Bestimmtheit, die mit der zunehmenden U n-
gleichartigkeit parallel geht, läßt sich sowohl im Universum
als auch in seinen einzelnen Teilen und Unterabteilungen bis herab
zu den kleinsten überall beobachten."
Herbert Spencer legt infolge seines vorwiegend systematischen
Interesses — Philosophie ist ja für ihn „vollkommen vereinheitlichte
Erkenntnis" — das Hauptgewicht auf die Allgemeinheit des
Differenzierungsprozesses und treibt deshalb die Analogie zwischen
der Entstehung des Planetensystems aus gleichartigen glühenden
Gasnebeln mit der Bildung eines organisierten Staatswesens aus einer
undifferenzierten Menschenherde entschieden zu weit. Für uns kommt
es hier ausschließlich darauf an, daß der Prozeß der Differenzierung
im menschlichen Bewußtsein und in der menschlichen Gesellschaft
eine ganz unbezweifelbare Tatsache ist, die sowohl für die Psychologie
als auch für die Soziologie die allergrößte Bedeutung besitzt.
Auf dem Gebiete der Psychologie können wir es geradezu mit
Händen greifen, wie die einzelnen Funktionen sich aus dem un-
differenzierten Zustand eines ganz unbestimmten allgemeinen Lebens-
gefühls allmählich aussondern und wie sie durch fortgesetzte Differen-
zierung immer reicher und mannigfaltiger werden. In einer künftigen
Entwicklungspsychologie, die ich seit fast dreißig Jahren
fordere und die kürzlich Felix Krueger inauguriert hat*), wird dieser
von den Psychologen bisher vernachlässigte Prozeß zweifellos eine
große Rolle spielen und uns viele neue Aufschlüsse bringen.
Noch viel deutlicher aber als in der Seele des Einzelmenschen
können wir den Differenzierungsprozeß in der menschlichen Gesell-
schaft beobachten, weil dieser sich auch heute noch vor unseren Augen
vollzieht. Hier manifestiert sich dieser Vorgang in der objektiv ge-
gebenen Tatsache der fortschreitenden Arbeitsteilung und der
damit verbundenen Berufsbildung. Dieser von den National-
ökonomen längst in seiner vollen Bedeutung erkannte Prozeß ist es
nun vornehmlich, der den Menschen aus seiner sozialen Gebundenheit
herausgeführt und zu einer selbständigen, eigenberechtigten Persön-
lichkeit gemacht hat.
Die Arbeitsteilung beginnt schon sehr frühe, indem bereits in
der primitiven Familie die Beschäftigung des Mannes eine ganz andere
ist als die der Frau. Von soziologischer Bedeutung wird jedoch der
Prozeß erst dann, wenn sich größere Gruppen bilden, die aus hetero-
genen Elementen bestehen. Das geschieht, wenn einzelne Stämme
seßhaft werden und vom Nomadenleben zum Ackerbau übergehen.
Wird dann dadurch, daß ein kräftiger Jäger- oder Hirtenstamm eine
*) Felix Krueger, „Über Entwicklungspsychologie", 1915.
270 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Ackerbau treibende Gruppe bezwingt und die Bauern für sich arbeiten
läßt, eine Art primitiven Staates gebildet, so sind hier durch die
Schichtung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte schon
sehr wichtige Bedingungen für eine weitgehende Teilung der Arbeit
gegeben. Die Beherrschten müssen intensiver arbeiten, weil sie nicht
nur für ihre eigenen Bedürfnisse, sondern auch für die der herrschenden
Klasse aufzukommen haben. Da scheidet sich in den landwirtschaft-
lichen Arbeiten zunächst die Verfertigung von Werkzeugen von der
unmittelbaren Bebauung des Bodens ab und bald auch die Ver-
arbeitung der Bodenprodukte von ihrer Gewinnung. Wenn sich dann
zum Schutze gegen kriegerische Nachbarstämme Städte von größerem
Umfange bilden, so entstehen wieder zahlreiche neue Bedürfnisse und
damit neue Berufe. Neben den Handwerken, die sich immer mehr
spezialisieren, bildet sich infolge des Austausches von Gütern inner-
halb des Gemeinwesens und mit auswärtigen Völkern ein eigener
Stand von Krämern und Kaufleuten aus. Dadurch aber entstehen
wieder neue, und zwar recht komplizierte Verkehrsaufgaben und Rechts-
verhältnisse. Die herrschende Klasse sieht sich genötigt, festzustellen,
was das Gemeinwesen von jedem seiner Teilnehmer verlangt und was
jedem gewährleistet werden muß. Daraus entwickeln sich Rechts-
ordnungen, die anfangs auf Gewohnheit beruhen und sich durch
Tradition fortpflanzen. Bald aber entsteht infolge der immer größeren
Kompliziertheit des sozialen Lebens die Notwendigkeit, die Rechts-
ordnung schriftlich zu fixieren und so entstehen die ersten Gesetzbücher.
Die Auslegung und Handhabung der Gesetze wird bald so schwierig,
daß sich wieder neue Berufe bilden, die sich ausschließlich mit diesem
Studium beschäftigen. So entsteht der Beruf des Richters und des
Anwaltes. Die Staatsverwaltung, die immer mehr und immer weitere
Gebiete umfaßt, zeitigt das Bedürfnis nach besonderen Aufsichts-
organen und so bildet sich der Beamtenstand aus. Gesundheit, Er-
ziehung und Unterricht verlangen methodische Pflege und so ent-
stehen die Berufe des Arztes und des Lehrers. Dazu kommen dann
noch durch die Entwicklung des Handels und der Industrie sehr
zahlreiche neue technische und kommerzielle Berufe, die sich immer
weiter spezialisieren.
Die ökonomische Bedeutung dieses Differenzierungsprozesses hat
Karl Midier in seinem Buche „Die Entstehung der Volkswirtschaft"
eingehend geschildert und dabei vielfach auf die soziologischen und
psychischen Wirkungen hingewiesen. Für uns kommt jedoch eine
wesentlich andere Seite der Sache in Betracht.
Durch die Spezialisierung gelangen die Menschen von selbst dazu,
ihre Aufmerksamkeit auf ein engeres Gebiet zu konzentrieren. Dadurch
erfahren sie viele ganz neue Dinge, von denen die „kollektiven Vor-
stellungen", das heißt die überlieferten Deutungsarten ihrer Sinnes-
wahrnehmung nichts enthielten. So lernt z. B. der Schmied immer
neue Eigenschaften der Metalle, der Weber neue Eigentümlichkeiten
der Wollfäden kennen. Jetzt werden sie eigentlich erst fähig,
die einzelnen Tatsachen rein objektiv zu beobachten und für ihren
Spe/ialberuf zu verwerten. Dadurch aber erfährt der Intellekt
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 271
eine wesentliche Stärkung gegenüber den im Zustande der sozialen
Gebundenheit vorherrschenden affektiven und emotionalen Funktionen
und so vollzieht sich zugleich mit der durch die Arbeitsteilung ein-
geleiteten Verselbständigung des Einzelmenschen und mit seiner immer
größeren Unabhängigkeit von der Überlieferung auch eine I n t e 1 1 e k-
tualisierung der Seele. Dieser bisher nicht bemerkte Zu-
sammenhang zwischen der sozialen Differenzierung und der damit
Hand in Hand gehenden Erstarkung des Intellekts wird erst in einer
künftigen soziologischen Kritik der menschlichen Vernunft, an der
der Verfasser dieses Buches seit mehreren Jahren arbeitet, in seiner
vollen Bedeutung erkannt werden.
Eine weitere Folge der Arbeitsteilung und der damit verbundenen
Berufsbildung ist eine starke Differenzierung der Interessen
und als deren naturgemäßes Ergebnis eine Differenzierung der
Charaktere. Dem Bauer nützt eine andere Gestaltung des Staates
mehr als dem Gewerbetreibenden. Für den Kaufmann und Seefahrer,
für den Krieger und für den Rechtskundigen sind wiederum andere
Einrichtungen die günstigsten. Durch das Zusammenwirken dieser
beiden Folgen der Differenzierung und Spezialisierung wird zunächst
das seelische Inventar der Menschheit in geradezu unübersehbarer
Weise bereichert. Geistige Kräfte, die bisher nicht vorhanden waren
oder nicht zur Entfaltung gelangen konnten, werden neu geschaffen
oder geweckt. Die Einzelseelen, die früher ganz von den „kollektiven
Vorstellungen" ausgefüllt waren, bekommen jetzt ihre neuen, eigen-
artigen Inhalte und entwickeln ein ungleich reicheres und mannig-
faltigeres Leben. Wir dürfen also sagen, daß die Bildung selb-
ständiger Individualitäten eines der wertvollsten Produkte der sozialen
Entwicklung ist.
Es entstehen ferner aus diesem Individualisierungsprozeß viele
neue Gesichtswinkel, unter denen jetzt die Überlieferung be-
trachtet wird. Sie erscheint nicht mehr allen in der gleichen un-
veränderlichen Gestalt und vermag deshalb ihre starke bindende Kraft
nicht mehr ganz zu behaupten. Im Gegenteil. Je stärker sich die
Eigenart der Einzelnen entfaltet, desto energischer suchen sie sich
von der Überlieferung frei zu machen. Die starken Naturen entfalten
immer mehr ihre eigene Vernunft, ihr eigenes Gewissen, ihr eigenes
Wollen und kämpfen für die Berechtigung ihrer Eigenart gegen die
überlieferten Glaubenssätze, Sitten und Rechtsordnungen.
Es ist heute noch nicht möglich, diesen Prozeß von seinem Beginn
an in seinem ganzen Verlauf zu schildern, weil das Tatsachenmaterial
in dieser Richtung noch nicht genügend durchforscht ist. Sicher aber
ist es, daß wir da, wo das Licht der Geschichte zu dämmern beginnt,
im alten Ägypten, in Babylonien, in Persien, in Indien und im home-
rischen Griechenland bereits eine weit fortgeschrittene Arbeitsteilung
vorfinden. Wir sehen auch, wie dort überall kräftige Einzelpersönlich-
keiten auftreten, die an der Überlieferung Kritik üben. Vom fünften
vorchristlichen Jahrhundert angefangen können wir durch die ganze
Weltgeschichte hindurch einen großartigen Befreiungskampf beob-
achten, in welchem der einzelne Mensch um Anerkennung seiner Eigen-
J7_' Soziologie und Geschichtsphilosophie
berechtigung ringt. Ich habe anderswo*) diesen Befreiungskampf als
die individualistische Entwicklungstendenz be-
zeichnet und darauf hingewiesen, wie wertvolle Errungenschaften
unserer Kultur aus diesem Befreiungskampfe erwachsen sind. Wir
kommen auf diese Wirkungen noch einmal zurück. Hier aber handelt
es sich darum, das Vorhandensein und die Wirksamkeit dieser indi-
vidualistischen Entwicklungstendenz als überaus wichtige soziologische
Grundeinsicht festzustellen.
Es ist also nicht so, wie die Anhänger der Vertragstheorie oder
die Naturrechtslehrer glaubten und wie es viele noch heute nicht
anders begreifen zu können meinen, daß der Mensch als isoliertes
Einzelwesen begonnen habe und sich aus Not mit seinen Genossen
vereinigte, um leben zu können. Die Sache verhält sich vielmehr gerade
umgekehrt. Die primitive Gruppe steht am Anfang und erst aus ihr
ging in langsamem und allmählichem Entwicklungsprozeß der selb-
ständige Einzelmensch hervor. „Das Gemeinschaftsleben", sagt Dürk-
heim (La division du travail social, p. 264), „ist nicht aus dem indi-
viduellen Leben entstanden, sondern umgekehrt, das letztere hat sich
aus diesem entwickelt." Dadurch, daß heterogene Stämme sich zu
einem größeren Gemeinwesen zusammenschlössen, ist die Teilung der
Arbeit in ausgedehntem Maße nötig geworden und diese hat, wie wir
gezeigt haben, infolge der damit verbundenen Differenzierung der
Fähigkeiten, der Interessen und der Charaktere zur Entwicklung selb-
ständiger Einzelpersönlichkeiten geführt, die sich als eigenberechtigt
fühlen und durch dieses immer stärker werdende Gefühl die Fähigkeit
erlangen, die suggestive Kraft der Tradition zu überwinden, an den
überlieferten Glaubensvorstellungen, Sitten und Rechtsordnungen
Kritik zu üben und dadurch ein kräftiges Ferment werden, das zur
Höherentwicklung der Gesellschaft beiträgt.
Aus dem Kampfe der selbständig gewordenen Persönlichkeit
gegen den sozialen Zwang ist der Gedanke der religiösen, der sitt-
lichen und der politischen Freiheit hervorgegangen, ein Gedanke, der
so oft und in so hohem Grade hervorragende Einzelmenschen und auch
ganze Völker begeisterte und zu großen Taten gespornt hat. Man
hat dieses Streben nach Freiheit vielfach als eine Wesenseigenschaft
des Menschengeistes bezeichnet und auf Grund dieser Überzeugung
dem Reiche der Natur ein Reich der Freiheit gegenübergestellt. Tat-
sächlich ist aber der Freiheitsbegriff keineswegs etwas Ursprüngliches,
a priori Gegebenes. Er ist vielmehr ein Produkt der individualistischen
Entwicklungstendenz und kann nur innerhalb der Gemeinschaft zu
fruchtbarer Entfaltung gelangen. Faßt man aber den Freiheitsbegriff
als etwas Absolutes auf und entwickelt man daraus dialektisch seine
äußersten Konsequenzen, so muß eine solche Theorie zum doktrinären
Anarchismus und zum antisozialen Egoismus führen. Diese Denk-
richtungen müßten aber konsequent zu Ende gedacht, die Vernichtung
der Gemeinschaft und damit schließlich auch die der Individuen zur
*) Vgl. Jerusalem, „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre", 1915,
S. 42 ff.
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 273
Folge haben. Die Entwicklung der Gesellschaft sorgt aber dafür,
daß die individualistischen Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Der individualistischen Entwicklungstendenz, die das Freiheitsstreben
zeitigt, wirkt nämlich immer und überall die in jedem größeren sozialen
Gebilde vorhandene Kraft der Selbsterhaltung des Ganzen entgegen.
Man könnte dieses Streben, das in letzter Linie wieder nur eine
Existenzbedingung der Individuen darstellt, vielleicht am passendsten
die autoritativ-soziale Entwicklungstendenz nennen. Das
tatsächliche und das notwendige Zusammenwirken dieser beiden
antagonistischen Kräfte wird durch folgende Erklärungen klar
werden :
Die individualistische Entwicklungstendenz ist aus der durch die
Arbeitsteilung bedingten sozialen Differenzierung hervorgegangen.
Nun macht ja, wie wir gesehen haben, die Arbeitsteilung die Menschen
einseitiger und eigenartiger. Sie bringt sie dazu, der Überlieferung
gegenüber sich kritisch zu verhalten und erhöht so die Eigenkraft
des Denkens bei jedem Einzelnen. Zugleich aber hat die Arbeits-
teilung auch eine ganz andere Wirkung. Sie macht den Einzelnen nicht
bloß einseitiger und eigenartiger, sie macht ihn eben dadurch auch
viel abhängiger von seinen Nebenmenschen und von dem
sozialen Ganzen, dem er angehört. Wer z. B. als Schuhmacher tätig
ist und seine ganze Kraft auf die Bearbeitung des Leders und auf
die Erzeugung von Schuhen verwendet, dem bleibt keine Zeit, auch die
anderen Lebenserfordernisse selbst herzustellen. Die muß er im
Tauschwege von anderen erhalten und ist eben dadurch auf die an-
deren angewiesen. Bald stellt sich infolge des komplizierter werdenden
Tauschverkehres die Herstellung eines allgemeinen Tauschmittels als
notwendig heraus und dieses bildet wieder ein Bindemittel der Gesell-
schaft. Aristoteles hat in der nikomachischen Ethik (5, 8) die ur-
sprüngliche Funktion des Geldes sehr verständig erörtert, und indem
er das Wort vö|ua{i.a (Münze) von vöjio? (Gesetz) ableitet, schon
damals erkannt, daß das durch soziale Differenzierung entstandene
Bedürfnis nach einem allgemeinen Tauschmittel zugleich eine starke
bindende Kraft besitzt und einer staatlichen Regelung unterworfen
werden muß. Die soziale Differenzierung bedeutet also keineswegs
bloß Trennung, sondern zugleich Vereinigung und Organisation. „Sie
läßt die Tätigkeiten, die sie differenziert, miteinander zusammen-
wirken, sie nähert einander diejenigen, die sie trennt" (Dürkheim,
a. a. O. S. 259). So trägt also die fortschreitende Teilung der Arbeit
nicht bloß dazu bei, selbständige Persönlichkeiten zu entwickeln,
sondern bringt es auch mit sich, daß das Gefüge der Gesellschaft
immer komplizierter und immer fester wird. Je weiter die Interessen
und die Forderungen der Einzelnen auseinander gehen, desto nötiger
wird das stramme Zusammenhalten des Ganzen, desto größer und
schwieriger aber auch die sich immer erweiternden Aufgaben des
Staates.
Zu dieser Erweiterung der staatlichen Aufgaben hat nun aller-
dings die individualistische Entwicklungstendenz, gleichsam in ihrem
eigensten Wirkungskreise, sehr viel beigetragen. In einem mehrtausend-
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. *"
274 Soziologie und Geschichtsphilosophie
jährigen Befreiungskämpfe hat sich der selbständig gewordene Mensch
gegen die zu stärkt- Bevormundung durch den Staat aufgelehnt und
immer weiteren Spielraum für die freie Entfaltung der Persönlichkeit
gefordert. Der Staat wurde dadurch gezwungen, den gesteigerten
Anforderungen des Individuums in immer weiterem Maße Rechnung
zu tragen. Das beweist die Gesetzgebung aller zivilisierten Länder.
Die Behandlung des zahlungsunfähigen Schuldners, den der Gläubiger
bei den Griechen und Römern als Sklaven verkaufen durfte, ist im
Laufe der Jahrhunderte immer milder geworden. Die Folter wurde
abgeschafft, die Sklaverei für widerrechtlich erklärt, weil beides dem
gesteigerten Selbstgefühl des Menschen nicht mehr entsprach. Der
Staat ist heute in allen zivilisierten Ländern nicht mehr bloß ver-
pflichtet, das Leben, die Freiheit und das Eigentum jedes Bürgers zu
schützen, er muß auch seinen mächtigen Arm leihen, um die verletzte
Ehre des Einzelnen wiederherzustellen. Erinnern wir uns ferner daran,
daß die Staaten sich überall genötigt sehen, für den Unterricht der
Jugend Vorsorge zu treffen und auch den weitergehenden Kultur-
bedürfnissen Rechnung zu tragen, indem sie die Pflege der Wissen-
schaft und der Kunst entweder selbst in die Hand zu nehmen oder
doch kräftig zu fördern sich für verpflichtet halten, so ist auch dies
als Wirkung der individualistischen Entwicklungstendenz anzusehen.
Die Ansprüche des seelisch und geistig reicher und reifer gewordenen
Menschen machen sich eben infolge seines energischen Strebens nach
möglichst voller Entfaltung seiner Fähigkeiten auch in bezug auf Kunst
und Wissenschaft geltend und müssen vom Staate immer mehr berück-
sichtigt werden.
So segensreich nun auch die individualistische Entwicklungs-
tendenz auf das geistige Leben der Gesellschaft und auf die Er-
weiterung der Aufgaben des Staates zu wirken vermag und so sehr sie
tatsächlich auch in diesem Sinne gewirkt hat, zeitigt sie aber anderseits
Erscheinungen, die den Bestand der Gesellschaft und des Staates
direkt gefährden. Auf dem Gebiete des politischen, besonders aber
des wirtschaftlichen Lebens hat diese Tendenz vielfach zur Ausbildung
eines antisozialen Egoismus geführt. Der schrankenlose Eigen-
nutz, der im Erwerbsleben meist als selbstverständliche Maxime an-
gesehen wird, ist nach der Meinung vieler sogar der beste Regulator
für die Erzeugung und den Verbrauch der Güter. In ihrem unbändigen
Freiheitsdrange gehen manche Theoretiker so weit, zu behaupten, daß
der Staat als solcher eine durchaus schädliche Einrichtung sei, die
immer nur störend eingreife. Nur aus der ganz ungehemmten, voll-
kommen freien Entfaltung der menschlichen Anlagen könne die wirklich
vollkommene Gesellschaftsordnung hervorgehen. Diese unter dem
Namen des Anarchismus bekannte Theorie hat namhafte Ver-
treter gefunden und wird z. B. von Anton Menger in seiner „Neuen
Staatslehre" als etwas durchaus ernst zu Nehmendes gründlich erörtert
(S. 7— 19).
Der soziologisch geschulte Beobachter sieht nun leicht, daß eine
derartige Überspannung des individualistischen Prinzips mit der auf
das Gemeinschaftsleben angelegten Natur des Menschen in Wider-
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 275
Spruch geraten muß. Er findet es deshalb begreiflich, daß die dem
Staate von allem Anfang an immanente Tendenz, die den Bestand
und den Zusammenhalt der Gesellschaft als die wichtigste Lebens-
bedingung betrachtet, durch solche Bestrebungen eine wesentliche
Verstärkung erfährt. Die soziologische Betrachtungsweise lehrt uns
übrigens, daß auch für den Einzelnen selbst erst das geordnete Gemein-
schaftsleben im Staate die Möglichkeiten schafft, seine Eigenart voll
zu entfalten. Deshalb sieht sich die Gesellschaft immer wieder ge-
nötigt, das innerlich reich und reif gewordene Individuum für die
gemeinsamen Aufgaben in Anspruch zu nehmen und die Notwendigkeit
der Einordnung und der Unterordnung als unerläßliche Bedingung
der Existenz und der Weiterentwicklung hinzustellen. Wir sehen, wie
diese autoritativ-soziale Entwicklungstendenz im Laufe der Geschichte
immer wieder ihre Kraft entfaltet und der anarchischen Zersplitterung
entgegenwirkt. Die katholische Kirche im Mittelalter und die absolu-
tistischen Staaten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sind
weithin sichtbare und kraftvolle Produkte der autoritativ-sozialen Ent-
wicklungstendenz, von der übrigens auch der preußische Beamten- und
Militärstaat durchaus erfüllt war. Im Laufe des neunzehnten Jahr-
hunderts beginnt nun diese Tendenz die Form des Sozialismus an-
zunehmen und strebt darnach, eine Synthese dieser beiden miteinander
im Kampfe liegenden geschichtlichen Kräfte, der individualistischen
und der autoritativ-sozialen Entwicklungstendenz, herbeizuführen. Die
großen Massen der Industriearbeiter schließen sich, von schöpferischen
Geistern geführt, zur großen sozialdemokratischen Parteiorganisation
zusammen, die eine neue Gesellschaftsordnung heraufzuführen sich
vorgesetzt hat. Es soll darin jedem Einzelnen die Existenz und die
Befriedigung der wichtigsten Lebensbedürfnisse unbedingt gewähr-
leistet werden. Dafür wird aber auch seine Arbeit für das Gemeinwesen
gebieterisch in Anspruch genommen. Die ganz ungeahnte kolossale
Entwicklung der Weltwirtschaft in den letzten hundert Jahren hat nun
so überaus komplizierte ökonomische Zusammenhänge geschaffen,
daß so gewaltige Umwälzungen, wie sie der Sozialismus plant, sich
nicht so rasch vollziehen können. Das neunzehnte Jahrhundert hat
uns aber zugleich einen gewaltigen Aufschwung des nationalen Ge-
dankens gebracht und dadurch ein Zeitalter des Imperialismus und
des Militarismus erstehen lassen, das nicht auf friedliche Entwicklung,
sondern auf gegenseitiges Wettrüsten und ständige Kriegsbereitschaft
gerichtet war. Aus dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf der Staaten
und aus dem nationalen Chauvinismus ist dann die Katastrophe des
Weltkrieges hervorgegangen, an dessen traurigen Folgen die Mensch-
heit noch viele Jahrzehnte zu tragen haben wird. Um so dringender
wird das Bedürfnis, die Synthese der beiden Entwicklungstendenzen
zu finden und auf Grund derselben den Wiederaufbau der zerstörten
Kultur in Angriff zu nehmen. Vielleicht finden wir die Richtung, in
der sich diese Synthese zu bewegen haben wird, wenn wir darauf hin-
weisen, daß sich aus dem Kampfe zwischen Individuum und Gesell-
schaft, zwischen Freiheit und Autorität schon vor mehr als zweitausend
Jahren ein neuer Gedanke, eine neue Idee, ein neues soziales Gebilde
is-
276 Soziologie und Geschichtsphilosophie
zu entwickeln begonnen hat, das geeignet erscheint, der sozialen Ent-
wicklung ihr Ziel zu zeigen.
Dieses Neue ist die Idee der ganzen Menschheit
als einer großen Einheit und die damit eng verbundene
Forderung der allgemeinen Menschlichkeit. Den Ur-
sprung und die Entwicklung dieses neuen Gebildes vermag nur die
soziologische Betrachtungsweise zur Klarheit zu bringen. Das führt
uns zur vierten und letzten unserer soziologischen Grundeinsichten.
4. Die individualistische Entwicklungsten-
denz führt zum Universalismus und Kosmopoli-
tismus.
Die individualistische Entwicklungstendenz zeigt sich am
deutlichsten dort, wo eigenkräftig gewordene und sich als eigen-
berechtigt fühlende Persönlichkeiten an der bestehenden Gesellschafts-
ordnung Kritik üben. Diese Kritik tritt uns nun in zweifacher Gestalt
entgegen. Der Einzelne wird durch immer weiter fortschreitende
Differenzierung immer selbständiger in seinem Denken und immer
zielbewußter in seinem Wollen. Die intellektuelle Selb-
ständigkeit führt zur Kritik der überlieferten Glaubenssätze und will
auf Grund der eigenen Beobachtung und gestützt auf die eigene Ver-
nunft die übersinnlichen Urheber des Naturgeschehens, an welche
die Überlieferung glaubt, durch natürliche Ursachen ersetzen. Das
zielbewußte Wollen richtet wiederum seine Kritik gegen überkommene
Rechtssatzungen, gegen unberechtigt erscheinende Privilegien und
Vorrechte. Die Grundlage dieser Kritik bildet aber das immer stärker
werdende Vertrauen in die eigene Vernunft und die immer
fester werdende Überzeugung von der souveränen Berechtigung des
eigenen Gewissens. Nun liegt es im Wesen der Selbstbeob-
achtung, im Wesen jedes In-sich-selbst-Hineinschauens, daß den
darauf gegründeten Urteilen eine innere Evidenz und eine voll-
kommene Unanfechtbarkeit zugeschrieben wird. Ich kann nun nicht
glauben, daß das, was mir meine Vernunft oder mein Gewissen mit
so lebendiger Klarheit, mit so unwiderleglicher Gewißheit in die Seele
legt, daß diese Gedanken, an deren Wahrheit ich nicht zu zweifeln
vermag, nur für mich allein gelten sollten. Ganz von selbst betrachte
ich meine neu entdeckte eigene Vernunft, mein eigenes Gewissen als
Kräfte, die jedem Menschen von der Natur oder von der Gottheit
verliehen wurden, und bin überzeugt, daß die von mir so deutlich
erlebten Wahrheiten für alle Menschen maßgebend sein müssen.
Der selbständig gewordene, seiner Vernunft und seinem Gewissen
vertrauende Denker wird sich infolge seiner Kritik des Bestehenden
gewiß oft vereinsamt fühlen, weil er sich zu den Mitgliedern seines
engeren Verbandes in Gegensatz gebracht hat. Allein gerade diese
Loslösung aus der engeren Gemeinschaft bestärkt den einsamen Denker
in seinem Vertrauen auf die Stimme der Vernunft, die er mit so über-
zeugender Deutlichkeit in seinem Innern vernimmt. Er findet übrigens
bald im eigenen Gemeinwesen oder in anderen Städten Gesinnungs-
genossen, die gleich ihm an den überkommenen Glaubenssätzen und
Rechtsforderungen Kritik üben. Jetzt weiß er es ganz sicher, daß die
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 277
Vernunft, deren Stimme er in seinem Innern vernahm, nicht ihm allein
gehöre, sondern allen Menschen verliehen sei. Indem er sich also
über seine in den Überlieferungen befangenen Landsleute erhaben
dünkt, fühlt er sich zugleich einem größeren Verbände zugehörig
und schafft so, ohne sich dessen noch deutlich bewußt zu werden, an
der Idee der ganzen Menschheit.
Der Übergang vom Individualismus zum Universalismus, die
Herausbildung der Menschheitsidee aus der individualistischen Ent-
wicklungstendenz, der enge Zusammenhang zwischen dem Weltbürger-
tum und dem lebendigen Gefühl der eigenen Persönlichkeit, das alles
ist ein überaus wichtiges soziologisches Entwicklungsgesetz, das bisher
noch wenig beachtet wurde. Wir haben soeben die psychologische
Grundlage für diesen Übergang aufgezeigt. Daß sich derselbe aber
auch tatsächlich in der Geschichte der Menschheit vollzogen hat, und
daß der individualistische Ursprung auch heute noch für die Idee des
Weltbürgertums charakteristisch ist, das wollen wir jetzt an einigen
Beispielen darlegen.
Heraklit von Ephesus ist ein hervorragender Typus des einsamen
und originellen Denkers. Mit seinen Landsleuten ist er sehr unzu-
frieden und macht ihnen heftige Vorwürfe, weil sie den Hermodoros,
ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt haben (Fragm. 121
Diels). Er bezeugt uns ausdrücklich, daß er sich selbst gesucht habe
(101), und man sieht es auch an anderen Aussprüchen, wie tief er
in sein Inneres hineingeblickt hat. Stammt doch von ihm das tief-
sinnige Wort, daß in der Seele ein Denken wohnt, das sich selbst
vermehrt (105). Dieser in sich selbst versenkte, mit seiner Vaterstadt
zerfallene Denker versichert uns nun an einer anderen Stelle, daß
die Vernunft etwas Gemeinsames ist und daß man diesem Gemeinsamen
folgen müsse (2, 114). Der vereinsamte Denker also, der mit seiner
Vaterstadt zerfallen ist und sich selbst sucht, findet in seiner eigenen
Seele die allgemeine Vernunft.
In der Zeit der griechischen Aufklärung (5. und 4. vorchristliches
Jahrhundert) wurde an den überlieferten religiösen und sittlichen
Anschauungen eindringende Kritik geübt. Eine ganze Reihe von
kraftvollen, eigenartigen Persönlichkeiten tritt uns in den Trägern
dieser geistigen Bewegung entgegen. Als eine Folgeerscheinung dieses
geistigen Kampfes dürfen wir auch die Idee des Weltbürgertums
Cicero berichtet, daß schon Sokrates sich einen Weltbürger ge-
nannt habe, und auch die späten Stoiker (besonders Epiktet) erwähnen
das gelegentlich. Das steht nun allerdings mit dem, was wir sonst
von Sokrates wissen, nicht im Einklang und deshalb wird die Nach-
richt mit Recht bezweifelt. Sicher bezeugt ist aber, daß Diogenes
von Sinope, der bekannte Vertreter der kynischen Schule, den Namen
und den Begriff des Weltbürgers geprägt hat, Diogenes wird uns
als radikaler Individualist geschildert, der alle gesellschaftlichen
Bindungen mit vollem Bewußtsein und sogar mit einer gewissen
Ostentation verachtete und von sich wies. Aber gerade diese ent-
schiedene Loslösung von allem Konventionellen, die energische Hin-
/
278 Soziologie und Geschiclitsphilosophie
wendung zur Unabhängigkeit, zur Freiheit oder, wie Diogenes selbst
sagte, zur Natur, zeitigte in ihm diesen universalistischen Gedanken.
\ui die Frage, was er für ein Landsmann sei, antwortete Diogenes:
„Ein Bürger der Welt" (xöou,oo zokivrfi*). In demselben Sinne erklärte
er auch, der einzig richtige Staat sei der W e 1 1 s t a a t. So hat also
der ausgesprochenste Individualist, ein Verächter der Überlieferung
und energischer Bekämpfer aller gesellschaftlichen Konvention den
Namen und den Begriff des Weltbürgers, des Kosmopoliten
geschaffen.
Das philosophische Erbe der Kyniker übernahm die Schule der
Stoiker, deren Stifter Zeno ein Schüler des Kynikers Krates war. Bei
den Stoikern finden wir die Verbindung zwischen Individualismus
und Kosmopolitismus besonders deutlich ausgeprägt. Das Ideal des
Weisen, das in dem System der Stoiker eine so große Rolle spielt,
ist durchaus individualistisch. Der Weise ist frei von Irrtum, un-
abhängig vom Schicksal, keiner Veränderung unterworfen, dem Übel
nicht ausgesetzt. Er allein ist sich selbst genug, er ist der wahre
Flerrscher und König. Zugleich aber lebt er in der großen Gemein-
schaft nicht nur aller Menschen, sondern auch der Götter, deren
gemeinsames Vaterland eben die Welt ist. Die Stoiker betonen ihr
Weltbürgertum wiederholt mit besonderem Nachdruck. So sagt z. B.
der Kaiser Mark Aurel, der Stoiker auf dem Throne, einmal von sich :
„Mein Staat und mein Vaterland ist, insofern ich Antoninus heiße,
Rom, insofern ich ein Mensch bin, die Welt" (V 1, 44). Auch
bei Epiktet finden sich ähnliche Äußerungen. Daß aus dem Gedanken
des Weltbürgertums und der darin liegenden Idee der ganzen Mensch-
heit von den Stoikern auch die Pflicht der allgemeinen Menschlich-
keit abgeleitet wurde und der Begriff der Humanität gebilder
wurde, haben wir bereits oben dargelegt.
Für das Urchristentum ist die Verbindung von Individualismus
und Weltbürgertum ebenfalls charakteristisch, was der feinsinnige
und tiefblickende Kirchenhistoriker Adolf v. Harnack ausdrücklich
hervorgehoben hat**). Als der Apostel Paulus sich vornahm, die
Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Erlöser nicht nur
den Juden, sondern auch den Heiden zu predigen, da war ihm jede
einzelne Mcnschenseele, die er für das ewige Heil gewann, lieb und
wert. Gerade dadurch, daß jeder glauben durfte und glauben sollte,
Christus sei für ihn gestorben, kamen besonders die Armen, die Be-
drückten und die Beladenen zum tröstlichen Bewußtsein ihres Eigen-
wertes. Indem aber alle, die an Christum glaubten, Kinder Gottes
wurden, erweiterte sich dieses Einzelbewußtsein sofort in das be-
seligende Gefühl der innigen Zusammengehörigkeit und erzeugte so
wieder bei jedem Einzelnen aus seinem Ich die Menschheit.
Sowie aber die Zahl der Bekenner immer mehr zunahm und die
kleine Gemeinde im Laufe von wenigen Jahrhunderten zur großen
Weltkirche geworden war, da stellte sich immer dringender die Not-
*) Diogenes Laertius, 6. 65.
**) Harnack. „Die Mission und Verbreitung des Christentums in den ersten
drei Jahrhunderten", 3. Aufl., I. II*».
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 279
wendigkeit heraus, den Lehrgehalt der neuen Religion dogmatisch
festzulegen, stramme Disziplin einzuführen und eine feste Organisation
zu schaffen. Daß dies der katholischen Kirche in bewunderungs-
würdiger Weise gelungen ist, haben wir schon wiederholt hervor-
gehoben. Damit war nun allerdings in der Christenwelt das autoritative
Prinzip zur Herrschaft gelangt. Gegenüber dieser neuen Macht, die
keinen Widerspruch duldete und keine Sondermeinung zuließ, machte
sich nun wieder die individualistische Entwicklungstendenz geltend.
Das Bedürfnis nach innerlicher, persönlicher Frömmigkeit kommt in
der mittelalterlichen Mystik zum Ausdruck und aus dieser geht dann
die große Reformation hervor, die entschieden als individualistische
Bewegung anzusprechen ist. Zu gleicher Zeit aber brach sich in Italien
unter besonders günstigen Umständen die Freude am Menschen Bahn
und zeitigte, von der wiedererwachten Antike mächtig gefördert, die
Periode der Wiedergeburt und des Humanismus. Hier
sehen wir nun wieder, wie die Freude des Menschen an sich selbst
und an den Schönheiten der Welt ihn dazu führt, die Bande der
engeren Gemeinschaft zu sprengen und sich als Weltbürger zu fühlen.
Jakob Burckhardt, gewiß einer der besten Kenner dieser Epoche, sagt
in seinem grundlegenden Werke „Die Kultur der Renaissance in
Italien" (I, 147 f.): „Der Kosmopolitismus, welcher sich in den geist-
vollen Verbannten entwickelt, ist eine höchste Stufe des Individualismus."
Dante findet eine neue Heimat in der Sprache und Bildung Italiens,
geht aber doch auch darüber hinaus mit den Worten: „Meine Heimat
ist die ganze Welt." Übrigens ist der Kosmopolitismus ein Zeichen
jeder Bildungsepoche, da man neue Welten entdeckt und sich in der
alten nicht mehr heimisch fühlt.
Wir haben oben (S. 221 f.) darauf hingewiesen, daß sich mit der
Verselbständigung des Einzelmenschen und mit seiner zunehmenden
Unabhängigkeit von den „kollektiven Vorstellungen" zugleich eine
Intellektualisierung der Seele vollzieht. Der eigen-
kräftig gewordene Mensch bekommt immer mehr Vertrauen zur Kraft
seines Denkens. Die Vernunft gewinnt allmählich die Herrschaft über
die Affekte und Triebe und lernt zugleich, dem Wollen immer weitere
Ziele zu setzen. Je mehr aber das Denken erstarkt, desto fester ist
der Einzelne davon überzeugt, daß er in den Operationen seines
eigenen Verstandes den Gesetzen einer allgemeinen menschlichen Ver-
nunft folgt. Nun hat aber, wie wir gesehen haben, der Mensch erst
infolge seiner Individualisierung gelernt, die einzelnen Tatsachen rein
objektiv zu beobachten und in ihrer individuellen Wirklichkeit zu er-
fassen. Aus dieser Verbindung des Wirklichkeitssinnes mit der Über-
zeugung von der Allgemeinheit der menschlichen Vernunft, also wieder
aus dem Übergang vom Individualismus zum Universalismus, der mit
der Intellektualisierung der Seele parallel geht, entwickelt sich nach
und nach die exakte Wissenschaft, durch deren Fortschritte
der Mensch sich immer mehr zum Herrn der Natur emporringt.
Dieser Prozeß, der schon sehr früh beginnt, läßt sich vom Beginn
der Neuzeit an mit besonderer Deutlichkeit beobachten. Dilthey hat
in einer Reihe von überaus lehrreichen und gehaltvollen Aufsätzen,
280 Soziologie und Geschichtsphilosophie
die jetzt im zweiten Bande seiner gesammelten Schriften vereinigt sind,
den Nachweis erbracht, daß aus der humanistischen und aus der
religiös-reformatorischen Bewegung des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts sowohl die mathematische Naturwissenschaft als auch
die rationalistische Philosophie mit ihrer Lehre von einer natürlichen
Religion, vom Naturrecht und von einem allgemeinen Sittengesetz sich
herausentwickelt haben. Wir finden in seinen Darlegungen überall
unsere soziologische Grundeinsicht vom Übergang des Individualismus
zum Universalismus bestätigt, und diese Bestätigung ist deshalb für
uns sehr wichtig, weil Dilthey selbst diesen durch die soziologische
Betrachtungsweise neu erschlossenen Zusammenhang noch gar nicht
bemerkt hatte. Indem ich nachdrücklich auf die jetzt leicht zugäng-
lichen Arbeiten Diltheys verweise, hebe ich mit dankbarer Benutzung
des von ihm so reichlich herbeigeschafften Materials die Hauptpunkte
kurz hervor.
Der lebensfrohe Individualismus der Renaissancezeit hatte zu-
nächst zur Folge, daß man sich der irdischen Wirklichkeit mit erhöhtem
Interesse zuwendete und es sich angelegen sein ließ, diese reale Welt
in ihrer Tatsächlichkeit genauer zu erforschen. Man bekam wieder
Vertrauen in die Kraft des eigenen Beobachtens und Denkens und
wollte die überlieferten Lehren, besonders die des Aristoteles, der für
das Mittelalter die unbestrittene Autorität in weltlichen Dingen ge-
bildet hatte, nicht mehr ungeprüft gelten lassen. Man war überzeugt,
daß dem Menschen ein „natürliches Licht" (lumen naturale) inne-
wohne, das ihn befähigt, sich selbständig ein Urteil zu bilden. Melanch-
thon, der die Lehre vom natürlichen Licht zur Grundlage seiner
Philosophie gemacht hat, spricht von dem Bewußtsein der Evidenz,
welches alles richtige Rechnen und Schließen begleitet {Dilthey II,
178). Nun ist aber dieses Bewußtsein der Evidenz ein durchaus indi-
viduelles Erlebnis. Erst dadurch, daß dieses Erlebnis verallgemeinert
wird, ergibt sich daraus die Lehre vom natürlichen Licht der Vernunft.
Der Übergang vom Individualismus zum Universalismus tritt also
auch in dieser für die Renaissancezeit charakteristischen Lehre deutlich
zutage.
Zu der Freude am Beobachten der Natur gesellt sich also die
mit dem Gefühl der Evidenz verbundene mathematische Be-
arbeitung. Aus der Kombination von Beobachtung, Experiment und
Rechnung entsteht nun durch die Arbeiten von Kopernikus, Galilei,
Kepler, Huyghens und Newton die mathematische Naturwissenschaft,
welche die Bewegungsgesetze der leblosen Materie dauernd festgelegt
und damit die Grundlage geschaffen hat für die Beherrschung der
Natur durch die moderne Technik. So ist also aus dem Individualismus
des Renaissancemenschen die universelle und allgemeingültige Wissen-
schaft hervorgegangen.
Wichtiger noch ist die Einsicht in den Übergang vom Indivi-
dualismus zum Universalismus und zum Weltbürgertum für das Ver-
ständnis der Auffassungen von Staat und Gesellschaft, die sich in
der Neuzeit herausbilden. Dilthey hat in seinen Aufsätzen über das
natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahr-
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 281
hundert (II, 90 ff.) und in anderen daranschließenden Arbeiten die
geschichtliche Entwicklung des modernen Denkens über Religion,
Recht, Sittlichkeit und Staat mit Heranziehung eines reichen und oft
schwer zugänglichen Materials dargestellt. Man ersieht daraus, daß
aus dem gesteigerten Selbstgefühl des Renaisancemenschen sich immer
deutlicher und immer schärfer die Überzeugung herausentwickelt,
daß es Ideen und Gefühle gibt, die allen Menschen gemeinsam sind
und die geeignet erscheinen, ein einigendes Band zwischen den Völkern
zu bilden.
So finden wir schon bei Erasmus, bei Zwingli und bei Melanchthon
die Idee eines universalen Theismus, einer natürlichen Religion, die
einerseits auf das natürliche Licht der Vernunft, anderseits auf die
Übereinstimmung unter den Völkern sich gründet. Daraus entwickelt
sich der Deismus des achtzehnten Jahrhunderts, das heißt die Forde-
rung einer allgemeinen Vernunftreligion, die keines Dogmas und keiner
Offenbarung bedarf. Dieser Gedanke einer Universalreligion ist nun
letzten Endes aus dem im Protestantismus zutage tretenden Bedürfnis
nach persönlicher Frömmigkeit hervorgegangen.
In ähnlicher Weise erzeugt das gesteigerte Selbstgefühl des
Einzelmenschen den Gedanken eines allgemeinen Rechtes, das
von der Natur gegeben und von der Vernunft gefordert wird. Dieses
Recht, das mit uns geboren ist, muß für alle Menschen immer und
überall gelten. Viele Rechtslehrer des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts sprechen klar und bestimmt die Überzeugung aus, daß
das Naturrecht allgemeine und unbedingte Geltung habe, ja, sie
sagen, daß Gott selbst nicht die Macht habe, die Bestimmungen des
Naturrechtes zu ändern oder ungültig zu machen. Diesem individua-
listisch-universalistischen Rechtsgedanken stellt sich der absolutistische
Staat entgegen, wie er sich in derselben Periode namentlich in
Frankreich ausbildet. Hier ist der Staat selbst die Quelle des
Rechtes (Hobbes) und der Wille des Herrschers das oberste Gesetz.
Die Idee des Naturrechtes gewann jedoch die Oberhand über den
Staatsabsolutismus. Die allgemeinen Menschenrechte
wurden zuerst in die Verfassungen der amerikanischen Republiken
aufgenommen, die sich von England losgelöst und die Föderation der
„Vereinigten Staaten von Amerika" gebildet hatten. So heißt es z. B.
in der Verfassung des Staates Pennsylvania vom 28. März 1776 im
Artikel I : „Alle Menschen sind in gleicher Weise frei und unabhängig
geboren und haben bestimmte, natürliche, an sich geltende (inherent)
und unabänderliche Rechte." Dazu gehört unter anderem das Recht,
das Leben und die Freiheit zu genießen und zu verteidigen, Eigentum
zu erwerben, zu besitzen und zu wahren, Glück und Sicherheit zu
erstreben und zu behaupten. Artikel II: „Alle Menschen haben ein
natürliches und unabänderliches Recht, den allmächtigen Gott nach
den Forderungen ihres eigenen Wissens und Gewissens zu verehren."
Es wird weiter bestimmt, daß niemand wegen seiner Konfession in
seinen bürgerlichen Rechten beeinträchtigt werden darf, daß alle Macht
beim Volke selbst ruht, daß keine stehenden Heere gehalten werden
sollen weil diese der Freiheit gefährlich sind, und daß die militärische
2s2 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Macht der bürgerlichen untergeordnet sein müsse*). Ähnlich lauten
die Verfassungen von Massachusetts, von Virginia und den anderen
Staaten. In Frankreich wurden die Menschenrechte gleich im Anfang
der Revolution schon am 4. August 1 789 in der Nationalversammlung
verkündet und dann in die Verfassungsurkunde vom 3. September 17 M
aufgenommen. Die Urkunde beginnt mit einem Abschnitt, der die
Überschritt trägt: Deklaration des droits de l'homme et du citoyen
(Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte). Die Bestimmungen
sind denen der amerikanischen Verfassungen ähnlich. Art. 1 und 2
lauten: „Die Menschen werden frei geboren und bleiben frei und gleich
in ihren Rechten. Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die
Wahrung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte.
Diese Rechte sind: die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und
der Widerstand gegen Unterdrückung" (Altmann, S. 55).
Wir haben die einzelnen Bestimmungen der amerikanischen und
der französischen Verfassungsurkunden deshalb teilweise im Wortlaut
mitgeteilt, weil sich oft gerade in der Textierung die Verbindung von
Individualismus und Universalismus deutlich kundgibt. Kant und
Fichte, die den Freiheitsgedanken der französischen Revolution mit
solcher Begeisterung aufnahmen, sahen hauptsächlich das allgemein
Menschliche darin und fanden sich in ihrer Auffassung, daß Freiheit
das Wesentliche des Geistes sei, dadurch bestärkt. Der aus dem Frei-
heitsgedanken hervorgegangene politische und wirtschaftliche Libe-
ralismus des neunzehnten Jahrhunderts hat wiederum das indi-
vidualistische Moment, das in diesem Gedanken zur Geltung gelangte,
in schroffer Einseitigkeit zum schrankenlosen Eigennutz und zum
Anarchismus weiter entwickelt. Wir werden gleich sehen, welche
Gegenströmung dadurch im neunzehnten Jahrhundert hervorgerufen
wurde. Vorher aber müssen wir unsere soziologische Grundeinsicht
vom innigen Zusammenhang zwischen der individualistischen Ent-
wicklungstendenz und dem Weltbürgertum noch an einem anderen
besonders lehrreichen Beispiel erläutern.
Der deutsche Neuhumanismus, der sich am Ende des acht-
zehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland
ausgebildet hat, ist ein für die ganze Kulturentwicklung besonders
bedeutsamer Beweis für die Richtigkeit und für die Tragweite dieser
unserer soziologischen Grundeinsicht. In der Sturm- und Drangzeit
unserer Literatur, aus der der Neuhumanismus hervorging, bildet sich
ein eigenartiger Universalismus des Gefühles aus, in
welchem unser soziologisches Grundgesetz wiederum in einer ganz
neuen Weise zur Geltung kommt. Als Ausgangs- und zugleich als
Mittelpunkt der ganzen Bewegung dürfen wir die Persönlichkeit
Johann Gottfried Herders ansehen. Herder hat durch seine „Frag-
mente" und durch die „kritischen Wälder" den Sturm und Drang in-
auguriert. Seine Gescliichtsphilosophie mit dem Zcntralbegriff der
„Humanität" darf als die philosophische und als die pädagogische
*) Vgl. Altmann. „Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Ver-
fassungsgeschiclitc", 2. Aufl., 1913, S. -1 ff.
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 283
Grundlegung des Neuhumanismus angesehen werden. Herder ist als
tiefgründiger Psychologe davon überzeugt, daß die Eigenart des
Menschen sich am deutlichsten und tiefsten in seinem Fühlen offen-
bare. „Die Innigkeit, Tiefe und Ausbreitung, mit der wir Leidenschaft
empfinden, verarbeiten und fortpflanzen, macht uns zu den flachen
oder tiefen Gefäßen, die wir sind. Oft liegen unter dem Zwerchfell
Ursachen, die wir sehr unrichtig und mühsam im Kopfe suchen. Der
Gedanke kann daher nicht kommen, wenn nicht die Empfindung vorher
an ihrem Orte war. Wiefern wir an dem, was uns umgibt, teilnehmen,
wie tief Liebe und Haß, Ekel und Abscheu, Verdruß und Wollust ihre
Wurzeln in uns schlagen, das stimmt das Saitenspiel unserer Gedanken,
das macht uns zu denen Menschen, die wir sind*)." Das Gefühl ist
für Herder auch die Grundquelle aller Poesie. Er findet sie in ihrer
ursprünglichsten und reinsten Form bei Homer, in der Bibel und im
Volkslied. Die „Muttersprache des Menschengeschlechtes" ist zugleich
der reinste Ausdruck des echt menschlichen Gefühles, der innigen und
lebendigen Teilnahme für die Natur außer uns und für die Natur
in uns. Die Keime dazu sind in jedem Menschenherzen zu finden
und müssen nur durch geeignete Erziehung und Bildung von innen
heraus zur Entfaltung gebracht werden. Die ganze Weltgeschichte
ist als eine solche Erziehung im großen anzusehen, als eine Erziehung
zum Gefühl für das echt Menschliche im Menschen, als eine Erziehung
zur Humanität. Mit diesen Gedanken wirkt Herder auf die jungen
„Originalgenies" und besonders mächtig auf den jungen Goethe in
Straßburg. Die Freude an jedem kräftig erlebten Gefühl führt zu-
nächst zur Verachtung jeder bloß konventionellen Form in der Kunst,
zeitigt aber zugleich die Überzeugung von der tiefen Berechtigung
jeder natürlichen Regung im Menschen und trägt besonders dazu bei,
daß man die eigenen Gefühle liebevoll betrachtet, sich darin gefällt
und sich daran sonnt. Eine unendliche Bereicherung des Innenlebens
ist die Folge und diese kommt in den Jugendwerken Goethes und
Schillers so wie der anderen Stürmer und Dränger zu kraftvollem
Ausdruck. Das ist es, was Schiller meint, wenn er im Eingang seines
Gedichtes „Die Künstler" sagt, der Mensch sei „reich durch Schätze,
die lange Zeit sein Busen ihm verschwieg". Wie im fünfzehnten und
im sechzehnten Jahrhundert wirkt auch jetzt die Antike kräftig mit.
Sie beschleunigt den durch die allgemeine Geistesentwicklung in
Deutschland eingeleiteten seelischen Prozeß und gibt ihm zugleich die
Richtung auf das Ideal-Menschliche. Waren es in der Renaissance
Cicero und Seneca, die den Gedanken eines universalen Theismus
formen halfen, so sind es jetzt Homer, Sophokles und Plato, die das
überströmende Gefühl läutern und die Freude am rein Menschlichen
zu einem dauernden Gedanken befestigen. So entstand der Neu-
humanismus, der das Bildungs- und Erziehungswesen Deutsch-
lands so lange und so tief durchdrungen und gestaltet hat. Er bildet
die letzte und größte Verbindung von Individualismus und Uni-
*) Herder, „Vom Erkennen und Empfinden", Sämtliche Werke 1852 (Cotta),
Bd. 31, S. 16. Vgl. dazu auch Jerusalem, „Die Aufgaben des Lehrers an höheren
Schulen", Wien 1912, S. 45 ff.
284 Soziologie und Geschichtsphilosophie
versalismus, die uns die Geschichte bisher gebracht hat. Aus dem
lebendigsten Gefühl der eigenen Persönlichkeit, die Goethe als das
höchste Glück der Erdenkinder bezeichnet, entspringt hier die tiefe
Überzeugung von einer allen Menschen in gleicher Weise verliehenen
Vernunft und von einem in allen Menschen wohnenden Menschlich-
keitsgefühl, das immer reiner und reicher auszugestalten als die hohe
Aufgabe der edelsten Geister erkannt wird. Schiller spricht von dem
„weltbürgerlichen Band", das jetzt „alle denkenden Köpfe verknüpft",
Kant entwirft in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" das Ideal einer
„weltbürgerlichen Verfassung" und Goethe bemüht sich eifrig, eine
„Weltliteratur*4 hervorzurufen, in der vor allem das allgemein Mensch-
liche als das allen Nationen Gemeinsame zur Darstellung gelangen
soll. Der prägnanteste Typus dieser Verbindung von Weltbürgertum
und Persönlichkeitskultur ist vielleicht Wilhelm v. Humboldt, der aus
dem Staatsdienste scheidet, weil er nur sich selbst ausbilden will, und
der eben in sich selbst das allgemein Menschliche findet, das er, wie
Spranger gezeigt hat, an der Hand der Griechen zu einer Philosophie
der Humanität auszugestalten unternimmt.
Das neunzehnte Jahrhundert hat den Aufschwung des Natio-
nalismus gebracht und infolgedessen das Humanitätsideal unserer
Klassiker eine Zeitlang zurücktreten lassen. Für Deutschland hat
Friedrich Meinecke in seinem Werke „Weltbürgertum und National-
staat" den Übergang vom Kosmopolitismus zum nationalen Gedanken
eingehend und lichtvoll dargestellt. Der Nationalismus hat sich jedoch
über ganz Europa verbreitet und die politische Geschichte der letzten
hundert Jahre mächtig beeinflußt. Deutschland und Italien haben sich
nach einer jahrhundertelangen Zersplitterung zu großen National-
staaten zusammengeschlossen. Viele andere größere und kleinere
Nationen haben ihre staatliche Selbständigkeit angestrebt und zum
Teil auch erreicht. Der Kosmopolitismus und der Humanitätsgedanke
wurden vielfach als ideale Schwärmerei, als wirklichkeitsfremde Utopie,
ja mitunter sogar als vaterlandslose Gesinnung bezeichnet. Die Nation
und der Staat forderten das reif und reich gewordene Individuum für
sich zurück und verlangten, daß jeder seine Kräfte ausschließlich
in den Dienst seines eigenen Vaterlandes stelle.
Der Nationalismus hat sich aber nicht nur auf dem politischen Ge-
biete geltend gemacht, sondern hat auch auf das wirtschaftliche Leben
übergegriffen. Die von Adam Smith begründete Nationalökonomie
war individualistisch und kosmopolitisch zugleich. Sie ruhte auf der
Überzeugung, daß der uneingeschränkte Wettbewerb innerhalb des
Staates und der Freihandel im internationalen Verkehr die besten
Bedingungen für den Volkswohlstand bilden. Nun war aber die zu
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sich erst entwickelnde Industrie
Deutschlands, die in der Friedenszeit nach 1815 einen kräftigen Auf-
schwung nahm, durch die viel ältere und leistungsfähigere englische
Manufaktur in ihrer Fxistenz bedroht. Nachdem durch den preußisch-
deutschen Zollverein (1834) der Binnenverkehr zur Zufriedenheit
geregelt war, da wurde das Bedürfnis eines Schutzes gegen aus-
ländische Konkurrenz immer stärker. Im Jahre 1841 trat nun
§ 48. Soziologische Grundeinsichten 285
Friedrich List in seinem Werke „Das nationale System der politischen
Ökonomie" für energischen Schutzzoll ein und von dieser Zeit an
durchdringt der Nationalismus immer mehr auch das wirtschaftliche
Leben*). Die großen Nationalstaaten stehen untereinander immer mehr
in einem scharfen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzkampf.
Nach dem deutsch-französischen Kriege von 1870/71 entwickelt sich
die deutsche Industrie und der deutsche Handel in einem so großen
Maßstabe und mit solcher Schnelligkeit, daß England hier einen sehr
gefährlichen Rivalen erkennt. Zu dem nationalen Gegensatz, in dem
sich Deutschland sowohl in bezug auf Frankreich als auch gegenüber
dem slawischen Osten befand, kam jetzt noch die wirtschaftliche
Gegnerschaft Englands dazu. Die Folge war eine gewaltige Macht-
politik, die überall einsetzte. Aus dem dadurch veranlaßten un-
geheuren Wettrüsten ist dann der Weltkrieg hervorgegangen. Der
Nationalismus, der in sich die Expansionstendenz enthält, treibt eben
immer und überall zum extremsten staatlichen Egoismus, und solange
diese Tendenz herrscht, werden solche Katastrophen von Zeit zu Zeit
immer wiederkehren.
Inzwischen aber waren im wirtschaftlichen Leben durch die Ent-
wicklung der Großbetriebe neue Wandlungen eingetreten. Die Prole-
tarier aller Länder hatten sich gegen den ausbeuterischen Kapitalismus
zur großen internationalen Sozialdemokratie vereinigt, deren Streben
darauf gerichtet war und noch ist, die Produktionsmittel in den Besitz
des Staates überzuführen und dadurch die Ausbeutung der Arbeiter
durch die Unternehmer unmöglich zu machen. Der Sozialismus strebt
als letztes Ziel eine Synthese der beiden großen Entwicklungstendenzen
an. Jeder Staatsbürger hat in gewissem Sinne das Recht auf Existenz
und es soll ihm die Befriedigung der wichtigsten Lebensbedürfnisse
durch die Staatsverfassung gewährleistet werden. Zugleich ist aber
jeder Einzelne verpflichtet, für die Gesamtheit nach Maßgabe seiner
Kräfte und Fähigkeiten zu arbeiten und muß sich dem Ganzen ein-
ordnen und unterordnen.
Das individualistische Moment in diesen Bestrebungen bringt nun
wieder den alten Menschheitsgedanken und das Humanitätsideal zu
Ehren. Dieses Ideal kann jedoch nicht mehr durch ein „weltbürger-
liches Band" verwirklicht werden, das die denkenden Geister verknüpft.
Die Verbindung muß vielmehr zwischen den Staaten und Völkern
hergestellt werden. So gestaltet sich der Kosmopolitismus infolge der
nationalen und wirtschaftlichen Entwicklung jetzt aus zur Forderung
des Internationalismus, zu dem vor dem Kriege bereits
wichtige Ansätze vorhanden waren. Es sei nur auf den Weltpost-
verein, auf die vielen internationalen wissenschaftlichen Vereinigungen
und auf das Haager Schiedsgericht hingewiesen.
Nun hat der Weltkrieg zweifellos zur Stärkung des nationalen
Gedankens beigetragen. Eine Anzahl neuer Nationalstaaten ist aus
ihm hervorgegangen, die vom Streben nach Erweiterung ihrer Macht
*) Gide und Rist, „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen", in
:her Übersetzung herausgegeben von Franz üppenheimer, 1913, S. 291 ff.
286 Soziologie und Geschichtsphilosophie
erfüllt sind. Um so dringender erscheint deshalb die Forderung nach
einer alle Völker und Staaten unifassenden Organisation, welche die
Wiederkehr einer so furchtbaren Weltkatastrophe unmöglich machen
müßte.
Wie sich diese Dinge in der Zukunft gestalten werden, vermag
natürlich niemand vorauszusagen. Unsere soziologischen Grund-
einsichten haben uns aber dennoch die Richtungen und die Tendenzen
kennen gelehrt, die für die bisherige Entwicklung maßgebend waren.
Wir gewinnen dadurch ein tieferes und besseres Verständnis für eine
Reihe von Zusammenhängen, und es wird nunmehr die Aufgabe der
Soziologie sein, diese Grundeinsichten auf die Erforschung der ver-
schiedenen Gebiete des menschlichen Zusammenwirkens anzuwenden.
Wir wollen nun auf Grund der gewonnenen Einblicke zwei wich-
tige Gebiete der menschlichen Geistesentwicklung, und zwar zuerst
die Erkenntnislehre und dann die Sittenlehre, vom sozio-
logischen Gesichtspunkt aus betrachten, und hoffen dabei zeigen zu
können, daß unsere neuen Einsichten und unsere neue Methode sich
fruchtbar erweisen wird. Wir lösen damit zugleich die beiden Ver-
sprechen ein, die wir oben (S. 100 und 217) gegeben haben.
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre.
Das Erkenntnisproblem ist bisher von zwei verschiedenen Stand-
punkten aus in Angriff genommen worden. Man hat zunächst die
Geltung unserer Erkenntnisse zu rechtfertigen und ihre Grenzen
zu bestimmen versucht. Diese Aufgabe stellt sich die Erkenntnis-
kritik. Die transzendentale Analyse Kants hat bekanntlich
die beiden Formen des kritischen Idealismus hervorgebracht,
die wir oben als Phänomen alismus und als Apriorismus
bezeichnet haben. Den Phänomenalismus fanden wir damit widerlegt,
daß er, zu Ende gedacht, zum Solipsismus führt (§§ IQ und 20).
Der Apriorismus enthält, wie wir gezeigt haben, eine latente,
uneingestandene Metaphysik. Zwingt man diese ans Tageslicht,
dann verliert der Apriorismus ganz und gar seinen kritischen
Charakter, wird zu Behauptungen gedrängt, die über jede mögliche
Erfahrung hinausgehen, und verfällt wieder in den alten, spekulativen
Dogmatismus zurück, von dem uns Kant für immer befreien wollte.
Diese Denkrichtung führt aber auch aus ganz anderen Gründen zu
sehr bedenklichen Konsequenzen. Indem sich die aprioristische Er-
kenntnistheorie ganz ausdrücklich auf die Untersuchung der Gel-
tung unserer Erkenntnisse beschränkt und die Frage nach ihrem
Ursprung und nach ihrer Entwicklung schroff ablehnt, ver-
deckt sie die allerwichtigsten Probleme und versperrt sich geradezu
den Weg /ur Aufklärung des wahren Wesens und Werdens mensch-
licher Erkenntnis. I )ie Erkenntniskritik hat also zu keiner befriedigenden
Lösung geführt. Wir versuchten es dann, mit Hilfe der genetischen
und der biologischen Betrachtungsweise das menschliche Erkennen
als eine Funktion des menschlichen Lebens in seiner Grundform
zu erfassen und seine Weiterentwicklung zu untersuchen. Wir glaubten.
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 287
diese Grundform in der fundamentalen Apperzeption
zu finden, vermöge deren wir jeden wahrgenommenen Vorgang der
Umgebung nach Analogie unserer eigenen Willensimpulse als Kraft-
äußerung eines Kraftzentrums auffassen und ihn so
gleichsam aus der Sprache des Universums ins Menschliche über-
setzen. Der wahrgenommene Vorgang wird durch diesen Prozeß
gleichzeitig gegliedert und objektiviert. Im einfachen
Urteilssatz erfährt die fundamentale Apperzeption ihre klare
Ausprägung. Das Subjekt ist das K r af t z en t r u m, das
Prädikat die Kraftäußerung. Wir konnten nun zeigen,
wie aus dieser Grundform die verschiedenen Arten der Begriffe
hervorgehen, mittels deren wir die Erfahrung immer ökonomischer
ordnen. Auch die wichtigsten der von Kant aufgestellten Stamm-
begriffe oder Kategorien vermochten wir auf empirischem Wege in
ihrer Entstehung und Entwicklung zu verfolgen (§ 29).
Die Ergebnisse dieser evolutionistischen und psychologischen Be-
arbeitung des Erkenntnisprozesses behalten nun, meiner Überzeugung
nach, ihren dauernden Wert, bedürfen jedoch einer wichtigen Er-
gänzung. Es gibt nämlich eine Frage, die bisher weder der Aphoris-
mus noch der Evolutionismus auch nur aufgeworfen haben. Beide
Methoden setzen nämlich als etwas ganz Selbstverständliches voraus,
daß der Mensch von Natur aus und somit von allem Anfang die
Fähigkeit besitzt, rein theoretisch zu denken. Daß diese
Voraussetzung nachweislich falsch ist, das habe ich schon in meinem
im Jahre 1905 erschienenen Buch „Der kritische Idealismus und die
reine Logik" (S. 143 ff.) klar und deutlich ausgesprochen. Zu dieser
Überzeugung war ich damals hauptsächlich durch die biologische
Betrachtung des Erkenntnisprozesses gelangt, stützte mich aber auch
auf Münsterbergs an Fichte orientierte geistvolle Theorie von der
ursprünglich nur „Stellung nehmenden" Funktion des Bewußtseins.
Den wahren und tiefen Sinn der ganzen Fragestellung habe ich erst
durch die soziologische Betrachtungsweise verstehen gelernt.
Diese läßt uns nämlich nicht bloß das Problem mit viel größerer
Deutlichkeit sehen, sondern gibt uns auch die Mittel zur klaren und
einwandfreien Lösung an die Hand. Die oben dargelegten sozio-
logischen Grundeinsichten sollen uns den Weg zeigen. Sie dürften
sich als geeignet erweisen, die menschliche Erkenntnisentwicklung von
einer neuen Seite her zu beleuchten. Wir müssen zu diesem Zweck
allerdings manches bereits Gesagte kurz wiederholen.
Aus der modernen Völkerkunde wissen wir, daß der primitive
Mensch uns überall auf der Erde als ein sozial gebundenes
Herdentier entgegentritt. Die Seele des Einzelnen ist ganz ausgefüllt
von dem, was die französischen Soziologen aus der Schule Dürkheims
„Kollektivvorstellungen" nennen. Das sind seelische
Gebilde, in denen die emotionellen und die motorischen Elemente, das
heißt die subjektiven Gefühle und Triebe, die durch die Wahrnehmung
der Vorgänge ausgelöst werden, fast allein dominieren, während das
was wir heute als die objektiven Bestandteile der Wahrnehmungen
betrachten, fast ganz bedeutungslos bleibt. Charakteristisch für diese
2^s Soziologie und Geschichtsphilosophie
sozial gebundene Oeistesart der Primitiven ist ferner der unerschütter-
liche (Haube an die Allgegenwart von Geistern und Dämonen, die
überall im Spiele sind, wo sich in der Natur oder im Menschenleben
irgend etwas ereignet, das vom ganz Alltäglichen abweicht. Beispiele
dafür sind oben angeführt worden. Der Einzelne fühlt sich nur als
ein Teil, als ein Glied seines Stammes und hält an der überkommenen
Art, die Sinneswahrnehmungen zu deuten, mit einer geradezu un-
glaublichen Zähigkeit fest. Für das, was wir in unserem heutigen
Sinne des Wortes „Erfahrung" nennen, ist der Primitive nach den
übereinstimmenden Berichten der Forschungsreisenden und der gut
beobachtenden Missionäre ganz unzugänglich. Auf dieser Entwick-
lungsstufe ist der Mensch noch ganz unfähig, rein theoretisch zu
denken und vermag noch keineswegs gegebene Tatsachen rein objektiv
zu konstatieren.
Diese Fähigkeit erlangt der Mensch nur langsam und allmählich,
und zwar in dem Maße, als er sich selbst aus dem Zustande der
sozialen Gebundenheit herausarbeitet und sich zu einer selbständigen,
eigenkräftigen Persönlichkeit hinaufentwickelt. Wir haben gesehen,
daß zu dieser Befreiung die soziale Differenzierung hin-
führt, die zum großen Teil eine Wirkung der früh einsetzenden und
dann immer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung ist. Der
Übergang vom Nomadenleben zum Ackerbau und zur Seßhaftigkeit,
sowie die damit verbundene Bildung größerer Gemeinwesen ist für
diesen Differenzierungsprozeß und dessen Einwirkungen auf die Er-
kenntnisentwicklung von maßgebender Bedeutung. Die verschiedenen
Handwerke, die in der größeren und komplizierteren Gemeinschaft
entstehen, bringen es von selbst mit sich, daß jeder, der sich einer
spezialisierten Arbeit widmet, genötigt ist, seine Aufmerksamkeit auf ein
engeres Gebiet zu konzentrieren. Dadurch aber schafft sich der Einzelne,
ohne es direkt zu beabsichtigen, ganz von selbst seinen eigenen engeren
Erfahrungskreis, in den die Kollektivvorstellungen gleichsam gar nicht
hineinreichen. Da jeder solche Beobachtungen bei der Arbeit selbst
macht und sofort gewahr wird, daß er dadurch in seiner Arbeit ge-
fördert wird, so tritt der Gedanke an Geister und Dämonen zurück
und der Mensch lernt auf diesem Wege zum erstenmal die Tatsachen
selbst rein objektiv beobachten, um diese Beobachtungen sofort für
seine Arbeit zu verwerten. Dadurch erfährt nun gleichzeitig der
Intellekt eine wesentliche Stärkung gegenüber den im Zustande der
sozialen Gebundenheit vorherrschenden affektiven, emotionalen und
triebartigen Elementen, und es vollzieht sich zugleich mit der
durch die Arbeitsteilung eingeleiteten Verselbständigung des Einzel-
menschen auch eine Intellektualisierung der Seele.
Dieser merkwürdige Zusammenhang zwischen Erkenn tnis-
e n t w i c k 1 u n g und Gesellschaftsentwicklung muß
nun genauer untersucht werden. Jedenfalls wird durch diese sozio-
logische Entdeckung der Glaube an eine zeitlose, unveränderliche
logische Struktur der menschlichen Vernunft, die jeder Erfahrung und
jeder Erkenntnis gleichsam ihren Stempel aufdrückt, oder gar, wie
die Aprioriker meinen, Erfahrung erst möglich macht, stark erschüttert.
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 289
Hat uns doch Levy-Brühl in seinen beiden Büchern gezeigt, daß die
Geistesart der Primitiven nicht bloß mystisch (Glaube an Geister),
sondern auch p r ä 1 o g i s c h, das heißt für das Gesetz des Wider-
spruches ganz unempfindlich ist. Der Mensch hat erst durch seine
Befreiung von der sozialen Gebundenheit theoretisch denken gelernt
und infolge dieser Erstarkung des Intellekts ist die Wissen-
schaft überhaupt erst möglich und dann wirklich geworden.
Damit sind nun wichtige und wesentlich neue Gesichtspunkte
gegeben, von denen aus sich ein vertieftes Verständnis für die Ent-
wicklung und auch für die Geltung der menschlichen Erkenntnis ge-
winnen läßt. Wenn es auch heute noch nicht möglich ist, den ganzen
Verlauf dieses Prozesses im einzelnen zu verfolgen, so geben uns doch
die oben dargelegten soziologischen Grundeinsichten die Mittel an
die Hand, bestimmte und deutliche Richtlinien zu ziehen. Um diese
zu finden, müssen wir zunächst die Kollektivvorstellungen,
in denen wir die ursprüngliche Reaktion des menschlichen Bewußtseins
auf die Vorgänge der Umgebung vor uns haben, einer psychologischen
Zergliederung unterziehen.
Da wäre denn zunächst zu sagen, daß die Kollektivvorstellungen
der Primitiven nicht als Vorstellungen in dem Sinne betrachtet
werden dürfen, in welchem die moderne Psychologie das Wort ge-
braucht. „Man muß," sagt Levy-Brühl, „unter dieser Form der gei-
stigen Betätigung der Primitiven nicht ein bloßes Verstandesphänomen
oder eine bloße Erkenntnis verstehen, sondern ein komplizierteres
Phänomen, in welchem das, was für uns eigentlich Vorstellung ist,
noch mit anderen Elementen von emotionellem oder motorischem
Charakter vermischt, gefärbt, durchdrungen ist, und welches infolge-
dessen ein anderes Verhalten hinsichtlich der vorgestellten Gegenstände
mit sich bringt" *).
Versuchen wir nun, von den gefühls- und triebartigen Elementen
der Kollektiworstellungen einmal abzusehen und den darin jedenfalls
mitenthaltenen intellektuellen Prozeß isoliert zu betrachten. Da finden
wir zunächst, daß die Kollektiworstellungen als Deutungen von
Vorgängen zweifellos Urteile sind. In diesen Urteilen sehen wir
überall die fundamentale Apperzeption in Tätigkeit. Es vollzieht sich
allenthalben die uns bekannte Gliederung in Kraftzentrum und Kraft-
äußerung. Daß als Kraftzentren so gut wie immer unsichtbare Mächte,
Geister und Dämonen betrachtet werden, hat gewiß in der seelischen
und in der sozialen Struktur der Primitiven seine Ursachen, die wir
allerdings heute noch nicht mit Sicherheit festzustellen vermögen. Mit
dieser Frage wollen wir uns auch jetzt nicht befassen.
Für unser Erkenntnisproblem ist es viel wichtiger, auf die
Zähigkeit und Festigkeit zu achten, mit der die in den
Kollektivvorstellungen enthaltenen Urteile von allen Stammesgenossen
für wahr gehalten werden. Wir haben die deutlichsten Beweise dafür,
daß sich dieselben Deutungsarten, derselbe Glaube an die fort-
währenden Einwirkungen von Geistern, Dämonen oder Zauberern in
*) Levy-Brühl, „Das Denken der Naturvölker". Deutsche Ausgabe (ll>21).
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
290 Soziologie und Gesch-chtsphilosophie
den verschiedensten Teilen der Erde durch lauge Zeitperioden hindurch
unverändert erhalten haben. Die Forschungsreisenden und besonders
die Missionäre berichten übereinstimmend, wie vergeblich ihre Be-
mühungen waren, die I. ingeborenen von ihrem „Aberglauben'4 ab-
zubringen und sie zu veranlassen, an natürliche Ursachen der Vor-
gänge zu glauben. So sind die Primitiven, um nur ein Beispiel zu
zitieren, jedesmal, wenn eine Frau beim Baden oder beim Wasserholen
von einem Krokodil verschlungen wird, fest davon überzeugt, daß
das Krokodil von einem Zauberer zu dieser Tat bestellt war, oder
daß sich der Zauberer selbst in das Krokodil verwandelt habe, um
seinen böswilligen Anschlag auszuführen. Levy-Brühl hat in seinem
kürzlich erschienenen zweiten Werk über die Oeistesart der Primitiven
eine ganze Reihe von Belegen dafür zusammengestellt („La mentalite
primitive", S. 37 ff. Paris 1922).
Dieser unerschütterliche Glaube an die Existenz und an die
Wirksamkeit von Wesen, die doch ursprünglich nur Geschöpfe der
Phantasie gewesen sein können, ist gewiß auf verschiedene Ursachen
zurückzuführen, die in ihrer Gesamtheit jedenfalls sehr schwer fest-
zustellen sein dürften. Wir wollen deshalb hier nur auf eine dieser
Ursachen hinweisen, die in einem Vorgange besteht, den wir heute
noch vielfach beobachten können.
Sicher ist, daß sich die Stammesgenossen in dem Glauben an die
Allgegenwart der Geister und Dämonen gegenseitig bestärken. Schon
dadurch allein erhalten aber diese Schöpfungen der Phantasie Realität
und Festigkeit. Diesen Prozeß der gegenseitigen Bestärkung sehen wir
nicht bloß bei den Primitiven, sondern auch auf höheren Stufen der
Kulturentwicklung und sogar heute noch in unserem täglichen Leben
in voller Wirksamkeit. In einem Aufsatz: „Die Soziologie des Er-
Icennens", den ich im Jahre 1909 in der Zeitschrift „Die Zukunft"
veröffentlichte, habe ich für diese durch gegenseitige Bestätigung und
Bestärkung entstandenen und befestigten Glaubensgebilde den Aus-
druck „soziale Verdichtung" vorgeschlagen. Die Bedeutung
und Wirksamkeit solcher „Verdichtungen" läßt sich nun auf ver-
schiedenen Lebensgebieten verfolgen. Man sieht dabei ganz deutlich,
wie stark der Erkenntnisprozeß durch das menschliche Zusammenleben
beeinflußt wird.
Am deutlichsten zeigt sich die Bedeutung der sozialen Ver-
dichtungen auf dem Gebiete der religiösen Glaubens-
vorstellungen. Stellen wir uns vor, daß unter den Griechen
zuerst ein Einzelner die Phantasievorstellung sich bildete, die Sonne
sei ein Wagen mit zwei Pferden, den der Sonnengott lenkt. Wenn
dieser Einzelne sein Phantasiebild für sich behält, so ist es nicht mehr
als eine Seifenblase, die bald spurlos vergeht. Erst wenn er seiner Idee
Worte leiht, wenn andere Ähnliches sich vorgestellt haben und ihm
infolgedessen zustimmen, dann bekommt die Vorstellung von Helios
und seinem Wagen eine gewisse Festigkeit, die ihre Erhaltung und
Fortpflanzung ermöglicht. Alle Göttergestalten, die von Indern,
Persern, Ägyptern, von Babyloniern und Griechen, von Römern,
Germanen, Kelten und Slawen jemals angebetet wurden, sind soziale
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 291
Verdichtungen von Phantasieerlebnissen, die eben durch den Prozeß
der Verdichtung Festigkeit und Dauer erlangt haben. Noch deutlicher
als bei der Entstehung der Göttergestalten tritt die Bedeutung der
sozialen Verdichtung beim Seelen- und Ahnenkult zutage.
Der Glaube an das Fortleben der Seelen nach dem Tode wird durch
keine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung gestützt. Man hat deshalb
den Ursprung dieses Glaubens in den Traumerlebnissen
gesucht. Nun wissen wir, daß Kinder oft das, was sie im Traume
sehen, als etwas tatsächlich Erlebtes empfinden und die im Traume
wahrgenommenen Dinge für durchaus real und wirklich halten. Wir
dürfen deshalb auch bei Primitiven dieselbe Deutung der Träume
erwarten. Stellen wir uns nun vor, daß etwa der Häuptling eines
Stammes im Kampfe gefallen sei. Wahrscheinlich wird mancher
Stammesgenosse in der nächsten Nacht von diesem bedeutsamen
Ereignis träumen. Jeder Einzelne betrachtet diesen Traum als ein
wirkliches Erlebnis und glaubt, der Verstorbene sei ihm im Traume
leibhaft erschienen. Würde er nun von diesem Ereignis nicht weiter
sprechen, so hätte er es bald vergessen, und das Traumerlebnis hätte
dann keine weiteren Folgen. Der starke Gefühlseindruck, den solche
Träume in der Regel mit sich bringen, wird aber zweifellos die Ein-
zelnen veranlassen, einander ihre Träume mitzuteilen. Dadurch be-
kommt nun die Erscheinung des Häuptlings eine weit stärkere Realität
und Festigkeit. Die gegenseitigen Bestätigungen bestärken die Stammes-
genossen in dem Glauben, daß der Tote in ihrer Nähe weilt, und
daß er an ihren Geschicken teilnimmt. Der Hingeschiedene ist noch
da, er kann nützen und schaden, und so empfiehlt es sich, ihm
Dienste zu erweisen. Der so entstandene Seelen- und Ahnen-
kult, den wir meist bei Völkerstämmen finden, die bereits die ganz
primitive Entwicklungsphase überwunden haben, und der heute noch
in den verschiedensten Formen sich auch bei Kulturvölkern erhalten
hat, beruht also in letzter Linie auf sozialen Verdichtungen. Ohne
die gegenseitigen Bestätigungen und Bestärkungen könnten weder die
Göttergestalten noch die Seelen der Verstorbenen die Festigkeit und
die Wirksamkeit erlangen, die sie tatsächlich im Glauben der Menschen
so lange Zeit hindurch besessen haben und zum Teil noch besitzen.
Dasselbe aber, was wir hier für die Naturreligionen konstatiert haben,
vollzieht sich auch bei den Religionssystemen, die von einzelnen hervor-
ragenden Persönlichkeiten gestiftet wurden. Buddhas und Moham-
meds Visionen werden zu wirkenden Kräften erst dadurch, daß ihre
Anhänger und Jünger diese Visionen zu sozialen Verdichtungen aus-
gestaltet und verfestigt haben.
Die soziale Verdichtung vermag also seelischen Gebilden, die
der Phantasie, dem Traumleben, der Vision ihren Ursprung verdanken,
einen hohen Grad von Festigkeit und wirksame Dauer zu verleihen.
Die Urteile, zu denen solche Vorstellungen Anlaß geben, werden von
großen Menschengruppen vieler Generationen für wahr gehalten und
zur Richtschnur ihres Handelns genommen.
Man könnte aus den bisherigen Darlegungen leicht den Eindruck
gewinnen, daß die sozialen Verdichtungen hauptsächlich die Wirkung
I"-
292 Soziologie und Geschichtsphilosophie
haben, daß sie den Glauben an Geister und Dämonen und an sonstige
Gebilde der Phantasie befestigen und dauernd machen. Sie wären
dann mehr ein Hindernis, ein Hemmschuh der objektiven Tatsachen-
erkenntnis und eine Stütze des Irrtums und Aberglaubens. Wir werden
aber gleich sehen, daß das durchaus nicht der Fall ist. Die sozialen
Verdichtungen nehmen vielmehr auch in den ganz konkreten Er-
fahrungen des täglichen Lebens und in den darauf gegründeten Ur-
teilen, sowie in den daraus sich ergebenden Maßnahmen einen sehr
breiten Raum ein. Sie sind vielfach eine Vorbereitung der streng
objektiven Erkenntnis und dienen ebenso zur Verfestigung von Wahr-
heiten wie zu der Aufrechterhaltung von Irrtümern. Sie beweisen aller-
dings auch den ursprünglich aktivistischen und biologisch bedeutsamen
Charakter der Denkvorgänge. Das soll sofort klar werden.
Wir denken in „Begriffen", und das charakteristische Merk-
mal des Begriffes ist seine Allgemeinheit, sein repräsentativer
Charakter. Der Begriff „Mensch" repräsentiert in unserem Denken
alle Menschen, weil darin die Merkmale, die allen Menschen gemein-
sam sind, in einer idealen Einheit zusammengefaßt werden. Man
hat oft gefragt, auf welchem Wege wir die Fähigkeit erlangt haben,
so viele Einzeldinge in einem einzigen Denkakt zusammenzufassen.
Die Antwort auf diese Frage habe ich in der dritten (ganz neu be-
arbeiteten) Auflage meines Lehrbuches der Psychologie (1902) zum
erstenmal gegeben. Die dort vorgetragene Theorie der „typischen
Vorstell unge n", die in den folgenden Auflagen des Lehrbuches
(7. Aufl., 1921) unverändert wiederholt wurde, gibt die Lösung des
von Psychologen und Logikern vielfach erörterten Problems der
Allgemeinheit.
Wegweisend war für mich dabei die biologische Be-
trachtungsweise des menschlichen Seelenlebens, die sich als heu-
ristisches Prinzip oft so glänzend bewährt. Für den Primi-
tiven sind wie für das ganz kleine Kind die Dinge der Umwelt noch
nicht selbständige, in ihren Einzelheiten interessierende Gegenstände;
sie sind vielmehr bloß Anlässe zu Angriffs- und Abwehrbewegungen.
Was keine solche Reaktion hervorruft, ist auf dieser Entwicklungsstufe
für das Bewußtsein einfach nicht vorhanden. Wenn wir diese Tatsache
vom Standpunkt unseres voll entwickelten Bewußtseins klar formulieren
wollen, so können wir sagen : Dem primitiven Menschen kommen nur
die biologisch bedeutsamen Merkmale der Dinge zum Bewußtsein.
Das heißt: Im Urzustand bemerkt der Mensch nur das, was unmittel-
bar in, t -einer Lebenserhaltung zusammenhängt. Auf diese Merkmale
muß er jedoch infolge seines Selbsterhaltungstriebes seine Aufmerksam-
keit konzentrieren, und eben dadurch werden alle Dinge, die die-
selben biologisch bedeutsamen Merkmale aufweisen, zu einer Einheit
zusammengefaßt. Den Inbegriff der biologisch bedeut-
samen Merkmale eines Dinges oder einer Gruppe von Dingen
nenne ich nun die typische Vorstellung dieses Dinges oder
dieser Gruppe. Die typischen Vorstellungen sind anschaulich lebendig
und haben zugleich repräsentativen Charakter. Alle Dinge
nämlich, die die gleichen biologisch bedeutsamen Merkmale an sich
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 293
haben, veranlassen mich zu den gleichen Reaktionen. „Worauf in
gleicher Weise reagiert wird, das gehört unter einen Begriff", sagt
sehr richtig Ernst Mach (Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl. S. 416).
Wie ich jetzt sehe, haben die so entstandenen typischen Vorstellungen
auch eine sehr wichtige soziale Funktion. Sie stellen mit ihren
eingeübten Reaktionstendenzen die Höhe der Anpassung an die Durch-
schnittsumgebung dar, zu der es die Gruppe bis dahin gebracht hat.
Sie sind soziale Verdichtungen, durch die das in ihnen enthaltene
Biologisch-Allgemeine verfestigt wird.
Einen wichtigen Schritt in der Weiterentwicklung des begriff-
lichen Denkens bedeutet die Entstehung der Sprache. Dadurch,
daß gleiche oder doch ähnliche Dinge mit demselben Namen bezeichnet
werden, erhalten die gemeinsamen Merkmale dieser Dinge eine viel
konzentriertere Zusammenfassung. Das Wort gibt diesen Gemeinsam-
keiten gleichsam einen Körper, einen Kristallisations-
punkt. Es wird dadurch möglich, die Erfahrungen, die man an
den Dingen macht, im Wort ökonomisch aufzuzeichnen und zur Ver-
wertung bereitzuhalten. Die so entstandenen Wortbegriffe ent-
halten nun wieder einen sehr bedeutsamen sozialen Faktor in sich.
Alle Sprachgenossen verstehen das Wort und gebrauchen es in ähn-
licher Weise. Die im Wort verdichteten Erfahrungen sind also ein
Gemeingut der Sprachgenossen, und jeder Einzelne hat Anteil daran.
Auch die Wortbegriffe sind soziale Verdichtungen und das verleiht
ihnen ihre Festigkeit, ihre Dauer und ihre Wirksamkeit.
Die soziologische Betrachtung des Erkenntnisprozesses hat also
bisher folgendes ergeben. Die gewöhnliche Auffassung der Psycho-
logen, wonach wir von konkreten und individuellen Wahrnehmungen
zu vagen Allgemeinvorstellungen und von da zu streng logischen
Begriffen aufsteigen, entspricht keineswegs dem wirklichen Gang der
Entwicklung. Die Erkenntnis der Dinge in unserer Umgebung
beginnt vielmehr mit sozialen Verdichtungen, wie sie in den typischen
Vorstellungen und dann in den Wortbegriffen sich ausprägen Zur
präziseren Erfassung der einzelnen Dinge und Vorgänge gelangt
der Mensch erst dann, wenn er sich von der sozialen Gebundenheit
loszulösen und sich zu einer selbständigen und eigenkräftigen Per-
sönlichkeit auszugestalten begonnen hat. Zur Erkenntnis dessen, was
wir im strengen Sinne des Wortes „Tatsache" nennen, das heißt eines
individuell bestimmten und individuell gefärbten Einzelvorganges,
gelangt der Mensch erst durch den Prozeß der Individualisierung,
der Loslösung von der Gruppe, der Verselbständigung.
Dieser Prozeß der Individualisierung vollzieht sich selbstver-
ständlich nicht auf einmal, sondern langsam und allmählich in vielen
Zwischenstufen. Wir sind heute noch nicht in der Lage, die einzelnen
Phasen dieser Loslösung und die damit verbundenen seelischen Wir-
kungen lückenlos darzustellen. So viel aber können wir jetzt schon
sagen, daß die individualistische Entwicklungsten-
denz und der von ihr ausgelöste Befreiungskampf der
Persönlichkeit, dessen starke Einwirkungen auf die Gesetz-
gebung aller Staaten wir oben kennen gelernt haben, auch für die
_>u i Soziologie und Geschichtsphilosophie
Entfaltung unseres Erkenntnisvermögens und für die
I iestaltung unseres Weltbildes von einer bisher kaum geahnten
Bedeutung geworden ist. Der selbständig gewordene Einzel-
mensch lehnt sich nicht nur gegen die überlieferten Glaubenssätze
und gegen veraltete Rechtsbestimmungen auf. Er will sich auch in
der Erkenntnis- und Erfahrungswelt von den Banden der sozialen
Verdichtungen befreien. Er will nicht mehr die überlieferten Mei-
nungen über die Dinge, sondern die Dinge selbst kennen lernen.
Wahr ist jetzt für das eigenkräftig gewordene Individuum nicht mehr
das, was alle glauben, sondern das, was durch Beobachtung und
Messung an den Dingen selbst festgestellt ist. Daß hier ein Zu-
sammenhang zwischen sozialer und intellektueller Ent-
wicklung vorliegt, zeigt sich schon darin, daß in den Geschichts-
perioden, in denen die individualistische Entwicklungstendenz be-
sonders deutlich zutage trat, daß da auch die exakte Tatsachen-
forschung am meisten geblüht hat. In der hellenistischen Zeit, wo
Stoiker, Epikureer und Skeptiker den Individualismus pflegen, finden
wir den Physiker Archimedes, die Geographen Eratosthenes und
h'ipparch und ebenso die exakten Philologen Aristarch und Zenodot
an der Arbeit. Aus der Renaissanceperiode, der klassischen Epoche
des Individualismus, gehen die großen Tatsachenforscher Galilei,
Kepler, Huyg/iens, Stevin, Boyle, Harvey und Newton hervor. Ebenso
fallen in die Zeit der individualistischen Aufklärungsphilosophie des
achtzehnten Jahrhunderts die Entdeckungen Lavoisiers, üalvanis,
Voltas und anderer. Das kann kein Zufall sein.
Allein selbst abgesehen von diesem historischen Zusammentreffen
haben wir auch von innen her den Zusammenhang von Tatsache
und Individuum auf der einen und den zwischen sozial und
allgemein auf der anderen Seite kennen gelernt. Wir müssen
aber gleich hinzufügen, daß diese überaus komplizierten Beziehungen
zwischen Erkenntnisentwicklung und Gesellschaftsentwicklung zweifel-
los vorhanden sind, aber noch weit genauer untersucht werden müssen,
als dies heute schon möglich ist. Einiges läßt sich allerdings darüber
auch jetzt schon sagen.
Durch die Arbeitsteilung und die damit verbundene soziale
Differenzierung wird der einzelne Mensch zwar selbständiger und
denkfähiger, er wird aber auch einseitiger und infolgedessen
wiederum abhängiger von dem Gemeinwesen, in welchem und für
welches er tätig ist. Er kann von seiner spezialisierten Arbeit nur
dadurch leben, daß er die Produkte seiner Tätigkeit gegen das, was
er zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse benötigt, einzutauschen
vermag. Das ist aber nur in einem organisierten Gemeinwesen möglich
und deshalb hat auch der sozial differenzierte und innerlich selb-
ständig gewordene I inzelmensch ein Interesse an der Erhaltung
der staatlichen Gemeinschaft, die ihm die Befriedigung seiner wich-
tigsten Lebensbedürfnisse möglich macht. Infolgedessen bleibt neben
der individualistischen Entwicklungstendenz die in der primitiven
Menschengruppe allein herrschende sozial-autoritative
Tendenz auch in den komplizierter gewordenen Organisationen weiter
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 2Q5
bestehen. Der Staat fordert das innerlich reicher und reifer gewordene
Individuum immer wieder in seine Dienste zurück. Dieses Zusammen-
wirken der beiden antagonistischen Entwicklungstendenzen macht sich
nun nicht bloß im politischen und im wirtschaftlichen Leben, sondern
auch beim Fortschreiten der Erkenntnis deutlich bemerkbar.
Die mit der Individualisierung Hand in Hand gehende Erstarkung
des Intellekts geht doch niemals so weit, daß das Denken die
Alleinherrschaft in der Seele gewinnen könnte. Gefühle
und Triebe behalten auch beim hochentwickelten und wissenschaftlich
geschulten Kulturmenschen der Gegenwart ihre bewegende Kraft.
Sie bilden trotz aller Intellektualisierung immer noch den seelischen
Unterbau und geben - oft unbewußt — dem Denken Richtung
und Ziel. Sehr treffend sagt Levy-Briihl am Schlüsse seines Buches
über das Denken der Naturvölker, daß die logische Geistesart niemals
die Universalerbin der prälogischen Geistesart werden kann. (Deutsche
Ausgabe, S. 343.) Ebenso bleibt auch der scheinbar ganz unabhängig
gewordene Denker doch immer noch im Banne von sozialen Verdich-
tungen, von deren Einfluß er sich niemals ganz zu befreien vermag.
Wir entscheiden uns im Leben fast immer auf Grund von größerer
und geringerer Wahrscheinlichkeit und können so gut wie niemals
das Eintreten voller mathematischer Gewißheit abwarten. Dabei ist
aber der Umstand, daß auch andere so denken und handeln, von der
allergrößten Bedeutung, und darin zeigt sich die Wirkung der sozialen
Verdichtungen, unter deren Einfluß wir heute noch stehen. Unsere
Urteile über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Genusses von
Alkohol, des Rauchens, der verschiedenen Arten von Sport sind nur
selten das Ergebnis selbständiger Überlegungen, sondern beruhen
meistens auf sozialen Verdichtungen, die in solchen Dingen unser
Meinen und unser Tun bestimmen. Selbst wissenschaftliche Theorien
sind zum nicht geringen Teile durch Tradition fortgepflanzte soziale
Verdichtungen, die neuen Anschauungen gegenüber sich oft als schwer
zu besiegender Widerstand geltend machen. Das Phlogiston, die
Fernwirkung, der Horror vacui sind bekannte Beispiele dafür.
Dazu kommt noch ein anderes Moment. Auch das rein theo-
retische Denken behält die allem Seelischen gemeinsame, ursprünglich
aktivistische Tendenz bei, das heißt, daß unser Intellekt in
erster und in letzter Linie dazu bestimmt ist, Richtlinien für unser
Handeln zu ziehen. Alle Wissenschaften sind aus praktischen Be-
dürfnissen hervorgegangen und das letzte Ziel aller Wissenschaft
wird es immer sein und bleiben müssen, das Leben der Menschheit
inhaltsvoller und glücklicher zu gestalten. Wenn nun der einzelne
Denker eine neue Wahrheit ganz allein gefunden zu haben glaubt
und ihre objektive Gültigkeit nicht durch Berufung auf die Zustimmung
anderer, sondern durch das Eintreffen der Voraussagen ganz un-
widerleglich bewiesen hat, so mag er getrost diese Entdeckung
seinem Scharfsinn, seinem Fleiß, kurz, nur sich selbst zuschreiben.
Zur wirksamen Macht kann aber die neue Wahrheit doch nur dadurch
werden, daß sie von der Gesamtheit anerkannt und in die Tat um-
gesetzt wird. Auch ganz individuell entdeckte, streng objektiv be-
29o Soziologie und Geschichtsphilosophie
gründete Wahrheiten müssen also zu sozialen Verdichtungen werden,
wenn sie Festigkeit und Wirksamkeit erlangen sollen.
Je genauer wir nun dieses Zusammenwirken der beiden Entwick-
lungstendenzen zu verfolgen versuchen, desto komplizierter erscheint
der Erkenntnisprozeß. Es wird aber auch immer deutlicher, daß nur
die soziologische Betrachtungsweise die gewünschte Klarheit und
Einsicht zu bringen vermag. Hier ist ein großes, neues Feld für
fruchtbare Untersuchungen eröffnet. Auf einige, allerdings nur
ganz allgemein gefaßte Beziehungen zwischen den beiden sozialen
Strömungen und der Erkenntnisentwicklung konnten und können wir
heute schon hinweisen, müssen aber immer wieder betonen, daß das
meiste auf diesem Gebiete der künftigen Forschung vorbehalten bleibt.
Die kollektiven Vorstellungen oder, wie wir statt dessen jetzt auch
sagen können, die sozialen Verdichtungen zeitigen und festigen den
Glauben an unsichtbare Geister und Dämonen, die den Naturlauf
und das Menschenschicksal bestimmen. Der durch die soziale Differen-
zierung erstarkte Intellekt der selbständig gewordenen Individuen,
welche die Fähigkeit erlangt haben, durch eigene Beobachtung Tat-
sachen objektiv zu konstatieren, ist mit steigendem Erfolge bemüht,
diese Gebilde der primitiven Phantasie aus unserem Weltbilde zu
eliminieren und natürliche Ursachen an ihre Stelle zu setzen. Voll-
ständig ist es allerdings der durch die individualistische Entwicklungs-
tendenz möglich und wirklich gewordenen Wissenschaft noch keines-
wegs gelungen, den Glauben an übersinnliche geistige Mächte in
unseren Seelen zum Erlöschen zu bringen, und es ist sehr die Frage,
ob ihr das jemals gelingen kann. Die fundamentale Apperzeption
stützt diesen Glauben, und vielleicht kann eine auf diesem Gedanken
aufgebaute Metaphysik zu einer geläuterten Religion führen, die in
uns die Überzeugung festigt, daß der Glaube der Primitiven die un-
entwickelten Keime einer großen objektiven Wahrheit in sich enthält.
Für unsere praktische Lebensanschauung und in bezug auf die
Deutung der Vorkommnisse des täglichen Lebens sind wir über diese
gefühls- und phantasiemäßige Auffassung der Naturvorgänge doch
hinausgekommen und der intellektuell erstarkte Einzelmensch hat
dieses in den sozialen Verdichtungen der Urzeit entstandene Hemmnis
des Naturerkennens allmählich überwunden.
Die sozialen Verdichtungen wirken aber keineswegs bloß hemmend.
In den typischen Vorstellungen und in den Wortbegriffen haben die
Primitiven schon vor der sozialen Differenzierung, jedenfalls aber
noch vor dem Auftreten selbständiger Persönlichkeiten bereits einen
Rahmen geschaffen, durch welchen in das Chaos der auf den
Menschen einstürmenden Eindrücke bereits eine gewisse Ordnung
hineingebracht wurde. Die durch das Hervortreten selbständig
denkender Einzelmenschen geschaffene Wissenschaft behält diesen
Rahmen zunächst bei und sucht ihn nur ökonomischer auszu-
gestalten, so daß er den genauer erforschten Tatsachen und Gesetzen
immer besser entspricht. Man kann das an den Klassifikationen der
Tiere, der Pflanzen, der Seelenvermögen, der Künste und der Wissen-
schaften von Piaton bis zur Gegenwart verfolgen und muß oft darüber
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 297
staunen, wie lange es bisweilen dauert, bevor der ganz entsprechende
Rahmen gefunden und konstruiert ist. Es wäre sehr reizvoll, dieses
Zusammenwirken der sozialen Verdichtungen mit der fortschreitenden
Tatsachenerkenntnis, die durch die Einzelforschung gewonnen wird,
auf den verschiedenen Wissensgebieten durch die Jahrhunderte hin-
durch zu verfolgen. Dazu reichen allerdings die bisher gesammelten
Daten noch nicht aus.
Die individualistische Entwicklungstendenz hat ferner — und
das ist bisher fast gar nicht beachtet worden — dem Denken und
Forschen ein ganz neues Gebiet erschlossen, das im Zustande der
sozialen Gebundenheit überhaupt noch nicht zum Gegenstand der
Reflexion gemacht werden konnte. Das ist das eigene Seelen-
leben des Menschen, in das sich zu versenken erst die zur
vollen Selbständigkeit erstarkte Persönlichkeit die Fähigkeit und das
Bedürfnis bekommen konnte.
Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, daß durch die soziale
Differenzierung und die daraus hervorgehende Ausbildung eigen-
kräftiger Persönlichkeiten das seelische Inventar der Menschheit in
geradezu unabsehbarer Weise bereichert worden ist. Wie wahr das ist,
sehen wir erst jetzt. Der zur Selbständigkeit erstarkte Einzelmensch
hat durch seine Loslösung vom engen Verbände seiner Gruppe nicht
nur die Fähigkeit erlangt, Tatsachen rein objektiv zu beobachten und
überhaupt theoretisch zu denken, er hat auch zuerst die eigene
Seele entdeckt, und wurde dadurch, wie es Schüler so schön
ausdrückt, „reich durch Schätze, die lange Zeit sein Busen ihm
verschwieg".
Von dem großen Befreiungskampf, den das selbständig gewordene
Individuum gegen jede Art von Bevormundung durch den Staat,
gegen jede ungerechte Hemmung der freien Entfaltung seiner Fähig-
keiten, gegen jede Art von Vergewaltigung und schließlich auch
gegen jede Verletzung der Menschenwürde durch Jahrtausende hin-
durch geführt hat und heute noch weiter führt, haben wir oben bereits
gesprochen. Diese im Wesen der individualistischen Entwicklungs-
tendenz begründete Kritik der Überlieferung führt nun
ganz von selbst zum tiefen Hineinschauen in die eigene Seele. Man
bekämpft die überkommenen Glaubensvorstellungen, weil sie der er-
starkten eigenen Vernunft widersprechen, man lehnt sich gegen die
herrschende Rechtsordnung auf, weil sie mit dem verfeinerten Gewissen
im Widerspruch steht. Dabei wird man sich seines eigenen Denkens
und Fühlens immer deutlicher bewußt und entdeckt in seinem Innern
eine neue Welt,
Zwei Gestalten der älteren griechischen Philosophie sind besonders
geeignet, diesen bisher fast gar nicht beachteten Zusammenhang
zwischen Individualismus und Psychologie zu illu-
strieren. Heraklit aus Ephesus, der „dunkle" Philosoph, war mit seiner
Vaterstadt zerfallen und hat sich nach alter Überlieferung ganz in
die Einsamkeit des Waldgebirges zurückgezogen. Dieser von seiner
Vaterstadt losgelöste Denker, der seine Mitbürger heftig schilt, also
ein durchaus individualistisch gerichteter Kopf, sagt uns nun ganz
20s Soziologie und Geschichtsphilosophie
ausdrücklich: „Ich habe mich selbst erforscht" (Eragm. 10, Diels).
Bei dieser tiefen Selbstschau hat er nun Blicke in die eigene Seele
getan, die uns heute noch wegen ihrer packenden Wahrheit in Er-
staunen versetzen. „Der Seele Grenzen", sagt er uns, „kannst du nicht
ausfinden, und wenn du jegliche Straße abschreitest, so tiefen Grund
hat sie" (45). f r weiß ferner, daß „in der Seele eine Vernunft wohnt,
die sich selbst vermehrt" (115). Sokrates war ein Zeitgenosse
und in gewissem Sinne auch ein Vertreter der griechischen „Auf-
klärung4', also eines Zeitalters, in welchem die individualistische
Entwicklungstendenz deutlich zutage trat. Er selbst ist in vielen
Beziehungen das, was wir heute einen „Eigenbrötler" nennen. Er
übt an manchen politischen Institutionen Athens, z. B. an der Wahl
der Beamten durch das Los, entschiedene Kritik, und verlangt, daß
man sich nicht nach der Meinung der „Vielen" richte. Von den natur-
philosophischen Spekulationen hat er sich abgewendet und für sich
den Beruf erwählt, seine Mitbürger zur sittlichen Selbstbesinnung an-
zuregen. Dazu aber hält er eine tiefe Selbstschau für unerläßlich
und so wählt er das delphische Gebot: „Erkenne dich selbst" ( fvftft»
seaoteJv) zum Kennwort seines Lebens. Er ist mit aller Kraft bemüht,
sich Klarheit über sich selbst, über sein Wissen und besonders über
sein Nichtwissen zu verschaffen.
Aus dieser Wendung nach inne n, die durch die individua-
listische Entwicklungstendenz möglich gemacht und hervorgerufen,
aber auch durch die immer größer werdende Kompliziertheit der
politischen und wirtschaftlichen Organisation des menschlichen Zu-
sammenlebens nahegelegt wurde, entstand nun jener Übergang vom
Individualismus zum Universalismus und zum Kosmo-
politismus, dessen soziologische Wirkungen wir oben dargestellt
haben. Die ganz ungewöhnlich große Bedeutung dieses von mir
gefundenen soziologischen Gesetzes für die Entwicklung, für die
Bewertung und für die Geltung der menschlichen Erkenntnis läßt sich
heute noch nicht erschöpfend darstellen. Dazu bedarf es noch ein-
gehender und umfassender Forschungen. Indessen scheint es doch
jetzt schon möglich, auf einige der allerwichtigsten Ergebnisse hin-
zuweisen.
Zunächst sieht man, daß die Idee der ganzen Menschheit
als einer großen Einheit und der damit eng zusammenhängende
Gedanke der allgemeinen Menschlichkeit oder H u m a-
n i t ä t ein Produkt der sozialen Entwicklung sind und eben diesem
Übergang vom Individualismus zum Universalismus ihr Entstehen
verdanken. Man darf also keineswegs mehr behaupten oder still-
schweigend voraussetzen, daß diese Ideen zum Urbesitz des Menschen-
geistes gehören. Sie sind durchaus nicht das, was Adolf Bastian
„Elementargedanke n" genannt hat, sondern zeitlich ent-
standene E n t w i c k 1 u n g s p r o d u k t e. Wir sind sogar in der
Lage, die Zeit chronologisch zu bestimmen, in welcher diese Ideen
im Abendland zuerst auftreten. Anklänge dazu finden sich schon
bei den älteren Sophisten. Spricht doch Hippias aus Elis in Piatons
Dialog „Protagoras" (c. 24) davon, daß alle Menschen von Natur
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 299
miteinander verwandt und verbrüdert sind. Eine alte Überlieferung
will wissen, daß schon Sokrates sich selbst als Weltbürger bezeichnet
habe. Sicher jedoch ist, daß der Kyniker Diogenes aus Sinope das
Wort und den Begriff des Weltbürgertums geprägt hat, und daß
dieser Gedanke von den Stoikern in ihre Lehre aufgenommen und
dort weiterentwickelt wurde. Hier erhält diese Idee einen starken
religiösen Einschlag, der ihr auch in der Folgezeit oft das
Gepräge gibt. Lebt doch der „Weise" nach der Lehre der Stoiker in
der großen Gemeinschaft der Götter und Menschen. In der mittleren
Stoa ist dann, wie oben bereits gesagt wurde (S. 184 f.), der Gedanke
der allgemeinen Menschlichkeit geschaffen worden, für
welchen im gebildeten Kreise des jüngeren Scipio zu Rom das schöne
Wort „Humanitas" geprägt wurde. Das Christentum bildet
dann den Gedanken der Menschenverbrüderung weiter und unternimmt
es, in der bewundernswerten Organisation der katholischen Kirche
diese Einheit zu verwirklichen. Auf die germanischen Völker hat die
Kirche zweifellos in hohem Grade erziehlich gewirkt und mehrere
Jahrhunderte hindurch tatsächlich einem nicht geringe« Teile der
Menschheit eine einheitliche Welt- und Lebensanschauung gegeben.
Allerdings ist in der strammen Organisation der Kirche die sozial-
autoritative Entwicklungstendenz zu kraftvollem Ausdruck ge-
kommen, die jede individuelle Abweichung von den festgelegten
Glaubenssätzen mit unnachsichtlicher Strenge bekämpfte und in diesem
Kampfe selbst vor grausamer Gewalt nicht zurückscheute. Dadurch
ist dann wieder die individualistische Gegenströmung erzeugt worden,
die sich in den beiden Geistesbewegungen, der Renaissance und der
Reformation, zur Geltung brachte. Vom sechzehnten Jahrhundert an-
gefangen gelangt nun die Verbindung von Individualismus und Uni-
versalismus zu immer deutlicherer und immer lebendigerer Auswirkung.
Auf dem Gebiete des Rechts- und Staatslebens, in der Entwicklung
des religiösen und des sittlichen Bewußtseins treten die Folgen dieses
Überganges deutlich zutage. Manches davon wurde bereits oben
erwähnt, auf vieles andere wird im nächsten Abschnitt über sozio-
logische Ethik hingewiesen werden. Dagegen liegen die Einwirkungen
auf die Erkenntnistheorie nicht so klar zutage und erschließen sich
erst dem soziologisch geschulten Blick.
Im sechzehnten Jahrhundert bildet sich schon bei den großen
Reformatoren, besonders bei Melanchthon, die Lehre vom natür-
lichen Licht der Vernunft (lumen naturale) aus. Im Be-
wußtsein der Evidenz, welche jedes richtige Rechnen und Schließen
begleitet, erweist sich dieses natürliche Licht als wirksam*). Auch der
Gottesglaube wird von den Reformatoren auf das „lumen naturale"
zurückgeführt, erfährt jedoch eine kraftvolle Bestätigung durch den
schon im Altertum, besonders von Cicero, hervorgehobenen „con-
sensus gentium", auf den sich die Reformatoren immer wieder berufen.
Sie verstehen darunter die bei allen Völkern der Erde festzustellende
*) Vgl. Dilthey, Ges. Schriften, 2. Bd., S. 172 ff., bes. S. 178.
300 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Übereinstimmung in dem Glauben an höhere Wesen, die die Welt
regieren und das Schicksal der Menschen bestimmen.
Diese Lehre vom „lumen naturale" und dem damit in Verbindung
gebrachten consensus gentium enthält in sich den Grundgedanken der
neueren Erkenntnistheorie. Ganz deutlich tritt darin die Verbindung
von Individualismus und Universalismus zutage. Die Berufung auf das
Gefühl der Evidenz, das alles richtige Rechnen und Schließen begleitet,
ist rein individualistisch gedacht, weil ja dieses Gefühl nur von jedem
Einzelnen in der Tiefe seines eigensten Bewußtseins erlebt werden kann.
Der Hinweis auf den consensus gentium enthält wieder den uni-
versalistischen Grundzug in voller Deutlichkeit ausgeprägt. Der
religiöse Einschlag, den die Verbindung des individualistischen
Denkens mit dem universalistischen bei den Reformatoren unverkennbar
an sich trägt, findet sich bei Descartes, bei Kant und seinen Nach-
folgern wieder. Dabei tritt jedoch der universalistische Charakter
der ganzen Denkweise so stark in den Vordergrund, daß es nur dem
soziologisch geschulten Betrachter gelingt, den individualistischen
Ursprung und Einschlag herauszufinden.
Wenn Descartes auf Grund seines methodischen Zweifels zu der
festen Überzeugung gelangt, daß er in der Tiefe seines eigenen Bewußt-
seins die Quelle ganz unbezweifelbarer Gewißheit und zugleich die
Gewähr seiner eigenen realen Existenz gefunden hat, so trägt dieser
ganze Gedankengang einen durchaus individualistischen
Charakter an sich. Descartes zweifelt aber keinen Augenblick daran,
daß diese innere Selbstgewißheit bei jedem Menschen sich geltend
machen müsse und so geht der individualistische Zug seines Denkens
ganz unmittelbar zu universalistischen, das heißt allgemein geltenden
Behauptungen über. Erst dadurch aber wird dieser Ausgang vom
eigenen Bewußtsein zur Grundlage der neuen Erkenntnistheorie.
Aus Kants kritischer Denkarbeit ist, wie wir bereits sagten,
einerseits der Phänomenalismus, anderseits der A p r i o r i s-
m u s hervorgegangen. Beide rücken durch die soziologische Be-
trachtungsweise in eine ganz neue Beleuchtung. Daß der Phäno-
menalismus auf individualistischer Grundlage aufgebaut ist, das
geht mit geradezu verblüffender Deutlichkeit daraus hervor, daß er,
konsequent zu Ende gedacht, mit unerbittlicher Denknotwendigkeit
zum Solipsismus, das heißt zur vollständigen Isolierung
des einzelnen Denkers führt. Durch den bloßen Hinweis
auf diese soziologische Unmöglichkeit ist meiner Überzeugung nach
die weitverbreitete philosophische Fabel von der Unwiderleglichkeit
des Solipsismus endgültig als solche erwiesen. Damit ist aber zugleich
die Unhaltbarkeit des Phänomenalismus dargetan.
Auch der Apriorismus ist seinem Ursprünge nach indi-
vidualistisch, weil er auf tiefgründiger Selbstschau beruht. Auf
diesem Wege hat Kant die logische Struktur der Vernunft in sich
entdeckt, zweifelt aber keinen Augenblick daran, daß sie jedem mensch-
lichen Bewußtsein, ja sogar jedem „Bewußtsein überhaupt" zu eigen
sei. Es liegt also im Apriorismus eine vollständige Durchdringung
von Individualismus und Universalismus vor, und das macht es vielen
§ 49. Soziologische Erkenntnislehre 301
so schwer, den individualistischen Ursprung des Apriorismus heraus-
zufinden und anzuerkennen. Tatsächlich liegt aber in dieser indi-
vidualistischen Herkunft der wahre Grund für die Unmöglichkeit, auf
dem Wege des Apriorismus zu einer befriedigenden Erkenntnistheorie
zu gelangen.
Der Glaube an eine ganz ursprüngliche und ewig unveränderliche
logische Struktur der menschlichen Vernunft verführt leicht zu der
Annahme, daß sich aus dieser uns einmal verliehenen Kraft des
Menschengeistes, aus diesem „lumen naturale'* durch reine Spekulation
ganz unabhängig von aller Erfahrung Einsichten in die letzten Dinge
und Wahrheiten von absoluter Geltung gewinnen lassen. Aus der in
unserer Seele liegenden Vernunft, die sich, wie das oben zitierte tief-
sinnige Wort Heraklits besagt, „selbst vermehrt", glaubt man Er-
kenntnisse herausspinnen zu können, die über das wahre Wesen der
Welt den höchsten und den tiefsten Aufschluß geben. Kant selbst hat
allerdings gegen diese spekulativen Anmaßungen mit aller Ent-
schiedenheit Verwahrung eingelegt, indem er immer wieder betont,
daß die Stammbegriffe des Verstandes, die Kategorien, nur auf Gegen-
stände möglicher Sinneswahrnehmungen dürfen angewendet werden.
Seine Nachfolger haben jedoch mit kühnem Wagemut diese von Kant
der Spekulation gesetzten Grenzen überschritten, und bei Hegel ist aus
der Kritik der reinen Vernunft eine Metaphysik des absoluten Geistes
geworden, die ganz unabhängig von jeder Erfahrung die tiefsten Auf-
schlüsse über das Wesen der Welt, über Göttliches und Menschliches
geben zu können vermeint. Gegen diese Vergewaltigung der Erfahrung
hat dann allerdings die aufblühende Naturwissenschaft Protest er-
hoben und das hat eine Zeitlang zur Verachtung aller Spekulation
geführt. Als nun die philosophische Selbstbesinnung wiederkehrte
und der Ruf „Zurück zu Kant\" ertönte, da zeigte es sich wieder,
daß die im Apriorismus enthaltene latente Metaphysik mit einer Art
von innerer Notwendigkeit, gleichsam von selbst zutage trat. Die
Vernunft, die bei Kant nur eine formende Funktion ausübt, wird
auf einmal schöpferisch. Das Denken erzeugt die Dinge,
und ein jüngerer Vertreter des Neukantianismus hat in der letzten
Zeit von einer „Metaphysik der Vernunft" gesprochen, die aus dem
kritischen Idealismus hervorgehen soll. Und die neueste Denkrichtung,
die auf den Bahnen des Idealismus wandelt, die „Phänomenologie",
die den Psychologismus, den Evolutionismus und jede Art von
Empirismus mit großer Entschiedenheit bekämpft, will wieder
durch tiefe Selbstschau zu einer „Wesensschau" gelangen
und auf rein spekulativem Wege absolute Erkenntnisse von höchster
Dignität zutage fördern. Der Begründer dieser Denkrichtung hat
sogar die Berechtigung des Überganges von individueller Selbstschau
zu allgemeingültigen Behauptungen dogmatisch behauptet. „Man
kann aber einsehen," sagt er einmal, „daß, was für ein Bewußtsein
klar ist, prinzipiell für jedes erkennbar sein muß."
Die soziologische Betrachtungsweise lehrt uns aber, daß in diesem
unmittelbaren Übergang vom Individualismus zum Universalismus
der so überaus bedeutsame soziale Faktor in der Erkenntnisentwicklung
3o2 Soziologie und Ocschichtspliilosophie
entweder ganz übersehen oder mit Bewußtsein ignoriert wird. Bleibende
und wirksame Erkenntnisse sind immer nur das Ergebnis steter
Wechselwirkungen /wischen den Geistern und erlangen erst durch
den oben beschriebenen Prozeß der sozialen Verdichtung die nötige
Festigkeit und damit zugleich ihre praktische Verwertbarkeit. Nicht
das subjektive Gefühl der Evidenz, nicht die innere Denknotwendigkeit
sind die wirklichen Kriterien der Wahrheit. Diese beruht vielmehr
immer nur auf allgemeiner und bewährter Erfahrung,
die es uns gestattet, die Zukunft vorherzusehen und vorauszusagen.
Evidenz und Denknotwendigkeit sind immer nur die Wirkungen
allgemeiner und bewährter Erfahrungen, wenn wir uns dessen auch
nicht immer bewußt sind. Das gilt sogar, wie ich anderswo gezeigt
habe, auch für die formale Logik*). Allgemeine und bewährte Er-
fahrung ist aber immer nur das Ergebnis gemeinsamer Arbeit
menschlicher Geister.
Die soziologische Erkenntnislehre sagt uns also, daß von einer
zeitlosen logischen Struktur des Menschengeistes, die sich immer gleich
bleibt, keine Rede sein kann. Wir wissen jetzt, daß das theoretische
Denken, das objektive Konstatieren von Tatsachen erst möglich wurde,
als sich der Mensch infolge der sozialen Differenzierung von der ur-
sprünglichen Gebundenheit befreit und sich zu einer eigenkräftigen
Persönlichkeit entwickelt hatte. Da erst vollzog sich die schon wieder-
holt erwähnte Intellektualisierung der Seele. Durch diesen Prozeß,
der sich immer weiter fortsetzt, wird dann die mystische und prä-
logische Geistesart, die wir bei allen Primitiven vorfinden, allmählich
umgestaltet. An die Stelle der zahllosen Geister und Dämonen treten
die objektiv beobachteten Tatsachen, deren regelmäßige Aufeinander-
folge von der sich immer kräftiger entfaltenden Wissenschaft genau
festgestellt und sorgfältig beachtet wird. Während der Primitive alles
für möglich hält, weil er überall allmächtige, unbeschränkte Geister
am Werke sieht, legen wir unseren Erwartungen unter der Leitung der
Erfahrung immer mehr Einschränkungen auf, und diese Ein-
schränkungen sind, wie Ernst Mach zuerst gesehen hat, das Wesen
dessen, was wir Naturgesetze nennen.
Da die Lebensbedingungen des Menschen immer komplizierter
werden, ist der Menschengeist genötigt, sich immer entferntere Ziele
zu setzen. Dadurch werden die Gedankenreihen länger und es erweist
sich zugleich als eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft,
vorauszusehen und vorauszusagen. Diese Denkarbeit wird nun von
dem intellektuell erstarkten Einzelmenschen in Angriff genommen,
kann aber nur in steter Wechselwirkung mit den Sprach- und Denk-
genossen vorwärtsgebracht werden. Glaubt aber der scheinbar ganz
selbständig gewordene Denker durch tiefgründige Selbstschau in den
Besitz ewiger Wahrheiten gelangen zu können, die unabhängig von
jeder Erfahrung gelten und der Bestätigung durch die Denkgenossen
nicht bedürfen, so muß die soziologische Betrachtungsweise solche Be-
') Vgl. Jerusalem, „Der kritische Idealismus und die reine Logik" (1905),
S. 173 ff.
§ 50. Soziologische Ethik 303
hauptungen als gefährliche individualistische Selbsttäuschun-
gen bezeichnen und auf das allerentschiedenste bekämpfen.
Die soziologische Betrachtungsweise lehrt uns ferner, daß Geist
und Gesellschaft Begriffe sind, die eng zusammengehören.
Nur im Gemeinschaftsleben vermag der Geist sich zu entfalten und
schöpferisch zu werden. Durch diese Einsicht gewinnen wir aber in
der Soziologie eine der stärksten Waffen im Kampfe gegen jede Art
von Materialismus. Auf rein empirischem Wege können wir
seelische Wechselwirkungen beobachten, aus denen geistige Gebilde
von großer schöpferischer Kraft hervorgehen. Ohne einen Schritt ins
Transzendente tun zu müssen, konstatieren wir die Wirkungen rein
geistiger Kräfte. So wird die Soziologie geeignet, den Glauben
an die schöpferischen Fähigkeiten des Menschengeistes zu stärken, und
zeigt uns so den Weg zu einer Art von empirischem Idealis-
mus, der, vom festen Boden der Erfahrung ausgehend, der Mensch-
heit die höchsten geistigen Ziele zu setzen vermag.
Das wird noch deutlicher werden, wenn wir die soziologische
Betrachtungsweise auf die Probleme der Ethik anwenden.
§ 50. Soziologische Ethik
„Die Gesellschaft ist die Geburtsstätte des sittlichen Bewußtseins.
Die ersten moralischen Urteile brachten nicht persönliche Gefühle
isolierter Einzelmenschen zum Ausdruck, sondern Gefühle, die von
der ganzen Gesellschaftsgruppe empfunden wurden. Stammessitte
war die erste Regel der Pflicht." Diese Behauptung hat Eduard
Westermarck nicht nur aufgestellt, sondern durch ein induktives Tat-
sachenmaterial von überwältigender Fülle unwiderleglich bewiesen*).
Daraus folgt aber die überaus wichtige Erkenntnis, daß eine der
Wirklichkeit entsprechende Orientierung über das Wesen der sittlichen
Verpflichtung und über die sittlichen Aufgaben des Menschen nur
auf Grund der Gesellschaftslehre mittels der soziologischen Methode
möglich ist. Nicht durch die Annahme einer ursprünglichen zeitlosen
und ewigen ethischen Struktur des menschlichen Willens, sondern
durch mühevolle psychologische und historische Untersuchung des
Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft können
wir hoffen, der Ethik eine tatsächliche Grundlage zu geben und über
unsere sittlichen Aufgaben zur Klarheit zu gelangen. Wie wir es für
die Erkenntnistheorie dargelegt haben, so können wir es jetzt für
die Ethik festlegen: Nicht spekulativer Apriorismus, sondern em-
pirischer Evolutionismus mit Hilfe der soziolo-
gischen Methode ist geeignet, lebendige Überzeugungen zu
schaffen, die dazu beitragen können, die in der Zeit nach dem Welt-
kriege besonders dringenden sittlichen Aufgaben des öffentlichen und
des privaten Lebens einer Lösung näherzubringen.
Unsere oben dargelegten soziologischen Grundeinsichten geben
uns die Mittel an die Hand, die sittliche Entwicklung der Menschheit
*) Westermarck, The origin and development of the moral ideas. I. 117.
304 Soziologie und Gescliichtsphilosophie
in ihren Hauptrichtungen zu erkennen und so das Wesen und das
Werden der sittlichen Verpflichtung bei dem Einzelmenschen wie auch
für die Staateil in ihrem Kern und in ihren wichtigsten Gliederungen
zu erfassen.
Der primitive Mensch lebt, wie wir oben dargelegt haben, als
ein sozial gebundenes Herdentier. Seine Seele ist ganz erfüllt von
dem, was Dürkheim „kollektive Vorstellungen" nennt. Der Glaube
an unsichtbare Dämonen und Geister, die fortwährend in das Leben
eingreifen, und die darnach orientierten Sitten und Bräuche seines
Stammes bestimmen sein Denken und sein Tun vollständig. Er vermag
weder eine sinnliche Wahrnehmung anders zu deuten, als es die
Überlieferung mit sich bringt, noch auch sich gegen eine Vorschrift
der herrschenden Sitte aufzulehnen. Der Australreisende Howitt
erzählt, er habe mit einem eingeborenen jungen Australier über die
Speiseverbote während der Einweihungszeremonien gesprochen und
zu ihm gesagt: „Wenn du aber Hunger hättest und fingest zufällig
ein weibliches Opossum, so könntest du es doch vielleicht essen, wenn
die alten Leute nicht zugegen wären?" Der junge Mann antwortete:
„Ich könnte das nicht tun, es wäre nicht recht." Er konnte keinen
anderen Grund angeben als den, daß es unrecht wäre, die Bräuche
seines Volkes zu mißachten!*)
Der primitive, sozial gebundene Mensch steht also ganz unter
der Herrschaft des Gesamtwillens seiner Gruppe und besitzt
noch nicht die Kraft, sich dagegen aufzulehnen. Jede Verletzung
einer Sitte oder eines Brauches erregt bei der Gruppe lebhafte Miß-
billigung und kann für den Missetäter auch Sühne und Strafe nach
sich ziehen. Diese Mißbilligung dürfte die ursprünglichste Form sein,
in der das sittliche Bewußtsein zur Betätigung gelangt. Die moralische
Beurteilung ist auf dieser Entwicklungsstufe noch nichts anderes als
die Wertschätzung einer sozial bedeutsamen Leistung. Das heißt:
Nur solche Handlungen, welche das Gesamtinteresse der Gruppe
irgendwie berühren, erfahren Billigung oder Mißbilligung. Dabei
kommt jedoch die Mißbilligung viel deutlicher und viel öfter zum
Bewußtsein. Die Gruppe mißbilligt und bestraft jedes Tun, das
geeignet ist, den Stamm als solchen zu schädigen. Wir müssen diese
primitive Betätigungsweise des sittlichen Bewußtseins noch etwas
genauer ins Auge fassen.
Wir wollen die Summe aller Gebote und Verbote, die in den
Sitten und Bräuchen eines Stammes enthalten sind, als soziale
Imperative bezeichnen. Wir können dann sagen : Das moralische
Bewußtsein beginnt mit dem Gefühl der Entrüstung über die Ver-
letzung eines sozialen Imperativs. Schon dieser Anfang zeigt charak-
teristische Züge, die für die Weiterentwicklung bedeutsam sind.
Bei primitiven Völkern hängen die sozialen Imperative in der
Regel mit religiösen oder mit magischen Vorstellungen zusammen.
Wer einem Verbot zuwiderhandelt, der verletzt in der Regel damit
*) Westcrmarck. a. a. O. I, 118.
§ 50. Soziologische Ethik 305
irgendeinen Dämon und ruft dessen Zorn herab, der dann den
ganzen Stamm zu schädigen droht. Daraus ergibt sich nun die
wichtige Tatsache, daß moralische Gefühle schon in ihrer ursprüng-
lichsten Form sich meist nahe mit religiösen Vorstellungen berühren.
Der innige Zusammenhang zwischen Moral und Religion, die ja beide
Erzeugnisse des Zusammenlebens sind, die auf seelischer Wechsel-
wirkung beruhen, ist also von Anfang an da und braucht nicht erst
künstlich hergestellt zu werden. Daß beide im Laufe der Entwicklung
ihre Selbständigkeit gewinnen und mitunter sogar in Gegensatz zu-
einander geraten, haben wir oben in der Darstellung der Entwicklung
der Ethik gezeigt.
Wichtiger jedoch ist ein anderes Merkmal dieses primitiven
moralischen Gefühles und der daraus entspringenden moralischen
Beurteilung. Gegenstand derselben ist nämlich auf dieser Entwicklungs-
stufe immer nur die objektive Tat und niemals die Gesinnung
des Täters. Wer einen geheiligten Brauch verletzt, der erregt dadurch
in der Regel den Unwillen einer Gottheit oder eines Dämons. Eine
derartige Verletzung wird nun als eine objektiv vorhandene Be-
f 1 e c k u n g aufgefaßt, die Sühne verlangt, ohne Rücksicht darauf,
ob der Täter absichtlich oder unabsichtlich gehandelt hat. Die Gruppe
fühlt sich durch die Verletzung des Brauches geschädigt oder doch
bedroht, und das genügt, um lebhafte moralische Mißbilligung aus-
zulösen. Es gibt also, wenn man sich so ausdrücken darf, am Anfang
der moralischen Entwicklung nur eine Erfolgsethik. Die heute
als allein berechtigt erkannte Gesinnungsethik ist, wie wir
gleich sehen werden, erst das Produkt einer viel späteren Entwicklung.
Dieser primitive Standpunkt der moralischen Beurteilung, wo
die Tat allein maßgebend ist, erhält sich recht lange, und wir finden
ihn in den Sagen der Kulturvölker noch vielfach wirksam. Agamemnon
hat eine Hirschkuh, die der Artemis heilig war, getötet und muß
zur Sühne dafür seine Tochter opfern. Niemand fragt, ob er das
der Göttin geheiligte Tier absichtlich oder nur zufällig getötet hat.
Oedipus hat auf seiner Wanderung einen Mann erschlagen, der ihm
den Weg versperren wollte, und wußte nicht, daß dieser Mann sein
Vater war. Er löst dann das Rätsel der Sphinx, befreit Theben von
dem Ungeheuer und führt zum Lohne dafür die kürzlich verwitwete
Königin heim, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, daß das
seine Mutter sei. Als es sich nun herausstellt, daß er seinen Vater
getötet hat und mit seiner eigenen Mutter in Blutschande lebt, nimmt
Oedipus die schwere Schuld auf sich und es kommt ihm auch in der
Tragödie des Sophokles gar nicht der Gedanke, daß er ja ganz ohne
jede schlimme Absicht gehandelt hat. Seine objektiven Taten sind
derart schwere Verletzungen heiliger Gebote, daß sie gesühnt werden
müssen, ohne daß man nach der Absicht des Täters fragt.
Will man dieses ursprünglich naive Bewußtsein der objektiven
Schuld beim Oedipus der antiken Sage und der alten Tragödie ganz
verstehen und sich den Gegensatz zum modernen Empfinden klar
machen, so vergleiche man Oedipus mit Jaromir in Grill parzers
„Ahnfrau". Jaromir hat den Grafen Borotin im Kampfe getötet und
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
306 Soziologie und Geschichtsphilosophie
erfährt erst dann, daß der Graf sein Vater war. Er fühlt ganz die
Schwere seiner Tat. Vatermord ist die furchtbarste aller Sünden.
ia, ich hör mit blut'gem Beben
Vie der ew'ge Richter spricht:
Allen Sündern wird vergeben
Nur dem Vatermörder nicht.
In seiner Seele keimt aber sofort der Gedanke auf, der dem
Oedipus fremd blieb, der Gedanke, daß der Mensch wohl für seine
Absicht, nicht aber für den Erfolg die Verantwortung zu tragen hat.
Meinen Wurf will ich vertreten,
Aber das nicht, was er traf.
Und so weist er dann die Schuld des Vatermordes von sich ab
und überantwortet sie dem Schicksal:
Dunkle Macht und du kannst's wagen,
Rufst mir Vatermörder zu?
Ich schlug den, der mich geschlagen,
Meinen Vater schlugest d u!
Solche Unterscheidungen liegen dem sozial gebundenen Menschen
im primitiven Zustande vollkommen ferne. Er kennt nur soziale
Imperative, vor deren Verletzung er zurückscheut, weil er fühlt, daß
sie allgemeine Mißbilligung und Strafe nach sich zieht. Diese aus-
schließliche Berücksichtigung des Erfolges in der moralischen
Beurteilung der primitiven menschlichen Verbände ist ein neuer Beweis
für den sozialen Ursprung des sittlichen Bewußtseins. Wir werden
nämlich gleich sehen, daß der Übergang von der Erfolgsethik zur
Gesinnungsethik ein Produkt der individualistischen Ent-
wicklungstendenz ist. Wenn aber auch heute noch trotz der gegen-
teiligen Meinung der aphoristisch denkenden Philosophen der Erfolg
bei der moralischen Beurteilung fremder Handlungen eine große Rolle
spielt, so kann man daraus ersehen, daß der soziale Charakter des
sittlichen Bewußtseins sich trotz aller Wandlungen in hohem Grade
bis zur Gegenwart erhalten hat.
Alles das also, was wir heute als sittliche Gefühle oder als
moralische Urteile bezeichnen, hat seinen Ursprung im Zusammenleben
der Menschen und kommt erst durch das Zusammenleben zustande.
Was wir eine sittliche Norm nennen, das war ursprünglich nur
ein sozialer Imperativ, dem die sozial gebundenen Primitiven mehr
instinktiv als bewußt nachlebten. Deshalb kommt das, was wir heute
als das Wesentliche des Moralischen ansehen, das Gefühl der
inneren Verpflichtung noch nicht deutlich zum Bewußtsein,
solange der Mensch in vollständiger sozialer Gebundenheit dahinlebt.
Die sozialen Imperative sind Forderungen der Gruppe, die jedem
I mzelnen mit überwältigender Macht und Autorität entgegentreten,
so daß der Gedanke an einen Widerstand nur selten aufkommt.
Erst wenn infolge der sozialen Differenzierung in der von uns
bereits geschilderten Weise sich selbständige und eigenkräftige Per-
§ 50. Soziologische Ethik 307
sönlichkeiten herausgebildet haben, die an den überlieferten Glaubens-
sätzen und Rechtsordnungen Kritik zu üben beginnen, erst wenn
durch die Wirksamkeit der individualistischen Entwicklungstendenz
der Intellekt des einzelnen Menschen so weit erstarkt ist, daß er über
die sozialen Imperative nachzudenken vermag und diese Imperative
eben durch sein Nachdenken in sein Bewußtsein aufnimmt und zu
deutlich erlebten Inhalten seiner Seele macht, erst dann darf man
im eigentlichen Sinne von sittlichen Gefühlen, von moralischen
Urteilen und von ethischen Forderungen sprechen. Wir haben oben
bereits darauf hingewiesen, daß die meisten Staaten dadurch ent-
standen sind, daß ein kräftiges Jäger- oder Hirtenvolk über einen
ackerbauenden Stamm herfiel und die Bauern zwang, für die Eroberer
zu arbeiten. In einem so entstandenen Gemeinwesen findet sich bereits
die für den Staat, wie er bis auf die neueste Zeit eingerichtet war,
so sehr charakteristische Schichtung der Gesellschaft in Herrscher
und in Beherrschte. Der Wille der herrschenden Klasse ist jetzt die
Quelle der sozialen Imperative. Wächst nun ein solcher Staat in die
Breite und in die Tiefe, so sieht sich die herrschende Klasse immer mehr
genötigt, die sozialen Imperative klar und bestimmt zu formulieren.
Es muß deutlich gesagt werden, was die Gesellschaft von jedem ihrer
Mitglieder fordert, und was sie jedem gewährleistet. So entstehen die
ersten Rechtsordnungen, die sich zunächst durch Tradition fortpflanzen,
bald aber schriftlich fixiert werden.
Diese Rechtsordnung lebt sich nun allmählich ein. Die Einzelnen
erkennen an, daß zum geordneten Zusammenleben soziale Imperative
unerläßlich sind. Dadurch nehmen sie diese Forderungen der Gesamt-
heit in ihr eigenes Bewußtsein auf und erst jetzt kann von einer
sittlichen Verpflichtung im eigentlichen Sinne die Rede sein. Die
sozialen Imperative werden eben durch die innere Anerkennung, die
ihnen von Seiten der Einzelnen zuteil wird, zu Pflichten ge-
stempelt. Zugleich aber mit dieser für die sittliche Entwicklung so
überaus wichtigen Grundidee der Pflicht entwickelt sich auch ein
anderes seelisches Gebilde, das ebenfalls zu den sittlichen Grund-
begriffen gehört. Ich meine die innere Stimme, die uns warnt, wenn
wir im Begriffe sind, etwas zu tun, wovon wir wissen, daß es all-
gemeine Mißbilligung, eventuell Strafe nach sich ziehen müßte. Diese
innere Stimme, die wir das Gewissen nennen, ist keineswegs
etwas Ursprüngliches, mit dem Wesen der Menschenseele von selbst
Gegebenes, sondern ein Ergebnis der durch soziale Differenzierung
entstandenen individualistischen Entwicklungstendenz. Pflicht und
Gewissen entwickeln sich miteinander und aneinander.
Wir haben somit die Entstehung der beiden wichtigsten ethischen
Grundbegriffe mit Hilfe der soziologischen Methode verständlich
machen können. Daß Pflicht und Gewissen wirklich nichts anderes
sind als Erzeugnisse des menschlichen Zusammenlebens, daß wir in
diesen seelischen Entwicklungsprodukten keineswegs ewige und zeit-
lose, das heißt ungewordene Eigenschaften sehen dürfen, die der prak-
tischen Vernunft anhaften und eine a priori erkennbare, nicht weiter
abzuleitende ethische Struktur des menschlichen Willens
20*
308 Soziologie und Geschichtsphilosophie
bilden, das wird sich am deutlichsten zeigen lassen, wenn wir unsere
Auffassung vom Wesen der Pflicht mit der Immanuel Kants ver-
gleichen.
Wir haben oben die große Bedeutung Kants für die Entwicklung
der Ethik voll gewürdigt. Hier handelt es sich darum, die Un-
zulänglichkeit des Apriorismus in der Ethik an dem tiefgründigsten
Vertreter dieser Richtung darzutun.
In der oft zitierten ergreifenden Apostrophierung der Pflicht in
der Kritik der praktischen Vernunft*) kommt Kants ganze sittliche
Glut, die unerschütterliche Festigkeit seines ethischen Glaubens, aber
auch die vollkommene Unzulänglichkeit seiner Moralbegründung zu
lebendigem Ausdruck.
„Pflicht! Du erhabener großer Name, die du nichts Beliebtes,
was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unter-
werfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Ab-
neigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen,
sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte
Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn-
gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen ver-
stummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welches ist
der deiner würdige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner
edeln Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz aus-
schlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche
Bedingung desjenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst
geben können?" Kant antwortet auf diese tiefgründige Frage: „Es
kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst
(als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der
Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann und die zugleich
die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des
Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke . . . unter sich hat.
Es ist nichts anderes als die P e r s ö n 1 i c h k e i t, das ist die Freiheit
und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch
zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigen-
tümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen
praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig,
ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur
intelligibeln Welt gehört; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn
der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen, in
Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders
als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung
betrachten muß."
Wir fragen, ebenso wie Kant, nach dem Ursprung der Pflicht.
Wir sind mit dem großen Sittenlehrer auch darin einig, daß die
Pflichterfüllung ein Wert ist, den sich der Mensch selbst erschuf und
täglich neu erschafft. Deswegen können wir uns auch den ersten Teil
seiner Antwort zu eigen machen, wenn wir seine Worte in unserem
Sinne interpretieren. Auch wir sind der Meinung, daß der Ursprung
') I.Teil, I. Buch, III. Hauptstück, V, Ol, der Hartenstcinschen Ausgabe.
§ 50. Soziologische Ethik 309
der Pflicht in dem liegt, „was den Menschen über sich selbst als
einen Teil der Sinnenwelt erhebt". Denn unsere soziologischen Grund-
einsichten haben uns gelehrt, daß durch das Zusammenwirken der
Menschen etwas Überpersönliches entsteht, und wir wissen auch, daß
dieses Überindividuelle durch seelische Wechselwirkung hervor-
gebracht wurde, und daß es deshalb von rein geistiger Natur ist. Es
ist also in der Tat „eine Ordnung der Dinge, die nur der Verstand
denken kann", und die doch zugleich „die ganze Sinnenwelt unter
sich hat". Wenn aber Kant fortfährt: „Es ist nichts anderes als die
Persönlichkeit, das ist die Freiheit und Unabhängigkeit von
dem Mechanismus der ganzen Natur", so können wir uns mit dieser
metaphysischen Konstruktion nicht zufrieden geben. Wir glauben nicht
daran, daß eine zeitlose, a priori erkennbare, für alle Zeiten fest-
stehende ethische Struktur der praktischen Vernunft besteht, und noch
weniger sind wir davon überzeugt, daß sich daraus ein für alle Zeiten
gültiger kategorischer Imperativ ableiten läßt.
Wir können auch nicht finden, daß die „Persönlichkeit" im
Menschen dadurch richtig charakterisiert ist, daß man sie als „Freiheit
und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur" bezeichnet.
Es ist zunächst sehr fraglich, ob eine derartige Unabhängigkeit jemals
wirklich vorhanden ist. Die konzentrierte Geistigkeit des Menschen
— und das versteht Kant eigentlich unter „Persönlichkeit" — kann
ihn dazu fähig machen, die Begierden zu meistern, die Leidenschaften
zu bekämpfen, vielleicht auch Hunger, Durst und Ermüdung länger
zu ertragen, aber ganz unabhängig von der Natur wird auch der
stärkste Geist nie. Wir verstehen deshalb unter Persönlichkeit etwas
ganz anderes. Wir wissen, daß infolge der sozialen Differenzierung
allmählich selbständige und eigenkräftige Einzelmenschen sich heraus-
entwickeln, die nach und nach die Fähigkeit erlangen, sich vom
Einfluß der „kollektiven Vorstellungen" freizumachen, und die dadurch
imstande sind, den überlieferten Glaubenssätzen, den überkommenen
Rechtsordnungen, Sitten und Bräuchen kritisch gegenüberzutreten.
Soziologisch betrachtet, ist also die Persönlichkeit die relative
Freiheit und Unabhängigkeit von den autoritativ wirkenden Einflüssen
der Gesellschaft. Wir sagen „relative" Freiheit, weil wir wissen,
daß auch der Stärkste sich von dem Verbände, dem er angehört, nie
vollständig loszulösen vermag, und daß die sozialen Bindungen auch
bei den scheinbar ganz selbständigen Individuen niemals ihre Wirkung
verlieren. Trotzdem aber wird auch diese relative Selbständigkeit
der stark gewordenen Einzelpersönlichkeit, wie wir unten sehen
werden, zur Quelle einer neuen sittlichen Forderung, die aber ihrem
Wesen nach von dem, was wir Pflicht nennen, deutlich unterschieden
werden muß.
Pflichten aber sind für den soziologisch orientierten Forscher
nichts anderes als soziale Imperative, die in das Be-
wußtsein der Einzelnen tief eingedrungen sind.
Es sind Forderungen, welche die soziale Organisation an ihre Mit-
glieder stellt, und zwar Forderungen, deren Erfüllung die Gesellschaft
kraft ihrer Macht und Autorität auch zu erzwingen fähig und bereit ist.
310 Soziologie und Gescliichtsphilosophie
Mit dem Begriff der Pflicht ist deshalb immer die Vorstellung
verbunden, daß die Verletzung derselben Mißbilligung oder
auch St ra f e nach sich ziehen muß. Da nun die Existenzbedingungen
der menschlichen Gesellschaftsorganisationen nicht immer dieselben
bleiben, sondern steten Wandlungen unterworfen sind, so können auch
die sozialen Imperative nichts Zeitloses und Ewiges sein. Die For-
derungen der Gesellschaft variieren sowohl in bezug auf ihren Inhalt
als auch hinsichtlich ihrer Strenge und Intensität. Die Pflichten sind
also nichts Ständiges, was sich immer gleich bleibt. Sie entwickeln
sich vielmehr weiter gemäß den Veränderungen, die die Struktur des
I Gemeinwesens erfährt. Zugleich mit dem Gefühl der Pflicht entsteht
auch, wie wir bereits gesagt haben, die warnende Stimme in unserem
Innern, die wir das Gewissen nennen. Auch das Gewissen ist nichts
Ursprüngliches und Zeitloses. Je komplizierter die Gesellschaft wird,
desto mannigfaltiger werden ihre sozialen Imperative, desto größer
wird der Kreis der Pflichten und desto mehr bereichert und verfeinert
sich das Gewissen.
Es findet aber im Laufe der Entwicklung keineswegs bloß eine
stetige Vermehrung der sozialen Imperative statt. Sie erfahren vielmehr
im Laufe der Zeiten auch die mannigfachsten Änderungen ihres In-
haltes. Viele Forderungen erweisen sich unter geänderten Verhältnissen
als undurchführbar, manche aber auch als unnütz, ja sogar als ver-
derblich. Der griechische Stadtstaat konnte von seinen Bürgern vieles
fordern, was im modernen Großstaat unmöglich ist, während dieser
wiederum eine ganze Fülle neuer, vorher kaum geahnter sozialer
Imperative gezeitigt hat.
Wenn Goethe einmal die Pflicht als „die Forderung des Tages"
bezeichnet, so hat er die Wandlungsfähigkeit der sozialen Imperative
viel besser verstanden als Kant mit seinem Glauben an die unveränder-
liche ethische Struktur der praktischen Vernunft.
Line künftige soziologische Ethik wird nun die Aufgabe haben,
die sozialen Imperative möglichst vollständig aufzuzählen, zu ordnen
und namentlich ihre Wandlungen darzustellen. Hier kommt es haupt-
sächlich darauf an, die Überzeugung festzulegen, daß die Gesellschaft
die Geburtsstätte aller sittlichen Forderung ist und daß auch die im
scheinbar ganz selbständig gewordenen Bewußtsein hochstehender
I inzelmenschen sich bildenden sittlichen Aufgaben immer nur als ein
Produkt der sozialen Entwicklung verstanden werden können.
Die oben dargelegten soziologischen Grundeinsichten haben
uns gezeigt, daß wir in der Menschheitsgeschichte zwei an-
scheinend entgegengesetzte Tendenzen am Werke sehen. Die indi-
vidualistische Entwicklungstendenz betätigt sich in einem fortwähren-
den Befreiungskampf der erstarkten und selbständig gewordenen
Persönlichkeit gegen gesellschaftliche und insbesondere gegen staat-
liche Bevormundung. Die autoritative Tendenz, die von der Gesell-
schaftsgruppe und vom Staate ausgeht, gelangt in dem Streben zum
Ausdruck, die Kräfte der Einzelnen in den Dienst des Ganzen zu
stellen und dadurch den Individuen nicht nur ihre Existenz und ihre
Sicherheit, sondern auch die kräftigsten und größten Entfaltungs-
§ 50. Soziologische Ethik 311
möglichkeiten zu sichern. In der sittlichen Entwicklung wirken nun,
wie wir bereits jetzt sehen können, beide Entwicklungstendenzen zu-
sammen. Die sozialen Imperative, die den Einzelnen machtvoll binden,
werden erst dann zu sittlichen Pflichten, wenn das individuelle Bewußt-
sein genügend erstarkt ist, um diese Forderungen in sich aufzunehmen
und zu Richtlinien für das eigene Tun zu gestalten. Das soziale
Phänomen der Pflicht entsteht gleichzeitig mit der seelischen Dis-
position, die wir das Gewissen nennen. Die warnende Stimme in un-
serem Innern, die zweifellos ein individualistisches Phänomen ist, muß
vernehmbar sein, wenn von einem Pflichtbewußtsein die Rede sein soll.
Pflicht und Gewissen entwickeln sich, wie wir bereits sagten, mit-
einander und aneinander. Beide enthalten strenge Forderungen von
starker Verbindlichkeit. Diese Forderungen zeigen aber keineswegs
jene Starre und Unveränderlichkeit, von der apriorisch gerichtete
Ethiker oft sprechen. Der Pflichtenkreis ist niemals fertig, sondern
erfährt immer neue Erweiterungen. Ebenso bezieht unser Gewissen
immer neue Momente in seinen Wirkungskreis ein und verfeinert sich
im Laufe der Zeit infolge der individualistischen Entwicklungstendenz
wie auch durch neu erstehende soziale Pflichten. Diese Wechsel-
beziehungen können aber nur mittels der soziologischen Methode
erkannt werden und deshalb müssen wir die Gesellschaftslehre immer
entschiedener zur Grundlage der Ethik machen.
Die soziologische Betrachtungsweise lehrt uns auch eine überaus
wichtige Tatsache des sittlichen Lebens verstehen, eine Tatsache, die
in der neueren Ethik als etwas Selbstverständliches hingestellt und
zugleich als etwas ganz Ursprüngliches betrachtet wird. Ich meine
die allgemein herrschende Ansicht, daß es bei der moralischen Be-
urteilung einzig und allein auf die Gesinnung des Täters
und gar nicht auf den Erfolg der Tat ankommt. Wir haben bereits
oben nachgewiesen, daß es in primitiven Zeiten ganz anders war.
Für die Beurteilung war ausschließlich der Erfolg maßgebend. Die
Absicht des Täters kam gar nicht in Betracht. Wir haben aber durch
die Vergleichung von Sophokles1 König Oedipus mit Grillparzers
„Ahnfrau" gezeigt, daß sich hier tatsächlich eine Wandlung vollzogen
und eine Änderung des Gesichtspunktes stattgefunden hat. Wodurch
ist nun diese Neuorientierung in der moralischen Beurteilung bewirkt
worden? Ist es ferner auch wirklich wahr, daß bei der Beurteilung
fremder Handlungen heute der Erfolg gar keine Rolle mehr spielt?
Die Soziologie gibt Antwort auf diese Fragen.
Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, daß die größere Kom-
pliziertheit der staatlichen Organisationen die Arbeitsteilung und die
damit verbundene soziale Differenzierung zur Folge habe. Dadurch
aber tritt die individualistische Entwicklungstendenz in Kraft und es
bilden sich eigenkräftige Persönlichkeiten aus, die den überkommenen
Einrichtungen, der Religion, der Sitte und dem geltenden Recht kritisch
gegenüberstehen. Zugleich hat aber der Mensch auf dieser Kulturstufe
gelernt, nicht mehr von der Hand in den Mund zu leben, sondern
seinem Willen entferntere Ziele zu setzen, deren Erreichung nicht
<durch eine einzelne Tat, sondern erst durch eine zusammenhängende
312 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Kette von Handlungen möglich wird. Dadurch verliert die einzelne
Tat viel von ihrem Wert für die moralische Beurteilung des Täters.
Sie ist jetzt bloß ein Glied in einer längeren Reihe, und ich kann
sie nur dann ganz verstehen, wenn mir das Endglied der Reihe bekannt
ist. Dieses Endglied ist aber nichts anderes als der Zweck, die Absicht,
die dem Täter vorschwebt.
Da überdies infolge der Differenzierung der Interessen es sich
nicht mehr von selbst versteht, daß jeder einzelne Bürger das Wohl
des Ganzen zu fördern bestrebt ist, so kann ich über seine soziale
Nützlichkeit oder Schädlichkeit nicht mehr auf Grund einer einzelnen
Tat entscheiden. Ich muß vielmehr, um über seine Stellung zur Gesell-
schaft orientiert zu sein, den wahren Endzweck seiner Handlung
oder, was dasselbe ist, die ihr zugrunde liegende Absicht oder
Gesinnung kennen. Wenn z. B. vom Athener Kinwn erzählt wird,
er habe seine großen Gärten dem Volke zur Benutzung überlassen,
so ist diese Tat gewiß an sich sozial nützlich und deshalb zu billigen.
Tat er dies aber knapp vor der Wahl der höheren Beamten, so kann
diese volksfreundliche Handlung auch eine Maßregel sein, um Stimmen
zu bekommen, und durch diese jetzt erkannte Absicht verliert sie ganz
und gar ihren moralischen Charakter. Ähnliche Beispiele liefert uns
das öffentliche Leben unserer Zeit fast täglich. Derartige Erfahrungen
haben nun zur Folge gehabt, daß der sittliche Wert des Menschen
immer mehr in sein Inneres verlegt wird. Gegenstand der mora-
lischen Beurteilung wird so immer ausschließlicher die Willens-
richtung, die Gesinnung des Menschen. Kant ist von dieser
Ausschließlichkeit ganz durchdrungen und stellt es geradezu als
ein ethisches Axiom hin, daß „überall nichts in der Welt, ja über-
haupt auch außer derselben zu denken möglich sei, was ohne Ein-
schränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille".
Tatsächlich ist aber diese Wertschätzung der Gesinnung, die Kant
geradezu als logische Denknotwendigkeit hinstellt, anfangs gar nicht
vorhanden und hat sich erst infolge der komplizierter gewordenen
Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft
herausentwickelt. Dies wird noch klarer, wenn wir uns darauf be-
sinnen, daß auch heute noch, wo jeder theoretisch zugibt, daß nur
die Gesinnung moralischen Wert besitzt, trotzdem der wirkliche Erfolg
einer Handlung, das heißt hier der tatsächlich durch die Tat hervor-
gebrachte soziale Nutzen, bei der moralischen Beurteilung eine große
Rolle spielt. Wird z. B., wie wir das hier in Wien in den letzten Jahr-
zehnten wiederholt erlebt haben, die Errichtung von Volksbildungs-
häusern angeregt und zu diesem Zwecke eine Geldsammlung ver-
anstaltet, so werden wir, wenn wir hören, daß eine arme Arbeiterfrau
ihre mühsam ersparten Pfennige diesem edlen Zwecke gewidmet hat,
gewiß die in dieser opferwilligen Handlung zutage tretende sittliche
Gesinnung bereitwillig von ganzem Herzen anerkennen und bewundern.
Wenn aber durch die Millionenspende eines Reichen die sofortige
Errichtung eines solchen Institutes ermöglicht wird, so findet diese Tat
wegen des großen, in die Augen springenden sozialen Nutzens, der
dadurch gestiftet wurde, viel lautere und viel dauerndere Anerkennung
§ 50. Soziologische Ethik 3 | 3
und Bewunderung. Der soziale Ursprung der moralischen Beurteilung
macht sich, wie wir sehen, auch in unserer stark individualisierten
Kultur noch immer geltend.
Die soziologische Betrachtungsweise hat es uns möglich gemacht,
den Ursprung der sittlichen Verpflichtung und die Entstehung des
Gewissens begreiflich zu machen, ohne daß wir zu der unbewiesenen
Annahme einer ursprünglichen und zugleich zeitlosen, ewigen ethischen
Struktur der praktischen Vernunft unsere Zuflucht nehmen mußten.
Was nun die Weiterentwicklung des sittlichen Bewußtseins betrifft,
so werden auch hier die oben dargelegten soziologischen Grund-
einsichten uns den richtigen Weg finden lehren.
Wir haben gesehen, daß der selbständig gewordene Mensch einen
mehrtausendjährigen Befreiungskampf um die Anerkennung seines
Eigenwertes führen mußte. Dieser Befreiungskampf ist für die sittliche
Entwicklung der Menschheit von einer bisher kaum geahnten Be-
deutung. Auf diesem Wege wurden dem Staat immer mehr Rück-
sichten auf die gesteigerten Ansprüche und Bedürfnisse des innerlich
reif und reich gewordenen Menschen abgezwungen, die wir in den
Gesetzgebungen aller europäischen Staaten bemerken können. Dieser
Befreiungskampf, der vom sechzehnten Jahrhundert an ein rascheres
Tempo annimmt und an der Wende des achtzehnten und neunzehnten
Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht, hat die Milderung der
Gesetze gegen den zahlungsunfähigen Schuldner, hat die Abschaffung
der Folter, die mildere Behandlung der Sträflinge, den Schutz der
persönlichen Ehre und schließlich die Wohlfahrtseinrichtungen der
neuen Zeit zur Folge gehabt. Die Erklärung der Menschenrechte in
Amerika und in Frankreich ist das beredteste und das augenfälligste
Ergebnis dieses Befreiungskampfes, ein Ergebnis, das vielfach die
Grundlage aller neueren Gesetzgebungen bildet.
Neben diesen objektiv konstatierbaren, in konkreten Einrichtungen
gleichsam verdichteten Wirkungen vollziehen sich jedoch infolge der
individualistischen Entwicklungstendenz auch sehr wichtige innere
Wandlungen und Veränderungen des sittlichen Bewußtseins, die sich
erst dem tiefer dringenden soziologisch geschulten Blicke erschließen.
Das Hervortreten eigenkräftiger Persönlichkeiten hat zunächst die
überaus wichtige Wirkung, daß man beginnt, über sittliche Fragen
nachzudenken. In allen geschichtlichen Perioden, wo der Be-
freiungskampf des Individuums besonders deutlich zutage tritt, findet
eine lebhafte Erörterung der sittlichen Grundfragen statt. Dies tritt
uns besonders deutlich und lebensvoll in der griechischen Aufklärungs-
zeit entgegen. Wir sehen da, wie an aller Überlieferung individua-
listische Kritik geübt wird. Die geltenden Gesetze, die religiösen
Glaubensvorstellungen, die alten Mythen werden kritisch geprüft, und
zwar hauptsächlich nach ethischen Gesichtspunkten. Den homerischen
Göttern werden ihre Laster vorgehalten, Pindar will an die Wahrheit
eines Mythus nicht glauben, in welchem eine Gottheit als ein Lecker-
maul hingestellt wird. Euripides versteigt sich sogar zu der Be-
hauptung: „Wenn Götter Böses tun, so sind sie keine Götter", und
Protagoras geht so weit, daß er die Existenz der Götter in Frage
314 Soziologie und Geschichtsphilosophie
stellt. Aus dieser Zeit geht nun der Mann hervor, der durch seine
Lehre, durch sein Leben und vor allem durch seinen Tod der Ethik
die erste und zugleich die dauernde wissenschaftliche Begründung
gegeben hat. Sokrates ist ein Kind der Aufklärungszeit und hat von
ihr den Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft übernommen.
Das Nachdenken über sittliche Fragen wird ihm zur heiligen Pflicht
und er bleibt bis zum Tode davon durchdrungen, daß man durch
m reim logische Erwägungen mit absoluter Sicherheit ermitteln kann,
was in jedem einzelnen Fall zu tun oder zu lassen sei. Im Gespräch
„Kriton" läßt ihn Piaton ausdrücklich sagen, daß man in sittlichen
I ragen immer nur der Vernunft und niemals der Meinung der Vielen
zu folgen habe. Dieser von Sokrates in die Ethik eingeführte Intellek-
tualismus ist ihr bleibendes Besitztum und kann nie mehr aus ihr
verschwinden. Nur die klar bewußte Einsicht in das Wesen unserer
Verpflichtungen kann uns zur wirksamen Richtlinie werden.
Dieses Nachdenken hatte nun zunächst die Wirkung, daß man
als Ziel und Zweck des Menschenlebens die eigene Glückseligkeit
ansah. Das ist eine sehr begreifliche Folge der individualistischen
Entwicklungstendenz. Wenn der Einzelne seiner eigenen Vernunft
mehr vertraut als der Überlieferung, so ist es ganz natürlich, daß
er sich in seiner Zielsetzung zunächst auf sich selbst beschränkt und
seine eigene Glückseligkeit als den selbstverständlichen Zweck des
Daseins ansieht. Der eudaimonistische Gedanke ist mitunter so stark
geworden, daß er aus der individualistischen Entwicklungstendenz die
äußersten Konsequenzen gezogen und so zur Leugnung jeder sittlichen
Verpflichtung geführt hat. Wir haben in unserer Darstellung der
Entwicklung der Ethik radikale Denker kennen gelernt, die kühn genug
waren, den Egoismus als allein maßgebend hinzustellen und keinerlei
sittliche Verpflichtung gegen die Gesamtheit anzuerkennen.
Daß solche Gedankenreihen, denen heute noch viele im stillen
zustimmen, nicht allgemeine Geltung erlangen können, dafür liegt
der Grund zunächst in dem kollektiven Ursprung des sitt-
lichen Bewußtseins und in der fortdauernden Abhängigkeit des Ein-
zelnen von der sozialen Organisation, der er angehört. Der selb-
ständig gewordene Mensch mag im Bewußtsein der Selbstherrlichkeit
meiner Vernunft und seines Gewissens in seiner Studierstube ganz
davon durchdrungen sein, daß er unabhängig von der Meinung der
Vielen souverän für sich entscheiden könne und dürfe, was er soll
und was er nicht soll, er mag sich noch so sehr in seine eigene
Gedankenwelt einspinnen und sich für absolut frei und unabhängig
halten und erklären. Sobald er ins Leben hinaustritt, umschließen ihn
die sozialen Imperative seines Staates und er findet es ganz selbst-
verständlieh, daß er sich in seinem Tun nach ihnen richtet. So wie
er sich ohne Bedenken der Einrichtungen bedient, die nur durch die
( Organisation des Gemeinwesens entstehen und funktionieren können,
so fügt er sich auch den sozialen Bindungen, die ihn von allen Seiten
umgeben, und wird so — vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen —
doch wieder ein Glied der großen Gemeinschaft, von der er sich un-
abhängig wähnte. Die kollektiven Vorstellungen und Gefühle bilden
§ 50. Soziologische Ethik 31 5
auch bei dem scheinbar ganz selbständig gewordenen Einzelmenschen
einen sehr erheblichen und sehr wichtigen Bestandteil seines Bewußt-
seins und wirken den Auswüchsen des antisozialen Egoismus entgegen.
Die individualistische Entwicklungstendenz führt aber keineswegs
bloß zur Isolierung des Einzelmenschen und zu seiner Loslösung vom
staatlichen Verbände. Sie hat, wie wir oben gesehen haben, auch
noch eine ganz anders geartete Wirkung, die für die sittliche Höher-
entwicklung von einer bis jetzt weniger beachteten, ganz besonders
großen Bedeutung geworden ist. Die individualistische Entwicklungs-
tendenz bringt ja, wie wir in unserer Darlegung der soziologischen
Grundeinsichten gezeigt haben, mit psychologischer Notwendigkeit
aus sich den Universalismus und den Kosmopolitismus
hervor und schafft dadurch die Idee der ganzen Menschheit als einer
großen Einheit. Daraus aber entwickelt sich schon im Altertum bei
den Vertretern der mittleren Stoa (besonders Panätius) die Forderung
der allgemeinen Menschlichkeit, für die in den gebildeten
Kreisen Roms die seither allgemein gewordene Bezeichnung „H u m a-
n i t ä t" geprägt wird. Dadurch erfährt nun das sittliche Bewußtsein
eine überaus bedeutsame Erweiterung und es entwickelt sich daraus
ein ganz neuer sittlicher Gedanke, dessen Bedeutung für die ethische
Höherentwicklung der Menschheit nur die soziologische Betrachtungs-
weise in das rechte Licht zu setzen vermag.
Um das klar zu machen, müssen wir daran erinnern, daß wir
in den dargelegten soziologischen Grundeinsichten eine Art von
Grundformel für die Beurteilung der sozialen Gebilde gefunden haben.
Sie beruht auf der Doppelfunktion der Erzeugnisse des Zusammen-
lebens, die sowohl über uns als auch i n u n s sind. Wir haben
diese Doppelfunktion am Beispiel der Sprache erläutert und auch
auf andere Gebilde angewendet. Wir haben gesehen, daß die sozio-
logische Wirkung nur dann ganz zutage tritt, wenn beide Seiten der
Doppelfunktion voll entwickelt sind. Was nun die Idee der ganzen
Menschheit betrifft, so müssen wir sagen, daß sie bis jetzt weit mehr
in uns als über uns ist. Die ganze Menschheit als Einheit ist
noch keine festgegliederte Organisation. Sie ist bis jetzt bloß For-
derung, Hoffnung, Wunsch, Streben. Jeder Einzelne soll gewiß alles
daransetzen, um diese Idee der soziologischen Verwirklichung entgegen-
zubringen. Aber bisher ist die ganze Menschheit noch nicht als Einheit
organisiert und besitzt deshalb noch keine Macht und nicht genügende
Autorität.
Dasselbe gilt nun von der sittlichen Forderung, die mit der Idee
der ganzen Menschheit unzertrennlich verbunden und zugleich ein
bleibender Beweis für den individualistischen Ursprung dieser Idee ist.
Wer die Menschheit als große Einheit fordert, der muß zugleich von
dem Eigenwert jedes einzelnen menschlichen Individuums tief durch-
drungen sein. Er muß in jedem Menschen das allgemein Menschliche
achten und verehren. Jeder einzelne Mensch muß mir als Träger des
Menschlichen gelten, das in uns allen wohnt, seinem Wesen nach
geistiger Natur ist und von frommen Seelen als das Göttliche in uns
empfunden wird. Jeder einzelne Mensch muß deshalb als Selbstzweck
3lo Soziologie und Geschichtsphilosophic
angesehen werden, und man darf ihn, wie es Kant ausdrückt, niemals
bloß als Mittel brauchen.
Nun ist auch diese Forderung, den Eigenwert eines jeden
Menschen anzuerkennen, bisher nur in uns und noch nicht über uns.
Zwar hat die Gesetzgebung der letzten hundert Jahre dieser Forderung
teilv/eise Rechnung zu tragen begonnen, allein es fehlt noch viel dazu,
daß sie zum sozialen Imperativ wäre erhoben worden. Somit sind
beide Gedanken, der der ganzen Menschheit als einer großen Einheit
und der vom Eigenwert jedes einzelnen Menschen, bisher nur Ideen,
nur 1 loffnungen, nur Wünsche, nur innerlich vorhandene sittliche
Motive. Sie sind von der Machtorganisation des Staates noch nicht
zu sozialen Imperativen ausgestaltet worden und auch die öffentliche
Meinung hat diese Forderungen noch nicht in klarer und un-
mißverständlicher Weise als allgemein verpflichtend hingestellt. Des-
halb wäre es irreführend, diese beiden miteinander eng verbundenen
sittlichen Ideale mit dem Namen der Pflicht zu bezeichnen.
Wir müssen vielmehr nach einem Ausdruck suchen, der den rein
innerlichen Charakter dieser Forderungen deutlich zur Darstellung
bringt und zugleich die Vereinigung des individualistischen und uni-
versalistischen Momentes klarmachen kann. Mit Anlehnung an Kant,
dessen Ethik einen Höhepunkt dieser Synthese von Individualismus
und Universalismus darstellt, wollen wir diesen neuen Hebel der
sittlichen Entwicklung die Menschenwürde nennen.
Die Menschenwürde unterscheidet sich von der Menschen pflicht
durch zwei wichtige Momente. Die Pflicht ist ein sozialer Imperativ
und setzt deshalb eine geschlossene, organisierte Gesellschaft voraus,
die dem Einzelnen als Macht und Autorität gegenübersteht und im
Notfall auch imstande ist, ihre Forderungen zu erzwingen. Die sozialen
Imperative haben ferner den ihnen immanenten Zweck, das Gefüge
der Gesellschaft zu erhalten und vor gewaltsamen Eingriffen zu
schützen. Ihr Prinzip ist das Prinzip der Ordnung als eines
unentbehrlichen Mittels zur Erhaltung des Bestehenden. In beiden
Punkten beruht nun die Menschenwürde auf wesentlich anderen
' irundsätzen. Zunächst fällt hier das äußere Machtmoment ganz weg.
Das Gefühl der Menschenwürde zeitigt nur solche Forderungen, die
der sittlich höherstehende Mensch im Bewußtsein seines Eigenwertes
an sich selbst stellt. Haben wir uns einmal zum lebendigen
Bewußtsein der Menschenwürde emporgearbeitet, so genügt es uns
nicht mehr, die sozialen Imperative zu befolgen, das heißt bloß den
Forderungen zu entsprechen, die von der Gesellschaft an uns gestellt
werden. Wir suchen uns vielmehr selbst Arbeiten, zu denen wir uns
für befähigt erachten, wir verlangen von uns, daß wir alle unsere
Kräfte entfalten und in den Dienst des Ganzen stellen, und sind
erst dann mit uns zufrieden, wenn wir unser Bestes getan haben.
Wir erkennen die sozialen Imperative als unsere Pflichten an, gehen
aber in unserem Betätigungsdrang, im Bewußtsein der eigenen Kräfte
weit darüber hinaus. Wir betrachten ferner — und das ist das zweite
Moment, wodurch sich die Menschenwürde von der bloßen Pflicht
unterscheidet — die soziale Organisation, in der wir leben, nicht als
§ 50. Soziologische Ethik 317
etwas Fertiges, Unveränderliches. Unser verfeinertes Gewissen gebietet
uns vielmehr, auf vorhandene Mängel des staatlichen Gefüges zu achten
und hinzuweisen. Wir stellen nicht nur an uns selbst, sondern auch
an den Staat, in dem wir leben, höhere Forderungen und bemühen
uns nach Kräften, an der Verwirklichung dieser Forderungen zu
arbeiten, indem wir auch andere Gleichgesinnte dafür zu gewinnen
suchen. Das Prinzip der Menschenwürde und ihrer Gebote ist also
nicht bloß Erhaltung und Ordnung, sondern Fortschritt und
Höherentwicklung. Sokrates ist auch hier leuchtendes Vorbild
und verdeutlichendes Beispiel. In seiner Verteidigungsrede vor den
athenischen Richtern hat er die denkwürdigen Worte gesprochen:
„Wo einer sich selbst hingestellt hat, weil er es für das Beste hielt,
und wo er vom Vorgesetzten hingestellt wurde, dort muß er ausharren
auch in der Gefahr" (Plato, Apologie, c. 16). Sokrates hat alle
Pflichten eines Bürgers immer gewissenhaft erfüllt. Daneben aber
hat er sich die Aufgabe gestellt und es für seinen Beruf erachtet,
die Menschen zur sittlichen Selbstbesinnung anzuregen. In der Aus-
übung dieses Berufes hat er sich oft genötigt gesehen, an bestehenden
staatlichen Einrichtungen Kritik zu üben und hat sich dadurch viele
Feindschaften zugezogen. Er hat aber an seinen Überzeugungen un-
erschütterlich festgehalten und ist für dieselben mutig und standhaft
in den Tod gegangen. An ihm kann man also lernen, was Menschen-
pflicht ist, und was darüber hinaus die Menschenwürde dem sittlich
Hochstehenden gebietet.
Den Forderungen der Menschenwürde fehlt also vollständig das
mit der Pflicht immer verbundene Gefühl des sozialen Zwanges. Die
Menschenwürde bedeutet die ausschließlich in uns selbst gelegene
Verbindlichkeit, die aus dem Bewußtsein des persönlichen Eigenwertes
hervorgeht. Die Gesellschaft, deren Mandatar in immer weiterem
Umfange der Staat geworden ist, verlangt von jedem Bürger die
Erfüllung seiner Pflichten. Sie kann aber heute noch nicht so weit
gehen, auch die Forderungen der Menschenwürde in den Pflichtenkreis
einzubeziehen, und zwar schon deshalb nicht, weil die bisher erreichte
Organisation des Staates es sogar oft unmöglich macht, den For-
derungen der Menschenwürde nachzuleben.
Die Menschenwürde bedeutet sittliche Autonomie und
innere Souveränität. Sie ist die schönste Frucht der indi-
vidualistischen Entwicklungstendenz und ruht auf dem im Laufe der
Zeiten allmählich errungenen Bewußtsein vom Eigenwert jeder mensch-
lichen Persönlichkeit. Dieses Bewußtsein geht aber doch wieder aus
einem Solidaritätsgefühl hervor. Der Gedanke vom Menschen
als Selbstzweck, von dem unverlierbaren Wert jedes einzelnen
Menschendaseins hätte sich nämlich gar nicht ausbilden können, wenn
nicht aus der individualistischen Entwicklungstendenz die Idee der
ganzen Menschheit als einer großen Einheit hervorgegangen wäre.
Beide Gedanken hängen aufs engste zusammen, bedingen und starken
einander. Je mehr sich der Blick des Einzelnen über Staaten und
Nationen hinaus erweitert, je klarer das, was allen Menschen gemein-
sam ist, sich von dem abhebt, was sie voneinander trennt, je fester
31 S Soziologie und Geschichtsphilosophie
und je allgemeiner die Überzeugung wird, daß die Menschheit, die
auf der Erde wohnt, dazu bestimmt ist, eine große Einheit zu bilden,
desto tiefer muß die Einsicht in die Seelen dringen, daß wir in jedem
Menschen den Träger der Menschheitsidee erblicken müssen und ihn
demgemäß als Selbstzweck, als Eigenwert zu betrachten und zu be-
handeln verpflichtet sind. Umgekehrt trägt wiederum das zunehmende
Interesse, das wir jedem einzelnen Menschenschicksal entgegenbringen,
der innige Anteil, den wir nicht nur an unseren Staats- und Volks-
genossen, sondern auch an jedem Angehörigen einer fremden Nation,.
bei dem wir die allgemein menschlichen Werte vorfinden, zu nehmen
gelernt haben, dazu bei, die Idee der ganzen Menschheit als einer
großen Einheit fester in unseren Seelen zu verankern.
Wir dürfen also sagen, daß auch der Gedanke der Menschenwürde
nicht metaphysisch und nicht apriorisch, sondern soziologisch und
empirisch fundiert ist. Das Bewußtsein einer höheren Verpflichtung
ist auch hier die Folge einer Zugehörigkeit, aber einer Zu-
gehörigkeit zu einem größeren Ganzen, das die kleineren sozialen
( iebilde, die Staaten und die Nationen in sich schließt.
Menschenpflicht und Menschenwürde sind keines-
wegs Gegensätze. Wir haben in ihnen die Ergebnisse der zwei Ent-
wicklungstendenzen vor uns, die wir im Zusammenleben der Menschen
als wirksam erkannt haben. Die Pflicht ist aus dem autoritativ sozialen,
die Menschenwürde aus dem freiheitlich individualistischen Prinzip
hervorgegangen. Beide sind als Hebel der sittlichen Entwicklung zu
betrachten und beide haben Anteil an der Festigung und am Fort-
schritt des sittlichen Bewußtseins. Die Menschenwürde hat den Kreis
der sozialen Imperative erweitert und den Staat gezwungen, nicht
nur im Verbrecher noch den Menschen zu achten, sondern auch dem
gesteigerten Bewußtsein vom Eigenwert jedes Menschen in der Gesetz-
gebung Rechnung zu tragen. Trotzdem kann es vorkommen und
kommt sogar tatsächlich nicht selten vor, daß die sozialen Imperative
sich den Forderungen der Menschenwürde entgegenstellen. So verlangt
/. B. die Menschenwürde von uns die unbedingte Wahrhaftig-
keit in allen Dingen. Jede Lüge ist eine Herabsetzung der Persönlich-
keit und deshalb eine Verletzung der Menschenwürde. Kant, der den
Begriff der Menschenwürde in seiner ganzen Tiefe erfaßt und nur
den soziologischen Ursprung verkannt hat, stellt die Lüge deshalb
als etwas unbedingt Verwerfliches hin und gestattet nicht einmal,
aus Menschenfreundlichkeit zu lügen. Es ist nun kein Zweifel, daß
die Struktur der Gesellschaft und die Organisation des Staates in
ihrer heutigen Beschaffenheit nicht nur gar sehr zur Lüge verleitet,
sondern nicht selten sogar das Opfer der Lüge geradezu verlangt*).
In der Regel erweisen sich bei solchen Konflikten die sozialen Im-
perative, hinter denen die Macht und die Autorität des Staates steht,
als stärker und die Forderungen der Menschenwürde müssen einst-
*) Vgl. dazu Jerusalem, „Wahrheit und Lüge", zuerst veröffentlicht in der
„Deutschen Rundschau", November 1898, dann wieder abgedruckt in „Gedanken
und Denker", Wien 1905, S. 26-58.
§ 50. Soziologische Ethik 3 19
weilen zurücktreten. Sie hören aber deswegen nicht auf, sittliche
Forderungen zu sein. Sie wirken im Stillen weiter und werden im Laufe
der Entwicklung oft stark genug, um die sozialen Imperative
nicht etwa zu überwinden, sondern auszugestalten und umzugestalten.
Jedenfalls entstehen aus solchen Konflikten, zu denen keineswegs bloß
die Forderung der Wahrhaftigkeit Anlaß gibt, neue ethische Probleme,
die zur sittlichen Weiter- und Höherentwicklung beitragen. Eine
künftige soziologische Ethik wird die Aufgabe haben, gerade solche
Konflikte besonders eingehend zu untersuchen. Man wird den Wider-
streit zwischen den sozialen Imperativen und den Forderungen der
Menschenwürde historisch verfolgen und dabei auch die Darstellungen
genialer Dichter, die für solche Seelenkämpfe einen besonderen Blick
haben, mit großem Gewinn zur Verdeutlichung der Probleme heran-
ziehen. Wir müssen uns jedoch hier in unserer Einführung darauf
beschränken, auf die allerwichtigsten Konsequenzen hinzuweisen, die
sich aus solchen Konflikten für die Weiterentwicklung der ethischen
Probleme ergeben.
Das weitaus wichtigste dieser Probleme, das überdies infolge
des Weltkrieges und seiner so traurigen Folgen ein starkes aktuelles
Interesse gewinnt, ist die Frage nach der ethischen Aufgabe
des Staates oder, was dasselbe besagt, nach den Beziehungen
zwischen Politik und Moral. Man hat diese Fragen seit den
Tagen Piatos vielfach erörtert und sich auch während des Weltkrieges
viel mit ihnen beschäftigt. Man konnte aber zu keiner befriedigenden
Lösung gelangen, weil man noch nicht gelernt hatte, die soziologische
Betrachtungsweise auf diese Dinge anzuwenden. Im Lichte unserer
soziologischen Grundeinsichten bekommen diese alten Probleme ein
ganz neues Ansehen und es lassen sich wenigstens die Richtlinien
deutlich erkennen, in denen sich die Lösung bewegen muß. Der Staat
ist als Machtorganisation entstanden und bis auf den heutigen
Tag Machtorganisation geblieben. Er muß, um sich gegenüber anderen
Staaten selbständig zu erhalten, aber auch um in seinem Innern Ruhe
und Ordnung wahren zu können, über eine Macht verfügen, die ihn
fähig macht, seinen Willen gegenüber solchen Elementen, die seinen
Bestand zu untergraben oder zu gefährden suchen, durchzusetzen
und seine Bürger vor solchen Umtrieben zu schützen. Als wichtigstes
Organ der Staatsmacht fungierte von den ältesten Zeiten an bis zur
Gegenwart die Wehrmacht, über die der Staat verfügte. Herbert
Spencer bezeichnet den auf die Wehrmacht gegründeten Staat als
den militärischen Typus der Gesellschaft und stellt ihm den
industriellen Typus gegenüber, dem seiner Ansicht nach
die Entwicklung zustrebt. Die Geschichte kennt bisher nur solche
Staaten, die dem entsprechen, was Spencer den militärischen Typus
nennt. Wenn also Hegel in einer seiner politischen Jugendschriften
den Satz ausspricht: „Daß eine Menge einen Staat bilde, dazu ist
notwendig, daß sie eine gemeinsame Wehre und eine Staats-
gewalt bilde", so hat dieser allgemein als rein spekulativer Kopf ver-
schrieene Denker damit seinen starken Wirklichkeitssinn erwiesen, von
dem man auch sonst in seinen Werken, besonders dort, wo es sich
320 Soziologie und Geschichtsphilosophie
um geschichtliche Dinge handelt, überraschende Proben finden kann*).
Solange auf der Erde mehrere Staaten nebeneinander bestehen werden,
solange wird jeder einzelne Staat Machtorganisation bleiben müssen
und die Wehrmacht nicht entbehren können. Aber auch dann, wenn
der jetzt bestehende Völkerbund entsprechend ausgestaltet werden sollte,
oder wenn gar die ganze bewohnte Erde sich zu einem einzigen Staats-
wesen zusammenschlösse, würde doch aller Voraussicht nach auch dann
noch eine Machtorganisation da sein müssen, um dieses große Ganze
zusammenzuhalten. Die rein machtpolitische Auffassung des Staates
hat seit den Tagen Machiavellis immer mehr Anhänger gefunden.
Der Staat, so wird behauptet, hat vor allem die Aufgabe, sich selbst,
das heißt seine Macht, zu behaupten und womöglich zu erweitern.
Die Politik ist die Kunst, die geeigneten Mittel dazu zu finden.
Sittliche Forderungen kommen dabei nicht in Betracht. Politik hat
mit Moral nichts zu schaffen. Ethische Forderungen beziehen sich
auf die Verpflichtungen der Menschen gegeneinander, der Einzelnen
gegen den Staat oder gegen die ganze Menschheit. Der Staat selbst
aber ist vollkommen souverän, er ist sich Selbstzweck und hat das
selbstverständliche Recht, zur Erhaltung und zur Erweiterung seiner
Macht alle dazu geeigneten Mittel anzuwenden.
Durch die Bildung absolutistischer Staaten im sechzehnten,
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert hat sich diese Auffassung
in den Köpfen der Regierenden immer mehr befestigt. Es hat zwar
niemals an Stimmen gefehlt, die es laut aussprachen, daß der Staat
auch andere Aufgaben habe, allein sie sind meist ungehört verhallt.
Auch der Parlamentarismus, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts in den früher absolut regierten Staatswesen Eingang
fand, hat an der machtpolitischen Auffassung wenig geändert. Das
mächtig sich entfaltende Nationalgefühl und der daraus hervorgehende
Chauvinismus haben vielmehr den Machtgedanken und die Expansions-
tendenz gesteigert. Die sogenannten „Realpolitiker", die für die tat-
sächliche Leitung des Staates maßgebend waren, wollten von sittlichen
oder kulturellen Aufgaben des Staates nichts hören und betrachteten
alle politischen Probleme ausschließlich als Machtfragen. Im Weltkrieg
haben diese rein machtpolitischen Auffassungen ihren erschreckenden
Ausdruck gefunden. Vielleicht wird man jetzt, wo die ganze Welt
unter den Folgen dieser Katastrophe zu leiden hat, eher geneigt sein,
anders gerichteten Erwägungen Gehör zu schenken. Wir glauben
zeigen zu können, daß die Organisation des Staates für die sittliche
Entwicklung der Menschheit von der allergrößten Bedeutung war,
und daß eine soziologisch orientierte Politik ihm in Zukunft eine
noch viel wichtigere Rolle auf diesem Gebiete zuweisen wird.
Der Staat hat als Machtorganisation begonnen und wird in
gewissem Sinne immer Machtorganisation bleiben müssen. Die
Entwicklung geht aber dahin, daß die Macht immer weniger Selbst-
*) Hegels Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, herausgegeben von
Georg Lasson, 1913 (Philosophische Bibliothek, Bd. 144), S. 18.
§ 50. Soziologische Ethik 321
zweck und immer mehr bloßes Mittel wird, das dazu verwendet werden
muß, um anderen, höheren Zwecken zu dienen.
Das zeigt sich zunächst darin, daß die Organisation der Macht
von selbst dazu führt, den Staat zur Rechtsordnung aus-
zugestalten. Die geltenden Rechtsnormen, die anfangs auf Herkommen
und Gewohnheit beruhen, später jedoch in der Form von Gesetzen
schriftlich festgesetzt werden, sind zunächst der Ausdruck des
Willens der herrschenden Klasse. Dadurch aber, daß
in den Gesetzen deutlich gesagt wird, was der Staat von jedem Bürger
fordert, und auch, was er jedem gewährleistet, lebt sich die Rechts-
ordnung allmählich ein. Die geltenden Gesetze dringen als soziale
Imperative in die Seelen ein und werden, wie wir oben gezeigt haben,
dadurch zu sittlichen Pflichten. Der Staat wächst nicht nur
in die Breite, sondern, wie Ruedorffer sehr schön gezeigt hat,
auch in die Tiefe. Das Gefüge der Gesellschaft, deren Mandatar
der Staat wird, gestaltet sich immer komplizierter und dabei gelangen
die von uns oft hervorgehobenen zwei Entwicklungstendenzen immer
deutlicher zur Auswirkung.
Infolge der individualistischen Entwicklungstendenz wird der
Staat immer mehr gezwungen, den gesteigerten Rechtsansprüchen
der innerlich reicher und reifer gewordenen Einzelpersönlichkeiten
Rechnung zu tragen. Er sieht sich genötigt, nicht nur die Freiheit,
das Eigentum, die persönliche Sicherheit und die Ehre jedes Einzelnen
Bürgers zu schützen. Er muß auch die Gesundheitspflege in die Hand
nehmen, um sein Gebiet vor verheerenden Seuchen zu bewahren und
überdies auch die Arbeiter gegen Krankheit und Unfälle sowie auch
für die Zeit der Invalidität versichern. So gestaltet sich der Macht-
und Rechtsstaat immer mehr zum Wohlfahrtsstaat aus und
in dieser Richtung werden die Staaten in Zukunft noch viel weiter
gehen müssen. Damit sind aber seine Aufgaben noch lange nicht
erschöpft. Er sieht sich genötigt, die Erziehung in seine Hand
zu nehmen, damit die heranwachsende Generation immer mehr be-
fähigt werde, den gesteigerten Anforderungen zu entsprechen. Er
bedarf ferner in immer höherem Grade der Wissenschaft, weil
diese in ihrer Weiterentwicklung ihm die Mittel an die Hand gibt,
seinen Wohlfahrtsaufgaben gerecht zu werden. Auch die Kunst
muß er pflegen, weil die gesteigerte Kultur das Bedürfnis darnach in
immer weitere Kreise getragen hat. Dadurch aber wächst sich der
Staat immer mehr zu einer Kulturorganisation aus und
durch diese stete Vermehrung seiner Aufgaben hat sich allmählich
sein Wesen stark verändert.
Die individualistische Entwicklungstendenz hat, wie wir gesehen
haben, zum Universalismus und zum Kosmopolitismus geführt. Die
Verselbständigung und die damit Hand in Hand gehende innere
Bereicherung der menschlichen Einzelpersönlichkeit hat aus sich
die Idee der ganzen Menschheit als einer großen Einheit ent-
wickelt und daraus ist wiederum die Forderung der allgemeinen
Menschlichkeit, der Gedanke der Humanität hervorgegangen. Auf
diesem Wege hat sich dann, wie wir gezeigt haben, der Gedanke der
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl. ^'
322 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Menschenwürde herausgebildet und damit ist ein überaus
bedeutsames Moment für die sittliche Höherentwicklung gegeben.
Unser verfeinertes und bereichertes Gewissen unterwirft jetzt auch die
t landlungen des Staates der moralischen Beurteilung und will nicht
mehr dulden, daß die sozialen Imperative mit den Forderungen der
Menschenwürde in Widerspruch geraten. Der Staat kann sich diesen
gesteigerten sittlichen Forderungen nicht auf die Dauer entziehen,
er wird sich vielmehr selbst zum Organ derselben machen müssen
und seine Aufgabe darin erblicken, im Verhältnis zu seinen Bürgern
und in den Beziehungen zu anderen Staaten für die Wahrung der
Menschenwürde einzutreten.
Für diese neue ethische Aufgabe des Staates habe ich in meinem
Buche „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre" den Begriff und
das Wort der Sta?tenwürde geprägt und darzutun versucht,
daß diese Forderung mit geschichtlicher Notwendigkeit aus der Idee
der Menschenwürde hervorgeht*). Dadurch, daß die Bürger in immer
weiterem Umfang an der Leitung und Verwaltung teilnehmen und
sich infolgedessen für die Handlungen ihres Staates mitverantwortlich
fühlen, wächst der Staat in die Tiefe und bildet sich allmählich zu
einer Art von Persönlichkeit höherer Ordnung aus. Mit dem
Begriffe der Persönlichkeit ist aber, wie uns Kant gezeigt hat, das
Bewußtsein der eigenen Würde und der daraus sich ergebenden sitt-
lichen Forderungen unzertrennlich verknüpft. Nun ist das Bewußt-
sein der Menschenwürde aus der individualistischen Entwicklungs-
tendenz dadurch hervorgegangen, daß diese zum Universalismus
geführt und so die Idee der ganzen Menschheit als einer großen
linheit gezeitigt hat. Wenn nun der Staat so weit in die Tiefe ge-
wachsen ist, daß er sich zu einer innerlich geschlossenen einheitlichen
Persönlichkeit ausgestaltet hat, die sich nicht bloß ihrer Macht,
sondern vor allem ihrer eigenen Würde bewußt geworden ist,
so tritt er dadurch in neue, vorher nicht deutlich genug vorgestellte
Beziehungen zur Idee der ganzen Menschheit und der daraus sich
ergebenden sittlichen Verbindlichkeiten. In diese Beziehungen zwischen
Staat und Nation auf der einen und der ganzen Menschheit auf der
-mderen Seite vermag die soziologische Betrachtungsweise tief hinein-
zuleuchten. Erst aus der deutlichen Erkenntnis dieser Beziehungen
ergibt sich die volle Klarheit über die ethischen Aufgaben
des Staates und über das Wesen der Staatenwürde.
Der Staat ist für jeden einzelnen seiner Bürger Lebensbedingung
und sollte deshalb auch von jedem als Lebensbedürfnis erkannt werden.
Der staatlose Mensch ist, wie Aristoteles gesagt hat, ein Tier oder ein
Gott. Da wir nun weder zu Tieren herabsinken wollen, noch auch
imstande sind, Götter aus uns zu machen, so können wir die staatliche
Gemeinschaft nicht entbehren. „Der Mensch", sagt Schiller, „bedarf
des Menschen sehr zu seinem großen Ziele." Nur im Staate kann der
*) Vgl. Jerusalem. „Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre", 1915,
S. 14 f. und S. 85 ff. Dazu auch meine Schrift: „Moralische Richtlinien nach
dem Kriege", 1918, S. 45 und 55.
§ 50. Soziologische Ethik 323
Einzelne seine geistigen Gaben entfalten und dazu gelangen, wie
Nietzsche es ausdrückt, etwas über sich hinaus zu schaffen.
Der Staat muß nun, um seinen Bestand zu sichern, an seine
Bürger eine Anzahl von Forderungen stellen, die als soziale
Imperative gelten und für jeden verbindlich sind. Je mehr nun der
Staat in die Tiefe wächst, desto stärker dringen die sozialen Imperative
ein in das Bewußtsein jedes einzelnen Bürgers und werden dadurch,
wie wir bereits wiederholt gezeigt haben, zu sittlichen Pflichten. Der
Staat ist somit schon an der Entstehung des für die Ethik so grund-
legenden Pflichtbegriffes beteiligt und erscheint damit — entgegen
der allgemeinen Auffassung — von allem Anfang an als Faktor
der sittlichen Entwicklung. Piaton und Aristoteles haben das bereits
gewußt und deshalb steht bei ihnen Politik und Ethik in so innigem
Zusammenhang. Wenn in der neueren Zeit die Staatsmänner und die
politischen Theoretiker von einer sittlichen Aufgabe des Staates nichts
wissen wollen, so verkennen sie sowohl den sozialen Ursprung aller
sittlichen Verpflichtung als auch die Rolle des Staates im Zusammen-
leben der Menschen. Tatsächlich hat sich der Staat in den meisten
Kulturländern zum wichtigsten Mandatar der Gesellschaft entwickelt,
und wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir die sozialen Imperative,
denen die Menschen heute unterworfen sind, kurz als Staats-
gebote bezeichnen. Diese Staatsgebote werden nun im Bewußtsein
der Bürger zu sittlichen Pflichten und erhalten dadurch ganz zweifellos
ein moralisches Gepräge. Man hat das in neuerer Zeit wiederholt ge-
leugnet. Indem man zwischen Legalität und M o r a 1 i t ä t einen
tiefgreifenden Unterschied machte, wollte man sagen, daß der bloße
Gehorsam gegen die Staatsgesetze noch kein Beweis moralischer
Gesinnung sei. Das mag ja in einzelnen Fällen richtig sein, aber
trotzdem darf man der treuen Erfüllung der Bürgerpflichten nicht
ihren hohen moralischen Wert absprechen. Wer die sittliche Ver-
wilderung betrachtet, die wir als eine der traurigsten Folgen des
Weltkrieges immer mehr um sich greifen sehen, der wird bald zur
Einsicht gelangen, daß die freiwillige Unterwerfung unter die Staats-
gebote eine moralisch hohe, bedeutsame Tat sei.
Mit der Erfüllung der Bürgerpflichten ist nun allerdings die
sittliche Aufgabe des Menschen keineswegs erschöpft und vollendet.
Wir wissen bereits, daß das allmählich erstarkende Bewußtsein der
Menschenwürde nicht nur neue und höhere Forderungen zeitigt,
sondern auch dazu führt, die Staatsgebote selbst einer erneuten Prüfung
zu unterziehen und daraufhin zu untersuchen, ob sie mit den neu ent-
standenen Forderungen in Einklang gebracht werden können.
Wir müssen nun hier eine Frage aufwerfen, die wir bisher
noch nicht gestellt haben. In wessen Namen werden die Forderungen
der Menschenwürde erhoben? Wer verlangt von uns, daß wir un-
bedingte Wahrhaftigkeit üben und jede Lüge als Beeinträchtigung
und Herabsetzung empfinden? Wer gebietet uns, jeden einzelnen
Menschen als Selbstzweck anzusehen und ihn niemals bloß als Mittel
zu brauchen? Wir haben oben gesagt, das seien Forderungen, die dei
sittlich gereifte Mensch, der sich zum Bewußtsein der Menschenwürde
21*
324 Soziologie und Geschichtsphilosophie
emporgearbeitet hat, an sich selbst stellt. Wir bezeichneten deshalb
die Menschenwürde als sittliche Autonomie und innere Souveränität.
Bei dieser Antwort beruhigen sich die apriorisch gerichteten Denker.
Sie halten diese Auffassung für die endgültige Lösung, weil sie an
eine zeitlose, an eine ewige, von allem Anfang an vorhandene ethische
Struktur der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens
giaubeu. Solche Annahmen vermag aber der soziologisch orientierte
Denker nicht gelten zu lassen, weil er die darin liegende latente Meta-
physik klar erkennt. Er betrachtet also die sittliche Autonomie, die
das Bewußtsein der Menschenwürde mit sich bringt, als etwas Ge-
wordenes, als ein Entwicklungsprodukt, und fragt sich, worin das
verfeinerte Gewissen die Gewähr für seine innere Souveränität zu
linden vermag. Die Antwort ist in unseren soziologischen Grund-
einsichten bereits gegeben.
Das Bewußtsein der Menschenwürde ist aus der Idee der ganzen
Menschheit als einer großen Einheit hervorgegangen und wird von
dieser Idee getragen. Aus der Menschheitsidee hat sich aber wiederum
der Gedanke der allgemeinen Menschlichkeit, der Gedanke der H u-
m a n i t ä t herausentwickelt, der uns gebietet, in jedem Menschen
das echt Menschliche als vorhanden vorauszusetzen und ihn als Träger
der Menschheitsidee zu achten und zu lieben. Die Forderungen der
Humanität werden also immer im Namen der ganzen
Menschheit erhoben, und erst das gibt ihnen die innere Weihe
und die bindende Kraft. Wir dürfen also die sittlichen Forderungen,
die sich aus dem erstarkten Bewußtsein der Menschenwürde ergeben,
als Menschheitsgebote bezeichnen und haben nun zu fragen,
wie diese neuen Imperative mit den Staatsgeboten in Wechselwirkung
treten.
Es liegt im Wesen dieser beiden Arten von sittlichen Forderungen
und es wird auch von der Geschichte bestätigt, daß Konflikte zwischen
Staatsgeboten und Menschheitsgeboten entstehen. Große Dichter haben
uns wiederholt solche Konflikte geschildert und das tägliche Leben
bringt sie weit öfter, als wir uns dessen bewußt werden, an uns heran.
Sophokles führt uns in der „Antigone" in klassischer Durchsichtigkeit
und Klarheit, aber auch mit durchschlagender Kraft die Auflehnung
der liebevollen Schwester gegen das grausame, aber vom Standpunkt
«ies Staates doch auch berechtigte Verbot des Herrschers, ihren Bruder
zu bestatten, vor. In ewig denkwürdigen Versen beruft sich Antigone
auf das ungeschriebene, ewige, von den Göttern geheiligte Gesetz,
das kein Sterblicher verletzen darf. Sie muß für ihre Tat den Tod
erleiden, aber ihr Grundsatz bleibt doch siegreich. Das Menschheits-
gebot ist hier, wie so oft, mit religiösen Vorstellungen verknüpft und
erscheint dadurch in eine höhere Sphäre gehoben. Zugleich aber ist
Antigone die selbständige, die starke, die eigenkräftige Persönlichkeit,
die sich zur Trägerin des allgemein menschlichen Grundsatzes macht:
„Nicht mitzuhassen, mitzulieben hat mich Natur bestimmt."
Mit vollendeter Meisterschaft hat uns Shakespeare im „Kaufmann
von Venedig" den Widerstreit des menschlichen Gefühles gegen ein
grausames Gesetz des Staates vorgeführt. Das geltende Recht Venedigs
§ 50. Soziologische Ethik 325
gibt Shylock die Befugnis, auf seinem Schein zu bestehen. Die Richter,
die an das geltende positive Recht gebunden sind, müßten ihm ge-
statten, ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper herauszuschneiden.
Porzias Einwendungen sind, juristisch betrachtet, nichts anderes als
Spitzfindigkeiten und Sophistereien. Da aber das formelle Unrecht,
für das sie plädiert, in unseren Augen das wahre, von der Menschlich-
keit geforderte Recht ist, so freuen wir uns über ihren Erfolg und
sind dabei zugleich Zeugen eines historischen Prozesses, durch
den ein Gesetz, das dem höher entwickelten Rechtsgefühl nicht mehr
entspricht, außer Kraft gesetzt wird.
Solche Konflikte zwischen Staatsgeboten und Menschheitsgeboten
bringt, wie gesagt, das Leben fast täglich an uns heran. In der Regei
erweisen sich nun freilich die Staatsgebote als die ursprüng-
licheren und auch als die stärkeren, weil die Macht und Autorität
des Staates hinter ihnen steht. Das kommt uns mit besonderer
Deutlichkeit im Kriege zum Bewußtsein und so ist dieser Widerstreit
während der großen Weltkatastrophe von vielen Millionen Menschen
mit erschütternder Wirklichkeit durchlebt worden. Die Menschheits-
gebote verbieten uns, das Leben, das Eigentum, die Freiheit und die
Ehre unseres Nebenmenschen zu verletzen, und in Friedenszeiten
machen alle Staaten diese Forderungen zu sozialen Imperativen, deren
Befolgung sie auch fähig und bereit sind, zu erzwingen. Im Kriege
hingegen gebietet mir der Staat in bezug auf die Feinde das gerade
Gegenteil. Ich muß alle meine physischen und geistigen Kräfte ein-
setzen, um die Feinde zu töten, sie ihrer Freiheit zu berauben, sie zu
schädigen und zu überlisten.
Die geschichtliche Entwicklung hat bisher nicht vermocht, den
schreienden Widerstreit von Kriegsmoral und Friedens-
moral aus der Welt zu schaffen. Die letzten Jahrzehnte haben uns
sogar eine starke Steigerung der kriegerischen Bestrebungen gebracht.
Das gewaltige Wettrüsten hat einen gefährlichen Zündstoff angehäuft.
Die Auffassung des Staates als bloßer Machtorganisation ist auch
von Männern der Wissenschaft energisch verfochten worden. Der
kriegerische Geist, ein Erbe aus den Urzeiten des Menschengeschlechtes,
ist vielfach mit vollem Bewußtsein gepflegt worden, indem man die
Bewunderung für die Heldentaten in den Kriegen schon den Kindern
tief in die Seelen pflanzte. Der nationale Chauvinismus, der im neun-
zehnten Jahrhundert immer weitere Kreise ergriff, hat den Antagonis-
mus zwischen den Staaten und Völkern zweifellos stark verschärft.
Dazu kamen noch sehr wirksame wirtschaftliche Motive. Für eine
ganze Reihe von Industrieunternehmungen ist die stete Kriegsbereit-
schaft mit ihren immer wachsenden Anforderungen eine Quelle großer
Reichtümer geworden. Die Inhaber dieser Betriebe gewannen durch
ihre große Kapitalskraft Einfluß auf die Leitung der Staaten und so
wurde dadurch die Einstellung auf den Krieg verstärkt.
Durch das Zusammenwirken aller dieser Umstände ist die furcht-
bare Weltkatastrophe über uns hereingebrochen, unter deren Folgen
Sieger und Besiegte jahrzehntelang zu leiden haben werden. Der Welt-
krieg hat aber nicht nur Millionen von Menschen das Leben oder die
326 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Gesundheit zerstört, er hat nicht nur ungeheure wirtschaftliche und
künstlerische Werte vernichtet, sondern er hat auch in moralischer
Hinsicht geradezu verheerend gewirkt. Kant zitiert in seiner Schrift
„Zum ewigen Frieden" das Wort eines alten Griechen: „Der Krieg
ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren weg-
nimmt." (VI, 432, Hartensteinsche Ausgabe.) Die traurige Wahrheit
dieses Ausspruches kommt uns immer deutlicher zum Bewußtsein,
wenn wir die sittliche Verwilderung sehen, die der Weltkrieg hervor-
gerufen hat. Da müssen denn alle diejenigen, denen die sittliche
Höherentwicklung der Menschheit am Herzen liegt, nicht nur hoffen
und wünschen, sondern mit allen Kräften daran arbeiten, daß neben
dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen auch der sittliche Wieder-
aufbau möglichst rasch und mit möglichst großer Energie in die Wege
geleitet werde.
Die soziologische Ethik vermag die Richtlinien zu ziehen, in
denen sich diese wiederaufbauende Arbeit wird bewegen müssen. Die
Staaten und Völker dürfen die Entscheidung über ihre wichtigsten
Existenzfragen nicht mehr einzelnen Machthabern überlassen, sondern
müssen in fortschreitender Demokratisierung ihre Geschicke selbst
in die Hand nehmen. Nicht bloß durch die gewählten Vertreter,
sondern bei besonders wichtigen Anlässen auch durch Volksabstim-
mungen müssen die Bürger den Gesamtwillen des Staates und Volkes
klar und deutlich zum Ausdruck bringen. Durch eine solche Demo-
kratisierung, mit der vielfach auch eine Sozialisierung des Wirtschafts-
lebens Hand in Hand gehen wird, muß das Verantwortungsgefühl
besonders der zur Leitung Berufenen sich vertiefen. Daraus aber muß
sich allmählich das Bewußtsein der Staatenwürde und aer
V ö 1 k e r w ü r d e entwickeln, und die aus dieser sich ergebenden
sittlichen Forderungen werden dann allgemeine Anerkennung finden.
Dadurch werden zunächst die Beziehungen der Staaten untereinander
auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Interessenkonflikte können sich
ja auch zwischen demokratisch regierten Staaten ergeben, aber kein
Staatsmann wird es dann so leicht wagen, mit Krieg zu drohen und
an die Waffen zu appellieren. Die Völker werden sich nicht selbst
/ur Schlachtbank drängen, sondern den Rechtsweg betreten, der ja
durch das Schiedsgericht im Haag und die zahlreichen Schiedsgerichts-
verträge bereits hinreichend gebahnt ist.
Aber auch die Beziehungen des Staates zu seinen Bürgern und
der Bürger zum Staate müssen durch Erstarkung des Bewußtseins
der S t a a t e n w ü r d e bedeutsame Wandlungen erfahren. Die Lenker
des Gemeinwesens müssen zwar die Beachtung der sozialen Imperative
fordern und auf die Einhaltung der Staatsgebote mit aller Strenge
dringen, aber sie müssen zugleich immer darauf bedacht sein, daß
die sozialen Imperative nichts enthalten, was die Menschenwürde
verletzt, und daß die Staatsgebote mit den Menschheits-
geboten in keinen zu argen Konflikt kommen. In der Steuergesetz-
gebung, in der Rechtspflege und in der ganzen Verwaltung müssen
diese Grundsätze maßgebend sein. Von ganz besonderer Wichtigkeit
ist es jedoch, daß in diesem Sinne die Erziehung der jugend
§ 50. Soziologische Ethik 327
geleitet werde. Der heranwachsenden Generation müssen neue Ideale
in die Seele gepflanzt werden. Das Gefühl der Zugehörigkeit zum
Staat, der Opferwilligkeit für den Staat und der daraus sich ergebenden
Pflichten der Einordnung und Unterordnung muß sorgfältig gepflegt
und nach den besten Methoden kräftig entwickelt werden. Zugleich
aber muß schon bei der Jugend das Bewußtsein der Menschen-
würde geweckt und das Verständnis für die daraus sich ergebenden
höheren sittlichen Forderungen allmählich entfaltet werden*). Der
heranwachsenden Generation soll nicht nur die Überzeugung bei-
gebracht werden, daß jeder sich dem Staate einordnen muß, sondern
auch die Verpflichtung, an den Einrichtungen des Staates selbst mit-
zuarbeiten und sich für seinen Staat mitverantwortlich zu fühlen.
Der künftige Staat wird sich somit als ein Organ der sittlichen
Höherentwicklung betrachten müssen und keineswegs das Recht haben,
wie es die Machtpolitiker behaupten, das Moralische aus seinem
Wirkungskreise auszuschalten. Er wird für seine Bürger die Macht
und die Autorität bleiben, von der die sozialen Imperative ausgehen,
und er wird dafür sorgen, daß diese Imperative tief in die Seelen ein-
dringen und so zu sittlichen Pflichten werden. Der demokratische Staat
der Zukunft wird aber auch jedem einzelnen seiner Bürger die freieste
Entfaltung und Betätigung seiner Anlagen und Fähigkeiten gewähr-
leisten und es so möglich machen, daß das Bewußtsein der M e n-
schenwürde sich recht befestige und vertiefe.
In diesem Bewußtsein ruht aber der eigentliche moralische Wert
jedes Menschen und darin liegt zugleich der Antrieb zur steten
Höherentwicklung. Die Menschenwürde verlangt von jedem Einzelnen
unbedingte Wahrhaftigkeit, weil jede Lüge eine Verleugnung unseres
besseren Selbst ist. Wenn es trotzdem soziale Imperative gibt, die das
Opfer der Lüge verlangen, so bewirkt das Bewußtsein der Menschen-
würde, daß wir jede Lüge als ein Opfer empfinden, und erfüllt uns
mit dem Streben, solche Einrichtungen, die zur Lüge verleiten, nach
Kräften umzugestalten und überflüssig zu machen. Die Menschen-
würde verlangt Gerechtigkeit nicht nur innerhalb des Staates, sondern
auch zwischen den Staaten und Völkern. Die Menschenwürde gebietet
Duldsamkeit, denn es liegt in ihrem Wesen, die Eigenart eines jeden
und seine tiefgegründeten Überzeugungen zu achten. Die Menschen-
würde ist schließlich auch die Quelle, aus der die wahre und wirksame
Menschenliebe fließt. Ich meine damit nicht die schwärmerische
Liebe, die die Millionen umschlingen will, sondern die verständnis-
innige, auf tiefer Einsicht in die Seele des Mitmenschen ruhende, nicht
leidenschaftliche, aber eben darum dauernde Menschenliebe, die die
Menschen wirklich einander näher bringt.
Das Bewußtsein der Menschenwürde ist ein Produkt der
individualistischen Entwicklungstendenz, die zum Universalismus
geführt und die Idee der ganzen Menschheit als einer großen Einheit
geschaffen hat. Aus dieser Idee ist wiederum die Forderung der all-
*) Vgl. dazu Jerusalem, „Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen",
1912, S. 290 ff.
J28 Soziologie und Geschichtsphilosophie
gemeinen Menschlichkeit, der Gedanke der Humanität hervorgegangen.
den die vornehmsten üeister aller Zeiten als allgemein verbindliche
sittliche Forderung hingestellt und uns in die Seele gepflanzt haben.
Diesen Zusammenhang zwischen Mensch und Menschheit, zwischen
dem Bewußtsein vom Eigenwert jedes einzelnen Menschen und der
ganzen Menschheit als einer großen Einheit, kurz den Zusammenhang
zwischen Individualismus und Universalismus darf man keinen Augen-
blick außer acht lassen, wenn man die sittliche Entwicklung der
Menschheit verstehen und ihre Ziele erfassen will.
Der individualistische Ursprung des Humanitätsgedankens hat
nicht selten eine Auflehnung einzelner von den Forderungen der all-
gemeinen Menschlichkeit tief durchdrungener Persönlichkeiten gegen
eleu Staat zur Folge gehabt, gegen den Staat, der sich lediglich als
Machtorganisation betrachtet und die Freiheit der Bürger einschränkt.
So hat Wilhelm v. Humboldt, in dessen Person uns die Synthese von
Individualismus und Universalismus vielleicht am lebendigsten ent-
gegentritt, seine schriftstellerische Tätigkeit mit einem Versuche be-
gonnen, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Er
ist im Alter von 25 Jahren aus dem Staatsdienst getreten und dieser
Austritt war, wie Spranger treffend bemerkt, sein erstes Bekenntnis
zur Humanität. Sein innerstes Streben ist auf Selbstbildung gerichtet.
„Den Weg zu suchen, der mich, nur mich zum höchsten Ziele führte,
schien mir meine Bestimmung." Schillers bekanntes Distichon :
Zur Nation euch zu bilden, ihr sucht es, Deutsche, vergebens.
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus,
ist von einer ähnlichen Tendenz getragen. Herbert Spencer hat in
seiner Schrift „Man versus state" (Das Individuum gegen den Staat)
gegen jede Einmischung des Staates in die wirtschaftliche und in die
kulturelle Freiheit des Einzelnen Protest erhoben. Schon lange vor ihm
hatte John Stuart Mill in seiner Schrift „On liberty" (Über Freiheit)
sich in ähnlicher Weise ausgesprochen und hatte darin auch den
Einfluß der öffentlichen Meinung und der Tradition als freiheits-
feindlich bezeichnet.
Alle diese Bestrebungen selbständiger und vornehmer Geister
nach unbedingter „Freiheit vom Staate" erweisen sich aber nicht nur
als ganz undurchführbar, sondern führen auch, konsequent zu Ende
gedacht, zu sehr bedenklichen Folgen. Tatsächlich kann der Mensch
nur in der staatlichen Gemeinschaft wirklich leben und nur da seine
Anlagen entfalten. Die egoistischen Triebe sind aber bei der über-
wiegenden Mehrzahl so stark, daß eine staatliche Bindung noch
auf lange Zeit hinaus nicht wird entbehrt werden können, wenn das
/u>ammenleben nicht ernstlich gefährdet werden soll. Wir brauchen
also den Staat mit seinen sozialen Imperativen und müssen auch
weiter dahin wirken, daß diese sozialen Imperative im Bewußtsein
der Staatsbürger zu sittlichen Pflichten werden.
Die geschichtliche Entwicklung hat es aber mit sich gebracht,
daß das allmählich erstarkende Bewußtsein der Menschenwürde
§ 50. Soziologische Ethik 32Q
auf die Gesetzgebung der Staaten Einfluß gewonnen und dadurch
zugleich den Wirkungskreis des Staates im Sinne der Humanität
wesentlich erweitert hat. Wir dürfen deshalb mit Bestimmtheit er-
warten, daß die Entwicklung sich in derselben Richtung weiter
bewegen wird. Die Staaten werden sich darauf einrichten müssen,
daß sie auch den gesteigerten ethischen Bedürfnissen ihrer Bürger
Rechnung tragen und bei der Formulierung ihrer sozialen Imperative
streng darauf achten, daß die Staatsgebote mit den Mensch-
heitsgeboten nicht in Widerspruch geraten. Schließlich muß es
dazu kommen, daß die Staaten die Menschheitsgebote selbst in ihre
sozialen Imperative aufnehmen und ihnen dadurch eine stärkere Ver-
bindlichkeit verschaffen. Dazu können aber die Staaten nur dadurch
gelangen, daß sie sich selbst mit dem Bewußtsein der Menschenwürde
durchdringen oder, was dasselbe sagen will, in sich und besonders
in ihren Lenkern das Bewußtsein der Staaten- und Völker-
würde entwickeln und die daraus sich ergebenden sittlichen For-
derungen voll anerkennen. Dann dürfen sie sich aber nicht mehr als
absolut souveräne Machtorganisationen betrachten, die sich selbst
Zweck sind. Sie müssen sich vielmehr als Träger der Mensch-
heit s i d e e ansehen lernen, zu deren Verwirklichung beizutragen
ihre höchste Bestimmung ist. Indem also die Staaten die individua-
listische Entwicklungstendenz und die Menschenwürde als berechtigte
Forderung anerkennen, kommen sie aus ihrem Staatsegoismus und
Staatsindividualismus heraus und gelangen selbst zu einem neuen
Universalismus, der jetzt aber nicht mehr bloß zum Welt-
bürgertum, sondern darüber hinaus zur Organisation
der Menschheit führt.
Dieses hohe Ziel der sittlichen Entwicklung kann nur durch die
Staaten und Völker, die sich zu einer Art von Persönlichkeiten höherer
Ordnung ausgestalten, der Verwirklichung nähergebracht werden.
Piaton und Aristoteles haben den Staat als eine „moralische Anstalt"
betrachtet und ihm die Verwirklichung der Gerechtigkeit als Ziel
gesetzt. Zu dieser hohen Auffassung müssen wir uns wieder auf-
schwingen, und jeder Einzelne kann dazu beitragen, wenn er in
seiner politischen Betätigung immer darauf hinarbeitet, daß nur
solche Männer mit der Leitung des Gemeinwesens betraut werden,
die von den ethischen Aufgaben des Staates tief durchdrungen sind.
Gelingt es auf diesem Wege, das Bewußtsein der Staaten- und Völker-
würde in der Seele der Staatenlenker zu stärken, zu vertiefen und
allgemein zu machen, dann werden sich alle Nationen der Erde
wirklich zu einem Staaten- und Völkerbund vereinen, der
den Krieg und die Kriegsbereitschaft aus dem Völkerleben ganz aus-
schaltet und der sittlichen Halbheit ein Ende macht, die durch den
tatsächlich bestehenden Kompromiß zwischen Kriegsmoral und
Friedensmoral einen ständigen Widerstreit und eine bisher unlösbare
Antinomie des sittlichen Bewußtseins geschaffen hat. Die Zeit muß
kommen, die von den Propheten des Alten Bundes verkündet wurde,
die Zeit', „wo kein Volk gegen das andere das Schwert erhebt, und
wo man' den Krieg nicht mehr lernt" (Jes. 2, 4, Micha 4, 4).
330 Soziologie und üeschichtsphilosophie
Der Weltkrieg scheint den Gedanken einer friedlichen Vereinigung
aller Staaten und Völker der Verwirklichung nähergebracht zu haben.
Wenn auch der Völkerbund bisher noch allzu deutlich die Spuren der
Machtpolitik an sich trägt, so ist doch gegründete Hoffnung vor-
handen, daß die fortschreitende Demokratisierung auch die siegreichen
Staaten zur Selbstbesinnung veranlassen und ihnen die sittlichen
Forderungen, die sich aus der erschütternden Weltkatastrophe ergeben,
immer deutlicher zum Bewußtsein bringen wird. Je mehr sich die
Staaten als Glieder der ganzen Menschheit als einer großen Einheit
betrachten lernen, desto klarer werden sie einsehen, daß sie durch
Verwirklichung, das heißt durch Organisation dieser Einheit ihre
eigenen Interessen am besten zu wahren vermögen, und daß sie sich
im Rahmen dieser großen Organisation um so ungestörter ihren
eigenen Kulturaufgaben widmen können.
So ist denn unsere soziologische Ethik geeignet, Vertrauen zu
den Menschen und zur Menschheit in unsere Seele zu pflanzen.
Wir haben gesehen, wie der Mensch, der als sozial gebundenes
Herdentier begann, sich zur Persönlichkeit entwickelte und die sozialen
Imperative zu sittlichen Pflichten auszugestalten vermochte. Er hat
gelernt, sich dem größeren Ganzen, das ihn stützt und erhält, ein-
zuordnen und unterzuordnen und eben dadurch seine Gaben immer
reicher zu entfalten. Er hat sich aber auch vom Zwange der Staats-
gewalt zu befreien verstanden und sich als einen Teil der ganzen
Menschheit fühlen gelernt. Durch den inneren Reichtum, den er auf
diesem Wege erworben, durch die Selbständigkeit, die er errungen,
hat er sich zum Bewußtsein der Menschenwürde erhoben und
verlangt nun von dem äußerlich und innerlich größer gewordenen
Staat, daß er ihm dazu helfe, die Forderungen der Menschenwürde,
die Menschheitsgebote, für alle Menschen und für alle
Staaten verbindlich zu machen und so die Idee einer einheitlichen,
innerlich verbundenen großen Menschheit der Verwirklichung näher-
zubringen.
Auf Grund unserer Darlegungen wird es uns nicht schwer, zu
den oben angegebenen Problemen der wissenschaftlichen Ethik Stellung
/u nehmen.
In bezug auf die Frage nach dem Ursprung des sittlichen Bewußt-
seins bekennen wir uns mit voller Entschiedenheit zum sozio-
logischen Evolution ismus und lehnen den Apriorismus ab.
Unsere Darstellung hat gezeigt, daß die Frage nach der Geltung
der ethischen Normen von ihrer tatsächlichen Entstehung und Ent-
wicklung keineswegs losgelöst werden kann. Wir können vielmehr
den Umfang und die Stärke ihrer bindenden Kraft nur mittels der
genetischen und soziologischen Betrachtungsweise erkennen und
würdigen. Die I rhabenheit und die Idealität der sittlichen Forderungen
wird dadurch keineswegs herabgemindert, sondern im Gegenteil
gesteigert und erhöht. Auf Grund der aphoristischen Annahme einer
ewigen, zeitlosen ethischen Struktur der praktischen Vernunft erscheint
der Gegensatz zwischen dem, was die Menschen wirklich tun, und dem,
was sie nach den Forderungen des für ewig und unbedingt gültig
§ 50. Soziologische Ethik 33 \
erklärten Sittengesetzes tun sollten, ebenso erschreckend als un-
begreiflich. Auf dem Standpunkte des Evolutionismus hingegen
müssen wir der Kraft und der Leistung des Menschen, der sich vom
sozial gebundenen Herdentier, das blind seinen Instinkten und Trieben
folgte, zum Bewußtsein der Menschenwürde emporgearbeitet hat, die
Idee der ganzen Menschheit als einer großen Einheit geschaffen und
daraus die Forderung der allgemeinen Menschlichkeit, den Gedanken
der Humanität herausentwickelt hat, die höchste Bewunderung zollen.
Als Zweck und Ziel der sittlichen Forderungen betrachten
die antiken Ethiker und mit ihnen viele neuere Denker die individuelle
Glückseligkeit und bekennen sich demgemäß zum E u d a i-
monismus. Wir haben oben (S. 2131) auf die verschiedenen
Formen des Eudaimonismus hingewiesen und können jetzt sagen, daß
die soziologische Ethik sich bei dieser Zielsetzung nicht beruhigen kann.
Die tatsächliche Entwicklung zeigt uns vielmehr, daß der Mensch
und die Menschheit sich immer weitere und immer höhere Ziele setzen.
Das allmählich erstarkende und sich vertiefende Bewußtsein der
Menschenwürde stellt nicht nur dem einzelnen Menschen immer neue
Aufgaben, sondern hat auch den ethischen Wirkungskreis des Staates
wesentlich erweitert. Dieses stete Vorwärtsstreben, das mit dem Er-
reichten nie zufrieden ist, darf man wohl als ethischen Idealismus
im eigentlichsten Sinne bezeichnen. Gehört es doch zum Wesen des
Ideals, daß es in uns den Wunsch weckt und den Willen anregt,
ihm immer näher und näher zu kommen. Die soziologische Ethik,
die den Apriorismus Kants sich nicht anzueignen vermag, ist mit
dem großen Sittenlehrer darin einig, daß es nicht die Bestimmung
des Menschen sein kann, sich beruhigt auf ein Faulbett zu legen,
sondern auf ein höheres Ziel hinzuarbeiten als auf wunschlose Glück-
seligkeit. Das Bewußtsein der Menschenwürde, das von der Idee der
ganzen Menschheit als einer großen Einheit getragen wird, fordert
von uns, daß wir nicht ruhen, bis wir diese Einheit zur realen Wirklich-
keit, zu einer machtvollen Organisation ausgestaltet und die daraus
fließende Forderung der Humanität zur allgemeinen Anerkennung
gebracht haben.
Was nun die Motive des moralischen Handelns betrifft, so
haben wir bereits oben (S. 214 f.) gezeigt, daß weder der Egoismus
noch der Altruismus den objektiven Tatsachen gerecht zu werden
vermag. Als wirkliches und wirksames Motiv haben wir die fort-
schreitende Gegenseitigkeit bezeichnet, für die wir die von
Meynert gefundene Benennung Mutualismus vorschlugen. Die
soziologische Ethik lehrt nun, daß dieser Mutualismus sich sowohl
zwischen den einzelnen Menschen untereinander als auch in dem
Verhältnis von Staat und Individuum und schließlich zwischen den
Staaten herausbildet, und daß in der Weiterentwicklung und Ver-
tiefung dieser mannigfachen Gegenseitigkeiten der sittliche
Fortschritt besteht. Wir werden also sagen dürfen, daß der individuelle,
der soziale und schließlich der internationale Mutualismus als
die eigentlichen Motive des moralischen Handelns anzusehen sind,
und können noch hinzufügen, daß es jetzt nach dem Weltkriege von
312 Soziologie und Geschichtsphilosophie
besonderer Wichtigkeit ist, den internationalen Mutualismus mit allen
Kräften zu fördern.
In bezug auf die Sanktion der ethischen Normen, das heißt
in bezug auf die Bestimmung derjenigen Macht und Autorität, die
diesen Normen ihre bindende Kraft verleiht, scheiden sich die Ethiker
in Anhänger der Autonomie und in Vertreter der H e t e r o-
n o m i e (S. 215 f.). Die soziologische Ethik zeigt uns nun, daß keine
der beiden Auffassungen in ih^er starren Einseitigkeit dem wahren
Tatbestand gerecht zu werden vermag. In primitiven Zeiten treten
die sozialen Imperative der Gruppe zweifellos dem Einzelnen als
etwas von außen Aufgezwungenes, als überpersönliche Macht und
Autorität gegenüber. Wir haben aber gesehen, daß diese Imperative
zu sittlichen Pflichten erst dann sich ausgestalten, wenn sie tief in
die Seelen eingedrungen sind und von dem Einzelnen innerlich an-
erkannt werden. Es muß also zu der Fremdgesetzgebung, die von
oben und von außen kommt (Heteronomie), die von innen stammende
Eigengesetzgebung (Autonomie) hinzutreten, damit die Forderung
sittlichen Charakter und ethisch bindende Kraft erhalte. Solange also
die Pflicht als das einzige Sittengebot erscheint, solange müssen
wir zweifellos immer ein Zusammenwirken von Autonomie und Hetero-
nomie als Bedingung einer wirksamen Sanktion konstatieren. Das
Bewußtsein der Menschenwürde scheint nun allerdings For-
derungen zu zeitigen, deren Quelle und bindende Kraft ausschließlich
in unserem eigenen Gewissen zu suchen ist. Man könnte demnach
vielleicht sagen, daß der Mensch sich erst langsam und allmählich
zur sittlichen Eigengesetzgebung, zur ethischen Autonomie hinauf-
entwickelt habe. Da wir jedoch wissen, daß die Forderungen der
Menschenwürde von der Idee der ganzen Menschheit als einer großen
Einheit getragen werden, weshalb wir diese Forderungen auch als
Menschheitsgebote bezeichnet haben, so müssen wir wohl
zugeben, daß bei der Sanktion dieser Forderungen nicht nur unser
eigenes Gewissen, sondern auch die Idee der ganzen Menschheit eine
wichtige Rolle spielt. Unser Gewissen erhebt diese Forderungen gewiß
im Gefühl seiner inneren Souveränität. Wir verlangen aber auch vom
Staate, daß er die Menschheitsgebote zu sozialen Imperativen mache
und dadurch ihre Befolgung gewährleiste. Wir streben ferner dar-
nach, daß die Staaten in ihren Beziehungen zueinander die
Forderungen der Menschenwürde, das heißt die Menschheitsgebote,
für sich als bindend betrachten, und •sehen es als unser großes Ziel
an, eine ( Mganisation der ganzen Menschheit zu schaffen, die berufen
wäre, die Menschheitsgebote zu allgemeinen Imperativen zu erheben
und durch ihre Macht und Autorität zugleich die Möglichkeit besäße,
i.kn Forderungen der Menschenwürde die wirksamste Sanktion zu
verleihen. So wird auch bei den Forderungen der Menschenwürde
die Eigengesetzgebung des Gewissens gestützt und getragen von der
Idee der ganzen Menschheit und der darin liegenden Macht und
Autorität.
Bei diesem Zusammenwirken von Autonomie und Heteronomie
spielt nun auch die Religion eine sehr bedeutsame Rolle. Die
§ 50. Soziologische Ethik 3jj
soziologische Ethik zeigt uns auch hier eine fortwährende Wechsel-
wirkung von Religion und Sittlichkeit. Religiöse Vorstellungen und
Gefühle vermögen den sittlichen Forderungen eine innere Weihe und
tröstliche Wärme zu verleihen, die sie auf anderem Wege kaum jemals
gewinnen können. Anderseits aber erfahren die Religionen infolge
der durch das Zusammenleben der Menschen sich herausbildenden
ethischen Imperative eine fortwährende Verinnerlichung und Läuterung.
Am deutlichsten können wir diesen Einfluß der sittlichen Forderungen
auf die Auffassung der Götter bei den alten Griechen in der Zeit von
Homer bis Sophokles (etwa 900—400 v. Chr.) beobachten. Wir sehen
es hier geradezu anschaulich, wie die Götter, die bei Hotner teils
personifizierte Naturkräfte, teils menschliche Wesen sind, die mit
allen menschlichen Schwächen behaftet erscheinen, sich allmählich
zu Wächtern einer sittlichen Weltordnung ausgestalten, die das Gute
belohnen, das Böse bestrafen und als Urheber der ewigen, un-
geschriebenen Gesetze gelten, die eine weit stärkere bindende Kraft
haben, als sie Menschensatzung je erlangen kann. Es liegt ganz
in der Richtung dieser Entwicklung, wenn wir bei Plato bereits einen
deutlich ausgesprochenen ethischen Monotheismus finden. Etwas
Ähnliches finden wir in der altisraelitischen Religion. Der Stammesgott
Jahweh führt sein erwähltes Volk aus Ägypten, hilft ihm die Völker
Kanaans unterwerfen und gibt ihm dieses Land zu eigen. Er
wird deshalb als „Herr der Heerscharen'* und als „Kriegsmann"
gepriesen. Er verlangt von seinem Volke strengen Gehorsam und
bedroht es mit furchtbaren Strafen, wenn es von ihm abfällt. Er
verlangt Opfer und Feste zu seiner Ehre. Bald aber treten innerlich
starke Naturen, die von der hohen Bedeutung der sittlichen For-
derungen tief durchdrungen sind, auf und gestalten diese Gottes-
vorstellung gründlich um. Die Propheten Israels predigen dem Volke
mit eindringlicher Kraft, daß Opfer und Fasten keineswegs etwas Gott
Wohlgefälliges sei. Gott fordere vielmehr vom Menschen gar nichts
anderes als vollständige Wahrhaftigkeit, unbedingte Gerechtigkeit
und vor allem werktätige Menschenliebe (vgl. Jes. 1,17, Micha 6, 8
und besonders Jes. 58 und den fünfzehnten Psalm).
Das Christentum nimmt die Ethik der Propheten in sich auf
und verkündet gerade in seinen Anfängen sittliche Lehren von der
größten Erhabenheit. Die germanischen Völker werden durch die
religiöse Macht der katholischen Kirche zu innerer Zucht und zur
Opferfähigkeit erzogen. Als aber diese Kirche im späteren Mittel-
alter verweltlichte, wurde sie durch das erstarkte sittliche Bewußtsein
vielfach ihrer alten Bestimmung wieder zugeführt. Da macht sich
zunächst das Bedürfnis nach persönlicher Frömmigkeit bei den Bettel-
orden und in der religiösen Mystik geltend. Dann aber ertönt der Ruf
nach Reformen immer lauter. Der Protestantismus will das ur-
sprüngliche Christentum wiederherstellen und nennt sich deshalb die
evangelische Kirche. Die sittliche Läuterung der Religion
erfolgt hier durch Wiederherstellung des Ursprünglichen. Auch die
katholische Kirche leitet in der Gegenreformation eine sittliche Er-
neuerung ein und so sehen wir die stete Wechselwirkung zwischen
}34 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Religion und Sittlichkeit auch innerhalb des Christentums sich voll-
ziehen. Man darf deshalb auch für die Zukunft eine Fortdauer dieser
Wechselbeziehungen erwarten und sich davon eine kulturelle Höher-
entwicklung der Menschheit versprechen.
Die soziologische Ethik, von der wir hier nur die Grundzüge
entwerfen konnten, hat uns dennoch auch in dieser kurzen Skizze
die Fruchtbarkeit der soziologischen Methode erkennen lassen. Viel-
umstrittene Probleme haben durch diese Methode, wenn auch nicht
immer ihre endgültige Lösung, so doch jedenfalls wesentliche Klärung
gefunden. Unsere Darlegungen haben uns dabei einen Blick tun
lassen in die Entwicklung der ganzen Menschheit und uns damit
die Frage nach dem Sinn der Geschichte und nach den darin
wirksamen Kräften nahegelegt. Mit diesen Problemen beschäftigt sich
aber ein eigener Teil der Philosophie, den wir jetzt als notwendige
Ergänzung der Ethik und Soziologie betrachten dürfen. Beide führen
uns hin zu den Fragen, die den Gegenstand der Geschichts-
philosophie bilden.
§ 51. Die Philosophie der Geschichte
Mit der Soziologie nahe verwandt, aber doch nicht ganz mit ihr
identisch ist die Philosophie der Geschichte*). Wir ver-
stehen darunter zunächst das Nachdenken über etwaige Gesetze,
über den Sinn und über das Ziel der geschichtlichen Entwicklung
der Menschheit. Die nahe Verwandtschaft der Geschichtsphilosophie
mit der Soziologie beruht darauf, daß der Gegenstand der Geschichts-
forschung, wie Bernlie'un (S. 9) sehr richtig sagt, der Mensch als
sozialesWesen ist. Der Unterschied zwischen beiden Disziplinen
liegt darin, daß die Soziologie es mit den Gruppen selbst und mit
den darin sich entwickelnden Beziehungen zwischen dem Ganzen und
den einzelnen Individuen zu tun hat, während die Philosophie der
Geschichte die Ergebnisse dieser Beziehungen in dem bisher gegebenen
geschichtlichen Verlauf mit Zugrundelegung einer allgemeinen Welt-
und Lebensanschauung betrachtet und auf diese Weise die historischen
Kräfte in ihrer Stärke und Richtung kennen lernen will. Die Philo-
sophie der Geschichte setzt also streng genommen die Soziologie
voraus und wird durch den Fortschritt dieser Wissenschaft zu immer
neuen Fragestellungen und zu neuen Lösungen angeregt.
Geschichtsphilosophische Gedanken treten uns zuerst bei den
Propheten Israels in der Form von Verheißungen entgegen. Gott wird
alle Völker der Erde vereinen, „sie werden ihre Schwerter zu Pflug-
*) Den Ausdruck „philosophie de l'histoire" scheint zuerst Voltaire ge-
braucht zu haben. I.r betitelte so eine Abhandlung, die er im Jahre 1765 heraus-
gab und 176°. unter der Bezeichnung „Introduction" seinem „Essay sur les inoeurs
et l'esprit des nations" voransetzte. Bernneim, Lehrbuch der historischen Methode
und der Geschichtsphilosophie, 5. und 6. Aufl., 1908, S. OSO. In diesem rühmlichst
bekannten, überaus gediegenen Werke findet man S. 685 -747 eine sehr inhalts-
und gedankenreiche Übersicht über die Entwicklung und die Aufgaben der Ge-
schichtsphilosophie, die hier trotz mancher Abweichungen dankbar benützt wurde.
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 335
scharen umschmieden und ihre Spieße zu Winzermessern. Kein Volk
wird gegen das andere das Schwert erheben und sie werden nicht mehr
den Krieg lernen" {Jesaia 2, 4). Ähnliche Verheißungen des ewigen
Friedens und der Völkervereinigung finden sich öfter (z. B. Jes. 11
und 56, Micha 4, 4). Der Gedanke einer göttlichen Leitung der
Menschheitsgeschichte ist hier zum erstenmal ausgesprochen.
Bei den Griechen hatten zwar, wie bereits erwähnt wurde, die
Kyniker und die Stoiker die Gleichheit und die Verbindung aller
Menschen betont, vom Schicksal und von der Vorsehung gesprochen,
aber von einer einheitlichen Betrachtung der Geschichte und von einem
bestimmten Ziele derselben ist nirgends die Rede.
Die Römer betrachten sich als die Herren der Erde und
Augustus sah es gerne, als Vergü das Kommen der Römerherrschaft
als Beschluß Jupiters darstellte, schrieben aber diesen Verlauf doch
hauptsächlich der Kraft und der Geschicklichkeit ihrer Staatsmänner
und Feldherren zu. Es war ihre Sache nicht, über solche Dinge zu
grübeln.
Erst im Christentum kommt die Idee einer göttlichen Leitung
der Weltgeschichte zu klarer Formulierung. Alle Menschen sind
Kinder Gottes und darum Brüder. Alle sind durch Christus der Er-
, lösung teilhaftig geworden und somit ist jedem der Weg zum inneren
Frieden und zur ewigen Seligkeit gezeigt und gebahnt. Es liegt nun
der Gedanke nahe, hier einen göttlichen Plan zu finden, der die
Geschicke der Menschheit in einem bestimmten Sinne leitet und einem
gemeinsamen Ziele zuführt. Diesen Gedanken hat der Kirchenvater
Augustinus in seiner vollen Tiefe erfaßt und uns in seinem Werke
„Über den Gottesstaat" die erste geschichtsphilosophische Betrachtung
großen Stiles gegeben.
Die geschichtliche Entwicklung des Menschengeschlechtes beruht
nach Augustin auf einer planmäßigen Leitung durch die göttliche
Vorsehung. „Von Gott, der nicht nur dem Himmel und der Erde,
nicht nur dem Menschen und dem Engel, sondern auch den Ein-
geweiden des kleinsten und verächtlichsten Lebewesens, der Feder des
Vogels, der Blüte der Pflanze, dem Blatte des Baumes harmonische
Einheit seiner Teile und eine Art von innerem Frieden verliehen hat,
von diesem Gott kann und darf man nicht glauben, daß er die Reiche
der Menschen, ihre Herrschaft und ihre Knechtschaft von den Gesetzen
seiner Vorsehung ausgeschlossen sehen wollte" ( Buch V, Kap. 1 1
des „Gottesstaates"). Das Menschengeschlecht bildet eine Einheit
weil alle Kinder Gottes sind. Diese Einheit wurde jedoch durch die
Sünde Adams gebrochen. Seitdem gibt es in der Welt zweierlei Bürger
und zweierlei Staaten. Der eine ist der menschliche, irdische, dem
Fleische zugekehrte, der andere der göttliche, himmlische Staat, der im
Geiste lebt. Der irdische entsteht aus der Liebe des Menschen zu sich
selbst, die bis zur Verachtung Gottes führt, der andere aus der Liebe zu
Gott, die bis zur Selbstverachtung führt (XIV, 28). Augustin teilt die
Geschichte bald in zwei, bald in drei und einmal auch in sechs Epochen
ein. Die letzte ist immer diejenige, die mit dem Erscheinen Christi
auf Erden beginnt. Christus hat den Gottesstaat errichtet, der aus
33ö Soziologie und Geschiclitsphilosophie
der Vereinigung aller wahrhaft Frommen und Gläubigen besteht.
Dieser Gottesstaat wird alle irdischen Staaten überdauern und der
ganzen Menschheit ewiges Leben und inneren Frieden bringen.
Der Gottesstaat Augustinus ist die römische Kirche und diese
hat sich seither immer als die Trägerin dieser Idee gefühlt. Das Ziel
aller Geschichte ist somit nach Augustin die allgemeine Herrschaft
der christlichen Kirche. Diese Auffassung bleibt durch das ganze
Mittelalter bestehen und wirkt heute noch fort. Aber auch abgesehen
von der Kirche bleibt Augustins Gedanke von der göttlichen Leitung
des Menschengeschlechtes für die Auffassung der Geschichte wirksam.
Bossuet sucht in seinem 1681 erschienenen „Discours sur l'histoire
universelle" zu beweisen, daß eine göttliche Hand die Menschheit führt.
Lessing spricht von einer „Erziehung des Menschengeschlechtes", und
noch im neunzehnten, ja sogar auch im zwanzigsten Jahrhundert
erscheinen groß angelegte Geschichtsphilosophien, die denselben Ge-
danken zum Ausdruck bringen*).
Die theologische Auffassung der Geschichte, die im Alten
Testament gelegentlich angedeutet, von Augustin ausgestaltet wurde
und durch seinen unmittelbaren oder mittelbaren Einfluß bis auf unsere
Tage sich erhalten hat, konnte jedoch das erwachte wissenschaft-
liche Bewußtsein nicht auf die Dauer befriedigen. Wir finden daher
seit dem sechzehnten Jahrhundert immer wieder erneute Versuche,
die geschichtliche Entwicklung der Menschheit aus den natür-
lichen Bedingungen heraus zu verstehen, den Einfluß von Klima
und Bodenbeschaffenheit herauszustellen, die ursprünglichen Anlagen
und Neigungen der Menschen zu untersuchen und, wenn irgend
möglich, die in diesen Momenten enthaltenen Richtungen und Ziele
zu bestimmen.
Die oben genannten Arbeiten von Bodin, Althusius, Hobbes,
Locke, Montesquieu und Rousseau sind auch für die Geschichts-
philosophie von Bedeutung. Allein wir finden außer den genannten
noch einige, die sich ganz direkt mit der philosophischen Betrachtung
des geschichtlichen Werdens beschäftigen und so eine wirkliche Philo-
sophie der Geschichte begründen.
Hier ist zunächst der italienische Denker Giovanni Battista Vico
(1668—1744) zu nennen, dessen Bedeutung für die Geschichts-
philosophie erst in den letzten Jahrzehnten richtig erkannt wurde.
Sein Werk: „Prinzipien einer neuen Wissenschaft über das Wesen
der Nationen", darf als die erste Geschichtsphilosophie auf wissen-
schaftlicher, besonders auf psychologischer Grundlage bezeichnet
werden"). Vico hat die überaus wichtige Wahrheit ausgesprochen,
*) VgL Bernheim, S. 687 —691, und bes. Robert Flint. „The Philosophy of
History in France and Germanv", 1874, wo viele dieser Werke, z. B. die von
Bossuet, Bonald. Laurent, Krause, Friedrich Schlegel, Bunsen u. a., ausführlich
besprochen werden.
") Der italienische Titel lautet: Principi di una scienza nuova d'intorno alla
commune natura delle nazioni, zuerst 1725, dann in erweiterter Form 1730 erschienen.
I ine dritte, wenig veränderte Ausgabe erschien 1744, kurz nach dem Tode des
Wrfassers. Der französische Philosoph Michelct hat eine Auswahl aus Vicos
WVrken in zwei Bänden veröffentlicht, die alles Wesentliche enthält: Oeuvres
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 337
daß „diese bürgerliche Welt von den Menschen selbst gemacht worden
ist*' (Michelet I, 412). Daraus ergibt sich die Forderung, die Welt
der Geschichte nach den der Menschennatur eigentümlichen Anlagen
und Fähigkeiten zu durchforschen. Vico weiß ferner, daß „die Natur
der Dinge nichts anderes ist, als ihr Entstehen zu bestimmter Zeit
und auf bestimmte Weise" (14) und hat damit das überaus wichtige
Prinzip der genetischen Betrachtungsweise nach-
drücklich betont und durchgeführt. Ferner hat Vico auf die Bedeutung
der Sprache hingewiesen, aus deren Entwicklung sich sehr viel für
die Wandlung der Anschauungen und der Sitten eines Volkes lernen
läßt (18). Vico will in seiner neuen Wissenschaft eine Entwick-
lungsphilosophie des Geistes geben und grenzt dieses
Gebiet einerseits gegen die theologische Metaphysik, anderseits gegen
die Naturwissenschaft ab. Neben dem „Wahren", das die Philosophie
und Mathematik allein anstrebt, spielt in der Menschen- und Völker-
welt auch das „Gewisse" (certo), das bloß Wahrscheinliche, die auf
allgemeiner Zustimmung und auf geschichtlicher Überlieferung be-
ruhende Überzeugung, die das Handeln bestimmt, eine große Rolle
(9, 10). Mit geradezu erstaunlichem Tief blick hat Vico das indi-
vidualistische Element in der von Descartes befürworteten
geometrischen Methode erkannt und betont entschieden, daß in der
Wissenschaft vom Menschen neben der Vernunft auch das soziale
Moment der Autorität, das heißt der geschichtlichen Überlieferung,
von der allergrößten Bedeutung sei. Deswegen betrachtet er auch
den „senso commune", den gesunden Menschenverstand, die allgemein
geltenden Meinungen als eine sehr wichtige Erkenntnisquelle (11).
Vico ist Jurist und Philologe. Das gibt seinen Ausführungen
den echt historischen Charakter und ein wahrhaft soziales Gepräge.
Dabei bleibt er allerdings ein Kind seiner Zeit. In theologischer
Denkweise aufgewachsen, sucht er überall die Pläne der Vorsehung.
Seine historischen Kenntnisse beschränken sich zum großen Teil auf
die Bibel und die klassischen Autoren. Daher haben seine Epochen-
einteilungen einen etwas veralteten Charakter. Die römische Geschichte
ist für ihn der Typus der Staatengeschichte. Trotzdem aber ist seine
genetische Methode, sein Bedürfnis nach psychologischer Erklärung,
seine Abgrenzung der Geschichte gegenüber der Naturwissenschaft,
sein historischer und sein sozialer Sinn in hohem Grade geeignet,
anregend auf die moderne Geschichtsphilosophie zu wirken und es
wäre deshalb sehr zu wünschen, daß eine Auswahl seiner Werke
in deutscher Übersetzung allgemein zugänglich gemacht würde.
Als eigentlicher Begründer der Geschichtsphilosophie wird all-
gemein Herder angesehen. Er hat tatsächlich die ganze Entwicklung
choisies de Vico. Paris 1855. Nach dieser Auswahl ist hier zitiert. Im zweiten
Kapitel des ersten Buches der „Scienza Nuova" stellt Vico die Grundprinzipien
der neu zu gründenden Wissenschaft in 114 „Axiomen" zusammen. Diese finden
sich bei Michelet I, 335 — 391, übersetzt. Ich füge also den hier mitgeteilten
Sätzen in der Klammer nur die Nummer bei, unter der das Axiom zu linden ist.
Vgl. dazu auch das schöne Buch von Robert Flint über Vico in dem Sammelwerke
Philosophical Classics, worin eine sehr lichtvolle Darstellung der philosophischen
Entwicklung Vicos gegeben wird.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
338 Soziologie und Geschichtsphilosophie
der Menschheit unter einem einheitlichen Gesichts-
punkt betrachtet, und das ist ja charakteristisch für die philo-
sophische Methode. Seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit", die 1784 — 1787 erschienen, sind ein mit vollem
Bewußtsein unternommener Versuch, das treibende Moment in der
Entwicklung der Menschheit zu finden. Herder sagt selbst in der
Vorrede zu seinem Werk, es sei ihm oft der Gedanke gekommen, „ob
denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe,
nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der
Menschheit im ganzen und großen, eine Philosophie und Wissenschaft
haben sollte". Vieles sprach dafür, manches dagegen. Deshalb sagt
er: „Ich suchte nach einer Philosophie der Ge-
schichte, wo ich suchen könnt e." Diese deutliche Frage-
stellung und dazu der einheitliche Lösungsversuch, den Herder gibt,
sind echt philosophisch, und eben deshalb verdient Herder wirklich,
der Begründer der Geschichtsphilosophie genannt zu werden.
Herders Grundgedanke hängt aufs innigste mit dem neuen
Bildungsideal zusammen, das zu seiner Zeit entstand, und
das er selbst so wirksam zu fördern bemüht war*). Bildung ist jetzt
nicht mehr bloßes Wissen, sondern besteht in der Entfaltung der
seelischen Kräfte von innen heraus. Alles Menschliche im Menschen
soll durch Erziehung und Bildung zu lebendiger Entwicklung und
womöglich zur Alleinherrschaft gebracht werden. Das Ergebnis
einer derartigen Entfaltung des Menschlichen bezeichnet Herder als
Humanität, und diese ist auch für ihn das Ziel aller geschicht-
lichen Entwicklung. Eine gütige Vorsehung hat dem Menschen die
Anlage gegeben, die Tierheit in sich zu überwinden und Güte,
Menschenliebe, Freude am Schönen und sittliche Freiheit in sich zu
entwickeln. Der Gang der Geschichte zeigt nun nach Herders Meinung
einen langsamen, aber stetigen Fortschritt zur Humanität. Herder
führt uns auf diesem Wege und wir durchwandern mit ihm die Ent-
wicklung der Erde, der Pflanzen und Tiere bis hinauf zum Menschen
und durchleben seine bisherige Geschichte. Das Werk ist nicht ganz
vollendet und der historische Überblick ist in manchen Teilen recht
flüchtig. Überall aber leuchtet sein Grundgedanke durch und so
gewinnt man ein Bild, das zwar nicht immer richtig und nicht immer
gesättigt genug, aber doch immer einheitlich ist.
Herder ist durch und durch Psychologe und bleibt es auch in
seiner Geschichtsphilosophie. Der innige Zusammenhang von Natur
und Geist, von Leib und Seele bildet für ihn überall den Ausgangs-
punkt und den Grundstock seiner Welt- und Lebensauffassung. Hierin
steht er Goethe besonders nahe, mit dem er ja auch die Begeisterung
für den strengen Monismus Spinozas teilt. Deshalb weiß er auch
die Bedeutung von Klima und Bodenbeschaffenheit für die geschicht-
liche Entwicklung der Nationen so trefflich zu würdigen. Sein Grund-
gedanke aber, die Humanität, ist psychologisch gedacht als Ent-
') Vgl. darüber Jerusalem, „Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen",
1912, S. 45 ff., wo Herders Anteil am Neuhumanismus ausführlich dargelegt wird.
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 339
faltung der wertvollsten seelischen Kräfte des Menschen. Dadurch
bekommt seine Geschichtsphilosophie einen bisher weniger beachteten
Zug ins Individualistische. Herder betont zwar wiederholt,
daß der Mensch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von anderen
abhängt, er verkennt keineswegs die Bedeutung von Tradition und
Erziehung und spricht auch von der geselligen Natur des Menschen.
(„Ideen", 9. Buch, Kap. 1 und 2.) Allein das soziale Moment ist
für ihn nur Mittel zur Ausbildung des Individuums, nicht ein
integrierender Bestandteil der Menschenseele. Das Ziel der Geschichte
geht doch dahin, einzelne Menschen zu entwickeln, die durch Ent-
faltung ihrer menschlichen Anlagen zu innerer Harmonie und Zu-
friedenheit gelangen. „Es gibt also eine Erziehung des Menschen-
geschlechtes, eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch
wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von
Individuen lebt. Freilich, wenn jemand sagte, daß nicht der einzelne
Mensch, sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für
mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine
Begriffe sind, außer insofern sie in einzelnen Wesen existieren."
(Q.Buch, Kap. 1.) Herder bemerkt zwar gleich im folgenden, daß
kein einzelner durch sich allein zum Menschen geworden ist, und
daß das ganze Gebilde der Humanität in jedem Einzelnen durch die
Tradition und Erziehung bedingt sei. Er erkennt die Abhängigkeit
des Individuums vom Ganzen an, aber er untersucht sie nicht näher.
Herder ist Psycholog und Geschichtsphilosoph, er ist auch Meta-
physiker und Theologe. Was er aber noch wenig oder gar nicht kennt,
das ist der soziologische Gesichtspunkt. Deshalb bedarf seine
Geschichtsphilosophie einer Ergänzung*).
Einen wichtigen Beitrag dazu gibt Kant in seiner kleinen, aber
sehr inhaltreichen Schrift: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht", die im Jahre 1784 erschien (4, 141 ff.,
Hartenstelnsche Ausgabe). Kant findet, daß das Treiben der Menschen
auf den denkenden Beobachter zunächst einen traurigen Eindruck
mache. „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren,
wenn man ihr Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt
sieht, und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen
doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch
aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet."
„Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei
Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige
eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht
eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange mensch-
licher Dinge entdecken könne, aus welcher von Geschöpfen,
die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach
*) Herders Gedanke, daß Humanität der Endzweck der Geschichte sei,
ist auf breiterer Grundlage in neuerer Zeit wieder aufgenommen worden von
Lotze in seinem „Mikrokosmos" und von Wundt in seinem Werke: „Die Elemente
der Völkerpsychologie, Grundlinien einer psychologischen Entwicklungs-
geschichte der Menschheit" (1912). Wundt sucht auf Grund der Völkerpsycho-
logie eine tatsächliche Entwicklung zur Humanität nachzuweisen.
340 Soziologie und Geschichtsphilosophic
einem bestimmten Plane der Natur möglich sei" (4, 144). Kant
will einen Leitfaden für eine Geschichte in diesem Sinne suchen
und gibt einen solchen in neun inhaltsvollen Sätzen, die er kurz
erläutert. Koni findet, daß alle Naturanlagen eines Geschöpfes dazu
bestimmt sind, sich vollständig und zweckmäßig auszugestalten, daß
aber beim Menschen diejenigen Anlagen, die „auf den Gebrauch
seiner Vernunft abgezielt sind", sich nicht in jedem einzelnen Indi-
viduum, sondern nur in der Gattung vollständig entwickeln. Die
Natur hat ferner den Menschen so geschaffen, daß er „alles, was
über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht,
gänzlich aus sich selbst herausbringe". Nun folgt der weitaus be-
deutendste, soziologische und geschichtsphilosophische Gedanke, den
Kant im vierten seiner Leitsätze folgendermaßen formuliert: „Das
Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer
Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der
Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetz-
mäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Anta-
gonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen,
das ist den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit
einem durchgängigen Widerstand, welcher diese Gesellschaft beständig
zu trennen droht, verbunden ist."
Kant hat hier meiner Ansicht nach die Kernfrage der menschheit-
lichen Entwicklung berührt und das tiefste Problem der Geschichts-
philosophie mit genialem Blicke erfaßt. Die wechselnden Beziehungen
zwischen Gesellschaft und Individuum bilden den wesentlichen Inhalt
der Geschichte. Eine allseits befriedigende Gestaltung dieser Be-
ziehungen, das heißt eine vollständige Synthese von Individualismus
und Sozialismus kann als die höchste Aufgabe und als das Ziel der
Geschichte bezeichnet werden. Kant legt sehr anschaulich dar, wie
dieser Kampf alle Kräfte der Menschen anspannt und zu immer
festeren Organisationen der Gesellschaft führt. Verfehlt ist darin
meiner Überzeugung nach nur das eine, daß Kant die „ungesellige
Geselligkeit" als einen von allem Anfang an in der menschlichen Natur
herrschenden Zwiespalt ansieht, eine Annahme, die mit seiner Vorliebe
für das Apriori zusammenhängt. Dieser Zwiespalt ist aber tatsächlich
ein Produkt der Entwicklung und erfährt im Laufe der Zeit die mannig-
fachsten Variationen. Solchen Wandlungen auf allen Gebieten des
Kulturlebens nachzugehen, ist heute die wichtigste Aufgabe der Ge-
schichtsphilosophie und der Soziologie*). Kant zeigt in den folgenden
Leitsätzen, wie sich aus dieser ungeselligen Geselligkeit die Not-
wendigkeit ergibt, eine allgemeine, das Recht verwaltende bürger-
liche Gesellschaft zu bilden. Dieses Problem ist nach Kant
das schwerste und wird deshalb erst spät in Angriff genommen. Die
Aufgabe des Staates kann nicht gelöst werden, wenn nicht zugleich
das Verhältnis der Staaten untereinander geregelt wird. „Man kann
also die Geschichte der Menschengattung im großen als die Voll-
*) Kuno Franckr hat in seinem lehrreichen Buche: „Die Kulturwerte der
deutschen Literatur" (I. Bd., 1910) diesen Gesichtspunkt auf die Literaturgeschichte
angewendet und geistvoll verwertet.
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 34 1
Ziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich
und zu diesem Zwecke auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung
zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle
ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." (4, 153.)
„Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach
einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Ver-
einigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als
möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen
werden."
Kant sagt uns also, daß der Sinn und Zweck der Geschichte die
Errichtung einer möglichst vollkommenen Staatsverfassung ist und
daß dieser Zweck durch das fortgesetzte Nachdenken über die geschicht-
liche Entwicklung direkt gefördert werden kann. In seiner 1795
erschienenen Schrift „Zum ewigen Frieden" setzt Kant sehr lichtvoll
und schön die Möglichkeit eines dauernden Friedens auseinander und
sucht zu zeigen, daß die Natur den Menschen dazu geschaffen und
verpflichtet hat.
Wir finden also bei Kant geschichtsphilosophische Tiefblicke und
Anregungen, die erst heute Verständnis und Verwertung finden können.
Auf Herder und Kant fußend, hat uns Schiller in seiner
akademischen Antrittsvorlesung (1789) und in seiner Schrift „Die
ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) eine Reihe wertvoller
geschichtsphilosophischer Gedanken gegeben. Das Ziel der Geschichte
erblickt er mit Herder in der Entwicklung zur Humanität, aber er sieht
ein, daß der Mensch nur im Staate zum Menschen wird. Der Staat
ist nun allerdings ein Produkt der Not, muß aber zum Organ der
Vernunft und Sittlichkeit entwickelt werden. In dieser Erziehung
des Menschen durch Natur und Vernunft spielt nun — und das ist
Schillers eigenster und tiefster Gedanke — die Kunst und das
Schöne eine überaus wichtige Rolle. Im ästhetischen Genießen
wird der Mensch erst ganz zum Menschen. Hier vollzieht sich eine
Synthese seiner beiden Betätigungsweisen. Sinnlichkeit und Verstand,
Anschauen und Denken, Stofftrieb und Formtrieb, sie alle werden
im ästhetischen Verhalten kräftig in Anspruch genommen und zugleich
harmonisch geeinigt. Daher ist die Kunst für die Entwicklung zur
Sittlichkeit von der allergrößten Bedeutung, sie spielt in der Mensch-
heitsgeschichte eine überaus wichtige Rolle und ihre richtige Wert-
schätzung kann die Grundlage abgeben für eine künftige Kultur-
philosophie. Schiller hat diesen Gedanken in seinem Gedicht
„Die Künstler", in der Rezension von Bürgers Gedichten und auch
sonst wiederholt Ausdruck gegeben. Der Gedanke einer ästhetischen
Erziehung ist seither nicht mehr verloren gegangen. Wir übergehen
die einzelnen geschichtsphilosophischen Ideen, die sich bei Fichte,
Schelling und seinen Schülern finden und wenden uns zur bedeutendsten
Leistung der spekulativen Geschichtsphilosophie, die wir Heget ver-
danken.
Hegels Philosophie ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht strenger
Intellektualismus und, vom ontologischen Gesichts-
punkte aus betrachtet, kraftvoller Spiritualismus. Das D e n-
34J Soziologie und Geschichtsphilosophie
k e n, und zwar das abstrakte, spekulative Denken, ist die den
Menschen vor den Tieren auszeichnende Tätigkeit und deshalb die
einzig sichere Quelle der Erkenntnis. Im Denken ist für Hegel nicht
nur die \V a h r h e i t, sondern auch die Sittlichkeit, die Frömmigkeit
und die Schönheit begründet. Das Denken aber ist die Tätigkeit des
Geistes, und nur dem Geiste kommt volle und wahre Wirklichkeit
zu. Im philosophischen Denken entfaltet sich daher die volle und
ganze Wirklichkeit als lebendiger Prozeß in Natur und Geschichte.
Die Philosophie muß, wie Hegel sagt, darüber verständigt sein, „daß
ihr Inhalt kein anderer ist, als der im Gebiete des lebendigen Geistes
ursprünglich hervorgebrachte und sich hervorbringende, zur Welt,
äußeren und inneren Welt des Bewußtseins gemachte Gehalt —
daß ihr fnhalt Wirklichkeit ist" (Enzyklopädie, § 6.)
Sieht man also von der oft gewaltsamen und willkürlichen dialektischen
Methode ab, die sich Hegel in seiner Logik zurechtgelegt hat, so rindet
man in der Tat bei Hegel einen sehr stark entwickelten Wirklich-
k e i t s s i n n und staunt oft über die Tiefblicke, die er in das geistige
Leben der Menschheit zu tun vermag. Seine „Philosophie des Geistes",
die er in der „Phänomenologie", in der „Rechtsphilosophie" und be-
sonders in der „Enzyklopädie" selbst publiziert hat, und die nach
seinem Tode durch die Veröffentlichung der Vorlesungen über Ästhetik,
Religionsphilosophie, Philosophie der Geschichte und Geschichte der
Philosophie noch ausführlicher bekannt wurde, enthält tatsächlich
eine Fülle fruchtbarer Gedanken, die auch demjenigen Einsichten er-
schließen und Anregungen geben können, der weder den Intellek-
tualismus noch den Spiritualismus Hegels sich anzueignen vermag.
Vielleicht der bedeutendste Gedanke, den Hegel geschaffen hat,
ist sein Begriff des „objektiven Geiste s". Er versteht darunter
diejenigen Ergebnisse der geistigen Tätigkeit, die sich zu objektiv
vorhandenen Institutionen verdichten und das Denken und Handeln
des Einzelnen bestimmen. Hegel bezeichnet als Produkte oder als
Formen des objektiven Geistes das Recht, die M o r a 1 i t ä t und
die Sittlichkeit. In allen diesen Gebilden gelangt das ureigenste
Wesen des Geistes zu immer deutlicherer Bewußtheit und Gestaltung.
Dieses Wesen des Geistes besteht — zum Unterschied von der Materie,
die dem Gesetz der Schwere unterworfen ist — in der Freiheit.
Je klarer und bestimmter der Geist dieses sein Wesen herausarbeitet,
je mehr er, um mit Hegel zu sprechen, „bei sich selbst" ist, desto näher
kommt er seiner wahren Bestimmung, seiner konkreten Wirklichkeit.
Die höchste dieser drei Stufen ist die Sittlichkeit, in der die
bloß subjektive Moralität sich in den objektiven Institutionen der
Familie der bürgerlichen Gesellschaft und des
Staates verkörpert. Am meisten interessiert sich Hegel für die
höchste Entwicklungsstufe der Sittlichkeit, für den Staat. „Der Staat
ist die selbstbewußte sittliche Substanz, die Vereinigung des Prinzips
der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft" (Enzyklopädie, § 535).
Das heißt aber nichts anderes, als daß im Staate die wichtigste Be-
stimmung des Menschengeistes, nämlich die, zum Bewußtsein seiner
Freiheit zu gelangen, in der wirksamsten Weise erfüllt ist. Hegel
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 343
wird nicht müde, diese seine Überzeugung zu erläutern und gegen
oberflächliche Anschauungen vom Wesen der Freiheit zu verteidigen.
„Der Staat ist zunächst seine innere Gestaltung", das heißt seine
Verfassung. Er ist ferner „besonderes Individuum und steht insoferne
in Beziehung zu anderen Staaten". Aber diese besonderen Geister
sind nur Momente in der Entwicklung der allgemeinen Idee des Geistes
in seiner Wirklichkeit und diese Entwicklung ist die Weltgeschichte
(Enzyklopädie, § 536).
Über den Sinn, den Zweck und den allgemeinen Gang der Welt-
geschichte hat sich Hegel in der Enzyklopädie und in der Rechts-
philosophie kurz ausgesprochen. Ausführlicher und viel lebendiger
ist die Darstellung in den Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte, die nach seinem Tode herausgegeben wurden*).
Hegel unterscheidet drei Arten der Geschichtschreibung, die ur-
sprüngliche, wo man selbsterlebte Begebenheiten erzählt, die reflektierte,
wo der Schriftsteller seinen eigenen Geist in den Verlauf der Begeben-
heiten hineinlegt, und dann die philosophische, welche hier
gegeben werden soll. Sie ist im allgemeinen nichts anderes als die
denkende Betrachtung der Geschichte. „Der einzige Gedanke, den
die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft,
daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Welt-
geschichte vernünftig zugegangen sei" (42). Vernunft aber ist Geist.
Da nun die Weltgeschichte „auf dem geistigen Boden vorgeht", da
der Geist „auf dem Theater, auf dem wir ihn betrachten, in der
Weltgeschichte, in seiner konkretesten Wirklichkeit ist" (50), so müssen
über die Natur des Geistes einige Betrachtungen vorausgeschickt
werden. Nun ist, wie wir bereits oben sagten, nach Hegel die wesent-
lichste Eigenschaft des Geistes die Freiheit. „Es ist dies eine Er-
kenntnis der Philosophie, daß die Freiheit das einzige Wahrhafte des
Geistes sei" (51). Die Freiheit besteht aber nur, wenn wir wissen,
daß wir frei sind. „Nach dieser abstrakten Bestimmung kann
von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des
Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, er-
arbeitet" (52).
„Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der
Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen,
sind sie es nicht ; sie wissen nur, daß einer frei ist, aber eben darum
ist solche Freiheit nur Willkür." „Dieser Eine ist darum nur ein
Despot, nicht ein freier Mann." „In den Griechen ist erst das Bewußt-
sein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen.
Aber sie wie auch die Römer wußten nur, daß einige frei sind, nicht
der Mensch als solcher" (52). „Erst die germanischen Nationen sind
im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als
*) Ich zitiere diese nach der leicht zugänglichen Ausgabe in Reclaius
Universalbibliothek. Sorgfältiger und vollständiger ist die unlängst von Georg
Lasson veranstaltete Neuausgabe in zwei Bänden, bei Felix Meiner in Leipzig
erschienen, 1919 und 1920. Der erste Band enthält eine sehr grundliche Ein-
leitung des Herausgebers: „Hegel als Geschichtsphilosoph."
344 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Mensch frei, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht.
Dies Bewußtsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region
des Geistes aufgegangen, aber dieses Prinzip auch in das weltliche
Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen
und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfordert.
Diese Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung
und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der
lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht." „Die Welt-
geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit, ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu er-
kennen haben" (53). Die Freiheit „ist sich der Zweck, den sie ausführt,
und der einzige Zweck des Geistes. Dieser Endzweck ist das, worauf
in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem
weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht
worden. Dieser ist es allein, der sich durchführt und vollbringt, das
allein Ständige in dem Wechsel aller Begebenheiten und Zustände,
sowie das wahrhaft Wirksame in ihnen. Dieser Endzweck ist das,
was Gott mit der Welt will" (54).
Als Mittel zu diesem Endzweck verwendet der Weltgeist die
Interessen, die Bedürfnisse und die Leidenschaften der Menschen. Der
Mensch hat ein natürliches Bedürfnis nach Tätigkeit, will aber auch
durch dieselbe befriedigt sein. „Ein Zweck, für welchen ich tätig sein
soll, muß auf irgendeine Weise auch mein Zweck sein" (57). „Dies
ist das unendliche Recht des Subjekts, daß es sich selbst in seiner
Tätigkeit und Arbeit befriedigt findet" (58). Die Leidenschaften
werden zwar oft als etwas angesehen, das nicht recht ist, allein man
muß trotzdem sagen, „daß nichts Großes in der Welt ohne Leiden-
schaft vollbracht worden ist" (59). „Das ist die List der Ver-
nunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt"
(70). Indem also die Menschen ihren Trieben und Leidenschaften
folgen, befördern sie, ohne es zu wissen, den Endzweck der Welt-
geschichte.
Ein ferneres Mittel sind die „welthistorischen Individuen", die
großen Männer, die ihrer Zeit voraus sind. „Dies sind die großen
Menschen in der Geschichte, deren eigene partikulare Zwecke das
Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist" (66). „Ihre
Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer
Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie
in dieselbe zu legen" (67).
Die Gestalt aber, in der sich das Bewußtsein der Freiheit allein
entfalten kann, das ist der Staat. Der Staat ist „die Wirklichkeit,
worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt" (76). Deshalb
kann „in der Weltgeschichte nur von Völkern die Rede sein, welche
einen Staat bilden" (77). Das sind die welthistorischen Völker,
deren Geschichte Hegel in dem Sinne vorführt, daß der stete Fortschritt
offenbar wird. Er betrachtet in dieser Weise die orientalische, die
griechische, römische und schließlich die germanisch-christliche Welt.
Erst in der letzteren hat der Staat die Form bekommen, in der das
Bewußtsein der Freiheit des Menschen ein allgemeines geworden ist.
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 345
m
Hegel hat eine groß angelegte Synthese von Kant und Herder
vollzogen. Mit Kant findet er im Staate das Ziel der Geschichte,
aber er zeigt auch mit Herder, daß erst im Staate das Beste im
Menschen zur bewußten Entfaltung gelangt. Seine Geschichtsphilo-
sophie ist eine in ihrer Art großartige Konzeption. Die tiefgründige
Einfachheit des Grundgedankens und die kraftvolle Zuversicht in die
unendliche Kraft des Menschengeistes haben etwas Imponierendes an
sich. Man muß sagen, daß man aus seiner Geschichtsbetrachtung
heute noch wertvolle Anregungen und Einsichten gewinnen kann.
Hegels spekulative Denkweise geriet bald nach seinem Tode stark
in Mißkredit. Die induktive Methode der Naturwissenschaft fand
auch in die Geisteswissenschaften Eingang und so begegnen wir,
ähnlich, wie dies oben von der Soziologie gesagt wurde, einer Reihe
von Versuchen, die Geschichte naturwissenschaftlich zu betrachten und
Gesetze der geschichtlichen Entwicklung zu finden. Als Vorläufer
dieser Richtung bezeichnet Bernheim (699) mit vollem Recht Condorcet,
der seine Skizze einer historischen Darstellung des menschlichen Fort-
schrittes als verurteilter Girondist im Gefängnis verfaßte (erschienen
nach seinem Tode im Jahre 1795). Condorcet dringt auf größere
Berücksichtigung der Massen in der Geschichte und glaubt, daß hier
die naturwissenschaftliche Methode neue Aufschlüsse bringen werde.
Den großartigen Versuch Auguste Comtes, die Geschichte nach posi-
tivistischen Grundsätzen zu behandeln, haben wir bereits oben ge-
würdigt. Bernheim weist (712 ff.) den großen Einfluß Comtes auf
die Folgezeit nach und zeigt besonders deutlich, wieviel Lamprecht
aus Comte geschöpft hat. Hieher gehören auch die bereits
genannten Versuche Quetelets und Buckles, durch statistische
Untersuchungen Gesetzmäßigkeiten im sozialen Geschehen nach-
zuweisen. Die vollständige Unzulänglichkeit der Statistik, einem Ver-
ständnis der Geschichte zu dienen, hat Bernheim (119 ff.) geradezu
schlagend nachgewiesen.
Ungleich bedeutsamer als dieses Suchen nach empirischen
Gesetzen ist die von Karl Marx und Friedrich Engels vertretene
ökonomische Geschichtsauffassung, die man häufig
weniger passend als die materialistische bezeichnet*). Marx
hat von Hegel den Drang nach einheitlicher Auffassung der Geschichte
und zum Teil auch die dialektische Methode übernommen. Inhaltlich
steht er jedoch zu seinem Meister in scharfem Gegensatze. Nicht
der Weltgeist, sondern die ökonomische Struktur der Gesellschaft,
die Art, wie die wichtigsten Güter erzeugt und verteilt werden, be-
stimmt den Lauf der Geschichte. „Meine Untersuchung," sagt Marx
in seiner 1851 erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen
Ökonomie", „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie
Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der
allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr
in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit
*) Eine kurze aber inhaltsvolle Darstellung findet man bei Mtidclc, „Die
Geschichte der sozialistischen Ideen im 19. Jahrhundert" (1909).
346 Soziologie und Geschichtsphilosophie
Hegel unter dem Namen der bürgerlichen Gesellschaft' zusammen-
faßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der
politischen Ökonomie zu suchen sei. In der gesellschaftlichen Pro-
duktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von
ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse,
die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer Produktionskräfte ent-
sprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die
ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich
ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte
gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise
des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen
Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen,
das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt." Alle großen Bewegungen in der Geschichte
sind demnach als Klassenkämpfe zu fassen, die zwischen der wirt-
schaftlich mächtigeren und der durch sie ausgebeuteten Schichte der
Gesellschaft geführt werden. Die Völkerwanderung, die Kreuzzüge,
die Reformation und die verschiedenen politischen Revolutionen, sie
haben alle ihren Grund in ökonomischen Interessen. Die politischen,
moralischen und religiösen Motive, die dabei im Vordergrund des
Bewußtseins zu sein scheinen, sind nichts anderes als ein täuschender
ideologischer Überbau, der die wahren Motive verhüllt. Diese Klassen-
kämpfe werden jetzt in erneuter Stärke beginnen und zur Beseitigung
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung führen, wodurch dann die
Produktionsverhältnisse sich so gestalten werden, daß sie nicht mehr
dem Interesse einer bevorrechteten Klasse, sondern den Bedürfnissen
der ganzen Menschheit angepaßt sein werden.
Die ökonomische Geschichtsauffassung hat zweifellos tief in die
Werkstatt des geschichtlichen Lebens hineingeleuchtet. Unser Blick
für die Bedeutung der wirtschaftlichen Interessen ist dadurch geschärft
und zahlreiche wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen sind dadurch
hervorgerufen worden. Wir begreifen entschieden viele historische
Bewegungen besser, seitdem wir gelernt haben, auf die ökonomische
Struktur der Gesellschaft zu achten. Die ökonomische Geschichts-
auffassung ist deshalb als heuristisches Prinzip von der
allergrößten Bedeutung. Dadurch, daß wir nach den ökonomischen
Motiven zu fragen gelernt haben, gewinnen wir wichtige neue Auf-
schlüsse. Allein zur Deutung des gesamten historischen Prozesses
reicht dieser einseitige Gesichtpunkt doch keineswegs aus. Politische,
geistige, sittliche, ästhetische und religiöse Motive haben den Gang
der* Geschichte, ganz unabhängig von ökonomischen Interessen,
mächtig beeinflußt und ihrerseits stark auf das wirtschaftliche Leben
gewirkt. Dieses selbst darf daher, wie Bernheim (729) sehr richtig
sagt, nicht einseitig überschätzt werden.
Eine Zeitlang wollten die Geschichtsforscher von philosophischen
Betrachtungen nichts wissen und sahen in der gewissenhaften Durch-
forschung der Quellen die einzige Aufgabe des Historikers. In der Tat
wurde dann auch im neunzehnten Jahrhundert auf diesem Gebiete
eine Riesenarbeit geleistet. Die Anforderungen wurden immer strenger,
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 347
die Methoden immer exakter. Auf die historischen Hilfswissenschaften,
besonders auf die Inschriften- und Papyruskunde sowie auf die Ur-
kundenlehre wurde großer Fleiß verwendet und wichtige Organisationen
zu diesem Zwecke ins Leben gerufen. Auch heute noch ist diese genaue
Tatsachenforschung in vollem Gange und wird immer unentbehrlich
bleiben. Daneben aber macht sich das Bedürfnis nach einheitlicher
Zusammenfassung auch bei den Fachhistorikern immer mehr geltend.
Karl Lamprecht hat seine vielumstrittene Theorie von den Kultur-
zeitaltern aufgestellt und in seiner „Deutschen Geschichte" durch-
geführt. Theodor Lindner leitet seine groß angelegte „Weltgeschichte
seit der Völkerwanderung" durch eine „Geschichtsphilosophie" ein,
die ein besonders anregendes Kapitel über die Entstehung von „Ideen"
aus allgemeinen Bedürfnissen enthält. Eduard Meyer eröffnet die
neue Auflage seiner berühmten Geschichte des Altertums mit „Ele-
menten der Anthropologie", in denen er die hervorragende Bedeutung
des Staates und der politischen Entwicklung gegen die zu starke
Betonung des ökonomischen Moments wirksam verteidigt. Der ru-
mänische Historiker Xenopol hat eine „Theorie de l'histoire" ge-
schrieben, worin er ebenfalls den Staat und das politische Leben als
den wichtigsten Gegenstand der Geschichte hinstellt. Neben den
Historikern sind auch Philosophen den geschichtsphilosophischen
Problemen nähergetreten. Diithey, Sitnmel, Wundt, Lücken sind hier
besonders zu nennen. Großes Aufsehen hat in den letzten Jahren das
Werk Oswald Spenglers gemacht, das unter dem Titel „Der Untergang
des Abendlandes" eine „Morphologie der Geschichte" von ganz neuen
Gesichtspunkten aus zu geben unternimmt (I. Bd. 1918, 2. Bd. 1922).
Eine einheitliche Entwicklung der Menschheit gibt es nach Spengler
überhaupt nicht : „Die Weltgeschichte ist die Geschichte der
großen Kulturen" (II, 203). Eine jede dieser Kulturen entsteht
aus unbekannten Ursachen zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten
Landschaft. Sie sind alle etwas durchaus Organisches, Pflanzenhaftes.
Jede Kultur hat gleichsam ihre eigene Seele, so daß die Teilnehmer
verschiedener Kulturen einander nie ganz verstehen können. Die
einzelnen Kulturen wachsen ganz wie Organismen, entfalten und
verbreiten sich, bis sie ihren Höhepunkt erreicht haben. Dann ver-
wandeln sie sich in mechanische „Z i v i 1 i s a t i 0 n e n", die eine
Zeitlang weiter bestehen, dann aber aus Mangel an innerer organischer
Kraft dem Untergang geweiht sind. Der Unterschied von Kultur
und Zivilisation ist der grundlegende Gedanke von Spenglers
Geschichtsphilosophie. „Jede Kultur", sagt er, „hat ihre eigene
Zivilisation. Zum erstenmal werden hier die beiden Worte, die bisher
einen vagen, ethischen Unterschied persönlicher Art zu bezeichnen
hatten, in periodischem Sinne als Ausdrücke für ein strenges und
notwendiges organisches Nacheinander gefaßt* ) . Die
Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier
*) Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, daß Ferdinand Tönnies diese
Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge lange vor Spengler ganz deutlich und klar
erkannt und ausgesprochen hat.
348 Soziologie und Geschichtsphilosophie
ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen
der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die
äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere
Art Mensch fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden
als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die
Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und
Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, ver-
steinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie
sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden" (I, 44).
Spengler kennt ungefähr acht solcher großen Kulturen, deren Ent-
wicklungsphasen einander vielfach entsprechen. Die wichtigsten dar-
unter sind: die antike oder die „apollinische", die christlich-
arabische oder die „magische" und schließlich die abendländische
oder die „faustisch e". In der Aufdeckung der Zusammenhänge
zwischen den religiösen, den politischen, den künstlerischen und den
wissenschaftlichen Gebilden innerhalb jeder einzelnen Kultur ist
Spengler durchaus originell und anregend. Was er gibt, läßt sich
vielleicht am besten als eine Metaphysik der Kultur be-
zeichnen. Sie ist, wie jede Metaphysik, subjektiv gefärbt, aber sehr reich
an genialen Tiefblicken und Ausblicken. Trotz der nicht seltenen
Verstöße gegen die geschichtliche Wirklichkeit und trotz der ebenfalls
vorkommenden verkehrten Auffassungen bleibt sein Werk ein großer
Wurf, der der historischen Forschung auch wichtige neue Probleme
und Aufgaben erschlossen hat. Geschichtsphilosophisch bedeutet es
deshalb weniger, weil der Verfasser durchaus irrationalistisch orientiert
ist, und vor allem deshalb, weil ihm die soziologische Betrachtungs-
weise ganz fremd geblieben ist.
Nun sollen noch gewisse methodologische Untersuchungen,
die in den letzten Jahrzehnten über die Stellung der Geschichte im
System der Wissenschaften angestellt wurden, eine kurze Besprechung
erfahren.
Windelband und Rickert haben dazu den Anstoß gegeben. Die
Geschichte soll nach der Anschauung dieser Denker sich von den
Naturwissenschaften nicht dadurch unterscheiden, daß sie es vor-
wiegend mit geistigen Vorgängen zu tun habe. Der Unterschied
muß vielmehr ganz wo anders gesucht werden. Die Naturwissen-
schaften, besonders die Physik und Chemie, suchen nicht den individuell
bestimmten Vorgang zu erforschen, sondern das Gesetz zu finden,
das die Vorgänge beherrscht. Die Geschichte hingegen hat es mit
dem Einmaligen, dem Individuellen zu tun, das sich
nicht wiederholt. Es gibt also zwei verschiedene Methoden, welche
die Wissenschaft bei der Erforschung der Wirklichkeit verwendet.
Die eine ist die g e n e r a 1 i s i e r e n d e, und diese sucht der Wirklich-
keit durch allgemeine Begriffe beizukommen und Gesetze des Ge-
schehens zu finden. Der einzelne Vorgang, das einzelne Ding, sind
hier nur „Exemplare". Man achtet nur auf die Merkmale, die sie
mit anderen gemeinsam haben. Diese Methode herrscht ebenso in
der Physik wie in der Psychologie. Die generalisierende Methode
wird also auf Physisches und Psychisches in gleicher Weise an-
§ 51. Die Philosophie der Geschichte 34g
gewendet. Daneben aber gibt es noch eine ganz andere Forschungs-
methode. Diese betrachtet die einzelnen Vorgänge und die einzelnen
Menschen in ihrer nur einmal gegebenen Individualität und heißt
deshalb die individualisierende Methode. Das ist die Be-
trachtungsweise aller historischen Wissenschaften.
Da nun nicht alle einzelnen Vorgänge und auch nicht alle ein-
zelnen Menschen Gegenstand der Geschichte sind, so muß auch die
individualisierende Methode eine Auswahl treffen. Bestimmend
für diese Auswahl ist die Beziehung auf Kultur werte. Wir
erhalten demnach neben dem formalen Gegensatz der Methode auch
einen inhaltlichen Unterschied in bezug auf den Gegen-
stand der beiden Wissenschaftsgruppen. Rickert setzt also an die
Stelle der früheren Einteilung in Natur- und Geisteswissen-
schaften eine neue Klassifikation. Wir haben auf der einen Seite
die Naturwissenschaften, die sich einerseits der generali-
sierenden Methode bedienen, anderseits ihre Objekte in ihrer reinen
Tatsächlichkeit ohne jede Beziehung auf menschliche Werte betrachten.
Die andere Gruppe bilden die Kulturwissenschaften,
welche sich der individualisierenden Methode bedienen und zugleich
die „Wertbeziehungen" berücksichtigen. Die neue Einteilung macht
zweifellos auf einen tatsächlich bestehenden Unterschied aufmerksam
und hat deshalb viel Beifall gefunden. Überdies haben manche
Historiker und Philologen diese methodologische Untersuchung mit
Freude begrüßt, weil sie dadurch ein für allemal des lästigen Suchens
nach allgemeinen Gesetzen der Geschichte enthoben sind und sich mit
beruhigtem logischen Gewissen liebevoll in die Einzelforschung ver-
senken dürfen.
Wir haben hier den logischen Wert dieser Klassifikation nicht
zu untersuchen. Uns interessiert an dieser Stelle nur die Frage, ob
diese Auffassung der Geschichte als individualisierender Kultur-
wissenschaft zum Verständnis der historischen Entwicklung beitragen
und uns etwas über den Sinn der Geschichte lehren kann. Diese Frage
müssen wir nun von unserem Standpunkte entschieden verneinen.
Wenn ich mir es recht oft und recht deutlich zum Bewußtsein bringe,
daß es nur einen Alexander den Großen, nur eine französische
Revolution, nur einen Deutsch-Französischen Krieg von 1870 ge-
geben hat, so gewinne ich damit für das Verständnis dieser Dinge
gar nichts, werde zu keinerlei neuen Fragestellungen angeregt und
somit bleibt dieser individualisierende Gesichtspunkt unfruchtbar.
Die Beziehung auf Kulturwerte ist wiederum so selbstverständlich
und dabei so allgemein, daß ich daraus allein nichts lernen kann.
Wenn nun Rickert in seiner Abhandlung über Geschichtsphilosophie*)
zum Ergebnis gelangt, daß „die Grundlagen der Geschichtsphilosophie
mit den Grundlagen einer Philosophie als Wertwissenschaft" zu-
sammenfallen (394), so meint er damit eine Philosophie der Werte,
die auf apriorischen Konstruktionen aufgebaut und metaphysisch be-
*) In dem Sammelwerke: „Die Philosophie im Beginne des 20. Jahrhundert-",
herausgegeben von Windelband, 2. Aufl., 1907, S. 321—422.
35U Soziologie und Geschichtsphilosophie
gründet werden müßte. Tatsächlich hat ja Rickert in seinem Begriff
des „transzendenten Sollens" ein metaphysisches Fundament zu finden
geglaubt. Von unserem Standpunkt könnte allerdings eine derartige
Begründung nur wenig befriedigen. Überdies hat Rickert manche auch
von seinem Standpunkte aus wichtige Fragen gar nicht berührt. So hat
er es z. B. unterlassen, das Wesen der historischen Wahr-
scheinlichkeit zu untersuchen und den Unterschied gegenüber
der naturwissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit klarzustellen, eine
Frage, die mir methodologisch zu den allerwichtigsten zu gehören
scheint. Ferner vermißt man bei Rickert so ganz und gar den sozio-
logischen Gesichtspunkt. Wer mit dem Wertbegriff operiert, der müßte
sich doch heute schon sagen, daß in der Erfahrung alle Kulturwerte
nur dadurch bestehen, daß viele Menschen dieselben für Güter halten.
Der Wertbegriff ist seiner Entstehung und Geltung nach zweifellos
eine soziologische Kategorie. Endlich wirkt Rickert durch seine geradezu
feindselige Stellung gegenüber der Psychologie darauf hin, das wich-
tigste Mittel zum Verständnis geschichtlicher Vorgänge, nämlich die
tief eindringende psychologische Zergliederung, als überflüssig und
wertlos erscheinen zu lassen. Wir können also sagen, daß die
Windelband-Rickertsche Auffassung der Geschichte als Wissenschaft
für die Logik und Methodologie eine gewisse Bedeutung besitzt, daß
sie aber für das Verständnis der historischen Entwicklung wenig leistet
und hier zum Teil sogar hemmend zu wirken geeignet ist.
Wichtiger als derartige methodologische Erörterungen wäre es
für die Geschichtsphilosophie, einen allgemeinen Gesichtspunkt zu
finden, der geeignet wäre, das Wesen der geschichtlichen Entwicklung
heller zu durchleuchten, als die bisher aufgestellten Richtungen
und Ziele. Im Anschluß an das, was oben über Kants Geschichts-
philosophie gesagt wurde, möchte ich nun die Beziehungen
zwischen Gesellschaft und Individuum als den
Kernpunkt alles historischen Geschehens betrachten und der Meinung
Ausdruck geben, daß durch psychologische, geschichtliche und sozio-
logische Untersuchung dieses Verhältnisses der Sinn und das Ziel
der Geschichte genauer und konkreter, als dies bisher geschehen ist,
bestimmt werden könnte. Die Völkerkunde sagt uns, daß der primitive
Mensch in einer vollständigen Gebundenheit an Glaube, Brauch
und Sitte seines Stammes dahinlebt, und daß seine Erkenntnisse haupt-
sächlich aus sozialen Verdichtungen bestehen. Die Geschichte hätte
nun zu zeigen, wie sich das Individuum allmählich von der Tradition
losringt und durch seine innere Erstarkung selbst auf die Entwicklung
des geschichtlichen Lebens Einfluß gewinnt. Wir würden dann sehen,
wie sehr die wissenschaftliche Erforschung der Welt, die künstlerische
Gestaltung des Lebens sowie die Verinnerlichung und Vertiefung des
religiösen Gefühls mit diesem Befreiungskampf des Individuums zu-
sammenhängt. Vor allem aber würde die politische und die wirtschaft-
liche Entwicklung des Menschengeschlechtes durch diese Betrachtungs-
weise in eine neue Beleuchtung gerückt. Kants Begriff der „un-
geselligen Geselligkeit" würde sich als fruchtbar erweisen und zugleich
eine wesentliche Erweiterung und Klärung erfahren. Alle die Kämpfe,
§ 52. Pädagogik 35 1
die sich seit dem fünften Jahrhundert vor Christus in Griechenland,
in Rom, im christlichen Mittelalter, in der Reformation und im
Humanismus abgespielt haben, ließen sich von diesem Standpunkt
aus neu beleuchten. In der neueren Zeit tritt es immer deutlicher
zutage, daß es sich wirklich um eine Regelung der Beziehungen
zwischen Gesellschaft und Individuum handelt. Die Erklärung der
Menschenrechte und die sozialistische Bewegung des neunzehnten
Jahrhunderts würden dann als vorläufige Endglieder einer langen
Entwicklungsreihe erscheinen.
Als Ziel dieser Entwicklung könnte dann eine Synthese
von Individualismus und Sozialismus angesehen
werden, in der die berechtigten Interessen des Einzelnen und
der Gesellschaft durch sozialpolitische Organisationen innerhalb
des Staates sowie durch internationale Institutionen in bezug
auf die Staaten untereinander in vollkommen harmonischer Weise
gewahrt und befriedigt werden könnten. Herders „Humanität"
und Hegels „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" würden
dann erst ihren konkreten Inhalt bekommen und tatsächlich
als erstrebenswerte Ziele der Geschichte erkannt werden. Die
von mir aufgestellte, oben erläuterte Forderung der Staaten-
würde würde sich dann als Zielpunkt der Entwicklung ergeben,
die in einem zur Einheit zusammengeschlossenen Bunde der Staaten
und Völker ihren zur Dauer bestimmten Abschluß fände. Vielleicht
würde sich dabei auch der Gedanke Kants verwirklichen, daß eine
derartige Geschichtsbetrachtung selbst mit dazu beitragen könnte,
das deutlich erkannte Ziel der Menschheitsentwicklung schneller und
sicherer zu erreichen.
§ 52. Pädagogik
In engem Zusammenhange mit den Problemen der Ethik und
Soziologie steht die Erziehungslehre oder Pädagogik.
Wenn wir dem Ideal des sittlich vollkommenen Menschen allmählich
näherkommen wollen, wenn wir unser ganzes Streben darauf richten,
einen Zustand der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen, in
welchem die oben geforderte Synthese von Individualismus und So-
zialismus immer allgemeiner als Notwendigkeit erkannt und gefühlt
wird, dann müssen wir auf die heranwachsende Generation derart
einzuwirken bemüht sein, daß sie fähig und geneigt werde, die Mensch-
heit diesem ersehnten Ziele einen Schritt näher zu bringen, daß sie in
diesem Sinne weiter arbeite und mehr leiste, als wir selbst vermochten.
Deshalb brauchen wir eine Philosophie der Erziehung, die auf Grund
umfassender Erfahrung durch eindringende psychologische, ethische
und vor allem soziologische Untersuchungen das Wesen
und das Ziel der Erziehung feststellt und uns die Wege
zeigt, auf denen wir uns diesem Ziele zu nähern vermögen.
Es kann hier, wo es lediglich auf den philosophischen Gehalt
der Erziehungslehre ankommt und nicht auf praktische Anweisungen
für Eltern und Lehrer, keineswegs unsere Aufgabe sein, die jähr-
352 Soziologie und Gesclilchtsphilosophie
tausendelange Entwicklung der Pädagogik und Drdaktik (Unterrichts-
lehre) auch nur zu skizzieren. Ebenso müssen wir darauf verzichten,
die pädagogischen Richtungen und Strömungen der Gegenwart zu
charakterisieren und Stellung dazu zu nehmen. Wir beschränken uns
daher auf einige ganz allgemeine Bemerkungen, die sich aus unseren
bisherigen Betrachtungen ergeben.
Unsere soziologische Ethik hat uns gelehrt, daß sich die sitt-
lichen Forderungen am besten in die zwei Kategorien der M e n s c h e n-
pf licht und Menschenwürde zusammenfassen lassen. Der
Begriff der Pflicht enthält das konservative und das s o z i a 1 e
Moment, während die Menschenwürde das fortschrittliche
und das individualistische Element der sittlichen Entwick-
lung darstellt. In unseren Darlegungen über die gegenwärtige Auf-
gabe der Soziologie und Geschichtsphilosophie wurde die Synthese
von Individualismus und Sozialismus als das Ziel bezeichnet, auf
welches die Entwicklung der Menschheit gerichtet ist und gerichtet
sein soll. Halten wir diese zweifache Entwicklungstendenz der Menschen
und der Menschheit fest, so ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe
der Erziehung.
1. Jedes Kind kommt mit einer individuell bestimmten körper-
lichen Struktur und mit eigenartigen seelischen und geistigen Anlagen
auf die Welt. Es ist nun Sache der Erziehung, durch Pflege, Zucht
und Unterricht dafür zu sorgen, daß das Kind sich zu einem gesunden,
kräftigen Menschen entwickle, der sich von seiner Umgebung mit
Verständnis Rechenschaft zu geben vermag. Zu diesem Zweck muß
er auch mit den nötigen Kenntnissen ausgestattet sein, die ihn be-
fähigen, sich das Feld seiner Tätigkeit zu wählen, seinen Platz in
der menschlichen Gesellschaft auszufüllen. Seine besonderen Anlagen
und Fähigkeiten müssen Gelegenheit finden, sich zu entfalten,
damit die größte individuelle Leistungsfähigkeit und zugleich die
größte Glücksmöglichkeit erreicht werde. Das Recht auf eine der-
artige Erziehung bringt jedes neugborene Kind mit auf die Welt,
und dieses Recht des Kindes ist zugleich die Pflicht
seiner Erzieher. Die Erzieher sind aber heute keineswegs bloß
die Eltern und Lehrer. Der wichtigste und zugleich der mächtigste
Erzieher ist der Staat, der sich in der zivilisierten Menschheit immer
mehr zum ausschlaggebenden Mandatar der Gesellschaft entwickelt
hat. Es gehört deshalb zu den höchsten und heiligsten Pflichten des
Staates, für die Erziehungsmöglichkeiten jedes Kindes zu sorgen und
die Pflichten der Erziehung den Eltern und Lehrern auf jede Weise,
im Notfalle auch durch Zwangsmittel, zum Bewußtsein zu bringen.
Es hat Zeiten gegeben, wo die Eltern ihr Kind zu ihren eigenen
Zwecken erzogen und ausgebildet haben. Der Bauer zieht sich in
seinen Söhnen und Töchtern verläßliche und brauchbare Knechte und
Mägde heran, die ihm bei der Arbeit helfen. Kinderreichtum ist für
ihn ein Segen, weil er dadurch einen größeren Grundbesitz bewirt-
schaften und so seinen Wohlstand mehren kann. Der Handwerker
bildet seine Söhne zu Gehilfen aus, die ihn in seinem Gewerbe unter-
stützen. Nun bleibt ja hoffentlich noch für lange Zeit die Familie
§ 52. Pädagogik 353
die Grundlage des Staates. Da wird es nun immer so sein daß die
Kinder für die Erhaltung des Ganzen mitsorgen, daß sie im Haushalt
mithelfen und im Notfall mitverdienen. Allein die patriarchalische
Anschauung, wonach der Vater der absolute Herrscher ist der seine
Kinder als sein Eigentum betrachtet, mit dem er nach Belieben schalten
und walten darf, diese Anschauung hat wohl für immer ihre Geltung
vollständig verloren. Die E n t w i c k 1 u n g s 1 e h r e hat die Richtung
und das Ziel der Erziehung ganz gewaltig verändert Die Kinder
sind heute für die Eltern längst nicht mehr Mittel, sie sind vielmehr
zum höchsten und heiligsten Selbstzweck geworden.
Diese Auffassung ist ja keineswegs erst von gestern. Lesen wir
doch schon bei Homer (II. VI, 476), wie Hektor den Wunsch aus-
spricht, man möge dereinst von seinem Sohne sagen, er sei viel besser
als sein Vater. Die Pflicht der Erziehung hat vielleicht niemals einen
kürzeren und zugleich inhaltsvolleren Ausdruck gefunden als in den
Worten, die Kriton in dem gleichnamigen Dialoge Piatons zu Sokrates
spricht: „Man darf entweder keine Kinder in die Welt setzen, oder
man muß sich mit ihnen bis zu Ende plagen (aov8tataX«wca>peiv),
indem man sie ernährt und erzieht." {Kriton, c. 5, p. 45 d.) Allein durch
den Entwicklungsgedanken hat diese Pflicht eine naturwissenschaft-
liche oder, vielleicht richtiger gesagt, eine organische Begründung
gefunden, die ihre innere Notwendigkeit und ihre Allgemeingültigkeit
gewährleistet. Auch ist das Verhältnis der Eltern zu den Kindern durch
diesen Gedanken in eine wesentlich andere Beleuchtung gerückt worden.
Wer von dieser großen Idee ganz durchdrungen ist, der sieht
in seinem eigenen und in jedem fremden Kinde den Träger einer neuen
Generation und einer neuen Zeit. Nicht zu meinen Zwecken darf
ich mein Kind erziehen, daß es mir bei meiner Arbeit helfe. Ich muß
vielmehr das Kind so sorgfältig als möglich beobachten, um seine
besonderen Anlagen und Fähigkeiten kennen zu lernen. Ich muß alles
aufbieten, damit sich diese Anlagen kräftig entfalten können, muß ihm,
so gut ich kann, die Hindernisse aus dem Wege räumen, dabei jedoch
seine Kräfte nicht nur entwickeln, sondern auch schulen. Mein heißes
Bemühen muß darauf gerichtet sein, das Kind zu einem selbständigen,
eigenkräftigen und urteilsfähigen Menschen zu machen, der seinen Weg
im Leben selbst zu suchen und zu finden vermag. Wenn das Kind
dann zu anderen Anschauungen gelangt, die nicht ganz die meinen
sind, so muß ich mich darein fügen, daß es mit der Zeit über mich
hinauswächst und anderen Idealen nachstrebt. Das Kind hat ein Recht
auf meine Fürsorge, auf meine Hilfe, auf meinen Rat. Ich habe aber
kein Recht auf seine Zukunft, auf seine Übereinstimmung mit meiner
Weltanschauung, auf seinen dauernden Gehorsam. Ich darf mich an
seinem Glücke freuen, aber ich darf nicht verlangen und erwarten,
daß es das Glück dort sucht, wo ich es gesucht habe. Wir haben
bereits oben das beherzigenswerte Wort Hegels zitiert: „Das ist das
unendliche Recht des Subjektes, daß es sich selbst in seiner Tätigkeit
und Arbeit befriedigt findet." Dieser Grundsatz muß für die Aufgabe
der Erziehung maßgebend sein. Dem Kinde zu einer seinen Anlagen
und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeit zu helfen, seine Kräfte so
Jerusalem, Einleitung In die Philosophie. 9. 11. 10. Aufl. 23
354 Soziologie und Geschichtsphilosophie
zu entfalten, daß es „vollendet in sich" werde, das ist gegenwärtig
das allerwichtigste Ziel aller Erziehung. Wir können demnach sagen,
daß die Pflicht aller Erzieher, soweit das Kind als einzelnes Indi-
viduum in Betracht kommt, nichts anderes ist als ausgiebige,
allseitige und verständnisvolle Entwicklung s-
h i 1 f e.
Diese Forderung bezieht sich auf das ganze Leben des Kindes,
auf sein körperliches und auf sein geistiges Sein. Entwicklungshilfe
ist Pflege und Zucht, sie schließt aber auch den Unterricht in sich.
Die Gegenwart stellt ungewöhnlich hohe Anforderungen an die
Leistungsfähigkeit des Menschen und deshalb müssen wir dem
werdenden Menschen dazu helfen, daß er tüchtige Waffen bekomme
zum schweren Kampf ums Dasein. Das menschliche Individuum
besitzt Eigenwert und darum ein Recht auf Existenz*)
und auf Erziehung.
Die Entwicklungshilfe wird immer allseitiger und immer wirk-
samer werden können, weil die biologischen und namentlich
die psychologischen Forschungen der Gegenwart immer tiefer
in das Leben und in die Seele hineinleuchten. Die verfeinerten
Methoden der experimentellen Psychologie und der
daraus entstandenen experimentellen Pädagogik haben
uns bereits in bedeutendem Umfang die Möglichkeit gegeben, In-
telligenz und Begabung der Schulkinder exakter zu prüfen, und aus
der Vervollkommnung dieser Methoden dürften sich wichtige Maß-
nahmen für die Berufswahl ergeben. Neben diesen wissenschaftlichen
Methoden wird allerdings immer noch ein weiter Spielraum übrig-
bleiben für die liebevolle Beobachtung der Kinder seitens der Eltern
und Lehrer, die nach wie vor berufen sein werden, sich über die
Eigenart jedes Kindes ein Urteil zu bilden.
In derselben Richtung bewegen sich die Forderungen nach einer
Arbeitsschule statt der alten Lernschule, damit der natürliche
Beschäftigungstrieb der Kinder ein geeignetes Betätigungsgebiet finde.
Ebenso wollen die Bestrebungen nach möglichster Individualisierung
im Unterricht, nach freierer Fächerwahl in den höheren Klassen der
individuellen Entfaltung der Schülerpersönlichkeit dienen. Denselben
Zweck verfolgen auch die immer zahlreicher werdenden Land-
erziehungsheime. Wir sehen also, daß das Prinzip der Entwicklungs-
hilfe sich allmählich durchzusetzen beginnt.
2. Neben dem Rechte des Individuums nach allseitiger Entfaltung
machen sich die Forderungen der Gesellschaft in
gebieterischer Weise geltend und verlangen Berücksichtigung in der
Erziehung der heranwachsenden Generation. Dieses soziologische
• ') Josef Poppcr-Lynkeus hat in seinem Buche: „Das Individuum und die
Bewertung menschlicher Existenzen", 1910, dieses Recht mit großer Wärme
verteidigt und in seinem letzten großen Werke: „Die allgemeine Nährpflicht
als Lösung der sozialen Frage" (1912) gezeigt, daß der Staat die Pflicht hat,
jedem seiner Bürger das Lebensnotwendige zu gewährleisten. Durch zahlreiche
statistische Belege hat der Verfasser die praktische Durchführbarkeit dieser
„Nährpflicht" nachzuweisen versucht.
§ 52. Pädagogik 355
Moment formuliert Paul Barth*) kurz und treffend in dem Satze-
„Erziehung ist die Fortpflanzung der Gesellschaft." Der Mensch
kann sich, das weiß man lange, nur in der Gesellschaft zum Menschen
entwickeln. Heute aber betont man immer stärker, daß er nicht nur
durch die Gesellschaft, sondern auch für die Gesellschaft leben
muß. Deswegen kann man gar nicht frühe genug damit anfangen
die Kinder mit sozialem Geiste zu erfüllen, das heißt
man muß es den Zöglingen zum Bewußtsein bringen, daß jeder Mensch
eben dadurch, daß er die Einrichtungen der Gesellschaft zu seiner
Ausbildung, zu seinem Erwerb und zu seinem Vergnügen benutzt,
auch schon die Verpflichtung übernimmt, zur Erhaltung und zur
Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft nach Kräften bei-
zutragen. Laut und eindringlich ertönt überall der Ruf nach einer
Sozialpädagogik, damit die Jugend für ihren künftigen sozialen
Beruf besser vorbereitet werde. In Amerika, wo man alles gleich
praktisch anfängt, ist die Idee einer sozialen Erziehung bereits in
zahlreichen Einrichtungen verwirklicht. Man hat dort „Schulstädte",
ja sogar „Schulstaaten" errichtet, in denen die Schüler Gelegenheit
haben, sich im Zusammenleben selbst zu betätigen und sich so praktisch
für das Leben im Staate vorzubereiten. Die Schüler nehmen werk-
tätigen Anteil an der Aufrechterhaltung der Ordnung, beratschlagen
in Versammlungen über neue zweckmäßige Maßnahmen, wählen ihre
Vertreter, sitzen über ihre Kameraden zu Gericht und lernen so sich
im öffentlichen Leben bewegen. Sie verlieren bald die Scheu, vor
einer Versammlung zu sprechen, lernen, sich den Beschlüssen der
Mehrheit unterzuordnen und bekommen ein viel stärkeres Ver-
antwortungsgefühl. In der Schweiz, in Deutschland und
auch in Österreich sind in letzter Zeit mehrfach Versuche mit der
„Selbstregierung" gemacht worden, die zum großen Teil sehr be-
friedigende Resultate ergeben haben.
Diese Bestrebungen werden jetzt nach dem Kriege energisch fort-
gesetzt und man darf hoffen, daß die neu zu schaffenden Einrichtungen
in nicht zu ferner Zeit bereits deutlich sichtbare Wirkungen zeitigen
werden.
Es gibt noch andere Mittel, den sozialen Geist in der Erziehung
zu pflegen. Indem man die Kinder schon in der Familie zu kleinen
Arbeiten heranzieht, die für den Haushalt wichtig sind, indem man
in allen Unterrichtsfächern auf die Notwendigkeit der menschlichen
Gemeinschaft und auf die Ergebnisse des Zusammenarbeitens hinweist,
und besonders im Sprachunterricht das soziologische Moment der
Sprache deutlich zum Bewußtsein bringt, wirkt man ebenfalls mit
zur sozialen Erziehung der Jugend**). Schon dadurch, daß wir
unsere Zöglinge an regelmäßige Arbeit gewöhnen, tragen wir viel
zu ihrer sozialen Ausbildung bei. Sicher ist, daß wir alles daran-
*) In dem sehr inhaltsvollen und lehrreichen Buche: „Die Geschichte der
Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung", 1011,
S. 5 und öfter.
**> Vg"1- Jerusalem, „Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen". 1912,
S. 290 ff.
23"
350 Soziologie und Geschichtsphilnsophie
setzen müssen, um unsere Kinder nicht nur zu eigenkräftigen Per-
sönlichkeiten, sondern auch zu Mitgliedern der menschlichen Gesell-
schaft zu erziehen und ihnen ein starkes soziales Verantwortungsgefühl
einzuflößen.
Erziehung ist also, insofern der Mensch als Einzelwesen in
Betracht kommt, Entwicklungshilfe, und da er zugleich ein
soziales Wesen ist, Fortpflanzung der Gesellschaft.
Diese beiden Aufgaben sind jedoch keineswegs entgegengesetzte Ent-
wicklungsrichtungen. Die Gesellschaft hat das stärkste Interesse daran,
daß ihre Mitglieder möglichst starke und selbständige Persönlichkeiten
werden, denn auf diesen beruht ihr Reichtum und ihre Kraft. Jeder
einzelne Mensch wird aber immer deutlicher einsehen, daß es für ihn
keine energischere und keine beglückendere Betätigung seiner Kräfte
geben kann, als das Wirken fürs Ganze.
Die Philosophie der Erziehung oder die Pädagogik wird nun
die Aufgabe haben, dieses doppelte Ziel fest im Auge zu behalten,
die psychologischen, die ethischen und die soziologischen Bedingungen
zur Erreichung desselben immer gründlicher, genauer und umfassender
zu erforschen und dadurch richtunggebend zu werden für alle Maß-
nahmen der Erziehung seitens der Eltern, der Lehrer und des Staates.
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Schlußbetrachtung
Bei der Besprechung der einzelnen philosophischen Probleme
wurden im voranstehenden wiederholt die Gedankenwege bezeichnet,
die meinen eigenen wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen
Überzeugungen am meisten entsprechen. Der aufmerksame Leser wird
gewiß schon selbst bemerkt haben, daß allen diesen Lösungsversuchen
bestimmte prinzipielle Anschauungen zugrunde liegen. Ich fühle nun-
mehr das Bedürfnis, das Gemeinsame kurz zusammenzufassen und
klar und deutlich zu sagen, worin ich heute das Wesen und die
Aufgabe der Philosophie erblicke. Einiges davon steht in meiner
„Selbstdarstellung", die im dritten Bande des bekannten Sammel-
werkes vor kurzem erschienen ist*).
Philosophie ist für mich kein fertiges, in sich geschlossenes
System, sondern, wie ich gleich im Eingang gesagt habe, rastlose,
immer weiter fortgesetzte, nie aufhörende Denkarbeit, die auf
das Ganze der Welt und vor allem auf das Ganze des
Menschenlebens gerichtet ist. Mit dem Leben des Einzelnen
sowohl, als besonders mit dem Leben der großen sozialen Or-
ganisationen, also vor allem der Staaten, der Völker,
und schließlich mit dem Gesamtleben der zur Einheit zusammen-
geschlossenen ganzen Menschheit soll die Philosophie stets
in engster Fühlung zu bleiben suchen. Sie soll dem Leben neue Kräfte
zuführen und möglichst deutliche Richtlinien ziehen für die W i 1 1 e n s-
ziele der Einzelnen und der Staaten. Auf diesen aktivistischen
Charakter der Philosophie habe ich gleich im Eingang des Buches
deutlich hingewiesen.
Das Bedürfnis, die Philosophie enger mit dem Leben zu ver-
binden und auch den irrationalen Teilen der Seele, dem, was Aristoteles
xb 7.X070V (jipoc TTj? ^u/jic genannt hat, gerecht zu werden, haben in
den letzten Jahrzehnten mehrere hervorragende Denker empfunden. t
In Deutschland gehören dazu Friedrich Nietzsche, Rudolf Eucken,
Georg Simmel und in gewissem Sinne auch Hans Vaihinger, dessen
„Philosophie des Als-Ob" ja ebenfalls im Lebenstrieb die letzte Quelle
des Denkens erkannt hat. In Frankreich ist diese Richtung durch Henri
ßergson, in Amerika durch William James und den von ihm so warm
verteidigten „Pragmatismus" vertreten. Demgegenüber hat sich
nun allerdings in Deutschland auch eine ganz andere Denkrichtung
herausgebildet, die mit großem Scharfsinn die Meinung verficht, daß
die Philosophie reine Theorie bleiben, daß sie ganz Wisse 11-
*) „Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen." Herausgegeben von
Dr Raymund Schmidt bei Felix Meiner in Leipzig. Bd. I und II, 1(>'2I; Bd. III, 1922,
3t>0 Sclilußbctrachtunn
S c h a t t und nur Wissens c li a f t sein müsse. Meiner Über-
zeugung nach sind nun diese Versuche einer restlosen und voll-
ständigen [ntellektualisierung der Weg, auf dem die Philo-
sophie dazu gelangen muß, sieh selbst zu zerstören.
Zu dieser Überzeugung hat mich die durch Jahrzehnte hindurch
geübte genetische, biologische und ganz besonders die
soziologische Betrachtung des menschlichen Seelen-
lebens geführt. In der Psychologie, in der E r k e n n t n i s-
t h e o r i e, in der Ästhetik und Ethik hat sich diese Methode
als fruchtbar erwiesen und, wie die betreffenden Abschnitte des Buches
zeigen, überall wichtige, neue Erkenntnisse zutage gefördert. Die
intensive Beschäftigung mit der O e s e 1 1 s c h a f t s 1 e h r e hat mir
dann in den letzten Jahren tiefere Einblicke in den Entwicklungsgang
des Menschengeistes erschlossen, die es möglich machen, das Wesen
der Wissenschaft klarer und richtiger zu erfassen, sowie auch
die Aufgabe der Philosophie deutlicher und genauer zu
umgrenzen.
Wir haben an der Hand der modernen Völkerkunde dargelegt,
daß der primitive Mensch, der uns überall als ein sozial gebun-
denes Herdentier entgegentritt, noch gar nicht die Fähigkeit besitzt,
theoretisch zu denken und rein objektiv die gegebenen Tat-
sachen einfach zu konstatieren. Diese Fähigkeit erlangt der Mensch
dann und nur insoweit, als er sich allmählich aus dem Zustande
der sozialen Gebundenheit befreit und sich zu einer immer selb-
ständigeren und eigenkräftigeren Persönlichkeit ausgestaltet. Wir
haben diesen für die Kulturentwicklung so überaus wichtigen Prozeß
der Individualisierung in seinem Ursprung und Verlaufe
verfolgt, seinen Zusammenhang mit der Arbeitsteilung und
der dadurch bedingten sozialen Differenzierung dargelegt und zu-
gleich festgestellt, daß sich mit der Verselbständigung des Einzel-
menschen, mit seiner Loslösung aus dem engeren Verbände zugleich
eine I ntellektualisierung der Seele vollzieht.
Durch diese neuen und wichtigen Einsichten wird zunächst der
Glaube an eine logische Struktur der menschlichen
Vernunft, die zeitlos und unveränderlich sich immer selbst gleich-
bleibt, ein Glaube, auf dem jeder philosophische Apriorismus
beruht, nicht nur stark erschüttert, sondern geradezu als durchaus
• irrig erwiesen.
Daraus folgt aber, daß auch die Philosophie überall von der
Erfahrung ausgehen muß, wenn sie der lebendigen Wirklichkeit
gerecht werden will. Ich fühle mich deshalb in dem strengen Em-
pirismus, der bei der Betrachtung des Organischen und des
Geistigen die Form des Evolution ismus annimmt, immer mehr
bestärkt. Daraus erklärt sich auch mein Bestreben, die Philosophie
dem näherzubringen, was man den gesunden Menschen-
verstand nennt. Damit ist nun allerdings nicht dasjenige gemeint,
wogegen Kant in der bekannten Stelle der „Prolegomena" (Band IV,
Seite 7, der Hartensteinschu\ Ausgabe) mit vollem Recht seine Stimme
erhebt. Unter Annäherung an den gesunden Menschenverstand ver-
Schlußbetrachtung 3()]
stehe ich keineswegs „die Berufung auf das Urteil der Menge, ein
Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Witzling
aber triumphiert und trotzig tut". Die in dem Buche gegebene
Darstellung der Probleme muß jeden, der zu urteilen fähig und
unbefangen zu prüfen bereit ist, davon überzeugen, daß hier die
Vertiefung nicht gemieden, sondern vielmehr mit aller Kraft gesucht
wird. Ich freue mich aber, daß es mir, eben durch dieses Streben
nach Vertiefung, gelungen ist, den Zweifel und die zu weit getriebene
Kritik zu überwinden, so daß man zur Erkenntnisfähigkeit unserer
Sinne und unseres Verstandes wieder Vertrauen haben darf. Allerdings
erhoffe ich von der gereiften Rückkehr zum gesunden Menschen-
verstände für die Philosophie größere Verständlichkeit und damit eine
stärkere Wirksamkeit.
Spekulative Denker, die aus ihrer eigenen Vernunft absolute
Wahrheiten und absolute Werte herausspinnen zu können vermeinen,
blicken oft auf den Erfahrungsphilosophen mit einer gewissen vor-
nehmen Verachtung herab. Der Empirismus, der Evolutionismus,
ganz besonders aber der Psychologismus werden von ihnen als philo-
sophische Minderwertigkeiten betrachtet und oft auch in scharfen
Worten gebrandmarkt. Die apriorisch gerichteten Denker sind offenbar
der Meinung, sie seien im Besitze eines ganz eigenen philosophischen
Organs, welches den am Staube kriechenden Erfahrungsmenschen
vollständig abgeht. Sie stellen sich damit auf den Standpunkt des
Baccalaureus im zweiten Teil von Goethes „Faust" und sagen mit ihm:
„Erfahrungswesen! Schaum und Dust!
Und mit dem Geist nicht ebenbürtig."
Solange diese Männer, die sich mit hohem Selbstbewußtsein als die
berufenen Träger und Fortpflanzer des deutschen „Idealismus"
betrachten, nur auf intellektuelle Schwächen des Empirismus
hinweisen und unsere Denkfähigkeit herabsetzen, solange
können wir die oft sehr heftigen Ausfälle der „Idealisten" mit voller
Gemütsruhe über uns ergehen lassen. Sind wir doch felsenfest
davon überzeugt, daß nur durch unausgesetzte psychologische, histo-
rische, philologische und soziologische Forschungsarbeit neue und
tiefere Einblicke in das Wesen des Menschengeistes gewonnen werden
können. Insbesondere tritt die ganz außerordentliche Fruchtbarkeit
der soziologischen Betrachtungsweise täglich deutlicher hervor,
und wir dürfen deshalb überzeugt sein, daß die Zukunft der Er-
fahrungsphilpsophie und nicht der dialektischen Spekulation gehört.
Die deutschen Idealisten begnügen sich aber nicht damit, uns Em-
pirikern das philosophische Organ abzusprechen und die intellek-
tuelle Minderwertigkeit unseres Standpunktes immer wieder zu
betonen. Sie gehen nicht selten noch einen bedenklichen Schritt weiter.
Unsere Versuche, die geistige und die sittliche Entwicklung des
Menschen und ihre letzten Ziele durch biologische, historische und
soziologische Untersuchungen in ein helleres Licht zu setzen, werden
oft als viel zu banausisch bezeichnet. Erkenntnis und Sittlich-
keit, so wirft man uns vor, sollen nach unseren Grundsätzen nur
362 Schlußbetrachtung
dem praktischen Nutzen des Einzelnen oder der Gesamtheit
dienen und darum fehle dem Empirismus und dem Evolutionismus
das wahre sittliche Ideal. Die Vertreter des „Idealismus"
tun also das, wogegen Schiller und Schopenhauer bereits so energisch
protestiert haben. Sie schieben uns unsere wissenschaftliche und philo-
sophische Überzeugung „ins Gewissen hinein". Solchen Anwürfen
gegenüber muß ich hier mit allem Nachdruck erklären, daß der
strengste Empirismus und die unbedingte Anhängerschaft an den
Entwicklungsgedanken mit dem höchsten ethischen Ideali s-
m u s nicht nur vereinbar sind, sondern auch bei hervorragenden
Denkern aller Zeiten tatsächlich aufs engste verbunden waren. Unter
den Denkern der neuesten Zeit will ich nur auf William James und
auf Ernst Mach hinweisen. Beide waren von der Überzeugung
durchdrungen, daß die Erfahrung die einzige und die letzte Quelle
der Erkenntnis sei, und lehnten jedes Apriori mit aller Entschiedenheit
ab. William James bezeichnete seine Philosophie sogar als „radikalen
Empirismus", und trotzdem sind beide mit der ganzen Kraft ihrer
starken Persönlichkeit für die höchsten sittlichen Ideale der Menschheit
eingetreten. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter und behaupte,
daß nur derjenige, der der Wirklichkeit voll ins Auge schaut und
die tatsächlich wirksamen lebendigen Kräfte in der Menschenseele
zu erkennen vermag, daß nur der ehrliche und tiefgründige Er-
fahrungsphilosoph die Wege zur sittlichen Vervollkommnung der
Menschheit zu sehen, zu zeigen und bahnen zu helfen imstande ist.
Mein strenger Empirismus zwingt mich auch dazu, am Dualis-
m u s von Physischem und Psychischem, von Natur und Geist, von
Leib und Seele festzuhalten. Während ich in jeder Form des Monis-
mus eine Vergewaltigung einer großen Gruppe von ganz unbezweifel-
baren Tatsachen erblicke, vermag ich in der täglich und stündlich er-
lebten Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen
Vorgängen keineswegs jenes schwierige Problem zu sehen, um dessen
Lösung sich die Metaphysiker und Psychologen der neueren Zeit mit
dem Aufwand von so viel Scharfsinn und Dialektik bemüht haben.
Ich finde darin vielmehr eine Urtatsache, die nach meiner Lehre
von der fundamentalen Apperzeption zur Quelle alles menschlichen
Urteilens und Begreifens geworden ist.
Die soziologische Betrachtungsweise hat mich im Laufe
der Jahre im Festhalten am Dualismus immer mehr bestärkt. Auf
diesem Wege gelangt man nämlich dazu, die Wirksamkeit rein
geistiger Gebilde deutlich zu sehen. Sprache, Religion, Recht
und Sitte sind nur als Erzeugnisse seelischer Wechselwirkungen
zu verstehen. Der Gesamtwille, der sich in den Geboten des
Staates, in den sittlichen Forderungen, in den Kundgebungen der
öffentlichen Meinung als wirksam erweist, ist ein rein psychisches
Gebilde. Das zeigt sich besonders deutlich, Wenn man den Versuch
macht, seine Wirkungen in der Sprache der Physiologie zu beschreiben.
Ein Gesamthirn ist ein Unding, ein Unbegriff. Der Gesamt-
wille hingegen erweist seine Realität mit voller Deutlichkeit durch
öcu Widerstand, den wir in uns fühlen, wenn wir uns seinen Forde-
Schlußbetrachtung 353
rungen entgegenstemmen. Aus diesen Gründen betrachte ich die
Gesellschaftslehre ihrem Wesen nach als die einzige wahre Grundlage
jeder Geisteswissenschaft.
Je strenger wir nun am Empirismus festhalten, desto deutlicher
sehen wir ein, daß wir auf dem Wege der Erfahrung niemals bis zu
den letzten Gründen alles Seins und Geschehens vorzudringen ver-
mögen. Die Soziologie ist zwar geeignet, die Metaphysik ein gutes
Stück zurückzuschieben, weil wir mit ihrer Hilfe die Selbständigkeit
rein geistiger Gebilde zu erkennen vermögen, ohne den Boden der
Erfahrung zu verlassen. Über die letzten Quellen des Geistigen im
Menschen, über die Ursprünge und über die Ziele vermag auch sie
keinen Aufschluß zu geben, das ist und bleibt für immer die niemals
abzuweisende Aufgabe der Philosophie. Deshalb ist die Philosophie
mehr als Wissenschaft, und zeigt, je tiefer man schürft, immer deut-
licher ihre innere Verwandtschaft mit Religion und Kunst.
Den Weg nun, den wir einzuschlagen haben, um zu der von uns
ersehnten Welt- und Lebensanschauung zu gelangen, vermag die
Soziologie wenigstens einigermaßen zu erhellen.
Wir wissen heute, daß der Erkenntnistrieb sich aus dem Lebens-
trieb entwickelt hat, dann aber selbständig geworden ist und sich
zu einem starken Funktionsbedürfnis des Menschengeistes hinauf-
entwickelt hat. Wir wissen ferner, daß alle Wissenschaften praktischen
Bedürfnissen ihre Entstehung verdanken, und glauben auch sagen
zu können, daß Bereicherung und Vervollkommnung des Lebens ihr
letztes und höchstes Ziel sein muß. Es ist uns aber auch klar ge-
worden, daß die Wissenschaft ein Produkt der individuali-
stischen Entwicklungstendenz ist und erst dann möglich
und wirklich geworden ist, als sich der Mensch aus dem ursprünglichen
Zustande der sozialen Gebundenheit zu einer selbständigen und eigen-
kräftigen Persönlichkeit auszugestalten begann. Wir sahen aber auch,
daß die Wissenschaft nur durch gemeinsame Arbeit fortschreiten
kann, daß die vom einzelnen Forscher gefundenen Wahrheiten z u
sozialen Verdichtungen werden müssen, wenn sie für das
Leben bedeutungsvoll werden sollen.
Wir sahen ferner, daß sich die Wissenschaft als breite Mitte
zwischen Deutung und Verwertung einschaltet und sich hier
ein eigenes Reich schafft, in welchem die reine Erkenntnis Selbstzweck
ist. In dieser breiten Mitte bleibt nun die Wissenschaft stehen und
braucht von ihrem Standpunkte aus nach Ursprung und Ziel nicht
zu fragen. Gerade diese Frage aber stellt sich die Philosophie.
Darum sagten wir oben (S. 13): „Die Wissenschaft ist die breite
Mitte, die Philosophie der Anfang und das Ende, das A und das O."
Diesen dort bloß angedeuteten Gedanken wollen wir nun ein wenig
verdeutlichen.
Schon die alten ionischen Naturphilosophen suchten nach einem
U r s t o f f, nach einem Anfang, nach einer xpyij. Zugleich aber
glaubten sie, daß dieser Urstoff auch der Endzustand sei, in den alles
wieder zurückkehre. Vielleicht ist in diesem tiefen Grundgedanken
das Wesen und die Aufgabe aller Philosophie von den griechischen
364 Sclilußbetrachtiuiü
Denkern ahnungsvoll erkannt worden. Aus dem Anfang, aus der c.v/v,
i>t das „Prinzip" geworden, und als die „Wissenschaft der
Prinzipien" hat man die Philosophie oft definiert. Die sozio-
logische Betrachtungsweise lehrt uns nun, daß der richtig er-
kannte Anfang zugleich das Prinzip in sich enthält, das durch die
I ntwicklung hindurchgeht und sich am Ziele wieder zum Anfang
zurückwendet. Goethe hat einmal gesagt: „Der ist der glücklichste
Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung
setzen kann." Vielleicht ist auch die Philosophie dann am glücklichsten,
wenn es ihr gelingt, das Ende der Entwicklung mit dem Anfang in
Verbindung zu setzen. Wir wollen versuchen, dies auf einzelnen
Gebieten zu veranschaulichen*).
Die fundamentale Apperzeption, die in unserer
zentralisierten Organisation tief begründet ist, nötigt uns, jeden
Vorgang in unserer Umgebung als Kraftäußerung eines Kraft-
zentrums oder, richtiger gesagt, als Ausfluß eines Willens zu deuten.
Die so vollzogene Gliederung und Objektivierung ist
zugleich eine Vermenschlich ung der Vorgänge der Welt.
Das Universum erscheint auf dieser Entwicklungsstufe als eine Summe
von Wirkungen unsichtbarer geistiger Mächte. Die erstarkte Wissen-
schaft hat sich im Laufe der Jahrtausende bemüht, diesen Anthropo-
morphismus gründlich zu eliminieren. Zuerst führte sie an die Stelle
der Geister und Dämonen unpersönliche Kräfte ein, deren gesetzmäßig
ablaufende Wirkungen sie festzulegen bemüht war. Dann aber schien
der Kraftbegriff selbst noch einen unerträglichen Rest von Ver-
menschlichung zu enthalten. Man löste daher den Kraftbegriff
in energetische Vorgänge auf, zwischen denen funktionale Beziehungen
obwalten. In ihrem „Monismus des Geschehens" haben Richard
Avenarius und Ernst Mach diese vollkommen entpersönlichte Auf-
fassung der Weltvorgänge am konsequentesten durchgeführt. (Vgl.
§ 34.) Als methodische Forschungsregel mag diese Elimination des
Ich-Bewußtseins ihren Wert haben. Als Weltanschauung ist sie un-
vollziehbar. Das gewaltsam hinausgestoßene Ich kehrt in jedem
wirklich erlebten Denkakt, in jedem selbstgebildeten Urteil wieder und
betätigt die ihm innewohnende gestaltende Kraft. Überdies vermag
der Philosoph, der tief in sich selbst hineinschaut und das Ganze
verstehen will, diese unvollendete Weltanschauung auf die Dauer
nicht zu ertragen. Da liegt es nun nahe, die fundamentale Apperzeption
auf das Weltganze anzuwenden und zu dem Impersonale des Uni-
versums Gott als Subjekt, als Kraftzentrum, als Schöpfer-
willen hinzuzudenken. Erst dadurch erhält mein Weltbild den so heiß
ersehnten Abschluß. Die fundamentale Apperzeption
wird so zum Ursprung, zum Anfang, zur vy/;in zum Prinzip, zu
welchem sich das Denken nach langer und folgenreicher Entwicklung
wieder zurückwendet. Die Philosophie des Erkennens kommt dadurch
zu einem befriedigenden Abschluß, daß sich der Anfang und das Ende
in eins zusammenschließen.
) Vgl. zu dem Folgenden meine „Selbstdarstellung".
Schlußbetrachtung
Etwas ganz Ähnliches finden wir in der sozialen und sitt-
lichen Entwicklung. Aus der dumpfen Gebundenheit im Ursprung
gelangt die Menschheit durch Erstarkung und Befreiung des Einzel-
menschen wieder zurück zur freiwilligen, zur bewußten und selbst-
gewollten Bindung an die große Gemeinschaft, in der auch dem Indi-
viduum die denkbar größten Entfaltungsmöglichkeiten geboten sind.
Derselbe Kreislauf vollzieht sich in der Entfaltung des sittlichen
Bewußtseins. Die sozialen Imperative oder die Staatsgebote
werden dadurch zu sittlichen Pflichten, daß das selbständig
gewordene Individuum dieselben innerlich anerkennt. Aus der indi-
vidualistischen Entwicklungstendenz entsteht aber die Idee der ganzen
Menschheit und der Gedanke der allgemeinen Menschlichkeit
oder Humanität. Daraus nun entwickelt sich, wie wir gesehen
haben, das Bewußtsein der Menschenwürde. Die Ethik wird
autonom, und es hat den Anschein, daß die höchsten sittlichen
Forderungen die sind, die wir an uns selbst stellen. Die Soziologie
lehrt uns aber, daß die Forderungen der Menschenwürde nichts
anderes sind als Menschheits geböte, die von der großen
Gemeinschaft im Namen der Humanität an jeden Einzelnen gerichtet
werden. Wenn nun auch die Staaten und Völker in sich das Bewußt-
sein der Staatenwürde und der V ö 1 k e r w ü r d e zu voller
Klarheit und zur wirksamen Kraft entwickeln und sich selbst zu
Trägern der sittlichen Forderungen machen, dann müssen die bisher
so häufigen und so blutigen Konflikte zwischen Staatsgeboten und
Menschheitsgeboten endlich aufhören und auch hier wendet sich das
Ende zum Anfang zurück. Aus der Gemeinschaft des primitiven
Stammes ist das sittliche Bewußtsein in der Form von sozialen
Imperativen hervorgegangen, hat sich zur scheinbaren Autonomie
des Individuums entfaltet, um dann schließlich zur freiwilligen Bin-
dung an die große Gemeinschaft zu werden, in der jeder
Einzelne seine sittliche Bestimmung erst vollkommen zu erfassen und
zu erfüllen vermag. Mit religiösen Vorstellungen waren die sozialen
Imperative von Anfang an verknüpft, und schließlich müssen wir
die großen Menschheitsgebote wieder als den Ausfluß des göttlichen
Willens ansehen, denn „Er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist"
(Micha 6, 8).
Ich bin überzeugt, daß diese Koinzidenz von Anfang und Ende
sich auch auf anderen Gebieten wird nachweisen lassen, und betrachte
deshalb diese meine Auffassung der Philosophie nicht als ein System,
sondern als. eine Arbeitshypothese, die zu fruchtbaren Unter-
suchungen anzuregen geeignet ist.
Der kritische Realismus, zu dem ich mich bekenne,
ist für mich die Grundlage geworden zu einem sozialen, ethischen,
ästhetischen, metaphysischen und religiösen Idealismus, der den
Blick aufs Ganze gerichtet hält und die Wege zur Höherentwicklung
der Menschheit zu zeigen und zu bahnen bemüht ist.
Adler, Felix 217.
Adler. Max 252, 357.
Alexander d. Gr. 230.
Alkibiades 175.
Althusius. Johannes 234.
336.
Altmann 237, 282.
Arnos 189.
Anaxagoras 106. 110. 139.
Anaximenes 106.
Anquetil du Perron 159.
Antisthenes 176.
Anzengruber, Ludwig 129.
Apelt, Otto 180.
Archimedes 9, 294.
Aristarch 294.
Aristipp 177. 181, 214.
Aristophanes 174.
Aristoteles 2, 5, 6. 8, 13.
14, 16. 19, 32, 33, 34 f.,
58. 63. 90. 106, 116,
117. 132 f. 136, 139,
146 f. 164. 166. 180 f.,
185, 188. 195. 202, 214,
228 f., 234, 263, 268,
273. 280. 322 f., 329. 359.
Arnim, Hans v. 133. 182,
185.
Arreat 224.
Arrian 185.
Augustinus 61, 71. 107,
193, 231. 335 i.
Augustus 239, 335.
Avenarius. Richard 26.
126 ff.. 142, 364.
Babeuf. Cirachus 241.
Bacon. Roger 9.
Bacon von Verulam. Fran-
cis 14, 33.
Baer, Ernst v. 268.
Bae^e. M H. 358
Bain, Alexander 38.
Baldwin. Mark 35. 38
Barth. Paul 245. 249 ff.
355. 357, 358.
Bastian. Adolf 249. 298.
Baumgarten. Abr. Qottl
146.
Namenregister
Baumgartner 17.
Bayle, Pierre 41.
Bazard, Saint Amand 242.
Beneke. Eduard 208.
Bentham, Jeremias 206,
209 i, 214. 266.
Bergemann, P. 358.
Berger, Alfred v. 166.
Bergson. Henri 26, 65 f..
102. 103. 114. 117, 143,
170. 359.
Berkelev, George 19, 41, j
51, 59, 71, 107.
Bernhard von Clairvaux
192.
Bernheim, E. 334. 336, 345 f.,
358.
Berthold von Regensburg
233.
Bienenfeld. Rudolf 253.
Blonskij. P. 358.
Bodin, Jean 234, 336
Boethius 32.
Bolzano, Bernard 72.
Bonald 336
Börner, Wilhelm 166.
Bosanquet. Bernard 356
Bossuet 336.
Bougle. C. 220, 248.
Bourgeois, Leon 223.
Boutroux. Emil 223.
Boyle, R. 294
Brentano, Franz 71, 73.
Breuer, Josef 38.
Bridgman. Laura 22.
Bruno, Giordano 121. 125.
141.
Bücher, Karl 270.
Büchner, Ludwig 40. 110.
Buckle. Henry Thomas
255. 345.
Buddha 291.
Bühler. Heinrich 37.
Bunsen 336.
Buonarotti 241.
Burckhardt, Jakob 279.
Burckhard. Max 166.
Bürger, G. A. 341.
Burke. Edmund 147.
Busch, Otto 166.
Busse, Ludwig 101. 143.
Cabet, Etienne 241.
Carriere, Moriz 148.
Carus, J.V. 101.
Cassirer. Ernst 49, 102.
Charron, Pierre 41. 196-
Chatterton-Hill. Georges
357.
Cherbury. Herbert v. 141,
196.
Chrysippos 183.
Cicero 8. 33, 173, 184 f.
231, 277, 283, 299.
Cohen, Hermann 35, 39,
48, 54 ff.. 73, 101. 166.
217.
Cohn, Georg 208, 217.
Cohn, Jonas 102, 166.
Collins. Antony 141.
Collins, F. Howard 2o8.
Comte, Auguste 48, 104.
210,214.220. 226, 242 ff..
345.
Condillac. Etienne Bonard
60.
Condorcet 345.
Conrad 356.
Coudenhove, R. N. 217.
Croce, Benedetto 166.
Cyrus 189.
Dante 266. 279.
Darwin. Charles 42, 126.
140. 207. 215. 249.
Demokrit 40, 41. 78. 110,
138. 181.
Descartes, Rene 19, 40.
61. 70 f.. 107, 109. 116,
121 f.. 133 f.. 177. 184,
300. 337.
Dessoir. Max 38, 148,166.
Deutero-Jesaia 139.
Dewey, John. 35, 39, 102.
358.
Diels. Hermann 27. 120.
125. 277. 298.
Namenregister
367
Dilthey. Wilhelm 19, 26,
38, 166, 224, 279 f., 299,
347.
Diogenes Laertius 278.
Diogenes vonSinope 176 f.,
277 f., 299.
Döring. August 217, 358.
Drobisch, Mor. Wilhelm
39.
Dubos, Jean-Baptiste 147.
Duns Scotus 141.
Durkheim, Emile 222, 225,
248, 260, 261 ff., 267.
272 f., 287, 304, 356.
Dürr. E. 102.
Eachran, J. M. 103.
Ebbinghaus, H. 37.
Eckhart (Mystiker) 193,
233.
Ehrlich, Eugen 252 f.
Eicken, Heinrich v. 192,
231 f.
Eisler, Rudolf 17,101.357.
Eleaten, Die 58, 61, 116.
120.
Elsenhans, Theodor 37.
Empedokles 106. 110, 138.
Engels, Friedrich 242,248,
345
Epiktet, 177, 277.
Epikur 6, 110, 178, 181 f.,
184, 195. 202, 206, 214,
230.
Epikuräer 9, 19.
Erasmus v. Rotterdam 281.
Eratosthenes 294.
Erdmann, Benno 38.
Esra 190.
Eucken, Rudolf 118, 143,
347, 359.
Eudemos 33.
Euklid 9.
Euripides 174, 313.
Ezechiel 189.
Fechner, G. Theodor 19,
118 f., 142, 148, 165.
Federn, Carl 166.
Feilbogen, S. 223.
Feuerbach, Ludwig 208.
Fichte, Joh. Oottlieb 2, 7,
9, 11, 60, 79, 104, 110,
173, 212, 213 f, 215, 282,
287, 341.
Flint, Robert 336,337,358.
Foerster, Fr. W. 358.
Forberg, Fr. 79.
Fourier, Charles 242.
Francke, Kuno 224, 340.
Freud, Sigmund 26 f, 38.
Freytag, M. 102.
Frischeisen-Köhler, M. 17,
143.
Galilei 9, 194, 280, 294.
Galvani 294.
Gassendi, Pierre 110.
Gaupp, Otto 268
Geisse 38.
Germain, Sophie 155.
Geulincx, Arnold 134.
Geyse, J. 102.
Giddings, Henry 247, 257.
357
Gide, Charles 285.
Giercke, Otto v. 234, 236 ff
Göbel 177.
Godwin, William 241.
Goethe 115, 122, 126, 141,
154, 178, 197, 198, 238,
265, 283 f., 310,338,364,
Goldscheid, Rudolf 217,
252, 357.
Gomperz, Heinrich 80,
102, 127.
Gomperz, Theodor 38, 60,
166.
Gorgias 172.
Green 204.
Grillparzerl54f„160,305f.,
311.
Groos, Karl 151, 166.
Grose 204.
Grotius, Hugo 243 ff.
Grünfeld, Ernst 357.
Gumplowicz. Ludwig 232,
249, 252, 356.
Guyau, M 224.
Häckel. Ernst 131, 356.
Hall, Charles 241.
Harnack, Adolf v. 278.
Hartmann, Ed. v. 101, 142,
213.
Harvey 294.
Hegel 7. 9, 11, 33, 60, 62,
66, 104. 110, 116, 122,
123 ff., 145, 147 f., 163,
212, 245,253,301, 319 f..
341 ff., 351, 353.
Heinze, Max 17.
Helmholtz, H. 51, 125 f.,
136.
Helvetius, C. A., 181. 206,
209, 214.
Helvia 185
Herakles 177.
Heraklit 27, 106, 108, 124 f.,
277, 297, 301.
Herbart, J. F. 19, 24, 104.
118, 146, 148, 208.
Herder 11, 147, 185, 238,
265,282f..337f.,341,345,
351.
! Herford, Travers 191.
Hermodor 277.
: Herodot 4.
| Heron 9.
I Hesiod 120.
; Hettner, Hermann 166.
; Heurtin, Marie 22.
Heymans, G. 101, 142.
Hildebrand, A 166
Hillel 190.
Hipparch 294.
Hippias 173, 298.
Hippokrates 19.
Hobbes, Thomas 110,202.
208 ff, 211, 214, 235 f..
251, 281, 336.
Höffding, Harald 38, 177,
217, 245.
Holbach. P. H. D. v. 40,
110, 214.
Home, Henry 147.
Homer 60, 120, 132, 155.
162, 353.
Horaz 147, 178. 182, 239.
Horwicz, A. 38.
Howitt 304.
Hubert, H., 219, 248, 263.
Humboldt, Wilhelm von
185. 238, 265, 284, 328.
Hume, David 19, 41 f., 51,
59, 85 f., 127, 203 f.
Husserl, Edmund 35, 39,
66 ff., 102, 257, 259 f.
Hutcheson, Fr. 202, 213
Huyghens, Chr. 9, 194, 280.
294.
Ibn Chaldun 232.
Innozenz III. 192
Isidor (Bischof) 192.
Jacoby, Günther 102.
Jamblichos 64.
James, William 3, 38, 80,
102, 109, 137. 170, 359.
362.
Jellinek, Carl 143.
Jellinek, Georg 356
Jeremia 189.
Jesaia 189, 329, 333. 323.
Jesus 191.
Jevons, Stanley 39.
Jodl, Friedrich 37. 102.
135.166, 195 f., 206. 212.
217.
JocI. Karl 3, 66, 80. 130.
143, 170.
Joule 136.
ins
Namenregister
Kant, I. 7, 0. 11. 14. 34.
42. 44«., 51 it., 58 f . 62,
7g. 84. 85, 86 ff.. 93. 94.
104. 110. 115, 116 f.. 118.
125, 141. 146 f.. 151. 153, i
157, 167, 175. 177. 184,
188. 193, 196. 197 ff..,
204, 212. 213 f. 238.265.
266. 282. 286, 287, 300 f.,
308 ff.. 312. 318. 322,'
326. 330 ff.. 345, 350.
351. 360.
Kassowitz, Max 38.
Katharina von Siena 192
Katscher. Leopold 168.217
Kawerau, J. 358.
Keller, Helen 22.
Kelsen. Hans 252, 357.
Kepler 9. 194. 280. 294.
Kerschensteiner, G. 358.
Kimon 312.
Kirchhoff 60.
Kleanthes 183.
Klein. Franz 220, 356
Kleinpeter, H. 39, 101.
Klemm. O. 38.
Klimke, Friedrich 143.
Kohler, Josef 253.
Kopernikus, Nile. 98. 120 f.
127. 194. 280.
Krates (der Kyniker) 117,
278.
Krause. K. Chr. Fr. 336.
Kreibig, J. Kl. 101.
Kropotkin, Peter 215. 217,
222.
Krueger, Felix 23, 269.
Külpe. Oswald 17. 24, 102.
148.
Laas. Ernst 48. 76. 101.
Lamarck 126. 140.
Lamettrie 40. 110. 206.
Lamprecht, Karl 345. 358.
Lange. Fr.Alb..76.109f., 142.
Lange. Konrad 79, 148 f.,
166
Laplace 125.
Lassalle. Ferdinand 125.
Lasson, Georg 320. 343.
LaUwitz, Kurt 118.
Laurent 336.
Lavoisier 99. 294.
Lazarus 23. 151.
Le Bon 222.
Leclair. A v. 48. 101.
Lehmann. R. 358.
Leibniz 7, 72, 116, 117.
134, 205.
Lessing, G. E 147. 196,
198. 336.
Lessing. Theodor 3ix
Leukipp 40. 78. 110. 138.
Lcvy-Brühl 12. 245, 248.
257. 267. 289 f., 295. 356.
Liebmann. O. 101.
Lilienfeld, Paul 249, 356.
Lindner. Theodor 347, 358.
Lionardo da Vinci 164.
Lipps, Theodor 26. 38,
148, 166.
List, Friedrich 285.
Litt. Theodor 357.
Locke. John 19, 41, 59,60.
201 f., 236, 336.
Lotze. Hermann 19, 38,
142, 165, 339
Louis Philippe 241.
Lukrez 19, 110, 181 f.
Luther. Martin 233.
Mc Dougall, William 257,
262, 357.
Mach. Ernst 10. 35, 38,
51,60,77,83,101, 126 ff.,
135, 136, 142, 293. 302,
362. 364.
Machiavelli Nicolo 233 f..
320.
Maine, H. Summer 220.
Maine de Biran 13.
Malebranche, Nie. 134,212.
Mandeville. Bernard de
210 ff.
Mark Aurel 185. 278.
Marquardsen 357.
Marsilus von Padua 232.
Martineau, J. 217.
Marx. Karl 242, 245, 248,
253, 345.
Masaryk, Thomas G. 252.
Matthäus 191.
Mauss, M. 219. 248, 263.
Mauthner, Fritz 39.
Mayer, Robert 136
Meinecke, Friedrich 284.
Meinong. Alexius v. 35.
39.
Meianchthon. Philipp 280f.,
299.
Menger. Anton 252 f., 274,
356.
Menzel. Adolf 236. 252.
Messer, A. 101.
Meumann, F. 166, 358.
Meyer, Eduard 347, 358.
Meyer, J. Bona 38.
Meyer, Th. A. 166.
Mevnert 51, 215, 331.
Micha 189, 329, 333, 335,
365.
Michelangelo 164.
Michelet 336 f.
Mill. James 19.
Mill. John Stuart 19. 34.
38, 48, 97,211. 247.328.
Mohammed 291.
Moleschott 110
Molesworth 208.
Montaigne 41.
Montesquieu 243. 336.
Morgan. Lewis H. 210, 356.
Moses 190.
Muckle, Friedrich 345.
Müller, Eugen 30.
Müller, Johannes 51.
Müller-f-reienfels. N. 166.
Müller-Lyer. F. 240. 249 f..
357.
Münsterberg. Hugo 26. 38,
49, 287.
Murray. D. L. 103.
Natorp. Paul 35, 48. 101,
163, 358.
Nero 185.
Newton 9, 194, 280. 294
Nietzsche, Friedrich 206 ff .
322, 359.
Oesterreich. Konst. 17.
Ofner. Julius 252. 253.
Oppenheimer, Franz 249.
254, 285, 356.
Ostwald, Wilh. 10, 131,
136, 143, 252 f.
Owen, Robert 241.
Panaetius 184 f., 315.
Parmenides 108. 120.
Paulsen, Friedrich 17.118,
217, 358.
Paulus (Apostel) 133, 278.
Payot, Jules 358.
Peirce, Charles 81.
Perikles 173.
Perles. Felix 190.
Petzoldt. Joseph 48. 142.
Pfänder. A. 38.
Pflaum, Chr. D. 38.
Phidias 164.
Philo. Judäus 6. 186 ff.
Pindar 313.
Piaton 2. 5, 6. 8. 14, 19.
32. 40. 49. 61. 63, 67.
71, 90. 93. 106. 115 f..
118, 120, 132. 139. 145 f.,
163, 174, 175. 176, 178 ff..
186 f. 188 f.. 195, 227 f.
296. 298. 314. 317. 319,
322. 326, 333, 353
Plenge. Johann 253 f.. 357
Namenregister
369
Plotin 14, 19, 63 f., 106,
118, 145, 147, 187 f.
Pöhlmann, Robert 228,
231
Polybius 188.
Popper, Josef 154, 166,
354, 357.
Porphyrius 32, 63, 187.
Posidonius 185.
Praechter, Karl 17.
Prantl, C. 39.
Du Prel 64.
Pfibram, K- 357.
Proklus 64.
Protagoras 6, 60, 173,313.
Proudhon, Pierre Joseph
242.
Pyrrhon 40
Quetelet, L. A. J. 255,
345.
Quintilian 33.
Raifael 162.
Ramus, Petrus 33.
Ratzenhofer, Gustav 249.
252.
Raumer, Karl v. 358.
Rehmke 48.
Rein, W. 358
Reinach, A. 102.
Reininger, Robert 102,217.
Reitzenstein 184.
Renan, Ernest 248.
Renouvier, Ch. 217.
Rey, Abel 102.
Ribot, Theodore 135, 222.
Rickert, Heinrich 35, 49,
102, 348 ff., 358.
Rieh], Alois 101.
Rist 285.
Robertson 202.
Ross, Alsworth 257.
Rousseau, Jean Jacques
211, 225, 235 f., 336.
Royce, Josiah 118, 143.
Ruedorffer 321.
Rüge, Arnold 35, 39.
Ruoff 358.
Saint Hilaire, Geoffroy
126.
Saint-Simon, Henri 242.
Salomon, Gottfried 245.
Saviyny, Friedrich Carl v.
42
Schäffle, Albert 249, 356.
Scheler. Max 75, 102.
Scheling 7, 9,60, 104, 110,
122 ff, 145 147 f., 213.
Scherer, Wilhelm 166.
Schiller, C. F. S. 35, 38,
83, 102.
Schiller, Fr. 4, 11, 99, 147,
151, 154, 156, 163, 178.
238, 265, 283 f., 297, 322,
328, 341, 362.
Schiller, H. 358.
Schlegel, Friedrich 336
Schleiermacher 7, 213.
Schlick, Moriz 102.
Schmekel 185.
Schmidt, Leopold 217.
Schmidt, Raymund 76, 102,
359.
Schmied-Kowarzik, Walter
102.
Schmoller, Gustav 24S.
Schopenhauer, A. 33, 44,
51, 104, 115, 117, 145,
147 f., 159, 205f.,215,362.
Schroeder, Ernst 39.
Schubert-Soldern 48.
Schultz, Josef 102.
Schuppe, E. 48, 101
Schurtz 220.
Schwarzkopf, P. 102.
Scipio d. J 184, 299
Scott, C. A. 358.
Semon, Richard 37.
Seneca 184 f.. 283.
Sextus Empiricus 41.
Shafiesbury 19, 147, 202 f,
211, 215.
Shakespeare 162, 164, 324.
Sidgwick, Henry 217.
Siebeck, Herrn. 19. 38.
Siegel, C. 102, 143.
Sigwart, Christoph 38, 65.
Simmel, Georg 240, 252,
257 ff., 347, 357, 359.
Small. A. W. 254.
Smith, Adam 19, 78. 204 f,
215, 242, 254, 284.
Sokrates 8, 32. -173 ff., 180,
183, 185, 188, 195, 196,
215, 227, 277, 298 f., 314,
317
Sombart, Werner 254.
Somlö 252.
Sophokles 158. 283, 305,
311, 324, 333.
Spann, Othmar 252. 357.
Spencer, Herbert 1, 23,
101, 126. 140. 151,207f ,
215 i, 244, 242 f.. 256.
261, 268 f, 319, 357.
Spengler, Oswald 347 f.,
358.
Spinoza 9, 19, 65 108,
121 f.. 126, 141, 177, 17S.
184, 212, 338.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9. u. 10. Aufl.
Spitzer, Hugo 148.
Spranger. Eduard 26, 3is
284, 328.
Squillace, F. 357.
St. Pierre 266.
Stein, Heinrich v. 145.
166.
Stein, Lorenz v. 245 ff..
248, 357.
Stein, Ludwig 81, 103, 357.
Steinthal 23.
Stern, William 12, 25, 38.
Stevin 294.
Stirner, Max 206, 214.
Stoiker 9, 16, 19, 277.
Suso 193.
Sutherland, Alexander 217.
Swedenborg 64.
Taine, Hippolyte 248.
Tarde, Gabriel 252, 257.
356.
Tauler, Johannes 193
Terenz 184.
Thaies 4, 106.
Theophrast 33.
Thomas von Aquino 133.
Thompson, William 241.
Thukydides 5, 161, 174.
216.
Titchener, E. B 37.
Toland, John 141.
Tönnies, Ferdinand 250 ff..
252, 347, 357.
Überweg, Fr. 17, 38, 133.
Unold, Johannes 217.
Urwick, E. J. 357.
Utitz, E. 166
Vaihinger. Hans 74, 76 ff .
102, 359.
Vergil 335.
Verworn, M. 143, 166
Vico, Giovanni Battista
336 f.
Vierkandt, Alfred 259 f .
357.
Villa, G. 38.
Vischer, Friedrich 148. 165.
Vives, Ludovico 19.
Voelkel 358
Vogt, Karl 40. 110.
Volkelt, Johannes 101, 14fv
165.
Voltaire 334.
Wagner, Richard 157.
Ward, Lester F. 247. 357
Weber. Max 253 f.. 357.
Weisengrüii, Paul 356
24
370
Namenregister
Westermarck. Eduard 168,
217. 220. 303 f.
Wiese. Leopold v. 253.
259 f.
Wieser, Friedrich v. 252.
254
Willmann, Otto 358
Winckelmann 147.
Windelband. Wilhelm 17,
34 f . 39. 49, 55, 103,
348 f.
Wolff, Christian 14. 146.
205, 2 3(>
Worms, Rene 248.
W nndt, Wilhelm 17, 19.
23. 28, 35, 38, 75. 101.
113, 114. 117. 136. 142.
166, 185. 217, 225, 339,
347, 356. 358.
Xenophanes 6, 120, 141.
Xenopol 347, 358.
Zenodot 294.
Zenon von Citium 177,
278
Zenon von Elea 120.
Ziegler, H. E. 356.
Ziegler, Theob. 217. 358.
Ziehen. Th. 38. 39,75,102,
358.
Zimmermann. Robert 148,
165.
Zwingli 281.
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5>C
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1